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German Pages 815 [800] Year 2015
Joachim Eibach, Inken Schmidt-Voges (Hrsg.) Das Haus in der Geschichte Europas
Das Haus in der Geschichte Europas Ein Handbuch Herausgegeben von Joachim Eibach und Inken SchmidtVoges, in Verbindung mit Simone Derix, Philip Hahn, Elizabeth Harding und Margareth Lanzinger Redaktion: Roman Bonderer
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.
ISBN 978-3-11-035888-9 eISBN (PDF) 978-3-11-035898-8 eISBN (EPUB) 978-3-11-035899-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: Johann Friedrich Penther, Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst, Augsburg 1745. Universitätsbibliothek Heidelberg / 64 D 5 RES::1 / Tafel XIV Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort und Danksagung — XI David Warren Sabean Geleitwort — XIV Inken Schmidt-Voges Das Haus in der Vormoderne — 1 Joachim Eibach Das Haus in der Moderne — 19
Teil I: Hausforschung in den europäischen Geschichtswissenschaften Joachim Eibach Einführung: Hausforschung in den europäischen Geschichtswissenschaften — 41 Philip Hahn Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945: Vom ‚ganzen Haus‘ zum ‚offenen Haus‘ — 47 Élie Haddad Forschungen zum Haus in der Frühen Neuzeit in Frankreich: Im Schnittpunkt der Disziplinen — 65 Catherine Richardson Forschungen zu ‚House and Home‘ in England — 83 Dionigi Albera Das Haus in der italienischen Forschungslandschaft: Vielfalt und Kontextualisierung — 99 Karin Hassan Jansson Haus und Haushalt im frühneuzeitlichen Schweden: Geschichtswissenschaftliche Trends und neue Zugänge — 113
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Inhalt
Manon van der Heijden und Ariadne Schmidt Der Haushalt in der niederländischen Geschichtsschreibung: Ehemuster, fragliches Patriarchat und häusliches Leben — 131 Alice Velková Forschungen zum Haus in der Tschechischen Republik: Historische Demographie und neue Ansätze — 149 Ausgewählte Literatur — 165
Teil II: Materialität und Wohnkultur Elizabeth Harding Einführung: Materialität und Wohnkultur — 169 Raffaella Sarti Ländliche Hauslandschaften in Europa in einer Langzeitperspektive — 175 Tara Hamling Die Gestaltung des frommen Hauses im protestantischen Europa — 195 Julia A. Schmidt-Funke Städtische Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit — 215 Christiane Holm Bürgerliche Wohnkultur im 19. Jahrhundert — 233 Dieter Schott Technisiertes Wohnen in der modernen Stadt — 255 Susann Buttolo Wohnungsbau und Wohnen im Sozialismus — 273 Ausgewählte Literatur — 293
Teil III: Soziale und ökonomische Konstellationen Margareth Lanzinger Einführung: Soziale und ökonomische Konstellationen — 297
Inhalt
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Cecilia Cristellon Das Haus als Bühne: Vor- und nachreformatorische Heirats- und Ehepraxis — 303 Margareth Lanzinger Vererbung: Soziale und rechtliche, materielle und symbolische Aspekte — 319 Birgit E. Klein Reale und ideelle Häuser im Judentum — 337 Elisabeth Joris Profession und Geschlecht: Das Haus als Ort der Ausbildung und Berufstätigkeit im 19. Jahrhundert — 355 Bärbel Kuhn Mitwohnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert — 373 Maren Möhring Das Haustier: Vom Nutztier zum Familientier — 389 Ausgewählte Literatur — 407
Teil IV: Interaktion und soziale Umwelt Inken Schmidt-Voges Einführung: Interaktion und soziale Umwelt — 411 Inken Schmidt-Voges Das Haus und seine Nachbarschaft: Integration und Konflikt — 417 Arno Haldemann Das gerügte Haus: Rügerituale am Haus in der Ehrgesellschaft der Frühen Neuzeit — 433 Gabriele Jancke Gastfreundschaft in frühneuzeitlichen Haushaltsgesellschaften: Ökonomie und soziale Beziehungen — 449 Daniel Jütte Das Fenster als Ort sozialer Interaktion: Zu einer Alltagsgeschichte des Hauses im vormodernen Europa — 467
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Inhalt
James R. Palmitessa Das Bürgerhaus zwischen nachbarschaftlicher Interaktion und städtischer Verwaltung: Prag im 16. Jahrhundert — 485 Frank Hatje Die private Öffentlichkeit des Hauses im deutschen und englischen Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts — 503 Ausgewählte Literatur — 525
Teil V: Haus und Zugehörigkeit Simone Derix Einführung: Haus und Zugehörigkeit — 529 Kaspar von Greyerz Das Haus als Ort der Andacht — 537 Suraiya Faroqhi Haus und Herrschaft in der osmanischen Welt — 553 Daniel Menning Adel und Haus: Deutungshorizonte im 19. und 20. Jahrhundert — 571 Simone Derix Haus und Translokalität: Orte der Macht – Orte der Sehnsucht — 589 Anton Tantner Vom Hausnamen zur Hausnummer: Die Adressierung des Hauses — 605 Nacim Ghanbari Häuserromane — 623 Ausgewählte Literatur — 639
Teil VI: Wissensordnung und Ordnungswissen Philip Hahn Einführung: Wissensordnung und Ordnungswissen — 643
Inhalt
Astrid Habenstein Das Haus in den Wissensordnungen der griechisch-römischen Antike — 649 Anna Becker Der Haushalt in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit — 667 Steffen Schlinker Das Haus im Recht der Frühen Neuzeit — 685 Hans-Georg Lippert Das Haus in Architekturtraktaten zwischen 1450 und 1950 — 701 Thomas K. Kuhn Das ‚Haus‘ im Protestantismus: Historisch-theologische Perspektiven — 725 Christian von Zimmermann Literarische Anthropologie des Hauses: Individuum, Familie und Haus in der Biedermeierzeit — 743 Ausgewählte Literatur — 761 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren — 763 Abbildungsverzeichnis — 769 Personenregister — 771 Ortsregister — 779
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Vorwort und Danksagung Seit einigen Jahren erlebt das Thema ‚Haus‘ in den historisch arbeitenden Wissenschaften einen bemerkenswerten Aufschwung. Offensichtlich wurde bislang das Potenzial unterschätzt, über das Haus als Basiskategorie wesentliche Strukturprinzipien und Bedeutungsebenen vergangener Gesellschaften zu rekonstruieren. Das Handbuch führt die wichtigsten neueren Ansätze und Ergebnisse zusammen und bietet damit Forschenden und Studierenden sowie dem interessierten Publikum einen Einstieg in ein transepochal und interdisziplinär aufgefächertes Forschungsfeld. Als Schnittpunkt der materiellen, sozialen und imaginären Dimensionen menschlicher Existenz hat das Haus in allen Sozial- und Kulturwissenschaften seinen Platz. Allerdings hat die Forschung zu den einzelnen Epochen und erst recht diejenige verschiedener Disziplinen bisher wenig Notiz voneinander genommen. Dass das Haus primär als Gegenstand der Forschung zu vormodernen europäischen oder auch außereuropäischen Gesellschaften firmiert, liegt in seiner Wissenschaftsgeschichte begründet. Denn die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte des Hauses nahm ihren Ausgang um 1900 und damit in einer Ära, als die entstehenden Sozial- und Kulturwissenschaften die massiven gesellschaftlichen Umbrüche und Dynamiken der Zeit zu erklären und historisch einzuordnen suchten. Vor diesem Hintergrund thematisierte die Forschung das Haus und vor allem den historischen Wandel seiner Funktionen, wobei Erzählungen des Verlusts einer vermeintlich besseren, menschlicheren Ordnung jenen der Überwindung traditionaler Grenzen und herkömmlicher Beschränkungen gegenüberstanden. Dies führte von Beginn an zur Gefahr einer ideologischen Aufladung des Hauses. In der wissenschaftlichen Kontrastierung zwischen ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ wurde das Haus geradezu zum Epochensignum der Vormoderne. Das Handbuch bietet einen Überblick über aktuelle Themen, Fragestellungen, Herangehensweisen und Neuinterpretationen von Aspekten, bei denen das Haus in der vormodernen wie in der modernen Geschichte Europas präsent war und ist. Entsprechend diskutieren die Artikel die ihrem Gegenstand zugrunde liegenden Forschungszusammenhänge, bieten einen Überblick über die Ergebnisse im europäischen Kontext, greifen die Frage nach dem Übergang von der Vormoderne zur Moderne auf und erörtern weiterführende Perspektiven. Den inhaltlichen Kapiteln vorangestellt ist ein Abschnitt, der die Entwicklung der maßgeblichen Ansätze, Themen, Methoden und Forschungskontexte in ausgewählten europäischen Nationalhistoriographien skizziert (Teil I). Dieser Zugang verdeutlicht im Vergleich die Implikationen unterschiedlicher Quellenbegriffe und Forschungskonzepte und schafft so eine Grundlage für übergreifende Untersuchungen zum facettenreichen Themenfeld Haus. Ein Ausgangspunkt ist sodann die Materialität des Hauses und die Geschichte der Wohnkultur (Teil II), dem der Bereich der sozialen und ökonomischen Konstellatio-
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nen innerhalb des Hauses folgt (Teil III). Daran anschließend richtet sich der Blick auf die Einbettung des Hauses in seine soziale Umwelt und die unterschiedlichen Interaktionen, die aus dem Haus heraus und in das Haus hineinwirken (Teil IV). Über das Haus wurde in der Geschichte in verschiedenster Weise Zugehörigkeit definiert und organisiert, die sich standesspezifisch, als historisches Selbstbild oder in translokalen Kontexten von Familienverbänden konkretisierte (Teil V). Abschließend wird die Funktion und Bedeutung des Hauses in verschiedenen Wissensordnungen Europas thematisiert, die gerade in ihrer wechselseitigen Verflechtung, in Rückbezügen und Ausblendungen einen wichtigen Resonanzraum für die konkreten, ineinandergreifenden Normierungsprozesse im und um das Haus darstellen (Teil VI). Jedes Kapitel wird in einer Einführung vorgestellt und mit einer Zusammenstellung ausgewählter Literatur abgeschlossen. Kein Handbuch kann Vollständigkeit beanspruchen oder anstreben, und so fehlen zweifellos auch hier Aspekte, die von Bedeutung für das Thema Haus sind. Gleichwohl hoffen die HerausgeberInnen, dass die Berücksichtigung weiterer Disziplinen neben der Geschichtswissenschaft die Anschlussfähigkeit der Fragestellungen deutlich macht und Anregungen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet. Das Handbuch verbindet und vernetzt Forschungsfelder zum Haus aus verschiedenen Epochen und Wissenschaftskulturen und präsentiert den aktuellen Wissensstand, um Anstöße zu geben, die Geschichte der europäischen Gesellschaften aus dieser Perspektive neu zu denken. Da die eingangs skizzierte Forschungstradition das gegenwärtige Bild vom Haus in den historisch arbeitenden Wissenschaften immer noch stark prägt, ist es ein besonderes Anliegen, die wirkmächtige Trennung zwischen Vormoderne und Moderne und die damit einhergehende Verortung des Hauses allein in der Vormoderne zu hinterfragen. Die Geschichte des Hauses endet nicht einfach um 1800. Deshalb bedarf es der Einbeziehung von neuen Forschungsergebnissen und Perspektiven auch auf das 19. und 20. Jahrhundert. Das Konzept des Handbuchs basiert auf den Diskussionen und Tagungsergebnissen des Arbeitskreises ‚Haus im Kontext. Kommunikation und Lebenswelt‘, der 2008 auf dem Deutschen Historikertag in Dresden gegründet wurde und sich jährlich auf Schloss Beuggen bei Rheinfelden trifft. Der Arbeitskreis hat sich die Vernetzung von Forschungen zum Haus im internationalen, interdisziplinären und transepochalen Rahmen zur Aufgabe gemacht. Der Fritz Thyssen Stiftung in Köln wie auch der Werner-Zeller-Stiftung in Leonberg sei herzlich für die großzügige Finanzierung zweier Tagungen 2013 und 2014 gedankt, auf denen die BeiträgerInnen des Handbuchs ihre Positionen und Perspektiven vorstellen und diskutieren konnten. Dank geht auch an Dorothea Wolfrum und Katharina Simon (Universität Osnabrück) für ihre Unterstützung und Tatkraft bei der Organisation und Durchführung der Tagungen. Dass aus diesem Diskussionszusammenhang das vorliegende Handbuch entstehen konnte, ist neben dem Engagement der HerausgeberInnen und AutorInnen auch dem Einsatz Anderer zu verdanken: Florian Hoppe vom Verlag De Gruyter Oldenbourg hat das Buchprojekt im Entstehen intensiv begleitet und – was mittlerweile
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eine Seltenheit ist – durch intensive und stets konstruktive Lektoratsarbeit vorangetrieben, wofür wir ihm herzlich danken möchten. Die Fritz Thyssen Stiftung hat den Druck des Handbuchs durch einen Druckkostenzuschuss möglich gemacht, wofür ihr ebenfalls großer Dank gebührt. Bei der Aufbereitung der Texte hat Maurice Cottier (Universität Bern) wertvolle Unterstützung geboten, Maximilian Lederer möchten wir für seinen großen Beitrag zur Erstellung der Register danken. Ein ganz besonderer Dank geht an Roman Bonderer (Universität Bern) für unschätzbare Leistungen bei der redaktionellen Bearbeitung aller Texte des Handbuchs, das ohne ihn nur halb so zügig zustande gekommen wäre Simone Derix Joachim Eibach Philip Hahn Elizabeth Harding Margareth Lanzinger Inken Schmidt-Voges
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Geleitwort
In den letzten ca. dreißig Jahre wurde eine Vielzahl neuer Forschungsarbeiten zum ‚Haus‘ bzw. ‚Haushalt‘ publiziert. Einige dieser Arbeiten – vor allem in Deutschland – waren motiviert durch ein Unbehagen an dem einheitlichen Bild des Hauses bei Otto Brunner. Brunners Modell des autarken ‚ganzen Hauses‘ basierte explizit auf einem Modernisierungsnarrativ. Demgegenüber wurde es zu einem zentralen Anliegen der neueren Forschung, die Dynamik verschiedener Arten von Häusern und Haushalten herauszuarbeiten und Wandel zu thematisieren, ohne dabei Unterschiede in puncto Region und Klasse, Beziehungen und Abhängigkeiten, verschiedenartiger Strukturen, performativer Stile, Mobilisierung von Ressourcen, demographischer Varianz und Machtkonstellationen außer Acht zu lassen. Kurz gesagt, die Historikerinnen und Historiker haben statische, normative und institutionelle Vorannahmen aufgegeben zugunsten eines Fokus auf Heterogenität, prozessualen Abläufe und Variationen. Und anstelle des alten Modernisierungsnarrativs ‚Vom Haus zur Kernfamilie‘ untersuchen sie heute auf verschiedene Weise mit unterschiedlichen Konzepten Diversität, Kontingenz, ‚Eigensinn‘, Praktiken und agencies. Die Absicht dieses Handbuchs ist es, ein Gebiet zu erkunden, von dem wir einmal dachten, wir würden es bereits kennen, und eine große Vielfalt neuer claims abzustecken, die neue Forschungsperspektiven für die kommende Generation anregen. Nicht wenige der neuen Forschungsansätze gehen von der Einsicht einiger Sozialund Kulturhistoriker aus, dass menschliche Beziehungen vielfältig und komplex sind. Die Sozialhistoriker der 1960er Jahre durchkämmten die Archive auf der Suche nach unerschlossenen Materialien, meistens serielle Quellen, um übergreifende Makro-Thesen herauszufordern. Dieses Projekt versuchte, Praktiken, Logiken und Beziehungen aufzudecken, die sowohl bedeutungsvoll für die historischen Akteurinnen und Akteure als auch historischem Wandel ausgesetzt waren. Dabei mussten die Morphologie und die Kausalität sozialer Prozesse neu gedacht werden. Eine halbe Generation später begann auch die Geschlechtergeschichte, alte Annahmen über die Frage, was die zentralen Merkmale einer Gesellschaft sind, ins Wanken zu bringen. Sie veranlasste eine Überprüfung des Verhältnisses zwischen Produktion und Reproduktion, konzeptualisierte die Machtbeziehungen in Haushalt und Familie neu und hinterfragte übliche analytische Werkzeuge wie ‚Klasse‘, ‚Stand‘ und ‚Status‘. Nicht alle neuen Ansätze können hier gebührend erwähnt werden. Aber nicht zuletzt war es die Mikrogeschichte der 1970er und 80er Jahre, die bestrebt war, die Verbindungen zwischen lokalen Praktiken und komplexen Umwelten aufzuzeigen. In mancher Hinsicht legten mikrohistorische Ansätze den Akzent auf das Besondere (particularity), indem sie nämlich das dichte Netzwerk der Beziehungen erkundeten, die die Logik des Verhaltens kontextualisieren. Dies betrifft Beziehungen im Hinblick auf Geschlecht, Generationen, Nachbarschaft, Gemeinde, Wirtschaft und Religion. In
Geleitwort
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den letzten beiden Jahrzehnten dann wurden, angestoßen durch die Geschlechter-, die Sozial- und die Mikrogeschichte, ‚Strategie‘, ‚Taktik‘ und ‚agency‘ unverzichtbare Kategorien der historischen Forschung. All diese Aufbrüche in der historiographischen Arbeit erschütterten die ‚Strukturen‘, das ‚Systemverhalten‘ und grand narratives. Allerdings erschwerten sie auch die Darstellung der Faktoren des Wandels und das Unterfangen, eine Geschichte zu erzählen, geschweige denn die Geschichte. Vor diesem Hintergrund ist es ein zentrales Anliegen des vorliegenden Buchs, Differenzen und Komplexität zu berücksichtigen, aber zugleich auch signifikante Schritte in Richtung kohärenter und überzeugender Narrative aufzuzeigen. Dabei liegt ein zentraler Fokus auf der Periode zwischen 1750 und 1850, der sog. Sattelzeit, in der es angeblich zum entscheidenden Durchbruch vom autarken ‚Haus‘ zur modernen ‚Familie‘ kam, und zwar im Kontext einer totalen Rekonfiguration von Raum, ökonomischer Funktion und politischer Stellung. Indem es beide Desiderate – Morphologie und Komplexität – erfasst, synthetisiert das Konzept des ‚offenen Hauses‘ die aktuelle Forschungsliteratur zu Häusern, Haushalten und Familien und bietet zugleich einen Kompass für zukünftige Forschung. Zahlreiche neue Arbeiten thematisieren das bürgerliche Milieu, das eine ungeheure Zahl an neuen Quellen produzierte: von Moraltraktaten über Tagebücher und Memoiren bis zu Romanen. Seit Jürgen Habermas‘ einflussreichem Werk über die ‚bürgerliche öffentliche Sphäre‘ haben Historiker versucht, das sich wandelnde Verhältnis zwischen ‚dem Privaten‘ und ‚dem Öffentlichen‘ aufzuzeigen. Dabei werden – mit Blick auf die ‚Sattelzeit‘ – bis dato häusliche Praktiken wie Arbeit, Bildung und Gesundheitspflege in die öffentliche Sphäre ‚ausgelagert‘, während die neu entstehende private Sphäre auf eng gestrickte Intimität, arbeitsfreie Entspannung und demographische Reproduktion reduziert wird. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass es genau in dieser Zeit, für die jene ‚moderne‘ Rekonfiguration angenommen wird, zu einer Intensivierung der Praktiken in der häuslichen Sphäre kam. Folgende relevanten Aspekte lassen sich für diese Zeit feststellen: eine komplexe Vielfalt häuslicher Bewohner, die Bedeutung der häuslichen Sphäre als Mittelpunkt politischer Allianzen und kultureller Aktivitäten, das Aufblühen von Korrespondenznetzwerken sowie die Ausgestaltung und Intensivierung von Verwandtschaftsallianzen und allgemein Verwandtschaftsbeziehungen. Das Handbuch kehrt – nach einer Generation an Forschung – zu einer Erkenntnis von Habermas zurück, dass nämlich die öffentliche Sphäre im Haus beginnt. Das Haus erzeugt und unterstützt soziale Milieus, Klassen, Nachbarschaften und Netzwerke. Darüber hinaus stellt es den notwendigen Sozialisationskontext für Politik, Regierung, Bildung, Geschäft und kulturelle Arbeit her. Man kommt nicht um das Haus herum als dasjenige Instrument, das den Menschen soziale Rollen ‚zuweist‘. Das ‚offene Haus‘ war die zentrale Bühne, auf der Charaktere geprägt und Karrieren lanciert wurden. Wichtig ist es, auf dieser Bühne auch den Ort für das Handeln der Frauen einzuräumen. Denn das alte Narrativ übersah die relevante Arbeit der Frauen im Hinblick auf den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Netzwerken, das tägli-
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che Management komplexer Haushalte, die Pflege der reichhaltigen und aufwändigen Besuchskultur, die Kreation neuer Praktiken einer häuslichen Behaglichkeit, die Beratung von Familienmitgliedern bei politischen und geschäftlichen Aktivitäten, den Aufwand für immer qualifiziertere Dienste in puncto Bildung und Sozialisation der Kinder, das Angebot immer besserer Gesundheitspflege und – sehr wichtig – die Entwicklung eines bestimmten Stils, der für das Milieu, in dem die jeweilige Familie verkehrte, adäquat war. Indem Historikerinnen und Historiker das Paradigma der Modernisierung überdachten, trugen sie auch das Modell des ‚vormodernen‘ Hauses Stück für Stück ab. Darüber hinaus ist es nicht länger angemessen, die Geschichte von Familie und Haushalt von der Warte normativer Literatur aus zu verstehen. Vor einiger Zeit verschwanden die verschiedenen Generationen aus dem Haushalt. Und auch die einfache Annahme, dass die Menschen in der Vormoderne das Haus zum Zweck der Arbeit nicht verließen, ist nicht länger haltbar. Insgesamt verfügte weit über die Hälfte aller Haushalte während der Frühen Neuzeit nicht über ausreichende Ressourcen, um die eigene Subsistenz sicherzustellen. Die Auswertung neuer Quellen hat beachtliche Erkenntnisse über Praktiken erbracht, die das ‚geschlossene‘ Haus öffnen. So wird das Haus heute im Kontext nachbarschaftlicher und gemeindlicher Praktiken sowie im Hinblick auf Patron-Klient-Beziehungen analysiert. Häuser waren in verschiedene soziale Netzwerke integriert. Besonders erhellend ist der Umstand, dass die Netzwerke der verschiedenen Haushaltsangehörigen nicht vollständig kongruent waren. Im älteren ‚Autarkie-Modell‘ folgte der Besitztransfer bestimmten etablierten Regeln. Indessen verweisen die Artikel des Handbuchs auf verschiedene Strategien und auch individuellen ‚Eigensinn‘. Schlussendlich hat die Forschung über Praktiken und Erfahrungen dem immer wieder replizierten Modell des statischen ‚Hauses‘ im Sinne eines abgeschlossenen, autarken Containers mit einer bestimmten basalen Form ein Ende gesetzt.
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Das Haus in der Vormoderne Für die Geschichte Europas in der Vormoderne besaß und besitzt das Haus ein besonderes Deutungspotenzial.1 Nicht nur, weil es die soziale Institution wie auch die Architektur gemeinsam lebender und wirtschaftender Menschen bezeichnet – das tut es in allen Epochen –, sondern weil es darüber hinaus als Modell gesellschaftlicher Organisation und Ordnung insgesamt fungierte. Gerade diese normativ-ideelle Dimension machte das Haus für die Sozial- und Geisteswissenschaften zu einem Epochensignum, dessen strukturelle Veränderungen zwischen 1750 und 1850 als Markierung des Übergangs zur Moderne gelten und so eine Scheidelinie entlang der Gegenüberstellung des ‚christlichen Hauses‘ und der ‚bürgerlichen Familie‘ etabliert haben. Die wirkmächtigen Konzepte des 19. Jahrhunderts, etwa von Frédéric Le Play oder Wilhelm Heinrich Riehl und im 20. Jahrhundert noch von Otto Brunner, waren vor allem einer nostalgisch motivierten Verlusterzählung eines wesenhaft und organisch verstandenen ‚ganzen Hauses‘ gefolgt. Ihnen setzte die Sozialgeschichte seit den 1960er Jahren eine breite empirische Basis entgegen, anhand derer die diffus gebliebene Wahrnehmung der Veränderungen konkretisiert und zu eigenen Thesen formuliert wurden. Drei Aspekte wurden – von der Sozialgeschichte des Bürgertums, aber auch zur Reformation sowie zum Kommunalismus – als epochenspezifisch angesehen: die Frage der Integration bzw. Desintegration von Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, die personelle Struktur und Gestaltung der sozialen Beziehungen innerhalb eines Hauses sowie schließlich die Frage der rechtlich-institutionellen Verankerung im Gemeinwesen. In allen drei Aspekten ist die materielle Dimension menschlicher Existenz mit der sozialen unauflöslich verknüpft und doch sind sie von eigenen, unterschiedlichen Prozessen und Strukturen geprägt, die hier aufeinander treffen und ineinandergreifen. Die Mehrdimensionalität des Hauses in der Vormoderne korrespondiert mit dem Verständnis der Zeitgenossen, wie verschiedene Lexikoneinträge zeigen. Peter Kolin notierte 1541 in seinem deutsch-lateinischen Wörterbuch, das Wort domus, Haus würde „continens pro contento“ gebraucht, der Beiträger zu „Zedlers UniversalLexikon“ teilte 1735 sein Lemma ‚Haus‘ in „materialiter, civiliter und juridice“ ein.2 Während sich in der deutschen Sprache diese Polyvalenz des Wortes ‚Haus‘ für die
1 Ich danke den MitherausgeberInnen sowie Falk Bretschneider (Paris) und Annette Cremer (Gießen) für kritische Lektüre und wichtige Anregungen. 2 Peter Kolin, Dictionarium Latinogermanicum. Zürich 1541, 297; Art. Haus, in: Johann Heinrich Zedlers Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 12. Leipzig 1735, 873 f.
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Architektur, die Praktiken im Haus (husen, hus-halten) wie auch für rechtliche Ordnungskonzepte (hus-vrouwe/hus-muoter bzw. hus-herr/hus-vater als Übersetzung aus dem Lateinischen mater bzw. pater familias) fortsetzte, trennten sich die Bedeutungsebenen in anderen Sprachen lexikalisch deutlich früher. So wurde etwa bereits im Mittelfranzösischen zwischen maison, maisonnée, ménage oder domesticité unterschieden oder im Englischen zwischen house, household, home und domesticity.3 Im Folgenden soll das Haus in der Vormoderne als Gegenstand der historischen Forschung zunächst im Hinblick auf seine Materialität in den Blick genommen werden, dann als soziale Formation und schließlich als Adressat gesellschaftlicher Ordnungskonzepte. Dem Ansatz des Bandes entsprechend, werden hier neben den zentralen Entwicklungslinien der Forschungsgeschichte vor allem neue Zugänge und Perspektiven vorgestellt, an welchen die Einzelbeiträge des Bandes anschließen. Allen Bereichen ist gemeinsam, dass der lange vorherrschende normativ-institutionelle Zugriff auf das ‚Haus‘ durch die – in allen geschichtswissenschaftlichen Feldern zu beobachtende – methodisch-theoretische Schwerpunktverschiebung hin zu Praktiken und Akteuren erweitert wurde und dadurch neue Impulse gesetzt wurden. Durch sie entstanden zunehmend Zweifel an der Tragfähigkeit der älteren Modelle, so dass in letzter Konsequenz auch der Epochencharakter des Hauses als exklusives Signum der Vormoderne zur Disposition steht. Im Folgenden gilt es zu zeigen, wie sich der Blick auf das Haus in der Vormoderne verändert hat, Zusammenhänge neu definiert und miteinander verknüpft wurden und dadurch ‚Häusliches‘ in anderen Epochen – insbesondere in der Moderne – erkennbar wird.
1 Das Haus als Gebäude: Wohnen und Arbeiten In seiner materiellen Dimension ist das Haus auf verschiedene Weise auf die Lebensformen der Menschen bezogen. Als Gebäude mit Wänden, Dach, Fenstern und Türen bot es für Mensch und Tier Schutz vor Wetter und Natur, es gewährte Wärme und Sicherheit; sein Raum wurde durch unterschiedliche Nutzungs- und Gestaltungs-
3 Für die Bandbreite der Begrifflichkeiten um 1500 vgl. das Gesamtwerk von Martin Luther, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe/Weimarer Ausgabe (WA), 73 Bde. Weimar 1883–2009. Vgl. auch „Luthers Werke im WWW“, URL: http://luther.chadwyck.co.uk (Zugriff: 08. 02. 2015). Eine systematische wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung, die Texte unterschiedlicher Provenienz, Gebrauchssituationen und den Einfluss durch Übersetzungen aus dem Lateinischen berücksichtigen würde, liegt bislang nicht vor; Dieter Schwab, Familie, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, 3. Aufl. Bd. 2. Stuttgart 1992, 253–301 verhandelt das ‚Haus‘ im Kontext von Familie. Vgl. zu den Quellenbegriffen die Beiträge in diesem Band in Sektion I und grundlegend hierzu Irmintraut Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Ökonomik. Göttingen 1991 sowie die Beiträge in dies. (Hrsg), Haushalten in Geschichte und Gegenwart. Göttingen 1994.
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formen strukturiert. Die Innenausstattung mit Gegenständen wie Möbeln, Hausrat, Kunstgegenständen, Büchern und Werkzeugen diente zum Einen der alltäglichen Arbeit für den Lebensunterhalt, zum Anderen konnte sie auch für Bildung, religiöse Praktiken oder Freizeitvergnügen genutzt werden. Das gebaute Haus als Ort des Wohnens und Arbeitens wurde zunächst in der historischen Bauforschung thematisiert, aus volkskundlicher wie architekturhistorischer Perspektive.4 Bauweise und Gestaltung der Häuser variierten je nach Region und ökonomischen, sozialen und politischen Erfordernissen und Ressourcen seiner Bewohner. Während etwa rund um das Mittelmeer und in den Gebirgsregionen vielfach Steine und Felsen als Baumaterialien vorherrschten, fanden sich in den wald- und pflanzenreicheren Tälern und Ebenen Mittel- und Nordeuropas vorwiegend Holz- und Fachwerkbauten.5 Die Wahl des Materials, Bauweise und Gestaltung dienten zugleich der sozialen Distinktion, wie etwa Steinhäuser in Fachwerkensembles oder der vielfach zu beobachtende Wettstreit in der Fassadengestaltung wohlhabender Bürgerhäuser zeigen.6 Hofstellen mit mehreren Gebäuden, Wohnstallhäuser, Hallenhäuser, Stubenhäuser, Bürgerhäuser, Klosteranlagen, Gutshäuser, Burgen, Schlösser, Amtshäuser und Rathäuser gruppierten sich in vielfältiger Weise zu Dörfern, Städten und losen Siedlungen. Architekten, Gelehrte und Verwaltungsexperten setzten sich intensiv mit den Fragen der funktionalen Optimierung auseinander, wobei sie auf soziale, politische und ökonomische Veränderungen reagierten.7 Häuser konnten einen oder mehrere Haushalte umfassen: In ländlichen Regionen wohnten nicht selten sog. Heuerlingsfamilien, Inwohner oder die Familien nachgeborener Geschwister mit auf einem Hof; in den Städten wurden Räume in Bürgerhäusern an andere Haushalte vermietet, auch in Schlössern lassen sich neben dem herrschaftlichen eine Vielzahl anderer Haushalte finden.8 Aus verwaltungshistorischer Perspektive wurde das Haus als Gebäude vor allem im Hinblick auf seine Bedeutung für die gemeindliche Infrastruktur hin untersucht. Bauordnungen verweisen auf sich verändernde Bedürfnisse hinsichtlich der Gestal-
4 Vgl. hierzu den eigenen Forschungszweig der Hausforschung mit dem „Jahrbuch der Hausforschung“ als eigenem Publikationsorgan. Joachim Friedrich Baumhauer, Hausforschung, in: Rolf W. Brednich (Hrsg.), Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3. Aufl. Berlin 2001, 101–131; Konrad Bedal, Historische Hausforschung. Eine Einführung in Arbeitsweise, Begriffe und Literatur. 2. Aufl. Bad Windsheim 1993. 5 Raffaela Sarti, Europe at Home. Family and Material Culture 1500–1800. New Haven 2002. Vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band. 6 Hans-Georg Lippert, Das Haus in der Stadt und das Haus im Hause. Bau- und Wohnformen des 13.–16. Jahrhunderts. München 1992. 7 Vgl. den Beitrag von Hans-Georg Lippert in diesem Band. 8 Nadine Akkerman (Hrsg.), The Politics of Female Households. Ladies-in-waiting across Early Modern Europe. Leiden 2014; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrücker Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit 1760–1850. Göttingen 1997, 539–615.
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tung und Nutzung von Siedlungsräumen. Vorschriften zur Materialwahl und Bauweise – etwa den Einbau gemauerter Kamine und Öfen betreffend – entsprangen verstärkten Bemühungen, (Feuer-)Sicherheit herzustellen. Zugleich dienten Häuser als kleinste Einheit der Erfassung und des Zugriffs der Obrigkeiten. Steuerlisten, Brandkassenregister und andere administrative Quellen wurden ebenso wie Wachund Verteidigungsdienste in der Regel nach Straßenzügen und Häusern organisiert. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzten sich Instrumentarien für einen gezielten Zugriff wie die Hausnummerierung durch. Sie gliederten das Haus in verschiedene Haushalte als ökonomische Einheiten und veränderten so das stadträumliche Prinzip.9 Hausfriedensbestimmungen markierten das Haus als einen besonders schützenswerten Raum, der Bewohnern und Dingen Sicherheit vor Diebstahl, Raub und gewalttätigen Angriffen gewähren sollte. Immer wieder standen dabei Türen, Wände, Dach, Fenster oder gar Grundstücksgrenzen wie Mauern, Zäune und Pfosten als materielle Reifikationen der abstrakten Rechtsvorstellung im Zentrum der Regelungen.10 Ausgangspunkt der Sozialgeschichte, die sich für die Frage nach der Relevanz der räumlichen Verortung von Tätigkeiten interessierte, war das Haus als Gebäude und materiell-räumliches Gefüge, da man die Ansicht vertrat, daran Charakteristika der sozialen Organisation und deren Wandel ablesen zu können. Ausgangsthese der älteren Sozialgeschichte war die Annahme, für das vormoderne Haus sei vor allem die räumliche Integration aller Lebensprozesse unter einem Dach kennzeichnend gewesen – von der Geburt über die Erziehung und Ausbildung, die Herstellung und Verarbeitung von Rohstoffen bis hin zu Krankheit und Tod. Der Wandel von der Stände- zur industrialisierten Klassengesellschaft sei in einer zunehmenden räumlichen Trennung zwischen der sog. Erwerbsarbeit und Hausarbeit greifbar: (männliche) Lohnarbeit in Büros und Fabriken auf der einen Seite, verwaltende, pflegerische sowie erzieherische unentlohnte (weibliche) Arbeit im Haushalt auf der anderen Seite. Auch die frühe Geschlechtergeschichte nahm ausgehend von Befunden aus normativen Quellen eine Domestizierung der Frau durch die reformatorischen Konzepte an, die sie mit der Beschreibung von Tätigkeiten des Versorgens, Verarbeitens und Verwaltens in das Haus und aus dem als öffentlich verstandenen Raum verwie-
9 Albert Buff, Bauordnung im Wandel. Historisch-politische, soziologische und technische Aspekte. München 1971; zur städtischen Steuererhebung im europäischen Vergleich siehe etwa José Ignacio Andrés Ucendo u. a. (Hrsg.), Taxation and Debt in the Early Modern Cities. London 2012; Stefanie Rüther, Zwischen göttlicher Fügung und herrschaftlicher Verfügung. Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation. Köln 2013, 335–350; Thomas Küntzel, Verfallende Zeichen innerer Wehrhaftigkeit. Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit, in: ebd., 738–758; zur Hausnummerierung vgl. den Beitrag von Anton Tantner in diesem Band. 10 Vgl. hierzu Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens. Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert. Berlin 2015, 89–212; Bernd Kannowski, Hausfrieden, in: Adalbert Erler (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2. Berlin 2012, 803–805.
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sen habe – ein Prozess, der dann durch die Etablierung von Geschlechtscharakteren in der Aufklärung fortgeführt worden sei.11 In der Tat waren Wohnen und Arbeiten in vormodernen Gesellschaften auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Produzierende, verarbeitende und versorgende Tätigkeiten im Rahmen eines Haushalts fanden oft in räumlicher Nähe zueinander statt. Das galt vor allem für jene Häuser, deren ökonomische Basis eng an Grundbesitz gebunden war, wie bäuerliche Erbpacht, adelige Güter oder Handwerksbetriebe mit Meisterstellen. Aber auch in Handelskontoren, Wirts- und Professorenhäusern, Apotheken, Wundarztpraxen und Baderstuben waren Wohnen und Arbeiten vielfach aufeinander bezogen. Die Geschlechtergeschichte hat entsprechend schon früh – die eigenen Thesen modifizierend – in ihren Untersuchungen herausgearbeitet, dass die aus der normativen Literatur abgeleitete These einer klaren Trennung von männlichen und weiblichen Sphären im Haus nicht auf die soziale Praxis übertragen werden kann. Heide Wunders Formulierung des ‚Arbeitspaares‘12 verweist auf Verschränkungen der Tätigkeitsräume beider Geschlechter, und zahlreiche Einzelstudien für viele europäische Regionen haben herausgearbeitet, dass Frauen und Mädchen je nach sozialem Milieu in Werkstätten mitarbeiteten, die Buchführung erledigten, den Verkauf von Waren organisierten oder vor Gericht geschäftliche Streitsachen vertraten. Arbeiten, die sich mit den ökonomischen Praktiken insbesondere von Frauen befassen, zeigen in einem weiten regionalen Bogen von Schweden über England, Frankreich und das Alte Reich ein hohes Maß an Diversität von Erwerbsformen einerseits und rechtlicher Eigenständigkeit andererseits. Sie verweisen darauf, dass die These der zunehmenden Beschränkung auf den Binnenraum des Hauses als Teil der normativen Zuschreibung zu sehen ist und nicht mit der Praxis in den vormodernen Gesellschaften Europas gleichgesetzt werden darf – wenngleich rechtliche Ungleichheit und asymmetrische Machtbeziehungen nicht zu einem zu harmonischen Bild eines Arbeitspaars verleiten dürfen.13
11 Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtercharaktere‘ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393; Barbara Becker-Cantarino, Vom ‚Ganzen Haus‘ zur Familienidylle. Haushalt als Mikrokosmos in der Literatur der Frühen Neuzeit und seine spätere Sentimentalisierung, in: Daphnis 15, 1986, 509–533; Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg. Oxford 1989; Marion Gray, Productive Men, Reproductive Women. The Agrarian Household and the Emergence of Separate Spheres during the German Enlightenment. New York 2000. 12 Heide Wunder, ‚Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond‘. Frauen der Frühen Neuzeit. München 1992, 94–98. 13 Vgl. etwa Christine Werkstetter, Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert. Berlin 2001; Karin Gottschalk, Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig. Frankfurt am Main 2003; Siegrid Westphal (Hrsg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches. Köln 2005; Julie Hardwick, Family Business. Litigation and the Political Economies of Daily Life
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Die Frage nach den konkreten Praktiken verschiedener Akteure sowie eine Loslösung von gegenwartsbezogenen Begriffen von ‚Beruf‘ und ‚Erwerb‘ öffneten den Blick für die Zusammensetzung häuslicher Ökonomien, die sich sehr viel stärker als bisher angenommen als „patchwork economies“ erwiesen.14 Das Einkommen von Haushalten bestand nicht nur aus Handelsüberschüssen, Verkaufserlösen, gezahlten Gehältern oder Löhnen. Hauswirtschaften waren vielfach diversifiziert mit einem Anteil an Lebensmittelproduktion durch Viehhaltung und Gartenbau, durch Vermietung von Räumlichkeiten, Werkzeug und Transportmitteln sowie anderen Nebeneinkünften. Tagelöhner, Heuerlinge und niedere städtische Angestellte waren ganz besonders darauf angewiesen, durch die Kombination verschiedener Tätigkeiten aller Haushaltsmitglieder gegen Entlohnung in anderen Haushalten die eigene ökonomische Basis zu sichern.15 Es gab also in der Vormoderne erheblich mehr Bereiche und Haushalte, in denen ‚außer Haus‘ gewirtschaftet wurde. Dagegen wiesen jene Haushalte, denen mit Blick auf das moderne Beamtentum und die Trennung von Erwerbs- und Hausarbeit eine Vorreiterrolle zugewiesen wurde, eine noch deutlich vorhandene und auch wirtschaftlich notwendige Verflechtung von Wohnen und Arbeiten auf. Amtsträger und obrigkeitliche Beamte wie Amtleute und Pfarrer betrieben eigene Landwirtschaft, Verwaltungsbeamte versahen ihren Dienst vielfach in ihrem Haus und nutzten ihren Zugang zu Verwaltungsquellen, um durch ‚Serviceleistungen‘ wie Abschriften und Kopien auf eigene Rechnung zu arbeiten. Gelehrte und Professoren waren ebenso auf eine komplexe häusliche Ökonomie angewiesen, die nicht nur die finanzielle Basis für ihre Arbeit darstellte, sondern auch eng mit der Tätigkeit in Forschung und Lehre verknüpft war.16
in Early Modern France. Oxford 2009; dies., The Practice of Patriarchy. Gender and the Politics of Household Authority in Early Modern France. Pennsylvania 1998; Maria Ågren, Domestic Secrets. Women and Property in Sweden, 1600–1857. Chapel Hill 2009; dies., Emissaries, Allies, Accomplices and Enemies. Married Women’s Work in Eighteenth-Century Urban Sweden, in: Urban Hist. 41, 2014, 394–414; Sofia Ling, ‚Spanska‘ citroner till salu. Om kvinnors handlingsutrymme på fruktmarknaden i 1700-talets Stockholm, in: Historisk Tidskrift 134, 2014, 3–30. Sheilagh Ogilvie, A Bitter Living. Women, Markets, and Social Capital in Early Modern Germany. Oxford 2006; Claudia Ulbrich, Shulamith und Margarethe. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Köln 1999, 1–31. 14 Elisabeth Gräslund Berg et al., Praktiker som gör skillnad: om den verb-inriktade metoden, in: Historisk tidskrift 133, 2013, 335–354. 15 Neben Tagelohn sei auf das Löffelschnitzen, Spinnen und Weben im Verlagssystem sowie die sog. Hollandgängerei verwiesen. 16 Für Verwaltungsbeamte vgl. Ulrike Ludwig, Verwaltung als häusliche Praxis, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Wien 2015 (im Erscheinen). Zu den Universitätsgelehrten Elizabeth Harding, Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden 2014; Stefan Brakensiek, Das Amtshaus an der Schwelle zur Moderne. Der Wandel in der Lebenswelt von Richtern und Beamten in hessischen Städten (1750– 1850), in: ZfG 48, 2000, 119–145; Johannes Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung. Württembergische Pfarrfamilien im 17. Jahrhundert. Mainz 2000. Monika Mommertz, Schattenökonomie der
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Ein anderer wichtiger Aspekt im Hinblick auf die Materialität des Hauses wird durch die material culture studies neu ausgelotet. Das gebaute Haus war – gerade aufgrund der Integration von Wohnen und Arbeiten unter einem Dach – auch Ort der sozialen Begegnung mit Nachbarn, Freunden, Kunden, Verwandten oder Obrigkeiten. Während die ältere Bau- und Wohnkulturforschung vor allem nach der Ausdifferenzierung der räumlichen Gliederung im Hinblick auf die Nutzung fragte – und damit verknüpft nach der Ausbildung von ‚privaten‘, nur einzelnen Hausbewohnern vorbehaltenen Räumen –, haben neue Studien die Bedeutung der Innenausstattung in den Mittelpunkt gestellt. Anhand von sachkultureller Überlieferung, Nachlassinventaren, Testamenten und Selbstzeugnissen lassen sich bewusste Arrangements von Möbeln, Büchern, Bildern, Stoffen und anderen Gegenständen in Räumen zeigen, in denen solche Begegnungen stattfanden. Indem die Wichtigkeit der Materialität auch des Innenraums eines Hauses betont wird, verweisen diese Studien auf die Relevanz des Hauses als Bühne der sozialen Repräsentation und bieten wichtige Anknüpfungspunkte für die Engführung von Materialität und sozialen Praktiken im Haus.17 Diese Dimension häuslicher Praxis bietet darüber hinaus die Möglichkeit, das Haus in seiner gesellschaftlichen Bedeutung neu zu konzeptionieren – als „offenes Haus“ in Abgrenzung zu älteren Modellen, die nicht nur den räumlichen, sondern auch sozialen geschlossenen, abgegrenzten Charakter des Hauses betont hatten.18
2 Das Haus als soziale Gruppe: Beziehungen, Interaktionen, Zugehörigkeiten Das Wort ‚Haus‘ bezeichnete wie gezeigt nicht nur das Gebäude, sondern auch die Gruppe der Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die darin zusammen wohnten und wirtschafteten.19 Diese Menschen waren häufig, aber nicht not-
Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Theresa Wobbe (Hrsg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000. Berlin 2002, 31–63. 17 Vgl. hierzu die Beiträge von Julia Schmidt-Funke und James Palmitessa in diesem Band sowie Daniel Roche, Histoire des choses banales. Naissance de la consommation dans les sociétés traditionnelles XVIIe-XIXe siècle. Paris 1999, 33–36; Renata Ago, Il gusto delle cose. Una storia degli oggetti nella Roma del Seicento. Rom 2006, 66; Tara Hamling/Catherine Richardson, The ‚Material Renaissance‘ and the Middling Sort. Domestic Goods and the Practices of Everyday Life in Provincial English Urban Houses, Conference Paper EAUH 2012, 4. Das neue Interesse an der materiellen Kultur ist eng verknüpft mit der Geschichte des häuslichen Konsums und der These von Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer demand and the Household Economy, 1650 to present. Cambridge 2008. 18 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 19 Zur allgemeinen Definition vgl. Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 10), 23–25.
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wendigerweise familial oder verwandtschaftlich miteinander verbunden. Was sie als Haushalt kennzeichnete, war die gemeinsame Teilhabe an und ihr Beitrag zu den materiellen und immateriellen Ressourcen des Hauses – sinnbildlich aufgegriffen im Ideal der gemeinsam eingenommenen Mahlzeit (commensalitas) und der Schlafstatt unter einem Dach. In rechtlich-institutioneller Hinsicht war der Haushalt durch die Rechtsvormundschaft des (zumeist männlichen) Haushaltsvorstands über alle anderen Mitglieder definiert, die seiner so begründeten Hausherrschaft unterstanden. Die patriarchal-hierarchische Ordnung stellte lange den Kern der Beschäftigung mit dem Haus als sozialer Gruppe dar, wobei die Frage der personellen Struktur von Haushalten und die Gestaltung der sozialen Beziehungen in einem Haushalt unterschiedlich in den Blick genommen wurden. Beherrschte lange die (romantische) Vorstellung des mehrgenerationellen Großhaushalts das Geschichtsbild, konnten die historisch ausgerichteten Studien zur Familien- und Haushaltsstrukturen seit den 1960er Jahren anhand statistischer Auswertungen zeigen, dass frühneuzeitliche Haushalte zum einen meist weniger Menschen umfassten als gedacht und zum anderen die Zusammensetzung von Haushalten erheblich differierte.20 Während ein Teil dieser Studien vor allem großräumige Langzeituntersuchungen durchführte, brachten in der Folge stärker regional und lokal ausgerichtete Untersuchungen die Binnenstrukturen der Haushalte ans Licht und verknüpften sie analytisch mit regionalen Rahmenbedingungen für Wohnen und Arbeiten sowie mit Praktiken und individuellen Strategien des Besitztransfers.21 Seit den 1980er Jahren ergänzten, erweiterten und differenzierten Studien aus ganz unterschiedlichen methodischen Richtungen den Blick auf die Binnenstrukturen der Haushalte sowie deren Integration in andere soziale Netzwerke, indem sie nach Praktiken, Wahrnehmungen, Kommunikation und Interaktion fragten. Wenngleich das Haus als soziales Gefüge dabei ganz unterschiedlich akzentuiert wurde, schärften sie die Aufmerksamkeit für die Differenz zwischen Norm bzw. Struktur und
20 Louis Henry, Anciennes familles genevoises. Étude démographique XVIe-XXe siècle. Paris 1956; Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Times. Cambridge 1972; zum Forschungsüberblick Christian Pfister, Historische Demographie 1500–1800. 2. Aufl. München 2007. 21 Michael Mitterauer, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. München 1977; ders., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus und Gemeinde in der vorindustriellen Gesellschaft. Stuttgart 1979; neue Arbeiten zur historischen Demographie unterstreichen die Bedeutung individueller Praktiken und stellen diese im größeren strukturellen Zusammenhang dar: Dana Štefanová, Erbschaftspraxis, Besitztransfer und Handlungsspielräume von Untertanen in der Gutsherrschaft. Die Herrschaft Frýdlant in Nordböhmen, 1558–1750. Wien 2009; Alice Velková, Krutá vrchnost, ubozí poddaní? Proměny venkovské rodiny a společnosti v 18. a první polovině 19. století na příkladu západočeského panství Št’áhlavy. Prag 2009; Christine Fertig, Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874). Stuttgart 2012; vgl. auch den Beitrag von Margareth Lanzinger in diesem Band.
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konkreter Praxis sowie für die Bedeutung individueller Positionen zwischen „Emotionen und materiellen Interessen“.22 Die Geschlechtergeschichte hat das wechselseitige Bedingtsein von Ehe und Haushalt herausgearbeitet und früh als wichtiges Untersuchungsfeld für die praktische Gestaltung der Beziehung zwischen Mann und Frau erschlossen. Denn einerseits konstituierte sich ein Haushalt durch die Eheschließung eines Paares23, andererseits bildete die gemeinsame Haushaltsführung als ‚Arbeitspaar‘ das Konstituens der ehelichen Beziehung.24 Bald wurde deutlich, dass die Handlungsspielräume nicht zwangsläufig so beengt waren, wie die normativen Texte hatten erwarten lassen. Vielmehr spielten die sozialen Konstellationen der umgebenden Netzwerke und die Akzeptanz oder Ablehnung des Verhaltens durch das nähere Umfeld eine wesentlich wichtigere Rolle; zudem eröffnete die für vormoderne Gesellschaften typische Normenpluralität eine Ebene der kreativen Nutzung von Lücken, Uneindeutigkeiten und Überschneidungen.25 Rasch weitete sich der Blick auf andere Lebenswelten von Frauen im Haus. Neben sozialhistorischen Untersuchungen zu Mägden galt vor allem Witwen besonderes Interesse, da sie nicht selten ihren Haushalt ohne Mann führten.26 Der Blick auf
22 So der Titel des einflussreichen Werkes von David Sabean/Hans Medick (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Perspektiven auf Familienforschung. Göttingen 1984. Während in den Arbeiten von David Sabean, Jürgen Schlumbohm und Hans Medick das Haus als eigene soziale Einheit deutlich hinter familialen und verwandtschaftlichen Netzwerken zurücktritt, tritt es in Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Das Haus und seine Menschen. München 1990 noch deutlich im Brunner’schen Gewand auf. Vgl. auch Dionigi Albera, Au fil des générations. Terre, pouvoir et parenté dans l’Europe alpine XIV–XX siècles. Grenoble 2011; Laurence Fontaine/Jürgen Schlumbohm (Hrsg.), Household Strategies for Survival 1600–2000. Fission, Faction and Cooperation. Cambridge 2008. 23 Zu wilden Ehen vgl. Inken Schmidt-Voges, Bestands- und Krisenphasen von Ehen in der Frühen Neuzeit, in: Anette Baumann/dies./Siegrid Westphal, Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit. München 2011, 89–162, hier 129; Jürgen Schlumbohm, ‚Wilde Ehen‘. Konkubinate als alternative Lebensform von Unterschichtpaaren, in: ders. (Hrsg.), Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis 20. Jahrhundert. Hannover 1993, 63–80. 24 Wunder, Frauen (wie Anm. 12). 25 Noch stark an der Normdurchsetzung als Beschränkung weiblicher Lebenswelten orientiert Roper, Holy Household (wie Anm. 11). Stärker aus der Mikro- und Alltagsgeschichte argumentierend etwa Alexandra Lutz, Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit. Frankfurt 2006; Hardwick, Family Business (wie Anm. 13). 26 Renate Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1996; Philippa Maddern, ‚In my Own House‘. The Troubled Connection Between Servant Marriage, Late-Medieval English Household Communities and Early Modern Historiography, in: Susan Broomhall/Stephanie Tarbin (Hrsg.), Women, Identities and Communities in Early Modern Europe. Aldershot 2008, 45–59; Jean-Pierre Gutton, Domestiques et serviteurs dans la France de l’Ancien Régime. Paris 1981; Sandra Cavallo, Widowhood in Medieval and Early Modern Europe. Hoboken 2014; Johanna Andersson Raeder, Hellre hustru än änka. Äktenskapets ekonomiska betydelse för frälsekvinnor i senmedeltidens Sverige. Stockholm 2011; Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie. Frankfurt am Main 2006.
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alleinstehende Männer als Haushalter ist dagegen erst jüngst als ernstzunehmendes Feld angesprochen worden.27 Mikrohistorische und historisch-anthropologisch ausgerichtete Arbeiten zu häuslichen Beziehungen thematisieren geschlechterbezogene Fragestellungen, betten diese aber meist in einen größeren Zusammenhang ein. In ihnen bildet das Haus einen Knotenpunkt im strategischen Besitztransfer und in der Verflechtung von Haushalten mit anderen sozialen Beziehungsgefügen wie Nachbarschaft, Gemeinde oder beruflichen Korporationen. Angesichts der Sterblichkeitsrate waren jedoch Mehrfachheiraten der Normfall, so dass sich Haushalte vielfach als patchwork-Familien darstellten. Gemeinsame Kinder, Stiefkinder, möglicherweise noch ein Mündel, waren mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen auf die materiellen Ressourcen zu versorgen. Andere Haushaltsmitglieder wie das Gesinde, unverheiratete Verwandte, Lehrlinge und Gehilfen kamen noch hinzu. Neben der Alltagsbewältigung wird das Haus bzw. die Zugehörigkeit zu einem Haushalt vor allem in Arbeiten zu Eigentumsrechten und Besitztransfer in den Blick genommen. Betrachteten frühere, anthropologisch orientierte Arbeiten vor allem die übergeordneten Strategien verschiedener Verwandtschaftslinien, betonen neuere Arbeiten eher das Ausbalancieren konfligierender Interessen und Ansprüche, um individuelle Schwerpunkte im Hinblick auf Besitz und Vermögen zu setzen. Neben Eheverträgen – bei deren Abfassung die Herkunftsfamilie auch eine wichtige Rolle spielte – können auch Testamente, Heiratsstrategien und Eheverträge für die Kinder sehr situative Entscheidungen zeigen, die nicht zuletzt im häuslichen Miteinander begründet waren. Begabungen, Ausbildungen und Partnerwahl entsprachen nicht immer den gewohnheitsrechtlich vorherrschenden Vererbungsprinzipien, so dass sich in der Nahsicht erstaunlich viel Eigensinn in der Praxis des Besitztransfers finden lässt, der eben nicht verwandtschaftlich, sondern häuslich begründet war und die häuslichen Ökonomien prägte.28 Die Zugehörigkeit zu einem Haushalt war nicht nur entscheidend für die Teilhabe an dessen materiellen Ressourcen als in die Zukunft gerichtete Daseinsvorsorge. Auch die immateriellen Ressourcen eines Haushalts besaßen für jedes Mitglied ein nicht unerhebliches Gewicht. Hierzu zählten einerseits die Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten innerhalb des Hauses. Kinder erhielten früh eine Grundausbildung in allen praktischen und verwalterischen Tätigkeiten, mit denen der Haushalt seinen Lebensunterhalt bestritt; längst wurde gezeigt, dass auch weibliche Mitglieder inten-
27 Elizabeth Harding, The Early Modern German Professor at Home –Masculinity, Bachelorhood and Family Concepts (16th–18th Centuries), in: Gender and Hist. (vorauss. 2015). 28 Vgl. hierzu den Beitrag von Margareth Lanzinger in diesem Band und die Angaben in Anm. 21; Stefan Brakensiek, Generationengerechtigkeit? Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500– 1850. Berlin 2006; Margareth Lanzinger u. a., Ehe aushandeln. Heiratsverträge in der Neuzeit im europäischen Vergleich. Köln 2010; Margareth Lanzinger/Karin Gottschalk (Hrsg.), Mitgift. Köln 2011.
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siv in die Geschäfte involviert waren und über entsprechende Kenntnisse verfügten.29 Andererseits konnten aber auch das Gesinde, Lehrlinge und Kaufmannsgehilfen von erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen für ihren weiteren Lebensweg profitieren. Eine besondere Rolle spielte das Haus als Ort der religiösen und Tugendbildung durch gemeinsame Frömmigkeitspraktiken. Diese dienten zum einen der konfessionellen Selbstvergewisserung, zum anderen waren sie wichtige Medien der Vergegenwärtigung religiöser Grundtugenden, deren Befolgung als Kern und Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Ordnung angesehen wurde.30 Damit unmittelbar verflochten war die jeweilige persönliche Ehre, die als gesellschaftliches Ansehen das wichtigste soziale Kapital in der vormodernen Ehrgesellschaft darstellte. Es speiste sich aus der Stellung in einem Haus und den damit verbundenen Erwartungen an spezifische Verhaltensmuster, die an die jeweiligen Rollenmodelle geknüpft waren. Die Einbindung in einen Haushalt leistete die entscheidende Integration in eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, weshalb neben der Standesehre insbesondere die Position innerhalb eines Haushalts und die Erfüllung der damit verbundenen Rollenerwartungen entscheidend für das soziale Ansehen jedes Einzelnen war. Neuere Untersuchungen, die Einblicke in häusliche Alltagspraktiken aus der Analyse von Prozessakten erarbeitet haben, haben gezeigt, dass gerade die Frage der Zumessung oder Aberkennung von Ehre bzw. sozialem Ansehen ein ausgesprochen ambivalenter Prozess war, der auf einen weiteren, für das Haus als sozialen Raum entscheidenden Bereich verweist: seine Einbettung in die soziale Umwelt von Nachbarschaft und Gemeinde. In der täglichen Interaktion, in der räumlichen Nähe, die Einblicke vielerlei Gestalt in die Abläufe in einem Haus bot, lag es in der Bewertung der sozialen Umwelt, inwiefern das Verhalten der einzelnen Haushaltsmitglieder ihm ‚zur Ehre gereicht‘ oder nicht. Neben Rügeritualen wurde dies insbesondere dann sichtbar, wenn Konflikte innerhalb eines Hauses oder mit Nachbarn auftraten und der Leumund der Konfliktparteien entscheidend für die Einschätzung des Konflikts durch die Richter wurde.31 Die soziale Umwelt spielte aber auch für die ökonomischen Praktiken vieler Haushalte eine große Rolle, sei es in nachbarschaftlichen Tauschbeziehungen oder im Bereich der Mikroökonomie durch Kleinkredite oder Tagelohnvergabe.32 Das Zusammenleben in einem Haus(halt) gruppierte sich nicht nur um kernfamiliale Zusammenhänge, sondern prägte auch den Alltag jener Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keinem Haushalt angehörten und freiwillig oder auf obrigkeitliche Verfügung in Zucht-, Waisen-, Armen- und Bruderhäusern lebten. In
29 Wunder, Frauen (wie Anm. 12), 119–154. 30 Vgl. hierzu die Beiträge von Kaspar von Greyerz und Tara Hamling in diesem Band. 31 Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 10). Vgl. hierzu die Beiträge von Inken Schmidt-Voges und Arno Haldemann in diesem Band. 32 Ågren, Emissaries (wie Anm. 13).
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Studien zur Sozialgeschichte der Armut, der Zwangsinstitutionen und der Historischen Kriminalitätsforschung wurde in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass hier nicht nur dem Namen nach ein Bezug zum Haus hergestellt wurde, sondern auch dessen innere Struktur, Organisation und Beziehungsgefüge dem familialer Haushalte folgten. Hausväter und -mütter waren verantwortlich für die zentrale Leitung. Gemeinsame Gebete und Mahlzeiten gehörten genauso zum Alltag wie die Übernahme von Aufgaben im Bereich von Verwaltung und Versorgung.33 In solchen ‚geschlossenen Häusern‘ lebten zum einen Insassen, die aus gesundheitlichen oder Altersgründen nicht (mehr) in der Lage waren, sich selbstständig zu versorgen und zum anderen Bettler, Vaganten, Kriminelle und Unruhestifter, die auf diese Weise der Gesellschaft entzogen wurden. Trotz des geschlossenen Charakters dieser Häuser haben die Untersuchungen gezeigt, dass sie wie Haushalte auch als räumlich diversifizierte Arrangements aufzufassen sind, die durch eine grundlegende Spannung zwischen Öffnung und Schließung gekennzeichnet waren und sich durch Interaktionsbeziehungen auszeichneten, die quer zu materiellen Grenzziehungen liegen konnten.34 Die Grenzen wie die Handlungsspielräume zwischen häuslichem Binnen- und Außenraum gestalteten sich damit deutlich fluider und flexibler, als dies die älteren, strukturorientierten Arbeiten mit ihrem Fokus auf den geschlossen-patriarchalen Charakter des Hauses darstellten.35 Hat die methodische Orientierung der neueren Zugänge an Praktiken, Akteuren und Interaktionen die älteren Konzepte einer wie auch immer konzipierten ‚Ganzheit‘ bzw. ‚Geschlossenheit‘ des Hauses in eine kaum noch zueinander in Beziehung zu setzende Vielfalt häuslichen Lebens aufgelöst, stellt sich dennoch die Frage, wie dieser Befund mit der starken Präsenz des Hauses als Ordnungsmodell der vormodernen Gesellschaft zu vereinbaren ist.
33 Kirsten Bernhard, Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16.–20. Jahrhundert). Münster 2012; Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen vom 18. bis zum 19. Jahrhundert. Konstanz 2008; Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancién Regime. Wien 2003; Martin Scheutz, Alltag und Kriminalität. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert. Wien 2001. 34 In Bezug auf Zwangsinstitutionen vgl. Falk Bretschneider, Das ‚gemeinsame Haus‘. Insassen und Personal in den Zuchthäusern der Frühen Neuzeit, in: ders./Martin Scheutz/Alfred Weiß (Hrsg.), Personal und Insassen von ‚Totalen Institutionen‘. Leipzig 2011, 157–196. 35 Als Ausgangspunkt für einen neuen Zugang um Haus allgemein vgl. Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 18).
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3 Das Haus als Ordnungsmodell: Ideal, rechtlichinstitutionelle Einbindung und kommunikative Praxis Wie in den beiden zuvor beschriebenen Bereichen hat die methodologische Erweiterung auch in der Erforschung von Wissensbeständen, Normbildungsprozessen und sozialen Aneignungsstrategien eine deutliche Differenzierung der älteren Darstellungen bewirkt. Dies lenkt die Aufmerksamkeit von der älteren Interpretation des Hauses als einer ‚ständischen Herrschaftseinheit‘36 auf eine stärkere Trennung zwischen verschiedenen Ebenen von Normativität und ihren jeweiligen Bezugsrahmen. Zum einen ist die ideengeschichtliche Fundierung im spätmittelalterlichen Aristotelismus mit seinen oikonomia-Konzepten zu nennen, zum anderen die konkreten justiziablen rechtlichen und moralischen Normen sowie schließlich die für die Frühe Neuzeit charakteristische Übertragung auf fürstliche Herrschaft. Die ältere Forschung stützte sich auf eine sehr spezifische Form normativer Literatur, die gleichwohl als Standard angesehen wurde: die sog. Hausväterliteratur.37 Wilhelm Roscher bezeichnete damit 1874 in seiner „Geschichte der National-Ökonomie in Deutschland“ eine Literaturgattung, die im späten 16. und im 17. Jahrhundert aus der Verschmelzung der theologischen Ehe- und Hausstandsliteratur einerseits und den in der antiken Tradition stehenden Agrarschriften andererseits entstanden sei. Während die theologischen Schriften vor allem die Selbst- und Sozialkompetenzen der im Haus lebenden und arbeitenden Menschen in den Blick nahmen, fokussierten die späteren Schriften immer stärker auf die Methoden- und Fachkompetenzen bezüglich Produktion, Verarbeitung und Verwaltung. Das personale Gefüge wurde nur noch kursorisch zu Beginn dieser Schriften thematisiert, ohne jedoch dabei auf die spezifischen moraltheologischen Herausforderungen näher einzugehen. Der ethische Aspekt verlor im 17. Jahrhundert nicht etwa seine Relevanz, sondern wurde in anderen Textgattungen, in Katechismen und der Erbauungsliteratur nach wie vor intensiv verhandelt.38 Die fehlende Kontextualisierung des Haus-Diskurses in einem Medienverbund begünstigte die Etablierung der Vorstellung eines statischinstitutionellen Verständnisses des Hauses als Herrschaftsbereich. Dass aber auch
36 Reinhard Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständische Herrschaftseinheit, in: Neithard Bulst/Joseph Goy/Jochen Hoock (Hrsg.), Familie zwischen Tradition und Moderne. Göttingen 1981, 109–124. 37 Helga Brandes, Frühneuzeitliche Ökonomieliteratur, in: Albert Meier (Hrsg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1999, 470–484. 38 Inken Schmidt-Voges, Oíko-nomía. Wahrnehmung und Beherrschung der Umwelt in adeligen Haushaltungslehren im 17. und 18. Jahrhundert, in: Heike Düselder u. a. (Hrsg.), Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit. Köln 2008, 403–429; Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 10), 58–84; 135–144.
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die Ökonomiken gerade im Hinblick auf die Frage der Herrschaft als eine Theorie der Praxis zu lesen sind und sich damit in die (spät)antike Tradition der oikonomía als Herrschaftsethik fügen – parallel zu und in Ergänzung zu anderen Politikdiskursen –, wurde wiederholt betont.39 Gleichwohl fehlt bisher eine systematische Weiterführung der singulären Arbeiten zu einer Neukonzeptualisierung vormoderner Herrschaftsdiskurse. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen des Spätmittelalters hatten dem im scholastischen Aristotelismus verankerten Konzept des ‚Hauses‘ als Deutungs- und Organisationsmodell eine besondere Wirkmächtigkeit verliehen. Nicht nur im ökonomischen Bereich der Wirtschaftsführung, sondern vor allem im Kontext der Bemühungen um eine stärkere Normierung des Alltagslebens kam dem – patriarchal organisierten – Haus ein hohes Sinnstiftungspotenzial zu. Dies verstärkte sich mit der Betonung der innerweltlichen Bewährung im Rahmen der Haushaltsführung durch die Reformatoren.40 In den Kirchen- und Eheordnungen wurden die auf das Haus bezogenen ethischen Normen im Sinne eines Gefüges von Rollenmodellen und Verhaltensweisen institutionalisiert und etablierten sich in der auf den Kirchenordnungen begründeten Praxis der Kirchen- und Sittenzucht als Deutungs- und Ordnungsmodell zur Durchsetzung der ‚guten Policey‘ im Alltagsleben. Zahlreiche Studien, die sich im Umfeld der Konfessionalisierungsforschung und der Geschlechter- bzw. Kriminalitätsgeschichte mit der sozialen Bedeutung des gerichtlichen Konfliktaustrags beschäftigt haben, konnten zeigen, dass gerade durch die ethischen Aspekte und die Relevanz des Alltagshandelns die Hoheitsrechte des Hausherrn einer wirkmächtigen Kontrolle unterlagen.41 Das Haus als soziale Formation kannte keine eigene juristische Normierung. Die Hoheitsrechte des Hausherrn ergaben sich aus der Überlappung je nach rechtskulturellem Kontext unterschiedlicher rechtlicher Bestimmungen, die in der Figur
39 Ulrich Meyer, Soziales Handeln im Zeichen des ‚Hauses‘. Zur Ökonomik in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Göttingen 1998; Gerhard Richter, Oikonomia. Der Gebrauch des Wortes im Neuen Testament, bei den Kirchenvätern und in der theologischen Literatur bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 2005; zur praktischen Nutzung der Hausväterliteratur vgl. Philip Hahn, Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der ‚Oeconomia‘ Johann Colers. Epfendorf 2013. Vgl. auch den Beitrag von Anna Becker in diesem Band. 40 Zu den spätmittelalterlichen Wurzeln der vermeintlichen reformatorischen Innovationen vgl. exemplarisch Robert James Bast, Honor your Fathers. Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany 1400–1600. Leiden 1997 und Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn 1999. Vgl. auch den Beitrag von Thomas K. Kuhn in diesem Band. 41 Heinrich-Richard Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hrsg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 1998, 213–236.; Martin Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; Lutz, Ehepaare (wie Anm. 25); Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 10).
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des Hausherrn in Personalunion kumulierten: Durch die Eheschließung erhielt der Ehemann gewisse vormundschaftliche Befugnisse über seine Ehefrau. Vermögensrechtliche Aspekte regulierte das Ehegüter- und Erbrecht. Die im Gemeinen Recht verankerten rigiden Geschlechtervorstellungen wiesen dem Ehemann de jure eine nahezu unumschränkte Verfügungsgewalt zu. De facto jedoch wurden diese in der Praxis durch die Rechtsvielfalt und zahlreiche lokale und regionale Rechtsgewohnheiten eingeschränkt, so dass auch Frauen gewisse juristische Handlungsspielräume besaßen.42 In der Elternschaft waren Herrschaftsbefugnisse über die leiblichen Kinder geregelt, über die bis zu deren Volljährigkeit oder Ausscheiden aus dem Haushalt durch Dienstjahre recht weitgehende Befugnisse galten und durch theologische Normen der Fürsorge erweitert wurden. Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Vorstellung eines Vertragscharakters im Eltern-Kind-Verhältnis.43 Weisungsund Herrschaftsbefugnis über das Gesinde regelten seit dem 17. Jahrhundert Gesindeordnungen, die stark auf das Dienstverhältnis zwischen Hausherrn und Gesinde abhoben. Die auf den ersten Blick weitreichende Verfügungsgewalt über die dem Hausherrn untergebenen Menschen war eng an einen umfangreichen Katalog von Herrschaftspflichten gekoppelt, die einen differenzierteren Blick auf die juristischen Aspekte der häuslichen Herrschaft notwendig machen. Neben der Pflicht zum Schutz und Unterhalt gehörten hierzu die oben angesprochenen moraltheologischen Komponenten der ‚guten Haushaltsführung‘.44 Die in Katechismen und Erbauungsliteratur propagierte Ethik der Haushaltsführung zielte insbesondere auf den Ausgleich der Spannung, die sich aus der rechtlichen Ungleichheit und Hierarchie einerseits und dem Gebot der christlichen Nächstenliebe und Gleichheit vor Gott andererseits ergab. Für den Hausherren bedeutete das, seine Herrschaftsrechte, das Recht auf Gehorsam durch die Untergebenen, nicht rücksichtslos durchzusetzen, sondern vielmehr durch ‚weiche Herrschaftstechniken‘ wie Nachsicht, Güte und konstruktive Konfliktkommunikation die Seinen zu lenken. Die Ambivalenz dieser Konstruktion zeigt sich immer wieder in den Quellen wie in der Forschungsdebatte zum Thema des Züchtigungsrechts. Einerseits war die Züchtigung dem Hausherrn als Sanktionsmittel zur ‚Besserung‘ ausdrücklich erlaubt – wenngleich in Abstufungen gegenüber Ehefrau, Kindern oder Gesinde. Die allenthalben zu findende Einschränkung, sie möge als ultima ratio und in mäßiger Weise angewendet werden, eröffnete Interpretationsspielräume, in denen sich vor Gericht ein Großteil des ‚Aushandelns von Herrschaft‘ auf häuslicher
42 Ute Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997; Westphal, Eigene Sache (wie Anm. 13); Lanzinger/Gottschalk, Mitgift (wie Anm. 28); Elisabeth Koch, Maior dignitas est in sexu virili. Das weibliche Geschlecht im Normensystem des 16. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1991. 43 Dietrich Berding, Elterliche Gewalt, Kindesrecht und Staat im deutschen Naturrecht um 1800, in: ZNR 22, 2000, 52–68. 44 Inken Schmidt-Voges, ‚Si domus in pace sunt‘. Zur Bedeutung des ‚Hauses‘ in Luthers Vorstellungen vom weltlichen Frieden, in: Lutherjahrbuch 78, 2011, 153–186.
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Ebene abspielte.45 Die Analyse der argumentativen Gratwanderung zwischen legitimer potestas und illegitimer violentia eröffnet neue Perspektiven, den Charakter vormoderner (Haus-)Herrschaft in Abgrenzung zur älteren Forschung stärker als ‚soziale Praxis‘46 zu verstehen, zu untersuchen und dann auch neu zu konzipieren. Hier lässt sich auch an die für die Frühe Neuzeit als so charakteristisch empfundene Analogie von häuslicher und territorialer Herrschaft anknüpfen. Insbesondere im 16. Jahrhundert findet sich in Fürstenspiegeln und politischen Traktaten der Hinweis, ein Fürst solle herrschen wie ein Hausvater und umgekehrt. Das Modell war attraktiv, weil sich neben der praktischen Verwaltung der territorialen Einkünfte, die noch nicht zwischen fürstlichem Haushalt und ‚Staatsetat‘ unterschied, über die Figur des Hausvaters das im aristotelischen Modell des oikos angelegte monarchische Prinzip auf die politia übertragen ließ.47 Mit dem Bekenntnis zum hierarchischen Herrschaftsmodell war aber über die ethische Komponente zugleich das Moment der Herrschaftskontrolle durch die Untergebenen integriert, dessen Bedeutung für das Funktionieren der ‚konsensorientierten‘ vormodernen Herrschaft in den vergangenen Jahren wiederholt betont worden ist. Die Relevanz des häuslichen Modells blieb auch über das Ausklingen des Aristotelismus als vorherrschender gesellschaftstheoretischer Strömung in Fürstenspiegeln des christlichen Naturrechts hinaus präsent und verschwand als theoretisches Ordnungsmodell erst in der Kameralistik des späten 18. Jahrhunderts.48 Wenn Reinhard Koselleck in diesem Zusammenhang von der „Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit“49 sprach, sollte das vor dem Hintergrund der Verschiebungen übergeordneter Wissensordnungen gelesen werden, also der Rechtskonzepte, Staats- und Gesellschaftstheorien und ihren Auswirkungen auf die Deutungs- und Beschreibungsmuster, mit denen Gesellschaft dann im 19. Jahrhundert geordnet wurde. In der sozialen Praxis häuslicher Herrschaft blieben die
45 Vgl. hierzu den Beitrag von Steffen Schlinker in diesem Band mit ausführlicher Dokumentation der entsprechenden Textstellen. Frances Dolan, Marriage and Violence. The Early Modern Legacy. Philadelphia 2008; Michaela Hohkamp, Grausamkeit blutet, Gerechtigkeit zwackt. Überlegungen zur Grenzziehung zwischen legitimer und nicht-legitimer Gewalt, in: Magnus Eriksson/Barbara KrugRichter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert). Köln 2003, 59–81; Eve Salisbury, Domestic Violence in Medieval Texts. Gainesville 2002 sowie die für die Rechtspraxis exemplarisch die Literatur in Anm. 39. 46 Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991. 47 Joel F. Harrington, Hausvater and Landesvater. Paternalism and Marriage Reform in Sixteenth Century Germany, in: CEH 25, 1992, 52–75; Alexander Fidora (Hrsg.), Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007; vgl. auch den Beitrag von Anna Becker in diesem Band. 48 Vgl. etwa Thomas Simon, ‚Gute Policey‘. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2004. 49 Koselleck, Auflösung (wie Anm. 35).
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für die Vormoderne als charakteristisch angesehenen Wechselwirkungen zwischen hausherrlicher Leitung, sozialen Normen und Interaktionen noch bis weit in das 19. Jahrhundert erhalten.50 Auch in der politischen Praxis, der politischen Sprache in Suppliken blieb der Kontext noch lange präsent und ist noch heute im affizierendappellativen Charakter zu spüren, wenn vom ‚Landesvater‘, der ‚Landesmutter‘ oder dem ‚Haus Europa‘ die Rede ist.51
4 Ausblick: Variabilität zwischen Vielfalt und Wandel oder: Die Frage nach der Epochenzäsur Ein Haus ist ein Haus ist ein Haus. In den Gesellschaften des vormodernen Europas stellte das Haus auf unterschiedlichen Ebenen ein zentrales Element gesellschaftlicher Organisation dar, wenngleich die neueren Forschungserträge diese Präsenz deutlich differenzierter betrachten und anders gewichten, als dies in den älteren Konzepten der struktur- und institutions orientierten Arbeiten der Fall war. Der Blick auf Praktiken, Akteure, Dinge und Formen des kommunikativen Handelns mitsamt seinen symbolischen und performativen Dimensionen hat für zahlreiche Aspekte des Lebens im Hause neue Perspektiven eröffnet. Zum einen wird die Bedeutung der Aneignung und Aktivierung von normativen Rahmenbedingungen in der sozialen Praxis betont und zum anderen das hohe Maß an Vielfalt und Ausdifferenzierung der Praktiken des Wohnens, Arbeitens, Wirtschaftens, Netzwerkens und der Geselligkeit hervorgehoben. In Anbetracht dieser Ergebnisse muss die These des Wandels vom integrierten Arbeiten und Wohnen unter einem Dach hin zur Trennung dieser Bereiche weitaus differenzierter diskutiert werden als bisher. Dasselbe gilt für die Frage der personellen Struktur und Beziehungsgestaltung im Haus. Beide Aspekte des Hauses wiesen sicherlich und notwendigerweise für die Epoche charakteristische Erscheinungsformen und Ausgestaltungen auf – in ihrer Funktion jedoch lassen sie sich in allen
50 Sylvia Möhle, Ehekonflikte und sozialer Wandel, 1740–1840. Göttingen 1997; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte 1750–1850. Göttingen 2000 sowie zahlreiche Studien zur Kirchenzucht im 19. Jahrhundert. Zu Wandel und Bestand als Deutungsmuster in der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung in den Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts vgl. Ulrike Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum. Tübingen 1998. 51 Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1987, 42–64.
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Zeiten menschlicher Existenz finden und können somit kaum für sich den Status eines Epochensignums beanspruchen.52 Anders verhält es sich mit dem dritten Bereich, der Funktion des Hauses als gesellschaftliches Ordnungsmodell. Die spezifische soziale, wirtschaftliche und kulturelle Dynamik des 15. und 16. Jahrhunderts führte zu einer Engführung von sozialen Praktiken und normativen Diskursen im Haus mit einem hohen Maß an narrativer Sinnstiftung. Als Deutungs- und Beschreibungsmuster sozialer Praxis auf unterschiedlichen Ebenen machte das Haus integrierende gesellschaftliche Ordnung möglich, die sehr viel stärker an der eigentlichen Umsetzung und Performanz gemessen wurde als an den institutionellen Setzungen. Mit der Etablierung naturrechtlich begründeter Gesellschaftsmodelle trat das Haus in den Hintergrund und verlor einen zentralen Status, ohne jedoch sich gänzlich aufzulösen. Vor allem die Forschungsfelder der Geschlechtergeschichte, der Mikrogeschichte, der Historischen Anthropologie sowie der Sozial- und Familiengeschichte haben in vielfältiger Weise zu einer neuen Sicht auf das Haus beigetragen und tun es weiterhin. Es fehlt mangelt jedoch – nicht zuletzt aufgrund der problematischen Forschungsgeschichte in diesem Bereich – bisher an einer neuen Auslotung der Bedeutung des Hauses für den Bereich von Herrschaft und Politik in vormodernen Gesellschaften, wozu die neuere Politik-, Verwaltungs-, Policey- und Diplomatiegeschichte in ihrer Orientierung an Praktiken und Akteuren viele Anknüpfungspunkte bieten. Ein solcher Zugang würde sich deutlich von den Herrschafts’phantasien‘ älterer Provenienz unterscheiden und könnte mit der Einbeziehung übergeordneter Aspekte auch den Wandel zur Moderne deutlicher als Wandel der Beschreibungsmuster und sinnstiftenden Zuschreibungsprozesse konzipieren, die sich aus veränderten rechtlichen, sozialen, kulturellen und diskursiven Kontexten ergeben.
52 Vgl. hierzu auch die Einführung zum Haus in der Moderne in diesem Band.
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Das Haus in der Moderne Das Haus in der Moderne? Dieser Ansatz ist erklärungsbedürftig.1 Denn zweifellos kommt das Thema aus der Forschung zur Frühen Neuzeit, wo es seit Jahrzehnten einen prominenten Platz einnimmt. Das Europa vor der Ära der Revolutionen lässt sich als ‚Hausgesellschaft‘ oder ‚Haushaltsgesellschaft‘ beschreiben. In der Ständegesellschaft ist das Haus die Basis des Wirtschaftens und der sozialen Integration sowie ein Denkmodell rechtlicher und politischer Ordnung. Als Herrschafts- und Strukturtypus scheint das Haus wie sonst kaum etwas für ‚das alte Europa‘ zu stehen.2 Dabei war das Haus zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft auch ein spezifischer sozialer Kommunikationsraum und nicht zuletzt ein materielles Gebäude mit großer Symbolkraft. Es ist ein Anliegen des Handbuchs, Haus (das Gebäude) ebenso wie ‚Haus‘ (die Imagination) als ein relevantes Thema auch der Geschichte der Moderne zu begreifen.
1 Lange Forschungslinien und die ‚Sattelzeit‘ um 1800 Im internationalen Vergleich fällt auf, dass sich die deutschsprachige Forschung stärker an den eingeschliffenen Epochengrenzen orientiert als etwa die anglophone; zudem, dass sich Historische Demographen, Wirtschafts- und Sozialhistoriker leichter taten und tun, transnational über die Schwelle der Ära um 1800 hinweg in die moderne Gesellschaft zu blicken als manche kulturhistorische Ansätze. Bereits das klassische Werk der sozialhistorischen Familiengeschichte von Peter Laslett und Richard Wall untersuchte die durchschnittliche Größe und Zusammensetzung von Haushalten in der vorindustriellen wie in der industriellen Gesellschaft vom 16. bis ins 20. Jahrhundert.3 Die von David Sabean angestoßene neue Forschung zum Thema kinship interessiert sich explizit für den Wandel der häuslich-familialen Strukturen
1 Für ihre Lektüre und Hinweise danke ich Margareth Lanzinger, Jon Mathieu und Inken SchmidtVoges. 2 Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne. München 2008, 20–38. 3 Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Time. Cambridge 1972; vgl. Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991 [1977]; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994; Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008; Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai (Hrsg.), The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th Centuries. Bern 2009.
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vom 18. zum 19. Jahrhundert.4 Auch das von historisch-anthropologischen Fragen und der italienischen microstoria inspirierte Interesse am l’ordre domestique überschreitet die Epochengrenzen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert wie selbstverständlich.5 Die relativ strikte Scheidung der Epochen in der deutschen Forschung hat wohl weniger mit dem Topos des ‚Rückstands‘ gegenüber der westeuropäischen Forschung zu tun als damit, dass man nach dem Ausbau der Universitäten um 1970 während der folgenden Phase der Sparmaßnahmen wieder zum klassischen Epochenprinzip der Lehrstühle zurückkehrte. Fährten zwischen Vormoderne und Moderne, wie sie Reinhart Kosellecks begriffs- und sozialhistorische Forschung zur ‚Sattelzeit‘ auslegte, werden deshalb kaum weiterverfolgt. Der Blick über allzu gewohnte Epochengrenzen hinweg ist ein Desiderat. In der modernen Forschung finden sich empirisch gesättigte Untersuchungen zum Haus als sozialem oder politischem Raum und ideologienahe Konstrukte nebeneinander, mitunter auch ineinander verwoben. So ist auch die Situierung des ‚Hauses‘ als autonomer sozialer Typus in einer vergangenen Zeit, vor der Industriegesellschaft und dem Aufstieg moderner Staatlichkeit, nicht nur ein Anliegen restaurativer Geister. Auch die sozialwissenschaftliche Wirtschaftsgeschichte um 1900 sah in der ‚geschlossenen Hauswirtschaft‘ auf Subsistenzbasis das Gegenmodell zur modernen Marktwirtschaft, deren Aufstieg indes schon mit der Entstehung von Städten im Mittelalter begonnen habe.6 Die wesentlichen Aspekte, die zur Auflösung des Sozialtypus ‚Haus‘ – wann immer es ihn in ‚geschlossener‘ Form gegeben haben mag – beitrugen, kann man bereits in der Schrift „Hausgemeinschaften und Nachbarverband“ im Nachlass von Max Weber studieren.7 Weber diagnostiziert hier mit einer Wilhelm Heinrich Riehl und Otto Brunner durchaus ähnlichen Begrifflichkeit eine „Zersetzung“ der „Hausgewalt“ bzw. „Hausgemeinschaft“, die seit dem Mittelalter „im Verlauf der Kulturentwicklung“ stattfindet.8 Genannt werden hier in einer
4 David W. Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1990; ders., Kinship in Neckarhausen 1700–1870. Cambridge 1998; ders./Simon Teuscher/Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to the Long-Term Development (1300–1900). New York 2007; vgl. auch Margareth Lanzinger, Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten, Innichen 1700–1900. Wien 2003. 5 Dionigi Albera, Au fil des générations. Terre, pouvoir et parenté dans l’Europe alpine (XIVe-XXe siècles). Grenoble 2011; vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Donne, uomoni, parentela. Casati alpini nell’Europa preindustriale (1650–1850). Turin 2007. 6 Stefan Weiß, Otto Brunner und das Ganze Haus. Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: HZ 273, 2001, 335–369, insbes. 355 f. 7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilbd. 1: Gemeinschaften, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen. Tübingen 2001, 108–161, hier 111. 8 Ebd., 145; vgl. Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. 6. Aufl. Stuttgart 1862 [1855], 145–165; Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127 [1950].
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Makroperspektive fiskalische Eingriffe und eine rechtliche „Sicherheitsgarantie“ für „den Einzelnen“ durch den aufsteigenden Anstaltsstaat, die funktionale Trennung von „‚Haus‘ und ‚Beruf‘“ bzw. „‚Haus‘ und ‚Betrieb‘“, wodurch das Haus nur noch ein „Ort gemeinsamen Konsums“ ist, sowie die Sozialisation des modernen Individuums „außerhalb des Hauses“ durch Schule und Vereine etc. Zusammen genommen, bewirkt diese kulturelle Transformation laut Weber die Substitution der qua Geburt gegebenen „Teilnahme am Gemeinschaftshandeln“ in der Ständegesellschaft durch „eine rationale Vergesellschaftung“.9 Zwar erkennt Weber ein Quäntchen ‚Haus‘ auch noch im gemeinsamen Konsumverhalten der modernen Familie. Denn der „hauskommunistische Grundsatz, dass nicht ‚abgerechnet‘ wird, (…) lebt noch heute als wesentlichste Eigentümlichkeit der Hausgemeinschaft unserer ‚Familie‘ fort.“10 Dies sei jedoch nur der Restbestand eines sozialen Typus, der konstitutiv für die vormoderne Ständegesellschaft war. Kosellecks Sicht auf „Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit“ ist im Wesentlichen mit der Analyse Webers kompatibel. Allerdings stellt Koselleck in seinem Artikel von 1981 über die Entwicklung des preußischen Rechts zwischen 1789 und 1848 einen starken „altständischen Überhang“ fest, der „die gesamte Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts“ geprägt habe.11 Der modernisierte preußische Staat habe einerseits das Ziel verfolgt, „alle Mitglieder eines Hauses als Individuen freizusetzen“, andererseits aber angesichts der realen sozioökonomischen Verhältnisse die hausherrliche Gewalt auf dem Land wie auch in den Städten weiterhin akzeptieren müssen.12 In der Mitte der 1990er Jahre einsetzenden Debatte um ‚das ganze Haus‘ wurde die Frage nach Fortdauern oder Bruch hausväterlicher Herrschaft dann mit einem anderen Akzent aufgegriffen. Anders als Brunner und auch Koselleck, die die Geschlechterhierarchie als Aspekt von Herrschaft noch nicht problematisierten, bemerkte Claudia Opitz, dass nicht nur das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794, sondern auch der Code Napoléon von 1804 die tradierte hausväterliche Gewalt verstärkt habe.13 Es sind insofern also durchaus lange Linien zwischen der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert festzustellen. Die Frage ist, ob solche Kontinuitäten und ‚Überhänge‘ ausreichen, um gegen die schon von Weber
9 Ebd., 145–152. 10 Ebd., 119. 11 Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848, in: Neithard Bulst/Joseph Goy/Jochen Hoock (Hrsg.), Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1981, 109–124, hier 114. 12 Ebd., 110. 13 Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20, 1994, 88–98, 94; vgl. dies., Das Universum des Jean Bodin. Staatsbildung, Macht und Geschlecht im 16. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2006.
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oder dann Niklas Luhmann konstatierten Makroprozesse der Rationalisierung bzw. der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Familie als Intimfamilie aus dem ‚Haus‘ der Ständegesellschaft Position zu beziehen.14 Indes blieben bislang auch ganz andere relevante Gesichtspunkte im Hinblick auf das Haus in der Moderne weitgehend unbeachtet. Jedenfalls hat eine systematische Diskussion analog zur Frühneuzeitforschung nicht stattgefunden. Im Folgenden werden fünf Aspekte vorgestellt, die geeignet sind, das Haus als relevantes Thema in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu positionieren; in der Reihenfolge der Gliederung: 2) die Frage der Transformation zwischen Vormoderne und Moderne, 3) die materielle Kultur des Hauses, 4) alltägliche Interaktion und soziale Kommunikation in der domestic sphere, 5) ein spezifischer Typus des ‚offenen Hauses‘ in den Eliten, 6) ‚Haus‘ als Imagination, Identität und Mythos.
2 Transformationen des Hauses: Funktionsentlastung oder was sonst? Um 1800 schält sich die moderne Familie aus dem alteuropäisch-ständischen Sozialtypus Haus heraus. Dieser Wandel steht auf dem Prüfstand. Als Ausgangspunkt für die Geschichte der modernen Familie gilt die „Entlastung“15 von – dem älteren Typ des Hauses integralen – Funktionen wie vor allem Produktion sowie rechtliche Integration, Bildung und Gelehrsamkeit, Kranken- und Altersvorsorge etc. Dies meinte bereits Weber mit der Trennung von ‚Haus‘ und ‚Betrieb‘. Durch den Wegfall des Gesindes, der (Groß-)Eltern und anderer Mitbewohner (‚Hausgenossen‘) entsteht die ‚Kernfamilie‘. Zwei weitere Aspekte sind in diesem Kontext zu nennen: erstens der Wandel vom offenen und sozial heterogenen Haushalt der Frühen Neuzeit zur homogenen Familie im Sinne einer Ausdifferenzierung klar getrennter, relational aufeinander bezogener Sphären des Öffentlichen und des Privaten, wobei die Familie als genuine Privatsphäre mit emotionalen und intimisierten Beziehungen gilt; zweitens die Herausbildung getrennter Geschlechterräume mit der Zuweisung öffentlicher Funktionen an den ‚Berufsmensch‘ Mann und der ‚Domestizierung‘ der Frau mit Aufgaben im privat-familiären Raum.16
14 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2. Frankfurt am Main 1998, 730 f.; vgl. zu England Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800. London 1977. 15 So bereits im Sinne von Weber und der Familiensoziologie Michal Mitterauer/Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. München 1977, 61. 16 Klassisch dazu Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393; vgl. aber Amanda Vickery, Golden Age to Separate
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Prima facie ist der Wandel wie auch die Kontinuität von Begriffen bemerkenswert. Zweifellos tritt ‚Haus‘ als ein zentraler Begriff der Beobachtung von Gesellschaft und Herrschaft seit der Aufklärung zurück. Nicht von ungefähr sprechen wir heute meistens von ‚Familie‘ und meinen damit die Kernfamilie aus Eltern und Kindern, vielleicht noch einige Verwandte dabei. Diesen terminologischen Wandel kann man in Kosellecks ‚Geschichtlichen Grundbegriffen‘ nachlesen.17 Indes sind manche Anknüpfungen oder auch Neuerfindungen des ‚Hauses‘ im 19. und 20. Jahrhundert bemerkenswert: etwa der ‚Hauskreis‘ oder die ‚Hausmusik‘ als genuine, durchaus politische Praktiken bürgerlicher Kultur; oder der Umstand, dass der zuvor dynastische Identitätsbegriff ‚Haus‘ im 19. Jahrhundert von Familienunternehmen adaptiert wird.18 Dass in der ‚Sattelzeit‘ grundsätzlich an den Stellschrauben von Politik und Gesellschaft gedreht wird, ist keine Frage. Aber nicht ganz so klar ist, was von den großen revolutionären oder den langfristig strukturellen Änderungen in dieser Epoche eigentlich wie ‚unten‘ – in der häuslichen Sphäre des scheinbar Selbstverständlichen – ankommt. Wahrscheinlich ist zudem, dass nicht nur äußere Veränderungen auf den sozialen Mikroraum einwirken, sondern umgekehrt Entwicklungen von dieser häuslichen Sphäre ausgehen. So gewinnt mit dem Auslaufen der Ständegesellschaft überraschenderweise der Faktor Verwandtschaft an Bedeutung. Dies zeigen die in sozialer Hinsicht zunehmend endogamen Heiratsbeziehungen, Patenschaften, Familienallianzen und politische Klientelbildung. Klassenbildung als struktureller Basisprozess des 19. Jahrhunderts steht nicht in einem konträren, sondern einem korrespondierenden Verhältnis zur Häufung von ‚Vetterleswirtschaft‘ und cousin marriage.19 Und schon Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass die Formierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland zunächst und zuvorderst in der häuslichen Sphäre einsetzt: Charakteristisch ist das Nebeneinander von Wohnzimmer und Salon; das Wohnzimmer steht für das Private, der Salon für das Repräsentative und damit das Öffentliche im privaten Raum.20 Auch noch für die Formierung oppositioneller Bewe-
Spheres? A Review of the Categories and Chronology of English Women’s History, in: HJ 36, 1993, 383–414. 17 Dieter Schwab, Familie, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, 3. Aufl. Bd. 2. Stuttgart 1992, 253–301. 18 Nacim Ghanbari, Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. Berlin 2011, 72. 19 David W. Sabean, Social Background to Vetterleswirtschaft. Kinship in Neckarhausen, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Göttingen 1992, 113–132; ders., Kinship and Class Dynamics in Nineteenth-Century Europe, in: ders./Teuscher/Mathieu (Hrsg.), Kinship (wie Anm. 4), 301–313; vgl. zur Partnerwahl Andreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, 482 ff.; zur Ausbildung von soziopolitischen Milieus Sandro Guzzi-Heeb, Passions alpines. Sexualité et pouvoir dans les montagnes suisses (1700–1900). Rennes 2014, 169–193. 20 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990, 115.
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gungen in der Endphase der sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas sollten Treffen in ‚Privathäusern‘ wichtig sein, weshalb solche oft abgehört oder bespitzelt wurden. Das Wohnen, insbesondere dasjenige in Altbauten, bot in der DDR darüber hinaus die Möglichkeit, staatliche Forderungen nach Einheitlichkeit zurückzuweisen und widersetzlichen Eigensinn zu demonstrieren.21 Findet um 1800 tatsächlich eine Funktionsentlastung der Familie statt oder in mancher Hinsicht nicht eher eine Verbergung und Abwertung von – vor allem weiblichen – Arbeitspraktiken im Haus? In der frühneuzeitlichen Kultur der Sichtbarkeit waren die Arbeiten von Hausmutter und Dienstmagd im Gemüsegarten, am Ladentisch, bei der großen Wäsche oder der Beschaffung von Rohstoffen im sozialen Nahraum sicht- und estimierbar. Durch die Technisierung des Haushaltens wurden diese Tätigkeiten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unsichtbar.22 Plausibel ist in wichtigen Aspekten eher das Gegenteil von Entlastung. So finden Sozialisation, Bildungserwerb, Gesundheitsvorsorge und Krankenpflege während der Moderne sowohl in Institutionen als auch ganz wesentlich in der häuslich-familiären Sphäre statt. Bildung und Gesundheit erfuhren im 19. Jahrhundert immer mehr Aufmerksamkeit. Statt von ‚Entlastung‘ wäre auf dieser Argumentationslinie eher von einer Intensivierung und Ausdifferenzierung der Wahrnehmung von Aufgaben zu sprechen.23 Während der ‚Sattelzeit‘ kommt es zu neuen sozialen Grenzziehungen und Arrangements in puncto Kopräsenz von Menschen im Haus. Lassen sich diese Veränderungen um 1800 als wichtige Etappe einer europäischen ‚Geschichte des privaten Lebens‘ zusammenfassen?24 Oder werden dabei – quasi technischer gedacht – alte Formen der Präsenz-Kommunikation durch neue und ganz andere Medien überlagert bzw. abgeschafft? Wird also etwa anstelle von Regelungen im Haus die rechtsbasierte Kommunikation vor bzw. in Institutionen wie Amt, Gericht und Schule wichtiger? Der Blick auf häusliche Praktiken zeigt eher, dass trotz neuem Recht und geschulter Bürokratie ‚private‘ Rituale in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs an Bedeutung verlieren. Dies gilt umso mehr, als sich die Gerichte im liberalen Gesellschaftsmodell anders als die alte Ehegerichtsbarkeit aus der Beobachtung von Haus und Familie zurückziehen sollten, was faktisch in einigen Ländern wie der Schweiz erst Mitte des 19. Jahrhunderts umgesetzt wurde. So ist auch denkbar, dass gerade das Ende obrigkeitlich-ständischer Regulierung, zum Beispiel bei Aufwands- und Kleiderordnungen, ein gestei-
21 Vgl. den Beitrag von Susann Buttolo in diesem Band. 22 Zur Kultur der Sichtbarkeit in diesem Kontext Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664, hier 644 f.; vgl. zur Technisierung des Haushaltens den Beitrag von Dieter Schott in diesem Band. 23 Dank an Jon Mathieu für seine Hinweise bei dieser Argumentation; vgl. Jon Mathieu, Sanierung der Volkskultur. Massenmedien, Medizin und Hygiene 1850–1900, in: Medizin, Ges. und Gesch. 12, 1993, 101–146. 24 Philippe Ariès/Georges Duby (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg. Augsburg 1999 [zuerst franz.: Histoire de la vie privée. Paris 1985–1987].
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gertes Bedürfnis nach der Herstellung von sozialer Distinktion durch ritualisierte Performanz schuf.25 Diese – zunehmend bürgerlich definierten – Selbstinszenierungen bezogen die häuslich-familiäre Sphäre mit ein. Denn zur Statusrepräsentation des Bürgers und der Bürgerin trug deren Haus und Familie wesentlich bei. Auch unter den Vorzeichen von rechtlicher Privatisierung und funktionaler Ausdifferenzierung wurde in der modernen Gesellschaft das nicht zuletzt in der Familie erworbene ‚kulturelle Kapital‘ vorgezeigt.26 Trotz der Deregulierung ständischer Differenzen sind Stadt-Land-Unterschiede in der Moderne weiterhin konstitutiv. In der ländlichen Gesellschaft bleiben trotz mancher Innovationen multifunktionale Aspekte der Verbindung von Produktion und Konsumption im Haus sowie der Offenheit der häuslichen Sphäre hin zum sozialen Nahraum bis ins 20. Jahrhundert bestehen. Als spezifisch modern galten dagegen Theoretikern wie Riehl, Weber und Georg Simmel die Wohn- und Lebensformen der Stadt, genauer der rapide wachsenden Großstädte: mobil, anonym und sozial distanziert; Verwandte und Nachbarn „bei verschlossenen Thüren“ exkludierend; im Kontrast zur alten häuslichen ‚Gemeinschaft‘ monetarisiert durch den kapitalistischen ‚Geist‘ der Geldwirtschaft.27
3 Die materielle Kultur des Hauses und der domestic sphere Macht der Begriff ‚Haus‘ Sinn für eine Epoche, in der immer mehr Menschen gar nicht in einem eigenen Haus leben, sondern in Apartments, ‚Mietskasernen‘ oder Wohnblöcken? Man wird hier eher von häuslichen Ensembles anstatt vom Haus im klassischen Verständnis ausgehen müssen. Für den häuslich-familiären Raum kennt die englische Sprache den eleganter klingenden Begriff der domestic sphere. Diese domestic sphere ist ein Raum des Alltags, in dem Menschen viel Zeit verbringen und dessen Gestaltung höchstens auf den ersten Blick individuell beliebig erscheint. Für die soziale und kulturelle Integration des Individuums in die Gesellschaft ist dieser Raum relevant – auch in der Moderne! Denn der Habitus der AkteurInnen wird, wie Pierre
25 Vgl. Inken Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820, in: dies. (Hrsg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850. Köln 2010, 9–17, insbes. 20. 26 Zur Bedeutung der Familie beim „Erwerb von kulturellem Kapital“ Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, 134 f [zuerst franz.: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979]. 27 Riehl, Familie (wie Anm. 8), 165; vgl. ebd., 145, 148, 158–162; Weber, Wirtschaft (wie Anm. 7), 121 f.; Georg Simmel, Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: ders., Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, hrsg. von Otthein Rammstedt. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1999, 687–790, hier 721.
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Bourdieu treffend beobachtet, frühzeitig und maßgeblich durch das Habitat der häuslichen Sphäre geprägt.28 Der häusliche Raum zeichnet sich nicht zuletzt durch seine Materialität, d. h. die Kultur des Wohnens, aus. Die Art des Wohnens gibt Hinweise auf Milieuzugehörigkeit und Einstellungen der Bewohner. So vollzieht nolens volens auch der Käufer oder Mieter eines Hauses bzw. einer Wohnung einen Akt der Selbstverortung. Denn die Wahl des Stadtteils macht eine Aussage über Identität. Es gibt wohl kaum aufschlussreichere Auskünfte über die Persönlichkeit eines Menschen als die Einrichtung von dessen häuslicher Sphäre. Im Vergleich zur Ständegesellschaft werden die häuslichen Stile in der Moderne immer differenzierter und auch optionaler. Man kann die „zweite Haut“ der häuslichen Ordnung29 im Lauf des Lebens quasi immer wieder mal wechseln – oder auch gerade nicht. In der angloamerikanischen Forschung floriert aktuell das Studium der materiellen Kultur und des Konsums.30 Die deutschsprachige Forschung zieht erst langsam nach. Im Gefolge des spatial turns sind in puncto Konstruktion des sozialen Raums zwei Tendenzen festzustellen: erstens das Verständnis des Raums als primär soziales Konstrukt, zweitens die Aufwertung der Dinge im Raum zu Akteuren. Anknüpfend an die Arbeiten von Émile Durkheim und Georg Simmel, betont die Raumsoziologie die Gemachtheit des Raums durch individuelles und soziales Handeln bzw. Kommunikation. Kritisiert wird das ältere Verständnis des Raums als ein fixer materieller ‚Container‘.31 Mitunter wird mit dem Hinweis auf die soziale Konstruktion allerdings – aus dem Blickwinkel der heutigen Gesellschaft – die Stabilität mancher räumlichen Arrangements und die ‚Heiligkeit‘ mancher Dinge in der vormodernen wie auch in der bürgerlichen Kultur unterschätzt. So ist es keine Nebensächlichkeit, dass Häuser ‚traditionell‘ vielfach einen Namen trugen, der nach dem Tod der Besitzer quasi vererbt bzw. bei einem Besitzerwechsel beibehalten wurde. Erst die Einführung der Hausnummerierung ab dem späten 18. Jahrhundert konterkarierte diese Praxis, ohne sie freilich ganz abzulösen.32 Das 19. Jahrhundert entwickelte einen regelrechten Kult des
28 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Erster Teil, 2. Kap.: Das Haus oder die verkehrte Welt. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009, 48–65; vgl. dazu Franz Schultheis, Habitat und Habitus. Bourdieus ‚Kabylisches Haus‘ revisited. Die drei Gesichter des kabylischen Hauses, in: Iris Därmann/Anna Echterhöfer (Hrsg.), Konfigurationen. Gebrauchsweisen des Raums. Zürich 2013, 179–199. 29 Mit Blick auf Bourdieus Konzept Schultheis, Habitat (wie Anm. 28), 183; vgl. zum Folgenden Leora Auslander, Erfahrung, Reflexion, Geschichtsarbeit oder: Was es heißen könnte, gebrauchsfähige Geschichte zu schreiben, in: HA 3, 1995, 222–241, hier 233 ff. 30 Zur Geschichte des Konsums de Vries, Industrious Revolution (wie Anm. 3); vgl. zur materiellen Kultur den Beitrag von Catherine Richardson sowie Teil II ‚Materialität und Wohnkultur‘ in diesem Band. 31 Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001; vgl. Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, insbes. 289–303; zur Rezeption in der Geschichtswissenschaft Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Frankfurt am Main 2013. 32 Vgl. den Beitrag von Anton Tantner in diesem Band.
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Interieurs, der mit dem neuen Kult des Individuums korrespondierte und die Wohnkultur bis weit ins 20. Jahrhundert prägen sollte.33 Ein anderer Ansatz fragt anknüpfend an die Konzepte von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens danach, „What buildings do“ (Thomas F. Gieryn).34 Das Haus figuriert hier als eine ‚strukturierende Struktur‘ und damit quasi als Akteur. Denn Materialität und Räumlichkeit häuslicher Ensembles rahmen und prägen – einmal installiert – die alltäglichen Beziehungen zwischen Menschen drinnen und draußen, den Geschlechtern, den Generationen, Familie und Dienstboten, Mensch und Tier. Die Bereitschaft, in eine Immobilie Vermögen zu investieren, könnte man in diesem Sinne als Hinweis nicht nur auf das Bedürfnis nach einem sicheren Zuhause interpretieren, sondern auch als Beleg für die verbreitete Wahrnehmung: Häuser machen Leute! Haus und Wohnkultur sind auch und gerade in der Moderne ein aussagekräftiger Parameter für das Zusammenspiel objektiver Faktoren und subjektiver Aspekte.35 Die alltägliche Praxis der selektiven Produktion von Sinn durch die AkteurInnen lässt sich trefflich am Beispiel der Wohnpraktiken und der Zusammensetzung des Hausrats aufzeigen. Dabei sind sozial verankerte Wahrnehmungen und individuelle Optionen zu berücksichtigen. Wohnen war und ist das Ergebnis kollektiver Subjektivität. Letzten Endes waren es Frauen und Männer, welche im Alltag des Wohnens Entscheidungen fällten. So optierten ab dem 18. Jahrhundert immer mehr Hausbewohner, die zuvor offenen oder halb offen stehenden Haustüren zu schließen oder sogar zuzuschließen. Eine abseits gelegene Kammer ließ sich durch den Einbau eines Ofens heizbar machen und, mit Büchern ausgestattet, ganzjährig als individueller Rückzugsraum gestalten. Das Kinderzimmer war nicht schon immer Teil des Hauses, sondern es wurde aus dem offenen häuslichen Ensemble ausdifferenziert.36 Die Beziehung zu Tieren oder Pflanzen konnte vom ‚externen‘ Aspekt der Nützlichkeit umgedeutet und jene als Haustiere bzw. Hauspflanzen in die Intimsphäre der Familie hineingeholt werden.37 In puncto Wohnkultur sind zudem ausgeprägte soziale Ungleichheiten zu berücksichtigen. So waren im städtischen Alltag Londons noch im 18. Jahrhundert die
33 Günter Oesterle, Zu einer Kulturpoetik des Interieurs im 19. Jahrhundert, in: Zs. für Germanistik 23, 2013, 543–557; vgl. auch den Beitrag von Christiane Holm in diesem Band. 34 Thomas F. Gieryn, What Buildings Do, in: Theory and Soc. 31, 2002, 35–74; vgl. zur Aufwertung von Objekten als Beteiligte der Handlung Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2014, 121 ff. 35 Vgl. als Überblick Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997; zuletzt Christoph Conrad u. a. (Hrsg.), Wohnen und die Ökonomie des Raums. Zürich 2014. 36 Vgl. klassisch Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit. 4. Aufl. München 1977 [zuerst franz.: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime. Paris 1960]. 37 Vgl. den Beitrag von Maren Möhring in diesem Band; zum häuslichen Umgang mit Pflanzen läuft aktuell ein Forschungsprojekt von Sophie Ruppel (Univ. Basel) im SNF-Sinergiaprojekt ‚Doing House and Family‘.
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häuslichen Wohnbereiche der unteren und mittleren Schichten eher Orte des sozialen Verkehrs als der Privatheit. Die Wohnverhältnisse der Pariser Unterschichten zur Zeit der Revolution zeichneten sich durch Besitzlosigkeit und permanente Öffentlichkeit aus. Ein wichtiger Indikator für sozialen Status war hier wie dort Schlüsselbesitz.38
4 Das Haus als Raum der Kommunikation und alltäglicher Interaktion Selbstverständlich wurde im häuslichen Raum auch in der Moderne kommuniziert, allerdings unter anderen Bedingungen als in der Frühen Neuzeit. Die Bemühungen totalitärer Staaten um eine Kontrolle der domestic sphere sind nicht nur ein Beleg für deren politische Relevanz, sondern auch ein Indikator für das Interesse des modernen Staates im Allgemeinen an der Familie und anderen Formen häuslicher Beziehungen. Von alten Formen sozialer Kontrolle auf horizontaler Ebene wie etwa Rügepraktiken bleiben im 19. Jahrhundert nur noch Restbestände übrig. Auch kirchliche Institutionen verlieren allmählich an Einfluss. Von der ‚Freisetzung‘ der Familie aus ständisch-obrigkeitlichen Bezügen könnte gerade der Hausvater profitiert haben. Indes boten sich mit dem im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 wie auch im französischen Code civil von 1804 vorgesehenen neuen Scheidungsgrund der gegenseitigen ‚unüberwindlichen Abneigung‘ – immer wieder infrage gestellt – neue Handlungsmöglichkeiten auch für die Ehefrau.39 Eine gänzliche Autonomie bzw. Selbstbestimmtheit der Familie, wie es dem liberalen Ideal entsprach, wird man auch in modernen demokratischen Staaten kaum finden. Am Wandel der Kontrolle und des institutionellen Umfelds von Haus und Familie lässt sich der Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung idealtypisch studieren. Heute stehen mit Sozial- und Jugendämtern, Eheberatern, Familienhelfern, Ärzten, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und Rechtsanwälten Heerscharen geschulter ExpertInnen bereit, um häusliche Beziehungen strapazierfähig zu erhalten. Demgegenüber waren in der Frühen Neuzeit die entsprechenden Aufgaben noch eine Sache von Verwandten und Nachbarn sowie Pfarrern und geistlichen Gerichten.
38 Amanda Vickery, An Englishman’s Home is his Castle? Thresholds, Boundaries and Privacies in the Eighteenth-Century London House, in: P & P 199, 2008, 147–173; zu Paris Arlette Farge, Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts, Berlin 1989 [zuerst franz.: La vie fragile. Violence, pouvoirs et solidarités à Paris au XVIIIe siècle. Paris 1986]. 39 Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive. Göttingen 1987, 30–35; vgl. zur Praxis Sylvia Möhle, Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740–1840. Frankfurt am Main 1997; Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900. Köln 2004.
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Lassen sich spezifische Veränderungen der alltäglichen Interaktion in der häuslichen Kontaktzone feststellen? Es ist wenig sinnvoll, die Moderne in dieser Hinsicht als Einheit zu betrachten. Entscheidend mit Blick auf die soziale Konstituierung des Hauses sind die Routinen und Rituale, Kopräsenz, Inklusion und Exklusion von AkteurInnen. In dieser Hinsicht bietet die ‚Sattelzeit‘ ein Bild komplexer Veränderungen. Denn sie ist eine Ära einerseits der Verhäuslichung, andererseits der partiellen Auslagerung von Funktionen aus dem Haus. Verhäuslicht werden charakteristische Familien- und Geselligkeitsrituale sowie freie Zeit40, wichtige Aspekte des Haushaltens und der Hygiene sowie die Beziehungen zu ausgewählten Menschen und Tieren. Ausgelagert wird in vielen, aber keineswegs allen sozialen Schichten die Erwerbsarbeit. Ausdifferenziert werden der Ausbildungs- und Bildungserwerb; langfristig gesehen auch die Betreuung von Kindern, Kranken und älteren Menschen.41 Soziale Beziehungen wurden während der Vormoderne in der Regel face to face hergestellt. Anthony Giddens analysiert Kopräsenz als eine konstitutive soziale Ressource und wesentlichen Aspekt der Strukturierung der Gesellschaft.42 Aber inwiefern änderte sich die soziale Komposition der Präsenz im Haus mit dem Übergang zur Moderne? Zu denken ist hier nicht nur an das Gesinde, dessen räumliche Situierung bzgl. der Schlafstatt sich zunehmend an die Peripherie des Hauses verlagerte, sondern an Blutsverwandte und elektive Verwandte (der ‚Hausfreund‘), Freunde, Gäste und auch Nachbarn, die Riehl noch Mitte des 19. Jahrhunderts zu seinem ‚ganzen Haus‘ dazu gezählt haben wollte.43 Interessant sind in puncto Kopräsenz neben der quasi ständigen Anwesenheit der Mitbewohner und längeren Aufenthalten von Besuchern die Inszenierungen aus Anlass häuslich-familiärer Ereignisse, d. h.: Taufe, Konfirmation oder Kommunion, Eheschließung und Begräbnis. Manches spricht dafür, dass sich beim Übergang zur Moderne die Alltagskommunikation im Haus änderte: Es kam zu einer stärkeren Scheidung zwischen dem Gewohnten und dem Repräsentativen bzw. zwischen einer vor den Blicken der sozialen Umwelt weitgehend verschlossenen back stage und einer für die Inszenierungen der Familie genutzten Bühne.44 Der Privatraum wurde zwar erweitert. Zugleich aber wurde das häusliche Ensemble als
40 Vgl. zum Haus als Ort weiblicher Langeweile Martina Kessel, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2001, 122 ff. 41 Vgl. zur Kindererziehung Gunilla-Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914. Göttingen 1994. 42 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1997, 80 f., 90, 196 [zuerst engl.: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge 1984]. 43 Riehl, Familie (wie Anm. 8), 151; vgl. zum Mitwohnen im 19. Jahrhundert den Beitrag von Bärbel Kuhn in diesem Band. 44 Vgl. zu Bühne und Fassade Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 5. Aufl. München 2007, insbes. 23–30 [zuerst engl.: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959].
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Bühne genutzt für Einladungen, Lesekreise, religiöse Versammlungen, Hausmusik, Kaffeekränzchen, Herrenabende oder Tupperpartys.45 Dabei wird die Familie als Repräsentationsfamilie ebenso vorgeführt wie beim Kirchgang oder Sonntagsspaziergang. Abgesehen von Ehekonflikten, die vor dem Scheidungsrichter landeten, ist häuslicher Streit schwer zu fassen. Im Zuge der allgemeinen Tendenz der Verrechtlichung der häuslichen Beziehungen konnten jedoch ab dem 18. Jahrhundert auch die Dienstboten vor Gericht ziehen. Selbstzeugnisse wie Tagebücher oder Briefwechsel zwischen Familienmitgliedern dokumentieren Konflikte nicht immer. So verfolgten auch Rundbriefe an Angehörige und Freunde eher die repräsentative Funktion einer Art Chronik.46 Aus diesem methodischen Problem auf eine konfliktfreie Sphäre im häuslichen Internum der Familie zu schließen, wäre selbstredend verfehlt. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern im Haus differierten nicht nur zwischen den Epochen der Moderne, sondern auch stark von Schicht zu Schicht. Wenn die Frau an der Erwerbsarbeit beteiligt war, so wie weiterhin in der ländlichen Gesellschaft oder in der Arbeiterklasse, hatte dies großen Einfluss auf ihre Präsenz und Rolle im Haushalt.47 Seit dem klassischen Artikel von Karin Hausen zur Herausbildung der modernen dichotomischen Geschlechtercharaktere, verbunden mit einer entsprechenden Scheidung der Räume, hat sich in der Forschung einiges getan.48 Neuere Arbeiten betonen die Handlungsmacht von Ehefrauen auch aus dem Bürgertum bzw. der middle class und stellen die allgemeine Meinung von der Herausbildung neuartiger separate spheres der Geschlechter in Frage.49 Der Ansatz des doing gender eröffnet die Möglichkeit, die Praktiken der Geschlechter aus einer Mikroperspek-
45 Vgl. Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750– 1850). Göttingen 2000, 199 ff.; Gisela Mettele, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996, 155–169; Nikola Langreiter, Party-Verkauf. Über modernes Hausieren am Beispiel der Tupperware, in: L’Homme. Z.F.G. 17, 2006, 119–133; vgl. den Beitrag von Frank Hatje in diesem Band. 46 Arlette Schnyder, Geschwistergeschichten. Alltagsgeschichte des Geschwisternetzwerks einer Schweizer Pfarrfamilie 1910–1950. Baden 2008; Giulia Schiess, Intime Familienkommunikation. Eine Fallstudie über die Identitätskonstruktion einer Schweizer Pfarrfamilie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand ihrer Briefkorrespondenz. MA-Arbeit, Univ. Bern 2014. 47 Zur Geschichte des Arbeiterwohnens Adelheid von Saldern, Im Hause zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Reulecke (Hrsg.), Das bürgerliche Zeitalter (wie Anm. 35), 145–332, hier 192 ff. 48 Hausen, Polarisierung (wie Anm. 16); vgl. in diesem Sinne für England Leonore Davidoff/Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class 1780–1850. London 1987; vgl. auch Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: dies./Heide Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt am Main 1992, 81–88. 49 Habermas, Frauen (wie Anm. 45), 315 ff.; Vickery, Golden Age (wie Anm. 16); vgl. dies., The Gentleman’s Daughter. Women’s Lives in Georgian England. New Haven 1998.
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tive auf das Haus im sozialen Kontext zu untersuchen. So haben besonders Studien anhand von Selbstzeugnissen eher unerwartete Aspekte für die Zeit um 1800 aufgezeigt. Dies betrifft Arbeit, Geselligkeit, soziale Netzwerke und die Frage der Praxis der Emotionalität von Frau und Mann. Hier wurde in der älteren Forschung oft eine spätere Differenz auf das frühe 19. Jahrhundert zurückprojiziert. Dagegen haben in der ‚Sattelzeit‘ nicht nur Frauen, sondern auch Männer ‚Liebe‘ und andere Emotionen innerhalb wie außerhalb des häuslichen Raums offen benannt und selbstverständlich gezeigt.50 Dazu passt der Befund zur englischen middle class, dass die Geschlechtersphären in der viktorianischen Zeit nicht so klar getrennt waren wie oft angenommen. In England war die Ära zwischen den 1830er und den 1860er Jahren geradezu eine Hochzeit der „masculine domesticity“; vom Mann wurde erwartet, dass er seine arbeitsfreien Stunden zuhause verbringt.51 Für die Schweiz hat Elisabeth Joris gezeigt, dass Frauen des städtischen Bürgertums die häusliche Sphäre erfolgreich für eigenständige Berufsausbildung und Erwerbsarbeit nutzen konnten.52
5 Besuchskultur: das ‚offene Haus‘ der bürgerlichen Eliten Die Frage nach neuen räumlich-sozialen Grenzen während der ‚Sattelzeit‘ betrifft ganz konkret die Formen der Zugänglichkeit der häuslichen Sphäre. In dieser Hinsicht gab es keinen einfachen Bruch zwischen dem offenen, sozial heterogenen Haushalt der Frühen Neuzeit und der abgeschlossenen, privatisierten Familie der Moderne. Stattdessen kommen bei einer Analyse der Routinen und Rituale neue Formen sozialer Offenheit und öffentlicher Relevanz – eben auch in der Moderne – in den Blick. Die Zeitspanne zwischen etwa Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich als eine eigene Ära und spezifischer Typus des ‚offenen Hauses‘ begreifen.53
50 Anne-Charlott Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000, 23–55, 31; vgl. dies., Sanfte Männlichkeit und selbstständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. Göttingen 1996; zur Inszenierung von Emotionen im häuslichen Raum Rebekka Habermas, Spielerische Liebe oder Von der Ohnmacht der Fiktionen. Heinrich Eibert Merkel und Regina Dannreuther (1783–1785), in: Eva Labouvie (Hrsg.), Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen. München 1997, 152–174. 51 John Tosh, A Man’s Place. Masculinity and the Middle-Class Home in Victorian England. New Haven 1999, 6 f. 52 Elisabeth Joris, Liberal und eigensinnig. Die Pädagogin Josephine Stadlin – die Homöopathin Emilie Paravicini Blumer. Zürich 2011; vgl. den Beitrag von Elisabeth Joris in diesem Band. 53 Näher zum Konzept Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 22).
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Bekanntlich spielten in der bürgerlichen Gesellschaftskonzeption Haus und Familie eine zentrale Rolle. In der Forschung gilt das 19. Jahrhundert als „das goldene Zeitalter des Privaten“.54 Indes hatte das bürgerliche 19. Jahrhundert lange Nachwirkungen auf das 20. Jahrhundert.55 Vor allem im Gefolge der 68er Revolte galten und gelten die Formen bürgerlicher Geselligkeit als steif und stereotyp, zeitlich wie räumlich exakt geregelt. Mittlerweile zeichnen jedoch einige Studien zur häuslichen Lebenswelt im deutschsprachigen Bürgertum und in der englischen middle class während deren Formationsphase ein anderes Bild. Im Vergleich zum ‚offenen Haus‘ der Frühen Neuzeit, vor allem in der ländlichen Gesellschaft, war das Regime der Zugänglichkeit in der ‚Sattelzeit‘ zwar bereits sozial selektiver, aber längst nicht so formalisiert und reguliert wie späterhin. In dem Maße wie agrarische und gewerbliche Produktion nicht mehr im Haus praktiziert wurden, was bereits in der Frühen Neuzeit nicht zuletzt von der Betriebsgröße abhing, verloren auch die alte kooperative Arbeitsgeselligkeit und die Nachbarschaft als ökonomischer Faktor im sozialen Nahraum an Bedeutung.56 Zugleich zeigen aber insbesondere Selbstzeugnisse, wie wenig privat diese häusliche Sphäre der bürgerlichen Eliten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein tatsächlich war. Nach wie vor ist die domestic sphere von Bürgertum und middle class in dieser Ära ein Raum der über kernfamiliäre Beziehungen weit hinaus gehenden Kopräsenz. Das betrifft zum einen die Dienstboten, Mieter und Untermieter, mit denen oft ein familiärer Umgang gepflogen wird, zum anderen den bis ins 20. Jahrhundert praktizierten Usus des Zusammenwohnens der Familie mit ledigen Geschwistern oder des dauerhaften Mitwohnens eines nahen Verwandten.57 Darüber hinaus ist aber vor allem für die Frühphase der Bürgerlichkeit eine zeitintensive und facettenreiche Besuchskultur festzustellen. Die beste Quelle zur Analyse dieser Form von sozialer Offenheit sind Tagebücher. So zeigen die zwischen 1816 und 1833 geführten Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula Bruckner-Eglinger (1797–1876) eine engmaschige und zeitlich eng getaktete Praxis der „Visiten“ auf, an der Familie und Verwandte sowie Bekannte und Gemeindemitglieder regelmäßig teilnahmen.58 Dabei lassen sich familiäre Ereignisse, Besuche in beruflicher Funktion (als Pfarrersfrau), Pflicht- und Gegenbesuche sowie spontane Treffen, gemeinsame Mahlzeiten und ‚vergnügtes Beysammenseyn‘ unterscheiden. Die von Frank Hatje
54 Bernd Fuhrmann, Geschichte des Wohnens. Vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2008, 107; vgl. von Saldern, Im Hause (wie Anm. 47), 151 ff.; Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999, 4 ff. 55 Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945. Göttingen 2010. 56 Vgl. epochenübergreifend Emily Cockayne, Cheek by Jowl. A History of Neighbours. London 2012. 57 Vgl. den Beitrag von Bärbel Kuhn in diesem Band. 58 Bernadette Hagenbuch (Hrsg.), ‚Heute war ich bey Lisette in der Visite‘. Die Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula Bruckner-Eglinger 1816–1833. Basel 2014, 43 f.; Dank für den Hinweis an Kaspar von Greyerz.
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edierten Tagebücher des nicht sehr wohlhabenden Hamburger Juristen Ferdinand Beneke (1774–1848) zeigen konkret auf, welche Personenkreise im Haus wohnhaft oder immer wieder besuchsweise anwesend sind: erstens nähere und weitere Verwandte des Ehepaars; zweitens Nachbarn, die ‚vorbeischauen‘, von denen nun aber als Billet ins Haus ein gewisser bürgerlicher Stil erwartet wird; drittens Vermieter und Mieter, deren Räume nicht abgeschlossen sind und die häufig zusammen speisen; viertens Klienten des Anwalts Beneke, die er in seiner Wohnstube empfängt; fünftens Freunde, Bekannte und Gäste.59 Die Art der häuslichen Treffen changiert zwischen informellen abendlichen Zusammenkünften und hochformellen Diners. Das intensive Geselligkeitspensum sowohl der Basler Pfarrersfrau als auch des Hamburger Anwalts lässt fast an Leistungssport denken. Dass beide zudem über ihre alltäglichen Kontakte und Besuche akribisch Buch führten, unterstreicht deren Wichtigkeit. Ruhige Stunden im Haus waren die Ausnahme und wohl manchmal auch Momente des Glücksempfindens. Ähnliche Beobachtungen einer ausgeprägten, zeitintensiven, über die Beziehungen der Kernfamilie weit hinaus gehenden Geselligkeitsarbeit in der häuslichen ‚Privatsphäre‘ wurden auch am Beispiel des süddeutschen Bürgertums sowie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der sozialen Elite von Bern und Zürich gemacht.60 Im Vergleich zum ‚offenen Haus‘ der Frühen Neuzeit fallen bei dieser Form der Geselligkeitskultur folgende Aspekte auf: Erstens, die Kopräsenz wird sozial selektiver und die Bezüge zum unmittelbaren Nahraum der Nachbarschaft treten zurück; zweitens, der Konnex zur Erwerbsarbeit fällt weg oder wird zumindest verändert (Einladungen von Arbeitskollegen und Geschäftspartnern); drittens, tritt eine (nur) auf den ersten Blick ‚zweckfreie Geselligkeit‘ hervor, in der bürgerliche Konventionen und Bildung eine größere Rolle spielen. Dabei werden, viertens, Individualität und Emotionen – in einer älteren Tradition auch Frömmigkeit – nicht nur gelebt, sondern auch inszeniert. So wird im Kreise der Familie, Verwandten und Freunde aus Briefen und Tagebüchern vorgelesen. Es benötigt nicht allzu viel Phantasie, um sich die Funktion des Hauses als Drehscheibe sozialer Beziehungen verschiedener Art klar zu machen. Große und kleine, formelle wie spontane Zusammenkünfte in der häuslichen Sphäre waren ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung soziokultureller Milieus. „The private house and its activities were intricately articulated with a larger network of social connections and aesthetic assumptions.“ Einen Aspekt bildeten dabei laut Sabean auch die Formen der Werbung und Eheanbahnung: „There were, of course, different ways of falling
59 Vgl. den Beitrag von Frank Hatje in diesem Band. Hatje ist Herausgeber der Tagebücher Benekes; bisher vorliegend: Ferdinand Beneke, Die Tagebücher (1774–1848), Bd. 1 (vier Teilbde. und ein Begleitband). Göttingen 2012. 60 Habermas, Frauen (wie Anm. 45), insbes. 182; Albert Tanner, Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830–1914. Zürich 1995, 426 ff., insbes. 430.
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in love. Some people first chose a suitable family by visiting, dining, walking, and playing cards together in the evening.“61 Manches spricht dafür, dass die zunächst relativ offenen Formen der Geselligkeit im Haus im Verlauf des 19. Jahrhunderts eingeschränkt, reguliert und formalisiert wurden. Dies gilt für die Abzirkelung von Räumen aus dem häuslichen Ensemble für Besucher, die Festlegung fixer Besuchszeiten oder sogar die Konstituierung als Verein mit Statuten.62 Dazu kam die zunehmende Wertschätzung von Umgangsformen, Förmlichkeit und Repräsentativität, wahrscheinlich auch eine engere soziale Exklusivität. Der deutschtümelnde Riehl ist heute zwar in vieler Hinsicht nicht mehr zitierfähig. Aber er hatte ein Auge für den Wandel sozialer Praktiken in seiner Zeit. Im Rahmen seines genuin konservativen Verlustdiskurses beklagte Riehl 1855 den Wandel der Soziabilität im Haus, verbunden mit einer scharfen Kritik an den Lebensformen des Bürgertums. Er skizzierte diese Wandel folgendermaßen: „Bei der mäßigen Gastfreundschaft, die heutzutage in unsern Städten noch geübt wird, ist es höchst charakteristisch, daß man sich in den meisten Familien bestrebt, in Gegenwart eines Gastes, und stehe er dem Hause noch so nahe, die Sitte des Hauses zu verbergen. Von hundert Familien z. B., in denen noch ein Tischgebet gesprochen wird, werden neun und neunzig dieses Gebet weglassen, wenn ein Gast am Tische ist. So macht man’s auch mit dem andern Herkommen des Hauses. Die Kinder werden vom Tische geschickt, die Mägde müssen das Zimmer räumen, Hund und Katze werden vom Ofen verjagt, das ganze Haus wird suspendirt. Man schämt sich jeder originalen häuslichen Sitte angesichts anderer Leute, statt daß man stolz auf dieselbe seyn sollte.“63 Was Riehl hier als Wandel der ‚Sitte des Hauses‘ beschreibt, deutet auf die Trennung des Repräsentativen vom Gewohnten bzw. eine zeitlich-räumliche Ausdifferenzierung von Bühnen innerhalb des Hauses hin. Ähnliches lässt sich an der Entwicklung von zunächst offenen Praktiken wie der Hausmusik beobachten, aus denen sich im Verlauf der Verfestigung bürgerlicher Kultur zum dominanten Stil hochkulturelle Rituale entwickelten, die dann nicht zuletzt der Inszenierung von Distinktion dienten.64 In der englischen middle class bzw. unter den genteel scheinen Entwicklungen der sozialen Abschottung der domestic sphere und eines strikteren Regimes der Zugänglich- und Geselligkeit – ausgehend von London – früher eingesetzt zu haben als im deutschen Bürgertum.65 Eklatante Widersprüche zwischen einer glänzenden Fassade und dunklen Hinterbühnen der Familie wurden in der europäischen Belletristik des 19. Jahrhunderts wie auch im Film des 20. Jahrhunderts immer wieder beschrieben.
61 Beide Zitate Sabean, Kinship and Class Dynamics (wie Anm. 19), 309 f. 62 Mettele, Der private Raum (wie Anm. 45); vgl. auch Tanner, Patrioten (wie Anm. 60), 429. 63 Riehl, Familie (wie Anm. 8), 164, Hervorhebung im Original. 64 Joachim Eibach, Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten, in: Themenportal Europäische Geschichte (2008), www.europa.clio-online.de/2008/Article=307 (Zugriff: 18. 04. 2015). 65 Vgl. den Beitrag von Frank Hatje in diesem Band.
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6 Das Haus als Imagination, Identität und Mythos Als Imagination entfalten Häuser während der Moderne in mehrerer Hinsicht Energien. Weiterhin bietet sich das häusliche Gebäude als Modell und Metapher zur Analyse gesellschaftlicher Zustände an, wenn auch nicht mehr primär im politischen Diskurs wie noch in der Frühen Neuzeit. In seiner tatsächlichen oder angeblichen Beständigkeit bietet das frei stehende Haus gerade in Zeiten der Unbeständigkeit und sozialen Unsicherheit – die ein Signum der Moderne sind – eine Projektionsfläche für Bedürfnisse und Sehnsüchte. Darüber hinaus wird das Haus in der Moderne ‚Geschichte‘, in manchen Narrativen auch ein Mythos. Obwohl sich im europäischen Naturrechtsdenken schon seit dem späten 17. Jahrhundert die Durchsetzung des Begriffs der ‚Familie‘ angebahnt hatte66, sahen im fürstenstaatlich organisierten Deutschland wie in der republikanischen Schweiz auch noch Mitte des 19. Jahrhunderts moderate konservative und liberale Autoren die selbstständigen ‚Hausväter‘ als Rückgrat der neuen Gesellschaft.67 Indes changierten in dieser Ära die Begriffe. Der Frühliberale Karl von Rotteck argumentierte 1837 im „Staats-Lexikon“ naturrechtlich, dass „die Staatsverbindung in der Regel, d. h. nach der vernünftigen Annahme, von Familienhäuptern, also von ganzen Familien, in deren Namen nur das Familienhaupt auftrat, geschlossen ward, nicht aber von Vereinzelten“; dies gelte auch hinsichtlich „des bürgerlichen Vereinigungsvertrags“.68 Damit waren die Väter respektive Hausväter gemeint. Zur Familie „im weiteren Sinn“ zählte Rotteck jedoch ganz in ständischer Tradition „auch noch die Dienstboten“ als „Genossen des (…) gemeinschaftlichen Lebens“ dazu.69 Auf die facettenreiche Haus-Metaphorik in der modernen Belletristik kann hier nur kurz verwiesen werden. Das räumliche Gefüge des Hauses und sein Zustand zwischen Baufälligkeit und Wohlstand bieten sich als allegorische Ordnung gesellschaftlicher Zustände an.70 Nicht zuletzt geht es dabei häufig um das Innen und das Außen, um Integration und Macht, zum Beispiel die symbolträchtige Macht des Zutritts zu Räumen. So verfügt etwa „ein Türhüter“ in Franz Kafkas berühmter Parabel „Vor dem Gesetz“ (1914) über die Macht, Einlass zu einem Haus zu gewähren, was er einem „Mann vom Lande“ verweigert. Die Position und Perspektive eines Eintritt begehren-
66 Schwab, Familie (wie Anm. 17), 266 ff.; vgl. Simone Zurbuchen, Ist Lockes politische Philosophie ‚sexistisch‘ und ‚rassistisch‘? Formen der Herrschaft im häuslichen Verband der Familie, in: Bernd Ludwig/Michaela Rehm (Hrsg.), John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Berlin 2012, 17–34. 67 Vgl. den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Band; ferner Lothar Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. 2. Aufl. München 2012, 26 f. 68 Karl von Rotteck, Familie, Familienrecht (natürliches), in: ders./Karl Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, Bd. 5. Altona 1837, 385–408, hier 386. 69 Ebd., 387. 70 Vgl. den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Band.
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den Akteurs vor dem Haus ist ein charakteristisches Leitmotiv in der modernen Literaturgeschichte des Hauses.71 Ohne Zweifel hat das Haus auch in der Moderne einen politischen Aspekt, genauer gesagt: eine Affinität zum Politischen. Der freie Bürger verfügte über ein frei stehendes Haus als steinerne Repräsentation seiner bürgerlichen Identität und (angestrebter) politischer Souveränität. Um solche Identitätsentwürfe zu realisieren, wurden nach etwa 1800 sukzessive neue Areale vor den Stadtmauern der alten Städte für den Häuserbau erschlossen. Frank Lloyd Wright imaginierte um 1900 die Zukunft der USA als eine kleinstädtische demokratische Gesellschaft freier Hausbesitzer, für die er seine sog. prairie houses entwarf.72 In den sozialistischen Staaten wurde nach 1945 Wohnungsbaupolitik mit einem Konzept der Erziehung des ‚sozialistischen Menschen‘ in einheitlichen Wohnverhältnissen verknüpft. Wer diesen politischen Anspruch zurückwies, blieb lieber in verfallenden, aber individuell gestaltbaren Altbauten wohnen.73 Große Attraktivität besaß die festgefügte Immobilität des Hauses gerade auch für räumlich mobile AkteurInnen in Migrationskontexten. So hielten und halten MigrantInnen vielfach an dem Lebensziel fest, dereinst in ihr Herkunftshaus zurückzukehren.74 Häuser gelten als Kristallisationspunkte der Familienidentität. Dies lässt sich für verstreut lebende Familienmitglieder ebenso zeigen wie – und nicht zuletzt – für den Adel, dessen invention of tradition nicht nur in dem dynastischen Selbstverständnis des Familienverbands als ‚Haus‘ Ausdruck findet, sondern sich möglichst auch in einem stattlichen, allem Wandel trotzenden Haus verortet.75 Das Haus wird in der Moderne als Gegenstand der Geschichte entdeckt und damit selbst Geschichte. Mittelalterliche Burgen werden als solche bewohnt oder sogar neu erbaut, von Bürgern gekauft und mitunter zu einem Geschäftsmodell.76 Der Historismus des 19. Jahrhunderts wertschätzt das historisierende Interieur. Volkskundler und Ethnologen identifizieren historische Haustypen. Museumsdörfer öffnen ihre Pforten für das Publikum. Die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Beschäftigung mit historischen Häusern und deren Folklorisierung sind nicht immer scharf gezogen. Mehr
71 Franz Kafka, Erzählungen. Frankfurt am Main 1983, 120 f.; vgl. ähnlich zu Kafkas „Das Schloß“ Ghanbari, Haus (wie Anm. 18), 63–71; zur Position von „Initianden“ vor Häusern ebd., 49 f.; vgl. zu Pförtnern und Türhütern als „mythische Gestalten der Grenze (…) in den Ordnungsphantasien des 19. Jahrhunderts“ Saskia Haag, Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 2012, 70. 72 Bruce Brooks Pfeiffer, Frank Lloyd Wright and the American Home, in: Frank Lloyd Wright. The Houses. New York 2005, 44–49; Kenneth Frampton, Frank Lloyd Wright’s Suburbanized Civility 1900– 1916, in: ebd., 172–175. 73 Vgl. den Beitrag von Susann Buttolo in diesem Band. 74 Vgl. den Beitrag von Simone Derix in diesem Band. 75 Vgl. den Beitrag von Daniel Menning in diesem Band. 76 Nanina Egli, ‚Heimelige Häuslichkeit‘ auf ‚dem öden Bergschloss‘. Bürgerliches Wohnen in einem feudalen Habitat, 1865–1877, in: Conrad (Hrsg.), Wohnen, (wie Anm. 35), 205–220.
Das Haus in der Moderne
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noch: Das Haus wird in Erinnerungsdiskursen der Moderne zum Vermächtnis und Mythos. Dies ließe sich am Beispiel von Frédéric Le Play, Riehl und Brunner ausführen: Dem Haus als ‚ganzer‘ Sozialtypus wie als solides Gebäude eignet etwas zeitloses, das die Epochen überdauert hat, aber in der Gegenwart verloren zu gehen droht. Das Haus war in dieser Wahrnehmung schon immer, d. h. ‚ursprünglich‘, da: „in der Zeit unsers unverdorbenen ältesten Volksthumes“77 bzw. an der Wiege abendländischer Zivilisation in der griechischen Antike.78 Das Haus wird damit zu einer modernen „fundierenden Erzählung“79, die Sinn und Orientierung für die Gegenwart anbietet. Der Mythos vom Haus transportiert eine Botschaft und hat eine politische Funktion. Der Auftrag an die Zeitgenossen lautet, dieses standfeste patriarchalische Erbe doch nicht aufzugeben zugunsten unsicherer sozialer Verhältnisse und illegitimer staatlicher Interventionen. Solche Verlustdiskurse finden sich nicht nur im konservativen Lager der Sozial- und Kulturwissenschaften. Auch Pierre Bourdieus berühmte Studie über das kabylische Haus entstand 1960 unter dem Eindruck der massenhaften Zerstörung von Häusern in Algerien durch koloniale Gewalt. Bourdieus Ziel war es nicht zuletzt, dem sakralen Mikrokosmos des kabylischen Hauses als pars pro toto der bedrohten Kultur ein Denkmal zu setzen. „Das kabylische Haus als symbolische Welt“, so der Bourdieu-Experte Franz Schultheis, „lässt sich lesen wie ein Mythos, ein Märchen, ein Hochzeitsritual oder eine religiöse Schöpfungsgeschichte.“80
77 Riehl, Familie (wie Anm. 8), 155; zu Le Play vgl. Richard Wall, Ideology and Reality of the Stem Family in the Writings of Frédéric Le Play, in: Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai (Hrsg.), The Stem Family in Eurasian Perspective. Bern 2009, 53–80. 78 Brunner, Das ganze Haus, (wie Anm. 8). 79 So die Definition des Mythos bei Jan Assmann, Mythos und Geschichte, in: Helmut Altrichter u. a. (Hrsg.), Mythen in der Geschichte. Freiburg im Breisgau 2004, 13–28, 15. 80 Schultheis, Habitat (wie Anm. 28), 181.
Teil I: Hausforschung in den europäischen Geschichtswissenschaften
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Einführung In allen europäischen Ländern war und ist die Forschung zum Haushalt bzw. zur häuslichen Lebenswelt primär eine Domäne der Frühneuzeithistorikerinnen und -historiker. Dabei war schon den auf Erfassung und Registrierung aller Lebensverhältnisse bedachten Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts nicht ganz klar, welchen Lebensformen der Status eines ‚Hauses‘ zukam und was eigentlich als ‚Haushalt‘ zählte.1 Die Quellenbegriffe sind von Land zu Land unterschiedlich, besonders wenn man über die Kernbedeutung des Gebäudes hinaus die weiteren Semantiken betrachtet. Während in den deutschsprachigen Ländern die Begriffe ‚Haus‘, ‚Haushalt‘ und ‚Hausen‘ mit zahlreichen Komposita nebeneinander verwandt wurden, gibt es in der italienischen Quellensprache neben casa und famiglia keine Entsprechung zum Begriff ‚Haushalt‘. Das französische maison – neben ménage – zeichnet sich wie das deutsche ‚Haus‘ durch eine Vielzahl an Bedeutungen aus. In den meisten englischen wie auch in den schwedischen Quellen der Frühen Neuzeit wurde mit household bzw. hushåll das Pendant zum deutschen ‚Haushalt‘ präferiert. Der mit Schutz und Privatheit konnotierte deutsche Begriff ‚Zuhause‘ wird im Englischen durch home ausgedrückt.2 Im bilingualen Böhmen erfolgte mit domek bzw. ‚Häusl‘ oder ‚Häusler‘ vor allem die Zuordnung zu einer sozialen Schicht der ländlichen Gesellschaft. In den städtereichen Niederlanden dagegen gehörten alle unter einem Dach lebenden Personen zu einem huishouden (Haushalt), das huis selbst hatte keine soziale Konnotation. Begriffsgeschichtlich haben wir es also bei einigen Entsprechungen mit einem Aspekt europäischer Diversität zu tun, der noch einer eingehenden Untersuchung harrt.3 Die Relevanz des Themas spiegelt sich in den intensiven Debatten und turns der Forschung. Seit der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert hatten sich die nationalen Forschungstraditionen sehr unterschiedlich stark entwickelt. Ab Mitte der 1960er Jahre entstand jedoch im Zuge der fortschreitenden internationalen Vernetzung der Forschung so etwas wie ein – nach außen offener – europäischer Diskussionsraum, in dem über die gleichen Ansätze, Modelle und Thesen diskutiert wurde. Den Anfang dieser Europäisierung der Forschung machten die His-
1 Dag Lindström, House, Households, and Spaces in 18th Century Swedish Towns. Vortrag auf der European Social Science History Conference in Wien, 24. April 2014. 2 Vgl. Manuela Rossini, From House to Home. Meanings of the Family in Early Modern English Drama and Culture. Basel 2004. 3 In den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ fehlt bezeichnenderweise ein Artikel zum Lemma ‚Haus‘, obwohl der Begriff in dem Werk laut Registerband in nicht weniger als 60 unterschiedlichen Wendungen und Komposita erwähnt wird. Vgl. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 8/1. Stuttgart 1997, 524–527.
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torische Demographie sowie die von Peter Laslett und Anthony Wrigley begründete Cambridge Group for the History of Population and Social Structure, deren große Entwürfe nicht zufällig auf die Feststellung europäischer Muster und Grenzlinien wie das European marriage pattern abzielten.4 Die Geschichte der Historiographie zu Haus, Haushalt und Familie lässt sich einteilen in die Anfänge während der Ära der älteren nationalen Forschungsparadigmen, gefolgt von einer Phase der Hegemonie des sozialhistorisch-demographischen Ansatzes, und schließlich eine – vom cultural turn ausgelöste – noch andauernde Zeit kulturwissenschaftlicher Ansätze, die in puncto Konzept und Methode diversifizierter sind als das typologisch-quantifizierende Vorgehen der Sozialgeschichte. Dabei handelt es sich nicht um eine simple Ablösung älterer durch neuere Zugänge, sondern einen Prozess der Überlagerung und Ausdifferenzierung der Historiographie. So orientiert sich bis heute eine große Zahl an Studien zur Thematik an der Methodik der klassischen Sozialgeschichte, die sich als family history international sehr erfolgreich aufgestellt hat. Der jeweilige impact der Cambridge Group hing von der Stärke und auch dem Grad der Institutionalisierung der jeweiligen nationalen Forschungsdiskurse ab. In Frankreich und Deutschland war der Einfluss dieses sozialhistorischen Modells nie so dominant wie etwa in den Niederlanden, in Schweden oder später in Tschechien als Beispiel für die Forschung in Ostmitteleuropa. Nach den Anfängen der Forschung in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts mit Frédéric Le Plays Modell der ‚Stammfamilie‘ (famille souche), das bis heute international diskutiert wird, entwickelten die Annales-Schule wie auch der Anthropologe Claude Lévi-Strauss attraktive Konzepte, die weit über die Landesgrenzen Frankreichs hinweg ausstrahlten.5 Zunächst ganz ähnlich wie in Frankreich entstand die historische Beschäftigung mit dem ‚Haus‘ auch in Deutschland im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck eines umfassenden politisch-sozialen Wandels, und zwar bei Wilhelm Heinrich Riehl als genuin konservativer Diskurs vom Verlust des ‚ganzen Hauses‘.6 Dieser Begriff wurde dann bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg von Otto Brunner wieder
4 Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Time. Cambridge 1972; John Hajnal, European Marriage Patterns in Perspective, in: D. V. Glass/D.E.C. Eversley (Hrsg.), Population in History. London 1965, 101–143. 5 Frédéric Le Play, Les ouvriers européens. Étude sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvrières de l’Europe, précédées d’un exposé de la méthode d’observation. Paris 1855; Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai (Hrsg.), The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th Centuries. Bern 2009; Claude Lévi-Strauss, L’organisation sociale des Kwakiutl, in: ders., La voie des masques. Paris 1988, 141–64; auch als frühes Beispiel einer Mikrogeschichte viel rezipiert: Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324. Paris 1975; vgl. den Beitrag von Élie Haddad in diesem Band. 6 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik. 6. Aufl. Stuttgart 1862 [1855], 145–165.
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aufgegriffen.7 Neben dem eng mit ‚Herrschaft‘ verbundenen Konzept des ‚ganzen Hauses‘ gab es in der deutschsprachigen Forschung nach 1945 durchaus andere Ansätze, zum Beispiel bei den Ethnologen (Volkskundlern), die ihre ergiebige, quellennahe Forschung jedoch nie derart wirkungsmächtig auf den Begriff zu bringen vermochten. So unterschiedliche Geister wie Jürgen Habermas und Niklas Luhmann annotierten die Werke Brunners.8 Für die nachrückende jüngere Generation war dann das sozialhistorische Modell mit der analytischen, auf Größe und Struktur fokussierten Kategorie des ‚Haushalts‘ und dessen quasi herrschaftsabweisender Definition als „coresident domestic group“9 eine Befreiung. Nicht zufällig wurde der neue Forschungsansatz mit politischen Hoffnungen auf einen Wandel „Vom Patriarchat zur Partnerschaft“ verknüpft.10 Interessant ist der italienische Fall. Die typologischen Konstrukte der englischen Sozialgeschichte wurden hier frühzeitig intensiv rezipiert, aber auch – von sozialhistorischer Warte aus – kritisiert. Denn die heterogenen Befunde der Forschung im quellenreichen Italien widersprachen der These von der aus Eltern und Kindern bestehenden Kernfamilie als dem typisch europäischen Modell. Demgegenüber entsprachen die Ergebnisse in den frühzeitig urbanisierten Niederlanden eher den Erwartungen. Die dortige Forschung war und ist auch offener für die modernisierungstheoretischen Implikationen der angloamerikanischen Sozialgeschichte. Mit dem analytischen Werkzeug der Cambridge Group fand die holländische Forschung eine hohe Zahl an Kernfamilien in kleinen Haushalten, denen vergleichsweise oft Frauen vorstanden. Auch in Skandinavien und in Ostmitteleuropa ermittelte die demographisch ausgerichtete Forschung seit den 1970er Jahren ein grosso modo ‚nordwesteuropäisches Muster‘ des Haushalts. Der Erfolg der historisch-demographischen Familienforschung hing nicht zuletzt mit dem Reichtum an seriellem Quellenmaterial zusammen, das Ausdruck der intensiven Beobachtung des Hauses und seiner Bewohner durch die Obrigkeiten und Kirchen bereits in der Frühen Neuzeit ist. Insgesamt lässt sich keine Schlüsselquelle bestimmen, sondern jedes Paradigma bevorzugte bestimmte Genres. Serielle Korpora konnten quantifizierend und – in den späten 1960er Jahren neu – computergestützt ausgewertet werden. Dabei gehen die Bemühungen um eine quantitative Erfassung häuslicher Verhältnisse zurück auf die nationalhistorische Ära, als neben Historikern und Ethnologen auch Geographen und Statistiker die Forschung anstießen. Multi-
7 Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968 [1950], 103–127; vgl. hierzu und zum Folgenden den Beitrag von Philip Hahn in diesem Band. 8 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990, 59, 63; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2. Frankfurt am Main 1997, 695. 9 Laslett/Wall, Household (wie Anm. 4), 1; vgl. den Beitrag von Catherine Richardson in diesem Band. 10 Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991 [1977].
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disziplinarität ist seither ein Charakteristikum der internationalen Hausforschung geblieben. Quellen wie Kirchenbücher, Grund- und Steuerregister, Haushaltslisten, sog. Seelenbeschreibungen, Inventare und Notariatsakten ließen und lassen sich in sozialhistorischer Manier mit transnational-makrohistorischer Perspektive auswerten und vergleichen. Das genannte serielle Quellenmaterial bildet – empirisch breiter abgestützt und kontextualisiert – auch nach dem Ende der Dominanz der Historischen Demographie die Basis relevanter Theoreme. Viel diskutiert werden die – von klassisch soziologischer Warte aus überraschende – zunehmende Bedeutung des Faktors Verwandtschaft (kinship) in Europa11 beim Übergang von der Ständegesellschaft zur modernen Klassengesellschaft sowie der Effekt des Konsumverhaltens der Haushalte im Kontext der sog. Industrious Revolution.12 Die seit etwa Ende der 1980er Jahre florierenden kulturhistorischen Ansätze haben sich intensiv und auf immer wieder neue Weise mit dem Haus befasst. Ausgangspunkt war dabei das Ungenügen an älteren Leitkategorien wie ‚Stammfamilie‘ oder das ‚ganze Haus‘, aber auch die Skepsis gegenüber einem rein strukturell-funktionalen Verständnis des ‚Haushalts‘, das die Akteurinnen und Akteure außen vor ließ. ‚Das Haus und seine Menschen‘13 hatten überlebt und weckten neues Interesse. Die konzeptionelle Öffnung des Felds wurde dabei nicht allein durch die kulturhistorische Offensive bewirkt, sondern auch Sozialhistoriker entwickelten und erweiterten die Agenda.14 Der Perspektivenwechsel von der klassischen Sozialgeschichte hin zur Neuen Kulturgeschichte lässt sich an der Geschichte von Haus, Haushalt und Familie musterhaft nachvollziehen: von Makrostrukturen ‚hinter dem Rücken‘ der Akteurinnen und Akteure hin zur Mikrolebenswelt und Erfahrung der historischen Subjekte, von seriellen Akten zum Einbezug von Selbstzeugnissen (Briefe, Tagebücher), von der Grundannahme des männlichen Haushaltsvorstands zu Mann und Frau als ‚Arbeitspaar‘.15 Die innovativen Ansätze lassen sich dabei nicht auf einen einzigen Begriff bringen. Entscheidend für die neuen Perspektiven wurden aber neben den vielzitierten Akteurinnen und Akteuren zuerst die Praxis sowie dann der soziale Raum und der soziokulturelle Kontext. Im Hinblick auf das Personal des Hauses erwies
11 David W. Sabean/Simon Teuscher/Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to the LongTerm Development (1300–1900). New York 2007. 12 Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the present. Cambridge 2008. 13 Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen 16.–18. Jahrhundert. München 1990. 14 David W. Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1990; ders., Kinship in Neckarhausen 1700–1870. Cambridge 1998; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994; Dionigi Albera, Au fil des générations. Terre, pouvoir et parenté dans l’Europe alpine (XIVe–XXe siècles). Grenoble 2011; vgl. den Beitrag von Albera in diesem Band. 15 Heide Wunder, ‚Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond‘. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992.
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sich vor allem der Gender-Aspekt als Türöffner für neue Fragen. Denn die Analyse der informellen Praxis in der häuslichen Lebenswelt ergab ein neues, von formellen Rechtsnormen abweichendes und in den Haushalts-Typologien bis dato vernachlässigtes Bild vom Zusammenleben der Geschlechter.16 Zudem zeigte sich, dass es nicht ausreicht, Haus und Haushalt als unabhängige, quasi-autonome Einheiten für sich zu betrachten. Der Blick auf die Praxis der Akteurinnen und Akteure lässt vielmehr mannigfaltige Beziehungen und Kontexte hervortreten. ‚Haus‘ und ‚Haushalt‘ werden in der täglichen Praxis immer wieder neu reproduziert, aber auch verändert. Im Einzelnen lief diese praxeologische Wende unterschiedlich ab. Eine fortschreitende Ausdifferenzierung der Konzepte und Methoden korrespondiert mit dem Befund, dass sich derzeit in keinem Land ein hegemonieverdächtiger Ansatz feststellen lässt. Sowohl die bevorzugte mikrohistorische Arbeitsweise als auch die neuen Möglichkeiten zu internationalem Austausch zwischen den Forscherinnen und Forschern haben die alten nationalgeschichtlichen Signaturen verblassen lassen. Befördert nicht zuletzt durch strategische Entscheidungen nationaler funding institutions, lassen sich gleichwohl Schwerpunkte feststellen. So ist etwa in der angloamerikanischen Forschung das Interesse an der materiellen Kultur des Hauses bislang stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Übereinstimmend betonen einige neuere Ansätze die soziale ‚Offenheit‘17 oder aber die Beziehungsnetze, in denen das Haus stand. Allerdings lassen sich aus dieser Einsicht in puncto Methode unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Die italienische microstoria hat schon seit langem darauf aufmerksam gemacht, dass Haushalte miteinander kooperierten und in lokale bzw. verwandtschaftliche Netzwerke eingebettet waren.18 Auch für Schweden zeigt die neueste Forschung anhand der sowohl in seriellen Quellen als auch in Selbstzeugnissen notierten Praktiken der Geschlechter, dass ökonomische Aktivitäten vor allem als Kooperation zwischen Häusern organisiert waren.19 In Deutschland hat sich 2008 eine Forschergruppe mit dem Ziel organisiert, die kommunikativen und lebenswelt-
16 In der deutschen Forschung z. B. Renate Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1995; zur englischen Forschung Leonore Davidoff/Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class. London 2002; Amanda Vickery, An Englishman’s Home is his castle? Thresholds, Boundaries and Privacies in the Eighteenth Century London House, in: P & P 199, 2008, 146–173; zu Frankreich Julie Hardwick, The Practice of Patriarchy. Gender and the Politics of Household Authority in Early Modern France. University Park 1998. 17 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 18 Giovanni Levi, Family and Kin – a Few Thoughts, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 567–578; vgl. ders., Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne. Berlin 1986 [zuerst ital.: L’ereditá immateriale. Turin 1985]; vgl. den Beitrag von Dionigi Albera in diesem Band. 19 Maria Ågren, Emissaries, Allies, Accomplices and Enemies. Married Women’s Work in EighteenthCentury Urban Sweden, in: Urban hist. 41, 2014, 394–414; vgl. zu Schweden den Beitrag von Karin Hassan Jansson in diesem Band; ferner Jon Mathieu, ‚Ein Cousin an jeder Zaunlücke‘. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700–1900, in: Margareth Lanzinger/
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lichen Kontexte des Hauses epochenübergreifend zu diskutieren.20 Überdies ist zu bemerken, dass ‚Haus‘ weiterhin auch als normatives zeitgenössisches Ordnungsmodell bzw. als ein sehr praxisrelevantes kulturelles Muster analysiert werden kann.21 Die Frage, ob dieses Ordnungskonzept sich nur in den Quellen aus deutschsprachigen Ländern und auch Schweden findet oder ob es im weiteren Sinne eine europäische Signatur hat, ist noch zu klären. Auffällig ist nicht zuletzt, dass die Forschungen zu Haus, Haushalt und Familie älterer wie neuerer Couleur oft mit Fragen der Konstruktion kollektiver Identität korrespondierten und in diesem Sinne politisch waren. Dies gilt zweifellos für die Anfänge der Forschung im 19. Jahrhundert bei Le Play und Riehl; aber auch etwa für die Frage der Zugehörigkeit des vorherrschenden Haushaltstyps im eigenen Land zum ‚europäischen Muster‘, die historischen Rollen von Frau und Mann im Hinblick auf Ausformungen des Patriarchats oder die Debatten um die Verbindlichkeit der Institution der Ehe.22 So schillernd, vieldeutig und mitunter vorbelastet der Begriff ‚Haus‘ auch ist, verdeutlicht die tour d’horizon durch die europäische Geschichtswissenschaft zugleich das Potenzial für zukünftige, innovative Forschung. Dies gilt für die materielle Kultur und den durch alltägliches Handeln konstituierten sozialen Raum der domestic sphere, Offenheit und netzwerkliche Verknüpfungen der Akteurinnen und Akteure mit der Umwelt, kulturelle Wahrnehmungsmuster wie auch das Haus als literarisches Imaginarium.
Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, 55–71. 20 Das vorliegende Handbuch ist das Ergebnis der Diskussionen des von Inken Schmidt-Voges und Joachim Eibach gegründeten Arbeitskreises ‚Haus im Kontext: Kommunikation und Lebenswelt‘. 21 Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens. Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert. München 2015 (im Erscheinen). 22 Vgl. die Beiträge von Manon van der Heijden/Ariadne Schmidt und von Alice Velková in diesem Band.
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Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945: Vom ‚ganzen Haus‘ zum ‚offenen Haus‘ 1 Mehr als eine ‚Brunner-Debatte‘ Vor zwanzig Jahren stellte Merry Wiesner-Hanks fest, dass die deutschsprachige Forschung zur Geschichte der Familie in der Frühen Neuzeit maßgeblich von der Idee des ‚ganzen Hauses‘ beeinflusst sei. Gemeint war damit die Vorstellung, dass bis weit ins 19. Jahrhundert der patriarchalische Haushalt die Grundeinheit (nicht nur) der ländlichen Gesellschaft gewesen sei, die Leben und Arbeiten vereint habe und in der alle Familienangehörigen einschließlich des Dienstpersonals dem ‚Hausvater‘ zu gehorchen hatten. Wiesner-Hanks zufolge neigten deutschsprachige Historiker ferner stärker zur (abstrahierenden) Soziologie als ihre anglophonen Berufsgenossen, und das Forschungsfeld sei von Männern dominiert, die sich meist damit begnügten, die sogenannte ‚Hausväterliteratur‘ auszuwerten und diese normativen Texte zudem als Abbild der frühneuzeitlichen Realität misszuverstehen.1 Ironischerweise erschien das einflussreiche Handbuch, das Wiesner-Hanks‘ wenig schmeichelhaftes Urteil über die deutschsprachige Forschung enthält, in demselben Jahr in den USA, als in Deutschland die Debatte über Leben und Werk des Historikers Otto Brunner gerade ihren Höhepunkt erreichte. Denn 1994 veröffentlichte auch Claudia Opitz ihre scharfe Kritik an Brunner und seinem Konzept des ‚ganzen Hauses‘ in der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“.2 Die Brunner-Debatte hatte schon kurz nach Brunners Tod 1982 begonnen; rund zwanzig Jahre lang arbeiteten sich dann Historiker unterschiedlicher Ausrichtung an seinem intellektuellen Vermächtnis ab.3 Seit der Mitte der 1990er Jahre erreichte die
1 Merry E. Wiesner, Family, Household, and Community, in: Thomas A. Brady/Heiko A. Oberman/ James D. Tracy (Hrsg.), Handbook of European History 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance, and Reformation, Bd. 1. Grand Rapids 1994, 51–78, hier 62–63. 2 Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20, 1994, 88–98. 3 Robert Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag O. Brunners zur Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 13, 1984, 337–362; Christoph Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, in: AnnTrento 13, 1987, 73–96; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformen 1700–1815. München 1987, 81–83; Irmintraut Richarz,
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Debatte auch Forscher außerhalb des deutschsprachigen Raums.4 Grob vereinfacht, konzentrierten sich die Beiträge entweder auf Brunners Nähe zum Nationalsozialismus oder darauf, dass seine Vorstellung einer auf der Einheit des Hauses aufbauenden vormodernen Gesellschaft mit den Ergebnissen von zwanzig Jahren Forschung zur Geschichte der Familie nicht mehr ohne weiteres vereinbar war. Einige Wissenschaftler kritisierten, die Debatte sei in ihrer Kritik an Brunner zu weit gegangen.5 Doch brachte sie die Vielfalt jüngerer Forschungsperspektiven auf das Phänomen des Hauses in der Vormoderne zusammen und erhöhte ihre gegenseitige Aufmerksamkeit: Begriffsgeschichte, Religionsgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, historische Demographie, Volkskunde/europäische Ethnologie, Alltags- und Mentalitätsgeschichte, historische Anthropologie und Geschlechtergeschichte. Die methodischen Ansprüche an historische Forschungen zum Thema ‚Haus‘ sind seitdem deutlich höher. Gleichzeitig führte die Debatte jedoch dazu, dass der Begriff ‚Haus‘ noch stärker mit Brunner assoziiert wurde als zuvor. Dadurch wurde es schwieriger, das ‚Haus‘ als Forschungskonzept neu zu etablieren.6 Man könnte sogar den Eindruck
Das ökonomisch autarke ‚Ganze Haus‘ – Eine Legende?, in: Trude Ehlert (Hrsg.), Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Sigmaringen 1991, 269–279; Opitz, Neue Wege (wie Anm. 2); Werner Troßbach, Das ‚ganze‘ Haus – Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit? in: BlldtLG 129, 1993, 277–314; Valentin Groebner, Außer Haus. Otto Brunner und die ‚alteuropäische Ökonomik‘, in: GWU 49, 1995, 69–80; Hans Derks, Über die Faszination des ‚Ganzen Hauses‘, in: GG 22, 1996, 221–242; Helmut Quaritsch, Otto Brunner. Werk und Wirkungen, in: Herbert Haller (Hrsg.), Staat und Recht. Festschrift Günther Winkler. Wien 1997, 825–853; Reinhard Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkwerdung‘. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft. Berlin 1999, 88–135; Stefan Weiß, Otto Brunner und das Ganze Haus. Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: HZ 273, 2001, 335–369; Otto Gerhard Oexle, Von der völkischen Geschichte zur modernen Sozialgeschichte, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Geschichtswissenschaft um 1950. Mainz 2002, 1–36. 4 James Van Horn Melton, From Folk History to Structural History. Otto Brunner (1898–1982) and the Radical-Conservative Roots of German Social History, in: Hartmut Lehmann/James Van Horn Melton (Hrsg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s. Cambridge 1994, 263–292; Derks, Faszination (wie Anm. 3); Peter N. Miller, Nazis and Neo-Stoics. Otto Brunner and Gerhard Oestreich before and after the Second World War, in: P & P 176, 2002, 144–186. 5 Kritisch: Winfried Schulze, Vom ‚ganzen Haus‘ zum ‚Kreislauf der geselligen Dienste und Arbeiten‘. Geselligkeit und Gesellschaftsbildung im 17. Jahrhundert, in: Wolfgang Adam (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Bd. 1. Wiesbaden 1997, 43–69, hier 59 f.; Beatrix Bastl, Haus und Haushaltung des Adels in den österreichischen Erblanden im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch (Hrsg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchie bis zur Revolution (ca. 1600–1789). Köln 2001, 263–285, hier 267; Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne. München 2008, 30–38. 6 Inken Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850.
Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945
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gewinnen, dass die deutschsprachige Historiographie dieses Forschungsfeldes in drei Entwicklungsschritte unterteilt werden kann, nämlich in eine Ära der Hegemonie des Brunner’schen ‚ganzen Hauses‘, gefolgt von einer revolutionären Periode, in der dieses Konzept vom Sockel gestoßen wurde und die schließlich in eine bis vor kurzem andauernde Phase etwas abgekühlten Interesses am ‚Haus‘ mündete. Dieser Eindruck ist allerdings falsch, denn die deutschsprachige Historiographie zum Thema seit 1945 und insbesondere seit den späten 1970er Jahren war von Anfang an vielseitiger, als es eine solche saubere Einteilung suggeriert. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die deutschsprachige Forschung der letzten drei Jahrzehnte zum Phänomen ‚Haus‘ in der Frühen Neuzeit mit Blick auf den jeweiligen Zugriff drei Kategorien zuzuordnen, nämlich danach, ob sie das ‚Haus‘ als Ordnungskonzept (3.), als Gebäude und/oder Raum materieller Kultur (4.), oder als sozialen Raum analysiert (5.). Vorweg soll ein stark vereinfachter Überblick über die Etappen der Diskussion innerhalb dieses Forschungsfelds als chronologischer Leitfaden dienen (2.).
2 Etappen der Forschungsdiskussion zum ‚Haus‘ Zugegeben war Otto Brunner der erste, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufmerksamkeit auf das ‚Haus‘ lenkte, und zwar mit seiner 1949 gedruckten Monographie „Adeliges Landleben und Europäischer Geist“ sowie insbesondere mit seinem Aufsatz „Das ‚ganze Haus‘ und die ‚alteuropäische Ökonomik‘“ von 1950.7 Im selben Jahr (1950) veröffentlichte aber auch Karl-Sigismund Kramer, der später Professor für Volkskunde in Kiel wurde, sein Buch „Haus und Flur im bäuerlichen Recht“, in welchem er die Bedeutung des Hauses und seiner Teile (der Herd, das Dach und die Tür) in ländlichen Rechtsvorstellungen und -bräuchen analysierte.8 Anders als Brunner, der sich damit begnügte, den bereits erwähnten Aufsatz zweimal unverändert nachdrucken zu lassen, schrieb Kramer in den darauf folgenden Jahren weitere Aufsätze und Bücher, in denen er sich mit Aspekten des Hauses auseinandersetzte.9 Bereits im Jahr 1964 argumentierte Kramer,
Köln 2010, 9–27, hier 20; Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664, hier 635–636; Schulze, Vom ‚ganzen Haus‘ (wie Anm. 5), 59 f. 7 Otto Brunner, Adeliges Landleben und Europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688. Salzburg 1949; ders., Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127. 8 Karl-Sigismund Kramer, Haus und Flur im bäuerlichen Recht. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde. München 1950, 7–26. 9 Karl-Sigismund Kramer, Das Herausfordern aus dem Haus, in: Bayerisches Jb. für Volkskunde, 1956, 121–138; ders., Das Haus als geistiges Kraftfeld im Gefüge der alten Volkskultur, in: Rheinisch-westfälische Zs. für Volkskunde 11, 1964, 30–43; ders., Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. Würzburg 1957; ders., Volksleben in einem holsteinischen Gutsbezirk. Neumünster 1979.
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dass Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘ nicht auf die Haushalte einfacher Bauern angewandt werden könne, und forderte, dass das Haus im Zusammenhang mit seiner Umwelt, der dörflichen Gemeinde, untersucht werden müsse.10 In den 1970er Jahren begannen dann mehrere Sozialhistoriker, allen voran Michael Mitterauer in Wien, die Methoden der Cambridge Group for the History of Population and Social Structure auf ihre Forschung zur Geschichte der Familie anzuwenden. Mitterauer zog in seinen Arbeiten bewusst analytische Begriffe wie ‚Haushalt‘ oder ‚Hausgemeinschaft‘ den Quellenbegriffen ‚Haus‘ und ‚Familie‘ vor, da er bei den Letzteren aufgrund ihres semantischen Wandels seit der Frühen Neuzeit die Gefahr von Missverständnissen sah.11 Damit entschied er sich bewusst für einen anderen Weg als Brunner, der sich dafür ausgesprochen hatte, von den Quellen abgeleitete Begriffe zu verwenden.12 Die Wahl des Begriffs ‚Haushalt‘ entspricht zwar einem sozialhistorischen Fokus auf den Prozessen der gemeinsamen Produktion und des Verbrauchs ‚unter einem Dach‘. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch dies – und zwar vor allem in der Verbform ‚haushalten‘ – ein moralisch konnotierter Quellenbegriff ist, was seiner zeitweiligen Beliebtheit als analytischer Begriff dennoch keinen Abbruch tat.13 Mitterauer und Kramer zum Trotz tauchte der Begriff des ‚ganzen Hauses‘ dennoch in den 1980er Jahren wieder in der Forschung auf: Die Soziologin Heidi Rosenbaum griff in ihrem Buch „Formen der Familie“ (1982) auf ihn zurück, und zwar in ihren Kapiteln über traditionelle bäuerliche und handwerkliche Familien. Barbara Becker-Cantarino betrachtete das ‚ganze Haus‘ 1986 erstmals aus einer Gender-Perspektive; Hans-Ulrich Wehler bezeichnete die Vorstellung der ökonomischen Autarkie des ‚ganzen Hauses‘ in seiner einflussreichen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ (1987) als eine „Legende“.14 Für die Entwicklung eines neuen
10 Kramer, Haus als geistiges Kraftfeld (wie Anm. 9), 39–43; vgl. ders., Die Nachbarschaft als bäuerliche Gemeinschaft. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung Bayerns. München 1954. 11 Michael Mitterauer, Die Familie als historische Sozialform, in: ders./Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991, 21–45, hier 30 f.; vgl. Michael Mitterauer, Familie und Arbeitsorganisation in städtischen Gesellschaften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt. Köln 1984, 1–36. 12 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Leipzig 1939, 193. 13 Dies gilt v. a. für die unter 5. erwähnten Forschungen. Vgl. Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 6), 638. 14 Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982, 19 f., 30 f., 85, 116 f., 121 f., 180–183: Mit Bezug auf Mitterauer u. a. spricht sich Rosenbaum für eine modifizierte Fassung des ‚ganzen Hauses‘ aus; Barbara Becker-Cantarino, Vom ‚Ganzen Haus‘ zur Familienidylle. Haushalt als Mikrokosmos in der Literatur der Frühen Neuzeit und seine spätere Sentimentalisierung, in: Daphnis 15, 1986, 509–533, insbes. 518–521; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 3), 81–83, der sein Urteil auf Forschungen von Irmintraut Richarz basiert, vgl. Richarz, Autarke ‚Ganze Haus‘ (wie Anm. 3), 269.
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Verständnisses der frühneuzeitlichen Bedeutung des ‚Hauses‘ maßgeblich waren in den 1980er Jahren aber vor allem Hermann Heidrichs Aufsatz „Grenzübergänge“ von 1983, der erstmals die Forschungsergebnisse Karl-Sigismund Kramers in die historische Debatte einführte, sowie Hans Medicks Zusammenarbeit mit David Sabean, in der unter anderem das Buch „Emotionen und materielle Interessen“ (1984) entstand.15 Einflussreiche kulturgeschichtliche Einführungswerke wie etwa Richard van Dülmens Trilogie „Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit“, deren erster Band bezeichnenderweise den Titel „Das Haus und seine Menschen“ trägt, etablierten das ‚Haus‘ als einen Schlüssel zum Verständnis der frühneuzeitlichen Gesellschaft.16 Nur eine Minderheit der Historiker und Historikerinnen, die seit den späten 1980er und 1990er Jahren unter dem Einfluss dieser Ansätze arbeiteten, beteiligte sich jedoch aktiv an der Brunnerdebatte, die somit eher als ein Hintergrundrauschen der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem ‚Haus‘ als deren Tenor verstanden werden sollte.
3 Das ‚Haus‘ als Ordnungskonzept Das ‚Haus‘ als Ordnungskonzept gilt – nicht zuletzt dank Brunner – als der klassische deutsche Zugang zum Thema. Julius Hoffmanns „Die Hausväterliteratur und die Predigten über den christlichen Hausstand“ (1959) war und ist neben Brunners Aufsatz die in diesem Kontext meist zitierte Arbeit.17 In späteren Jahrzehnten war dieses normative Genre der Gegenstand kleinerer Aufsätze einer Handvoll deutschsprachiger Historiker, die sich vor allem auf die drei folgenden Themen konzentrierten: die adlige Lebenswelt, die Auswirkungen der Reformation auf das häusliche Leben und den Einfluss des Konzepts ‚Haus‘ auf die politische Theorie der Zeit.18 Erst in jüngerer
15 Hermann Heidrich, Grenzübergänge. Das Haus und die Volkskultur in der frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. München 1983, 17–41; Hans Medick/David Sabean (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung. Göttingen 1984. 16 Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen 16.–18. Jahrhundert. München 1990. Vgl. auch Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit: 1500 bis 1800. Frankfurt am Main 1992. 17 Julius Hoffmann, Die ‚Hausväterliteratur‘ und die ‚Predigten über den christlichen Hausstand‘. Weinheim 1959. Hoffmanns Buch wurde auch ausgiebig verwendet von dem US-amerikanischen Historiker Stephen Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe. Cambridge Mass. 1983. 18 Gotthardt Frühsorge, Die Gattung der ‚Oeconomia‘ als Spiegel adligen Lebens. Strukturfragen frühneuzeitlicher Ökonomieliteratur, in: Dieter Lohmeier (Hrsg.), Arte et Marte. Studien zur Adelskultur des Barockzeitalters in Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein. Neumünster 1978, 85–107; ders., ‚Oeconomie des Hofes‘. Zur politischen Funktion der Vaterrolle des Fürsten im ‚Oeconomus prudens et legalis‘ des Franz Philipp Florinus, in: August Buck (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 2. Hamburg 1981, 211–215; ders., Luthers Kleiner Katechismus und die ‚Hausväter-
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Zeit wurden diese und andere relevante präskriptive Texte wie etwa Predigten und Flugschriften, die das ‚Haus‘ thematisierten, als Medien interpretiert und damit auch deren zeitgenössische Rezeption berücksichtigt.19 Seit den 1990er Jahren haben Forscherinnen und Forscher wie Heide Wunder, Renate Dürr, Susanna Burghartz und Heinrich Richard Schmidt untersucht, auf welche Weise die Normen für ‚Haus‘ und Haushalt im alltäglichen Leben implementiert und angeeignet wurden. Dabei haben die von der Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte aufgeworfenen Fragen entschieden dazu beigetragen, etablierte Interpretationsmuster aufzubrechen.20 So hat Dürr nachgewiesen, dass das Verhalten der Mägde in zunehmendem Maße als schwächster Punkt des Hauses wahrgenommen und ihre Kontrolle somit Voraussetzung seiner moralischen Integrität wurde. Schmidt hat Ehestreitigkeiten vor kirchlichen Gerichten im Reformiertentum ausgewertet und daraus seine Interpretation der patriarchalen Ordnung insbesondere des reformierten Haushalts als „zweischneidiges Schwert“ abgeleitet. Denn Frauen konnten das patriarchale Ideal durchaus für ihre Zwecke instrumentalisieren, indem sie ihre Ehemänner vor die geistlichen Gerichte zitieren ließen, wenn diese nicht dementsprechend lebten.21 2008 schlug Schmidt dann ein revidiertes Konzept des ‚ganzen Hauses‘ vor, das weniger das statische Objekt ‚Haus‘ als – mit Blick auf die Arbeiten David Sabeans – vielmehr den dynamischen Charakter des Verbs „(recht) hausen“ betont. ‚Hausen‘ verpflichtete sowohl Männer als auch Frauen zu Wirtschaftlichkeit bzw. Sparsamkeit entsprechend biblischer Vorgaben.22
literatur‘, in: Pastoraltheologie 73, 1984, 380–393; ders., ‚Georgica curiosa‘. Vom geistlichen Sinn der Anleitungsliteratur bei Wolf Helmhard von Hohberg, in: Herbert Zeman (Hrsg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750), Bd. 2. Graz 1986, 1071–1086; Paul Münch, Haus und Regiment – Überlegungen zum Einfluß der alteuropäischen Ökonomie auf die fürstliche Regierungstheorie und -praxis während der frühen Neuzeit, in: August Buck (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg 1981, 205–210; Manfred Fleischer, Die ersten landwirtschaftlichen Handbücher in deutscher Sprache, in: ders., Späthumanismus in Schlesien. Ausgewählte Aufsätze. München 1984, 213–235. 19 Inken Schmidt-Voges, ‚Weil der Ehe-Stand ein ungestümmes Meer ist …‘ – Bestands- und Krisenphasen in ehelichen Beziehungen in der Frühen Neuzeit, in: Siegrid Westphal/Inken Schmidt-Voges/ Anette Baumann, Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit. München 2011, 89–162, hier 109–116; Philip Hahn, Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Rezeption der Oeconomia Johann Colers. Epfendorf 2013. 20 Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn 1999. Vgl. Opitz, Neue Wege (wie Anm. 2). Vgl. auch Anm. 21 und unten Abschnitt 5. 21 Renate Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1995; Heinrich Richard Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hrsg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998, 213–236. 22 Heinrich Richard Schmidt, ‚Nothurfft vnd Hußbruch‘. Haus, Gemeinde und Sittenzucht im Reformiertentum, in: Andreas Holzem/Ines Weber (Hrsg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt. Paderborn 2008, 301–328, hier 304 f.
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Auch Inken Schmidt-Voges kritisierte diese Vorstellung eines statischen vormodernen ‚Hauses‘. Das konventionelle Bild eines uniformen ‚alteuropäischen‘ Hauses, das um 1800 durch die moderne ‚Familie‘ abgelöst worden sei, hält sie für zu stark vereinfacht. Vielmehr sei es angebracht, die Konzepte ‚Haus‘, ‚Familie‘ und ‚Ehe‘ in ihren funktionalen Kontexten zu untersuchen und dabei ihre jeweiligen unterschiedlichen Traditionen zu berücksichtigen.23 Schmidt-Voges bezweifelt, dass das ‚Haus‘ – wie gemeinhin angenommen – zum Ende des 18. Jahrhunderts funktional an Bedeutung verloren habe; so lasse sich etwa für die Zeit um 1800 ein Anstieg der Bedeutung des Konzepts ‚Hausfrieden‘ belegen.24 Die ‚Hausnotdurft‘ hingegen scheint etwa zur gleichen Zeit ihre Bedeutung als rechtliches Argument eingebüßt zu haben, wie Renate Blickle bereits in den späten 1980er Jahren nachwies.25 Die Tugend der ‚Häuslichkeit‘ blieb weiterhin wichtig, unterlag jedoch einem tiefgreifenden semantischen Wandel: Renate Dürr zufolge verlor sie ihre traditionelle Bindung an das Haus und somit ihre Gültigkeit als eine für Mann und Frau gleichermaßen zentrale Tugend im Lauf des 17. Jahrhunderts, so dass sie dann im 18. Jahrhundert als eine ausschließlich weibliche Tugend galt.26 Das Aufeinandertreffen divergierender Modelle häuslicher Ordnung ist am Beispiel lutherischer Pfarrerhaushalte in ländlichen Regionen untersucht worden.27 Diese Untersuchungen verdeutlichen nicht nur, dass die einzelnen Aspekte des ‚Hauses‘ als Ordnungskonzept einem historischen Wandel unterworfen waren, und zwar je nach dem individuellen Kontext in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Richtung. Darüber hinaus ist zumindest phasenweisen auch von der Gleichzeitigkeit mehrerer Ordnungsmodelle des ‚Hauses‘ auszugehen. Dass das ‚Haus‘ in der Frühen Neuzeit eine große Strahlkraft als Modell sozialer Ordnung entfaltete, ist in jüngerer Zeit von Studien zu Institutionen wie
23 Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen (wie Anm. 6.), 11–12. 24 Inken Schmidt-Voges, Frieden und Ruhe im Haus. Überlegungen zur Ordnungsfunktion des Hauses um 1800 am Beispiel der Osnabrücker Gesindeordnungen 1766 und 1838, in: Osnabrücker Mitt. 111, 2006, 105–129. Für die traditionelle Sichtweise vgl. Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848, in: Neidhard Bulst/Joseph Goy/Jochen Hoock (Hrsg.), Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1981, 109–124. 25 Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günther Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1987, 42–64. 26 Renate Dürr, Von der Ausbildung zur Bildung. Erziehung zur Ehefrau und Hausmutter in der Frühen Neuzeit, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1. Frankfurt am Main 1996, 189–206, hier 196 f. 27 Vgl. Johannes Wahl, Kulturelle Distanz und alltägliches Handeln. Ökonomie und Predigt im Spannungsfeld von Pfarrfamilie und Laien, in: Norbert Haag u. a. (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850. Stuttgart 2002, 43–58.
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Armenhäusern und Zuchthäusern bestätigt worden.28 Frühneuzeitliche Zuchthäuser waren zwar offenbar in ihrer inneren Organisation in vieler Hinsicht vom Modell des ‚Hauses‘ inspiriert, stellten dabei aber keineswegs autarke Einheiten und demnach keine ‚ganzen Häuser‘ im Sinne Brunners dar.29 Doch lässt sich das Konzept des ‚Hauses‘ in manchen Kontexten nicht nachweisen, wo es zunächst zu erwarten wäre, wie etwa am Beispiel der Deutschbalten aufgezeigt worden ist: Dort setzte sich dieses Konzept sogar erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch.30 Doch kam dem ‚Haus‘ neben dieser rechtlich-institutionellen Ebene ferner eine Bedeutung als Bezugspunkt kollektiver und individueller Identitätsbildungsprozesse zu. Dies gilt etwa für die Verwendung des Begriffs ‚Haus‘ in Bezug auf adlige Dynastien, wobei hier unterschiedliche Bedeutungen erkennbar sind: So konnte ‚Haus‘ für ein kleineres Adelshaus, dem kurz nach 1800 die Mediatisierung drohte, eine Bedeutung ähnlich der modernen corporate identity erhalten und somit eine Ordnung stiftende Funktion übernehmen.31 In Briefen adliger Frauen und adligen Heiratsverträgen des 17. und 18. Jahrhunderts fand sich das Wort ‚Haus‘, angewandt auf die Adelsdynastie, ebenso wie auf den Haushalt als Ort der Ehre, aber auch als Schauplatz von Konflikten zwischen Generationen und Geschlechtern.32 Besonders aufschlussreich sind im Hinblick auf ‚Haus‘ und Identität die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Kölner Bürgers Hermann von Weinsberg, der nicht nur den Begriff ‚Haus‘ als Synonym für seine (erfundenen) Vorfahren verwandte und damit der dynastischen ‚Haus‘-Semantik des Adels folgte, sondern sogar eine Zeichnung des väterlichen Hauses in Köln am Fuß seines Stammbaums einfügte. Darüber hinaus beklagte Hermann die Nachlässigkeit anderer Familien der Stadt, ein Stammhaus zu etablieren. Eine ähnlich starke
28 Kirsten Bernhardt, Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16. –20. Jahrhundert). Münster 2012; Falk Bretschneider, Das ‚gemeinsame Haus‘. Personal und Insassen in den Zuchthäusern der Frühen Neuzeit, in: ders./Martin Scheutz/Alfred Stefan Weiß (Hrsg.), Personal und Insassen von ‚Totalen Institutionen‘ – zwischen Konfrontation und Verflechtung. Leipzig 2011, 157–195. 29 Bretschneider, Das ‚gemeinsame Haus‘ (wie Anm. 28), 185. 30 Ulrike Plath, Stille im ‚Haus‘. Hausvater, Verwalter und transnationale Gesellung auf dem baltischen Gutshof zwischen 1750 und 1850, in: Schmidt-Voges (Hrsg.), Ehe – Haus – Familie (wie Anm. 6), 179–208. 31 Siegfried Grillmeyer, Der Adel und sein Haus. Zur Geschichte eines Begriffs und eines erfolgreichen Konzepts, in: Anja Victorine Hartmann/Małgorzata Morawiec/Peter Voss (Hrsg.), Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten. Mainz 2000, 355–370, hier 364 f., 369. 32 Bastl, Haus und Haushaltung (wie Anm. 5), 263–265, 268. Vgl. einen potenziell aufschlussreichen Fall in: Susanne Tofall, Zwischen Konvention und Eigensinn. Adelige Repräsentationen von Haus und Familie im 18. Jahrhundert, in: Eva Labouvie (Hrsg.), Adel an der Grenze. Höfische Kultur und Lebenswelt im Saar-Lor-Lux-Raum (1697–1815). Saarbrücken 2009, 45–79, hier 60. Leider wird bei Tofall der exakte Wortlaut in der Quelle nicht deutlich.
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Identifikation mit einem gebauten Haus ist in der Hauschronik einer Linzer Witwe aus dem 17. Jahrhundert beobachtet worden.33 Der Fall Hermann von Weinsbergs zeigt, dass bildliche Darstellungen häuslicher Ordnungskonzepte mit in den Blick genommen werden müssen. Erstaunlicherweise hatte der Iconic Turn keinen größeren Einfluss auf die Forschung zum ‚Haus‘. Einen ersten Anlauf in diese Richtung machte Karl-Sigismund Kramer bereits 1964, als er auf die Prominenz von Hausdarstellungen auf Votivtafeln des 18. und 19. Jahrhunderts in bayerischen Kirchen hinwies.34 Spätere Arbeiten untersuchten die Zuordnung von Geschlechterrollen in bildlichen Darstellungen weiblicher Arbeit oder verwendeten Bilder von Innenräumen als Quellen für die Alltagsgeschichte.35 Die deutschsprachige Forschung zum ‚Haus‘ als Ordnungskonzept ist also in den letzten Jahrzehnten weit über die Hausväterliteratur und Brunners ‚ganzes Haus‘ hinausgegangen, doch kann von einer erschöpfenden Erschließung der semantischen Bandbreite des Begriffs ‚Haus‘ in der Frühen Neuzeit keineswegs die Rede sein.
4 Das Haus als materieller Raum Bislang zeigen Historiker nur wenig Interesse an der Geschichte des Hauses als Gebäude. Ein Grund liegt möglicherweise darin, dass die Untersuchung vormoderner
33 Gerd Schwerhoff, Handlungswissen und Wissensräume in der Stadt. Das Beispiel des Kölner Ratsherren Hermann von Weinsberg (1518–1597), in: Jörg Rogge (Hrsg.), Tradieren, Vermitteln, Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten. Berlin 2008, 61–102. Hermanns Nutzung der Häuser seiner Familie war jedoch durchweg pragmatisch; Martin Scheutz/Harald Tersch, Memoria und ‚Gesellschaft‘. Die Stadt als Bühne in drei oberösterreichischen Selbstzeugnissen von Frauen aus dem 17. Jahrhundert, in: Birgit Studt (Hrsg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Köln 2007, 135–161, hier 149–158 über das Tagebuch von Eva Maria Peisser. 34 Kramer, Haus als geistiges Kraftfeld (wie Anm. 9), 35–38; vgl. also Herbert Malecki, Das Familienbildnis im 16. und 17. Jahrhundert, Diss. phil. Göttingen 1951. 35 Sabine Lorenz-Schmidt, Vom Wert und Wandel weiblicher Arbeit. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Landwirtschaft in Bildern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1995; Harry Kühnel, Das Alltagsleben im Hause der spätmittelalterlichen Stadt, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt. Köln 1984, 37–65; Helmut Hundsbichler, Wohnen, in: Harry Kühnel (Hrsg.), Alltag im Spätmittelalter. Graz 1984, 254–269; Inken Schmidt-Voges, Oíko-nomía. Wahrnehmung und Beherrschung der Umwelt im Spiegel adeliger Haushaltungslehren im 17. und 18. Jahrhundert, in: Heike Düselder/Olga Weckenbrock/Siegrid Westphal (Hrsg.), Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit. Köln 2008, 403–428. Bei Susanna Burghartz bildet die Interpretation eines niederländischen Gemäldes eines häuslichen Interieurs den Einstieg in ihr Hauptargument, mehr jedoch nicht: vgl. Burghartz, Zeiten der Reinheit (wie Anm. 20), 7 f. und Titelbild; eine weitere relevante Abb., 61, wird von ihr nicht interpretiert.
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Häuser seit langem von Architekturhistorikern und Restauratoren betrieben wurde, die sich vor allem auf bautechnische und kunsthistorische Details konzentrierten und damit Sozialhistoriker abschreckten – eine Tatsache, die Karl-Sigismund Kramer bereits 1964 beklagte. Er ermahnte Volkskundler, sich intensiver mit der „Ordnung des Hauses als Lebensmitte“ seiner Bewohner auseinanderzusetzen.36 Dennoch sind die Ergebnisse von mehr als einhundert Jahren Forschung über die unterschiedlichen Haustypen in Städten und vor allem auf dem Land für diese Fragestellung relevant, nicht zuletzt weil Archäologen und Architekturhistoriker in den letzten Jahrzehnten immer mehr Spuren der Nutzung von Häusern gefunden haben.37 Werner Troßbachs Beobachtung, dass sich erst zu Beginn der Neuzeit eine enge Verknüpfung der oeconomia mit einem Gebäude entwickelt habe, deutet zudem darauf hin, dass die Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit an dem Haus als materiellem Raum nicht vorbeikommt.38 Denn während Heidrich in seinem einflussreichen Aufsatz von 1983 Bauernhäuser noch geradezu als Weber’sche Idealtypen behandelte39, so kam ebenfalls bereits Anfang der 1980er Jahre ausgerechnet von Seiten der historisch arbeitenden Soziologie die Warnung vor solchen Verallgemeinerungen angesichts der großen strukturellen Unterschiede zwischen regionalen Haustypen.40 Darüber hinaus zeigten lokal begrenzte, aber diachron angelegte Hausforschungen, dass – wie beispielsweise in Lübeck – eine lineare Entwicklung des Hausbaus vom späten Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert nicht ohne weiteres erkennbar ist; vielmehr führten soziale, funktionale und andere Ursachen zur gleichen Zeit zu unterschiedlichen Arten der Hausnutzung.41 Die Einführung von Hausnummern, die sogar in
36 Kramer, Haus als geistiges Kraftfeld (wie Anm. 9), 31. 37 Vgl. Hans-Günther Griep, Das Bürgerhaus in Goslar. Tübingen 1959, und andere Titel der Reihe „Das deutsche Bürgerhaus“. Für regionale Unterschiede im ländlichen Raum vgl. als Überblickswerke: Dietrich Schäfer, Das Bauernhaus im deutschen Reiche und in seinen Grenzgebieten. Dresden 1974 [1906]; Heinz Ellenberg, Bauernhaus und Landschaft in ökologischer und historischer Sicht. Stuttgart 1990; sowie zahlreiche im Kontext von Freilandmuseen entstandene Publikationen wie z. B. Konrad Bedal, Häuser aus Franken. Museumshandbuch für das Fränkische Freilandmuseum in Bad Windsheim. 6. Aufl. Bad Windsheim 2007. Zur Hausarchäologie vgl. Elmar Altwasser/Ulrich Klein, Heutiger Stand und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten einer Archäologie des Hauses, in: Jan Carstensen/ Joachim Kleinmanns (Hrsg.), Freilichtmuseum und Sachkultur. Festschrift für Stefan Baumeister. Münster 2000, 41–60; Michael Goer/Karen Schmitt (Hrsg.), Spuren der Nutzung in historischen Bauten. Marburg 2007. 38 Troßbach, Das ‚ganze Haus‘ (wie Anm. 3), 312 f. 39 Kramer, Haus und Flur (wie Anm. 8); Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 15); Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 6). 40 Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 14), 105–109. 41 Rolf Hammel-Kiesow, Editorial, in: ders. (Hrsg.), Wege zur Erforschung städtischer Häuser und Höfe. Beiträge zur fächerübergreifenden Zusammenarbeit am Beispiel Lübecks im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Neumünster 1993, 9–38, hier 30–32. Für eine lineare Entwicklung der Hausstrukturen argumentiert Fred Kaspar, Bau- und Raumstrukturen städtischer Bauten als sozialgeschichtliche Quelle, dargestellt an bürgerlichen Bauten des 14. bis 18. Jahrhunderts aus Nordwest-
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einer Großstadt wie Wien erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfand, zeigt darüber hinaus, dass Zeitgenossen selbst nicht immer sicher waren, was als ein Haus definiert werden sollte.42 Forschungen zur häuslichen Einrichtung sind vor allem anhand von Nachlassinventaren betrieben worden.43 Trotz der vielen Probleme, mit denen die Auswertung dieser Quellengattung behaftet ist, lassen nach Räumen geordnete Nachlassinventare die Annahme zu, dass zumindest bis zum 16. Jahrhundert die Nutzung von Räumen eher unspezifisch war.44 Ein weiterer, mehrfach in den Blick genommener Aspekt ist die Bedeutung der Heizung und ihr Einfluss auf den Prozess struktureller Ausdifferenzierung im Hausinneren.45 Valentin Groebner hat die Aufmerksamkeit auf ärmere Haushalte gelenkt, die zwar einen kleinen, im Rahmen der städtischen Armenfürsorge erfassten Hausrat ihr Eigen nannten, aber kein Haus, weshalb er hier von einer „Ökonomie ohne Haus“ spricht.46 In Sachsen, wo ein beträchtlicher Teil des häuslichen Inventars über die weibliche Linie vererbt wurde, spielte diese bewegliche Habe Karin Gottschalk zufolge eine wichtigere Rolle in den wirtschaftlichen Strategien von Frauen als das Haus selbst.47 Dennoch büßt der ‚Haus‘-Begriff angesichts solcher divergierender Befunde nicht notwendig sein heuristisches Potenzial ein. Denn wenn man wie Joachim Eibach ein materielles Haus und seine Teile als „soziale Artefakte“
deutschland, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Sigmaringen 1987, 166–186. 42 Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie. Innsbruck 2007, 120–123. 43 Allgemein: Micheline Baulant (Hrsg.), Inventaires après-décès et ventes de meubles. Apports à une histoire de la vie économique et quotidienne (XIVe–XIXe siècles). Louvain-la-Neuve 1988; Anton Schuurman/Ad van der Woude (Hrsg.), Probate Inventories. Wageningen 1980. Fallstudien: Ruth-E. Mohrmann, Alltagswelt im Land Braunschweig. Städtische und ländliche Wohnkultur vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert, 2 Bde. Münster 1990; Uta Löwenstein, Item ein Betth … Wohnungs- und Nachlaßinventare als Quellen zur Haushaltsführung im 16. Jahrhundert, in: Trude Ehlert (Hrsg.), Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Sigmaringen 1997, 43–70; Marie-Louise Pelus-Kaplan/ Manfred Eickhölter, Lübecker Inventare des 16. –18. Jahrhunderts und ihre rechtliche Grundlage. Chancen der Auswertung, in: Hammel-Kiesow (Hrsg.), Wege zur Erforschung (wie Anm. 41), 279–326, insbes. 304–309; Corina Heß, Danziger Wohnkultur in der frühen Neuzeit. Untersuchungen zu Nachlassinventaren des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 2007; Jörg Driesner, Bürgerliche Wohnkultur im Ostseeraum. Stralsund, Kopenhagen und Riga in der Frühen Neuzeit 2012. 44 Löwenstein, Item ein Betth (wie Anm. 43), 51; zu Hessen; Pelus-Kaplan/Eickhölter, Lübecker Inventare (wie Anm. 43), 305–308, zu Lübeck. 45 Kühnel, Alltagsleben im Hause (wie Anm. 35), hier 55–58; Karin Hausen, Das Wohnzimmer, in: Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte. München 1994, 131–141, hier 132–134; Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 6), 624 f. 46 Groebner, Außer Haus (wie Anm. 3); vgl. auch ders., Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts. Göttingen 1993. 47 Karin Gottschalk, Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig. Frankfurt am Main 2003, 266 f.
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interpretiert, die die Kommunikation nach innen und außen hin konfigurieren48, so sind es die Praktiken der historischen Akteure und nicht allein architektonische Kriterien, die ein Haus zu einem Haus machen. Es dürfte sich also lohnen, das Haus als Ensemble materieller Objekte in Zukunft noch stärker aus einem praxeologischen Blickwinkel zu berücksichtigen.49
5 Das Haus als sozialer Raum Das Haus als sozialer Raum hat seit den 1970er Jahren viel Aufmerksamkeit von der historischen Forschung erfahren. Michael Mitterauer arbeitete zahlreiche strukturelle Differenzen zwischen ländlichen und städtischen Haushalten heraus (wie z. B. Haus / gemietete Wohnung; uxori- oder patrilineare Vererbung / Neolokalität; in Städten ferner von der Arbeitsorganisation abhängige Unterschiede). Die Verschiedenartigkeit ländlicher Haushaltstypen interpretierte er vor dem Hintergrund des jeweils vorherrschenden landwirtschaftlichen Betriebszweigs (Ökotypen).50 In den 1980er und 1990er Jahren übten ferner US-amerikanische Forscher wie David Sabean, Thomas Robisheaux und Hermann Rebel großen Einfluss auf die deutschsprachige Forschung aus. So hinterfragte David Sabean auf der Basis seiner akribischen mikrohistorischen Recherchen die bis dahin gängige Annahme, dass im Zuge der Herausbildung der Kernfamilie verwandtschaftliche Beziehungen (kinship) an Bedeutung verloren hätten. Stattdessen sieht er eine Verschiebung von vormodernen, primär vertikal eingebetteten Familien hin zu deren stärkerer horizontaler Vernetzung. Das 19. Jahrhundert ist dann für ihn geradezu das Zeitalter einer „kinship-hot society“.51 Beeinflusst von diesen US-amerikanischen Forschungen wurden vor allem Hans Medick und Jürgen Schlumbohm, die am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte die Protoindustrialisierung in Deutschland mikrohistorisch untersuchten, der Agrarhistoriker Werner Troßbach sowie ferner die Mitglieder der sog. Kinship Group wie
48 Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 6), 622–625, 642 f. 49 Vgl. Bruno Latour, Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität, in: Berliner Journ. für Soziologie 11, 2001, 237–252. 50 Mitterauer, Familie und Arbeitsorganisation (wie Anm. 11); ders., Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum, in: Josef Ehmer/Michael Mitterauer (Hrsg.), Familie und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften. Wien 1986, 185–324, zusammengefasst in: ders., Ländliche Familienformen in ihrer Abhängigkeit von natürlicher Umwelt und lokaler Ökonomie, in: ders., Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Wien 1990, 131–145. 51 Vgl. v. a. David W. Sabean/Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term Development, in: dies./Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to the Long-Term Development (1300–1900). New York 2007, 1–32.
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Simon Teuscher und Jon Mathieu.52 Deren Arbeiten trugen entscheidend dazu bei, das Wissen über Familienformen und die Rolle der Verwandtschaft im Verhältnis zwischen Haushalten zu vertiefen.53 Besonders Schlumbohms Buch über das osnabrückische Kirchspiel Belm ist aus hausgeschichtlicher Perspektive wegweisend, da es die Untersuchung von Haustypen mit Statistiken der Familiengrößen kombiniert. Hatte Rosenbaum 1982 noch versucht, Mitterauers und Sabeans Forschungsergebnisse in ein Narrativ einzubinden, das letztendlich auf Brunners Konzept basierte54, ließ ein Soziologe der jüngeren Generation in den 1990er Jahren das Konzept des ‚ganzen Hauses‘ fallen zugunsten der Einheit des „bäuerlichen Anwesens“, bei dem sich kleinere Haushalte um den zentralen Hof eines reichen Bauern gruppierten.55 Eine europäische Anthropologin richtete hingegen den Blick auf ein einziges kleines Haus, dessen Nutzungsgeschichte veranschaulicht, in welchem Maße ein und dasselbe materielle Gebäude ein über viereinhalb Jahrhunderte häufigem Wandel unterworfener sozialer Raum war: Es wurde sehr bald nach der Errichtung in zwei oder sogar drei Haushalte unterteilt, die Besitzansprüche daran wurden entsprechend unterschiedlicher Vererbungsmodelle weitergegeben und wechselten häufig die Familie.56 Diese vor allem für den südwestdeutschen Raum durchaus nicht untypische Hausgeschichte wirft Fragen hinsichtlich der Identität eines Hauses auf. Ebenfalls seit den 1990er Jahren haben mehrere Historiker und Historikerinnen den
52 Einflussreich waren v. a.: David Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit. Berlin 1986; ders., Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1990; ders., Kinship in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1998; Thomas Robisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany. Cambridge 1989; Hermann Rebel, Peasant Classes. The Bureaucratization of Property and Family Relations under Early Habsburg Absolutism, 1511–1636. Princeton NJ 1983. Rebel wurde z. B. von Troßbach, Das ‚ganze Haus‘ (wie Anm. 3), rezipiert. 53 Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994; Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte. Göttingen 1996; Sabean/Teuscher/Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe (wie Anm. 51); Jon Mathieu, ‚Ein Cousin an jeder Zahnlücke‘. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700– 1900, in: Margareth Lanzinger/Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, 55–71; vgl. auch Gesa Ingendahl, Witwenhaushalte in der frühneuzeitlichen Stadt: (k)ein Generationenprojekt, in: Mark Häberlein/Christian Kuhn/Lina Hörl (Hrsg.), Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250–1750). Konstanz 2011, 193–211. 54 Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 14). 55 Lars Hennings, Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne. Haus, Dorf, Stadt und Sozialstruktur zum Ende des 18. Jahrhunderts am Beispiel Schleswig-Holsteins. Berlin 1995, 7–17, 153–156. 56 Olivia Hochstrasser, Ein Haus und seine Menschen 1549–1989. Ein Versuch zum Verhältnis von Mikroforschung und Sozialgeschichte. Tübingen 1993, insbes. 96–127.
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Blick auf das Leben im Hausinneren gerichtet und dabei vor allem zwei Aspekte näher beleuchtet: die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern einerseits sowie das Phänomen häuslicher Gewalt andererseits.57 Während man noch in Brunners ‚Haus‘ vergeblich nach weiblichen Akteuren sucht, so hat Heide Wunder dahingegen die funktionale Komplementarität von Mann und Frau als ‚Arbeitspaar‘ als Charakteristikum der Frühen Neuzeit vor der Herausbildung der bürgerlichen Familie betont.58 Nicht nur der gewaltsame Austrag von Ehrkonflikten in Form des ritualisierten ‚Herausforderns aus dem Haus‘ konnte die zeitlich begrenzte Öffnung des Hauses herbeiführen, sondern auch besondere Praktiken der Nutzung von Häusern.59 Hierzu gehört etwa das Reihebraurecht, das Dorfbewohner reihum dazu berechtigte, einen Raum ihres Hauses zum Bierausschank zu verwenden, was zur Konsequenz hatte, dass dieser Teil des Hauses zeitweise zu einem öffentlichen Raum wurde.60 Die Nachbarschaften kleiner Städte hielten ihre regelmäßigen Versammlungen ebenfalls im Haus eines ihrer Mitglieder ab; volles Nachbarschaftsrecht hing in diesen Städten vom Besitz eines Hauses ab. Zeitgenössische Wahrnehmungen der Grenzen des Hauses sind durch Untersuchungen von Nachbarschaftsstreitigkeiten erhellt worden.61 Zu erwähnen sind ferner Arbeiten über besondere Haushaltsformen wie etwa Professorenhaus-
57 Zur geschlechtlichen Arbeitsteilung: Merry E. Wiesner, Working Women in Renaissance Germany. New Brunswick 1986; Heide Wunder, ‚Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond‘. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992; Sheilagh Ogilvie, A Bitter Living. Women, Markets, and Social Capital in Early Modern Germany. Oxford 2003. Zur häuslichen Gewalt: Ulinka Rublack, Magd, Metz‘ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten. Frankfurt am Main 1998; Rainer Beck, Spuren der Emotion? Eheliche Unordnung im frühneuzeitlichen Bayern, in: Josef Ehmer u. a. (Hrsg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Frankfurt am Main 1997, 171–196; Michaela Hohkamp, Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit. Frankfurt am Main 1995, 276–302. 58 Wunder, Er ist die Sonn‘ (wie Anm. 57). Vgl. auch Luise Schorn-Schütte, „Gefährtin“ und „Mitregentin“. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrfrau in der Frühen Neuzeit, in: Heide Wunder/ Christina Vanja (Hrsg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Frankfurt am Main 1993, 109–153. 59 Hierzu bereits: Kramer, Herausfordern (wie Anm. 9). 60 Barbara Krug-Richter, Das Privathaus als Wirtshaus. Zur Öffentlichkeit des Hauses in Regionen mit Reihebraurecht, in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 2004, 99–117. 61 Eric Piltz, Vergemeinschaftung durch Anwesenheit. Sozialräumliche Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld, in: Christine Roll (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln 2010, 385–398; Inken Schmidt-Voges, Nachbarn im Haus. Grenzüberschreitungen und Friedewahrung in der ‚guten Nachbarschaft‘, in: ebd., 413–428; Hendrikje Carius, Transformierte Eigentumskonflikte. Semantiken gerichtlicher Aushandlung nachbarlicher Grenzen, in: ebd., 429–452; Christine Schedensack, Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007.
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halte, die sich sowohl durch die Einheit von Arbeit und Wohnen als auch durch ihre Offenheit auszeichneten.62 Jüngere Forschungen zu den wirtschaftlichen Strategien des Niederadels haben überdies gezeigt, dass auch für Adlige zwar das Haus einen wichtigen Bezugspunkt darstellte, ihr Haushalt aber meist an Markterfordernisse angepasst und daher nur in den seltensten Fällen so autark war, wie Brunner es gern gesehen hätte.63
6 Das ‚offene Haus‘: Ein Ausblick Diese und andere Arbeiten verdeutlichen, dass das frühneuzeitliche Haus nicht als ein geschlossener Container-Raum, sondern vielmehr als eine soziale Einheit unter einem Dach zu verstehen ist, die durch unterschiedliche Grade der Offen- oder Geschlossenheit zur Außenwelt gekennzeichnet ist. Joachim Eibach hat diese Forschungstrends bereits 2004 in einem Aufsatz zusammengefasst und 2011 dann den analytischen Begriff des ‚offenen Hauses‘ vorgeschlagen.64 Einige Bemerkungen zu diesem Konzept sollen diesen Überblick über die deutschsprachige Hausforschung beschließen. Eibach unterteilt die zeitgenössische kommunikative Praxis, die das ‚Haus‘ zum Gegenstand hat, in mehrere Ebenen. Deren dritte und letzte bezeichnet er als „Diskursivieren“, welches er wiederum in „lebensweltliches Gerede“ und „Konstruktion öffentlicher Relevanz durch Distanzmedien“ unterscheidet.65 Ulrike Weckel hat einen solchen Diskurs untersucht, nämlich die erhitzte Debatte in Frauenzeitschriften während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts darüber, inwieweit die Hausfrau ihr Haus für Besucher öffnen durfte oder sogar sollte.66 Vorher scheint eine solche kontroverse Diskussion über diesen Gegenstand nicht im Druck stattgefunden zu haben; stattdessen herrschte die restriktive Position der Predigten und der Hausvä-
62 Ulrike Gleixner, Der Professorenhaushalt, in: Jens Bruning (Hrsg.), Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. Wolfenbüttel 2010, 129–143; Heide Wunder, Helmstedter Professorinnen. Zur Konstituierung des Professorenstandes, in: ebd., 152–159; Elizabeth Harding, Der Gelehrte im Haus – Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden 2014. 63 Mattias Steinbrink, Adeliges Wirtschaften zwischen Haus und Markt, in: Walter Demel/Ferdinand Kramer (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern. München 2008, 213–232. 64 Joachim Eibach, Das Haus. Zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16. –18. Jahrhundert), in: Rau/Schwerhoff (Hrsg.), Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 60), 183–205. 65 Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 6), 650. 66 Ulrike Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum. Tübingen 1998, 492–510. Weckel benutzt in diesem Zusammenhang übrigens auch den Begriff ‚offenes Haus‘.
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terliteratur vor.67 Dies hängt vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass erst die Frauenzeitschriften eine geeignete Diskussionsplattform boten. Weckel interpretiert die divergierenden Positionen dieser Debatte darüber hinaus vor dem unterschiedlichen sozialen Hintergrund der darin zu Wort kommenden Autoren und Autorinnen. Kurz: Um den Diskurs, oder besser die Diskurse über das ‚offene‘ oder ‚geschlossene‘ Haus zu verstehen, sollten deren mediale, soziale und geschlechtsbezogene Kontexte berücksichtigt werden. Hatte Merry Wiesner noch den Einfluss der Soziologie auf deutschsprachige Historiker der Familie und des Hauses als negativ beurteilt, so zeigt Eibachs Ansatz, dass ihr inzwischen durchaus zu widersprechen ist. Die historische Erforschung des ‚Hauses‘ kann und sollte nach wie vor (nicht nur) von der Soziologie lernen: Vielleicht wird die Tatsache, dass seit einigen Jahren sogar Soziologen ihren Blick auf Objekte lenken, Historiker und Historikerinnen dazu inspirieren, die materielle Seite des Hauses näher in Augenschein zu nehmen.68 Neben dem material turn gibt es aber noch eine andere Weise, die Hausforschung methodisch zu ‚wenden‘. Eibachs Zugriff in „Das offene Haus“ ist vor allem visuell ausgerichtet, obwohl er an anderer Stelle auch akustische Aspekte des Hauses als sozialer Raum berücksichtigt.69 Es erscheint jedoch lohnenswert, zu untersuchen, welche Rolle die anderen Sinne – vor allem auch die sogenannten ‚niederen Sinne‘ wie etwa Geruch- und Tastsinn – für die zeitgenössische Wahrnehmung von Häusern spielten: Christopher Woolgar hat dies anhand englischer Haushalte des späten Mittelalters getan. Denn vermutlich gilt nicht nur für die heutige Zeit, dass das Gefühl des Zuhause-Seins maßgeblich von einem bestimmten Geruch in der Nase und dem Gefühl der Wärme auf der Haut geprägt ist.70 Die Leistung des ‚Haus‘-Begriffs könnte und sollte darin liegen, die hier
67 Zur Sicht der Hausväterliteratur auf die Außenwelt des Hauses vgl. Philip Hahn, Geliebter Nächster oder böser Nachbar? Die Bewertung der Außenwelt in der ‚Hausväterliteratur‘, in: Zeitsprünge 14, 2010, 456–476. 68 Vgl. Latour, Soziologie ohne Objekt (wie Anm. 49); Andreas Reckwitz, Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: ders. (Hrsg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, 131–156. Eine Übersicht der aktuellen historischen Forschung zur materiellen Kultur bietet die Homepage des DFG-Netzwerks ‚Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen Neuzeit‘, www.matkultkon.com/literatur/ (Zugriff: 10. 03. 2014). 69 Joachim Eibach, Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten, in: Themenportal Europäische Geschichte (2008), www.europa.clio-online.de/2008/Article=307 (Zugriff: 18. 04. 2015); Eibach, Das Haus (wie Anm. 64), 204 f. über Katzenmusik. Zu akustischen Konflikten zwischen Nachbarn vgl. Emily Cockayne, Hubbub. Filth, Noise, & Stench in England 1600–1770. New Haven 2007; Philip Hahn, Sound Control. Policing Noise and Music in German Towns, ca. 1450–1800, in: Robert Beck/Ulrike Krampl/Emmanuelle Retaillaud-Bajac (Hrsg.), Les cinq sens de la ville. Du Moyen Age à nos jours. Tours 2013, 355–367. 70 Christopher Woolgar, The Senses in Late Medieval England. New Haven 2006, 190–266. Vgl. ferner Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutsch-
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vorgestellten, in den vergangenen Jahrzehnten teils getrennt voneinander verfolgten Untersuchungen zum Haus als Ordnungskonzept, materielles Artefakt und sozialer Raum zu bündeln.
land, 1760–1860. Göttingen 1997; B. Ann Tlusty, ‚Privat‘ oder ‚öffentlich‘? Das Wirtshaus in der deutschen Stadt des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Rau/Schwerhoff (Hrsg.), Gotteshaus und Taverne (wie Anm. 60), 53–73, hier 70.
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Forschungen zum Haus in der Frühen Neuzeit in Frankreich: Im Schnittpunkt der Disziplinen „Das Haus ist ein uferloses Thema“, schreibt Daniel Roche.1 Zwischen Baugeschichte und Studien zur materiellen Kultur, zwischen Archäologie und städtischer Topographie, zwischen Konsum und Produktion, zwischen Raum- und Alltagsgeschichte, zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte, zwischen Verwandtschaftsbeziehungen und der Analyse sozialer Interaktionen – das Haus ist seit anderthalb Jahrhunderten Gegenstand der historischen, geographischen, archäologischen, ethnologischen und soziologischen Forschung in Frankreich. Das Haus hat die Entstehung und Entwicklung dieser verschiedenen Disziplinen begleitet und ist dabei immer an deren Schnittstellen situiert, da die jeweiligen Spezialisten auf Wissensbeständen anderer Forschungsfelder aufbauen. Die zahlreichen, wenngleich weit verstreuten, Arbeiten, bei denen das Haus oft nur ein Aspekt unter anderen ist, haben zu einer Unübersichtlichkeit des Forschungsfeldes geführt. Das geht mit einer gewissen Unübersichtlichkeit auch des verwendeten Vokabulars einher. Die von Anthropologen und Historikern benutzten Fachbegriffe und Quellenbegriffe können variieren oder gar auf unterschiedliche Gegebenheiten verweisen. Die Polysemie wie auch die Begriffsgeschichte des Wortes maison (‚Haus‘) hat deshalb zu einer vielschichtigen Mehrdeutigkeit geführt.2 Gleichermaßen haben die Begriffe ménage (‚Haushalt‘) und maisonnée (‚Hausgemeinschaft‘) im Laufe der Zeit ihre Bedeutung verändert, sodass die von den Forschern gebildeten Kategorien nicht notwendigerweise mit dem historischen Sprachgebrauch übereinstimmen.3 Dazu kommt noch die große Vielfalt und regionale Variabilität der Begriffe, die sich auf die frühneuzeitlichen Wohnverhältnisse beziehen, wie auch eine je nach Quellengattung verschiedene Begriffsverwendung, z. B. in Abhandlungen, Nachlassinventaren oder Lebensbeschreibungen. Daher kann es hier nicht darum gehen, alle Bereiche umfassend in den Blick zu nehmen, die für das Haus untersucht wurden. Vielmehr gilt es, entlang der Forschungsliteratur die generellen Linien nachzuzeichnen, welche die Forschungen zum Haus in Frankreich vom Ende des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts geprägt
1 Daniel Roche, Histoire des choses banales. Naissance de la consommation dans les sociétés traditionnelles (XVIIe–XIXe siècle). Paris 1997, 95. Lesenswert als Ergänzung dieses Beitrags ist insbesondere das Kap. 4 „Maisons rurales, maisons urbaines“. 2 Élie Haddad, Qu’est-ce qu’une ‚maison‘? De Lévi-Strauss aux recherches anthropologiques et historiques récentes, in: L’Homme 212, 2014, 109–138. 3 Für einen ersten semantischen Zugang vgl. Jean-Louis Flandrin, Familles. Parenté, maison, sexualité dans l’ancienne société. Paris 1976.
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haben. Diese Tendenzen werden im Folgenden um der Klarheit willen voneinander getrennt betrachtet, wobei man sich vor Augen halten muss, dass sie in den genannten Arbeiten meistens eng miteinander verwoben sind. Das Haus wurde zunächst vor allem als eine auf Familie, Haushalt und Vermögen bezogene Ordnung angesehen, wie auch als ein Ort des Wohnens und Lebens – eine Perspektive, an deren Entwicklung die Anthropologie maßgeblichen Anteil hatte. Der Ort des Wohnens wurde allerdings nie losgelöst betrachtet. Vielmehr beförderten die Fragen nach Bauweise und Wohnverhältnissen eine auf unterschiedliche ländliche und städtische Kontexte ausgerichtete Sozialgeschichte der materiellen Kultur. Der Fokus auf die Geschichte der Materialität und der häuslichen Strukturen stieß letztlich die Entwicklung einer soziokulturell orientierten Historiographie an, welche die Verflechtungen des Hauses mit seinem sozialen Umfeld in die Analyse sowohl der sich wandelnden Lebensweisen als auch der sozialen Beziehungen miteinschloss.
1 Haus, Familie und Besitztransfer In Frankreich waren die ersten Studien zum Haus sehr stark mit der Frage des Besitztransfers im ländlichen Raum verknüpft, zweifelsohne aufgrund der sich im Gefolge der Revolution ändernden Gesetzeslage und der daran anschließenden Debatten über bäuerliches Eigentum im 19. Jahrhundert. Wegweisend war diesbezüglich die umfangreiche Erhebung, die Frédéric Le Play 1830 über die Wohn- und Haushaltsformen in Europa vorgelegt hat. Ausgehend von seiner Arbeit über die bäuerliche Welt des Béarn am Fuße der Pyrenäen, schlug Le Play den Begriff der ‚Stammfamilie‘ als einen von drei Typen vor, die seiner Meinung nach eine historische Erfassung der Familie ermöglichten.4 Dieses Modell der Stammfamilie war charakterisiert durch die ungeteilte Besitznachfolge eines Erben, ausgerichtet auf ein Haus und den dazugehörigen Wirtschaftsbetrieb, in dem eine erweiterte Familie lebte, die weder die Statik der antiken patriarchalen Familie aufwies noch die Instabilität der zeitgenössischen Familien. Für Le Play stellte die Stammfamilie die beste aller möglichen Familienformen dar, die als Modell für Gesellschaftsreformen dienen sollte. Zu Beginn der 1960er Jahre griff Pierre Bourdieu Le Plays Modell der Stammfamilie in seinen Arbeiten wieder auf, die sich mit Heiratsbeziehungen zwischen
4 Frédéric Le Play, Les ouvriers européens. Étude sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvrières de l’Europe, précédées d’un exposé de la méthode d’observation. Paris 1855. Zu Le Play und der Stammfamilie vgl. auch Louis Assier-Andrieu, Le Play et la famille-souche pyrénéenne. Politique, juridisme et science sociale, in: Annales 39, 1984, 495–512, und Richard Wall, Ideology and Reality of the Stem Family in the Writings of Frédéric Le Play, in: Antoinette FauveChamoux/Emiko Ochiai (Hrsg.), The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th Centuries. Bern 2009, 53–80.
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häusergebundenen Verwandtschaftsgruppen beschäftigten.5 Damit betonte er vor allem die ökonomische Bedeutung der ungeteilten Weitergabe des Grundbesitzes. Dieses Le Play’sche Abstammungsverständnis bestimmte auch noch die Arbeiten der von Peter Laslett geleiteten Cambridge Group (wenngleich Laslett selbst der Kategorie der Stammfamilie kritisch gegenüber stand)6, die im Fahrwasser historischdemographischer Studien darauf abzielten, Haushalte zu klassifizieren und auf dieser Grundlage eine Geographie verschiedener Haushalts- und Familienformen abzuleiten.7 Diese Haushaltsklassifikation der Cambridge Group beeinflusste die Studien zu den Pyrenäen in starkem Maße, wobei sie anhand einer kritischen Auseinandersetzung zugleich die Existenz eines ‚Familienzyklus‘ nachweisen konnten8, indem sie einen Zusammenhang zwischen dem Wandel der Funktionsformen der Familie und den Lebenszyklen ihrer Mitglieder herausarbeiteten.9 Als diese Studien entstanden, widmete sich Emmanuel Le Roy Ladurie der Lektüre von Jean Yvers Buch über die ‚Geographie des Gewohnheitsrechts‘ (géographie coutumière) im Ancien Régime.10 Yver verglich hierbei die wichtigsten Systeme des Gewohnheitsrechts in Frankreich anhand der verschiedenen Modelle des Besitztransfers und stellte dabei einen Pol der gleichberechtigten Vererbung, kombiniert mit der Orientierung an einer Verwandtschaftslinie (égalitaire-lignager), einem Pol gegenüber, der einen Erben bevorzugte und sich am Haus orientierte (préciputaire-ménager)11; Letzterer stimmte dabei zu weiten Teilen mit der Stammfamilie Le Plays überein. Im Anschluss an Yvers Modell bewirkte der Erfolg von Le Roy Laduries Buch über Montaillou, in welchem er alle lebensweltlichen Aspekte der Haushaltsformationen (ostals oder domus) dieses okzitanischen Dorfs an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert untersuchte, eine enorme Bekanntheit dieser Formen des Besitztransfers.12 Im Kontext dieser Debatten prägte Claude Lévi-Strauss Mitte der 1970er Jahre den Begriff des ‚Hauses‘, und zwar ausgehend von seiner vergleichenden Studie zum Verwandtschaftssystem der Kwakiutl und des mittelalterlichen Adels in Europa. Seine
5 Diese Arbeiten wurden wieder aufgegriffen in Pierre Bourdieu, Le bal des célibataires. Crise de la société paysanne en Béarn. Paris 2002 [dt.: Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft. Konstanz 2008]. 6 Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Time. Cambridge 1972. 7 Vgl. neuerdings Emmanuel Todd, L’origine des systèmes familiaux, Bd. 1: L’Eurasie. Paris 2011. 8 Antoinette Fauve-Chamoux, Les structures familiales au royaume des familles-souches: Esparros, in: Annales 39, 1984, 513–528. 9 Agnès Fine, La famille souche pyrénéenne au XIXe siècle. Quelques réflexions de méthode, in: Annales 32, 1977, 478–487. 10 Jean Yver, Égalité entre héritiers et exclusion des enfants dotés. Essai de géographie coutumière. Paris 1966. 11 Emmanuel Le Roy Ladurie, Système de la coutume. Structures familiales et coutume d’héritage en France au XVIe siècle, in: Annales 27, 825–846. 12 Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324. Paris 1975 [dt.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 bis 1324. Berlin 1980].
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Definition rückte dabei die Übertragung des materiellen wie auch des symbolischen Besitzes in den Mittelpunkt der Überlegungen. In der Tat sei das Haus „[z]unächst eine moralische Person; sodann Inhaber einer Domäne, die sich aus materiellen und immateriellen Gütern zusammensetzt; schließlich perpetuiert es sich dadurch, daß es seinen Namen, sein Vermögen und seine Titel in direkter oder fiktiver Linie weitergibt, die nur unter der Bedingung als legitim gilt, daß diese Kontinuität sich in der Sprache der Verwandtschaft oder der Allianz, meistens in beiden, ausdrücken läßt.“13 Teilweise wurde Lévi-Strauss‘ Konzept in den 1980er Jahren in Forschungen zum ländlichen Raum aufgegriffen, da es den Vorteil bot, Namen, Ort, materielles und immaterielles Erbe zu benennen, ebenso wie Formen des Besitztransfers. Solche ‚Häusergesellschaften‘ sind für das Zentralmassiv, die Alpen und vor allem die Pyrenäen beschrieben worden14, vielfach verbunden mit der Vorstellung der Stammfamilie. Dies hat aber immer wieder zu Verwirrung und Missverständnissen geführt, selbst dann, wenn Abgrenzungen vorgenommen wurden, wie zum Beispiel in einem Vergleich zwischen Europa und Asien.15 Historiker und Forscher zum ländlichen Raum haben die Vielfalt unterschiedlicher Fälle in der Praxis und infolge divergierender Rechtsregime betont.16 So schrieb das Gewohnheitsrecht etwa in den Baronien der Pyrenäen die Übergabe des ungeteilten Besitzes an einen Erben vor. Die als Pflichtteil zustehende Mitgift wurde nur unter erheblichem demographischem Druck in Form von Land ausbezahlt, um die Zerstückelung des Grundbesitzes zu vermeiden.17 Auch wurde der Erbe nicht im Sinne des Erstgeborenenrechts bestimmt, vielmehr erkoren die Eltern einen Erben unter ihren Kindern.18 Zugleich ließ sich überall ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bestreben nach einer gleichbleibenden Anzahl von ‚Häusern‘ und der Konkurrenz unter
13 Claude Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte. Plädoyer für eine Ethnologie der Turbulenzen, in: Ulrich Raulff (Hrsg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven. Berlin 1986, 68–87, hier 78. 14 Pierre Lamaison, Les stratégies matrimoniales dans un système complexe de parenté. Ribennes en Gévaudan (1650–1830), in: Annales 34, 1979, 721–743; Alain Collomp, La maison du père. Famille et village en Haute-Provence aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1983. Für eine Bibliographie der Arbeiten zur Stammfamilie in den Pyrenäen vgl. Jacques Poumarède, Voies anciennes et nouvelles en histoire du droit de la famille méridionale, in: Michel Bertrand (Hrsg.), Pouvoirs de la famille, familles de pouvoir. Toulouse 2005. 41–50. 15 Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Stem Family (wie Anm. 4), 1–50. 16 Anne Zink, L’héritier de la maison. Géographie coutumière du Sud-Ouest de la France sous l’Ancien Régime. Paris 1993. 17 Georges Augustins, Maison et société dans les Baronnies au XIXe siècle, in: Isac Chiva/Joseph Goy (Hrsg.), Les Baronnies des Pyrénées. Anthropologie et histoire, permanences et changements, Bd. 1: Maisons, mode de vie, société. Paris 1981, 21–122. 18 Marie-Pierre Arrizabalaga, The Stem Family in the French Basque Country. Sare in the Nineteenth Century, in: Journ. of Family Hist. 22, 1997, 50–69.
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ihnen feststellen, was in einer solchen Welt der Ungleichheit eine Form der strukturellen Gewalt durch Abhängigkeitsbeziehungen schuf.19 André Burguière nahm diese Ansätze auf und trug zu einer Gleichsetzung von Familie und Haus bei, indem er den Begriff des ‚Hauses‘ (maison) auf Bergregionen und adlige Eliten anwendete.20 Diese Gleichsetzung erfuhr ihren stärksten theoretischen Impuls sicherlich durch Georges Augustins, der im ‚Haus‘ eine der drei Hauptformen sozialer Organisation sah, die sich über Verwandtschaft und die Abstammungslinie (lignage) hinaus durch die Regelung der Besitznachfolge und des Erbes konstituieren. Das ‚Haus‘, als „Verbindung der ungeteilten Besitznachfolge mit einem Erbvorteil“ (préciputaire), wird als Ausdruck der Vorherrschaft eines Residenzmusters verstanden, wie es Lévi-Strauss hervorgehoben hat, und das damit Konsequenzen auch für die Materialität des ländlichen Lebens hat.21 An diese Arbeiten anknüpfend, zeigte Bernard Derouet, dass sich die Praktiken des Besitztransfers um zwei zentrale Logiken anordnen lassen: die Logik der Abstammung und die Logik des Wohnsitzes. Im ersten Fall ist der Anspruch auf das Erbe allein durch die Verwandtschaft bestimmt. Im zweiten Fall hingegen ist er mit dem zu übertragenden Besitz verbunden, wodurch Erbe und Nachfolge dann nicht voneinander getrennt sind. Erbe und Besitztransfer seien nicht mehr ein Problem der Weitergabe von Gütern und Dingen zwischen Menschen, sondern ein Problem des Raums und der Situation, die Menschen in Bezug auf Güter und Dinge einnehmen.22 Gerade die Bedeutung des Transfers eines materiellen wie immateriellen Erbes, das an einen Wohnsitz gebunden ist, hat diese Vorstellung vom ‚Haus‘ für Christiane Klapisch-Zuber bei ihrer Untersuchung des Florentiner Patriziats der Renaissance attraktiv gemacht. Dabei interessierte sie nicht so sehr die Definition von Lévi-Strauss als vielmehr der Befund, dass sich die Florentiner selbst auf diese Weise als Einheit bezeichneten (casa).23 Dementsprechend wandte sie das anthropologische Konzept auf eine Gesellschaft an, in der die an der männlichen Linie orientierte Verwandtschaft eine sehr starke patrilineare Ausprägung aufwies. Sie konnte damit aber nicht
19 Louis Assier-Andrieu, Coutume et rapports sociaux. Étude anthropologique des communautés paysannes du Capcir. Paris 1982; Élizabeth Claverie/Pierre Lamaison, L’impossible mariage. Violence et parenté en Gévaudan, XVIIe, XVIIIe et XIXe siècles. Paris 1982. 20 André Burguière, Les fondements d’une culture familiale, in: André Burguière/Jacques Revel (Hrsg.), Histoire de la France. Héritages. Paris 2000, 21–150. 21 Georges Augustins, Comment se perpétuer? Devenir des lignées et destins des patrimoines dans les paysanneries européennes. Nanterre 1989, 21, 129. 22 Bernard Derouet, Territoire et parenté. Pour une mise en perspective de la communauté rurale et des formes de reproduction familiale, in: Annales HSS 50, 1995, 655, 665 f.; ders., Les pratiques familiales, le droit et la construction des différences (15e–19e siècles), in: Annales HSS 52, 1997, 369–391. 23 Christiane Klapisch-Zuber, La maison et le nom. Stratégies et rituels dans l’Italie de la Renaissance. Paris 1990 [dt.: Das Haus, der Name, der Brautschatz. Strategien und Rituale im gesellschaftlichen Leben der Renaissance. Frankfurt am Main 1995].
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nur die Verwandtschaft, sondern auch Formen der symbolischen Repräsentation, den konkreten Wohnort, hausbezogene Texte (Genealogien und Familiengeschichten [ricordanze]) als Ausdruck des ‚Hauses‘, ethnologische Formen der Heiratsverbindungen und durch Patenschaft begründete geistige Verwandtschaften in die Betrachtung einbeziehen. In den 1990er Jahren zog Michel Nassiet die Arbeiten von Lévi-Strauss heran, um bestimmte Aspekte des Adels im Frankreich des Spätmittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit zu erklären. In einer Reihe von Artikeln wies er einerseits nach, dass Name und Wappen in ein Denksystem eingebunden waren, das zu gleichen Teilen auf die Verwandtschaft wie auch auf die Herrschaft bezogen war, andererseits arbeitete er heraus, dass die Wappen als Zeichen von Verwandtschaft und Residenz entlang einer Logik gehandhabt und instrumentalisiert wurden, die auf einer strukturellen Gleichsetzung von Heiratsallianz und Abstammung beruhte. Nassiet schloss daraus, dass der Adel eine ‚Häusergesellschaft‘ bildete, die bis zum 17. Jahrhundert keine tiefgreifenden Veränderungen erfuhr, abgesehen von einem deutlichen Wandel in Richtung einer Vorherrschaft patrilinearer Abstammung.24 Diesen Zugang griff Robert Descimon auf und wandte ihn auf eine Reihe von Veränderungen des Adels in der Frühen Neuzeit an25; auch ich habe dieses Konzept für meine eigenen Arbeiten übernommen.26 Erst kürzlich hat Pierre Force das ‚Haus‘ des Béarner Niederadels im 18. Jahrhundert untersucht und sich dabei auf die Ansätze von Lévi-Strauss und Bourdieu gestützt. Die Rechtsgewohnheiten im Béarn haben eine sehr viel stärker reglementierte ‚Häusergesellschaft‘ geschaffen, als dies in Gebieten der Fall ist, in denen der Besitztransfer an einen einzelnen Erben sich nicht vollständig durchgesetzt hatte.27 Von dieser Warte aus unterschied sich das ‚Haus‘ des Adels nicht vom ‚Haus‘ der Bauern. Gleichwohl war die Anzahl der ‚Häuser‘ in der bäuerlichen Gesellschaft mehr oder weniger rigide durch die soziale Praxis festgelegt, die keine Heirat zwischen zwei Hoferben kannte. Dies war im Adel anders: Dort führte die Rivalität zwischen den ‚Häusern‘ zum Aufstieg der Einen, zum Abstieg oder zur Auflösung der Anderen.
24 Michel Nassiet, Signes de parenté et signes de seigneurie. Un système idéologique (XVe–XVIe siècle), in: Mémoires de la Société d’Histoire etd’Archéologie de Bretagne 68, 1991, 175–232; ders., Nom et blason. Un discours de la filiation et de l’alliance (XIVe–XVIIIe siècle), in: L’Homme 129, 1994, 5–30; ders., Parenté et successions dynastiques aux XIVe et XVe siècles, in: Annales HSS 50, 1995, 621–641; ders., Parenté, noblesse et États dynastiques XVe–XVIe siècles. Paris 2000. 25 Robert Descimon, Chercher de nouvelles voies pour interpréter les phénomènes nobiliaires dans la France moderne. La noblesse, ‚essence‘ ou rapport social?, in: RHMC 46, 1999, 5–21. 26 Élie Haddad, Fondation et ruine d’une ‚maison‘. Histoire sociale des comtes de Belin (1582–1706). Limoges 2009. 27 Pierre Force, Stratégies matrimoniales et émigration vers l’Amérique au XVIIIe siècle. La maison Berrio de La Bastide Clairence, in: Annales HSS 68, 2013, 77–107.
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Bei der anthropologischen Definition des ‚Hauses‘ muss auch dessen zeitliche Dimension mitgedacht werden. Diese war in den ererbten Gütern greifbar, die eine kollektive Erinnerung an die Vergangenheit in sich trugen oder Bezug auf die Herkunft nahmen: Das Denksystem des ‚Hauses‘ verortete die Personen in Raum und Zeit. Erzählungen unterfütterten die zeitliche Tiefe, dieses Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das in solchen Gesellschaften einen grundlegenden Wert darstellte.28 Dementsprechend kann das ‚Haus‘ auch als eine kulturelle Formation untersucht werden. Es stellt die Projektion eines ideellen Raums inmitten einer bestehenden Kultur dar, angepasst an eine ganze Reihe von Eingrenzungen als Teil soziokultureller Zwänge.29 Gerade diese Bezüge zwischen der architektonischen, sozialen und symbolischen Bedeutung des Hauses haben seit der Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Anthropologen interessiert.30 Die physischen und ideellen Bestandteile des Werts eines Hauses schreiben sich an bestimmten Orten in die Identitäten wie auch in die soziale Erinnerung von Individuen und Gruppen ein.
2 Landhäuser, Stadthäuser: Bauweise und Wohnverhältnisse Die Idee des ‚Hauses‘ führte insgesamt zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie das soziale Umfeld des Hauses seinen materiellen Niederschlag findet. Für die Geschichtswissenschaft in Frankreich übernahm hier, wiederum, die Erforschung des ländlichen Raums eine Führungsrolle, indem sie den Akzent auf das Haus als Ort der Produktion, des Konsums und der materiellen Kultur legte. Hierbei war die Geographie wegweisend, vor allem durch die Arbeiten Albert Demangeons, der die Vorstellung des ‚Hauses als Werkzeug‘ (maison-outil) entwickelt hat. Ausgehend von einem funktionalistischen Ansatz beschäftigte er sich intensiv mit den Erfordernissen, die die ländliche Architektur in ihrer Anpassung an die landwirtschaftlichen Arbeitsprozesse erfüllen musste. Hinter den Variationen in puncto Material, Komfort, Möbelausstattung, allen sich verändernden Dingen, lag die ‚Persönlichkeit‘ des ländlichen Hauses seiner Meinung nach in der räumli-
28 Rosemary A. Joyce/Susan D. Gillespie (Hrsg.), Beyond Kinship. Social and Material Reproduction in House Societies. Philadelphia 2000; Klapisch-Zuber, La maison (wie Anm. 23). 29 Amos Rapoport, Pour une anthropologie de la maison. Paris 1972; Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique précédé de trois études d’ethnologie kabyle. Paris 1972, Kap. 3: „La maison ou le monde renversé“ [dt.: Das Haus oder die verkehrte Welt, in: ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1993, 468–489]. 30 Z. B. Janet Carsten/Stephen Hugh-Jones (Hrsg.), About the House. Lévi-Strauss and Beyond. Cambridge 1995.
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chen Anordnung der Gebäude, die wechselseitige Beziehungen zwischen Menschen, Tieren und Gütern herstellte.31 Auf dieser Grundlage hat Demangeon einen typologischen Zugriff auf die Landhäuser entwickelt, vor allem im Hinblick auf die Streuung oder Verdichtung der Gebäudekomplexe und die innere Aufteilung der verschiedenen Gebäudetypen. Das ganze Ensemble erklärt er sowohl anhand der natürlichen, sozialen und landwirtschaftlichen Gegebenheiten des ländlichen Lebens als auch mit Blick auf die Geschichte als Faktor des Wandels. Dieser auf die agrarischen Systeme fokussierte Ansatz hat einen immensen Einfluss auf die Historiographie zum ländlichen Raum gehabt. Gleichwohl blieb das Thema ‚Haus‘ im ersten großen Überblickswerk „L’Histoire de la France rurale“ von 1975, das die Beständigkeit im Verhältnis zu den Veränderungen thematisierte, praktisch unerwähnt.32 Daher musste man auf die Arbeiten Guy Cabourdins über Lothringen warten, bis das Material, die Errichtung, die Größe und die Geräumigkeit des Hauses als Gebäude enthüllt und diese Gegebenheiten zur Familie und zum Dorf in Bezug gesetzt wurden. Dabei wurde vor allem der Lage der Scheune und des Viehstalls Beachtung geschenkt und deren Arrangement mit den Wohnräumen.33 Die soziale Hierarchie zeigte sich im Materiellen, aber die Dürftigkeit der Einrichtung, die sich in einer geringen Möblierung zeigte, war eine vielfach geteilte Lebenswirklichkeit.34 1982 verknüpfte Pierre Goubert in einer Synthese bestehender Forschungen Materialien, Wohnverhältnisse, Einrichtungen sowie Alltagsleben und setzte sie in Beziehung zu ländlichen Arbeits- und Familienformen.35 Während die älteren Arbeiten implizit von einem statischen Geschichtsmodell im Hinblick auf Wohn- und Lebensumstände ausgingen, wandten sich Historiker in den 2000er Jahren in zunehmendem Maße Aspekten des Wandels zu.36 Sie sahen sich jedoch erheblichen Schwierigkeiten gegenüber, Typologien zu erstellen, fehlten doch vielfach grundlegende Informationen, anhand derer die Erbauung eines Hauses datiert werden konnte, und noch mehr in der Rekonstruktion verschiedener Um- und Ausbauphasen, die bei dörflichen Häusern häufig waren.37 Darüber hinaus zeigt
31 Albert Demangeon, La France. Deuxième partie. France économique et humaine, in: Paul Vidal de La Blache/Lucien Gallois (Hrsg.), Géographie universelle, Bd. 6. Paris 1946, 166–185; Albert Demangeon, Problèmes de géographie humaine. Paris 1942. 32 Georges Duby/Armand Wallon, Histoire de la France rurale, Bd. 2: L’âge classique des paysans de 1340 à 1789. Paris 1975. 33 Guy Cabourdin, Terre et hommes en Lorraine du milieu du XVIe siècle à la guerre de Trente ans. Toulois et comté de Vaudémont, Bd. 3. Lille 1975, 1111 f. 34 Pierre Goubert, Beauvais et le Beauvaisis de 1600 à 1730. Contribution à l’histoire sociale de la France du XVIIe siècle. Paris 1960, Kap. 5. 35 Pierre Goubert, Les paysans français au XVIIe siècle. Paris 1982. 36 Vgl. den Überblick bei Jean-Marc Moriceau, Terres mouvantes. Les campagnes françaises du féodalisme à la mondialisation 1150–1850. Paris 2002, Kap. 8. 37 Alain Collomp, Maison, manières d’habiter et famille en Haute-Provence, aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Ethnologie française 8, 1978, 301–320.
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das Beispiel der Alpen, dass zwar die Unterteilung der Häuser in drei voneinander getrennte Bereiche – Wohnraum, Scheune und Viehstall – durchaus beständig war, sich gleichwohl aber die Praktiken und Diskurse über ganz ähnliche Bauweisen von einem Tal zum anderen aufgrund je spezifischer Verkehrsanbindung unterschieden.38 Auch die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Dauerhaftigkeit im ländlichen Rahmen müssen in Betracht gezogen werden: So gehen die ‚Häusergesellschaften‘ manchmal mit charakteristischen Gebäuden einher: so etwa in der Margeride, wo die Häuser aus dauerhaftem Granit errichtet wurden, während in der Picardie, einem Gebiet mit gleichberechtigter Erbteilung und häufig wechselnden Besitzern von Grund und Boden, Holz und Lehm als Baumaterialien vorherrschten und die Häuser seit dem Mittelalter zum Teil vorgefertigt waren, bei Bedarf errichtet und sogar zerlegt werden konnten.39 Jedenfalls sollten die architektonischen Aspekte gezielter in die Forschung einbezogen werden.40 Die Untersuchungen in diesem Bereich sind bereits älter, sie gehen auf den Aufschwung in der Mitte der 1960er Jahre zurück, als sich die Freilichtmuseen und die Idee der Bewahrung des Kulturerbes etablierten, vor allem durch den Einfluss von George-Henri Rivière. Eine frankreichweite Erhebung unter der Leitung von Jean Cuisenier führte vom Ende der 1970er bis in die Mitte der 1980er Jahre zur Veröffentlichung zahlreicher Regionalstudien41 und mehrerer Sonderhefte von Fachzeitschriften. Diese Arbeiten fußten methodisch zum einen auf einer Kritik an der Traditions-Ideologie, welche die Historizität der ländlichen Architektur ausradiert hatte, und zum anderen auf der Frage nach den Beziehungen zwischen ländlichen und städtischen Architekturen, angeregt durch die zeitgenössischen Phänomene der zunehmenden Urbanisierung ehemals ländlicher Stadtrandgebiete (périurbanisation und rurbanisation). Diese architektonischen Fragestellungen haben aber auch eine Studie zu Landhausprojekten der Renaissance angestoßen, die zeigte, dass es damals einen fundamentalen Wandel der ‚Bau-Räson‘ und des Wohnstils gab, der wiederum auf einer veränderten Wahrnehmung des Raums beruhte und die Orte entkernte und zergliederte.42 In der Stadtgeschichte stellte die Beziehung zwischen den Häusern und ihrem ‚Außen‘ schon sehr früh ein zentrales Thema der Forschung dar. Ältere Arbeiten, die vor allem durch eine evolutionistische Perspektive des allmählichen Wandels gekennzeichnet waren, bildeten die Ausgangslage für Untersuchungen, die sich auf
38 Marie-Pascale Mallé, Maisons du nord des Hautes-Alpes. L’habitat rural entre histoire et tradition, in: Terrain 9, 1987, 60–71. 39 François Calame, Peau de bois, peau de pierre, in: Terrain 9, 1987, 82–91. 40 Isac Chiva, La maison. Le noyau du fruit, l’arbre, l’avenir, in: Terrain 9, 1987, 5–9. 41 Jean Cuisenier (Hrsg.), L’architecture rurale française. Corpus des genres, des types et des variantes, 24 Bde. Paris 1977–1986; zu den Anfängen dieser Erhebung unter dem Vichy-Régime vgl. MarieClaude Pingaud, L’habitat rural, in: Études rurales 101–102, 1986, 317–328. 42 Jean Cuisenier, La maison rustique. Logique sociale et composition architecturale. Paris 1991.
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der einen Seite mit dem städtischen Raum und der Gestaltung des Hausinneren und auf der anderen Seite mit deren longue durée auseinandersetzten. So zeigten Raymond Quenedeys Arbeiten über Rouen die Veränderungen im Hausbau (z. B. die Aufgabe des bis dahin vorherrschenden Holzes zugunsten des Gebrauchs von Steinen am Ende des Ancien Régime), die Bedeutung der Beziehungen zwischen dem Hausinneren und dem Äußeren und schließlich zunehmend den Wandel der inneren Aufteilung der Wohnräume, der mit einer zunehmenden Spezialisierung der Räume und einer getrennten Nutzung durch die Bewohner einherging.43 Die großen Thesen der Stadtgeschichte der 1960er und 1970er Jahre44 in der Tradition der Annales-Schule befreiten sich von diesem Paradigma und bereiteten den Weg für alle folgenden Forschungen, deren Ergebnisse in die Histoire de la France urbaine einflossen.45 Sie untersuchten Baumaterialien und Bauweise, Größe und Umfang der Häuser, setzten diese Gegebenheiten in Beziehung zu den Familien, dem Grundstück, den Eigentumsverhältnissen, der Siedlungsdichte sowie zu wirtschaftlichen Indikatoren wie Grundstückswerten und Mietpreisen in den jeweiligen Stadtvierteln und sozialen Schichten, die dort lebten. Für Paris wurden die Veränderungen der Architektur in einer Langzeitstudie für das Viertel Les Halles analysiert, wobei es hier insbesondere die Einschränkungen durch die Grundstückszuschnitte zu berücksichtigen galt.46 Diese Untersuchungen haben neuere Erkenntnisse zur einfachen Architektur47 und aus der Geschichte des städtischen Raumes rezipiert und diese zu politischen und sozialen Entwicklungen in Beziehung gesetzt.48 Als in der Zeit der Aufklärung aus Stein erbaute und von Privatiers finanzierte Häuserblocks hinzukamen, die nicht an die alten Grundstücksgrenzen gebunden waren, erhielten einige Viertel in den großen Provinzstädten und in Paris einen durchaus monumentalen Charakter. Diese neue Stadtlandschaft veränderte auch die Wohnpraktiken der dort lebenden einfachen Bevölkerung.49 Die sozialen Unterschiede in den Wohnkulturen stehen im Fokus der französischen Geschichtswissenschaft. Auch die Untersuchung des Interieurs der städtischen
43 Raymond Quenedey, L’habitation rouennaise. Études d’histoire, de géographie et d’archéologie urbaines. Paris 1998 [1926]. 44 Maurice Garden, Lyon et les Lyonnais au XVIIIe siècle. Paris 1970; Jean-Claude Perrot, Genèse d’une ville moderne. Caen au XVIIIe siècle, 2 Bde. Paris 1975. 45 Roger Chartier, La ville chantier, in: Emmanuel Le Roy Ladurie (Hrsg.), La ville des temps modernes de la Renaissance aux Révolutions. Paris 1998 [1980], 107–153. 46 Françoise Boudon u. a., Système de l’architecture urbaine. Le quartier des Halles à Paris. Paris 1977. 47 Jacques Fredet, Les maisons de Paris. Types courants de l’architecture mineure parisienne de la fin de l’époque médiévale à nos jours, avec l’anatomie de leur construction, 3 Bde. Paris 2003. 48 Maurizio Gribaudi, Ruptures et continuités dans l’évolution de l’espace parisien. L’îlot de la Trinité entre les XVIIIe et XIXe siècles, in: Hist. & Mesure 24, 2009, 181–220; Youri Carbonnier, Maisons parisiennes des Lumières. Paris 2006. 49 Pierre Pinon, À travers révolutions architecturales et politiques, in: Louis Bergeron (Hrsg.), Paris. Genèse d’un paysage. Paris 1989, 147–216; Claude Nières, La reconstruction d’une ville au XVIIe siècle. Rennes, 1720–1760. Paris 1972.
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Häuser entwickelte sich entlang genau dieser Fragestellung. Seit Beginn der 1960er Jahre wurden Sterbfallinventare systematisch ausgewertet, um Einblicke in die Entwicklung der Möblierung und der internen räumlichen Organisation von Pariser Häusern zu erhalten.50 Es zeigte sich etwa, dass der Wohntrakt für das Gesinde ganz ähnlich wie ein Landhaus angeordnet war, wobei die Scheune über dem Stall durch ein Zimmer ersetzt worden war. Wie dicht gedrängt ein Großteil der Bevölkerung lebte, zeigt sich in allen zwei- bis dreigeschossigen Häusern: Diese waren ursprünglich für eine einzelne Familie konzipiert, beherbergten aber in der Realität oft mehrere Mieter. Die maison à galerie des 15. Jahrhunderts verschwand im Laufe des 17. Jahrhunderts; im Gegenzug wurde das Haus mit zwei Wohnungen (eine zur Straße, eine zum Hof) zum vorherrschenden Modell und veränderte die städtische Struktur so nachhaltig, dass der Grundriss von Paris zu einem massiven Gittermuster aus Gebäuden und kleinen Höfen wurde. Gleichwohl hatte dies kaum Einfluss auf die innere Raumordnung, bestehend aus einem Wohnraum und einer Küche, an die sich im Erdgeschoss ein Ladenraum mit einem Seitengang anschloss sowie ein Obergeschoss mit zwei Zimmern bzw. einem Zimmer und einer Kleiderkammer. Auch in Lyon waren die Räume überbelegt, eng, dunkel und verwinkelt, die Wohnungen bestanden aus aneinander gereihten Zimmern. Ausreichend Wohnraum zum Leben, ein Garten und ein zweiter Wohnsitz waren also wichtige Zeichen sozialer Distinktion.51 Diese Ansätze waren mit sozial- und wirtschaftshistorischen Perspektiven verknüpft, die sich insbesondere auf Mietpreise52 und die materielle Kultur konzentrierten.53 Das Stadthaus ist wie dasjenige auf dem Land ein ‚Werkzeug‘ (maison-outil): Es war der Ort des Handels, der Geschäfte, der Kontore, der Werkstätten, der Backstuben; so war etwa die örtliche Beständigkeit der Pariser Kontore ein wichtiges Element für die Sichtbarkeit einiger großer Kaufmannsfamilien.54 Letztlich war das Haus in den Städten aber auch ein Ort des Konsums, ein Kapital, eine Ware – in besonderer Weise galt dies wohl für die hôtels, die Adelshöfe in Paris, die enge Verbindungen zu den Kaufleuten und dem Luxuswarenmarkt im Paris des 18. Jahrhunderts unterhielten.55
50 Madeleine Jurgens/Pierre Couperie, Le logement à Paris aux XVIe et XVIIe siècles. Une source, les inventaires après décès, in: Annales 17, 1962, 488–500. 51 Garden, Lyon et les Lyonnais (wie Anm. 44). 52 Pierre Couperie/Emmanuel Le Roy Ladurie, Le mouvement des loyers parisiens de la fin du Moyen Âge au XVIIIe siècle, in: Annales 25, 1970, 1002–1023. 53 Fernand Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe–XVIIIe siècle. Bd. 1: Les structures du quotidien. Le possible et l’impossible. Paris 1979. 54 Mathieu Marraud, De la Ville à l’État. La bourgeoisie parisienne, XVIIe–XVIIIe siècle. Paris 2009, 154 f. 55 Natacha Coquery, L’hôtel aristocratique. Le marché du luxe à Paris au XVIIIe siècle. Paris 1998.
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3 Häuser als Zugang zur Kulturgeschichte des Sozialen Der historische Wandel der Materialität des Hauses macht es möglich, eine Kulturgeschichte des Sozialen zu entwerfen, die sich mit der Transformation der Lebensformen auseinandersetzt. Lucien Febvre und Robert Mandrou haben Wege hin zu einer Geschichte geebnet, die den materiellen Rahmenbedingungen wie dem mentalen Rüstzeug gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkt:56 Ernährung, Wohnung, familiäres Gefüge, Kirchengemeinde, Solidaritäten, Spiele und anderes. Zur gleichen Zeit entstanden die Arbeiten von Philippe Ariès über die Kindheit, das häusliche Leben und den Tod.57 Jean-Louis Flandrin hat auf dieser Konjunktur aufgebaut, als er 1976 in Auseinandersetzung mit den Arbeiten der Le Play’schen Tradition sein Konzept der Familie entlang der Begriffe Verwandtschaft, Haus, Haushalt und Hausgemeinschaft formulierte, d. h. Wohnort, häusliches Leben, Sexualleben und Besitztransfer in den Blick nahm.58 Indem sie die unterschiedlichen Forschungsrichtungen miteinander verknüpfte, konnte Annick Pardailhé-Galabrun 1988 in einer Geschichte der materiellen Kultur die räumlichen Wandlungsprozesse des häuslichen und familiären Lebens untersuchen.59 Sie interpretierte dabei die allmählich größer werdenden Grundstücke und Wohnungen, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fortschreitende Differenzierung der Räume, insbesondere des Esszimmers und des Salons wie auch das Auftauchen des cabinet féminin und des Boudoirs, als Zeichen einer neuen Selbstwahrnehmung des Individuums und als die Geburt der Intimität. Die Veränderungen im Konsumverhalten, die Verbesserung der Heizung und der Beleuchtung im 18. Jahrhundert, wenn auch beschränkt auf die wohlhabenden Schichten, die Errungenschaften in der Wasserversorgung und Hygiene, die Entwicklung der Möbel, der Garderoben und Kleidung – das sind zahlreiche Elemente, die auf den Beginn der Konsumgesellschaft verweisen und maßgeblichen Anteil am Wandel des Intérieurs hatten.60 Die Auswertung einer bisher wenig beachteten Quelle, der Protokollbücher der geschworenen Baugutachter, ermöglichte Untersuchungen über die Alltagsarchitektur im Paris der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Baumaterialien, Komfort
56 Robert Mandrou, Introduction à la France moderne 1500–1640. Essai de psychologie historique. Paris 1961. 57 Philippe Ariès, L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime. Paris 1960 [dt.: Geschichte der Kindheit. München 1980); ders., L’homme devant la mort. Paris 1977 [dt.: Geschichte des Todes. München 1980]. 58 Flandrin, Familles (wie Anm. 3). 59 Annick Pardailhé-Galabrun, La naissance de l’intime. 3000 foyers parisiens, XVIIe–XVIIIe siècles. Paris 1988. 60 Roche, Histoire (wie Anm. 1).
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ausstattung (Lüftung, Beleuchtung, Heizung), Gebäudefassaden und Zimmeranordnungen konnten auf diese Weise erschlossen werden. Die Schlussfolgerungen, die sich daraus ableiten lassen, weisen in Richtung eines Siegeszugs des Intimen und der Differenzierung zwischen öffentlich und privat anhand der Nutzung bestimmter Gegenstände – auch wenn die damit verbundenen Vorstellungen von richtigem Benehmen vom jeweiligen sozialen Milieu abhingen. Wenn demnach die Neuerungen auch in einfacheren Häusern im Zentrum von Paris nicht fehlten, erforderte deren Umsetzung in kleineren Raumgefügen ein hohes Maß an Anpassungsgabe und Erfindungsreichtum.61 Diese Veränderungen des Intérieurs wirkten sich, indes verzögert, auch auf den ländlichen Raum aus. Aus diesen soziokulturell orientierten Forschungen zur Räumlichkeit des Hauses kristallisierte sich eine ‚Geschichte des privaten Lebens‘ heraus, die über die Fragen der Materialität vor allem die Entwicklung der familialen Beziehungen, der Geschlechterbeziehungen, der Häuslichkeit und der Freundschaft in den Blick nahm62, wie auch Praktiken des Lesens und des Schreibens. Dies alles führte zu einer Chronologie, die aufs Neue die fundamentale Bedeutung des 18. Jahrhunderts für die Veränderung der sozialen Beziehungen und der Selbstwahrnehmung unterstrich.63 Aus einer Elias’schen64 Perspektive hat sich die Vorstellung von einer Zurückdrängung gemeinsam genutzter Räume und kollektiver Lebensbezüge durchgesetzt, die die Entfaltung des Privatlebens zuvor gehemmt hätten. Die Fortführung dieser Ansätze ist zurzeit vor allem im Umfeld der Selbstzeugnisforschung65 angesiedelt, darüber hinaus in Studien zum Wandel des familialen Lebens, dabei insbesondere der Idee der Paarbeziehung und der Liebesheirat.66 Das Interesse an sozialen Beziehungen und die Erforschung der Häuser in ihrem sozialen Umfeld haben dazu geführt, dass Historiker die Formen der Soziabilität genauer betrachteten, die sich um die Häuser herum entspinnen. Die Studien zur dörflichen Geselligkeit, die zum einen die Beziehungen zwischen der Art des Wohnens und der häuslichen Organisation, dem Haus67, analysierten und zum anderen die dörfliche
61 Carbonnier, Maisons parisiennes (wie Anm. 48). 62 Jean-Pierre Gutton, Domestiques et serviteurs dans la France de l’Ancien Régime. Paris 1981. 63 Philippe Ariès/Georges Duby (Hrsg.), Histoire de la vie privée, 4 Bde. Paris 1985, [dt.: Geschichte des privaten Lebens, 5 Bde. Frankfurt am Main 1989). 64 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Basel 1939. 65 Sylvie Mouysset, Papiers de famille. Introduction à l’étude des livres de raison (France, XVe–XIXe siècle). Rennes 2007. 66 Maurice Daumas, Le mariage amoureux. Histoire du lien conjugal sous l’Ancien Régime. Paris 2004; André Burguière, Le mariage et l’amour en France, de la Renaissance à la Révolution. Paris 2011. 67 Als Überblick Jean-Pierre Gutton, La sociabilité villageoise dans la France d’Ancien Régime. Paris 1979.
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Gemeinschaft als politische Institution erforschten68, erhielten neue Impulse durch die microstoria, die den Blick auf die Netzwerke dörflicher Akteure lenkte.69 Gleichwohl sind die Untersuchungen zu sozialen Beziehungen im städtischen Raum weitaus zahlreicher. Die Vorstellung davon, was das Wohnviertel ausmacht, dessen Beziehung zu verschiedenen Wohnkulturen und häuslichen Innenräumen, wurde ausgehend von sozialen und kulturellen Praktiken bearbeitet und historisiert. Diese Viertel waren aufgrund ihrer obrigkeitlich-administrativen Durchdringung ‚polarisierte Räume‘ (espaces polarisés)70, in denen sich politische und soziale Beziehungen und Strukturen überlagerten und gerade in Protestzeiten erhebliche Dynamik entfalteten.71 Das städtische Haus war aber vor allem Ausgangspunkt für die kulturwissenschaftlich gewendete Sozialgeschichte der Nachbarschaft, die sich aus der anfänglichen Frage nach dem öffentlichen und privaten Raum entwickelt hatte.72 Das städtische Haus war in der Frühen Neuzeit ohne größere Schwellen nach außen hin offen, denn es stellte in den seltensten Fällen den Lebensmittelpunkt dar; zumal für eine Bevölkerung, die – im Paris des 18. Jahrhunderts – vor allem aus Armen und zu zwei Dritteln aus Migranten bestand, von denen eine große Zahl in einem Zimmer oder zur Untermiete wohnte. Beengtheit und Hellhörigkeit erlaubten kaum eine Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum. Das enge Zusammenleben speiste das Wissen übereinander und schuf ganze eigene Lebensstile. Die Nachbarschaft war auch rechtlich verfasst, mit ihren Verpflichtungen und Auflagen, die mit der Nutzung des Gemeinguts verbunden waren. Die nachbarschaftlichen Beziehungen, die aus damit verbundenen Verpflichtungen hervorgingen, wurden großenteils von Frauen wahrgenommen. Das Treppenhaus und der Hof des Wohnhauses waren Orte tagtäglicher Begegnung. Nachbarliche Besuche waren eine
68 Antoine Follain, Le village sous l’Ancien Régime. Paris 2008. 69 Großen Einfluss hatte das Werk von Giovanni Levi, Le pouvoir au village. Histoire d’un exorciste dans le Piémont du XVIIe siècle. Paris 1989. Vgl. den Beitrag von Dionigi Albera in diesem Band. 70 Michel de Certeau/Luce Giard/Pierre Mayol, L’invention du quotidien. Bd. 2: Habiter, cuisiner. Paris 1994. 71 Alain Cabantous, Le quartier, espace vécu à l’époque moderne, in: Annales HES 13, 1994, 427–439; Maurice Garden, Le quartier, nouvel objet de l’histoire?, in: Économie et humanisme 261, 1981, 51–59, wiederaufgenommen in ders., Un historien dans la ville. Paris 2008, 221–233; Jean Nagle/Robert Descimon, Les quartiers de Paris du Moyen Âge au XVIIIe siècle. Évolutions d’un espace plurifonctionnel, in: Annales 34, 1979, 956–983; Robert Descimon, Les barricades de la Fronde parisienne. Une lecture sociologique, in: Annales 45, 1990, 397–422. 72 Arlette Farge, Vivre dans la rue à Paris au XVIIIe siècle. Paris 1979; dies., La vie fragile. Violence, pouvoirs et solidarités à Paris au XVIIIe siècle. Paris 1986 [dt.: Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts. Berlin 1989]; David Garrioch, Neighbourhood and community in Paris, 1740–1790. Cambridge 1986; Olivier Zeller, Espace privé, espace public et cohabitation. Lyon à l’époque moderne, in: Bernard Haumont/Alain Morel (Hrsg.), La société des voisins. Partager un habitat collectif. Paris 2005, 187–207; Marc Vacher, Voisins, voisines, voisinage. Les cultures du faceà-face à Lyon à la veille de la Révolution. Lyon 2007.
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übliche Angelegenheit, die sich in höheren Schichten als Einladung zum Abendessen, in Salons oder Clubs etc. ausdrückte; anderswo war die Geselligkeit der Schänke zentral. Für nachbarschaftliche Beziehungen konnten verschiedene Arten von sozialen Bezügen zum Tragen kommen: die Familie, der Beruf, die geographische Herkunft und anderes mehr. Die Vertrautheit, die damit einherging, übertrug den Nachbarn verschiedene Rollen: Schutz, Beistand und die Intervention in familiäre Angelegenheiten. Dadurch entstand ein differenziertes Zusammenspiel gegenseitiger Verpflichtungen zwischen den Familien und der Nachbarschaft mit je eigenen Aufgaben in Bezug auf die Kinder, Verhalten und Moral sowie Konflikte – insbesondere solche zwischen Paaren. Julie Hardwick hat die vielfältigen Verstrickungen von Paarbeziehungen mit der Nachbarschaft und der Gemeinde anhand der Ökonomien der Ehe, des Rechts, der Märkte und der Gewalt am Beispiel von Kaufmannspaaren in Nantes und Lyon im 17. Jahrhundert untersucht und die fließenden Grenzen zwischen Individuum, Gemeinde, Justiz und Staat herausgearbeitet.73 Was Besitzer und Hauptmieter anbelangt, so übten diese eine veritable Polizeigewalt im Wohnhaus aus. Nachbarschaftskonflikte rührten oft von Einmischungen anderer her, die als unangemessen angesehen wurden, und waren durch eine Gewaltkultur geprägt, die in allen sozialen Schichten zu finden war. Auch die Zunahme von Mobilität und Migration trug zur Veränderung nachbarschaftlicher Beziehungen bei. Zudem lässt sich im 18. Jahrhundert eine Entwicklung zu stärkerer Ab- und Ausgrenzung erkennen, die mit dem Aufkommen des bürgerlichen Hauses als Rechtsbegriff zu tun hat: So begann man in Mietverträgen Aktivitäten zu verbieten, die das einfache Volk hätte anziehen können, dazu auch geruchs- und lärmintensive oder gefährliche Gewerbe. Der Wohnort wurde also auch mit der Absicht gewählt, sich einen Lebensstil der Ruhe und ehrbarer Betätigungen zu sichern, indem private und gemeinschaftliche Räume vor der Öffentlichkeit geschützt wurden. Der Nachbar wurde damit zu einem Gegenstand der Debatte, die darauf abzielte, die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten genauer zu bestimmen; wenngleich auch hier diesbezüglich erhebliche Diskrepanzen zwischen den sozialen Milieus existierten. Es hat sich gezeigt, dass das Haus ein Ort ausgeprägter Distinktion und Herrschaft ist. In dieser Hinsicht waren die adligen Schlösser und Stadtpalais Gegenstand spezifischer Untersuchungen. Die Kunst- und Architekturgeschichte fokussierte vor allem auf bestimmte Gebäude, die aufgrund ihres ästhetischen Werts hervorgehoben wurden, und vernachlässigte dabei die konkreten Wohnpraktiken.74 Die soziale Zei-
73 Julie Hardwick, Family Business. Litigation and the Political Economies of Daily Life in Early Modern France. Oxford 2009. 74 André Chastel, Culture et demeures en France au XVIe siècle. Paris 1989; Jean-Marie Pérouse de Montclos, Histoire de l’architecture française. De la Renaissance à la Révolution. Paris 1989; Louis Hautecoeur, Histoire de l’architecture classique en France, 4 Bde. Paris 1963–1967.
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chenhaftigkeit des adligen Wohnsitzes hat gleichwohl, wenn auch spät, zu einer Auseinandersetzung mit dem Werk von Norbert Elias geführt. Elias sah das adlige Palais als Repräsentation sozialer Strukturen, die auf dem Patriarchat, der Beziehung zum Gesinde, der öffentlichen Funktion des Adels und dem sichtbaren Rang des Palais basierten.75 Die Adelsgeschichte und auch die Geschichte der materiellen Kultur legten lange einen Schwerpunkt auf die Entwicklung der Schlossarchitektur: als Spiegel sozialer Hierarchien, als Ort der Obrigkeit, des Wirtschaftens und der Ordnung der Natur (Gartenkunst) wie auch als Ort des Wandels von Lebensstilen.76 Gerade die Wohnsitze des Niederadels – Rittergüter, Gutshäuser, Herrenhäuser, feste Häuser – weisen zwar eine große Bandbreite regionaler Variationen auf; im lokalen Kontext hingegen waren die Unterschiede zu Bauerngütern meistens eher gering. Auch Türme, als herausragendstes Distinktionsmerkmal, waren nicht immer zu finden. Zudem musste sich die bauliche Struktur den Erfordernissen der grundherrlichen Landwirtschaft anpassen, die auch Bergbau, Erz- und Glashütten umfassen konnte. Für eine adäquate Einordnung der Adelssitze ist auch ihre Beziehung zu herrschaftlich verdichteten Orten und Räumen zentral: Kapellen, Grenzsteine, Schlösser, Mühlen, Weinpressen, Galgen und Jagdwälder. Neben die traditionellen Funktionen der Verteidigung und der Kontrolle eines Grundbesitzes traten auf dem Lande zunehmend neue Formen des Wohnens auf, die auf das otium, die Muße, ausgerichtet waren. Das zeigt sich nicht nur an der Bereicherung des Vokabulars für adlige Landsitze im 18. Jahrhundert (Lusthaus, Landhaus, chartreuse, Villa, ermitage, folie), sondern auch an Traktaten, die sich nun diesen neuen Landhäusern widmeten. Im Inneren dieser Wohnsitze zeichnete sich im 17. Jahrhundert allmählich eine klarere Trennung zwischen Bereichen des intimen Lebens, der öffentlichen Repräsentation und der Dienstleistungen ab, deren Übergänge im 16. Jahrhundert noch fließender gewesen waren. Seit dem 17. Jahrhundert trat auch zunehmend der salon d’apparat, der Repräsentationssaal, in der étage noble, dem ersten Obergeschoss, in Erscheinung. Vor allem im 18. Jahrhundert vervielfältigten sich die kleinen Räume, die Intimität wie auch die räumliche Funktionsdifferenzierung beförderten: Bibliotheken, Rüstkammern, Vorzimmer, Zimmer, Garderoben, Kabinette und andere. Die Güter des Niederadels waren hingegen noch weit entfernt von diesen Veränderungen, die auch die Stadtpalais erfassten, mit entsprechenden sozialen Abstufungen und zeitlichen Verzögerungen in den kleineren Städten der Provinz.77
75 Norbert Elias, La société de Cour. Paris 1974, Kap. 1 [dt.: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie; mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Frankfurt am Main 1969]. 76 Michel Figeac, Châteaux et vie quotidienne de la noblesse. De la Renaissance à la douceur des Lumières. Paris 2006. 77 Jean-Pierre Babelon, Demeures parisiennes sous Henri IV et Louis XIII. Paris 1965 ; Claude Mignot, L’hôtel parisien au XVIIe siècle, in: XVIIe siècle 41, 1989, 3–109; Michel Figeac, La douceur des
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Herrschaftszeichen lassen sich schließlich vor allem in jenen städtischen Vierteln finden, in denen die adligen Häuser angesiedelt waren. Wie etwa in Rouen die verstreuten Wohnorte der Angehörigen des parlements den verdichteten Wohnorten der Kaufleute gegenüberstanden, kann man im Laufe der Frühen Neuzeit eine allgemeine soziale Differenzierung der Viertel beobachten. Der Hofadel konzentrierte sich während des 18. Jahrhunderts im Westen von Paris, als sich die Pariser Stadtviertel im Hinblick auf die unterschiedlichen Adelsgruppen zu unterscheiden begannen.78 Nichtsdestoweniger trug die Wahl des Wohnorts durch ständeübergreifende Heiraten zu einer Annäherung zwischen den geldbesitzenden Milieus und dem Adel bei.79 Wirtschaftshistorisch orientierte Arbeiten zum Immobilienmarkt in Paris und anderen großen Städten haben für das 18. Jahrhundert die fortschreitende Auflösung des identitätsstiftenden Bezugs zum gebauten Haus herausarbeitet. Die Verbindung mit dem namengebenden Haus einer bestimmten Herrschaft löste sich für adlige Familien mehr und mehr auf, je stärker die Liegenschaften nicht mehr innerhalb der Verwandtschaft zirkulierten, sondern zu Renditeobjekten auf einem ganz Frankreich umfassenden Markt wurden. Der intensivierte Immobilienmarkt wie auch die Entkoppelung der Herrschaftszeichen von den Orten, an denen die adlige Macht verankert war, macht es möglich, die gesellschaftlichen Entwicklungen des Ancien Régime bis zu dessen Auflösung hin zu untersuchen, als sich nämlich das Haus fast vollständig vom ‚Haus‘ losgelöst hatte.80
4 Schlussüberlegungen Das Haus, das zugleich als Besitz, Wohnraum und Produktionsort wahrgenommen wird, hat seit etwa anderthalb Jahrhunderten eine Geschichtsschreibung inspiriert, die beinahe alle Bereiche der Sozialgeschichte des Ancien Régime umfasst. Stützt man sich auf die anthropologischen Überlegungen, die das Haus angestoßen hat, kann man darin einen Kernaspekt für das Verständnis jenes Ancien Régime erkennen, das die Gesellschaft nie über einen lokalen Rahmen hinaus denken konnte.
Lumières. Noblesse et art de vivre en Guyenne au XVIIIe siècle. Bordeaux 2001; Olivier Chaline (Hrsg.), Les hôtels particuliers de Rouen. Rouen 2004; Caroline Le Mao, Les fortunes de Thémis. Vie des magistrats du Parlement de Bordeaux au Grand Siècle. Bordeaux 2006. 78 Laurence Croq, La noblesse de robe, le Marais et la modernité dans le Paris des Lumières, in: Robert Descimon/Élie Haddad (Hrsg.), Épreuves de noblesse. Les expériences de la haute robe parisienne (XVIe–XVIIIe siècle). Paris 2010, 257–275. 79 Mathieu Marraud, La noblesse de Paris au XVIIIe siècle. Paris 2000. 80 Claire Chatelain, Chronique d’une ascension sociale. Exercice de la parenté chez de grands officiers (XVIe–XVIIe siècles). Paris 2008; François-Joseph Ruggiu, Les élites et les villes moyennes en France et en Angleterre (XVIIe–XVIIIe siècles). Paris 1997, 235; Coquery, L’hôtel aristocratique (wie Anm. 55).
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Das ‚Haus‘ als Forschungskategorie ermöglicht es, gesellschaftliche Transformationsprozesse zu fassen, die in ein Denken eingebunden waren, das nicht zwischen privat und öffentlich unterschied. Wie sich ‚das Private‘ ausbildete, lässt sich im Zeitalter der Aufklärung in der baulichen Beschaffenheit, der räumlichen Organisation und den sozialen Beziehungen im Haus beobachten. Aber erst nach der Französischen Revolution setzte sich eine kategoriale Trennung beider Sphären durch, die in der politischen Struktur der dynastischen Lehnsherrschaft miteinander verzahnt gewesen waren und damit die Gesellschaft insgesamt organisiert hatten. Diese Differenzbildung fand ihre Fortführung in der Unterscheidung der als distinkt gedachten gesellschaftlichen Sphären des ‚Privaten‘ und des ‚Politischen‘ im Kontext der sozialund geschichtswissenschaftlichen Theoriebildung. Nicht zuletzt deshalb wenden sich neuere Richtungen der Geschichtswissenschaft verstärkt der politischen Ökonomie des Alltagslebens zu, um diese irreführende Trennung zu überbrücken. Aus dem Französischen: Inken Schmidt-Voges
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Forschungen zu ‚House and Home‘ in England As every man’s house is his Castle, so is his family a private Common-wealth, wherein if due government be not observed, nothing but confusion is to be expected.1
Wie das Zitat zeigt, wurde das Haus im frühneuzeitlichen England als ausgesprochen relevant für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung betrachtet. In einem elaborierten Diskurs über Herrschaft sowohl in der häuslichen als auch – im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend – in der politischen Praxis galt das Haus als kleinster mehrerer miteinander verschränkter Räume, die ein Herrschaftsmodell konstituierten: der Monarch über das Königreich, der Bürgermeister und der Rat über die Stadt, der Ehemann über das Haus. Alle Formen der Herrschaft hatten die Beziehungen zwischen Christus und der Kirche zum Vorbild. Diese Analogien begannen mit dem Haus. Denn dort entwickelten die Menschen diejenigen Fähigkeiten, die sie im öffentlichen Leben benötigten. Erfolg in dieser Sphäre sollte auch die Dauerhaftigkeit und Stärke der außerhäuslichen Sphären befestigen. Das Haus war als Metapher für die Stabilität von Kirche und Staat eine entscheidende Einheit zur Ausübung von patriarchalischer sozialer Kontrolle im England der Frühen Neuzeit – eine Einheit, die mit politischer wie religiöser Macht ausgestattet war. Zeitgenössische Beobachter versuchten, die physisch-materiellen Eigenschaften des häuslichen Lebens mit geistigen Aspekten zu verbinden und so das Verhältnis zwischen den Menschen und den Dingen des Haushalts zu erkunden. So beschrieb Thomas Gataker die gute Ehefrau unter Anspielung auf den biblischen Vergleich von geistigem und materiellem Reichtum: „She is a greater blessing than either House or Inheritance: and her price is above Pearles.“ Daraufhin führte er sofort den materiellen Aspekt der Metapher aus, allerdings nur, um die Verbindung zwischen dem Wert der Menschen und demjenigen der Dinge noch zu bekräftigen: „And if there be so much seeking generally on all hands after the one [pearls, C. R.], much more may there justly be as much after the other [wives, C. R.].“2 Die These dieses Artikels zielt in eine ähnliche Richtung. Die historische Forschung über das englische Haus hat zwar in vieler Hinsicht Fortschritte gemacht, aber im großen Ganzen weigert sie sich immer noch, Verbindungslinien zwischen den ‚materiellen‘ und den ‚menschlichen‘ Aspekten des häuslichen Lebens zu ziehen. Der Artikel ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt wird die Entwicklung auf dem Gebiet der Historischen Demographie und der Sozialgeschichte im Hinblick auf das Personal des Haushalts skizziert. Im zweiten Abschnitt werden die
1 Richard Braithwaite, The English Gentleman. London 1630, 155. 2 Thomas Gataker, A Wife Indeed. Two Marriage Sermons. London 1623, 38, 57 f.
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unterschiedlichen Ansätze von Wirtschaftshistorikern und Archäologen sowie von Architektur- und Kunsthistorikern bezüglich der Materialität der frühneuzeitlichen Häuslichkeit erläutert. Abschließend werden Arbeiten vorgestellt, die die Kluft zwischen den unterschiedlichen Ansätzen überbrücken, indem sie die menschlichen Akteure in ihre häusliche Umgebung platzieren. In den englischen Quellen dominiert der Begriff household, und zwar als diejenige Kategorie, die für verschiedenste Arten der Besteuerung und diesbezügliche Dokumente maßgeblich war. Es ist vor allem die Vergemeinschaftung von Individuen unter einem Dach, welche sich für die politischen Analogien des Häuslichen eignet. In der Historiographie haben die oben genannten Unterteilungen allerdings zu zwei unterschiedlichen Begriffsbildungen geführt. Diejenigen, die über das ‚Personal‘ forschen, arbeiten mit dem Begriff ‚Haushalt‘, während diejenigen, die sich für die materiellen Aspekte interessieren, zum Begriff ‚Haus‘ neigen. Interdisziplinäre Arbeiten über die Wechselwirkungen zwischen Menschen und Dingen bevorzugen tendenziell Begriffe wie domestic space oder domestic culture. Damit wird die Dynamik der Praxis betont. Im Hinblick auf die zeitliche Gewichtung innerhalb der Forschung zur langen Frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert) ist zudem ein Unterschied festzustellen. Forschende, die über ‚Haushalte‘ arbeiten, blicken über die gesamte Epoche hinaus. Die Forschung zum Thema Konsum fokussiert eher auf das Ende, die Forschung zum Thema häusliche Kultur dagegen – beeinflusst von der Literaturwissenschaft und einschlägigen zeitgenössischen Entwicklungen in puncto Theater und Publikationskultur – eher auf die Anfangsphase der Frühen Neuzeit.
1 Familie und Haushalt Mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben Historiker, wie Keith Wrightson es treffend ausdrückte, mit ‚Gezänk‘ über den Haushalt zugebracht.3 Und während vier Jahrzehnten, bis in die 1980er Jahre, war die Historiographie damit beschäftigt, die Common-sense-Meinung über die ‚traditionale‘ bzw. die ‚vor-industrielle‘ Familie zu demontieren. Man dachte zuvor, dass typischerweise große und komplexe Haushalte mit Verwandten (co-resident kin) in Gemeinschaft mit noch weiterer Verwandtschaft lebten; ferner, dass arrangierte Ehen in jungen Jahren eingegangen wurden und familiäre Beziehungen emotional ‚kalt‘ waren, geprägt von patriarchalischer Ehrfurcht. Diese traditionale Familie war die Basis der ökonomischen und landwirtschaftlichen Produktion sowie der Erziehung und Ausbildung. Sie stellte sozusagen den
3 Keith Wrightson, The Family in Early Modern England. Continuity and Change, in: Stephen Taylor/ Richard Connors/Clyve Jones (Hrsg.), Hanoverian Britain and Europe. Essays in Memory of Philip Lawson. Woodbridge 1998, 1–22, hier 1.
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antiquierten Vorfahren der ‚modernen‘ Kernfamilie dar. Diese zeichnete sich durch emotionale Wärme und Stärke als Folge der freien Wahl der Ehepartner und liebevoller Beziehungen zu den Kindern aus. Die moderne Kernfamilie war urban und kommerziell, und sie war angepasst an die Bedürfnisse der modernen Welt. Obwohl Lawrence Stone 1977 in seinem einflussreichen Buch „The Family, Sex and Marriage“ einen fundamentalen Wandel von der dem Patriarchat immanenten emotionalen Distanziertheit zu einem von ihm so genannten „affective individualism“ behauptete4, regten andere Stimmen an, das gängige Modell der ‚family of past times‘ zu revidieren. Während man zuvor gedacht hatte, die sog. ‚traditionale Familie‘ sei beim Einsetzen von Industrialisierung und Urbanisierung verschwunden, zeigte die Forschung an zwei Fronten, nämlich Demographie und Emotionen, dass dieses Modell in der Gesellschaft vor den großen sozialen Umbrüchen auch nicht so einfach zu erkennen war. So ließ sich die Annahme der ‚traditionalen Familie‘ selbst für die Frühe Neuzeit nicht problemlos verifizieren. Bereits fünf Jahre zuvor hatte Peter Laslett seine Befunde publiziert, dass die Kernfamilie faktisch schon im 16. Jahrhundert, wenn nicht sogar noch früher, das vorherrschende Modell gewesen sei. Er führte an, dass die Annahmen der Forscher über große und komplexe Familienstrukturen in der Vergangenheit eine Art von starrsinniger Nostalgie darstellten.5 Die Cambridge Group for the History of Population and Social Structure, die 1964 von Peter Laslett und Anthony Wrigley gegründet worden war, kam zu dieser Einschätzung durch großangelegte, systematisch betriebene Historische Demographie auf der Basis von – zunächst – Kirchenbüchern. Im Gegensatz zu Stones qualitativer Auswertung vor allem von Selbstzeugnissen wie Tagebüchern und Briefen war ihr Ansatz dezidiert quantitativ. Das Ziel war es, große Entwicklungslinien nachzuvollziehen, zum Beispiel im Hinblick auf Heiratsrate, Geburtenrate, Lebenserwartung sowie Größe und Zusammensetzung der Haushalte. In der Einleitung zu „Household and Family in Past Time“ bemerkte Laslett glasklar über die Art seines Gegenstands, „that this book is not concerned with the family as a network of kinship“, sondern vielmehr mit „coresident domestic groups“.6 Der Fokus lag somit nicht auf den Beziehungen zwischen Haushalten, sondern auf solchen innerhalb des Haushalts. Dieser Forschungsansatz interessierte sich für den häuslichen Wandel über einen langen Zeitraum hinweg, insbesondere um festzustellen, wie große Entwicklungen in puncto Produktion und Konsum (Industrialisierung, Kapitalismus etc.) die Zusammensetzung von Haushalten beeinflussten. Haushalt wurde dabei als demographische Kategorie benutzt, um ökonomischen Wandel zu erforschen.
4 Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage. Harmondsworth 1979 (1977), 22. 5 Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Time. Cambridge 1972, 8. 6 Peter Laslett, Introduction. The History of the Family, in: ders./Wall, Househould and Family (wie Anm. 5), 1–89, hier 1.
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Seit Lasletts Ausgangsbefunden haben weitere historisch-demographische Arbeiten zur Frühen Neuzeit die Notwendigkeit unterstrichen, regionale Varianten zu berücksichtigen. Damit wurde ein anderer Analysemaßstab notwendig: zum Beispiel eher einige kleinere als mehrere hundert Gemeinden. Denn der Einfluss des jeweiligen ökonomischen, sozialen und geographischen Kontexts erwies sich als relevant. Man denke nur an die deutlichen Unterschiede in der Zusammensetzung städtischer und ländlicher Haushalte und die besonderen Herausforderungen anomaler Örtlichkeiten wie London. So verdeutlichten Forschungen im Rahmen des von 2003 bis 2006 laufenden Projekts ‚People in Place‘ eine Reihe spezifischer ‚Probleme Londons‘: Kinderknappheit, hohe Zahl an Bediensteten und Lehrlingen, das Bewusstsein über die Zunahme der Ehetrennungen und die Beherbergung von Mitbewohnern und Fremden.7 Diese Arbeiten betonten, dass sich das bezüglich der häuslichen Bewohner von der Cambridge Group benutzte Klassifikationsschema schwerlich auf die einzigartigen Verhältnisse Londons anwenden lasse. Zu denken ist an Koresidenz-Haushalte mit vielen Mitbewohnern. Allerdings sind es eben diese Charakteristika der Kleinteiligkeit und Flüchtigkeit des Wohnens, die es zu reflektieren gilt, um die Haushalte Londons angemessen zu verstehen. Dieser Ansatz verweist auf eine grundlegende Spannung zwischen der Erforschung des Haushalts und der Erforschung der Familie. Ziel ist es, mittels verschiedener Quellen zum Grund- und Immobilienbesitz (Miet-, Pacht- und andere Verträge) sowie zu Eheverträgen und Stadtplänen die Beziehungen zwischen Menschen und Örtlichkeiten zu eruieren.8 Berücksichtigt werden auch serielle Daten zur Berufspraxis unter Verwendung der Methode des record linkage. Grundsätzlichere Bedenken gegen den Ansatz der Historischen Demographen wurden von Seiten der Sozialhistoriker formuliert. Phasenweise fanden die Spannungen zwischen quantitativer und qualitativer Methode ihren Ausdruck in einem weiteren, wie Wrightson es nennt, ‚Gezänk‘ über die historische Analyse des häuslichen Lebens in der Frühen Neuzeit. In einem besonders kontroversen Fall bemerkte Miranda Chaytor in der Zeitschrift „History Workshop Journal“ an die Adresse der Historischen Demographen, dass deren Betonung der Struktur der Haushalte zu einer Vernachlässigung der sozialen Beziehungen innerhalb des Hauses geführt habe. Zudem ermöglichten Namenslisten zwar die Rekonstruktion der materiellen Lebensgrundlagen, nicht aber der für die Akteure maßgeblichen Glaubens- und Wertvorstellungen. Ihr Argument zum Verhältnis von Historischer Demographie und Sozialgeschichte bezog sich dabei vor allem auf die Verwendung des Begriffs ‚Haushalt‘. Denn der übliche ausschließliche Fokus auf die reproductive unit schloss, so Chaytor,
7 The Institute of Historical Research, Projekt ‚People in Place‘, www.history.ac.uk/cmh/pip/ (Zugriff: 23. 12. 2014). 8 Mark Merry/Philip Baker, ‚For the House Her Self and One Servant‘. Family and Household in Late Seventeenth-century London, in: The London Journ. 34, 2009, 205–232, hier 206, 226 f.
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alle diejenigen außerhalb der ehelichen Familie, wie z. B. Witwen, Dienstboten und Migranten, aus. Bei ihrem Versuch, den Mythos der traditionalen Großfamilie zu entzaubern, hatten die Historischen Demographen alle diejenigen Haushaltsmitglieder über Bord geworfen, die im strengen biologischen Sinn nicht verwandt waren. Ihre Vorstellung von einem Haushalt war, Chaytor zufolge, gänzlich statisch und deshalb ungeeignet, um Menschen und Dinge zu integrieren, die Grenzen überschritten. Das Resultat war ein Bild des Haushalts, das als Momentaufnahme ungeeignet war, um „the fragility and impermanence of most domestic arrangements“ in einer Ära hoher geographischer Mobilität und hoher Sterblichkeitsraten aufzuzeigen.9 Der Einfluss von Vorannahmen über das Wesen der Familie auf die historiographische Analyse wurde in jüngerer Zeit von Naomi Tadmor in ihrer umfassenden Betrachtung zur Frage der Terminologie reflektiert. Dabei weist sie auf die Gefahr des Anachronismus bei der Übernahme von Kategorien aus den Sozialwissenschaften hin. Sie argumentiert, dass die Verbindung von Demographie, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Anthropologie, Psychologie und Geschichtswissenschaft zwar neue, vielversprechende Forschungsperspektiven eröffnet habe. Das Vertrauen auf die Begrifflichkeiten dieser Disziplinen habe aber weg von den zeitgenössischen Diskursen über den Haushalt geführt, so dass die Bedeutungen und Begriffe von der Familie in vergangenen Epochen aus dem Blick gerieten. Tadmor schlägt den alle Aspekte der Koresidenz berücksichtigenden Begriff der household-family vor. Gemeint ist damit ein Konzept auf der Basis einer vertraglichen Übereinkunft. Vermieden wird dabei die Grenzziehung zwischen einem instrumentellen und einem gefühlsbetonten, einem häuslichen und einem beruflichen Bereich.10 Obwohl sie sich dabei auf das 18. Jahrhundert bezieht, kann ihr Argument für die Frühe Neuzeit insgesamt Geltung beanspruchen. In methodischer Hinsicht betont Tadmor die gattungsinhärente Vielfalt und Nicht-Repräsentativität von Tagebüchern, moralischen Traktaten (conduct treatises) und Romanen. Fragen über den Zusammenhang von Wohnort und Familienidentität haben das Interesse mehrerer Historiker an der Rolle des Gesindes in der Frühen Neuzeit geweckt. In dieser Epoche war das Gesinde in etwa 40 % aller Häuser zugegen.11 So hat Tim Meldrum argumentiert, dass London im 18. Jahrhundert der wichtigste Anstellungsort für Gesinde in England gewesen sei. Fast 50 000 Dienstboten waren dort beschäftigt, in einer Relation von vier Frauen auf einen Mann. Laut Meldrum traten Frauen vor und manchmal nach ihrer Heirat in den Gesindedienst ein, während dieser für Männer eine längere Karriere darstellte, öfter auch in Familien der Elite. Jane Whittles Arbeit
9 Miranda Chaytor, Household and Kinship. Ryton in the Late 16th and Early 17th Centuries, in: Hist. Workshop Journ. 10, 1980, 25–60, hier 26 f., 29. 10 Naomi Tadmor, Family and Friends in Eighteenth-Century England. Cambridge 2007, 6, 9 f., 27 f. 11 Catherine Richardson, Household Servants in Early Modern England. Manchester 2010, 221.
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über ländliche Haushalte verdeutlicht das gleiche Muster eines häuslichen Lebens, das von der Arbeit im Haus wohnender, aber nicht zur Familie gehörender Personen getragen wurde. In den Haushalten der gentry und der wohlhabenden Großbauern waren laut Whittle in dieser Zeit stets vier oder mehr Dienstboten angestellt, wobei die Anstellungsmuster zwischen Landwirtschaft und Hauswirtschaft variierten. Die gender balance war generell in der ländlichen Gesellschaft bemerkenswert. In den Haushalten der Yeomen waren 25 % der Dienstboten weiblich, in denen der Gentlemen und anderer wohlhabender Bauern 39 %, in denjenigen der einfachen Bauern sogar 57 %.12 Die genannten Studien ergeben ein vollständigeres Bild vom Personal des frühneuzeitlichen Hauses und ermöglichen es uns, die sozialen und ökonomischen Funktionsweisen des häuslichen Lebens genauer zu untersuchen. Insgesamt zeigen die neueren Arbeiten eine Verschiebung von den quantitativen Analysen der Sozialwissenschaften hin zu den qualitativen Ansätzen der Sozialgeschichte. Angeregt durch die neuen Möglichkeiten unterschiedlicher Perspektiven auf den Haushalt, wie etwa anhand von Geschlecht oder sozialen Statusgruppen, wurden die Narrative dieser neueren Arbeiten vom Binnenraum nach ‚außen‘ entwickelt, anders als die allwissende Perspektive der Historischen Demographen, die leidenschaftslos von außen nach innen schauten. Dementsprechend begünstigen ihre Befunde eine solche Analyse. So werten Chaytor und Meldrum etwa Vernehmungsprotokolle der Justiz aus, um die ganze Bandbreite konkreter – sicherlich manchmal außergewöhnlicher – Verhaltensweisen zu untersuchen, anstatt statistisch das Auftreten der ‚durchschnittlichen‘ Größe und Aktivität des Haushalts zu bestimmen. Arbeiten auf dem Gebiet von Familie und Geschlecht haben lautstark darauf insistiert, dass man bei einer so heterogenen Gruppe von Individuen kaum von gemeinsam geteilten Einstellungen ausgehen kann. Chaytor behauptet in einem deftigen Abschnitt ihrer Attacke gegen die Historischen Demographen, die Mehrzahl von deren Arbeiten sei mit der Annahme geschrieben worden, dass verschiedene Geschlechter und Generationen identische häusliche Erfahrungen und Interessen aufwiesen. Sie bemerkt im Gegensatz dazu, dass eine derartige Vermischung die jeweils unterschiedlichen Erfahrungen übersieht, den ideologischen Gehalt familiärer Beziehungen schönfärbt und auch die ungleiche Verteilung von Macht im Haus wie in der Gesellschaft insgesamt verschleiert.13 Ein wichtiger Aspekt des häuslichen Lebens von Frauen wird von Arbeiten untersucht, die die Bedeutungen von Frauenrollen in fiktionalen Repräsentationen betrachten. So untersucht zum Beispiel Natasha Korda die für das englische Theater relevante Periode des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Ihr Fokus liegt darauf,
12 Tim Meldrum, Domestic Service and Gender 1660–1750. Essex 2000, 33; Jane Whittle, Housewives and Servants in Rural England, 1440–1650. Evidence of Women’s Work from Probate Documents, in: Transactions of the Royal Hist. Soc. (6th series) 15, 2005, 51–74, hier 61, 57. 13 Chaytor, Household and Kinship (wie Anm. 9), 30.
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wie Shakespeare die Identität seiner weiblichen Charaktere in Beziehung zu den Objekten entwickelt, und sie betont, dass die materielle und die symbolische Ökonomie auf der Bühne dieser Zeit untrennbar miteinander verbunden waren. Wendy Wall hat aufgezeigt, in welch paradoxen Spielarten sich das häusliche Leben in kulturellen Imaginationen niederschlug und geschlechtsspezifische wie auch nationale Identitäten prägte. Sie versteht den Haushalt als einen Raum der Macht im Zentrum ökonomischer und politischer Vorstellungen, in dem Leidenschaften inmitten alltäglicher banaler Praktiken zu finden sind.14 Viele Studien dieser Art haben die Beziehung zwischen didaktischen und dramatischen Texten thematisiert. Im Hinblick auf die Rollen von Frauen im Haus wurden dabei eher die verschiedenen Imaginationen als die Erfahrungen analysiert. Susan Dwyer Amussens „An Ordered Society. Gender and Class in Early Modern England“ ist eine der wenigen Arbeiten, die explizit die Beziehung zwischen Theorie und Praxis des weiblichen häuslichen Lebens behandelt. Sie untersucht sowohl die didaktische Literatur über häusliche Beziehungen als auch eine Reihe von Quellen zur Rekonstruktion der Beziehungen auf Gemeindeebene.15 Zwar haben Sozialhistoriker durchaus auch mit den klassischen Quellen der Historischen Demographen gearbeitet: die mannigfaltigen Arten von Gemeinderegistern, mit denen in der Frühen Neuzeit die verschiedenen Mitglieder einer Gemeinde erfasst wurden. Allerdings haben sie sich dabei auf die Umstände der Entstehung dieser Akten konzentriert. Unter dem sich verdichtenden Eindruck, dass lokale Herrschaft in der Frühen Neuzeit eine größere soziale Tiefe hatte als bisher angenommen und dass die Praxis der Herrschaft stärker von sozialen Beziehungen als von Institutionen abhängig war, wurde das Regiment lokaler Gemeinden genauer untersucht.16 Ins Blickfeld geriet dabei die Frage, wie Häuser und Gemeinde zusammenhingen, denn die Hausväter galten als mit Herrschaftsbefugnis ausgestattete Akteure. Die Entwicklung verlief uneinheitlich. Nachbarschaften erwiesen sich als veränderlich und instabil, jeweils konstituiert durch Prozesse der Inklusion und Exklusion. Auf diesem Feld war Steve Hindle besonders einflussreich. Er untersuchte die Praxis des Systems der Armenfürsorge, das die Haushalte nach dem moralischen Grundsatz der ‚verdienten‘ und der ‚unverdienten‘ Armut in Gruppen einteilte, und differenzierte Haushalte, die Almosen gaben, von solchen, die Almosen erhielten.17 Craig Muldrews Arbeit über Kreditnetzwerke kitzelte soziale, moralische und finanzielle Aspekte des
14 Natasha Korda, Shakespeare’s Domestic Economies. Gender and Property in Early Modern England. Philadelphia 2002, 11; Wendy Wall, Staging Domesticity. Household Work and English Identity in Early Modern Drama. Cambridge 2002, 6, 9, 17. 15 Susan Dwyer Amussen, An Ordered Society. Gender and Class in Early Modern England, Oxford 1988. 16 Steve Hindle, State and Social Change in Early Modern England. Basingstoke 2000, 12, 18 f. 17 Paul Griffiths/Adam Fox/Steve Hindle (Hrsg.), The Experience of Authority in Early Modern England. Basingstoke 1996, 10, 22; Steve Hindle, On the Parish? The Micropolitics of Poor Relief in Early Modern England. Oxford 2004.
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Begriffs ‚Kredit‘ heraus und beleuchtete so das Ansehen der Haushalte. Andere Historikerinnen haben den kumulativen Charakter der Familienreputation in bestimmten sozialen Gruppen untersucht, so zum Beispiel Laura Gowing, die mittels eines Fokus auf die Sexualisierung der weiblichen Ehre die Verbindung zwischen weiblicher Reputation und dem ‚allgemeinen Ruf‘ der Haushalte aufzeigt.18 Obwohl man erkannt hat, dass die Gesellschaft einer Gemeinde als ein Verbund von Haushalten gesehen werden kann, wurde der Blick insgesamt bislang vor allem auf die Gemeinde gerichtet und weniger darauf, wie die einzelnen Haushalte auf externe Stimuli reagierten. Im Hinblick auf die Reaktionen im häuslichen Binnenraum stellt die Forschung zum Wandel der Gastfreundschaft eine Ausnahme dar. Felicity Heal hat gezeigt, wie sich während der ökonomisch-demographischen Krise des 16. Jahrhunderts die Vorstellungen von der ‚Würde‘ (worth) der Almosenempfänger zu einer systematischen Betrachtung der Armen verhärteten und die Praxis des häuslichen Almosengebens abnahm zugunsten einer Fürsorge, die durch die Gemeinde, die Stadt und Institutionen organisiert wurde. Auf diese Weise entstand eine formale Trennung zwischen der Praxis der Gastfreundschaft der Reichen und dem Almosengeben an die Armen, die zuvor in der Kultur des Haushalts latent vorhanden gewesen war.19 Während der letzten Jahrzehnte haben Historiker die ganze Bandbreite unterschiedlicher Beziehungen zwischen Hausbewohnern untersucht und diese in Relation zu den jeweiligen Gemeinschaften, denen sie angehörten, gesetzt.
2 Das Haus als materielles Gebäude Die bislang in diesem Artikel vorgestellten Methoden und Quellengruppen haben eine Gemeinsamkeit: Außer acht bleibt der materielle Aspekt der Gebäude, in denen Familien lebten und spezifische Praktiken ausgeübt wurden. Das ‚Haus‘ figuriert insofern mehr oder weniger als ein analytisches Konzept anstelle eines mit Bedeutungen ausgestatteten Raums, der häusliches Leben zugleich prägt und davon geprägt wird. Das materielle Gebäude des Hauses wurde allerdings relevant für diejenigen Historiker, die es als zentralen Ort von Produktion und Konsumption während der Frühen Neuzeit verstanden. Für diese Forscher ist ‚Haushalt‘ eine ökonomische Kategorie. Ihr Forschungsprogramm wurde nicht so sehr von anthropologischen Perspektiven auf die Bedeutung von Objekten, sondern von ökonomischen Ideen einer
18 Craig Muldrew, The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England. Basingstoke 1998; Laura Gowing, Domestic Dangers. Women, Words, and Sex in Early Modern London. Oxford 1998. 19 Keith Wrightson, The Politics of the Parish in Early Modern England, in: Griffiths/Fox/Hindle (Hrsg.), Experience of Authority (wie Anm. 17), 10–46, hier 13; Felicity Heal, Hospitality in Early Modern England. Oxford 1990, 392 f.
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consumer culture bestimmt. Dieser Bezug wird etwa in der Einleitung zu der größten Studie zu Nachlassinventaren deutlich, in der die Verfasser herausarbeiten, dass sie das klassische Paradigma zur Entstehung des Kapitalismus aus der Perspektive des Haushalts betrachten. Sie untersuchten die Bedingungen für den Erwerb neuer Typen von Konsumgütern im späten 17. und im 18. Jahrhundert und folgerten, dass der Ort (location) der entscheidende Faktor war, gefolgt von Stand und Beruf sowie schließlich Vermögen. Das wichtigste Resultat des Projekts war allerdings die Überprüfung von Jan de Vries‘ These, dass „more market activity is associated with less production for use and an increase in purchased commodities.“20 Das Hauptergebnis, zu welchem die Studie anhand von englischem Quellenmaterial kam, entsprach dem Gegenteil der obigen These. Mehr Engagement auf dem Markt ging Hand in Hand mit einer Zunahme der häuslichen Produktion. Kapitalistische Unternehmer konnten demnach den größten Gewinn aus Nebenbeschäftigungen erzielen, welche deshalb nicht als bäuerliche Subsistenzwirtschaft, sondern als kapitalistische Produktion zu verstehen sind. Arbeiten über Haushaltsbücher verfolgten ähnliche Ziele im Hinblick auf die soziale Bedeutung des Gütererwerbs, indessen oft mittels einer Kombination quantitativer und qualitativer Methoden zur Feststellung von Bezügen zwischen Gütern und Identitäten. So gibt es etwa ein zunehmendes Interesse an weiblichem Konsumverhalten, vor allem in der Elite. Alice Le Strange, die Autorin einer spektakulären Reihe von Rechnungsbüchern aus der höheren gentry, hatte im Hinblick auf ihre eigene Arbeit und diejenige ihrer Dienstboten eine „consumption identity“, die auf die Organisation, Aufrechterhaltung und Versorgung des Haushalts ausgerichtet war. Das Konsumverhalten ihres Mannes zielte demgegenüber mehr auf „pleasure and leisure“.21 Aufgrund ihres Fokus auf wirtschaftshistorische Fragen und die Orientierung des Hauses am Markt haben sich diese Studien größtenteils nicht auf die materiellen Eigenschaften der Objekte eingelassen, die angeblich das Thema ihrer Untersuchung sind. Indes haben Arbeiten über noch vorhandene Gebäude wichtige Erkenntnisse über Formen und Funktionen von Häusern erzielt, aber oftmals wenig Interesse an deren Bewohnern noch an den Gütern darin gezeigt. Kunst- und Architekturhistoriker, die sich mit Häusern als bewohntem Raum und ihrer Anbindung an soziale Entwicklungen auseinandergesetzt haben, haben die sozialen Eliten untersucht. Häuser
20 Mark Overton u. a., Production and Consumption in English Households, 1600–1750. London 2012 [2004], 64. Vgl. auch die älteren Arbeiten Carole Shammas, The Pre-Industrial Consumer in England and America. New York 1990; Lorna Weatherill, Consumer Behaviour and Material Culture in Britain 1660–1760. 2. Aufl. London 1996. 21 Jane Whittle/Paul Griffiths, Consumption and Gender in the Early Seventeenth-century Household. The World of Alice Le Strange. Oxford 2012, 242. Vgl. auch Catherine Richardson/Mark Merry (Hrsg.), The Household Account Book of Sir Thomas Puckering of Warwick, 1620. Living in London and the Midlands. Stratford-upon-Avon 2012.
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wurden dabei als Ausdruck des Geschmacks und der Werte ihrer Erbauer verstanden. Mark Girouards einflussreiches Werk „Life in the English Country House“ beginnt mit der provokativen Frage: „What were country houses for?“ Seine Antwort lautet: Sie funktionierten als „power houses“, d. h. als Hauptquartiere, von denen aus die umliegenden Anwesen verwaltet wurden, aber auch als Symbole für Reichtum und Einfluss ihrer Besitzer. Insofern bestand ein Konnex zwischen dem Haus und der Familienidentität. Alice Friedman bezieht sich auf Girouard, wenn sie in ihrem Werk „House and Household in Elizabethan England“ Architektur und soziale Beziehungen als sich wechselseitig beeinflussend versteht.22 Sie verweist auf sowohl die Schwierigkeiten als auch den Gewinn von Studien wie ihrer eigenen, die sich auf eine einzige Familie und ihre Häuser konzentrieren. Zeitskalen von Häusern und Familien verlaufen nicht deckungsgleich. Die sozialen Beziehungen entwickeln sich rasanter als die langsamere Geschwindigkeit des Wandels der Gebäude. Friedmans Bild vom Haus als Palimpsest, das von den aufeinander folgenden Generationen sukzessive fortgeschrieben wird, passt sowohl zu ihrem am Gebäude orientierten Ansatz als auch zur langen Dauer der Beziehungen, die Eliten zu ihren Häusern unterhalten. Experten auf dem Gebiet der Geschichte traditionellen regionalen Bauens haben sich auch für die Häuser in anderen Schichten der Gesellschaft interessiert. Die wissenschaftliche Aufregung um die ‚große Umbauphase‘ des 16. und 17. Jahrhunderts betraf die Datierung, wann Zwischendecken in die mittelalterlichen Hallen eingezogen und gemauerte Kamine eingebaut wurden, um Wärme und zusätzlichen Raum im Obergeschoss zu gewinnen.23 Diese Arbeiten beruhen oft auf lokalen Fallstudien sowie Typologien und Periodisierungen von Gebäuden. So zielt Nat Alcocks Studie über das Dorf Stoneleigh in Warwickshire darauf ab, die ‚Stille‘ der Häuser mit dem ‚schrillen Geschwätz‘ der Inventare zusammenzubringen. In einem innovativen Ansatz nutzt Alcock Pläne von Grundstücken, um Besitz zu lokalisieren, und rekonstruiert mittels Zeichnungen die Situierung von Objekten in Räumen. Eine interessante interdisziplinäre Studie über die Hafenstadt Sandwich in Kent zielt ebenfalls durch den Einbezug von vorhandenen Gebäuden, Archäologie und historischer Forschung darauf ab, eine besonders gut erhaltene Gemeinde zu rekonstruieren. Obwohl behauptet wird, dass Gebäude, Archäologie und Akten gleichgewichtig berücksichtigt worden seien, geschieht dies vor allem zum Zweck, die Entwicklung des physischen Grundrisses der Stadt zu verstehen. Dies gehört sich so für ein Projekt, das von ‚English Heritage‘
22 Mark Girouard, Life in the English Country House. A Social and Architectural History. Harmondsworth 1980, 2 f.; Alice Friedman, House and Household in Elizabethan England. Wollaton Hall and the Willoughby Family. Chicago 1989, 4 ff. 23 Colin Platt, The Great Rebuildings of Tudor and Stuart England. Revolutions in Architectural Taste. Abingdon 1994.
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gefördert wurde. Aber das Ergebnis der Studie ist, dass die Gebäude quasi unabhängig von ihren Bewohnern betrachtet werden.24 Einer der wenigen Wissenschaftler, der allgemeine Fragen der Sozialgeschichte mit Blick für den materiellen Wandel des Hauses angeht, ist Matthew Johnson. In einem Buch, das Häuser als „part of a material and symbolic framework for the everyday actions that created history“ betrachtet, skizziert er einen Wandel vom ‚offenen‘ zum ‚geschlossenen‘ Wohnen. Für das ‚offene‘ Wohnen unterstreicht er die Zentralität der offenen Halle als nicht-separierter Raum, daneben auch offene Fenster und Türen, die enge Verbindungen zwischen Haus und Bauernhof, Haushalt und Nachbarn ermöglichten. Damit offeriert er das Modell eines von innen und außen durchlässigen Hauses. Indessen wurde dieses Modell ab den 1560er Jahren durch das Modell eines ‚geschlossenen Hauses‘ ersetzt: aufgeteilt in spezifische Sphären für bestimmte Tätigkeiten wie die Küche für das Kochen und die Stube für die Muße. Johnson führt diesen Unterschied auf die Betonung des Individuums und die Entwicklung des Selbst im Protestantismus zurück. In einer Studie zum von ihm so genannten ‚Kontext‘ versucht Johnson, die Veränderungen quasi von innen her zu betrachten und zu verstehen, was der Prozess der Abschließung für die Bewohner der Gebäude und ihre sozialen Beziehungen bedeutete.25 Außerhalb der akademischen Welt wurden Arbeiten zur materiellen Kultur des Hauses vor allem von Archäologenteams und Museumskuratoren durchgeführt, was die Ergebnisse strukturierte. Maßgeblich für diese Art der Forschung und der Publikationen sind erstens die Klassifizierung von Werkstoffen und zweitens die Techniken.26 Auf diese Weise werden die verschiedenen Typen der Objekte, die den häuslichen Binnenraum in der Frühen Neuzeit ausmachten, jeweils separat behandelt. Holzmöbel und Textilien, zum Beispiel, werden in Publikationen in unterschiedlichen Kapiteln oder in gänzlich unterschiedlichen Publikationen abgehandelt. Vergleiche werden eher zwischen gleichen Materialien angestellt als zwischen verschiedenen Gütern in ein und demselben Haushalt. Wenn ein Bewusstsein für die Situierung von Objekten vorhanden ist, zum Beispiel in der archäologischen Literatur über Lagerstätten, fällt es oft schwer, diese mit dem Wohnraum in einen Zusammenhang zu bringen. Sog. record linkage zwischen Nachlassinventaren und Lagerstätten ist kaum direkt möglich, und wenn es machbar ist, archäologische und urkundliche Quellen zu einem Ort zu analysieren, fällt es schwer, die disziplinären Gräben zwischen Archäologen und Historikern zu überbrücken. Obwohl es viele wertvolle Arbeiten in
24 Nat Alcock, People at Home. Living in a Warwickshire Village 1500–1800. Chichester 1993, 3 f.; Helen Clarke u. a. (Hrsg.), Sandwich – the ‚Completest Medieval Town in England‘. A Study of the Town and Port from its Origins to 1600. Oxford 2010, xii. 25 Matthew Johnson, Housing Culture. Traditional Architecture in an English Landscape. London 1993, x, 181. 26 Vgl. z. B. Geoff Egan, Material Culture in London in an Age of Transition. London 2005 sowie Liz Arthur, Embroidery 1600–1700 at the Burrell Collection. London 1995.
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der nicht veröffentlichten archäologischen Literatur gibt, finden nur wenige ihren Weg in die historiographischen Mainstream-Publikationen. Bei der Entwicklung des Forschungsfelds zur Materialität des Haushalts spielen Museen eine Rolle, sowohl aufgrund ihrer Quellenbestände als auch als Forschungsinstitutionen eigenen Typs. Hier können zwei verschiedene Ansätze ausgemacht werden: zum einen zur Ästhetik der Wohngestaltung, zum anderen zur Pragmatik des Alltags. Für den ersten Ansatz stehen Projekte wie das ‚Centre for the Study of the Domestic Interior‘, das gemeinsam vom ‚Royal College of Art‘, dem ‚Victoria and Albert Museum‘ und der ‚University of London‘ geführt wird. Diese Institution ging im Hinblick auf Haus und Haushalt zum größten Teil von kunsthistorischen Ansätzen aus. Das Ziel war es, neue Geschichten über das Zuhause, den Hausrat und häusliche Repräsentationen anzustoßen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem Letzteren lag. Konkret ging es um die Erforschung von räumlichen Grundrissen und Gegenständen, ihre Beschreibung, Nutzung und die diesbezüglichen Einstellungen; zudem darum, die Forschungsagenda durch einen transdisziplinären Dialog und ein komparatives Verständnis von Häuslichkeit zu verändern. Allerdings muss man sagen, dass sich diese Agenda dann ziemlich stark in Richtung Kunstgeschichte und Italien neigte. Ein solcher Ansatz findet sich auch in den Ausstellungen des ‚Geffrye Museum of the Home‘, die Wohnzimmer und Gärten der städtischen Mittelklasse zeigen und mit diesem Fokus die Beziehung zwischen sozialem und Verhaltenswandel sowie die Veränderungen in puncto Geschmack und Stil reflektieren. Das Haus wird hier stark als ästhetische Umgebung verstanden. Da die Sammlungen des ‚Geffrye‘ vor allem der Geschichte des Designs gewidmet sind, erscheint die Frühe Neuzeit in erster Linie als ein Anker der Modernität.27 Das ‚Weald and Downland Museum‘ steht als ein Beispiel für ein Freilichtmuseum rekonstruierter Gebäude. Es wurde 1970 gegründet, um repräsentative Beispiele der regionalen Baukultur aus dem Südwesten Englands zu erhalten und so ein gesteigertes Bewusstsein in der Öffentlichkeit für die gebaute Umgebung zu erzeugen.28 Es geht bei diesem Ensemble von fünfzig Gebäuden weniger um die Ästhetik der Objekte. Interessant sind vielmehr die räumlichen Aspekte der Alltagserfahrung und die Möglichkeit, soziale und zeitliche Bewegungsmuster um die Häuser herum zu untersuchen. Bis jetzt gibt es kein Projekt über Alltagserfahrungen (lived experiences), das mit dem Fokus des oben genannten ‚Centre‘ auf Repräsentationen vergleichbar wäre.
27 Vgl. Arts & Humanities Research Centre, Centre for the Study of Domestic Interior, URL: http:// csdi.rca.ac.uk/ (Zugriff: 23. 12. 2014); The Geffrye Museum of the Home, www.geffrye-museum.org.uk/ (Zugriff: 23. 12. 2014). 28 Weald and Downland Museum, www.wealddown.co.uk/ (Zugriff: 23. 12. 2014).
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3 Disziplinäre Trennungen überbrücken Eine neue Konjunktur interdisziplinärer Projekte hat begonnen, den Graben zwischen der Geschichte der Familie und der Geschichte des materiellen Haushalts zu überbrücken. Es lässt sich ein zunehmender Konsens feststellen, dass wichtige Themen der Sozialgeschichte einen Ansatz erfordern, der die verschiedenen Arbeitsfelder zusammenbringt. Allgemeine Themen wie Privatheit, Wohnlichkeit, Stand, Identität und die geschlechtsspezifische Erfahrung des Haushalts müssen mit den physischen Gegebenheiten der häuslichen Erfahrung verbunden werden, um Theorie und Praxis in ihrer Wechselbeziehung zu berücksichtigen. Einige kurze Beispiele verdeutlichen die Schwerpunkte dieser Forschungsrichtung. So hat Jane Whittle die Spannungen zwischen Matthew Johnsons These, dass die zunehmende Spezialisierung des häuslichen Raums in ‚geschlossenen‘ Häusern zu einer Marginalisierung der weiblichen Hausarbeit führte, und Sara Pennells Feststellung, dass das Resultat eher eine Bewegung des sozialen Zentrums in das Haus hinein als eine Segregation der Arbeit der Frauen war, untersucht. Mit Blick auf Inventare, Rechnungsbücher und stehende Gebäude ist das Ergebnis für Whittle, dass „well before productive work was commonly located away from the house, there was a trend of segregating working from non-working areas within the home, particularly in middling and elite houses. However, this is qualified by the fact that women’s and servants‘ work remained spread throughout the house, and by an alternative dynamic experienced by poorer laboring households.“29 Mit anderen Worten: Geschlecht, Stand und häuslicher Raum bilden ein wichtiges Dreieck, um häusliche Praxis zu verstehen. Die Beschäftigung mit der Art und Weise, wie physischer Raum soziale Beziehungen formt, wird in einigen Arbeiten über frühneuzeitliche Konzepte von Privatheit aufgegriffen. Herausragend ist die Arbeit von Lena Orlin, die anhand einer großen Bandbreite von Quellen die materielle Seite der Privatheit und deren Darstellung in Kunst und Literatur untersucht. Als Methode verfolgt sie ‚Gucklöcher‘, von tatsächlichen Löchern in Gebäuden, über Darstellungen in schlüpfrigen Geschichten bis hin zu Gerichtsakten über Sittenvergehen, um festzustellen, dass Privatheit für die meisten Zeitgenossen des Elisabethanischen Zeitalters weniger eine Sache der materiellen Bedingungen als des konsensualen Aushandelns war.30 Mittlerweile können verschiedene frühneuzeitliche Praktiken in spezifischen Räumen des Hauses einfühlsamer erkundet werden, nämlich aus dem Blickwinkel der Subjekte. Religiöse Praktiken stellen dabei ein gutes Beispiel dar. Zur Erläuterung
29 Jane Whittle, The House as a Place of Work in Early Modern Rural England, in: Home Cultures 8, 133–150, hier 134. 30 Lena Orlin, Locating Privacy in Tudor London. Oxford 2007, 173. Vgl. auch Meldrum, Domestic Service (wie Anm. 12), 11.
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des veränderten Untersuchungsfokus aufgrund des Shifts von Normen zur Praxis hat Andrew Chambers ein amüsantes Beispiel formuliert: „It is better to think of textual experience as located in a distinctly domestic context – as it was for Alice Thornton, who was pecked in the eye by a chicken while she wrote her diary – than simply in the abstract world of ideas so often described by historians of intellectual thought and historians of reading.“ Ein weiteres einschlägiges Beispiel für die Verortung abstrakter Ideen stellt Tara Hamlings Arbeit über den Hausgebrauch religiöser Symbole nach der Reformation dar. Dabei untersucht sie deren Zweck und Betrachtung im häuslichen Raum sowie die Art und Weise, wie die Akteure die Symbole behandelten – mit dem Ergebnis einer signifikanten Kontinuität der Praxis aus der vorreformatorischen Zeit. Auch die von Alec Ryrie und Jessica Martin vor kurzem edierte Sammlung „Private and Domestic Devotion“ (mit einem Begleitband zu „Worship and the Parish Church in Early Modern Britain“) zielt darauf ab, die Balance zwischen Praxis, Erfahrung und Normen wiederherzustellen.31 Die großen shifts in diesen Arbeiten zeigen, dass das Haus im frühneuzeitlichen England gerade ein eigenständiges interdisziplinäres Thema wird. Im Zentrum dieses Forschungsansatzes steht das Desiderat, häusliche Erfahrung (experience) zu verstehen, um so zu erkunden, wie Norm und Praxis, der Alltag und das Ästhetische (in puncto Literatur, Theater und Bildende Kunst) in ihren Wechselwirkungen Sinn hervorgebracht haben könnten. Bis jetzt haben solche Arbeiten über das, was wir häusliche Kultur nennen könnten – d. h. ein holistischer Ansatz zu den Beziehungen zwischen Menschen und Gebäuden – zumeist die Elitenerfahrung betrachtet. Mit Blick auf die Oberschichten entstanden Country House Culture-Studien, die durch ein literarisches Interesse an Häusern als Orten des Konsums, und zwar nicht nur von Objekten, sondern auch von kulturellen Gütern wie Theaterstücke, Gedichte und Unterhaltung, stimuliert wurden. Kari Boyd McBrides Buch „Country House Discourse in Early Modern England“ zeigt, wie der Diskurs alles durchdringt. Verschiedene Genres, von polemischer und ächtender Literatur bis zu Gemälden und Gedichten, enthalten Repräsentationen für eine Performanz der Legitimität.32 Unterhalb der Ebene der Eliten sind solche Arbeiten schwieriger auszuführen, da die Belege fragmentarischer sind und weniger Beispiele für reflektierendes oder imaginatives Schreiben wie etwa Briefe, Tagebücher, Theaterstücke oder Gedichte vorhanden sind, die häusliches Leben nicht nur aufzeichnen, sondern interpretieren. Immerhin gibt es einige Studien zur häuslichen Erfahrung in mittleren Schichten. In
31 Andrew Cambers, Godly Reading. Print, Manuscript and Puritanism in England, 1580–1720. Cambridge 2011, 93; Tara Hamling, Decorating the ‚Godly‘ Household. Religious Art in Post-Reformation Britain. Newhaven 2010, 4, 284; Alec Ryrie/Jessica Martin (Hrsg.), Private and Domestic Devotion in Early Modern Britain. Farnham 2012; vgl. den Artikel von Tara Hamling in diesem Band. 32 Kari Boyd McBride, Country House Discourse in Early Modern England. A Cultural Study of Landscape and Legitimacy. Farnham 2001, 2.
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dem Kapitel zu ‚Chief Inhabitants‘ und ‚Material Culture‘ seines Buchs „The Middle Sort of People in Provincial England 1600–1750“ erkundet etwa Henry French Schlüsselaspekte wie die Frage der Nachahmung und der Präsenz oder Absenz einer kohärenten bourgeoisen materiellen Kultur.33 In meiner eigenen Arbeit untersuche ich das Haus der Mittelschichten im Hinblick darauf, wie es sich angefühlt haben mag, in solch einer Behausung zu wohnen. Ein interdisziplinäres Netzwerk aus Geistesund Naturwissenschaftlern, Konservatoren, Museumskuratoren und Heimatpflegern hat verschiedene Wege erkundet, häusliche Textilien zu analysieren und historisieren. Dabei wird zum Beispiel mit der sog. Blickregistrierung experimentiert, um zu messen, wohin und wie lange wir in unsere Umgebung schauen. Meine zusammen mit Tara Hamling verfasste Monographie „A Day at Home in Early Modern England“ verfolgt das Ziel, die Gleichzeitigkeit häuslicher Erfahrung aufzuzeigen, d. h. die unterschiedlichen Handlungen in verschiedenen Räumen und die Verbindungen zwischen Räumen und Aktionen.34 Dieser Ansatz versucht zu verstehen, wie Menschen ihre Häuser als Entitäten und Umgebungen wahrnahmen. Und der Ansatz ist sozusagen ereignisorientiert: Der Haushalt im weiten Sinne, d. h. als Vereinigung von Haus, Haushalt und Besitz, existiert nur ‚performativ‘, nämlich insofern die Individuen die Räume und Objekte in ihren häuslichen Aktivitäten nutzen. Um diese Ereignisse zu verstehen, müssen wir so viele Arten von Belegen wie möglich zusammenführen: noch vorhandene Gebäude und ihre innere Ausstattung, Wohnobjekte, gedruckte und archivalische Quellen, Ratgeberliteratur, Testamente und Inventare, Gerichtsakten, Rechnungsbücher, Tagebücher, Briefe und Theaterstücke etc. Das Gleichgewicht zwischen materiellem und familiärem Haushalt genauer zu finden, heißt, den starken wechselseitigen Einfluss von Menschen und häuslichen Räumen aufeinander zu reflektieren. Als besonders vielversprechend erweist sich dabei der konzentrierte Diskurs über das Thema in einer Epoche, in der man sich das Haus als ‚a man’s castle‘ vorstellen konnte. Aus dem Englischen: Joachim Eibach
33 Henry French, The Middle Sort of People in Provincial England 1600–1750. Oxford 2007, 198. 34 Tara Hamling/Catherine Richardson, A Day at Home in Early Modern England. Newhaven 2015.
Dionigi Albera
Das Haus in der italienischen Forschungslandschaft: Vielfalt und Kontextualisierung Der italienische Beitrag zur Geschichte der Familie in Europa scheint unter der Überschrift ‚Vielfalt‘ zu stehen. So bemerken Richard Saller und David Kertzer in der Einleitung eines wichtigen Sammelbands über die Familie in Italien in zeitlich übergreifender Perspektive, dass die Beiträge des Bands „point to a picture of diversity of family values and practices within and between Italian communities that amounts to a fundamental critique of both developmental accounts and typological analysis.“1 Italien war über einen langen Zeitraum durch eine starke geographische, soziale, kulturelle und sprachliche Heterogenität geprägt. Die politische Einigung Italiens erfolgte spät, und über Jahrhunderte hinweg war das Land in mehrere souveräne Staaten geteilt, wobei einige von ausländischen Mächten beeinflusst oder beherrscht wurden. Diese Vielfalt hat sich auf die Haupttendenzen der italienischen Forschung über das Haus ausgewirkt. Den Auftakt der Forschung machten, wie im Folgenden näher aufgezeigt wird, Untersuchungen der Regierung im 19. Jahrhundert, die zum ersten Mal verlässliche Daten über Häuser, Wohnverhältnisse und Haushalte bereitstellten, gefolgt von statistisch angelegter Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die substanzielle Informationen über das materielle Leben von Bauern- und Arbeiterfamilien in mehreren Landesteilen zusammenstellten. Sodann wird auf die große Menge an geographischer Forschung mit regionalen Schwerpunkten einzugehen sein, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts entstand. Am Ende soll das beträchtliche Wachstum der Familiengeschichte während der letzten Jahrzehnte anhand dreier Hauptansätze skizziert werden: der household economics approach, der home approach sowie der kinship approach. Die in der italienischen Forschung bevorzugten Leitbegriffe sind ‚Familie‘ (famiglia) und ‚Verwandtschaft‘ (parentela). Im Allgemeinen hat demgegenüber der Begriff ‚Haus‘ (casa) keine zentrale Stellung eingenommen. Die Bezeichnungen für das Zusammenwohnen sind in der italienischen Sprache weniger differenziert als in anderen europäischen Sprachen. So haben etwa die Begriffe household oder ménage keine genaue Entsprechung im Italienischen. Um household und ménage zu übersetzen, haben italienische Forscher die neue Kategorie aggregato domestico konstruiert. In der italienischen Politik- und Kulturgeschichte gibt es kein klares Konzept
1 Richard P. Saller/David Kertzer, Historical and Anthropological Perspectives on Italian Family Life, in: dies. (Hrsg.), The Family in Italy from Antiquity to the Present. New Haven 1991, 1–20.
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des ‚Hauses‘ als Begriff für Macht und Ordnung. Allerdings deckt das Wort casa eine große Zahl an Bedeutungen ab.
1 Frühe Analysen und Untersuchungen über Wohnverhältnisse Nach der Einigung des Landes (1861) untersuchten einige offizielle Erhebungen die Lebensverhältnisse der Massen. Das Haus und die Familie waren dabei wiederholt Thema. Allerdings sind die daraus hervorgegangenen Dokumentationen uneinheitlich und wenig systematisch. Die offiziellen Bevölkerungszählungen, die alle zehn Jahre durchgeführt wurden, enthielten einige Informationen über den Wohnungsbestand. Insgesamt zeigte sich ein Bild stark überbelegter Häuser. Im Jahr 1881 betrug der nationale Durchschnitt 1,65 Bewohner pro Zimmer. Die Situation verbesserte sich nur wenig bis 1931 mit einem Index von 1,36. Auch 1951 hatte sich die Lage kaum verändert (1,34). Erst in den folgenden Jahrzehnten ging dieser Index signifikant zurück, indem er ab 1971 unter die 1,0 fiel. Natürlich verdecken diese Durchschnittszahlen große Unterschiede. So schwankte die durchschnittliche Belegung der Zimmer 1931 beträchtlich im Hinblick auf die soziale Klasse. In der bäuerlichen Bevölkerung wohnten 1,8 Menschen pro Zimmer; in der Arbeiterschaft 1,7, im Handwerk 1,3, im Handel 1,2, unter Angestellten 1,0, unter Geschäftsleuten 0,8 und bei den Wohlhabenden 0,6 Menschen pro Zimmer.2 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichten einige genauere Untersuchungen die schwierige Lage der Arbeiterfamilien in größeren italienischen Städten. Eine Studie über eine große Zahl von Arbeiterwohnhäusern in Turin zeigte, dass Arbeiterfamilien in fast 90 % der Fälle nur über ein oder zwei Zimmer verfügten. In Mailand lebten zwischen 1903 und 1905 2 646 Familien mit mehr als sechs Leuten zusammengepfercht in einem einzigen Zimmer. In Florenz verfügten 26 % der Bewohner über weniger als ein halbes Zimmer pro Person, in Rom sogar 31 %. Im römischen Arbeiterviertel Testaccio fand sich eine Verdichtung von mehr als vier Personen pro Zimmer.3 Die meisten offiziellen Studien befassten sich mit den landwirtschaftlichen Klassen, die damals die Mehrheit der Einwohner des Landes ausmachten. Das italienische Parlament beauftragte die erste große Untersuchung auf diesem Gebiet 1877. Sie dauerte bis 1885 und wurde in 15 regionalen Bänden publiziert. Diese nach dem verantwortlichen Ökonomen und Politiker Stefano Jacini benannte ‚Inchiesta Jacini‘ konzentrierte sich primär auf landwirtschaftliche Produktion, Landeigentümerschaft
2 Maristella Casciato, L’abitazione e gli spazi domestici, in: Piero Melograni (Hrsg.), La famiglia italiana dall’Ottocento a oggi. Bari 1988, 525–587. 3 Ebd., 534 f.
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und die Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft. Den Familien- und Wohnverhältnissen wurde dabei aber auch viel Aufmerksamkeit zuteil.4 Ungefähr 20 Jahre später, 1906, förderte der italienische Ministerpräsident Giovanni Giolitti eine weitere parlamentarische Kommission zur Untersuchung der Lage der bäuerlichen Bevölkerung. Diese Untersuchung war allerdings auf die südlichen Landesteile beschränkt. Unter der Leitung des Politikers Eugenio Faina dauerte diese ‚Inchiesta Faina‘ bis 1911 und brachte die Publikation von acht Bänden hervor. Auch hier wurden die Lebensverhältnisse der Bauern berücksichtigt.5 Die Übersicht über die Bauernhäuser in den genannten Untersuchungen lässt Armut und Elend erkennen. In mehreren Gebieten des Landes waren Platzmangel, Mangel an frischer Luft und Licht, Lehmböden sowie Feuchtigkeit allgemeine Phänomene. Ärmere Bauern schliefen nachts dicht beieinander auf engstem Raum. Ganze Familien teilten ein Zimmer und oft auch ein Bett. Mehrere Beobachter zeigten sich besorgt über sexuelle Freizügigkeit. Viele Publizisten waren zudem beunruhigt über das direkte Nebeneinander von Wohn- und Arbeitsbereich und das Zusammenleben von Menschen und Tieren. In den südlichen Landesteilen liefen die Tiere oft ins Haus. Ein Beobachter bemerkte: „Das Haus wird brüderlich mit Hühnern und dem Schwein geteilt.“6 In den nördlichen Landesteilen nutzten die Menschen auch die für Tiere vorgesehenen Räume. Im Winter wurden die Stallungen zum Ort der Geselligkeit, wo die bäuerliche Familie Tag und Abend verbrachte, um Geräte zu reparieren, Wolle zu spinnen, aber auch um Karten zu spielen oder sich einfach zu unterhalten. Die Bauern konnten auch in der Scheune schlafen, um die Wärme dieses Orts auszunutzen, wie zum Beispiel empört in einer Studie über das Piemont betont wurde: „Man will es nicht für wahr halten, dass es so unbedachte Menschen gibt, die ganze Tage und Winternächte in solch einer schlechten Umgebung wie dem Stall verbringen, wo manche Bauern gern auf armseligen Pritschen schlafen oder in der Viehkrippe oder im Heukasten.“ 7 Die zahlreichen Bände dieser ‚Inchieste‘ umfassen eine große Zahl an Analysen, die von Experten vor Ort verfasst wurden und Einsichten in die Verhältnisse ländlicher Familien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vermitteln. Natürlich sind die Konsistenz der Beobachtungen und die Genauigkeit der Methode
4 Atti della Giunta parlamentare per l’inchiesta agraria e sulle condizioni della classe agricola, 15 Bde. Rom 1881–1885; Stefano Jacini, I risultati dell’inchiesta agraria. Rom 1885. Zur Einschätzung der Untersuchung vgl. Max Gallo, Une source d’histoire italienne. ‚Inchiesta Jacini‘ 1877–1885, in: Études rurales 33, 1969, 58–86; Alberto Caracciolo, L’inchiesta agraria Jacini. Turin 1976; Agopik Manoukian, La famiglia dei contadini, in: Piero Melograni (Hrsg.), La famiglia italiana dall’Ottocento a oggi. Rom 1988, 3–60; Giovanni Paoloni/Stefania Ricci (Hrsg.), L’Archivio della Giunta per l’Inchiesta agraria e sulle condizioni della classe agricola in Italia (Inchiesta Jacini) – 1877–1885. Inventario. Rom 1998. 5 Inchiesta parlamentare sulle condizioni dei contadini nelle Provincie meridionali e nella Sicilia, Bd. 8. Rom 1909–1911. Manoukian, La famiglia (wie Anm. 4). 6 Atti della Giunta parlamentare (wie Anm. 4), Bd. 7, 201. 7 Atti della Giunta parlamentare (wie Anm. 4), Bd. 8, 639.
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unterschiedlich. So basierte die ‚Inchiesta Jacini‘ auf einem Fragebogen sehr allgemeiner Art. Die ‚Inchiesta Faina‘ versuchte ein genaueres Forschungsprogramm durchzuführen; dies vor allem dank Francesco Coletti, dem Generalsekretär der Kommission, dessen Methode von den Büchern Frédéric Le Plays über die Familie inspiriert war. Allerdings folgten die lokalen Forscher nicht genau seinen Vorgaben. Diese Methode inspirierte eine sehr viel konsistentere Folgeuntersuchung, die vom Institut für Agrarwirtschaft INEA während der 1930er Jahre gefördert wurde. Die Untersuchung wurde von Arrigo Serpieri, einem Ökonomen, der zuvor mehrere Stellen in der Mussolini-Regierung bekleidet hatte, koordiniert. Der Arbeitsplan sah eine strikte Beachtung der Methode von Le Play vor. Die Vorliebe für Le Plays Ansatz passte zur Vision des Faschismus von der bäuerlichen Familie als Säule patriotischer Tugend, Ordnung und Disziplin. Jede Analyse sollte einen Familientyp erfassen, der als stellvertretend für die ganze Region gesehen wurde. Bei der Arbeit mit diesen Familientypen sollten die Forscher mittels eines strukturierten Fragebogens umfassende Daten sammeln. Im Zentrum standen die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Familie, ihre Geschichte, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel, die Lebensbedingungen (Essen, Wohnen). Dies implizierte ferner das Budget der Familie, die Verwendung der Mittel und die Arbeitsteilung. Auf diese Weise wurden mehr als hundert detaillierte Familienanalysen in 16 Bänden produziert8, gefolgt von einem Syntheseband.9 Getrübt wurde die analytische Methode durch große Probleme hinsichtlich der Repräsentativität der Samples. Die Behauptung der Objektivität stand im Widerspruch zur Undurchsichtigkeit der Auswahl der untersuchten Familien. Mit der Annahme, dass eine bestimmte Familie einen ‚Typ‘ repräsentiere, konnte man leicht einige Probleme kaschieren und es so vermeiden, die faschistische Politik im Hinblick auf ländliche Gebiete in ein schlechtes Licht zu rücken.10 Die politische Voreingenommenheit der Untersuchung wird zum Beispiel in der triumphierenden Vision eines Forschers deutlich, der über die Marken feststellte, dass diese Region in Zentralitalien dank der Errungenschaften des Faschismus statt von einer aurea mediocritas (Mittelmäßigkeit), wie sie fünfzig Jahre zuvor die ‚Inchiesta Jacini‘ aufgezeigt habe, nun von einer aurea ubertas (‚Fruchtbarkeit‘) geprägt sei.11 Trotz der offensichtlichen Grenzen
8 Monografie di famiglie agricole, 16 Bde. Rom 1931–1939. 9 Ugo Giusti, Aspetti di vita rurale italiana. Relazione riassuntiva delle monografie. Rom 1940. 10 Roberto Tolaini, I contadini italiani e le loro famiglie negli anni Trenta. Le ricerche dell’Inea di Arrigo Serpieri tra ruralismo e modernizzazione, in: Quad. stor. 45, 2010, 359–392; ders. (Hrsg.), Contadini toscani negli anni Trenta. Le monografie di famiglia dell’Inea, 1931–1938. Ospedaletto 2005; Giovanni Favero, Storia economica e storia delle scienze sociali. A proposito dell’edizione critica delle monografie di famiglie agricole toscane degli anni ‚30, in: Note di lavoro del Dipartimento di Scienze Economiche, Università Ca’ Foscari di Venezia 17, 2006, 1–20. 11 Luca Gorgolini, Un lungo viaggio nelle Marche. Scritti di storia sociale e appunti iconografici dal web. Diss. Bologna 2007, 142 f.
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in puncto Aussagekraft und trotz des ideologischen Charakters führte die Arbeit des INEA zur Erfassung einer beträchtlichen Menge an Informationen. Heute können wir diese Analysen als historische Dokumentationen des materiellen Lebens bäuerlicher Familien dieser Zeit wie auch der ideologischen Perspektiven der vom Faschismus beeinflussten Eliten sehen.
2 Geographische Forschung über ländliche Häuser Seit den 1920er Jahren entstand im geographischen Milieu eine zweite wichtige Forschungsrichtung zum Thema Haus. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um das wichtigste kollektive Forschungsprojekt der italienischen Geographie des 20. Jahrhunderts. Es dauerte fünfzig Jahre. Beteiligt waren mehrere Generationen von Geographen, die Häuser in verschiedenen ländlichen Regionen Italiens untersuchten. Gefördert vom Nationalen Forschungsrat (CNR), wurden zwischen 1938 und 1970 dreißig Bände produziert. Renato Biasutti, einer der führenden italienischen Geographen und Anthropologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unterstützte und leitete das Projekt. Er publizierte 1938 den ersten Band der Reihe, der der Toskana gewidmet war. In der ersten Phase verfolgte Biasutti das Programm einer typologischen und morphologischen Analyse. So legte er den Schwerpunkt auf die genaue Untersuchung der Gebäudestrukturen und der Baumaterialien. Sein Forschungsaufriss unterschied sich von dem etwa zeitgleichen von Albert Demangeon in Frankreich12, der die Definition ländlicher Haustypen an Hausplänen, dem den Menschen zugestandenen Raum, den Tieren und Arbeitsgeräten in Verbindung mit sozialen Beziehungen der Produktion festmachte. Für Biasutti waren wirtschaftliche Kriterien nicht zentral, und sie sollten nicht die Erforschung ethnischer und kultureller Faktoren verdecken.13 Folglich förderte er die Erforschung formaler Charakteristika ländlicher Häuser. Allerdings wurden die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge nicht ignoriert und erhielten in diesem Forschungsprojekt der italienischen Geographen zunehmende Relevanz, so auch in Biasuttis Arbeit über die Toskana.14 In der Zwischenkriegszeit spiegelte auch die geographische Forschung über Bauernhäuser das faschistische politische Klima. Mit ihrem Fokus auf ethnische und
12 Albert Demangeon, L’habitation rurale en France. Essai de classification des principaux types, in: Ann. de géographie 29, 1920, 352–375. 13 Renato Biasutti, Per lo studio dell’abitazione rurale in Italia, in: Riv. Geografica Italiana 1, 1926, 1–24; ders., Ricerche sui tipi degli insediamenti rurali in Italia, in: Memorie della Reale società geografica italiana 17, 1931, 1–25. 14 Lucio Gambi, Renato Biasutti e la ricerca sopra le dimore rurali in Italia, in: ders./Giuseppe Barbieri (Hrsg.), La casa rurale in Italia. Florenz 1970, 3–14, hier 5–10; Renato Biasutti, La casa rurale in Toscana. Florenz 1938.
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kulturelle Anliegen zielte die Forschung klar darauf ab, nationale Modelle ländlicher Wohnformen zu identifizieren. So wird eine nationalistische Inspiration in Bruno Nices Band über Julisch Venetien sichtbar.15 Diese Region umfasste von Italien nach dem Ersten Weltkrieg annektierte Territorien an der nordöstlichen Grenze mit einem hohen Anteil Slowenisch oder Kroatisch sprechender Bevölkerung. Die ländliche Architektur wurde in diesem Fall als ein zu erhaltendes und restaurierendes Denkmal für die Expansion der italienischen Ethnizität in Richtung Balkan betrachtet. In einer zweiten Phase, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und bis in die 1970er Jahre dauerte, entwickelte die geographische Forschung einen ausgewogeneren Ansatz. Die später verfassten Monographien bevorzugten die Analyse der ökonomischen Funktionen des Hauses, und zwar im Rahmen landwirtschaftlicher Organisation, der Produktionsverhältnisse sowie der Stadt-Land-Beziehungen. Während der 1950er Jahre kann man auch eine zunehmende Beachtung der historischen Dimension und eine wachsende Bedeutung von Archivforschung feststellen.16 Giuseppe Barbieri und Lucio Gambi, die nach Biasuttis Rückzug 1958 die Leitung des Programms übernahmen, förderten diese historische Perspektive. Der von ihnen publizierte Syntheseband war entlang sozioökonomischer Aspekte gegliedert. Er unterschied zwischen Gebieten mit geringem Besitz, solchen mit Pachtverhältnissen und solchen mit großem Landbesitz.17 Allgemein erzielte der historisch orientierte Ansatz der italienischen Geographen über ländliche Häuser interessante Resultate. Ein Beispiel sind die detaillierten Studien über einen Typ von Landhaus, der in vielen Gebieten der Poebene vorkommt: die cascina, bestehend aus Ziegelsteinwänden, die mehrere Innenhöfe umgeben. Diese Struktur sah Häuser für den Hofpächter und für verschiedene Kategorien von Landarbeitern (mit Zeitverträgen) vor, dazu Stallungen, Scheunen, Molkereien etc. Die cascine standen einzeln in der Landschaft und konnten manchmal mehr als einhundert Menschen umfassen. Sie ähnelten kleinen unabhängigen Dörfern, teilweise mit einer Schule und einer Kapelle. Einige Arbeiten haben die Anfänge und die Entwicklung dieses Ensembles seit der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der Ausbildung einer kapitalistischen Landwirtschaft in der Region untersucht.18
15 Bruno Nice, La casa rurale nella Venezia Giulia. Bologna 1940. 16 Gambi, Renato Biasutti (wie Anm. 14), 11–13. 17 Gambi/Barbieri (Hrsg.), Casa rurale (wie Anm. 14). 18 Cesare Saibene, La casa rurale nella pianura e nella collina lombarda. Florenz 1955; Luigi Candida, La casa rurale nella pianura e nella collina veneta. Florenz 1959; Giuseppe Dematteis, La casa rurale nella pianura vercellese e biellese. Turin 1965; Aldo Pecora, La ‚corte‘ padana, in: Gambi/Barbieri (Hrsg.), Casa rurale (wie Anm. 14), 219–244; Giacomo Corna-Pellegrini, La casa della pianura padana. Mailand 1979, 50–91; Guido Crainz, La cascina padana. Ragioni funzionali e svolgimenti, in: Piero Bevilacqua (Hrsg.), Storia dell’agricoltura italiana, Bd. 1: Spazi e paesaggi. Venedig 1990, 37–76.
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3 Der Aufstieg der italienischen Familiengeschichte: das Haus kontextualisiert Seit den 1970er Jahren kann man eine starke Zunahme der Forschung zur Familiengeschichte beobachten. Die Entwicklung der italienischen Forschung auf diesem Gebiet war Teil eines internationalen Trends, allerdings – wie wir sehen werden – in einer eigenen Gestalt. Wie allgemein bekannt ist, konzentrierte sich die Diskussion häuslicher Verhältnisse damals auf den Begriff ‚Haushalt‘, der durch den Ansatz von Peter Laslett und anderen Forschern der Cambridge Group ins Zentrum der internationalen Debatten gestellt wurde.19 Der schnelle Erfolg der Familiengeschichte war verknüpft mit der Entdeckung der Relevanz einer seither eher vernachlässigten Quelle: Haushaltslisten bzw. sog. Seelenbeschreibungen. Auf dieser Grundlage bildeten einige gewagte Thesen in der internationalen Debatte für einige Jahrzehnte quasi das führende Paradigma. Der Ansatz verband eine quantitative Dimension – hauptsächlich eine demographische – mit einer kulturellen Dimension. Einige recht populäre Modelle generierten eine enorme interdisziplinäre Debatte. Dabei wurden einfache Korrelationen zwischen kulturellen Werten, demographischen Variablen (wie das Heiratsalter), Konstellationen des Zusammenlebens und großen sozioökonomischen Entwicklungen vorgeschlagen. Man kann in diesen Modellen eine historische Projektion bürgerlicher Wahrnehmungen auf das Haus und den Haushalt sehen. So kam es während der 1970er und 80er Jahre zu einem regelrechten Forschungsfieber, das Tausende von Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen (Historiker, Anthropologen, Soziologen, Geographen, Demographen) antrieb, Haushaltslisten vergangener Jahrhunderte in Europa zu erkunden und die Ergebnisse mittels der von der Cambridge Group vorgeschlagenen Typologie der Familienformen zu erfassen. Aufgrund des ungewöhnlichen Reichtums und der großen Zeitspanne seiner Quellen wurde Italien zu einem wichtigen Testfall, um die allgemeinen Theorien zu überprüfen. So wurde der Florentiner Kataster aus dem 15. Jahrhundert zur Grundlage für einige wegweisende Untersuchungen.20 Einige Forscher untersuchten die reichhaltigen Bestände der Haushaltslisten, vor allem die sog. status animarum aus der Frühen Neuzeit und der Moderne. Die italienischen Daten waren auch insofern entscheidend, als sie nicht mit dem übereinstimmten, was die europäischen Familienformen sein sollten. Im Gegensatz zu den Annahmen von Forschern wie Peter Laslett, der davon ausging, dass die vorherrschende Form der Familie der europäischen Vergangenheit die aus Eltern und Kindern bestehende Kernfamilie gewesen sei21, beleg-
19 Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Time. Cambridge 1972. 20 Z. B. David Herlihy/Christiane Klapisch-Zuber, Tuscans and their Families. A Study of the Florentine Catasto of 1427. New Haven 1985. 21 Laslett/Wall, Household and Family (wie Anm. 19).
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ten einige Quellen aus Mittelitalien das zahlreiche Auftreten sog. erweiterter Familien. Die dortigen Häuser waren durch die Anwesenheit von Verwandten außerhalb des ehelichen Kerns überfüllt. Dies trug zu einer Revision früherer Modelle und zur Ausarbeitung einer Geographie europäischer Familienformen bei, welche Unterschiede zwischen und innerhalb einiger Grundmuster zuließ. So wurde hauptsächlich auf der Grundlage von toskanischem Material ein mediterranes Muster vorgeschlagen, das während der 1980er Jahre für reichlich Diskussionsstoff sorgte.22 1990 gaben der italienische Soziologe Marzio Barbagli und der US-amerikanische Anthropologe David Kertzer ein Themenheft von „The Journal of Family History“ über die italienische Forschung zu dieser Thematik heraus. In der Einführung bemerkten sie, dass der italienische Fall international vor allem dank nicht-italienischer Historiker bekannt sei. Gleichzeitig stellten sie fest, dass die Familiengeschichte in der italienischen Forschung boomte, deren Ergebnisse aber mit Ausnahme einiger Publikationen auf Englisch in der Englisch sprechenden Welt kaum bekannt seien. Das Ziel des Hefts war es, diese Lage zu verbessern, indem die Arbeiten eines Dutzends italienischer Forscher und Forscherinnen vorgestellt wurden.23 Die Artikel des Hefts zeigen recht gut die Haupttendenzen der italienischen Forschung auf. Allgemein kann man nicht von einer unkritischen Übernahme von Theorien und Methoden aus dem ‚Zentrum‘ sprechen. Vielmehr reagierte die italienische Forschung zur Familiengeschichte seit den 1970er Jahren in kritischer – und manchmal streitlustiger – Weise auf die großen Theorien, die damals die Forschung in Europa prägten. Die Hauptzielscheibe der Kritik war die von der Cambridge Group postulierte demographische Haushaltsforschung. Viele Studien verdeutlichten, dass kulturalistische Theorien, die auf der Basis einer begrenzten Zahl von Haushaltsmodellen eine simple geographische Verteilung europäischer Familienformen vorsahen, durch die italienischen Daten in hohem Maße konterkariert wurden. Allerdings divergierten die Ansätze im Hinblick auf Theorien, Methoden und Quellen. Wenn es auch einen einheitlichen Ansatz – eine Art Italienische Schule – nie gegeben hat, so gibt es doch einen gemeinsamen Forschungskontext und Hintergrund. In einigen Fällen wurden Haus und Haushalt nicht als solche untersucht, sondern im Schnittpunkt verschiedener Forschungsinteressen. Man kann einen generellen Trend bei der Erforschung koresidenzieller Arrangements feststellen. In der Tat zeigt sich in der italienischen Forschung eine allgemeine Tendenz, den engen Blick auf das Zusammenwohnen in der internationalen Familiengeschichte zu kritisieren und ‚das Haus zu kontextualisieren‘.24 Selbstverständlich ist dies auf unterschiedliche Weise
22 Richard Wall/Jean Robin/Peter Laslett (Hrsg.), Family Forms in Historic Europe. Cambridge 1983; Richard Smith, The People of Tuscany and their Families in the Fifteenth Century. Medieval or Mediterranean?, in: Journ. of Family Hist. 6, 1981, 107–128. 23 Marzio Barbagli/David Kertzer, An Introduction to the History of Italian Family Life, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 369–383. 24 Dies im Sinne des von Joachim Eibach und Inken Schmidt-Voges gegründeten Arbeitskreises ‚Haus im Kontext: Kommunikation und Lebenswelt‘.
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geschehen. Ich möchte hier eine Unterscheidung von drei wesentlichen Ansätzen vorschlagen. Natürlich überbetont diese Unterscheidung wie jede Taxonomie Spaltungen, die in der Forschungspraxis nicht so gravierend ausgeprägt sind. Zudem ist die Vorgehensweise einiger Forscher relativ eklektisch, indem verschiedene Perspektiven kombiniert werden oder mitunter von einem Ansatz auf einen anderen umgeschwenkt wird.
4 Drei Ansätze Der erste Ansatz korrespondiert mehr oder weniger mit dem 1980 von Michael Anderson25 definierten household economics approach, der die ökonomischen Beziehungen hinter und jenseits der koresidenziellen Einheit als entscheidend ansieht. Mehrere Studien zeigten, dass die Arrangements des Zusammenwohnens im Italien der Frühen Neuzeit und der Moderne jeweils enorm differierten, und zwar zwischen Region und Region, zwischen Stadt und Land und zwischen sozioökonomischen Milieus. Dieser Trend wurde angeregt durch führende internationale Wissenschaftler, die über Italien arbeiteten (z. B. Christiane Klapisch-Zuber, David Herlihy, David Kertzer), und durch italienische Forscher, die über ein rein demographisches Studium häuslicher Verhältnisse hinausgingen. Koresidenz war für die meisten von ihnen eine zentrale Variable. Aber daneben wurden auch andere Aspekte wie Konsum, Reproduktion und Produktion berücksichtigt. Im Gegensatz zu kulturalistischen Interpretationen, wie sie etwa in England und Frankreich verfolgt wurden, bevorzugten einige italienische Arbeiten einen auf das Materielle bezogenen Ansatz. Dabei ist zu sagen, dass es für diesen Ansatz kein italienisches Copyright gibt, sondern er auch z. B. in Spanien, Österreich und der Schweiz recht verbreitet ist. Die starken regionalen Unterschiede auf der italienischen Halbinsel hingen mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten zusammen.26 Diese Unterschiede sind auch auf der Mikroebene fassbar. Sie wurden unter Hinweis auf soziale und tätigkeitsspezifische Kategorien erklärt.27
25 Michael Anderson, Approaches to the History of Western Family, 1500–1914. London 1980. 26 Raul Merzario, Il capitalismo nelle montagne. Strategie familiari nella prima fase di industralizzazione nel Comasco. Bologna 1989; Francesco Benigno, The Southern Italian Family in the Early Modern Period. A Discussion of Co-Residential Patterns, in: Continuity and Change 4, 1989, 165–94; Pier Paolo Viazzo, Upland Communities. Environment, Population and Social Structure in the Alps since the Sixteenth Century. Cambridge 1989; Dionigi Albera, Forme familiari nel Piemonte rurale, in: L’agricoltura nel Piemonte dell’Ottocento. Turin 1991, 185–201; Pier Paolo Viazzo/Dionigi Albera, The Peasant Family in Northern Italy, 1750–1930. A Reassessment, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 461–482; Luigi Lorenzetti/Raul Merzario, Il fuoco acceso. Famiglie e migrazioni alpine nell’Italia d’età moderna. Rom 2005. 27 Z. B. Viazzo/Albera, Peasant Family (wie Anm. 26).
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Die ländlichen Gebiete mit Pachtverhältnissen in Mittelitalien sind ein klassisches Feld für diesen Ansatz. Die bäuerlichen Pächterfamilien waren oft komplex strukturiert, da sie viele Arbeitskräfte benötigten. Die Strategie der bäuerlichen Familie musste eine Balance zwischen dem feststehenden Umfang des Lands und der Größe der Familie finden. Deswegen zeigt sich in den Haushalten der zahlreichen Pächterfamilien ein sehr hohes Ausmaß an Koresidenz von patrilinearen Verwandten. Demgegenüber bestand in den Haushalten der Landarbeiter in derselben Gegend eine geringere Neigung zu einem Zusammenwohnen von verheirateten Söhnen und ihren Eltern.28 Eines der wichtigsten Unternehmen dieser Forschungsrichtung war ein Buch von Marzio Barbagli29, in dem der Autor 1984 die Resultate seiner Auswertung demographischer Quellen vorstellte, die Ergebnisse zahlreicher Studien systematisierte und neue Forschungsperspektiven aufzeigte. Wie der Buchtitel „Unter einem Dach“ (Sotto lo stesso tetto) andeutet, wurde dabei dem Aspekt der Koresidenz große Bedeutung zugemessen, und zwar im weiteren Kontext aus dem Blickwinkel des household economics approach. Man sollte hinzufügen, dass dies für den ersten Teil des Buchs gilt. Der Titel des zweiten Teils lautete ‚Familiale Beziehungen‘. Dabei ging es in spezifischer Weise darum, das Haus zu kontextualisieren, und zwar durch eine starke Erweiterung der Quellenbasis, um ein möglichst konsistentes Bild des Alltags der Menschen zu erhalten. Barbagli präsentierte die Ergebnisse seiner Arbeit mit Briefen und mündlichen Quellen. Ferner bezog er eine große Zahl an von Historikern und Volkskundlern bereits publizierten Materialien mit ein. Damit präsentierte er das erste wichtige Resultat eines Trends der italienischen Forschung, die auch in den folgenden Jahren ziemlich dynamisch blieb. Ich möchte diesen zweiten Ansatz der Kontextualisierung home approach nennen. Es lässt sich in der Tat ein Trend von der wirtschaftlichen Dynamik, fokussiert auf Haushalte, hin zu der Erforschung von Ehrerbietung und Intimität, familialen Rollen und Ritualen, sozialer Distanz und Formen der Ansprache feststellen.30 Das Erkenntnisinteresse richtete sich auch auf die materielle Kultur, die Organisation des häuslichen Raums, Kleidung, Ernährung
28 Aurora Angeli, Strutture familiari nella pianura e nella montagna bolognese a metà del XIX secolo. Confronti territoriali, in: Statistica 43, 1983, 727–40; Vito Caiati, The Peasant Household Under Tuscan Mezzadria. A Socioeconomic Analysis of Some Sienese Mezzadri Households, 1591–1640, in: Journ. of Family Hist. 9, 1984, 111–126; Andrea Doveri, Famiglia coniugale e famiglia multinucleare. Le basi dell’esperienza domestica in due parrocchie delle colline pisane lungo il secolo XVIII, in: Genus 38, 1982, 59–95; David Kertzer, Family Life in Central Italy, 1880–1910. Sharecropping, Wage Labor and Coresidence. New Brunswick 1984. 29 Marzio Barbagli, Sotto lo stesso tetto. Bologna 1984. 30 Daniela Frigo, Il padre di famiglia, governo della casa e governo civile nella tradizione dell’economica tra Cinque e Seicento. Rom 1985; Roberto Bizzocchi, Sentimenti e documenti, in: Stud. Stor. 29, 1999, 471–486; Roberto Bizzocchi, In famiglia. Storie di interessi e affetti nell’Italia moderna. Rom 2001; Giulia Calvi, Il contratto morale. Madri e figli nella Toscana moderna. Rom 1994; dies./Isabelle Chabot (Hrsg.), Le ricchezze delle donne. Diritti patrimoniali e poteri familiari in Italia (XII–XIX secc.). Turin 1998.
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etc., zudem auf die saisonalen Veränderungen des häuslichen Lebens in Verbindung mit personaler Mobilität.31 Der auf Kontextualisierung zielende Zugang vermied es, den Haushalt methodisch in Quarantäne zu stellen; denn viele Arbeiten zeigten, dass die Grenzen des Haushalts durchlässig waren. Einige wichtige Arbeiten untersuchten das häusliche Dienstwesen sowie das Leben unverheirateter Frauen und Witwen.32 Der home approach wurde ab Mitte der 1990er Jahre von der Frauen- und Geschlechtergeschichte beeinflusst33 und ist eng mit der Kulturgeschichte verbunden. Diese Perspektive wurde in Italien durch den Reichtum der italienischen Quellen nachhaltig neu belebt. Eine tief verwurzelte Tradition der Schriftlichkeit führte hier über mehrere Jahrhunderte hinweg zu einem Überfluss an Quellen. In dieser Hinsicht sind notarielle und Gerichtsakten, neben Selbstzeugnissen, besonders relevant.34 Um die Ergiebigkeit dieser Perspektive zu ermessen, stellt wahrscheinlich Raffaella Sartis
31 Casciato, L’abitazione (wie Anm. 2); Raffaella Sarti, Spazi domestici e identità di genere tra età moderna e contemporanea, in: Daniela Gagliani/Mariuccia Salvati (Hrsg.), Donne e spazio nel processo di modernizzazione. Bologna 1995, 13–41; Isabella Palumbo Fossati, Gli interni della casa Venezia na nel Settecento. Continuità e trasformazioni, in: Giorgio Simoncini (Hrsg.), L’uso dello spazio privato nell’età dell’Illuminismo, Bd. 1. Florenz 1995, 165–79; Renzo Renzi, Il sogno della casa. Modi dell’abitare a Bologna dal Medioevo ad oggi. Bologna 1990; Maura Palazzi, Pigioni e inquilini nella Bologna del 700. Le locazioni delle ‚case e botteghe di citta‘, in: Popolazione ed economia dei territori bolognesi durante il Settecento. Atti del 3. Colloquio. Bologna 1985, 337–434; Christiane KlapischZuber, La maison et le nom, stratégies et rituels dans l’Italie de la Renaissance. Paris 1990; Sandra Cavallo, What Did Women Transmit? Ownership and Control of Household Goods and Personal Effects in Early Modern Italy, in: Moira Donald/Linda Hurcombe (Hrsg.), Gender and Material Culture in Historical Perspective. London 2000, 38–53. 32 Giovanna Da Molin, Family Forms and Domestic Service in Southern Italy from the Seventeenth to the Nineteenth Centuries, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 503–527; Angiolina Arru, The Distinguishing Features of Domestic Service in Italy, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 547–566; Jacqueline Andall/Raffaella Sarti (Hrsg.), Sonderausgabe: Servizio domestico, migrazioni e identità di genere in Italia dall’Ottocento a oggi, in: Polis. Ricerche e studi su società e politica in Italia 18, 2004; Silvia Evangelisti/Margareth Lanzinger/Raffaella Sarti (Hrsg.), Sonderausgabe: Unmarried Lives. Italy and Europe, 16th to 19th Centuries, in: EHQ 38, 2008; Maura Palazzi, Female Solitude and Patrilineage. Unmarried Women and Widows During the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 443–459; dies., Donne sole. Diritti, lavori, proprietà: Italia 1796–1911. Bologna 1996. 33 Lucia Ferrante, Legittima concubina, quasi moglie, anzi meretrice. Note sul concubinato tra Medioevo ed età moderna, in: Albano Biondi (Hrsg.), Modernità. Definizioni ed esercizi. Bologna 1998, 123–141; Giovanna Fiume (Hrsg.), Madri. Storia di un ruolo sociale. Venedig 1995. 34 Silvana Seidel Menchi/Diego Quaglioni (Hrsg.), Coniugi nemici. La separazione in Italia dal XII al XVIII secolo. Bologna 2000; dies. (Hrsg.), Matrimoni in dubbio. Unioni controverse e nozze clandestine in Italia dal XIV al XVIII secolo. Bologna 2001; dies. (Hrsg.), Trasgressioni. Seduzione, concubinato, adulterio, bigamia (XIV–XVIII secolo). Bologna 2004; dies. (Hrsg.), I tribunali del matrimonio (secoli XV–XVIII). Bologna 2007; Chiara La Rocca, Tra moglie e marito. Matrimoni e separazioni a Livorno nel Settecento. Bologna 2009; Cecilia Cristellon, La carità e l’eros. Il matrimonio, la Chiesa, i suoi giudici nella Venezia del Rinascimento (1420–1545). Bologna 2010.
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1999 publiziertes, mit einem europäischen Fokus geschriebenes, Buch „Europe at Home“ zur Geschichte der materiellen Kultur die beste Einführung dar.35 Der dritte Ansatz zur Kontextualisierung des Hauses in der italienischen Forschung schließlich kann als kinship approach definiert werden. Diese Ausrichtung ragt besonders in der microstoria heraus, d. h. der Mikrogeschichte, die sich in Italien zwischen den 1970er und den 1990er Jahren entwickelte. Einige Forscher mit Beziehungen zur microstoria haben sich ziemlich früh und sehr kritisch zu Lasletts Forschungsprogramm geäußert. Sie forderten, eine analytische Beschränkung auf den Haushalt zu vermeiden, verwiesen auf die Bedeutung von Verwandtschaft jenseits von Koresdienz und warnten vor den Verzerrungen und Irrtümern historischer Interpretationen, die den Haushalt vom umfassenden Gefüge der Verwandtschaft isolierten. Die Mikrohistoriker lehnten die spezifischen analytischen Raster zum Zweck der Interpretation aggregierter Datenmengen ab und verfolgten stattdessen das Ziel einer Rekonstruktion der Beziehungssphären von Individuen und Familien: Blutsbande, Schutz, Kooperation und Unterstützung.36 Der internationale Einfluss dieser Richtung hat besonders in den 1990er Jahren zugenommen, einhergehend mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber Theorien und Methoden, die nur auf die Dimension des Haushalts abhoben. Die Methoden der Mikrohistoriker unterscheiden sich stark von denjenigen des home approach, wo der Fokus vor allem auf bestimmten Individuen und auf Informationen aus außergewöhnlichen Quellen liegt. Im Fall der mikrohistorischen Erforschung von Verwandtschaft gibt es den Versuch, eine Art anthropologische Analyse auf die Vergangenheit zu projizieren. Die Rekonstruktion eines Netzes verwandtschaftlicher Beziehungen basiert auf einem Ansatz, die Dichte ethnographischer Beschreibung im historischen Kontext anzuwenden. Für Mikrohistoriker stehen individuelle Akteure und ihr Handeln im Mittelpunkt, wobei der ganze Reichtum der italienischen Quellen (Notariats- und Pfarreiakten etc.) ausgewertet wird. Anstelle des für die Kulturgeschichte typischen Blicks auf gut dokumentierte Individuen oder Ereignisse bevorzugen Mikrohistoriker die analytische Betrachtung eines umgrenzten Untersuchungsfelds, indem sie die in den Archiven dokumentierten unzähligen individuellen Handlungen verfolgen. Um einen Zugang zu dem Universum der Bezie-
35 Raffaella Sarti, Vita di casa. Abitare, mangiare, vestire nell’Europa moderna. Rom 1999: dies., Europe at Home. Family and Material Culture 1500–1800. New Haven 2002. 36 Eduardo Grendi, Micro-analisi e storia sociale, in: Quad. stor. 12, 1977, 506–520; ders., Ripensare la microstoria?, in: Quad. stor. 86, 1994, 539–549; Giovanni Levi, L’eredità immateriale. Carriera di un esorcista nel Piemonte del Seicento. Turin 1985 (Inheriting Power. The Story of an Exorcist. Chicago 1988); ders., Family and Kin. A Few Thoughts, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 567–578; ders., On Microhistory, in: Peter Burke (Hrsg.), New Perspectives on Historical Writing. University Park Pennsylvania 1991, 93–113; Simona Cerutti, Microhistory. Social Relations versus Cultural Models?, in: Anna-Maija Castrén/Markku Lonkila/Matti Peltonen (Hrsg.), Between Sociology and History. Essays on Microhistory, Collective Action, and Nation-Building. Helsinki 2004, 17–40.
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hungen auf lokaler Ebene zu finden sowie Strategien, Allianzen, Konflikte und individuelle Karrieren zu rekonstruieren, kombinieren sie die Informationen verschiedener Quellengattungen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Dieses Verfahren erlaubt es, tiefer in die soziale Realität einzudringen. Regelmäßigkeiten werden als solche erkannt und können in einem Modell systematisiert werden. Familienhistoriker, die sich die mikrohistorische Methode angeeignet hatten, interessierten sich sehr für die Beziehungen zwischen Verwandten, die nicht unter einem Dach wohnten, etwa in der Frage der Verwaltung gemeinsamen Erbes oder in puncto verteilte Rollen bei gemeinsamen wirtschaftlichen Strategien. In dieser Hinsicht genießt das Werk von Giovanni Levi das größte internationale Ansehen. Dies gilt insbesondere für seine 1985 publizierte Forschung über die Pächter- und Halbpächterfamilien von Santena, einem kleinen piemontesischen Dorf in Norditalien.37 Levi zeigt dabei, dass eine isolierte Betrachtung der Haushalte irreführend wäre. Haushalte handeln nicht für sich und gesondert, sondern sie kooperieren mit gemeinsamen Strategien; sie sind eingebettet in die von Levi sog. kinship fronts. Diese breiter gefassten Allianzen werden vor allem entlang männlicher Verwandtschaftsbeziehungen geknüpft. Mit Levis kinship fronts scheint sich die Kontextualisierung des Hauses vom Aspekt des Zusammenwohnens zu lösen. Das Zusammenleben unter einem Dach wird zu einem völlig ephemeren Aspekt. Das Haus verschwindet und wird sozusagen von der Verwandtschaft ‚verschlungen‘. Allerdings kann man sich hier fragen, ob Levis Fallstudie verallgemeinerbar ist und ob das Verschwinden des Aspekts des Hauses nicht an die spezifische Situation der piemontesischen Halbpächter gebunden ist. Denn diese hatten im Allgemeinen kein Eigentum an ihren Häusern. Einige andere mehr oder weniger direkt vom mikrohistorischen Ansatz inspirierte Studien betonen einen weiteren relevanten Aspekt des Zusammenwohnens, nämlich die Dynamik der unmittelbaren Nachbarschaft der Häuser. Sie machen zum einen Konstellationen aus, in denen die Solidarität agnatischer Verwandtschaft (entlang der väterlichen Linie) vorherrscht, zum anderen Netzwerke gegenseitiger Austauschund Hilfsbeziehungen mit Schwäger- und Schwiegerverwandten sowie mit Verwandtschaft zur mütterlichen Seite. Dabei werden einige Beispiele hervorgehoben, in denen sich die Kooperation auch in bestimmten Formen der Quasi-Koresidenz abbildet, so bei Haushalten in dichter Nachbarschaft zu Verwandten, sei es väterlicher oder mütterlicher Linie. Formen der zuerst genannten (agnatischen) Organisation wurden z. B. in Norditalien38 und Kampanien39 nachgewiesen, Formen der zuletzt genann-
37 Levi, L’eredità immateriale (wie Anm. 36). 38 Franco Ramella, Terra e telai. Sistemi di parentela e manifattura nel biellese dell’Ottocento. Turino 1984; Manuela Dossetti, Fronti parentali in una comunità alpina nel Settecento, in: Boll. stor. bibliografico subalpino 2o semestre. Turin 1992, 545–579; Dionigi Albera, Au fil des generations. Terre, pouvoir et parenté dans l’Europe alpine. Grenoble 2011. 39 Gérard Delille, Famille et propriété dans le royaume de Naples (XVe–XIXe siècle). Paris 1985.
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ten (matrilinearen) in Sardinien40 und Apulien.41 Darüber hinaus betonten einige wichtige Arbeiten die politische Rolle von Faktionen auf der Grundlage agnatischer Verwandtschaft im Hinblick auf die politische Arena abgelegener Dörfer und deren Beziehungen zum Staat.42
5 Resümee In diesem Artikel wurden einige langfristige Trends der italienischen Forschung im Hinblick auf das Haus präsentiert. Dabei wurden die Quellen, Themen und Methoden der Hauptrichtungen ausgemacht. Im ersten Abschnitt wurden die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstellten Analysen über die Lebensbedingungen der ‚Volksklassen‘ (v. a. die Bauernschaft), die zahlreiche Informationen zum Thema enthalten, skizziert. Sodann ging es um die relevante Forschung führender italienischer Geographen über ländliche Häuser seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Abschließend lag der Fokus auf der Familien- und Verwandtschaftsforschung seit den 1970er Jahren. Dabei sind drei Haupttendenzen zu unterscheiden: der household economics-Ansatz, der home approach und der kinship approach. Insgesamt zeigt sich in der Forschung über das Haus die große Ungleichheit und Vielfalt des Landes. Die italienischen Befunde sind eine Warnung gegen vorschnelle Generalisierungen und Typologien. Im Hinblick auf den Versuch, diese immense Heterogenität zu fassen, ist die wiederholte Tendenz auffällig, das Haus ‚in Kontexte‘ zu stellen. Diese Kontextualisierung klingt bereits in den frühen Ansätzen an und wird in den interdisziplinären Forschungen, die in den letzten vierzig Jahren eine zunehmende Konvergenz der Familien- und der Verwandtschaftsgeschichte auszeichnet, dominant. Aus dem Englischen: Joachim Eibach
40 Anna Oppo, ‚Where There’s No Woman There’s No Home‘. Profile of the Agro-Pastoral Family in Nineteenth-Century Sardinia, in: Journ. of Family Hist. 15, 1990, 483–502. 41 Delille, Famille et propriété (wie Anm. 39). 42 Z. B. Osvaldo Raggio, Faide e parentele. Lo stato genovese visto dalla Fontanabuona. Turin 1990; Sandro Lombardini, Family, Kin, and the Quest of Community. A Study of Three Social Networks in Early-Modern Italy, in: The Hist. of the Family 1, 1996, 227–257; Angelo Torre, Feuding, Factions, and Parties. The Redefinition of Politics in the Imperial Fiefs of Langhe in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Edward Muir/Guido Ruggiero (Hrsg.), History from Crime. Selections from Quaderni Storici. Baltimore 1994, 135–170.
Karin Hassan Jansson
Haus und Haushalt im frühneuzeitlichen Schweden: Geschichtswissenschaftliche Trends und neue Zugänge In der schwedischen und skandinavischen Frühneuzeitforschung hat vor allem der Haushalt im Blickfeld verschiedener Forschungsrichtungen gestanden.* Sowohl Allgemeinhistoriker als auch Wirtschaftshistoriker, Ideenhistoriker und Ethnologen haben über den Haushalt geforscht und das Interesse daran ist seit langem groß, wenngleich sich natürlich die Schwerpunkte des Interesses wie auch die Definitionen und Forschungsmethoden verändert haben. Die skandinavische Geschichtsschreibung folgt dabei im Allgemeinen den europäischen Trends, zugleich zeichnet sie sich aber durch ausgesprochen reichhaltig und umfangreich überlieferte Quellen ganz unterschiedlicher Gattungen aus. Im Folgenden soll daher die Forschungslandschaft zu Haus und Haushalt entlang der drei Hauptentwicklungslinien vorgestellt werden, deren thematisch-methodische Gliederung auch einen gewissen chronologischen Aspekt beinhaltet. Zuerst soll dabei auf jene Ansätze und Studien eingegangen werden, die sich insbesondere mit strukturellen Aspekten der Haushaltsforschung beschäftigt haben. Daran anschließend geht es um die Forschungen zu Funktionsweisen und zur Organisation des Haushalts. Abschließend werden dann drittens die Forschungen hervorgehoben, die den Haushalt als normatives Modell, kulturelles Konstrukt und Machtordnung betrachten. Wenn diese Einteilung sich wesentlich an methodischen Zuordnungen orientiert, sollten die Unterschiede aber nicht überbetont werden: Es finden sich naturgemäß viele Überschneidungen und gemeinsame Fragestellungen. Wenngleich bei dieser Betrachtung die schwedische Geschichtsschreibung im Vordergrund steht, werden aber auch immer wieder Beispiele aus anderen Gebieten Skandinaviens eingeflochten. Auch ist darauf hinzuweisen, dass dieser Überblick aufgrund der Vielfalt und Heterogenität der Haushaltsforschung keine erschöpfende Darstellung bieten kann, sondern in erster Linie die wichtigen und zentralen Forschungslinien veranschaulichen will. In der schwedischen Geschichtswissenschaft wird überwiegend der Begriff hushåll (Haushalt) gebraucht, mit dem die meisten Historiker eine Gruppe zusammen
* Die Verfasserin dankt der Forschergruppe ‚Gender and Work‘ an der Universität Uppsala für hilfreiche Kommentare zu früheren Fassungen dieses Artikels, Inken Schmidt-Voges für eine sorgfältige und behutsame Übersetzung aus dem Schwedischen und Englischen ins Deutsche sowie Dag Lindström für die Hilfe bei der Lektüre der deutschen Übersetzung.
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lebender Menschen bezeichnen. Wird über den Haushalt als Denkrahmen und Ordnungsmodell gesprochen, sind Zusammensetzungen wie hushållsideologi und hushållsordning gebräuchlich. Dies gilt für Historiker wie für Ethnologen, Volkskundler und Wirtschaftshistoriker. In handschriftlichen Quellen der Frühen Neuzeit findet sich indes ein breiterer Sprachgebrauch. Eine oft verwendete Quellengattung sind die so genannten husförhörslängder (wörtlich: Protokolle über die häuslichen Katechismusprüfungen). Sie sind nach Dörfern, Stadtteilen und Bauernhöfen eines Kirchspiels strukturiert und listen die Mitglieder solcher ‚Lebensgemeinschaften‘ (Haushalte) auf; normalerweise beginnend mit dem den Haushalt führenden Ehepaar, anschließend den Kindern und schließlich dem Gesinde. Lebten noch weitere Menschen auf einem Bauernhof mit eigenem Haushalt, wurden sie meist – aber nicht immer – als eigene Einheiten erfasst. Ein gebautes Haus konnte demnach also mehrere Haushalte umfassen. Mitunter wurden die Prinzipien bei der Registrierung ausdrücklich erwähnt. So notierte etwa der Pfarrer in Orsa, Dalarna, in seinen Katechismusprotokollen, dass er die Mitglieder seines Kirchspiels nach gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten gruppierte (i ett bröd).1 Hierin folgte er dem Prinzip der Schatzregister, das die Menschen in matlag (wörtlich: Speise-Mannschaft) oder röketal (wörtlich: Rauch-Anzahl) gruppierte, wobei sich das Letztere auf eine gemeinsam geteilte Feuerstelle bezog (i en rök). Die Begriffe matlag und bolag, die sich auf Menschen bezogen, die zusammen aßen bzw. wohnten, wurden auch in rechtlichen Zusammenhängen verwendet.2 Der Historiker Dag Lindström hat jüngst herausgearbeitet, dass in zeitlich dicht beieinander liegenden Registern dieselben Menschen auf unterschiedliche Weise, teilweise erheblich voneinander abweichend, zu ‚Haushalten‘ gruppiert wurden; offenbar gab es auch für frühneuzeitliche Behörden keine klare Definition oder Richtlinie, was als Haushalt zu gelten hatte. Das Ergebnis zeigt, wie problematisch die Auswertung solcher Listen durch Forscher ist, die sich mit Haushaltsgrößen und Haushaltsstrukturen beschäftigen.3 In frühneuzeitlichen Texten werden gewöhnlich die Begriffe hushåll und hushållning verwendet. Der Titel eines Drucks der berühmtesten schwedischen ‚Hausväterliteratur‘ von 1677 illustriert dies beispielhaft: „Gamble grefwe Peer Brahes, fordom
1 Jesper Larsson, Labor divison in an Upland Economy. Workforce in a Seventeenth-Century Transhumane System, in: The Hist. of the Family 19, 2014, 393–410, hier 396; Nils Friberg, Dalarnas befolkning på 1600–talet. Geografiska studier på grundval av kyrkböckerna med särskild hänsyn till folkmängdsförhållandena. Stockholm 1954, 99. Vgl. auch Gösta Lext, Mantalsskrivningen i Sverige före 1860. Göteborg 1968, 30 f. 2 Z. B. Johan Schmedeman, Kongl. stadgar, förordningar, bref och resolutioner. Ifrån åhr 1528, in til 1701 […]. Stockholm 1706, 1521; Adolph Modeer, Utdrag utur alle ifrån 1729 års slut utkomne publique handlingar, placater, förordningar, resolutioner […], Bd. 2. Stockholm 1746, 1217. 3 Dag Lindström, House, Households, and Spaces in 18th Century Swedish Towns. Vortrag auf der European Social Science History Conference in Wien, 24. April 2014.
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Sweriges rijkes drotzetz, Oeconomia, eller Huuszholdz-book, för ungt adels-folck skrifwin anno 1581.“ Zwar wurde das griechische Konzept oeconomia benutzt, aber mit dem schwedischen Wort hushåll erklärt. Ein weiteres Beispiel ist der Text „Coleri Oeconomia, thet är Hushåldz Underwijsning“, eine Übersetzung von Johann Colers „Calendarium oeconomicum et perpetuum“, das auf Deutsch das Wort ‚Hausbuch‘ beinhaltet. Auch wenn Luthers Haustafel Hustavlan genannt wurde, bildete der huushåldz-ståndet gemäß dem Titel einen der drei Stände.4 Im frühneuzeitlichen wie gegenwärtigen Schwedisch wird das Wort hus nahezu ausschließlich für das Haus als Gebäude verwendet.
1 Haushalt als Struktur Die Zusammensetzung, Größe und Funktion von Haushalten wurde in der modernen Wissenschaft seit dem späten 19. Jahrhundert von Historikern wie auch von Ethnologen und Statistikern verstärkt thematisiert.5 In den 1970er Jahren erneuerte sich dann diese Forschung im Kontext der aufkommenden Familienforschung unter dem Einfluss Peter Lasletts und der sog. Cambridge-Schule.6 Deren Ansatz, den Haushalt als eine Gruppe verwandter Menschen mit gemeinsamer Wohnung (coresident domestic group) zu betrachten, hatte großen Einfluss auf die Forschung in den nordischen Ländern; so wurde eine ganze Reihe quantitativer Studien erarbeitet, die für verschiedene Regionen Skandinaviens die Haushaltsstrukturen ermittelten und zum kontinentaleuropäischen Muster in Beziehung setzten.7 Diese Forschungen haben – ganz wie deren kontinentaleuropäische Entsprechungen – vor allem die Größe und Struktur von Haushalten in der langfristigen Entwicklung von der Frühen Neuzeit bis hin zur Mitte des 20. Jahrhunderts untersucht. Die einzelnen Arbeiten haben sich dabei
4 Z. B. Zacharias Brockenius, Huus-taflan eller en christelig, kort och enfaldig förklarning, om the tre hufwud-stånden, läre- öfwerhetz- och huushåldz-ståndet […]. Stockholm 1696. 5 Für eine Übersicht vgl. z. B. Tom Ericsson/Lars-Göran Tedebrand, Introduction, in: Journ. of Family Hist. 14, 1989, 191–194; John Rogers, Nordic Family History. Themes and Issues, Old and New, in: Journ. of Family Hist. 18, 1993, 291–314. 6 Vgl. z. B. Solvi Sogner, Family, Household, and Population Development, in: Heimen 17, 1978, 699–710; David Gaunt, Familj, hushåll och arbetsintensitet. En tolkning av demografiska variationer i 1600- och 1700-talets Sverige, in: Scandia 42, 1976, 32–59; Christer Winberg, Familj och jord i tre västgötska socknar, in: Historisk Tidskrift 3, 1981, 278–310; Beatrice Moring, Hushåll i periferin – ett bidrag till diskussionen om den europeiska familjen, in: Historisk tidskrift för Finland 69, 1984, 1–12 und Rogers, Nordic Family (wie Anm. 5) als Übersicht. 7 Vgl. z. B. Inez Egerbladh, From Complex to Simple Family Households. Peasant Households in Northern Coastal Sweden 1700–1900, in: Journ. of Family Hist. 14, 1989, 241–264; Beatrice Moring, Nordic Family Patterns and the North-west European Household System, in: Continuity and Change 18, 2003, 77–100.
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auf verschiedene Themen konzentriert, die mit dem Haushalt in Beziehung stehen – wie etwa Heiratsalter, Wiederverheiratung, Fertilität, soziale Mobilität, Freizügigkeit und Versorgung – und sich dabei verschiedenen sozialen Gruppen gewidmet, wenngleich die bäuerliche Bevölkerung meistens im Zentrum stand. Aber auch Fragen zum Verhältnis von Haushaltsgrößen und -strukturen mit Verwandtschaft, Eigentum, Erbe und Arbeit wurden dabei behandelt.8 Gerade in Schweden findet sich hervorragendes Quellenmaterial für solche Studien. Aufgrund der frühen, reichsweit greifenden Zentralisierung der Verwaltung begannen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Pastoren über die Katechismuskenntnisse und die Lesefähigkeit der Mitglieder ihrer Kirchengemeinde Buch zu führen. Da diese husförhörslängder im Laufe des Jahrhunderts dazu übergingen, regelmäßig auch Kinder aufzuführen, entwickelten sie sich zu lokalen Bevölkerungsregistern, gegliedert nach Kirchspielen, Dörfern und Haushalten.9 Innerhalb der historischdemographischen Familienforschung wurden diese husförhörslängder als „ready made family reconstructions“ betrachtet.10 Darüber hinaus führten die Pastoren auch Buch darüber, wer heiratete, geboren wurde oder starb, manchmal sogar darüber, wer im Kirchspiel zuzog oder wegzog. Diese Kirchenbücher bildeten in den 1970er Jahren die Basis für umfassende und international beachtete bevölkerungshistorische Studien, die mittlerweile etwa durch die demographische Datenbank am ‚Centrum för befolkningsstudier‘ der Universität Umeå institutionalisiert wurden.11 Viele Forscher betonen, dass das vormoderne Skandinavien, im Ganzen betrachtet, vor allem durch eine Vielfalt von Haushaltsgrößen und -strukturen gekennzeichnet war. Dennoch wurde Skandinavien – ausgenommen das östliche Finnland – als eine Region wahrgenommen, die überwiegend von kleinen Haushalten mit einer Kernfamilie geprägt gewesen sei, entsprechend dem von Peter Laslett behaupteten ‚nordwesteuropäischen Muster‘. Gemäß den Untersuchungen des Wirtschaftshistorikers Christer Lundh lag die Haushaltsgröße im frühneuzeitlichen Schweden im Allgemeinen bei vier bis fünf Personen, wobei etwa 20 % der Haushalte komplexere Strukturen aufwiesen. Die Größe eines Haushalts wurde im Wesentlichen durch den Bedarf
8 Als Übersicht und Zusammenfassung dieser Forschungen vgl. Rogers, Nordic Family (wie Anm. 5) und Christer Lundh, Households and Families in Pre-industrial Sweden, in: Continuity and Change 10, 1995, 33–68. 9 In Jonas Lindströms Studie von 2008 findet sich ein anschauliches Beispiel, wie ein solches ‚Hausverhörprotokoll‘ in der Mitte des 17. Jahrhunderts aussah, sowie eine Diskussion über die Möglichkeiten, anhand eines solches Protokolls einen Haushalt zu rekonstruieren. Jonas Lindström, Distribution and Differences. Stratification and the System of Reproduction in a Swedish Peasant Community 1620–1820. Uppsala 2008, 230–233. 10 Rogers, Nordic Family (wie Anm. 5), 299. 11 ‚Demografiska databasen‘ am ‚Centrum för befolkningsstudier‘, Universität Umeå, URL: www.ddb.umu.se (Zugriff: 18. 12. 2014); für die Verbindungen zum ‚Centre for Economic Demography‘ der Universität Lund vgl. www.ed.lu.se (Zugriff: 18. 12. 2014).
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an Arbeitskraft reguliert, vor allem durch das Heuern von Mägden und Knechten. Im östlichen Finnland waren dagegen größere, komplexere Haushalte anzutreffen, was wesentlich auf die dort gebräuchliche Brandrodungslandwirtschaft zurückzuführen ist. In vielen Gebieten hat man aber auch einen Wandel von komplexeren Haushalten hin zu kleineren Einheiten festgestellt: Diese erweiterten Familien wurden um die Wende zum 19. Jahrhundert seltener.12 Die Geschichte der nordischen Länder weist viele gemeinsame Züge auf und die Frage, inwieweit dies auch auf vergleichbare Haushaltsmuster zutraf, ist in mehreren Studien diskutiert worden. Im Projekt ‚Coastal Regions in Change 1650–1950. Family and Household in Nordic Fishing Communities‘ wurden Fischergesellschaften – eine Gesellschaftsform, die in allen nordischen Ländern präsent war – miteinander auf der mikrohistorischen Ebene verglichen, um mit Hilfe anthropologischer Quellen neues Licht auf quantitative Zusammenstellungen werfen zu können. Unter anderem hat man dabei einen Zusammenhang zwischen einer lokal ausdifferenzierten Ökonomie, Mehrfachbeschäftigung und komplexen Haushalten festgestellt. Auch die Bedeutung der Obrigkeit wurde offenbar: Die Haushaltsstruktur wurde in hohem Grade davon beeinflusst, in welchem Ausmaß die Obrigkeit direkt oder indirekt den Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen und ihre Bewirtschaftung regulierte.13 Die strukturorientierten Forschungen rund um den Haushalt haben seit den 1990er Jahren zahlenmäßig deutlich abgenommen.14 Die kulturhistorische Wende hat große Durchschlagskraft entwickelt, was zu einem relativen Bedeutungsverlust der quantitativen Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit geführt hat.15 So merkte etwa John Rogers kritisch an, dass sich die nordische familienhistorische Forschung mehr mit den Familienformen als mit Familienbeziehungen beschäftigt habe. Er plädierte zu Beginn der 1990er Jahre dafür, die Beziehungen zwischen den Individuen, den Familien, Haushalten und anderen sozialen Organisationen stärker in den Fokus zu rücken und schlug vor, dass man in Anlehnung an die von Laslett und Wall entwickelten Methoden anthropologische Quellen heranziehen sollte, um die sozialhistorischen Statistiken zu interpretieren, bzw. auf einer erweiterten Basis neu zu lesen.16
12 Vgl. z. B. Lundh, Households and Families (wie Anm. 8); David Gaunt, Familjeliv i Norden. Stockholm 1996, 85–116. 13 Für eine detaillierte Beschreibung des Forschungsprojekts vgl. Journ. of Family Hist. 4, 1993. 14 Für eine kritische Darstellung dieser Richtung vgl. z. B. Anders Florén/Göran Rydén, Arbete, hushåll och region. Tankar om industrialiseringsprocesser och den svenska järnhanteringen. Uppsala 1992, Kap. 3. 15 Eine spätere, strukturell ausgerichtete Arbeit über Haushalte, die erwähnt werden muss, ist Mats Hayen, Stadens puls. En tidsgeografisk studie av hushåll och vardagsliv i Stockholm, 1760–1830. Stockholm 2007. 16 Rogers, Nordic Family (wie Anm. 5). Dieser Ansatz wurde von A. W. Carus und Sheilagh Ogilvie in einem Artikel von 2009 vorgestellt und beschrieben: A. W. Carus/Sheilagh Ogilvie, Turning Qualitative into Quantitative Evidence. A Well-used Method Made Explicit, in: EconHR 62, 2009, 893–925.
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Genau diese Beziehungen innerhalb eines Haushalts sowie zwischen Haushalten und anderen Institutionen standen im Zentrum des Interesses jener Forschungsrichtung, die sich stärker für den Haushalt als Organisation interessierte.
2 Haushalt als Funktionsprinzip und Organisation In einer anderen Strömung der Sozialgeschichte ist der Haushalt eher im Hinblick auf Funktionen als über Form und Struktur definiert worden. Bereits vor Rogers hatte der Ethnologe Börje Hanssen in einem einflussreichen Buch von 1978 betont, dass man anfangen sollte, die Familie – bzw. die Primärgruppe, wie er sie nannte – eher auf der Basis von funktionellen, denn strukturellen Kriterien zu untersuchen, und auch, dass eine Analyse von Haushalten immer in Beziehung zu ihren Umweltbedingungen erfolgen müsste. Wie die Cambridge Group auch, hob er den Aspekt der Lebensgemeinschaft hervor, betonte aber stärker die gemeinsame Produktion, Konsumption und Reproduktion.17 Die Historiker Anders Florén und Göran Rydén beschrieben in diesem Sinne den Haushalt als „eine wenig greifbare soziale Institution, die vollständig in die weiteren sozialen Kontexte integriert ist und sich je nach den Vorstellungen und dem Bedarf der Forscher manifestiert.“18 In seiner Abhandlung von 1990 definierte Rydén in der Tradition Hanssens den Haushalt als eine Gruppe, deren Zusammengehörigkeitsgefühl sich wesentlich um das Wohnen, Arbeiten und die Essenszubereitung herum strukturierte.19 Er untersuchte am Beispiel einer Eisengrube die Beziehungen zwischen der Arbeit der Schmiede und ihrer Haushaltsführung zu Beginn des 19. Jahrhunderts und zeigte, dass Eisenhütte und Schmiedehaushalt als eine Einheit funktionierten. Die Grube war auf die Arbeit der Schmiede angewiesen, wie auch die Grubenleitung und die Schmiede ihrerseits auf die Haushalte angewiesen waren, wo Ehefrauen, Gesinde und Kinder in der kleinen Landwirtschaft der Familie arbeiteten. Funktion wie Struktur des Haushalts waren verflochten mit den Erfordernissen der Eisenhütte und der Grube.20 Ganz ähnlich beschreibt die Historikerin Maria Sjöberg die Beziehung zwischen der schwedischen Militärmacht und dem Soldatenhaushalt im 17. und 18. Jahrhundert. Die Soldatenfrauen übernahmen notwendige logistische Aufgaben, die es den Soldaten erst ermöglichten, ihre Aufgaben zu erfüllen. Sjöberg fasst dieses
17 Börje Hanssen, Familj, hushåll, släkt. En punktundersökning av miljö och gruppaktivitet i en stockholmsk förort 1957 och 1972 enligt hypoteser, som utformats efter kulturhistoriska studier. Stockholm 1978. 18 Florén/Rydén, Arbete (wie Anm. 14), 53. 19 Göran Rydén, Hammarlag och hushåll. Om relationerna mellan smidesarbetet och smedshushållen vid Tore Petréns brukskomplex 1830–1850. Stockholm 1991, 32. 20 Ebd., 293–295.
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wechselseitige Angewiesensein zwischen der homosozial organisierten Armee und den Soldatenhaushalten mit dem Begriff des Haushaltssystems.21 In seiner Dissertation von 2012 zeigt Christopher Pihl, dass die königlichen Domänen im Schweden des 16. Jahrhunderts nach Prinzipien eines Haushalts aufgebaut waren. Ihnen standen ein männlicher Vogt und eine weibliche Haushälterin vor, deren Machtbeziehungen und Verantwortungsbereiche dem Muster eines Haushalts folgten.22 Abgesehen von der Orientierung am Modell häuslicher Organisation waren die königlichen Domänen von einem wachsenden Verwaltungsbereich mit unterschiedlichen organisatorischen Anforderungen gekennzeichnet. Dieser war exklusiv den Männern vorbehalten und basierte auf der Delegation von Autorität innerhalb der Organisation. Während dieser Bereich als Vorläufer eines bürokratischen Systems vor allem das Militärische und Administrative betraf, herrschte das häusliche Modell stärker in der landwirtschaftlichen Produktion, dem Handwerk und den Dienstleistungen vor.23 Die Haushälterinnen konnten mit dem Vogt verheiratet sein, sie konnten aber ebenso gut verwitwet oder mit einem anderen Mann verheiratet sein, unabhängig davon, ob dieser in königlichen Diensten stand oder nicht. Das gleiche galt für die anderen Männer und Frauen in den königlichen Domänen. Viele waren unverheiratet, aber einige von ihnen – überwiegend Handwerker – wurden so bezahlt, dass es ihnen möglich war, einen eigenen Haushalt zu führen. Pihl führt auch Beispiele von Menschen an, die ihren Verdienst aus dem königlichen Dienst nutzten, um die Domäne zu verlassen, zu heiraten und einen eigenen Haushalt zu gründen. In diesem Sinne waren die königlichen Güter mit den Haushalten vieler Leute verknüpft, beförderten und erhielten diese. Gleichzeitig konnte die Arbeit auf den königlichen Gütern aber auch andere Haushalte aufbrechen. Für diejenigen, die mit Ehepartnern außerhalb des königlichen Dienstes verheiratet waren, bedeutete ihre Arbeit eine Trennung von Ehepartner und Kindern.24 Ihre Arbeit wurde daher absolut nicht von ihren eigenen Haushalten strukturiert, auch wenn diese Teil der Haushaltsorganisation der königlichen Domänen waren. Diese königlichen Domänen können als frühe Parallele zur schwedischen Armee des 17. und zur Eisenindustrie des 19. Jahrhunderts gesehen werden, wie sie von Sjöberg und Rydén untersucht wurden. Sie selbst waren als königliche Domänen entsprechend den Prinzipien eines Haushalts organisiert, waren aber auch eingebettet in bzw. abhängig von den Haushaltern derjenigen, die in ihnen arbeiteten.
21 Maria Sjöberg, Kvinnor i fält: 1550–1850. Hedemora 2008, 183 f. 22 Der Haushalt stellte auch für andere Formen frühneuzeitlicher Organisationen ein Vorbild dar, wie etwa die Eisenhütten oder Manufakturen. Vgl. Anita Göransson, Från familj till fabrik. Teknik, arbetsdelning och skiktning i svenska fabriker 1830–1877. Lund 1988, 273. 23 Christopher Pihl, Arbete. Skillnadsskapande och försörjning i 1500-talets Sverige. Uppsala 2012, 206–233. 24 Ebd.
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Vielen Studien dieser Forschungstradition ist zudem eine bewusst reflektierte Genderperspektive gemeinsam. Mit dem Blick auf das Auftreten von Frauen werden etwa in der Militärorganisation die Haushalte im Tross sichtbar und ihre Funktionen können herausgearbeitet werden. Schließt man die Haushalte der Schmiede in die Untersuchung der Eisengruben mit ein, wird die Arbeit der Frauen und Kinder als ein notwendiger Bestandteil des ökonomischen Gefüges innerhalb der Gruben- und Hüttenkomplexe greifbar, da die Frauen es waren, die aus Naturallöhnen Lebensmittel herstellten. Ein weiteres Beispiel für diesen methodischen Zugriff stellt die Studie von Rosemarie Fiebranz von 2002 dar, in der sie danach fragt, wie Menschen einer haushaltsbasierten Agrarökonomie in einem protoindustriellen Kontext in einer Zeit massiver gesellschaftlicher Veränderung und Bevölkerungszunahme (1750–1850) agierten. Zunächst reagierte man auf der Haushaltsebene so, dass die überkommenen, auf den Haushalt bezogenen Normen und die damit verbundene geschlechterspezifische Arbeitsteilung aufrecht erhalten wurden, zum Beispiel durch Erbteilung und Urbarmachung. Gleichzeitig hatte der gesellschaftliche Wandel Folgen. War im 18. Jahrhundert die Lebensperspektive noch allgemein darauf ausgerichtet, als Hausherr bzw. Hausherrin einen eigenen Haushalt zu führen, verlor dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Bedeutung, da der soziale Ausdifferenzierungsprozess es für große Gruppen immer schwieriger machte, den haushaltsbasierten Normen einer bäuerlichen Kultur zu folgen.25 Ungeachtet einiger Unterschiede waren sich alle oben vorgestellten Historiker darin einig, den frühneuzeitlichen Haushalt als eine grundlegende Einheit für Produktion, Reproduktion, Konsumption oder Wohnen zu sehen. Entsprechend des immer noch vorherrschenden Bildes stellte der Haushalt auch den Rahmen für die ökonomischen Aktivitäten der Menschen dar. Kleine Höfe wurden von den Mitgliedern eines bäuerlichen Haushalts bewirtschaftet, idealiter von einem verheirateten Paar, seinen Kindern und, manchmal, ein paar Mägden und Landarbeitern. Die Werkstatt eines Handwerkers wurde von einem Meister und seinen Lehrlingen unter Mithilfe der Meisterfamilie geführt. Gemeinsam formten der Meister, seine Familie, die Lehrlinge und das Gesinde einen Haushalt, und alle Mitglieder trugen durch ihre Arbeit zu dessen Fortbestehen bei. Korporationen unterschiedlicher Art, wie Gilden, Hütten und Dorfgemeinden wurden von Haushalten konstituiert, geführt von deren jeweiligen Vorständen. Auf diese Weise bildete der Haushalt eine fundamentale Einheit, um die Arbeit der Menschen auf verschiedenen Ebenen zu organisieren.26
25 Rosemarie Fiebranz, Jord, linne eller träkol? Genusordning och hushållsstrategier, Bjuråker 1750– 1850. Uppsala 2002, 359–366. 26 Z. B. Florén/Rydén, Arbete (wie Anm. 14); Kekke Stadin, Stånd och genus i stormaktstidens Sverige. Lund 2004.
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Eine solchermaßen zentrale Bedeutung des Haushalts für die Arbeitsorganisation wurde aber auch diskutiert und in Frage gestellt, nicht zuletzt im Rahmen der Arbeiten des Projekts ‚Gender and Work‘ an der Universität Uppsala.27 Maria Ågren hat in einem Aufsatz über die frühneuzeitlichen Haushalte von Zollbeamten einer kleinen mittelschwedischen Stadt zeigen können, dass viele Arbeitsprozesse eher in den Räumen zwischen unterschiedlichen Haushalten stattfanden als innerhalb eines Haushalts. Vielfach verrichteten Frauen von niedereren Zollbeamten Gelegenheitsarbeiten in den Haushalten der höheren Beamten, was angesichts der Tatsache, dass Zollbeamte in der Regel schlecht bezahlt und in der lokalen Gesellschaft schlecht angesehen waren, sowohl von ökonomischer als auch sozialer Bedeutung war. Ågren resümiert, die Ergebnisse „force us to question our assumptions about the clear boundaries and closed character of early modern households.“28 Erik Lindberg und Sofia Ling untersuchen in diesem Projekt den Zitronenhandel in Stockholm um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In den frühneuzeitlichen Städten Schwedens konnten arme, aber ehrenhafte Frauen die Erlaubnis erhalten, Nahrungsmittel und andere Waren zu verkaufen. So war in Stockholm offensichtlich eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Frauen im Fruchthandel tätig. Mitunter gerieten sie in Konflikt miteinander und appellierten an die Obrigkeiten, um ihre Streitigkeiten zu lösen. Soweit aus diesen obrigkeitlichen Quellen ersichtlich, waren diese Frauen verheiratet oder verwitwet. Wenngleich die Ehemänner mitunter in den Protokollen auftauchen, ließ sich doch keine Frau von ihrem Mann vor den Obrigkeiten vertreten und keine bezog sich auf ihren Mann, wenn sie für ihre Handelsrechte stritt. Die meisten dieser Frauen waren mit Männern aus dem Militär bzw. dem unteren Beamtentum verheiratet oder verwitwet.29 Frauen, die Früchte verkauften, appellierten vielfach in Gruppen an die örtlichen Obrigkeiten und offenbar fand ein Großteil ihrer ökonomischen Aktivitäten im Zitronenhandel – sie kauften Zitronen von Importeuren und verkauften sie auf den städtischen Märkten oder an Zwischenhändler und Zwischenhändlerinnen – im Rahmen dieser weiblichen Netzwerke statt. In einem Fall aus dem Jahre 1718 klagten neun Frauen beim ‚Handelskollegium‘. Vier von ihnen beschuldigten die anderen fünf, einen unverhältnismäßig großen Teil der verfügbaren Früchte aufgekauft und zu ‚unbilligen‘ Preisen verkauft zu haben. Lindberg und Ling verweisen auf zahlreiche andere Konflikte, in denen Gruppen von Frauen andere Gruppen von Frauen verklagten. Einige dieser Frauen und Frauengruppen waren lange Jahre im Zitronenhandel
27 Vgl. Universität Uppsala, Projekt ‚Gender and Work‘, URL: http://gaw.hist.uu.se (Zugriff: 18. 12. 2014). 28 Maria Ågren, Emissaries, Allies, Accomplices and Enemies. Married Women’s Work in EighteenthCentury Urban Sweden, in: Urban Hist. 41, 2014, 394–414. 29 Erik Lindberg/Sofia Ling, ‚Spanska‘ citroner till salu. Om kvinnors handlingsutrymme på fruktmarknaden i 1700-talets Stockholm, in: Historisk Tidskrift 134, 2014, 3–30.
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engagiert. Sie waren regelmäßig in derlei Konflikte involviert und hatten sich offenkundig als ökonomische Agenten in der Stadt etabliert. Eine dieser Frauengruppen kaufte etwa 1747 nicht weniger als 900 Kisten Zitronen und belieferte unter anderem den königlichen Hof.30 Die ökonomischen Aktivitäten dieser Frauen waren also ganz klar nicht innerhalb des Haushalts organisiert, vielmehr überschritten ihre Kooperationen und Konstellationen die Grenzen des Haushalts. Der methodische Ansatz des Projekts ist dabei paradigmatisch für die neueren Studien zum häuslichen Kontext. Indem er nicht von einem vorgefertigten Konzept ausgeht – wie etwa ‚Haushalt‘ oder Berufsbezeichnungen wie in Lasletts Studien –, eröffnet der Blick auf die sich in vielfältigen Quellengattungen (Gerichtsakten, Selbstzeugnisse, Rechnungsbücher und Akten früher Manufakturen) widerspiegelnden Praktiken des Erwerbens, Versorgens, Zubereitens oder Verarbeitens neue Perspektiven darauf, wie und in welcher Weise Männer, Frauen und Kinder arbeiteten. Der empirische Fokus des Projekts auf Verben als zentralem Beschreibungskriterium für Tätigkeiten, die Menschen ausführten, um sich zu versorgen, ermöglicht es, die Haushaltslisten in den kirchlichen und administrativen Quellen zu umgehen. Sehr konkrete Informationen über die Alltagspraxis der Haushalte stellen viele für gültig erachtete Konzepte in Frage, zum Beispiel ‚Haushaltsfunktion‘ und ‚Haushaltsorganisation‘.31 Wie Maria Ågren es formuliert: „The notion of the household as a closed, immutable and well-defined unit, headed by a man who was the unquestioned master of everything, is unhelpful.“32 Viel eher scheinen auch hier ‚offene Häuser‘ das prägende Prinzip gewesen zu sein.33 Der eben vorgestellte geschichtswissenschaftliche Ansatz betont – wie John Rogers 1993 einforderte – die Interaktion zwischen Individuen, dem Haushalt und anderen sozialen Formationen, wobei in Betracht gezogen werden sollte, dass die Bedeutung des Haushalts bei der Organisation der Arbeit und des täglichen Lebens frühneuzeitlicher Menschen mitunter überschätzt wurde. Die frühneuzeitlichen Quellen in Schweden sind wesentlich von der Tatsache beeinflusst, dass der Haushalt eine fiskalische Einheit bildete und man deshalb leicht schlussfolgern konnte,
30 Ebd. 31 Rosemarie Fiebranz u. a., Making Verbs Count. The Research Project ‚Gender and Work‘ and its Methodology, in: Scandinavian Econ. Rev. 59, 2011, 273–293. 32 Ågren, Emissaries (wie Anm. 28), 4. 33 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. Eibachs Begriff weist einige Parallelen zum Ausdruck ‚hushållets allmennlighet‘ auf, der vom nordischen Historiker Erling Sandmo benutzt wurde, um den öffentlichen Charakter des frühneuzeitlichen Haushalts in der Gesellschaft zu betonen, als sich Vorstellungen von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ deutlich von denen der modernen Gesellschaft unterschieden. Vgl. Erling Sandmo, Voldssamfunnetsundergang. Om disciplinering av Norge på 1600-talet. Oslo 1999, 132.
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alle ökonomischen Aktivitäten wären innerhalb von Haushalten anzusiedeln – wenn man Haushalte so versteht, wie sie in den seriellen Quellen in Erscheinung treten.34
3 Der Haushalt als normatives Modell und kulturelles Konstrukt In der europäischen Geschichtsschreibung haben einflussreiche Historikerinnen wie Susan Amussen und Lyndal Roper die Rolle von Haus und Haushalt als allgemeines und präskriptives Modell für frühneuzeitliche Ordnung herausgearbeitet. Der Denk rahmen des ‚gottgefälligen Haushalts‘ war in den Gottesdiensten, in der Hausväterliteratur wie auch in der obrigkeitlichen Propaganda als normatives Modell allgegenwärtig.35 Der wohlgeordnete Haushalt zeichnete sich durch einen herrschenden Hausvater aus, eine mit-regierende, aber unterstellte Ehefrau sowie untergeordnete Kinder und Gesinde. Die Regierung über den Haushalt wurde als absolut und gleichsam gerecht und fürsorgend angesehen, und die untergebenen Haushaltsmitglieder sollten gehorsam und untertänig sein.36 Diese Analogie galt aber auch umgekehrt, so dass der König seinen Untertanen ein Vater sein sollte. Da diese Ordnung eine gottgegebene war, wurde Ungehorsam gegen die Obrigkeit – den König, einen Beamten oder den eigenen Vater – als ein Vergehen gegen Gott wie auch gegen die soziale und politische Ordnung betrachtet.37 In der schwedischen Historiographie ist diese patriarchale Ordnung mit Luthers Katechismus und besonders mit den Haustafeln verknüpft worden, d. h. dem Teil, in dem die Pflichten der einzelnen Hausmitglieder erläutert und ausgeführt wurden. In den 1980er und 1990er Jahren untersuchten Historiker und Ethnologen die Wirkmächtigkeit dieser Ideen in der populären Bildung und kamen zu dem Ergebnis, dass die Haustafeln und ihre patriarchalen Ideale (die als weitgehend schichtspezifisch
34 Z. B. David Warren Sabean, Property, Production, and Family in Neckerhausen, 1700–1870. Cambridge 1990, 99; Ågren, Emissaries (wie Anm. 28). 35 Für diesen Denkrahmen existieren verschiedene Konzepte. Lyndal Roper schreibt über den ‚frommen Haushalt‘ in deutschen Kontexten, R. C. Richardson über den ‚godly household‘ in Bezug auf englische Quellen und Sarah Maza bezieht sich auf etwas sehr Ähnliches, wenn sie in ihrem Buch über Herrschaft-Gesinde-Beziehungen im Frankreich des 18. Jahrhunderts über ‚aristokratischen Paternalismus‘ schreibt. Vgl. Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg. Oxford 1989 [dt.: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Frankfurt am Main 1999); R. C. Richardson, Household Servants in Early Modern England. Manchester 2010; Sarah Maza, Servants and Masters in Eighteenth-Century France. The Uses of Loyalty. Princeton 1983. 36 Vgl. hierzu im europäischen Kontext die Beiträge von Anna Becker und Thomas K. Kuhn in diesem Band. 37 Z. B. Susan Dwyer Amussen, An Ordered Society. Gender and Class in Early Modern England. New York 1993; Roper, Holy Household (wie Anm. 35), 27–36; Sabean, Property (wie Anm. 34), Kap. 3.
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angesehen wurden) in Schweden nicht vor dem 19. Jahrhundert Verbreitung fanden und gelesen wurden. Das wiederum stellte die Behauptung einer starken Haus-Ideologie für das frühneuzeitliche Schweden in Frage.38 In der schwedischen und europäischen Frühneuzeitforschung wird die HausIdeologie vielfach als etwas betrachtet, das die herrschenden Eliten der Bevölkerung auferlegt hätten, verknüpft mit spezifischen Texten und Kontexten.39 Betrachtet man neuere schwedische Forschungen, wäre es aber eher angemessen, von einem kulturellen Muster des Haushalts zu sprechen als von einem normativen Modell, da dieses mehr Kohärenz und Exklusivität impliziert als tatsächlich gegeben war. Mit ‚Kultur‘ kann man auf ein viel breiteres Konzept zurückgreifen, das auf lose miteinander verknüpften Ideen, Normen und Werten basiert und offen ist für unterschiedliche Ausdeutungen und Aneignungen. Sie ist, wie William Sewell betont, System und Praxis zugleich und deshalb fortlaufend im Wandel begriffen.40 In einer solchen Konzeptualisierung des Haushalts als kultureller Formation spielten Aspekte der Geschlechterkonzepte eine wichtige, ja nahezu vorherrschende, Rolle. Einige Studien bauen dabei auf präskriptiven Texten wie Hausväterliteratur oder Erbauungsbüchern auf. Kekke Stadin etwa beschreibt in ihrem Buch „Stånd och genus“ von 2004 die ständische Differenzierung der geschlechterspezifischen Rollenmodelle im Haushalt.41 Leif Runefelt untersucht Menschenbilder des 17. Jahrhunderts in Bezug auf den Haushalt, wobei vor allem deren Einfluss auf das merkantilistische Denken der Zeit im Zentrum steht.42 Jonas Liliequist befasst sich in mehreren einflussreichen Artikeln mit dem Konzept des Hausvaters in der frühneuzeitlichen populären Kultur und kann zeigen, dass die Autorität des Hausvaters in Schweden besondere im 17. Jahrhundert intensiv diskutiert wurde.43
38 Z. B. Hilding Pleijel, Från hustavlans tid. Kyrkohistoriska folklivsstudier. Stockholm 1951; Börje Harnesk, Patriarkalism och lönearbete, in: Historisk Tidskrift 106, 1986, 326–355; Hilding Pleijel, Patriarkalismens samhällsideologi, in: Historisk Tidskrift 107, 1987, 220–234; Eva Österberg, Folklig mentalitet och statlig makt. Perspektiv på 1500- och 1600-talets Sverige, in: Scandia 58, 1992, 81–102; Peter Aronsson, Hustavlans värld – folklig mentalitet eller överhetens utopi?, in: Christer Ahlberger/Göran Malmstedt (Hrsg.), Västsvensk fromhet. Jämförande studier av västsvensk religiositet under fyrasekler. Göteborg 1993, 11–41; Daniel Lindmark, ‚Sann kristendom och medborgerlig dygd‘. Studier i den svenska katekesundervisningens historia. Umeå 1993, 57–103. 39 Vgl. hierzu die Titel in Anm. 38. 40 William Sewell, The Concept(s) of Culture, Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, in: Victoria E. Bonnell/Lynn Avery Hunt/Richard Biernacki (Hrsg.), Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture. London 1999, 35–61. 41 Stadin, Stånd och genus (wie Anm. 26). 42 Leif Runefelt, Hushållningens dygder. Affektlära, hushållningslära och ekonomiskt tänkande under svensk stormaktstid. Stockholm 2001. 43 Jonas Liliequist, ‚Flepeler hustyrann‘ – en diskurs om manlighet, makt och auktoritet i 1600- och 1700-talets Sverige, in: Anette Warring (Hrsg.), Køn, religion ogkvinder i bevægelse: konferencerapport fra det vi. Nordiske Kvindehistorikermøde, Tisvildeleje 12.-15. August 1999. Roskilde 2000, 283–
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Andere wiederum untersuchten die Bedeutung und Relevanz hausbezogener Ideale und Symbole des Haushalts in der sozialen Praxis – wie etwa ‚das Haus‘, ‚der Hausvater‘ und ‚die Hausmutter‘. Hier standen insbesondere die Organisation des Haushalts sowie die Machtbeziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau im Mittelpunkt des Interesses. Die ältere ethnologische Forschung ging von der Annahme aus, dass Eheleute in der vorindustriellen Zeit als ebenbürtige Partner betrachtet wurden – eine Vorstellung, die vor allem auf der Annahme beruhte, dass die Arbeit beider Ehepartner für das Überleben des Haushalts notwendig war. In ihren Untersuchungen zur geschlechterbezogenen Arbeitsteilung in Nordschweden 1750–1850 wendet sich Rosemarie Fiebranz gegen diese ethnologische Deutung. Sie zeigt, dass die Normen der Haustafel auch in dieser Zeit noch ihre Gültigkeit besaßen, wenngleich die Zeitgenossen begannen, sie in Frage zu stellen. Im Zusammenhang mit Ehekonflikten hat zeigte sich, dass Männer ihre eheherrliche Macht zwar gewaltsam durchsetzten, aber die lokalen Obrigkeiten zugleich versuchten, dieser Machtausübung Grenzen zu setzen. Wenngleich Ehemänner in Fragen der häuslichen Ökonomie das Sagen haben sollten, wurde Ehefrauen, die in ökonomischen Fragen selbstständig agierten, Verständnis entgegen gebracht, sofern dies im Interesse des Haushalts geschah; auch dann noch, als sich ab den 1830er Jahren Rollenmodelle und Geschlechterbilder dahin gehend entwickelten, dass Weiblichkeit stärker mit innerhäuslichen Tätigkeiten verknüpft und Männlichkeit deutlicher mit der Versorgerrolle identifiziert wurde.44 Die Haushaltsordnung bildet auch den Ausgangspunkt für Andreas Marklunds Studie, die sich mit der Relevanz von Männlichkeitsidealen im Zusammenhang mit Ehekonflikten in Uppland zwischen 1770 und 1840 auseinandersetzt. Marklund arbeitet dabei heraus, dass Ausdrücke wie etwa ‚sein Haus‘ sich sehr viel seltener auf das Haus als Gebäude beziehen, sondern vielmehr an Vorstellungen über die übergeordnete Stellung des verheirateten Mannes innerhalb seines Haushalts anknüpfen. Dieser symbolisch aufgeladene und an das lutherische Hausnarrativ gekoppelte Begriff verschwand, Marklund zufolge, aus den lokalen Diskursen über Ehekonflikte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als man gleichzeitig begann, vom Haus als einem Bereich des weiblichen Regiments zu sprechen. Dementsprechend wandelte sich das vorherrschende Frauenideal zur hingebungsvollen häuslichen Ehefrau. Der Begriff ‚Haushalt‘ bzw. ‚Haushaltung‘ wurde in dieser Zeit in erster Linie mit Fragen der Versorgung verbunden und vielfach im Zusammenhang mit der Rolle der Ehefrau als Haushälterin angewandt. Marklund geht davon aus, dass vor Gericht mit dem Begriff
296; Jonas Liliequist, Changing Discourses of Marital Violence in Sweden from the Age of Reformation to the Late Nineteenth Century, in: Gender & Hist. 23, 2011, 1–25. 44 Fiebranz, Jord (wie Anm. 25), 355–358.
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‚Haushalt‘ das damit verbundene Normenkonzept von Ehefrauen gezielt gegen übermäßig harte oder faule Ehepartner eingesetzt wurde.45 Während Fiebranz und Marklund sich vor allen Dingen auf mögliche Konfliktfelder innerhalb des Haushalts konzentriert haben, betonten andere Historikerinnen die Zusammenarbeit, auch diejenige zwischen den Geschlechtern. Anna Hansen, die die Beziehungen innerhalb des Haushalts im Grenzgebiet zwischen Schweden und Norwegen im 17. Jahrhundert untersucht hat, konstatiert, dass beide, Männer und Frauen, aufgrund ihrer Positionen als Ehemann und Haushälterin bedeutende Macht und Verantwortung besaßen. So konnten sie beide Gesinde einstellen und anleiten und trugen gemeinsam die Verantwortung für die Kinder.46 Die finnische Historikerin Raisa Maria Toivo geht gar davon aus, dass Haushalte im frühneuzeitlichen Finnland von einem Kollektiv geführt wurden, das sie als „managerial group partnership“ bezeichnet – bestehend aus dem Ehemann, der Haushälterin und eventuell weiteren Erwachsenen im Haushalt. Sie weist darauf hin, dass Frauen auch in komplexen Haushalten in diese Leitungsgruppe miteinbezogen waren und dass weibliche Führung deshalb nicht als ein Ausnahmezustand betrachtet werden sollte, der nur dann eintrat, wenn eine männliche Führungskraft fehlte.47 Solche Haushaltskulturen wurden bisher von Historikern noch nicht mit einem Fokus auf den Haushalt selbst untersucht, sondern nur im Hinblick auf andere Untersuchungsgegenstände wie Geschlecht oder Kriminalität. Mein Verständnis einer ‚Haushaltskultur‘ ist vergleichbar mit und orientiert sich an Eva Österbergs Konzept. Die einflussreiche Kennerin der frühneuzeitlichen schwedischen Gesellschaft hebt die grundsätzliche Bedeutung des patriarchalen Ideals, des Traditionalismus und der Denkmuster der Haustafel für die Mentalität im frühneuzeitlichen Schweden hervor. In ihrem Verständnis dieser Normen bildet die darin angelegte Gegenseitigkeit einen zentralen und integralen Bestandteil und einen Schlüssel für die meist recht friedlichen Beziehungen zwischen Obrigkeit und Untertanen im frühneuzeitlichen Schweden.48 In meinen eigenen Forschungen ist das Konzept der Haushaltskultur ausschlaggebend, um das Denken und Handeln frühneuzeitlicher Menschen in verschiedenen Situationen zu verstehen und zu erklären. So definierte sich etwa die Wahrnehmung von Gewalt auch im Hinblick auf die Ordnung des Haushalts. Ein Herr, der seinen Knecht schlug, tat lediglich seine
45 Andreas Marklund, I hans hus. Svensk manlighet i historisk belysning. Umeå 2004, 285–289. 46 Anna Hansen, Ordnade hushåll. Genus och kontroll i Jämtland under 1600-talet. Uppsala 2006, 287–293. 47 Raisa Maria Toivo, Witchcraft and Gender in Early Modern Society. Finland and the Wider European Experience. Aldershot 2008, 201. 48 Österberg, Folklig mentalitet (wie Anm. 38). Mein Verständnis weist auch Parallelen auf zu Julie Hardwick, The Practice of Patriarchy. Gender and the Politics of Household Authority in Early Modern France. University Park Pennsylvania 1998, und Garthine Walker, Crime, Gender and Social Order in Early Modern England. Cambridge 2003.
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Pflicht, während ein Knecht, der seinen Herren schlug, erhebliche Strafen zu gewärtigen hatte.49 Ein Landarbeiter, der seinen Arbeitgeber bei einem Angriff auf den Nachbarn unterstützte, wurde in der Regel milder bestraft, da jener selbstverständlich als verantwortlicher Anstifter gesehen wurde.50 Nicht sozialer Status und Alter waren entscheidend, sondern die Position in einem Haushalt und die damit verknüpften Rechte und Pflichten. Gleichermaßen spielt die Haushaltskultur eine wichtige Rolle, wenn man die Darstellung von bzw. den Umgang mit Vergewaltigungsklagen vor Gericht verstehen will. Ein Standardelement in den Darstellungen verheirateter Frauen war, dass sie angegriffen worden waren, während sie mit einer ihnen obliegenden Haushaltspflicht beschäftigt waren, etwa Kochen oder Kinder hüten. Wurden sie aber außerhalb ihres Hauses angegriffen, waren Erklärungen notwendig – so berichtete etwa eine Frau, sie habe das Gehalt ihres Mannes aus einer nahegelegenen Stadt geholt, während eine andere aussagte, auf dem Weg zur örtlichen Mühle gewesen zu sein. Darüber hinaus beschrieben die verheirateten Frauen ihren physischen Widerstand gegen den Vergewaltiger als unbedingten Willen, ihre eheliche Ehre zu verteidigen. Die Vergewaltigungsnarrative verheirateter Frauen waren also auf das Engste mit der Situierung und ihrer Position innerhalb des Haushalts verknüpft.51 Folgerichtig unterschieden sich die Vergewaltigungsdarstellungen von Mägden, die normalerweise berichteten, wie sie einerseits darauf bedacht waren, ihre Aufgaben als gehorsame Dienstboten zu erfüllen und andererseits eine Vergewaltigung durch den Hausherren zu verhindern suchten. Konnten sie das Gericht von ihrem Gehorsam überzeugen und glaubhaft vertreten, dass der Hausherr seine Befugnisse überschritten hatte, konnten sie auf den Erfolg ihrer Klage hoffen. War eine Magd jedoch von einem anderen Arbeiter vergewaltigt worden, bediente sie sich eines anderen Narrativs, nämlich desjenigen junger Menschen bei der Partnerwerbung.52 Diese Unterschiede zeigen deutlich die Bedeutung der Haushaltskultur, denn Vergewaltigung
49 Karin Hassan Jansson, Våldsgärning, illgärning, ogärning. Könskodat språkbruk och föreställningar om våld i den medeltida landslagen, in: Eva Österberg/Marie Lindstedt Cronberg (Hrsg.), Våld. Representation och verklighet. Lund 2006, 145–165. 50 Karin Hassan Jansson, (O)rättfärdigt våld. Fejdkultur i 1500-talets rättsliga och militära gränsland, in: Maria Sjöberg (Hrsg.), Sammanflätat. Civilt och militärt i det tidigmoderna Sverige. Uppsala 2009. Für England vgl. etwa Walker, Crime (wie Anm. 48). 51 Karin Hassan Jansson, Kvinnofrid. Synen på våldtäkt och konstruktionen av kön i Sverige 1600– 1800. Uppsala 2002. 52 Ebd. Interessanterweise gibt es in dieser Hinsicht Gemeinsamkeiten, aber deutliche Unterschiede in den Vergewaltigungsnarrativen in England und in Schweden. Für England vgl. Miranda Chaytor, Husband(ry). Narratives of Rape in the Seventeenth Century, in: Gender & Hist. 7, 1995, 378–407; Garthine Walker, Rereading Rape and Sexual Violence in Early Modern England, in: Gender & Hist. 10, 1998, 1–25.
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wurde, wie andere Vergehen auch, je nach Rolle und Position der Akteurinnen und Akteure in ihren Haushalten beschrieben und beurteilt. Die Haushaltskultur war allgegenwärtig in der Sprache und in der Einordnung der Menschen. In frühneuzeitlichen schwedischen Texten, wie etwa Gerichtsakten, Kirchenbüchern, Zeitungen und Flugschriften, wurden Menschen nahezu ausschließlich im Hinblick auf ihren häuslichen Status beschrieben. Es gab Herren und Herrinnen, Gesinde und Lehrlinge, Kinder und Mitbewohner. Es spielte dabei keine Rolle, ob ein Mann ein Handwerker, Bauer, Soldat oder Pastor war – stand er einem Haushalt vor, wurde er als verheiratet angesehen. Eine Frau wurde selten als ‚Frau‘ (kvinna oder kvinnsperson) bezeichnet. Generell verwendete man als Begriffe Ehefrau (hustru), Magd (piga) oder Mädchen (flicka) und für Frauen höherer Schichten Dame (fru, fruntimmer) oder Fräulein (jungfru, mamsell). Diese Begriffe zeigten das Geschlecht, Alter, Personenstand und gegebenenfalls auch den sozialen Status oder Standeszugehörigkeit an; ihr Schnittpunkt deutete auf die exakte Position innerhalb des Haushalts hin. Auf diese Weise wurde den frühneuzeitlichen Menschen allein durch die Anrede ein Platz und eine Rolle in der Gesellschaft zugewiesen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Haushaltskultur ein Repertoire an Rollen, Beziehungen und Abläufen bereithielt. Sie wurden in der frühneuzeitlichen Gesellschaft umgesetzt – weder automatisch noch variationslos, sondern auf kreative Weise und mit Spielraum sowohl für Kontinuität als auch für Wandel. Die Haushaltskultur diente dabei als eine Art Skript oder Filter, mit dessen Hilfe die Obrigkeiten wie auch Menschen allgemein die Handlungen anderer Menschen wahrnahmen und beurteilten.
4 Zusammenfassung Die schwedische und skandinavische Forschung der vergangenen fünfzig Jahre zum Haushalt ist den allgemeinen Trends in der europäischen Geschichtswissenschaft gefolgt. In den 1970er und 1980er Jahren, als eine quantitativ ausgerichtete Sozialgeschichte die Geschichtswissenschaft in den nordischen Ländern prägte, benutzte man Kirchenbücher und Steuerlisten, um Haushaltsgrößen und -zusammensetzungen zu rekonstruieren. Mit dem oftmals theoretisch untermauerten Interesse der 1980er und 1990er Jahre für das Alltagsleben, Arbeit und Institutionen richtete sich die Perspektive stärker auf die Funktionen des Haushalts und dessen Interaktion mit Individuen wie auch anderen Institutionen. In den letzten zwanzig Jahren wurde dann in erster Linie eine kulturhistorisch verankerte Forschung mit Blick auf den Haushalt als Symbol, Machtordnung und Mentalität vorherrschend. Die Spannbreite in der schwedischen und skandinavischen Forschung zum Haushalt ist also groß, was Vorteile wie Nachteile mit sich bringt. Unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen verhalfen zu spannenden Untersuchungen,
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wichtigen methodischen Entwicklungen und interessanten Ergebnissen. Gleichermaßen aber birgt dies das Risiko, dass die Forschung so heterogene Einzelbereiche hervorbringt, dass ein Austausch (und Vergleich der Ergebnisse?) kaum noch möglich ist. Eine wichtige Aufgabe für die Forschung ist es also, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen und die Zusammenhänge der Ergebnisse aus unterschiedlichen Feldern zu diskutieren. Wie bedingten sich etwa Haushaltskultur und -struktur gegenseitig? Wie haben wir die Haushalte, wie sie in den Kirchenbüchern und Steuerlisten gesetzt sind, einzuordnen in Bezug zu jenen offenen und lose zusammengesetzten Haushalten, die wir in anderen Quellen finden? Mit welchen Begriffen sollen und wollen diese beschrieben werden? Die Diskussionen der letzten Zeit über das Haus und den Haushalt haben gezeigt, dass es unbedingt notwendig ist, einen präzisen Begriffsapparat zu erarbeiten für das, was wir heute nur sehr unzureichend mit dem Begriff ‚Haushalt‘ umschreiben. Dieser Artikel behandelte den Haushalt entsprechend der bestehenden Forschungsschwerpunkte als Struktur, in seiner Funktion und Organisation sowie als Ideologie, Kultur und Machtordnung. Genauso gut kann man den Haushalt auch als Raum, als Praxis oder als Prozess auffassen. Das Interesse am vormodernen Haus und Haushalt in Europa wird auch deshalb bestehen bleiben, weil die Analyse des häuslichen Gefüges in allen seinen Aspekten entscheidend Aufschluss darüber gibt, wie die frühneuzeitliche Gesellschaft funktionierte und wie sich das Leben für die Menschen in der Frühen Neuzeit gestaltete. Aus dem Schwedischen: Inken Schmidt-Voges
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Der Haushalt in der niederländischen Geschichtsschreibung: Ehemuster, fragliches Patriarchat und häusliches Leben 1 Einleitung: Haus und Haushalt definieren Die Geschichte des Haushalts und der Familie sind in der niederländischen Geschichtsschreibung eng miteinander verknüpft. Ton Zwaan ist 1993 in der Einleitung zu einem Forschungsband über Familie, Ehe und Kernfamilie vom Mittelalter bis in die Moderne auf die Besonderheiten der Definition der ‚Familie‘ im Niederländischen eingegangen. In den meisten westeuropäischen Sprachen hat der Begriff ‚Familie‘ zwei Bedeutungen. Entweder bezieht er sich auf ein (verheiratetes) Paar und deren Kinder oder auf einen erweiterten Kreis von Verwandten bzw. Blutsverwandten. Die historische Vielfalt der Familienformen erforderte spezifischere Definitionen, insbesondere um Ersteres von Letzterem zu unterscheiden. Die englischsprachigen Konzepte der nuclear family und der conjugal family wurden deshalb von Wissenschaftlern auf die niederländische Situation angepasst und als kerngezin bzw. conjugaal gezin übersetzt. Allerdings sind diese Ergänzungen überflüssig, da das moderne Niederländisch für die zwei unterschiedlichen Bedeutungen zwei verschiedene Wörter kennt: gezin bezieht sich auf die nuclear family, und mit familie ist in der Regel die erweiterte Familie oder ein erweiterter Verwandtschaftskreis gemeint.1 Gezin wurde ursprünglich verwendet, um die Gefolgschaft eines Adligen zu bezeichnen, so auch die Erklärung im Niederländischen Wörterbuch „Woordenboek der Nederlandse Taal“, und ist in seiner Bedeutung viel näher bei dem, was wir als Haushalte bezeichnen. Gezin gewann seine heutige Bedeutung bereits im 16. Jahrhundert.2 Eine andere Unterscheidung im Niederländischen, die in vielen anderen Sprachen fehlt, besteht darin, dass gezin (nuclear family) gewöhnlich benutzt wird, um Verwandtschaftsbeziehungen zu bezeichnen, wohingegen huishouden (household) für soziale oder ökonomische Einheiten steht, wie der niederländische Historiker Michiel Baud anmerkte.3
1 Ton Zwaan, Families, huwelijken en gezin. Een introductie, in: ders. (Hrsg.), Familie, huwelijk en gezin in West-Europa. Van Middeleeuwen tot moderne tijd. Amsterdam 1993, 24 f. 2 Vgl. das deutsche Wort ‚Gesinde‘, das auf häusliche Bedienstete verweist. Vgl. ebd., 28. 3 Michiel Baud, Huishouden, gezin en familienetwerk. Een eerste inleiding op de thematiek, in: Michiel Baud/Theo Engelen (Hrsg.), Samen wonen, samen werken. Vijf essays over de geschieensi van arbeid en gezin. Hilversum 1994, 17.
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Die Etymologie bildet teilweise wichtige Entwicklungen der niederländischen nuclear family in der historischen Realität ab. Bis zum späten 16. Jahrhundert hatte die Kernfamilie eine dominante Stellung in weiten Teilen Westeuropas erreicht. In den westlichen und nördlichen Provinzen der niederländischen Republik war die Individualisierung des Haushalts jedoch weiter fortgeschritten als anderswo, wie Jan de Vries und Ad van der Woude zeigten.4 Wegen des hohen Mobilitätsniveaus und des hohen Urbanitätsgrads sowie wegen ihrer Struktur als Kernfamilie spielte die Familie in den Niederlanden eine weniger prominente Rolle als in den meisten anderen vorindustriellen Gesellschaften. Dies gilt für die wirtschaftlichen Verhältnisse oder die soziale Sicherheit, wie De Vries und Van der Woude hervorgehoben haben, und es gilt für die Eigentums- oder Wohnverhältnisse. All dies hat die Verwendung von Konzepten durch die HistorikerInnen beeinflusst.5 Das ‚Haus‘ wurde in der niederländischen Geschichte nie als juristische Kategorie verstanden. ‚Haus‘ (huis) bezieht sich in erster Linie auf ein Gebäude, das seinen Bewohnern Schutz bietet. In diesem konzeptionellen Zusammenhang hat es am meisten Aufmerksamkeit erhalten. Der Begriff ‚Haus‘ könnte auch den Ort bezeichnen, an dem jemand arbeitet oder lebt. In diesem Sinne wurde der Begriff ‚Haus‘ jedoch selten eingesetzt. In frühneuzeitlichen Zeugnissen von Zivil- und Strafgerichten nutzten Hausbedienstete und Putzkräfte nicht Ausdrücke wie ‚das Haus von‘, wenn sie nach ihrem Anstellungsverhältnis gefragt wurden, sondern nannten stattdessen einfach den Namen ihres Arbeitgebers. Die Vernachlässigung der zweiten Bedeutung von ‚Haus‘ als Verweis auf die breitere oder erweiterte Familie ist vielsagend und kann wahrscheinlich durch die frühe Dominanz der bürgerlichen Kultur in den nördlichen Niederlanden und die abnehmende Bedeutung der erweiterten Familie erklärt werden. Mehr als das Haus zog der Haushalt frühzeitig die Aufmerksamkeit der HistorikerInnen auf sich. Die Bedeutung des niederländischen huishouden (Haushalt) hat einige interessante Veränderungen durchlaufen. Als Substantiv ist die Bedeutung von huishouden relativ klar. Es bezieht sich auf alle unter einem Dach Wohnenden, die eine ökonomische Einheit bilden. Diese besteht aus der (Kern-)Familie, den Bediensteten und möglichen Mitbewohnern, entweder Mietern oder Verwandten. Häufiger als anderswo war der niederländische Haushalt jedoch klein und glich der (Kern-) Familie mit möglicherweise einem oder zwei Bediensteten. Huishouden (wörtlich: Haushalten) wird auch als Verb gebraucht und bezeichnet dann das Führen eines Haushalts. Huishouden wird weniger mit der Ausübung von Autorität assoziiert. Der Begriff steht eher im Zusammenhang mit häuslichen Aktivitäten, die für das reibungslose Funktionieren des Haushalts notwendig waren: Einkauf von Nahrungsmitteln,
4 Jan de Vries/Ad van der Woude, The First Modern Economy. Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500–1815. Cambridge 1997, 163. 5 Ebd., 657.
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Getränken und Kleidung, Aufsicht über die Bediensteten, Kinderbetreuung und das Sauberhalten des Hauses, d. h. Tätigkeiten, die als Aufgabe der (verheirateten) Frau wahrgenommen wurden.6 Es ist die – vermeintliche – Einzigartigkeit des niederländischen Haushalts, die große Teile der Forschung zur Geschichte des frühneuzeitlichen niederländischen Haushalts inspiriert hat. Die besonderen Eigenschaften der Kernfamilie und die eher individualisierten Haushalte ziehen sich als Themen wie ein roter Faden durch die Geschichtsschreibung und damit durch die unten diskutierten dominanten Debatten: Demographie und Haushalte, das sog. ‚europäische Ehemuster‘ (European Marriage Pattern) und seine Implikationen, Patriarchat, häusliches Leben und öffentlicher Raum.
2 Demographie und Haushalte Der hohe Urbanitätsgrad beeinflusste seit dem 16. und 17. Jahrhundert deutlich Größe, Formation und Funktionsweise des Haushalts in den Niederlanden. Am Ende des 18. Jahrhunderts lebten circa 30 bis 40 % der niederländischen Bevölkerung in Städten. Mehr als 60 % waren Bewohner von kleinen oder mittelgroßen Städten (>2 500 Einwohner).7 Folglich stellten niederländische Sozial- und Wirtschaftshistoriker urbane Haushalte in den Mittelpunkt ihrer Forschung zu Haushaltsgröße, Eheschließungen und Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Deutlich weniger erforscht wurden Haushalte in den ländlichen Gebieten der östlichen Niederlande. Die niederländische Geschichtsschreibung zu Haushalten wurde stark geprägt von der Arbeit des Demographen John Hajnal, der auf das European Marriage Pattern mit einem späten Heiratsalter und einer hohen Rate an Ehelosen hinwies, sowie Peter Lasletts Cambridge Group for the History of Population and Social Structure.8 Laslett und Richard Wall widerlegten die unter Historikern bis dahin vorherrschende Annahme, dass im vormodernen Europa die Mehrheit der Haushalte erweitere Haushalte mit drei Generationen und Bediensteten waren. Die Daten legten einen ganz anderen Schluss nahe: Die Kernfamilie war vorherrschend.9 Haushaltsgröße und -zugehörigkeit entwi-
6 Els Kloek, Vrouw des Huizes Een cultuurgeschiedenis van de Hollandse huisvrouw. Amsterdam 2009, 101–105. 7 De Vries/Van der Woude, First Modern Economy (wie Anm. 4), 61. 8 Für einen kurzen Überblick der Debatte: Els Kloek, Seksualiteit, huwelijk en gezinsleven tijdens de lange zestiende eeuw, 1450–1650, in: Zwaan (Hrsg.), Familie (wie Anm. 1), 107–138; John Hajnal, European Marriage Patterns in Perspective, in: D. V. Glass/D.E.C. Eversley (Hrsg.), Population in History. London 1965,101–143; ders., Two Kinds of Preindustrial Household Formation System, in: Population and Development Rev. 8, 1982, 449–494. 9 Peter Laslett, The World We Have Lost. London 1965; ders./Richard Wall, Household and Family in Past Time. Cambridge 1972, 1–89.
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ckelten sich zu zentralen Themen der niederländischen historischen Debatten über Familie und Eheschließung. Die Grundlagen wurden in den 1950er bis 1970er Jahren von den Mitgliedern des Forschungsprojekts des Departments für Agrargeschichte der Universität Wageningen gelegt. Einige beeindruckende Regionalstudien basierten auf einem breiten Spektrum an Quellen, die Tauf-, Hochzeits-, Begräbnis- und Steuerregister umfassten.10 Studien zu urbanen Gebieten folgten später. Ad van der Woude fasste die Erkenntnisse in einem grundlegenden Artikel zusammen und zeigte, dass Haushaltsgrößen und -strukturen deutlich vielfältiger waren als zuvor angenommen.11 Van der Woude knüpfte zusammen mit De Vries an die Arbeiten von Hajnal und Laslett an. In ihrem klassischen Werk „The First Modern Economy“ postulierten sie, dass niederländische Haushalte die von Hajnal und Laslett beschriebenen demographischen Merkmale widerspiegelten. Sie charakterisierten die demographische Entwicklung der Niederlande zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert folgendermaßen: erstens ein zunehmender Anteil unverheirateter Frauen, zweitens ein zunehmender Anteil von Eheschließungen im hohen Alter (insbesondere der Frauen) und drittens eine stetig abnehmende Fertilitätsrate infolge der ersten beiden Aspekte.12 Darüber hinaus waren frühneuzeitliche Städte von einem ungleichen Bevölkerungsanteil der beiden Geschlechter geprägt. Dieses demographische Merkmal war in fast allen Gebieten Westeuropas prägend. Aufgrund der hohen Migration und des Überseehandels dürfte es allerdings in den Niederlanden besonders stark ausgeprägt gewesen sein.13 Die besonderen demographischen Strukturen der Niederlande erklären wohl die kleine Haushaltsgröße in frühneuzeitlichen niederländischen Städten. Die Untersuchungen weisen auf eine durchschnittliche Haushaltsgröße von vier bis fünf Personen hin. Überseehandel, Einwanderung und der daraus folgende hohe Überschuss an Frauen resultierten in noch tieferen Zahlen für die Niederlande.14 Die Kernfamilie
10 B. H. Slicher van Bath, Een samenleving onder spanning. Geschiedenis van het platteland in Overijssel. Assen 1957; H. K. Roessingh, Beroep en bedrijf op de Veluwe in het midden van de achttiende eeuw, in: A. A. G. Bijdragen 13, 1965, 181–274; Ad van der Woude, Het Noorderkwartier. Een regionaal historisch onderzoek in de demografische en economische geschiedenis van westelijk Nederland van de late middeleeuwen tot het begin van de negentiende eeuw. Wageningen 1972; Joop A. Faber, Drie eeuwen Friesland. Economische en sociale ontwikkelingen van 1500 tot 1800. Wageningen 1972. 11 Ad van der Woude, De omvang en samenstelling van de huishouding in Nederland in het verleden, in: A. A. G. Bijdragen 15, 1970, 202–241. 12 De Vries/Van der Woude, First Modern Economy (wie Anm. 4), 78 f. 13 Marianne Kowaleski, Single Women in Medieval and Early Modern Europe. The Demographic Perspective, in: Judith M. Bennett/Amy M. Froide (Hrsg.), Singlewomen in the European Past, 1250–1800. Philadelphia 1999, 39 f., 56 f.; Lotte C. van de Pol, The Lure of the Big City. Female Migration to Amsterdam, in: Els Kloek/Nicole Teeuwen/Marijke Huisman (Hrsg.), Women of the Golden Age. An International Debate on Women in Seventeenth-Century Holland, England and Italy. Hilversum 1990, 78 f. 14 D. J. Noordam, Gezin- en huishoudensstructuren in het achttiende-eeuwse Leiden, in: H. A. Diederiks/D.J. Noordam/H.D. Tjalsma (Hrsg.), Armoede en sociale spanning. Sociaal-historische studies over Leiden in de achttiende eeuw. Hilversum 1985, 89.
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hatte sich von der erweiterten Verwandtschaft und in vielen Fällen auch von den Bediensteten getrennt. In den meisten Orten machten Bedienstete etwa 12 bis 15 % der Gesamtbevölkerung aus. Dies war auch im ländlichen Osten der Fall. Im Westen der Republik repräsentierten sie dagegen nicht mehr als 4 bis 8 % und in den Städten häufig weniger als 4 % der Gesamtbevölkerung.15 Die Entdeckung der Dominanz der Kernfamilie relativierte bis anhin bestehende Annahmen über Zuneigung und Liebe innerhalb der Ehe und zwischen Familien mitgliedern.16 In den 1960er und 1970er Jahren hatten Historiker wie Philippe Ariès, Edward Shorter, Lawrence Stone und Jean-Louis Flandrin argumentiert, dass Menschen vor 1800 generell bei der Wahl eines Ehepartners nicht frei entscheiden konnten, dass Liebe normalerweise keine Rolle gespielt habe und dass die Zuneigung zwischen Ehepartnern und Eltern und Kindern gering gewesen sei. In den Jahren nach diesen Publikationen folgte eine Welle der Kritik von Wissenschaftlern wie Alan Macfarlane, Ralph Houlbrooke und Linda Pollock.17 Die neue Debatte über die Kernfamilie und emotional-liebevolle Familienbeziehungen veranlasste niederländische Historiker, Heiratsmotive und den Grad der Zuneigung zwischen Ehepartnern und Familienmitgliedern in den frühneuzeitlichen Niederlanden zu untersuchen.18 Basierend auf Moralliteratur und bis dato zu diesem Thema als Quellen noch nicht berücksichtigten Akten zivilrechtlicher Gerichtsverfahren, argumentierte Donald Haks in einer umfangreichen Studie zu Ehen und Familien in den Niederlanden des 17. und 18. Jahrhunderts, dass die erweiterte Familie dominiert habe. Auf der Basis der Betrachtung unzähliger Ego-Dokumente – Tagebücher, Autobiographien und Memoiren – argumentierte Rudolf Dekker, dass ein differenziertes Bild der frühneuzeitlichen Kindheit notwendig sei. Soziale Konventionen mögen Eltern vor dem 18. Jahrhundert vorgeschrieben haben, Gefühle zurückhaltend zu zeigen. Aber solche Normen bedeuteten mitnichten, dass Eltern für ihre Kinder keine Liebe und Zuneigung empfunden hätten.19 Dies stimmt mit den Forschungsergebnissen von Benjamin Roberts überein, wonach die Korrespondenz zwischen Mitgliedern der städtischen niederländischen Elite deren Befürchtungen rund um die
15 De Vries/Van der Woude, First Modern Economy (wie Anm. 4), 163. 16 Els Kloek, Huwelijk en gezinsleven tijdens het Ancien Régime, 1650–1800, in: Zwaan (Hrsg.), Familie (wie Anm. 1), 139–164. 17 Alan Macfarlane, Marriage and Love in England. Modes of Reproduction 1300–1840. Oxford 1986; Ralph A. Houlbrooke, The English Family, 1450–1700. London 1984; Linda A. Pollock, Forgotten Children. Parent-Child Relations from 1500–1900. Cambridge 1983. 18 Donald Haks, Huwelijk en gezin in Holland in de 17e en 18e eeuw. Processtukken en moralisten over aspecten van het laat 17de– en 18de eeuwse gezinsleven. Assen 1982. 19 Rudolf Dekker, Uit de schaduw in 't grote licht. Kinderen in egodocumenten van de Gouden Eeuw tot de Romantiek. Amsterdam 1995.
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Ernährung von Säuglingen, Krankheiten, Ausbildungsfragen und Fragen der moralischen Erziehung ihrer Kinder belegen.20 Konsistorialprotokolle der Niederländisch-reformierten Kirche zwischen 1573 und 1700 zeigen, dass Konflikte zwischen Eltern und Kindern häufig aus einer Mischung aus ökonomischen Interessen und aufrichtigen Sorgen entstanden. Manon van der Heijden hat festgestellt, dass es besonders häufig Unstimmigkeiten zwischen Eltern und Kindern gab, wenn es um die Arbeitserfahrung zukünftiger Schwiegersöhne und die zukünftige Aufgabenverteilung im Haushalt ging. Elterliche Sorgen um die finanzielle Lage ihres zukünftigen Schwiegersohns waren begründet, da gute berufliche Fähigkeiten das finanzielle Überleben eines Paares erleichterten. Machtkämpfe zwischen Kindern und Stiefeltern führten auch zu Arbeitskonflikten. Wenn ein verwitweter Elternteil erneut heiratete, mussten Kinder und Stiefeltern ihre Rollen im Haushalt neu definieren. Kinder, die nach dem Tod eines Elternteils neue Verantwortungsbereiche beanspruchten, widersetzten sich so oft ihren Stiefeltern, welche diese Aufgaben übernahmen.21
3 Implikationen des European Marriage Patterns in den Niederlanden Das sog. ‚europäische Ehemuster‘ und der hohe Frauenüberschuss hatten zwischen ca. 1550 und 1800 einen großen Widerhall in der Zusammensetzung des niederländischen Haushalts. Während des 17. und 18. Jahrhunderts stand meistens ein verheiratetes Paar an der Spitze des Haushalts. Der Anteil der von Frauen geführten Haushalte war aufgrund der demographischen Dynamik vor allem in den Städten der Niederlande hoch, variierte allerdings je nach Stadt.22 Er war aber deutlich höher als der Anteil der von einem alleinstehenden Mann oder einem Witwer geführten Haushalte. Dies ist wohl so, weil Witwer häufiger erneut heirateten und sich mit größerer Wahrscheinlichkeit einem anderen Haushalt anschlossen.23 Das Phänomen der hohen Anzahl der von Frauen geführten Haushalte hat bei HistorikerInnen großes Interesse geweckt. Es inspirierte weitere Studien zu der Frage, wie diese Frauen – entweder Witwen oder Ehefrauen von Seeleuten – ihr Leben
20 Benjamin Roberts, Through the Keyhole. Dutch Child-Rearing Practices in the 17th and 18th Century. Three Urban Elite Families. Hilversum 1998. 21 Manon van der Heijden, Contradictory Interests. Work, Parents, and Offspring in Early Modern Holland, in: The Hist. of the Family 9, 2004, 355–370. 22 Ariadne Schmidt/Manon van der Heijden, Women Alone in Early Modern Dutch Towns. Opportunities and Strategies to Survive, in: Journ. of Urban Hist. 2015 (im Erscheinen). 23 Ariadne Schmidt, Overleven na de dood. Weduwen in Leiden in de Gouden Eeuw. Amsterdam 2001, 234 f.
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lebten.24 Die hohe Zahl deutet nicht nur darauf hin, dass Frauen eine wichtige Rolle als Familienvorstand spielten. Sie zeigt auch, dass viele Haushalte ohne männliche Erwachsene auskamen. Das Fehlen eines Ehemanns, was häufig dem Fehlen eines Versorgers gleichkam, zog für viele Haushalte ernsthafte finanzielle Konsequenzen nach sich. Obwohl bekannt ist, dass die hohe Sterblichkeit zu einem Frauenüberschuss führte, ist immer noch unklar, wie diese demographischen Strukturen die Stellung der Frau im Haushalt genau beeinflussten. In einer Sonderausgabe von „The History of the Family“ über ökonomische Ressourcen und soziale Netzwerke von haushaltsführenden Frauen kamen Manon van der Heijden, Richard Wall und Ariadne Schmidt zu dem Schluss, dass „relatively large groups of women and their families had to cope, temporarily or permanently, without a male (adult) breadwinner“. Dies scheint vor allem in den Gemeinden der Niederlande, deren Männer zur See fuhren, der Fall gewesen zu sein.25 Die Hauptherausforderung für die Mehrheit der von Frauen geführten Haushalte war die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage. Mehrere Studien zur Armenfürsorge haben gezeigt, dass Frauen in den ärmsten Schichten der Gesellschaft stark überrepräsentiert waren.26 In der neuesten Geschichtsschreibung wurde die wirtschaftliche Gefährdung der von Frauen geführten Haushalte häufig betont. Neben einer allgemeinen Krisenanfälligkeit dieser Haushalte seien die Frauen weniger in der Lage gewesen, unabhängig zu handeln. Demzufolge war Kriminalität für alleinstehende Frauen oft die einzige Option, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.27 Das in jüngerer Zeit gestiegene Interesse an der Geschichte von Alleinstehenden resultierte in Forschungsarbeiten, die diese Meinung differenzierten.28 Viele Frauen, die einen Haushalt unterhalten mussten, waren mit schwierigen Bedingungen konfrontiert und häufig von Krisen bedroht. Oft waren sie aber auch in der Lage, ihr Überleben durch eine Kombination von Arbeit, Wohltätigkeit, Hilfe von Freunden oder Nachbarn und manchmal auch kriminellen Handlungen zu sichern.29
24 Ebd.; Annette de Wit, Leven, werken en geloven in zeevarende gemeenschappen. Schiedam, Maassluis en Ter Heijde in de zeventiende eeuw. Amsterdam 2008. 25 Manon van der Heijden/Ariadne Schmidt/Richard Wall, Broken Families. Economic Resources and Social Networks of Women Who Head Families, in: The Hist. of the Family 12, 2007, 223–232. 26 Hilde van Wijngaarden, Zorg voor de kost. Armenzorg, arbeid en onderlinge hulp in Zwolle 1650– 1700. Amsterdam 2000; Ingrid van der Vlis, Leven In Armoede. Delftse bedeelden in de zeventiende eeuw. Amsterdam 2001. 27 Derek Philips, Well-Being in Amsterdam’s Golden Age. Amsterdam 2008, 98–104. 28 Julie De Groot/Isabelle Devos/Ariadne Schmidt (Hrsg.), Single Life and the City, 1200–1900. Basingstoke 2015; Julie De Groot/Isabelle Devos/Ariadne Schmidt (Hrsg.), The Lure of the City. Comparative Perspectives on Singles in Towns in the Low Countries, 1600–1940, in: Journ. of Urban Hist. 2015 (im Erscheinen). 29 Schmidt/Van der Heijden, Women Alone (wie Anm. 22).
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Lange nahm die Forschung über die Seefahrt an, dass Matrosen nicht verheiratet waren, weil ihre Löhne zu gering waren, um eine Familie zu unterhalten.30 Dieser ‚Mythos vom ungebundenen Seemann‘ wurde von der neueren, am Leben zu Lande interessierten Forschung widerlegt: Ein großer Teil der Matrosen war verheiratet und hinterließ Witwen.31 Häufig schafften es Haushalte, ohne männlichen Erwachsenen zu überleben. Die kombinierte Untersuchung von Daten zur Armenfürsorge des 18. Jahrhunderts, Aufzeichnungen der Niederländischen Ostindien-Kompanie und Gesuchen von Frauen an die städtischen Behörden der seefahrenden Städte ergab, dass zahlreiche Frauen von Matrosen imstande waren, ihren Haushalt ohne wohltätige Unterstützung zu leiten.32 Ehemänner, die sich im Ausland aufhielten, konnten bestimmte Befugnisse für einen festgelegten Zeitraum an ihre Frauen übertragen. In solchen Fällen kamen Frauen, die einen Haushalt führten, in den Genuss weitreichender Befugnisse. Es war ihnen erlaubt, Kredite aufzunehmen und diverse andere finanzielle Transaktionen zu tätigen. So war es nicht ungewöhnlich, dass ein Matrose, bevor er in See stach, zu einem Notar oder Friedensrichter ging, um für seine Ehefrau eine Vollmacht zu erlangen, die ihr besondere Rechte zuerkannte. Darüber hinaus konnten Frauen selbst eine solche Vollmacht von einem Gericht verlangen, falls ihre Ehemänner eine derartige Verabredung getroffen hatten. Mit diesen Rechten konnte der weibliche Familienvorstand Erbschaften antreten, Güter kaufen und verkaufen oder geschäftliche Angelegenheiten unabhängig abwickeln.33 Familien, die nicht in der Lage waren, ohne finanzielle Hilfe eigenständig zu überleben, konnten auf verschiedene Arten Unterstützung erhalten. Alleinstehende Frauen mit Kindern wurden, anders als Witwen, nicht der privilegierten Kategorie der personae miserabiles zugeordnet, also den deserving poor, die auf öffentliche Unterstützung zählen konnten. Dies heißt aber nicht, dass sie von jeglicher Unterstützung ausgeschlossen waren. Zwei wichtige Studien von Hilde van Wijngaarden und Ingrid van der Vlis basieren auf einer genauen Untersuchung der Aufzeichnungen
30 J. R. Bruijn/J. Lucassen (Hrsg.), Op de schepen der Oost-Indische Compagnie. Vijf artikelen van J. de Hullu. Groningen 1980, 18; Valerie Burton, The Myth of Bachelor Jack. Masculinity, Patriarchy and Seafaring Labour, in: Colin Howell/Richard J. Twomey (Hrsg.), Jack Tar in History. Essays in the History of Maritime Life and Labour. Fredericton 1991. 31 Roelof van Gelder, Het Oost-Indisch avontuur. Duitsers in dienst van de voc (1600–1800). Nijmegen 1997. 58; Annette de Wit, Zeemansvrouwen aan het werk. De arbeidsmarktpositie van vrouwen in Maassluis, Schiedam en Ter Heijde (1600–1700), in: Tijdschrift voor Sociale en economische geschiedenis 2, 2005, 60–80; Manon van der Heijden, Achterblijvers. Rotterdamse vrouwen en de VOC (1692–1795), in: dies./Paul van de Laar (Hrsg.), Rotterdammers en de VOC. Handelscompagnie, stad en burgers. Amsterdam 2002, 181–212; Danielle van den Heuvel, ‚Bij Uijtlandigheijt Van Haar Man‘. Echtgenotes Van Voc-Zeelieden, Aangemonsterd Voor De Kamer Enkhuizen (1700–1750). Amsterdam 2005, 32–40. 32 Manon van der Heijden/Danielle van den Heuvel, Sailor’s Families and the Urban Institutional Framework in Early Modern Holland, in: The Hist. of the Family 12, 2007, 296–309. 33 Ebd., 304 f.
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der öffentlichen Armenfürsorge. Sie demonstrieren, dass alleinstehende Frauen wirtschaftlich gefährdet waren, die Behörden jedoch zu helfen gewillt waren. Die hohe Zahl an Fürsorgeempfängerinnen belegt dies.34 Kürzlich hoben die beiden Wirtschaftshistoriker Jan Luiten van Zanden und Tine De Moor die Diskussion um das ‚europäische Ehemuster‘ auf eine globalere Ebene. Sie meinen, dass das ‚europäische Ehemuster‘ bei der ökonomischen Entwicklung Westeuropas eine entscheidende Rolle gespielt habe. Das spezifische, im Spätmittelalter entstandene, demographische Muster könnte Unterschiede im Wirtschaftswachstum zwischen Osten und Westen erklären, die als great divergence identifiziert wurden. Es könnte auch erklären, warum Nordwesteuropa in der ökonomischen Entwicklung Europas die Führung übernahm.35 Für die Entstehung der etwa im Vergleich mit China relativ unabhängigen Position der Frau im vorindustriellen Westeuropa, insbesondere in England und in den Niederlanden, war das ‚europäische Ehemuster‘ von großer Bedeutung. Es zeichnete sich, so argumentierten De Moor und Van Zanden, durch eine grundlegende Anpassung der Haushaltsstrukturen und Ehemuster an Marktmöglichkeiten aus. Diese Faktoren förderten die ökonomische Unabhängigkeit von Männern und Frauen und gaben Frauen mehr Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und öffentliche Rollen zu übernehmen. Ihre Thesen gaben der Erforschung von Ehemustern, der Haushaltsbildung und der Wirtschaftsentwicklung wichtige Impulse. Sheila Ogilvie und T. K. Dennison kritisierten die vorgeschlagene Verbindung zwischen ‚europäischem Ehemuster‘ und ökonomischer Entwicklung. Sie fanden in ihrer auf einer Metastudie von demographischer Literatur basierenden Forschung keine Evidenz dafür, dass „the EMP improved economic performance by empowering women, increasing human capital investment, adjusting population to economic trends.“36 Andere HistorikerInnen betrachteten das ‚europäische Ehemuster‘ in einer komparativen Perspektive. Sie untersuchten, inwiefern sich die Haushaltsbildung und Ehemuster in Westeuropa tatsächlich von denjenigen in anderen Teilen der Welt unterschieden.37 Diese Diskussion führte dazu, dass die zentrale Bedeutung der Haushalte für die ökonomische Entwicklung in verstärktem Maße anerkannt wurde. Die einflussreiche These von Jan De Vries zur Industrious Revolution war diesbezüglich von unverkennbar großer Bedeutung. De Vries schrieb den Haushalten eine
34 Van Wijngaarden, Zorg voor de kost (wie Anm. 26); Van der Vlis, Leven in Armoede (wie Anm. 26). 35 Tine De Moor/Jan Luiten Van Zanden, Girl Power. The European Marriage. Pattern and Labour Markets in the North Sea Region in the Late Medieval and Early Modern Period, in: EconHR 63, 2009, 1–33, hier 4. 36 T. K. Dennnison/Sheilagh Ogilvie, Does the European Marriage Pattern Explain Economic Growth?, in: CESifo Working Paper Series No. 4244, 31. Mai 2013, URL: http://ssrn.com/abstract=2274606 (Zugriff: 11. 02. 2015). 37 Sarah Carmichael/Tine De Moor/Jan Luiten van Zanden, The Hist. of the Family 16, 2011, Special Issue on Marriage Patterns, Household Formation and Economic Development.
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entscheidende Rolle in der Entwicklungsgeschichte der Industriellen Revolution zu. Die Arbeit im Haushalt, insbesondere die Arbeitskraft der Ehefrauen und Kinder, wurde demnach von der Subsistenz hin zur Marktorientierung umverteilt, angeregt durch die Nachfrage nach neuen Konsumgütern.38 Diese Entscheidungen auf der Mikroebene initiierten, wie er argumentierte, den Entwicklungsprozess der Industrialisierung. Die dünne empirische Basis dieser Theorie ermutigte HistorikerInnen, Veränderungen von Konsummustern und Arbeit auf der Ebene des Haushalts in den Niederlanden und im Ausland zu untersuchen.39 Sie zeigten häufig, dass die Kausalbeziehungen etwas komplexer waren als von der Theorie vorgeschlagen. Die Beschäftigung mit Haushaltspräferenzen und -entscheidungen zeigt, wie die neue Haushaltsökonomie direkt oder indirekt die HistorikerInnen inspirierte. Aber der Paradigmenwechsel ging noch weiter. Haushalte waren zuvor lange hauptsächlich als Objekte von Veränderungen gesehen worden. Dagegen wurden der Haushalt und Verhaltensweisen im Haushalt von der neueren Forschung quasi als agents des sozialen und ökonomischen Wandels untersucht. Die Möglichkeiten bei einer Betrachtung des Haushalts als Analyseeinheit verdeutlicht das von Bruno Blondé und Jord Hanus herausgegebene Sonderheft „Households as Agents of Change?“.40 HistorikerInnen erkennen zunehmend, wie wichtig Haushalte für große historische Transformationsprozesse sind: sei es, weil – intendiert oder nicht-intendiert – das Verhalten auf der Mikroebene des Haushalts strukturelle Veränderungen in demographischen Mustern oder ökonomischen Entwicklungen bewirkte; sei es, weil allgemein das menschliche Wohlbefinden und die menschliche Entwicklung davon betroffen waren. Diese neuen Tendenzen in der Geschichtsschreibung haben Haushalte (wieder) prominent auf die Tagesordnung gesetzt.
38 Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the present. Cambridge 2008. 39 Elise van Nederveen Meerkerk, Couples Cooperating? Dutch Textile Workers, Family Labour and the ‚Industrious Revolution‘, c. 1600–1800, in: Continuity and Change 23, 2008, 237–266; Danielle van den Heuvel/Elise van Nederveen Meerkerk, Huishoudens, werk en consumptieveranderingen in vroegmodern Holland, in: Holland 42, 2010, 102–124; Elise van Nederveen Meerkerk/Ariadne Schmidt, Le travail des femmes et des enfants dans une société industrieuse. Les Province-Unies (XVIIe–XIXe siècle), in: Corine Maitte/Didier Terrier (Hrsg.), Les Temps du Travail. Normes, pratiques, évolutions (XIVe–XIXe siècle). Rennes 2014, 433–453. 40 Bruno Blondé/Jord Hanus, Households as Agents of Change? Perspectives From the Low Countries, eighteenth–twentieth centuries, in: Tijdschrift voor Sociale en Economische Geschiedenis 8, 2011, 3–14.
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4 Die Diskussion über patriarchalische Haushalte Die patriarchalische Struktur des Haushalts während der Frühen Neuzeit bildet einen bedeutenden Streitpunkt innerhalb der niederländischen Geschichtsschreibung. HistorikerInnen haben die Auswirkungen der Reformation auf die Stellung der Frau im Haushalt untersucht. Die meisten niederländischen Wissenschaftler sahen die Auswirkungen der Reformation auf das Leben von Frauen skeptisch und vertraten die Ansicht, dass Frauen aufgrund der protestantischen Moralvorstellungen zunehmend in eine untergeordnete Position gedrängt wurden.41 Die Diskussion über das Patriarchat ist aus vielen Gründen häufig schwammig. Erstens unterschieden die meisten WissenschaftlerInnen nicht zwischen protestantischen Moralvorstellungen und Praktiken im alltäglichen Leben von Männern und Frauen. Eventuell förderte die reformierte Kirche das Ideal des patriarchalischen Haushalts und der untergeordneten Stellung der Frau. Aber inwiefern wurden solche moralischen Regeln von den Kirchenmitgliedern befolgt? Obwohl der Norden der Niederlande mehrheitlich protestantisch war, blieb ein beachtlicher Teil der dortigen Bevölkerung der katholischen Kirche treu. Zweitens stimmte die Idee der untergeordneten Stellung der Frau nicht mit deren unabhängiger Position als Haushaltsvorstand überein. Im 17. Jahrhundert beschrieben ausländische Besucher die Stellung der Frau häufig als sehr bedeutend im Vergleich zu ihren Zeitgenossinnen in England, Frankreich und Deutschland.42 Schließlich fehlen größtenteils konkrete Belege, um die positive oder die negative Interpretation der Stellung der Frauen in Haushalten zu belegen. Bis vor kurzem wusste man wenig über die Alltagspraktiken der gewöhnlichen niederländischen Männer oder Frauen vor 1800. Für Donald Haks gab es keinen Hinweis darauf, dass niederländische Haushalte, die vergleichsweise klein und einfach in der Zusammensetzung waren, von patriarchalischer Art waren. Die rechtliche Stellung der Frau war vielleicht schwach, ihr sozialer Status jedoch beachtlich.43 Die aktuellere Forschung von Manon van der Heijden, Elise van Nederveen Meerkerk und Ariadne Schmidt stimmt mit Donald Haks‘ Resultaten überein. Ihre Ergebnisse fußen auf einer breiten Auswahl an Primärquellen wie Gesetze und Rechtsordnung, Gerichtsakten, Konsistorialakten, Notizen der Gilden, die Steuerregister und Aufzeichnungen diverser städtischer Institutionen. Ihre Untersuchungen ergeben keine Hinweise auf eine Schwächung der Frauen bezüglich ihrer
41 Auke J. Jelsma, Tussen heilige en helleveeg. De vrouw in het christendom. Den Haag 1975; Els Kloek, De Reformatie als thema van vrouwengeschiedenis. Een historisch debat over goed en kwaad, in: Tijdschrift voor vrouwengeschiedenis 4, 1983, 106–149; Vgl. zu dieser Debatte auch Manon van der Heijden, Huwelijk in Holland. Stedelijke rechtspraak en kerkelijke tucht 1550–1700. Amsterdam 1998 40–42. 42 Simon Schama, The Embarassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age. London 1987, 407. 43 Haks, Huwelijk en gezin (wie Anm. 18), 298.
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Freiheit in der Ehe, ihrer Rechtsansprüche sowie ihrer Position auf dem Arbeits- und Finanzmarkt.44 Der protestantische Grundsatz des Elternkonsenses bei der Wahl eines Ehepartners war ein wichtiges Argument für die Vorstellung, dass die Stellung der Frau nach der Reformation geschwächt wurde. Allerdings offenbaren Notizen des Konsistoriums, dass solche elterlichen Rechte in der Praxis vorrangig eingesetzt wurden, um Kinder vor Armut und bösen Absichten von Verlobten zu schützen. Sie gaben Eltern die Möglichkeit, ihre Töchter vor jungen Männern zu beschützen, die nicht die Absicht hatten zu heiraten oder mehreren Mädchen ein Heiratsversprechen gegeben hatten. Die Konsistorien unterstützten Mädchen in solchen Fällen ebenfalls häufig. Die Notwendigkeit des Elternkonsenses schränkte also eventuell die Freiheit minderjähriger Kinder ein. Sie brachte aber auch mehr Schutz für diese mit sich.45 Ein zweites wichtiges Argument in der Kontroverse um patriarchalische Beziehungen betraf den rechtlichen und sozialen Status der Frau innerhalb der Ehe. Mehrere, auf den Akten von Straf- und Zivilgerichten sowie Konsistorien basierende, Studien zu Scheidungen in den Niederlanden haben gezeigt, dass die rechtlichen Möglichkeiten der Frauen, sich gegen aggressive Ehemänner zu verteidigen, in der Zeitperiode nach der Reformation zunahmen. Da die Reformatoren die Ehe nicht als Sakrament ansahen, erlaubten sie Paaren, sich in Fällen von Ehebruch oder böswilligem Verlassen scheiden zu lassen. Solche Möglichkeiten führten zu einer steigenden Zahl an Scheidungsfällen vor Gericht.46 Frauen haben wahrscheinlich im Verlauf der Frühen Neuzeit in den Niederlanden im Rahmen von Veränderungen der Ehepraxis und aufgrund der Scheidungsmöglichkeiten eine stärkere Stellung innerhalb der Ehe erlangt. Mittlerweile ist klar geworden, dass die gesetzliche Stellung der Frau im Hinblick auf ihren Ehestand variierte. Während unverheiratete Frauen grundsätzlich juristisch
44 Manon van der Heijden/Elise van Nederveen Meerkerk/Ariadne Schmidt, Terugkeer van het patriarchaat? Vrije vrouwen in de Republiek, in: Tijdschrift voor Sociale en Economische Geschiedenis 6, 2009, 26–52. Vgl. Manon van der Heijden/Elise van Nederveen Meerkerk/Ariadne Schmidt, Religion, Economic Development and Women’s Agency in the Dutch Republic, in: Francesco Ammannati (Hrsg.), Religion and Religious Institutions in the European Economy, 1000–1800. Atti della ‚Quarantatreesima Settimana di Studi‘, 8–12 maggio 2011. Florenz 2012, 543–562. Der folgende Absatz basiert auf dieser Publikation. 45 Van der Heijden/Van Nederveen Meerkerk/Schmidt, Terugkeer (wie Anm. 44), 30–34;Van der Heijden, Huwelijk in Holland (wie Anm. 41), 45–48; L. J. van Apeldoorn, Geschiedenis van het Nederlandsche huwelijksrecht vóór de invoering van de Fransche wetgeving. Amsterdam 1925, 61–63; James A. Brundage, Law, Sex and Christian Society in Medieval Europe. Chicago 1987, 561–565. 46 Van der Heijden, Huwelijk in Holland (wie Anm. 41), 224–226; Haks, Huwelijk en gezin (wie Anm. 18), 180–196; Johan Joor, Echtscheidingen en scheiding van tafel en bed in Alkmaar in de periode 1700–1810, in: Tijdschrift voor Sociale en Economische Geschiedenis 11, 1985, 197–230; Dini Helmers, Gescheurde bedden. Oplossingen voor gestrande huwelijken. Amsterdam 1753–1810. Hilversum 2002, 224 f.
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in der Lage waren, Geschäfte zu führen, waren verheiratete Frauen, wie in benachbarten Ländern, der ehelichen Macht ihrer Ehemänner unterstellt.47 Neuere Studien haben dagegen anstatt der Einschränkungen die Möglichkeiten für Frauen betont. So wurde mehrmals gezeigt, dass es im Hinblick auf den eingeschränkten Status verheirateter Frauen wichtige Ausnahmen gab. So war die Untersuchung von notariellen Aufzeichnungen und Verordnungen aufschlussreich und eine Differenzierung zwischen Recht und Rechtspraxis erneut entscheidend.48 Einen letzten und entscheidenden Aspekt in der Diskussion um das Patriarchat betrifft den Grad der Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt. Simon Schama hat argumentiert, dass es primär Witwen und weniger verheiratete Frauen waren, die ihr eigenes Einkommen verdienten. Dies legt nahe, dass die Niederlande einen der tiefsten Frauenanteile an der Erwerbsbevölkerung aufwiesen.49 Martha Howell argumentierte hingegen, dass die patriarchalische Familienstruktur ein ausschlaggebender Faktor bei der Bestimmung der Erwerbstätigkeit von Frauen war und dass Frauenarbeit einen hohen Status im Rahmen der Familie als Produktionseinheit hatte.50 Kürzlich erschienene internationale Untersuchungen deuten darauf hin, dass zwar der Erwerbsstatus von Frauen gelitten habe, sie aber nicht vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden.51 Die Erwerbsarbeit der Frau scheint im Verlauf der Frühen Neuzeit in den Niederlanden weder quantitativ noch qualitativ abgenommen zu haben. Die genaue Prüfung eines weiten Spektrums an Quellen, einschließlich Steuerregistern, Volkszählungen, Stadtverwaltungsakten, Zunftakten, Buchführung von Geschäftsinhabern, Produktionszahlen und Registern von Bewilligungen, zeigen, dass das ökonomische Wachstum im Goldenen Zeitalter (1580–1650) Erwerbsmöglichkeiten für Männer und Frauen bot.52
47 Jan Willem Bosch, Le statut de la femme dans les anciens Pays-Bas Septentriaux, in: La femme. Receuils de la Société Jean Bodin 12, 1962, 330–350; W. van Iterson, Vrouwenvoogdij, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 14, 1936, 421–448; ders., Vrouwenvoogdij, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 15, 1937, 78–136; Ariadne Schmidt, Vrouwen en het recht. De juridische status van vrouwen in Holland in de vroegmoderne tijd, in: Jaarboek Centraal Bureau voor Genealogie 58, 2004, 27–44. 48 Ariadne Schmidt, Overleven na de dood. Weduwen in Leiden in de Gouden Eeuw. Amsterdam 2001, 80–105; De Wit, Zeemansvrouwen (wie Anm. 31), 71 f.; Danielle van den Heuvel, Women and Entrepreneuship. Female Traders in the Northern Netherlands, c. 1580–1815. Amsterdam 2007, 58–69. 49 Schama, The Embarrassment (wie Anm. 42), 405–408. 50 Martha Howell, Women, Production, and Patriarchy in Late Medieval Cities. Chicago 1986. 51 Vgl. Pamela Sharpe, Adapting to Capitalism. Working Women in the English Economy, 1700–1850. Basingstoke 2000; Sheilagh Ogilvie, A Bitter Living. Women, Markets, and Social Capital in Early Modern Germany. Oxford 2003; Van der Heijden/Van Nederveen Meerkerk/Schmidt, Terugkeer (wie Anm. 44), 43. 52 Ariadne Schmidt/Elise van Nederveen Meerkerk, Reconsidering the First Male-Breadwinner Economy. Women’s Labor Force Participation in the Netherlands, 1600–1900, in: Feminist Economics 18, 2012, 69–96; Van den Heuvel, Women and Entrepreneurship (wie Anm. 48); Manon van der Heijden/ Ariadne Schmidt, Public Services and Women’s Work in Early Modern Dutch Town, in: Journ. of Urban Hist. 36, 2010, 285–304.
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5 Häusliches Leben und öffentlicher Raum Der Aufstieg und die Zunahme des häuslichen Lebens war wiederholt ein wichtiges Thema der niederländischen Geschichtsschreibung. Häusliches Leben ist eines der wiederkehrenden Themen bei der Charakterisierung der bürgerlichen Kultur, die in den Niederlanden so früh dominant wurde. Das stereotype Bild der niederländischen Hausfrau (Hollandse huisvrouw), die zwanghaft Fenster putzt, Eingangsstufen schrubbt und Straßen reinigt, figuriert in dieser Vorstellung an prominenter Stelle. Schama skizzierte bei der Beschreibung der niederländischen Kultur während des Goldenen Zeitalters ein zweideutiges Bild des niederländischen Haushalts. Er betonte zwar die niederländische Leidenschaft für ein gemütliches und sauberes Haus, das die bürgerliche Kultur repräsentiert, in der das Haus vom dreckigen öffentlichen Raum separiert ist. Er anerkennt aber auch, dass Frauen außerhalb des Hauses im öffentlichen Raum bemerkenswert sichtbar waren. Offensichtlich widersprach das häusliche Leben nicht notwendigerweise bestimmten Freiheiten und öffentlichem Auftreten. Auch hier kann eventuell die Unterscheidung zwischen der Repräsentation des idealen Heims und der alltäglichen Realität des Haushalts diese zwei divergenten Darstellungen des frühneuzeitlichen niederländischen Haushalts erklären. Schama hat Malereien, Porträts, Wahrzeichen und moralistische Schriften untersucht, welche die Idealvorstellungen der städtischen Elite zum perfekten Haushalt und zur angemessenen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau reflektieren. In den Gerichtsprotokollen fand er jedoch eine andere Welt.53 Der Gegensatz in der Darstellung zwischen den auf der einen Seite freien und unternehmerischen Frauen und den von Sauberkeit besessenen Frauen auf der anderen Seite passt zum allgemeinen Bild Schamas. Dieses Bild einer embarrasment of riches, mit der er sich auf das Unbehagen der niederländischen Calvinisten über den rasch gewonnenen Wohlstand bezieht, ist laut Schama bezeichnend für die gesamte niederländische Kultur.54 Reisetagebücher von Ausländern kommentierten oft die Unabhängigkeit, herrische Art und Reinlichkeit niederländischer Frauen. Els Kloek hat hingegen gezeigt, dass die Stereotypisierung nicht allein auf die Beobachtungen von Reisenden zurückgeführt werden kann. Sie spielte auch für die niederländische Selbstbetrachtung eine Rolle. Die niederländische Hausfrau blieb das Symbol der niederländischen Kultur. Allerdings änderten sich die Konnotationen. Ursprünglich verwies ihre Reinlichkeit auf die unternehmerischen Fähigkeiten und harte Arbeit. Dagegen begann sie im 18. Jahrhundert den ‚arbeitsscheuen Charakter‘ der niederlän-
53 Schama, The Embarrassment (wie Anm. 42), 376–480. 54 Vgl. zur Diskussion der Interpretation Schamas: Els Kloek, Introduction, in: dies./Teeuwen/Huisman, Women (wie Anm. 13), 9–18, hier 16 f.; Oscar Gelderblom/Bas van Bavel, The Origins of Cleanliness in the Dutch Golden Age, in: P & P 205, 2009, 41–69, hier 43–45.
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dischen Kultur zu repräsentieren, die nach dem Goldenen Zeitalter ihren Wohlstand, ihre Lebendigkeit und ihr Unternehmertum verloren habe.55 Eine erfrischende Perspektive auf dieses traditionelle Thema lieferten Oscar Gelderblom und Bas van Bavel, die eine ökonomische Erklärung für die außergewöhnliche Reinlichkeit der niederländischen Frau gaben. Sie verbanden die Reinlichkeit mit der niederländischen Tradition der Milchwirtschaft. Im Land von Milch und Butter waren viele Haushalte in der Milchwirtschaft aktiv. Die Produktion großer Massen an verderblichen Milchprodukten für lokale, regionale und ausländische Märkte erforderte bestimmte Bedingungen und führte zu Hygieneverbesserungen in vielen Haushalten. Ehefrauen und Bedienstete, die traditionellerweise für die Milchwirtschaft zuständig waren, waren sich der Notwendigkeit der Sauberkeit bewusst. Die Praxis, Kühe in Städten zu halten, verschwand im 16. Jahrhundert. Aber die ‚ländlichen‘ Gewohnheiten der Sauberkeit wurden von Migranten und Dienstmägden aus den ländlichen Gegenden der Niederlande in die Städte gebracht.56 Die Erklärung der Wirtschaftshistoriker Van Bavel und Gelderblom ist relativ neu. Dennoch stimmt sie mit der Tradition überein, die immer wieder zeigt, dass das Nebeneinander der beiden Aspekte des häuslichen Lebens und der ökonomischen Aktivität in den Darstellungen der Frauen oder der niederländischen Kultur allgemein nur scheinbar widersprüchlich ist. Die Untersuchung moralischer und präskriptiver Literatur durch Ariadne Schmidt hat gezeigt, dass die zunehmende Ideologie vom häuslichen Leben nicht notwendigerweise zu einer negativen Bewertung der Arbeit von Frauen und Männern führte. Denn schließlich wurde in der frühneuzeitlichen Moralliteratur die Trennlinie nicht so sehr zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, sondern eher dem Standort entsprechend gezogen. Arbeit außerhalb des Hauses war Arbeit des Mannes, Arbeit innerhalb des Hauses wurde von den niederländischen Moralisten als Frauenarbeit erachtet.57 Das Haus wurde als Ort und Domäne der Frauen propagiert, sowohl in der Literatur als auch auf Gemälden.58 Die Darstellung des Hauses ist von KunsthistorikerInnen aufmerksam verfolgt worden. Ikonographie wurde eingesetzt, um die symbolischen Bedeutungen in der niederländischen Genremalerei zu untersuchen, die reich an Darstellungen des Hauses und des häuslichen Lebens ist. Die akademische Debatte entwickelte sich mit einem Fokus auf die Interpretation der symbolischen Bedeutung des Hauses und häuslicher Attribute. Wayne Franits benutzte in seinen „Paragons
55 Els Kloek, De geschiedenis van een stereotype. De bazigheid, ondernemingszin en zindelijkheid van vrouwen in Holland (1500–1800), in: Jaarboek Centraal Bureau voor Genealogie 58, 2004, 5–25, hier 17–21. Vgl. auch Anton Schuurman, Is huiselijkheid typisch Nederlands? Over huiselijkheid en modernisering, in: Bijdragen en Medelingen van de Geschiedenis der Nederlanden 107, 1992, 745–759. 56 Gelderblom/Van Bavel, Origins of Cleanliness (wie Anm. 54), 62–67. 57 Ariadne Schmidt, Labour Ideologies and Women in the Northern Netherlands, c.1500–1800, in: IRSH 56, 2011, 45–67. 58 Kloek, Vrouw des huizes (wie Anm. 6), 79–81.
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Manon van der Heijden und Ariadne Schmidt
of Virtue“ Handbücher der Haushaltsführung als Quelle für die Analyse der von Künstlern im Goldenen Zeitalter hergestellten sehr populären häuslichen Gemälde. Er zeigte, wie Häuslichkeit und das Idealbild der Hausfrau durch die Abbildungen des Hauses propagiert wurden.59 In ihrem kürzlich publizierten Buch „Huiselijke taferelen“ (Häusliche Szenen) hat Heide de Mare die Rezeptionsgeschichte des Hauses freigelegt. Das Haus wurde ein Gegenstand der Forschung, der die Domänen der Literatur, Architektur und Malerei zusammenbrachte. Laut De Mare waren die Abbildungen weder Abbildungen der tatsächlichen historischen Realität noch Wiedergaben von moralischen Botschaften. Indem sie das niederländische Haus mittels der Perspektiven von Jacob Cats (Literatur), Simon Stevin (Architektur), Pieter de Hoogh und Samuel Hoochstraten (beide Malerei) untersucht, zielt sie darauf ab, das Bild des Hauses in neuem Licht zu betrachten.60 Dem Bild der niederländischen Hausfrau, deren Leben hauptsächlich darauf ausgerichtet war, einen moralisch und faktisch ordentlichen Haushalt zu führen, entsprach nur eine sehr kleine Gruppe von Frauen der höheren Mittelschicht. Die meisten Frauen gehörten den unteren sozialen und ökonomischen Schichten an und konnten es sich gar nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Frühneuzeitliche Frauen waren auf den Straßen und in den Nachbarschaften sehr sichtbar. Nachbarschaftsvereinigungen (gebuurten) spielten in vielen niederländischen Städten eine wichtige soziale und regulative Rolle. Obwohl nur Männer die Leitung von Nachbarschaften übernehmen konnten, waren sowohl Männer als auch Frauen aktiv an der Umsetzung von nachbarschaftlichen Regeln beteiligt. Die Bedeutung von Nachbarschaftsvereinigungen zeigt auch, dass der theoretische Gegensatz zwischen privatem und öffentlichem Leben im häuslichen Alltag kaum Widerhall fand.61 Strafgerichtsakten und Protokolle der protestantischen Konsistorien zeigen, dass es häufig keine klare Abgrenzung zwischen dem Haushalt und dem städtischen Gemeinwesen gab. Menschen arbeiteten zuhause in ihren Werkstätten oder verrichteten industrielle Arbeit wie Nähen oder Spinnen vor dem Feuer in ihren Küchen. Andere kamen häuslichen Pflichten bei offenstehenden Fenstern und Türen oder draußen auf dem Gehsteig nach. Kaffee, Tee, Wein und Bier wurden oft mit Nachbarn geteilt und in der Öffentlichkeit vor dem Haus konsumiert.62 Ein letzter Aspekt, dem niederländische Wissenschaftler viel Aufmerksamkeit gewidmet haben, betrifft die Entstehung öffentlicher und privater Sphären nach etwa
59 Wayne Franits, Paragons of Virtue Women and Domesticity in 17th Century Dutch Art. New York 1993. 60 Heide de Mare, Huiselijke taferelen. De veranderende rol van het beeld in de Gouden Eeuw. Nijmegen 2012. 61 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 62 Manon van der Heijden, Misdadige vrouwen. Criminaliteit en rechtspraak in Holland 1600–1800. Amsterdam 2013; dies., Women, Violence and Urban Justice in Holland, ca. 1600–1838, in: Crime, Hist. & Soc. 17, 2013, 71–100.
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1800. Mehrere Forscher haben gemeint, dass die herrschende Haushaltsideologie im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts grundsätzliche Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen verursacht und zum Ausschluss von Frauen und Kindern von produktiver Arbeit sowie deren Beschränkung auf den Haushalt geführt habe.63 Aktuelle Forschungen zur weiblichen Erwerbsbeteiligung geben aber keine Hinweise auf einen abrupten, zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzenden Rückgang der weiblichen Erwerbsbeteiligung. Weitere Forschung zur Entwicklung der Erwerbsbeteiligung der niederländischen Frauen wird nötig sein. Allerdings hat der Demographiehistoriker Frans van Poppel bereits gezeigt, dass der Einfluss der niederländischen Industrialisierung um 1850 auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen nicht eindeutig ist. Das industrielle Wachstum hat weder zwingend neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen erzeugt, noch deren verstärkten Ausschluss bewirkt.64 Auch hier legen solche Befunde nahe, dass die herrschende Haushaltsideologie nicht notwendigerweise die Praktiken im Haushalt korrekt wiedergibt. Wie in der Frühen Neuzeit überschritten die Aktivitäten sowohl der Männer als auch der Frauen die Grenzen des Haushalts. Viele Männer waren, selbst wenn sie es wollten, nicht imstande, das Ideal des Modells des (männlichen) Brotverdieners aufrechtzuerhalten. Aus dem Englischen: Eric Häusler
63 Vgl. zur Diskussion und den in diesem Abschnitt genannten Befunden: Manon van der Heijden/ Valentijn Koningsberger, Continuity or Change? The Prosecution of Female Crime in the Eighteenthand Nineteenth-Century Netherlands, in: Crime, Hist. & Soc. 17, 2013, 101–127. 64 Frans W. A. van Poppel/Hendrik P. van Dalen/Evelien Walhout, Diffusion of a Social Norm. Tracing the Emergence of the Housewife in the Netherlands, 1812–1922, in: EconHR 62, 2009, 99–127.
Alice Velková
Forschungen zum Haus in der Tschechischen Republik: Historische Demographie und neue Ansätze 1 Einleitung Beim ‚Haus‘ handelt es sich zweifellos um ein relativ weites Thema, das auf sehr verschiedene Art und Weise aufgegriffen werden kann – besonders wenn man einen interdisziplinären Ansatz wählt. Das Haus lässt sich nicht isoliert erforschen: nicht ohne sein Umfeld, und nicht ohne seine Bewohner. Das Haus war eine strukturelle Einheit, in der mehrere Haushalte vereinigt sein konnten. Das Prinzip dieser Einheit lässt sich ohne Kenntnisse über die historische Formierung der Familie nicht verstehen. Ziel dieses Artikels ist es, die wesentlichen Trends der tschechischen Geschichtsschreibung im Hinblick auf ‚Haus‘, ‚Haushalt‘ und ‚Familie‘ aufzuzeigen. Da sich in der tschechischen Forschung vor allem Historiker mit der Thematik beschäftigten, die historisch-demographische Ansätze verwendeten, liegt es nahe, zunächst auf die Entwicklung dieser Forschungsrichtung und deren Ergebnisse einzugehen. Der zweite Hauptabschnitt wird den Veränderungen gewidmet sein, zu denen es in der tschechischen Historiographie nach 1990 kam. Im dritten und vierten Teil wird es dann um die Aspekte gehen, die im Rahmen der Forschung zum ‚Haus‘ den größten Raum einnahmen und die zugleich die wichtigsten Ergebnisse hervorbrachten. Gemeint sind die Themen Haushalts- und Familienstruktur sowie Besitztransfer. Vorab ist es notwendig, die verwendete Terminologie zu erläutern. Die in diesem Zusammenhang am häufigsten genutzten Begriffe sind dům (Haus) und domácnost (Haushalt). Diese Begriffe sind jedoch nicht ganz unproblematisch. Denn es ist anhand der Quellen nicht immer leicht festzustellen, wann man wirklich von einem eigenständigen Haushalt sprechen kann bzw. wann etwa ein auf dem Hofgelände errichtetes ‚Ausgedingehäusl‘ als Haushalt gilt oder wann es bereits den Status eines Hauses erhält.1 Bei den böhmischen Quellen, die häufig sowohl in tschechischer als auch in deutscher Sprache verfasst sind, ist die Situation umso komplizierter, da die beiden oben genannten Begriffe in den zeitgenössischen Dokumenten, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, nur sehr sporadisch auftauchen. Der Begriff dům bzw. ‚Haus‘
1 Dazu neuerdings Hermann Zeitlhofer, Besitzwechsel und sozialer Wandel. Lebensläufe und sozioökonomische Entwicklungen im südlichen Böhmerwald, 1640–1840. Wien 2014, 80–82. Vgl. auch Lutz K. Berkner, Use and Minuse of Census Data for the Historical Analysis of Family Structure, in: JInterH 5, 1975, 71–95; David Warren Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1990, 88–101.
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wurde nicht notwendigerweise als feste Kategorie verstanden, aus der sich bestimmte Rechte oder Pflichten ergaben. Eher darf man ihn als Synonym für den heutigen allgemeinen Begriff des Gebäudes oder der Immobilie verstehen. Häufig wurde daneben auch der Begriff stavení (Anwesen) verwendet. Dagegen drücken die parallel verwandten Begriffe domek / ‚Häusl‘ / ‚Tripfhäusl‘ und domkář / ‚Häusler‘ klar die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht aus. ‚Häusler‘ waren Personen, die ein Gebäude besaßen, zu dem außer einem Garten keine Felder gehörten. Diese Menschen verdienten ihren Lebensunterhalt gewöhnlich entweder mit einem Handwerk, das sie in dem Häusl betrieben, oder sie arbeiteten in obrigkeitlichen Betrieben (z. B. in Eisenwerken) bzw. bei Bauern.2 Ähnlich lässt sich in den Quellen als Synonym für ein Gebäude oder Haus der Ausdruck chalupa bzw. Challupen finden, wobei der chalupník oder Challupner Besitzer einer kleineren Hofwirtschaft war – gewöhnlich mit bis zu 3 Hektaren Boden. Für größere Anwesen werden in den Quellen häufig Begriffe wie živnost / ‚Hoff‘ oder grunt / ‚Grundt‘, aber auch hospodářství / ‚Hauswirth‘ verwendet. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Umstand wichtig. Im böhmischen System der Gutsherrschaft war nicht der Besitzer des Anwesens (des ‚Häusls‘ oder ‚Hofs‘) der Eigentümer, sondern der Gutsherr (dominum directum). Der Besitzer konnte seine Position dadurch stärken, dass er das ‚Häusl‘ oder den ‚Hof‘ kaufte (zakoupil), also eine gewisse einmalige Geldzahlung leistete, die ihn dazu berechtigte, über das Anwesen zu verfügen (dominum utile).3 Das bedeutete, dass er das betreffende Anwesen verkaufen oder seinen Kindern bzw. anderen Personen vererben konnte – jedoch immer unter der Voraussetzung der obrigkeitlichen Zustimmung, die zumeist ohne Schwierigkeiten erteilt wurde.4 Einem Besitzer, der diese ‚Kaufzahlung‘ nicht leistete, konnte das Anwesen vom Eigentümer der Herrschaft jederzeit ohne Ersatz weggenommen und an die Stelle des alten ein neuer Besitzer gesetzt werden. Ein Vorteil war dagegen, dass die Obrigkeit das Anwesen auf ihre Kosten in Stand halten musste, z. B. durch die Lieferung von Material für Reparaturarbeiten. Die Definition des Haushalts anhand zeitgenössischer böhmischer Quellen ist noch komplizierter. Wie bereits oben erwähnt, taucht der Begriff domácnost (Haushalt) in den frühneuzeitlichen Quellen im Prinzip nicht auf. Der Haushalt war nämlich aus der Sicht der Eigentümer der Herrschaften keine wichtige Kategorie, die gesondert verfolgt oder verzeichnet werden musste. Hieraus ergaben sich für die obrigkeitliche Kasse nämlich keine Einnahmen. In den Quellen mit Evidenzcharakter, wie
2 Dazu besonders detailliert Alice Velková, The Role of the Manor in Property Transfers of Serf Holdings in Bohemia in the Period of the ‚Second Serfdom‘, in: Social Hist. 37, 2012, 501–521. 3 Josef Tlapák, K některým otázkám poddanské nezákupní držby v Čechách v 16.–18. století, in: Právněhistorické studie 19, 1975, 177–209. 4 Eduard Maur, Das bäuerliche Erbrecht und die Erbschaftspraxis in Böhmen im 16.–18. Jahrhundert, in: Historická demografie 20, 1996, 93–118.
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etwa den verschiedenen Einwohnerverzeichnissen, seien sie staatlicher, kirchlicher oder obrigkeitlicher Provenienz, erfolgte die Verzeichnung der Personen gewöhnlich nach den einzelnen Häusern, die entsprechend sozialer Kategorien (Bauern, ‚Challupner‘, ‚Häusler‘) gruppiert sein konnten – aber nicht mussten. Die wichtigste Person war der Besitzer des Anwesens, die übrigen Personen wurden durch die Beziehung charakterisiert, in der sie zu ihm standen (Ehefrau, Kind, Schwester, eventuell auch Gesinde). Falls im Haus eine weitere Familie lebte, wurde sie in den Quellen graphisch abgesetzt, woraus man auf die Existenz eines weiteren Haushalts schließen kann. Auch in diesem Fall beziehen sich die Mitglieder dieses Haushalts auf die Person (gewöhnlich männlichen Geschlechts), die an erster Stelle genannt und auch im Hinblick auf ihre soziale Einordnung charakterisiert wird (z. B. Handwerker, Taglöhner). Bis zum 19. Jahrhundert war es nicht üblich, dass in diesen Verzeichnissen überschriebene Rubriken existierten, bzw. eine solche Rubrizierung wurde nur in Ansätzen verwendet (Hausnummer, Alter). Falls es zur Bezeichnung dieser Vertreter der Haushalte kam (häufiger erst ab dem 19. Jahrhundert), verwendete man den Begriff držitel domu bzw. ‚Hausbesitzer‘; bei den anderen Haushalten im Haus dann den Begriff hlava rodiny / ‚Familienhaupt‘. Gerade der Begriff rodina / Familie hatte in den frühneuzeitlichen Quellen eine breitere Bedeutung als nur eine Gemeinschaft blutsverwandter Menschen. Häufig bezeichnete er alle Personen, die gemeinsam lebten und arbeiteten, was bedeutete, dass er z. B. auch das Gesinde umfassen konnte.5
2 Etablierung und Entwicklung der Historischen Demographie Forschungen, die sich unmittelbar mit der Familie in historischer Perspektive beschäftigten, erfuhren in Tschechien erst während der letzten dreißig Jahre eine systematischere Entfaltung. Zuvor hatten die Historiker die Familienthematik nur am Rande, vor allem im Rahmen von allgemeineren Bevölkerungsstudien, berührt; intensiver setzten sich dagegen die Ethnographen mit diesem Thema auseinander.6 Außerdem
5 Jan Horský/Markéta Seligová, Rodina našich předků. Prag 1996, 17–25. 6 Einen Überblick über die Historiographie zur Familienforschung liefern Jan Horský/Eduard Maur, Die Familie, Familienstrukturen und Typologie der Familien in der böhmischen Historiographie, in: Historická demografie 17, 1993, 7–35. Für weitere Informationen vgl. auch Jiří Mikulec, Dějiny venkovského poddaného lidu v 17. a 18. století a česká historiografie posledních dvaceti let, in: Český časopis historický 88, 1990, 119–130; Jan Horský, Historická antropologie. (Úvahy a poznámky na okraj mezinárodního kursu, konaného v Otzenhausenu ve dnech 27. 2.–15. 3. 1993), in: Historická demografie 17, 1993, 241–270.
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hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts auch die Rechtshistoriker mit der Familie bzw. dem Familienrecht befasst.7 Eine wichtige Subdisziplin, in der die Erforschung von Haus, Haushalt und Familie einen zentralen Platz einnimmt, ist die Historische Demographie. 1967 wurde in der Tschechoslowakei die Kommission für Historische Demographie gegründet, die bald mit der Herausgabe der Zeitschrift „Historická demografie“ begann, bei der es sich um eines der ältesten auf diese Fragen konzentrierten Periodika in Europa handelt.8 Die tschechische Historische Demographie griff früh die französische Forschungsmethode der Familienrekonstruktion auf. Eduard Maur informierte darüber sehr ausführlich bereits ein Jahr nach der Publikation des Handbuchs „Manuel de démographie historique“ von Louis Henry (1967) im zweiten Jahrgang der „Historická demografie“.9 Zur Entwicklung der demographischen Forschung trug auch die hohe Qualität der Quellenbasis bei, vor allem die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einzigartigen Bevölkerungsverzeichnisse und Untertanenregister. In den 1970er und 1980er Jahren untersuchte die tschechische Forschung in erster Linie die Entwicklung von Bevölkerungszahlen und -strukturen sowie die natürliche Bevölkerungsbewegung.10 Am Ende stand eine umfangreiche Bearbeitung der historisch-demographischen Erkenntnisse, die 1990 unter dem Titel „Dětství, rodina a stáří v dějinách Evropy“ (Kindheit, Familie und Alter in der Geschichte Europas) in Buchform publiziert wurde.11 Diese Publikation sicherte sich einen recht breiten Leserkreis, und man darf sie als ersten Versuch bezeichnen, die betreffende Problematik in popularisierender Weise vorzustellen. Behandelt wurde ein Zeitraum von
7 Die Entwicklung der Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit der ländlichen Bevölkerung präsentierte auf umfassende Weise Kamil Krofta, Dějiny selského stavu. Prag 1949. Neuerdings zur Rechtsbeziehung zwischen Untertanen und Obrigkeit in der Epoche vor der Schlacht am Weißen Berg Tomáš Knoz, Poddaný v právních normativních pramenech předbělohorské Moravy, in: Časopis Matice moravské 111,1992, 31–51. 8 Näher dazu Pavla Horská/Jan Havránek, Historická demografie do roku 1985, in: Historický časopis 34, 1986, 403–423; dies., Česká historická demografie, in: Český časopis historický 89, 1991, 519–532. Der 20. Jahrgang der Zeitschrift Historická demografie enthält eine komplette Bibliographie der bisher dort erschienenen Artikel für den Zeitraum von 1967 bis 1996. 9 Louis Henry, Manuel de démographie historique. Genf 1967; Eduard Maur, Na okraj francouzských metod historickodemografického bádání, in: Historická demografie 2, 1968, 72–81. Vgl. auch ders., Metoda rekonstrukce rodin v historické demografii, in: Demografie 24, 1982, 101–102; Pavla Horská, Sociální dějiny ve francouzské historiografii druhé poloviny šedesátých let, in: Československý časopis historický 21, 1973, 436–443; dies., Metody současné historické demografie pro analýzu archivních pramenů, in: Archivní časopis 26, 1976, 140–148. 10 Eduard Maur, Problémy demografické struktury Čech v polovině 17. století, in: Československý časopis historický 19, 1971, 839–870; Petr Jančárek, Populační vývoj českých zemí v přebělohorském období a problematika jeho studia, in: Historická demografie 12, 1987, 125–136; Vladimír Srb, 1000 let obyvatelstva Českých zemí. Prag 2004. 11 Pavla Horská u. a., Dětství, rodina a stáří v dějinách Evropy. Prag 1990.
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der Urzeit bis zum 20. Jahrhundert. Die Bedeutung des Buchs liegt vor allem in der vergleichenden Betrachtung des Themas. Denn es wurden nicht nur die böhmischen Länder behandelt, sondern eine Erklärung zu der Frage versucht, wie die Familienstruktur quer durch Europa beschaffen war. Die Autoren stellten bei dieser Gelegenheit sowohl die Methoden der historisch-demographischen Forschung als auch deren wichtigste Vertreter und die Forschungszentren vor, in denen diese Methoden entwickelt oder ausgebaut worden waren. Auf der Grundlage weiterer Untersuchungen, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurden, erschien die erste komplexe Bearbeitung der Bevölkerungsgeschichte der böhmischen Länder. Im Unterschied zu älteren Arbeiten, die sich mit ähnlichen Themen befasst hatten, deckt die 1996 herausgegebene Monographie die gesamte Geschichte der Menschheit ab: Sie beginnt in der Urzeit und wird bis 1995 geführt.12 Sie beschränkt sich nicht nur auf klassisch quantitative Fragen, sondern thematisiert auch qualitative Aspekte im Hinblick auf die soziale Struktur der Bevölkerung, die Geburtsumstände der modernen Familie bzw. die Entstehung der Siedlungsstruktur und die Veränderungen durch Urbanisierungsprozesse.13 Seit Anfang der 1990er Jahre konnte sich auch die internationale Zusammenarbeit intensiver entfalten. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren waren Kontakte zur französischen Historiographie geknüpft worden.14 Im Juli 1989 – also noch vor dem Wandel der politischen Situation im November 1989 – gelang es der ‚Československá demografická společnost‘ (Tschechoslowakische Demographische Gesellschaft), eine Konferenz über das Alter zu veranstalten, an der auch Peter Laslett und Jacques Dupâquier teilnahmen und deren Referate im 1990 erschienenen 14. Jahrgang der „Historická demografie“ abgedruckt wurden. Drei Jahre später, im März 1992, fand ein französisch-tschechischer Dialog über die Familie statt, an dem Jacques Dupâquier und Antoinette Fauve-Chamoux beteiligt waren.15 Das größte Unternehmen der 1990er Jahre war jedoch die Einbindung tschechischer Historiker in das internationale Projekt ‚Soziale Strukturen in Böhmen‘, das dank der Unterstützung der Volkswagenstiftung von 1992 bis 1999 durchgeführt werden konnte. Dieses Projekt trug den Untertitel ‚Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16.–19. Jahrhundert‘ und basierte auf der Auswertung eines breiten Quellenmaterials, das Kataster, Grundbücher, Urbarien, aber auch Untertanenverzeichnisse
12 Dějiny obyvatelstva českých zemí. Prag 1996. 13 Mit der Problematik der Sozialstruktur der ländlichen Bevölkerung beschäftigen sich auch weitere Arbeiten, vgl. Markus Cerman/Eduard Maur, Proměny vesnických sociálních struktur v Čechách 1650–1750, in: Český časopis historický 98, 2000, 737–773; Alice Velková, Transformations of Rural Society between 1700–1850, in: Historica 13, 2008, 109–158. 14 Pavla Horská, Česká a francouzská historická demografie roku 1999. Po třiceti letech kontaktů – jak dále?, in: Historická demografie 23, 1999, 3–13. 15 Vgl. Francouzsko-český dialog o rodině, in: Historická demografie 16, 1992.
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und Pfarrmatrikeln umfasste.16 Die Historische Demographie diente hier als eine Art Grundbaustein, der dafür sorgte, dass die langfristige soziale Entwicklung der ländlichen Gesellschaft dokumentiert werden konnte. Zu den Ergebnissen des Projekts zählten drei Sammelbände: Der erste erschien 1996 als 20. Jahrgang der Zeitschrift „Historická demografie“, der zweite 2002 in Wien und der letzte 2005 in München.17
3 Die 1990er Jahre: Neue Möglichkeiten und interdisziplinäre Öffnung der Forschung Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen charakterisiert die Richtung, welche die Historische Demographie zu Beginn der 1990er Jahre einschlug.18 Der gemeinsame Untersuchunsgegenstand – die Bevölkerung – legte eine engere Zusammenarbeit der Historischen Demographie mit anderen Fächern nahe, die sich mit den Lebensbedingungen der Einwohner beschäftigen: Sozialgeschichte, Ethnographie, Anthropologie, Soziologie oder auch Rechtsgeschichte. Das Interesse an den Möglichkeiten interdisziplinärer Forschung zeigte sich besonders, als die tschechischen Historiker begannen, sich im Detail mit den Ansätzen auseinanderzusetzen, die vor allem von der westeuropäischen Geschichtswissenschaft bereits lange Zeit verwendet wurden. Es handelte sich in erster Linie um Methoden der Historischen Anthropologie, der Mikrogeschichte und der Alltagsgeschichte. So publizierte zum Beispiel Jan Horský 1995 in der Zeitschrift „Historická demografie“ eine Studie mit dem Titel „Historická demografie a nové metodické pohledy na sociální dějiny“ (Die historische Demographie und neue methodische Sichtweisen auf die Sozialgeschichte).19 2002 wurde in derselben Zeitschrift ein Aufsatz von Josef
16 Im Rahmen des Projekts ‚Soziale Strukturen in Böhmen, 16.–19. Jahrhundert‘ entstanden auch umfangreiche Dissertationen, die sich mit böhmischen Herrschaften beschäftigten: Dana Štefanová, Erbschaftspraxis, Besitztransfer und Handlungsspielräume von Untertanen in der Gutsherrschaft. Die Herrschaft Frýdlant in Nordböhmen, 1558–1750. Wien 2009; Hermann Zeitlhofer, Besitztransfer und sozialer Wandel in einer ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. Das Beispiel der südböhmischen Pfarre Kapličky, 1640–1840. Diss. phil. Wien 2001; Josef Grulich, Populační vývoj a životní cyklus venkovského obyvatelstva na jihu Čech v16. až 18. století. České Budějovice 2008; Alice Velková, Krutá vrchnost, ubozí poddaní? Proměny venkovské rodiny a společnosti v 18. a první polovině 19. století na příkladu západočeského panství Šťáhlavy. Prag 2009. 17 Historická demografie 20, 1996; Markus Cerman/Hermann Zeitlhofer (Hrsg.), Soziale Strukturen in Böhmen in der Frühen Neuzeit. Wien 2002; Markus Cerman/Robert Luft (Hrsg.), Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im ‚Alten Reich‘. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit. München 2005. 18 Pavla Horská, Česká historická demografie, in: Český časopis historický 89, 1991, 519–532. 19 Jan Horský, Historická demografie a nové metodické pohledy na sociální dějiny, in: Historická demografie 19, 1995, 135–154.
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Grulich zum Thema „Historická demografie a dějiny rodiny v Evropě a v České republice po roce 1950“ (Historische Demographie und Geschichte der Familie in Europa und in der Tschechischen Republik nach 1950) abgedruckt.20 Ein Jahr später publizierte Grulich in der Zeitschrift „Český časopis historický“ eine Abhandlung über die Entstehung und Bedeutung der Mikrogeschichte.21 Welche Möglichkeiten sich aus der Verknüpfung der Ansätze der Historischen Demographie, der Mikrogeschichte, der Historischen Anthropologie und der Alltagsgeschichte ergeben, untersuchte ich 2006 im Rahmen der Forschungen zur Frau auf dem Land im 17. bis 19. Jahrhundert.22 Dazu erschien 2010 auch eine Zusammenfassung der methodischen Ansätze in der tschechischen Geschichtsschreibung.23 Als wesentliches Kennzeichen dieses Trends lässt sich festhalten, dass sich die Historische Demographie stärker der Sozialgeschichte annäherte, indem sie versuchte, auch Erkenntnisse anderer Disziplinen zu nutzen (Soziologie, Kulturanthropologie, Ethnologie, Rechtsgeschichte).24 Im Rahmen der tschechischen Forschungen zur historischen Demographie wächst seit Mitte der 90er Jahre die Zahl der Studien, in denen sich die Autoren um eine breitere Fragestellung bemühen und hierfür verschiedene Quellentypen kombinieren – gedacht ist hier vor allem an die ‚Neuentdeckung‘ der Grundbücher. Den Grundbüchern war bereits in den 1960er Jahren größere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Damals entstand die bis heute sehr wertvolle Monographie von Vladimír Procházka, der bei seiner Beschäftigung mit den Grundbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts auch Analysen des Verfügungs-, Besitz- und Erbrechts durchführte.25 Allerdings beschränkte sich die Verwendung der Grundbücher in dieser Zeit
20 Josef Grulich, Historická demografie a dějiny rodiny v Evropě a v České republice po roce 1950, in: Historická demografie 26, 2002, 123–146. 21 Josef Grulich, Zkoumání ‚maličkostí‘ (Okolnosti vzniku a významu mikrohistorie), in: Český časopis historický 99, 2001, 519–546. 22 Alice Velková, Venkovské ženy vl. 1650–1850. Perspektivy výzkumu s využitím historické demografie, mikrohistorie, historické antropologie a dějin každodennosti, in: Kateřina Čadková/Milena Lenderová/Jana Stráníková (Hrsg.), Dějiny žen aneb Evropská žena od středověku do poloviny 20. století v zajetí historiografie. Sborník příspěvků z IV. pardubického bienále, 27.–28. dubna 2006. Pardubice 2006, 125–144. 23 Vgl. auch Alice Velková, Metodické přístupy v českém historickodemografickém výzkumu v posledních 20 letech, in: Hanna Kurowska (Hrsg.), Przemiany demograficzne Europy Środkowej od XVIII wieku. Zielona Góra 2010, 51–57. 24 Sehr übersichtlich und detailliert beschreibt diesen Prozess Grulich, Historická demografie (wie Anm. 20). Vgl. weiter Horský, Historická demografie (wien Anm. 19); Alena Šimůnková, Ke vztahu historiografie a antropologie. Perspektivy aplikování antropologických přístupů, in: Český lid 82, 1995, 99–112; Zdeněk R. Nešpor, Dvojí život historické antropologie. Interdisciplinární (ne)porozumění mezi historiky, sociology a sociálními antropology, in: Dějiny – teorie – kritika 2, 2005, 87–104. 25 Vladimír Procházka, Česká poddanská nemovitost v pozemkových knihách 16. a 17. století. Prag 1963.
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hauptsächlich auf das Studium der Immobilien- und Grundstückpreise.26 Diese Situation sollte sich dann ab den 1990er Jahren ändern. Die Grundbücher und andere Quellen (Pfarrmatrikeln, Bevölkerungsverzeichnisse u. a.) dienten nicht mehr nur als Fundament für die Auswertung quantitativer Angaben, sondern es entstanden Studien, die demographische Phänomene in den Kontext der ökonomisch-sozialen und rechtlichen Stellung der Untertanen einordneten, wobei der Schwerpunkt auf der Untersuchung des ländlichen Raums lag.27 Diese Tendenz ließe sich vereinfacht als Übergang von der quantitativen Erforschung der Charakteristika der ländlichen Gesellschaft hin zur Sondierung der Qualität jener Beziehungen beschreiben, die sich in diesem Milieu formierten. Gemeint sind damit nicht allein die zwischenmenschlichen (Partner- und Familien-)Beziehungen, sondern auch das Verhältnis zwischen den Institutionen, d. h. der Versuch, das Verhältnis Staat – Obrigkeit – Gemeinde – Untertan neu zu definieren.28
26 Jaroslav Vaniš, Příspěvek k dějinám cen a mezd koncem 16. a počátkem 17. století, in: Československý časopis historický 15, 1967, 421–438; Jaroslav Novotný, Prameny k dějinám cen a mezd na Moravě v 16. a 17. století, in: Sborník archivních prací 18, 1968, 478–497; Josef Petráň (Hrsg.), Problémy cen, mezd a materiálních podmínek života od 16. do poloviny 19. století. Prag 1971; ders., (Hrsg.), Problémy cen, mezd a materiálních podmínek života lidu v Čechách v 17.–19. století II. Prag 1977; Eduard Maur (Hrsg.), Příspěvky k dějinám cen nemovitostí. Prag 1963. 27 Vgl. z. B. Bronislav Chocholáč, O studiu pozemkových knih, in: Sborník prací filozofické fakulty brněnské univerzity C 40, 1993, 51–61; Josef Grulich, Poddanská nemovitost a dědické právo na Táborsku. Vřesecká rychta v letech 1625–1825, in: Jihočeský sborník historický 65, 1996, 34–42; Dana Štefanová, K aspektům role příbuzenských vztahů a majetkových transakcí. Situace na frýdlantském panství v letech 1558–1750, in: Historická demografie 22, 1998, 125–130; Bronislav Chocholáč, Selské peníze. Sonda do finančního hospodaření poddaných na západní Moravě koncem 16. a v 17. století. Brno 1999; Alice Velková, Výzkum sociální mobility na příkladu osob narozených v letech 1791–1800 na panství Šťáhlavy, in: Historická demografie 27, 2003, 173–224; Josef Grulich, Okolnosti změn vlastnických poměrů v poddanském prostředí. (Situace na jihočeském panství Chýnov v rozmezí let 1625–1795), in: Marie Koldinská/Alice Velková (Hrsg.), Historik nechtěných dějin. Sborník příspěvků věnovaných prof. dr. Eduardu Maurovi. Prag 2003, 108–128; Alice Velková, Familie und Besitzinteressen. Veränderungen in der Wahrung des Familieninteresses in der ländlichen Gesellschaft Böhmens im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Inken Schmidt-Voges (Hg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850. Köln 2010, 121–141. 28 Alice Klášterská-Velková, Zásahy státu do vztahu mezi vrchností a poddanými a jejich dopad na vesnickou rodinu na přelomu 18. a 19. století, in: Časopis Národního muzea – řada historická 168, 1999, 53–73.; Pavel Himl, Die ‚armben Leüte‘ und die Macht. Die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Český Krumlov/Krumau im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Obrigkeit und Kirche (1680– 1781). Stuttgart 2003; Eduard Maur, Staat und (lokale) Gutsherrschaft in Böhmen 1650–1750, in: Cerman/Luft (Hrsg.), Untertanen (wie Anm. 17), 31–50; Sheilagh. C. Ogilvie, Staat und Untertanen in einer lokalen Gesellschaft. Die Herrschaft Friedland 1583–1692, in: ebd., 51–86; Sheilagh. C. Ogilvie, Village Community and Village Headman in Early Modern Bohemia, in: Bohemia 46, 2005, 402–451.; Dana Štefanová, Dorfgemeinde in der Gutsherrschaft. Ein Beitrag zu Handlungsräumen der Gemeinde am Beispiel Nordböhmens (1558–1750), in: Cerman/Luft (Hrsg.), Untertanen (wie Anm. 17), 235–255; Velková, Role of the Manor (wie Anm. 2).
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Das letzte Vierteljahrhundert brachte auch ein Interesse an Fragen mit sich, die unmittelbar mit der historischen Familie, dem Haushalt und deren Erscheinungsformen verbunden sind. Untersucht wurden Lebenszyklen wie auch das Besitzrecht.29 Außerdem erschienen Beiträge zum Wandel der Sozialstruktur, zu verschiedenen juristischen Aspekten bzw. zur Genderproblematik.30 Andere Forschungen widmeten sich den sozialen, wirtschaftlichen und nationalen Besonderheiten in der Lebenswelt verschiedener Bevölkerungsgruppen.31 Das Bedürfnis nach einer weiteren Diskussion der Fragen rund um die Historische Demographie führte zu einer weiteren Tagung, die im Oktober 2007 – diesmal bereits mit internationaler Beteiligung – zum Thema ‚Rodina a domácnost od 16. do 20. století‘ (Familie und Gesellschaft vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) abgehalten wurde.32 Im Hinblick auf die thematische Ausrichtung der tschechischen Arbeiten, die sich auf das Haus und den Haushalt beziehen, lassen sich ähnliche Schwerpunkte wie in anderen europäischen Ländern finden, im Einzelnen: Struktur, Typologie und Größe des Haushalts; das Gesinde als Teil der Familie und des Haushalts; das ‚Haus‘ als soziale Kategorie und die damit verbundenen Pflichten gegenüber Staat, Gemeinde, Kirche und Obrigkeit; Rolle und Funktion des Haushaltsvorstands; Erbrecht und
29 Josef Grulich, Lebensläufe von Untertanen in Südböhmen im 17. und 18. Jahrhundert (am Beispiel der Herrschaft Chýnov), in: Markus Cerman/Eduard Maur/Hermann Zeitlhofer (Hrsg.), Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften 16.– 19. Jahrhundert. Wien 2002, 192–205; Alice Velková, Migrace a životní cyklus venkovského obyvatelstva na Šťáhlavsku v letech 1750–1850, in: Eduard Maur/Josef Grulich (Hrsg.), Dějiny migrací v českých zemích v novověku (Historická demografie 30, 2006 – suplement), 73–98. 30 Jiří Pešek/Václav Ledvinka (Hrsg.), Žena v dějinách Prahy. Prag 1996; Josef Grulich, Venkovská žena v období raného novověku (16.–18. století), in: Česko-slovenská historická ročenka 2001, 223–235; Čadková/Lenderová/Stráníková (Hrsg.), Dějiny žen aneb Evropská (wie Anm. 22); Milena Lenderová u. a. (Hrsg.), Žena v českých zemích od středověku do 20. století. Prag 2009; Alice Velková, Women between a New Marriage and an Independent Position. Rural Widows in Bohemia in the First Half of the Nineteenth Century, in: The Hist. of the Family 15, 2010, 255–270; Zuzana Čevelová, Gender, víra a manželství v ‚dlouhém‘ 19. století. Možnosti interpretace katolický normativních pramenů. Pardubice 2012. 31 Martin Jemelka, Populace Šalomounské hornické kolonie v Moravské Ostravě (1890–1930), in: Historická demografie 28, 2004, 157–200; Jiří Jurok (Hrsg.), Královská a poddanská města od své geneze k protoindustrializaci a industrializaci. Sborník příspěvků z mezinárodního odborného sympozia uspořádaného ve dnech 5.–6. října 2001 v Příboře. Ostrava 2002; Jana Machačová/Jiří Matějček (Hrsg.), Otázky sociálního vývoje a jeho národnostních souvislostí (1780–1914). Opava 1991; Jana Machačová/Jiří Matějček, Nástin sociálního vývoje českých zemí 1781–1914. Opava 2002; Milan Myška, Protoindustrializace. (Čtvrtstoletá bilance jednoho historického paradigmatu), in: Český časopis historický 92, 1994, 759–774; Milan Myška, Proto-industriální železářství v Českých zemích. Robota a jiné formy nucené práce v železářských manufakturách. Ostrava 1992; Milan Myška/Aleš Zářický (Hrsg.), Člověk v Ostravě v XIX. století. Ostrava 2007; Ludmila Nesládková, Reprodukce kulturně odlišných skupin obyvatelstva jižní Moravy v novověku na příkladu křesťanů a židů. Prag 2003. 32 Die bei dieser Konferenz vorgetragenen Referate erschienen im Sammelband Eduard Maur/Alice Velková (Hrsg.), Rodina a domácnost v 16.–20. století. Prag 2010.
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Besitztransfer. Hier bilden wiederum die Strategien der einzelnen Familienmitglieder, Beziehungen zwischen den Generationen (sog. ‚Ausgedinger‘), Verbindung von Eheschließung und Hofübernahme sowie die Stellung der Frauen in der ländlichen Familie die zentralen Aspekte der Forschung. Innerhalb dieser komplexen, vielfältig miteinander verknüpften Themenfelder haben die Forschungen zu Haushalts- und Familienstrukturen sowie zu Erbrecht und Besitztransfer die größte Aufmerksamkeit erfahren, nicht zuletzt wegen der guten Quellenlage. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt deswegen auf diesen Forschungen.
4 Haushalts- und Familienstruktur Als zentral für die Erforschung der Familien- und Haushaltsstrukturen erwiesen sich die Untertanenverzeichnisse (Mannschaftsbücher), die sich im 16. Jahrhundert aus den Waisenregistern entwickelten. Diese Verzeichnisse führte die Obrigkeit, weil sie die Vormundschaft über die Waisen innehatte und daher deren Dienstorte vermerkte. Bald kam es jedoch zu einer Erweiterung der Verzeichnisse auf die übrigen Bewohner der Herrschaften. Mit diesen Verzeichnissen wollte die Obrigkeit vor allem die junge Generation als Bevölkerungs- und Arbeitskräftereservoir erfassen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg verbreiteten sich die Verzeichnisse besonders in Böhmen. In Mähren sind sie nur selten zu finden. Sie stellen eine hervorragende Quelle gerade für Untersuchungen zu Struktur und Typologie der Familie und des Haushalts dar, besonders wenn sie jährlich über längere Zeiträume hinweg geführt wurden. Die Einträge wurden gewöhnlich nach Häusern erstellt, in deren Rahmen man auch zwischen den einzelnen Haushalten unterschied. Bei den Personen finden sich häufig Angaben zum Alter, bei den Haushaltsvorständen auch die Quelle des Lebensunterhalts. Ein Mangel der Verzeichnisse besteht darin, dass sie sich zumeist auf die Einwohner konzentrieren, die rechtlich zu dem betreffenden Ort gehörten, und nicht auf die tatsächlich anwesende Bevölkerung. Daraus folgt, dass auch Personen verzeichnet sein können, die bereits seit Jahren verschollen oder abwesend waren. Die Reichweite der genannten Untertanenverzeichnisse beschränkte sich natürlich auf diejenige Herrschaft, für die sie erstellt wurden. Daher interessierten sich die tschechischen Historiker vor allem für eine weitere ähnliche Quelle, die die Obrigkeit eingeführt hatte, um die Gesamtbevölkerung des Landes in den Städten wie auf den Dörfern einschließlich der lokalen Amtsträger und der freien Einwohner zu erfassen. Ausgenommen blieben nur Militär und Klerus. Die Rede ist vom ‚Soupis poddaných podle víry‘ (Verzeichnis der Einwohner nach dem Glauben) aus dem Jahr 1651, dessen primärer Zweck es war, das religiöse Bekenntnis des Einzelnen und die Möglichkeit seiner Bekehrung zum katholischen Glauben festzustellen. Die Analyse dieses Verzeichnisses liefert wertvolles Vergleichsmaterial, das auch die Altersbzw. Berufsstruktur der Bevölkerung sowie die Familienstruktur in verschiedenen
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geographischen Regionen offenlegt.33 Darüber hinaus ermöglicht diese Quelle die Untersuchung der Stellung von Inwohnern und Gesinde.34 Die erwähnten Einwohnerverzeichnisse bildeten eine geeignete Grundlage für die Forschungen zur Typologie der Familien und Haushalte. Zu den wichtigsten Fragen, die von der tschechischen Historiographie behandelt wurden, zählte die Definition der in der Forschung heute gängig verwendeten Begriffe domácnost (Haushalt) und rodina (Familie). Es musste bestimmt werden, wer eigentlich zur Untertanenfamilie gehörte. Sollte die ‚Familie‘ im heutigen Wortsinn als Gemeinschaft verwandter Personen verstanden werden oder wurde der Begriff auf alle im Haus wohnenden und dort verköstigten Personen angewendet – die Familie also als mit dem Haushalt identisch verstanden? Der zweite Ansatz impliziert, dass auch nichtverwandte Personen, besonders das Gesinde, zur familiären Gemeinschaft zusammengefasst werden. Das Gesinde verfügte tatsächlich über eine Sonderstellung. Obwohl es sich gewöhnlich um Personen handelte, die nicht in einem Verwandtschaftsverhältnis zum Haushaltsvorstand standen, war die Beziehung zwischen diesem und den Mägden und Knechten dem Verhältnis zwischen Vater und Kindern nicht unähnlich. Es war üblich, dass der Haushaltsvorstand gegenüber dem Gesinde eine geradezu väterliche Autorität besaß und die Bedingungen für die im Gesindedienst tätigen Personen sich im Hinblick auf Verpflegung und Unterkunft nicht wesentlich von denen der eigenen Kinder des Haushaltsvorstands unterschieden. In dieser Hinsicht darf man das Gesinde sicherlich zu den Mitgliedern der Haushaltsfamilie zählen. Anderes galt jedoch für die sog. ‚Inwohner‘, eine weitere bedeutende Gruppe, die sich sehr häufig auf diesen Höfen aufhielt. Ein Unterschied zwischen Gesinde und Inwohnern lag bereits darin, dass sehr häufig Familienangehörige des Haushaltsvorstands (z. B. Geschwister) zu Inwohnern wurden, wenn ihre hauptsächlich von der Höhe der Erbteile abhängige wirtschaftliche Situation ihnen den Besitz eines eigenen Hofes nicht erlaubte. Inwohner bildeten allerdings überwiegend eigene Subhaus-
33 Eduard Maur, Problémy demografické struktury Čech v polovině 17. století, in: Československý časopis historický 19, 1971, 839–870; Markus Cerman, Bohemia after Thirty Years‘ War. Some Theses on Population Structure, Marriage and Family, in: Jour. of Family Hist. 19, 1994, 149–175; Markéta Seligová, Obyvatelstvo děčínského panství v polovině 17. století podle věku a rodinného stavu, in: Historická demografie 18, 1995, 23–38; Iva Sedláčková, Struktura obyvatelstva podle rodinného stavu v polovině 17. století ve vybraných panstvích Loketského kraje. (Příspěvek ke studiu typů historického utváření rodiny), in: Historická demografie 18, 1995, 39–58. Eliška Čáňová/Pavla Horská/Eduard Maur, Les listes nominatives de la Bohȇme. Sources de données pour ľhistoire sociale et la démographie historique, in: ADH 24, 1987, 295–312; Eliška Čáňová, Soupis poddaných podle víry a studium historické rodiny, in: Archivní časopis 42, 1992, 28–34; Eliška Čáňová, Složení domácností v Čechách v roce 1651, in: Historická demografie 16, 1992, 63–66; Markéta Seligová, Příspěvek ke studiu rodinných struktur v Čechách v polovině 17. století (panství Děčín – sonda), in: Historická demografie 17, 1993, 111–130. 34 Sheilagh C. Ogilvie/Markus Cerman, The Bohemian Census of 1651 and the Position of Inmates, in: Social Hist. 28, 1995, 333–346; Eduard Maur, Čeleď a tovaryši v Čechách v soupisu podle víry z roku 1651, in: Historická demografie 23, 1999, 85–135.
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halte: Es handelte sich dabei in der Regel um ganze Familien, die getrennt von der Familie des Hofbesitzers aßen, wohnten und ihren eigenen Lebensunterhalt bestritten. Der von der tschechischen Geschichtsschreibung gegenüber diesen Fragen gewählte Ansatz lässt sich folgendermaßen beschreiben: Die Begriffe ‚Familie‘ und ‚Haushalt‘ werden gewöhnlich unterschieden, wobei der Begriff ‚Familie‘ aus Gründen der Vereinfachung zumeist im heutigen Wortsinn verwendet wird, d. h. als Gemeinschaft von Personen in einem engeren oder weiteren Verwandtschaftsverhältnis. Bei der Charakterisierung von Zusammensetzung und Größe des Haushalts respektieren die tschechischen Historiker in der Regel die Quellen, die wirklich alle Personen, die sich gemeinsam verpflegten und einen Raum bewohnten, als jeweils eigene Einheit behandelten. Es war also nicht unüblich, dass mehrere Haushalte ein Haus bewohnten. Einer dieser Haushalte war immer der Haushalt des Hofbesitzers, die anderen gelten als sog. Subhaushalte, die sowohl von den bereits erwähnten Inwohnerfamilien als auch beispielsweise von den Eltern des Hofbesitzers gebildet werden konnten. Wegen der Vergleichsmöglichkeit mit anderen geographischen Räumen verwendet die tschechische Historiographie für die Erforschung der Haushalte häufig auch die sog. Laslett-Typologie.35 Im Hinblick auf die ambivalente Stellung des Gesindes werden für diese Forschungen in der Regel zwei Ansätze verwendet: Der erste schließt das Gesinde aus, der zweite ordnet es dem Haushalt zu. Bei der Anwendung des ersten Ansatzes steht am Ende gewöhnlich die Erkenntnis, dass das böhmische Territorium sich durch ein Übergewicht an sog. einfachen Familienhaushalten auszeichnete, die in einigen Orten mehr als 90 % der Gesamtzahl aller Haushalte ausmachten. In diesen einfachen Familienhaushalten waren Ehepaare mit Kindern am häufigsten vertreten – also die Familie im heutigen Wortsinn.36
35 Z. B. Pavla Horská, K historickému modelu středoevropské rodiny, in: Demografie 31, 1989, 137–143; Pavla Horská, Historical Models of the Central European Family. Czech and Slovak Examples, in: Jour. of Family Hist. 19, 1994, 99–106; Eliška Čáňová/Pavla Horská, Existuje středoevropský model rodiny pro předstatistické období?, in: Zdeněk Pavlík (Hrsg.), Sňatečnost a rodina. Prag 1992, 90–103; Jan Horský, Ältere Diskussion über die Zadruga und die Familienbesitzgemeinschaft in Böhmen und das heutige Studium der Familienstrukturen und -typen, in: Historická demografie 17, 1993, 37–52; Horský/ Maur, Die Familie (wie Anm. 6); Josef Grulich/Hermann Zeitlhofer, Lebensformen und soziale Muster in Südbohmen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jihočeský sborník historický 66–67, 1997–1998, 26–50. 36 Horský/Seligová, Rodina našich předků (wie Anm. 5).
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5 Das Erbrecht und der Besitztransfer Die zweite bedeutende Quellengruppe neben den Untertanenverzeichnissen bilden die oben bereits erwähnten Grundbücher, die in den böhmischen Ländern ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geführt wurden. Diese Bücher wurden auf Initiative der Obrigkeit angelegt, die einen Überblick über die Besitzerwechsel bei den Untertanenhöfen gewinnen wollte, deren Eigentümerin sie war. Zu einer flächendeckenden Verbreitung der Grundbücher kam es nach Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die genannte Quelle ist sehr wertvoll, um die sozialen und wirtschaftlichen Bindungen zu identifizieren, die sich auf ein konkretes Haus und dessen Bewohner bezogen. Sie informiert uns über das Haus und sein Zubehör: Felder, Vieh, Geräte, wobei bei allen diesen Bestandteilen in der Regel auch ihr Wert aufgeführt wurde. Aus den Grundbüchern erhalten wir wichtige Hinweise über die Verschuldung eines Hofes und die Ansprüche einzelner Personen und Institutionen wie Nachbarn, Familienmitglieder oder aber Staat, Obrigkeit bzw. Kirche. Da bei einem Besitztransfer sehr häufig die Erbteile getrennt wurden, informieren uns die Einträge auch über die Zusammensetzung der Familie des Besitzers. Ebenfalls eingetragen wurden Eheverträge, die den Erben eines Hofs betrafen, sowie Bestimmungen über das Ausgedinge, das der abtretenden Generation bzw. anderen bedürftigen Familienmitgliedern vorbehalten war. Einen wichtigen Forschungsbereich, der nicht allein den Rechtshistorikern überlassen wird, bildet das Erbrecht und seine praktische Anwendung37; dieses Thema ist bis heute aktuell.38
37 Josef Salaba, Příspěvek k dějinám selského práva dědického v 17. století, in: Český časopis historický 12, 1906, 191–197; Rudolf Rauscher, O zvolené posloupnosti v českém právu zemském. Práce ze semináře českého práva na Karlově universitě v Praze. Prag 1921; Jaromír Sedláček, Vývoj právních předpisů o selských usedlostech v Čechách a na Moravě od polovice 18. století, in: Právní prakse 9, 1944–45, 126–135; Antonín Haas, Omezení odúmrti a vdovská třetina v starém českém právu městském, in: Právněhistorické studie 17, 1973, 199–218; Jiří Langer, Vývoj dědického práva a rodinných forem. Lidová stavební kultura v československých Karpatech a přilehlých územích, in: Lidová kultura a současnost 7, 1981, 193–211. 38 Josef Grulich, Poddanská nemovitost a dědické právo na Táborsku. Vřesecká rychta v letech 1625– 1825, in: Jihočeský sborník historický 65, 1996, 34–42; Eduard Maur, Das bäuerliche Erbrecht und die Erbschaftspraxis in Böhmen im 16.–18. Jahrhundert, in: Historická demografie 20, 1996, 93–118; Dana Štefanová, Die Erbschaftspraxis, das Ausgedinge und das Phänomen der ‚zweiten Leibeigenschaft‘ in der nordböhmischen Dörfern der Herrschaft Frýdlant. Ein Beitrag zur Existenz der Familie unter obrigkeitlicher Einflussnahme (1650–170), in: Erich Landsteiner/Franz X. Eder/Peter Feldbauer (Hrsg.), Wiener Wege der Sozialgeschichte. Themen – Wege – Vermittlungen. Wien 1997, 225–241; Michaela Hrubá, ‚Nedávej statku žádnému, dokud duše v těle‘. Pozůstalostní praxe a agenda královských měst severozápadních Čech v předbělohorské době. Ústí nad Labem 2002; Alice Velková, Household Formation in Bohemia. Inheritance Practice and Family Strategy, 17th–19th Centuries, in: Český časopis historický 109, 2011, 328–343; Radek Lipovski, Lidé poddanských měst Frýdku a Místku na sklonku tradiční společnosti (1700–1850). Ostrava 2013.
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In Ergänzung zum Datenmaterial aus den Einwohnerverzeichnissen und Grundbüchern werden je nach Überlieferung auch Pfarrmatrikeln, Kirchenbücher (die ältesten stammen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts), Urbarien, Kataster oder Daten aus Volkszählungen hinzugezogen. Sie ermöglichen eine breitere Erforschung der sozialen Praktiken des Besitztransfers. Untersucht wurde vor allem, welche Strategien die Hofbesitzer bei der Auswahl der Erben anwendeten, in welchem Ausmaß sie die Gewohnheiten ihrer Herrschaft respektierten oder ob die Praxis eher andere, ‚eigensinnige‘ Lösungen erzwang. Zugleich wurde die zentrale Frage nach dem Zeitpunkt des Besitztransfers von einer Generation auf die nächste gestellt. In dieser Hinsicht spielte der zeitliche Zusammenhang zwischen der Heirat des Erben und seiner Hofübernahme eine Schlüsselrolle.39 Obwohl die Auswahl des Erben in den einzelnen Regionen Böhmens ihre festen Regeln hatte, konnten diese im realen Leben nicht immer buchstabengetreu befolgt werden. Das folgende Beispiel zeigt, welche Faktoren die Auswahl des Erben beeinflussen konnten. Václav Císař (1756–1820) bewirtschaftete seit 1778 den mit 23 Hektaren größten Hof in der Minderstadt Starý Plzenec (Altpilsen) bei Pilsen, die um 1800 ungefähr 700 Einwohner hatte.40 Fünf seiner 13 Kinder erreichten das Erwachsenenalter und mussten entsprechend versorgt werden: Während die älteste Tochter Barbora (*1786) im Alter von 16 Jahren heiratete, war die Frage, wer seiner vier Söhne den Hof übernehmen würde, nicht so einfach wie es das Erstgeborenenrecht vermuten ließ. Zur Auswahl standen die Söhne Martin (*1789), Josef (1795–1843), Jan (1799– 1872) und Vojtěch (1805–1861). Der älteste Sohn Martin (*1789) wurde 1820 Priester, womit die Wahl auf den zweiten Sohn Josef (*1795) fiel. Aus diesem Grund verheiratete Václav Císař seinen dritten Sohn Jan (*1799) bereits 1816 mit einer Hoferbin im Ort.41 1819 heiratete dann der designierte Hoferbe, jedoch musste Václav Císař seine Pläne ändern. Da die Uneinigkeit zwischen der jungen Ehefrau und ihrer Schwiegermutter ein Zusammenleben auf dem Hof unmöglich machte, wurde der Ehevertrag geändert. Statt des väterlichen Hofes erhielt Josef 1 000 Gulden und Vieh und sollte mit seiner Braut auf deren elterlichem Hof leben und mitarbeiten. Der Brautvater wiederum verpflichtete sich, aus dem Brautschatz des Paares innerhalb von drei Jahren einen Hof zu kaufen.42 Ein halbes Jahr später änderte sich die Situation erneut. Im Juni 1820 starb Václav Císař und Josef wurde zusammen mit seiner Mutter zum vorläufigen Betreiber der Hofwirtschaft für den 15-jährigen Bruder Vojtěch (*1815), den
39 Alice Velková, Marriage and Property Transfer in Rural Western Bohemia 1700–1850, in: Anne-Lise Head-König/Péter Pozsgai (Hrsg.), Inheritance Practices, Marriage Strategies and Household Formation in European Rural Societies. Turnhout 2012, 101–125. 40 Alice Velková, Krutá vrchnost, ubozí poddaní? Proměny venkovské rodiny a společnosti v 18. a první polovině 19. století na příkladu západočeského panství Šťáhlavy. Prag 2009, 51. 41 Státní oblastní archiv (SOA) Praha, Sbírka pozemkových knih (PK) Plzeň 135, fol. 761, Jahr 1816. 42 SOA Praha, PK Blovice 134, fol. 284, Jahr 1820.
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der Vater als Erben anstelle von Josef ausgewählt hatte.43 Aufgrund der vorherigen problematischen Beziehungen blieb Josefs Frau im Haus ihrer Eltern wohnen.44 Erst nachdem der 21-jährige Vojtěch vorzeitig für volljährig erklärt wurde, konnte Josef einen eigenen Hof in Starý Plzenec für 2 600 Gulden erwerben. Erst jetzt lassen sich auch Kinder aus der Ehe Josefs nachweisen. Das Beispiel zeigt deutlich, wie sehr die tatsächliche Erbpraxis von der jeweiligen Situation des Hofs, des Haushalts und der Beziehungen seiner Mitglieder abhing und wie die rechtliche Vorgabe nur selten mit den sozialen Erfordernissen im Einklang stand. Im Kontext der Auswahl des Erben wurde ähnlich wie in der westeuropäischen Geschichtsschreibung auch in Tschechien diskutiert, ob der Erbe (bzw. der Mann allgemein) vor seiner Eheschließung eine stabile soziale und ökonomische Position aufgebaut haben musste, die es ihm ermöglichte, für die neu entstehende Familie zu sorgen. Die tschechischen Forschungen zeigen, dass diese Situation keinesfalls die Regel war – nicht einmal in der Schicht der Hofbesitzer, in der es nicht ungewöhnlich war, einige Jahre früher zu heiraten, bevor man schließlich selbständiger Haushaltsvorstand wurde. Die Forschungen zu besitzrechtlichen Fragen enthüllten noch einen weiteren wichtigen Zusammenhang. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wuchs das Interesse der Obrigkeiten, die Besitzer von Untertanenhöfen enger an diese zu binden. Daher erhielten diese Erbrechte und das Recht auf ungestörten Besitz. Hierdurch kam es im ländlichen Milieu Böhmens zu einem bedeutenden Wandel: Während die Fluktuation der Hofbesitzer früher recht hoch gewesen war, ließen sich die Besitzer von Untertanenhöfen jetzt nieder und begannen mit dem Aufbau eines Familienbesitzes, den sie von Generation zu Generation weitergaben. Das ‚Haus‘ wurde so zu einer Quelle sozialer Stabilität, was schließlich zu einem Rückgang der Migration bei gleichzeitig zunehmender Bedeutung der Familie, aber auch zu einer zunehmenden Geschlossenheit sozialer Schichten führen sollte.
6 Fazit Insgesamt lässt sich die tschechische Forschung dahingehend zusammenfassen, dass in den letzten Jahren – nicht nur beim Thema Haus und Haushalt – das Bemühen sichtbar wird, den Ansatz der Historischen Demographie mit neueren Methoden und Perspektiven zu kombinieren und so einen möglichst differenzierten bzw. komplexen Blick auf das Thema zu werfen. Dies betrifft etwa die Strategien, den Lebenszyklus
43 SOA Praha, PK Plzeň 135, fol. 9–10, Jahr 1820. 44 SOA Praha, Velkostatek Šťáhlavy, Seznamy obyvatelstva k předpisu daně z hlavy, Inv.-Nr. 202– 204, Jahre 1820, 1822, 1824.
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Alice Velková
und die Mentalität der Akteure. Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Forschungen gehört die Feststellung, dass die böhmischen Länder im Hinblick auf die Struktur und die Entstehungsweise der Haushalte sowie im Hinblick auf die Beziehungen und Funktionen, die von den Mitgliedern eines Haushalts bzw. eines Hauses geschaffen und erfüllt wurden, dem (nord-)westeuropäischen Modell zugehörig sind. Die tschechischen Forschungen zeigen zudem, dass in dieser Richtung ähnlich wie auch in anderen westeuropäischen Regionen die persönliche Motivation und Strategie der einzelnen Akteure eine wichtige Rolle spielten. Obwohl staatliche sowie obrigkeitliche Normen und Vorschriften existierten, die regelten, wer unter welchen Umständen Hausbesitzer werden konnte, musste in der konkreten Praxis häufig ein Modus Vivendi ausgehandelt werden, mit dem der besonderen Konstellation Rechnung getragen wurde, in der sich ein bestimmtes Haus und dessen Bewohner befanden. Die Feststellung, wie das Zusammenleben der Menschen in einem Haus tatsächlich aussah, welche Strategien und Präferenzen sie hatten, ist ohne anspruchsvolle mikrohistorische Forschung nicht möglich. Diese muss in verschiedenen Regionen so durchgeführt werden, dass sich die Ergebnisse miteinander vergleichen lassen. Gerade die wechselseitige Konfrontation nicht nur der erzielten Ergebnisse, sondern auch die Diskussion der methodischen Ansätze ist für die weitere Ausrichtung der Forschung von großer Bedeutung.
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Teil II: Materialität und Wohnkultur
Elizabeth Harding
Einführung
Im Jahre 1784 erwarb der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724‒1804), vormals langjähriger Mieter, ein eigenes Haus, das er anschließend umfassend renovieren ließ. Unter anderem wurde ein Hörsaal eingerichtet, da Kant, wie in dieser Zeit an deutschen Universitäten üblich, seine Vorlesungen im häuslichen Kontext hielt. Auch am Außenmauerwerk, konkret am Erker, den man für eine gute Sicht benötigte, ließ Kant Baumaßnahmen durchführen. Nachdem der Philosoph mit den zuständigen Handwerkern über den Verlauf des Umbaus in Konflikt geraten war, beauftragte er einen Architekten, der das Projekt für ihn federführend überwachte. Wie sehr das Bauprojekt Kant beschäftigte, geht auch daraus hervor, dass er in der Folge bei seiner Naturrechtsvorlesung mehrfach Bezüge zu den Hausbauerfahrungen herstellte. Etwa diente ihm das Dienstverhältnis von Bauherr und -leuten als Beispiel zur Erläuterung der von ihm vertretenen Lehre der Gegenseitigkeit.1 Diese kurze Episode aus dem Leben eines bedeutenden Denkers am Übergang zur Moderne verdeutlicht, welchen Stellenwert die Beschaffenheit und das Interieur eines Hauses haben konnten – und wie diesbezügliche Aspekte in unterschiedliche Lebens- und Wissensbereiche hineinwirkten. Die Materialität des Hauses hat in der historischen Forschung seit Langem einen festen Platz. Dies hängt vor allem mit der vonseiten der Volkskunde betriebenen Bau- bzw. Hausforschung zusammen, die sich bereits seit dem 19. Jahrhundert für Fragen der Bauweise und Beschaffenheit von Häusern interessiert. Quellengrundlage dafür sind primär Inventare und Bauzeichnungen; daneben spielen bauchemische und -statische Erhebungen eine wichtige Rolle. Die Beschäftigung mit der Frage, wer in der Vergangenheit welche Häuser wie baute, hat erheblich dazu beigetragen, die Diversität von Wohnformen aufzudecken und diese in Bezug zu sozialen und wirtschaftshistorischen Bedingungen zu setzen. Auch gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, etwa hinsichtlich der Trennung von Wohnen und Arbeiten, hat eine solche volkskundliche Herangehensweise an das Haus dingfest machen können.2 Eine neuere, bislang nur in Ansätzen erprobte Herangehensweise an den Forschungsgegenstand wendet sich demgegenüber von der Fokussierung auf das Haus als bloße Summe seiner Räume ab und kritisiert eine in der älteren Forschung vorherrschende Tendenz, Gebäude und Räume im Sinne einer Strukturgeschichte zu
1 Marcus Willaschek, Der Maurer als Zweck, in: FAZ, 7. Januar 2015, 4. 2 Etwa Christoph Heuter/Michael Schimek/Carsten Vorwig (Hrsg.), Bauern-, Herren-, Fertighäuser. Hausforschung als Sozialgeschichte. Eine Freundesgabe für Thomas Spohn zum 65. Geburtstag. Münster 2014; Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hrsg.), Städtische Volkskunde im 18. Jahrhundert. Köln 2001.
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Elizabeth Harding
beschreiben.3 In Anlehnung an Impulse der neueren Kulturgeschichte wird als methodische Neuerung hier vorgeschlagen, die Materialität des Hauses im Kontext von Sinnproduktion und Nutzungsweisen zu sehen, und zwar auf zwei Ebenen: Gefragt wird erstens, was die Menschen mit dem Haus mach(t)en, und zweitens, was das Haus mit den Menschen macht(e). Beide Herangehensweisen können auf jeweils eigene Weise den Blick für die Diversität von Vorstellungen von Häusern schärfen; denn tatsächlich geben unterschiedliche Kulturen und soziale Gruppierungen ganz verschiedene Antworten auf die Frage, was ein Haus überhaupt ist.4 Zum Ersten: Was die Menschen mit den Häusern als Wohnräumen machten, ist maßgeblich von obrigkeitlichen Normen bestimmt – auch das ist gemeint, wenn eine Kontextualisierung des Hauses gefordert wird. Wie die in diesem Kapitel vereinten Beiträge einmal mehr deutlich machen, entlarvt gerade die Geschichte des Hauses die Trennung von privat und öffentlich als bürgerliche Stilisierung. Vielmehr waren der Hausbau und die Wohnkultur in vormodernen wie modernen Zeiten im höchsten Maße einer politischen Agenda unterworfen.5 Die Geschichte des Wohnens aus einer kulturhistorischen Perspektive ernst zu nehmen, heißt darüber hinaus jedoch ebenso sehr, Thesen von einer ‚von oben‘ geleiteten politischen Indienstnahme von Bau- und Einrichtungswesen auf den Prüfstand zu stellen. Eine solche Herangehensweise wird insbesondere von der neueren Objektund Materielle-Kultur-Forschung gefordert, die den Blick auf die Praktiken der Aneignung gelenkt hat.6 In diesem Kontext werden, genauer als bislang geschehen, ältere Vorstellungen von einer analogen Umsetzung solcher, auf das Haus bezogener Normen – seien sie klar durch die Obrigkeit gefordert oder eher indirekt propagiert –
3 Raffaella Sarti, Europe at Home. Family and Material Culture 1500–1800. New Haven 2002; Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664; Christoph Conrad u. a. (Hrsg.), Wohnen und die Ökonomie des Raumes. Zürich 2014; Elizabeth Harding, Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden 2014; als Überblick auch Thomas Düllo, Häusliche Dinge, in: Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans Peter Hahn (Hrsg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart 2014, 214‒217. 4 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Raffaella Sarti zu ländlichen Hauslandschaften in Europa. 5 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Dieter Schott und Susann Buttolo in diesem Band, allgemein auch Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3); Harding, Gelehrte (wie Anm. 3). Aus der älteren Literatur auch Wolfram Hoepfner u. a. (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, 5 Bde. Stuttgart 1997‒1999. Die Reihe wurde von der Wüstenrot-Stiftung initiiert, die für jeden der fünf Bände einen Einzelherausgeber beauftragte. Die Bände thematisieren Vorgeschichte und Antike (Bd. 1), Mittelalter bis zur Aufklärung (Bd. 2), 1800‒1918: Das bürgerliche Zeitalter (Bd. 3), 1918‒1945: Reform, Reaktion, Zerstörung (Bd. 4), und 1945 bis heute (Bd. 5). Einschlägig auch der Beitrag von Adelheid von Saldern, Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, 145–332. 6 Zu konzeptionellen Überlegungen zum Themenfeld Aneignung allgemein Marian Füssel, Die Kunst der Schwachen. Zum Begriff der ‚Aneignung‘ in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Gesch. 21, 2006, 7–28.
Einführung: Materialität und Wohnkultur
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kritisch hinterfragt. Eine Untersuchung der Materialität des Hauses und der Wohnkultur aus dem Blickwinkel der Aneignung und Sinndeutung kann entsprechend darauf aufmerksam machen, dass die Beschaffenheit von Häusern Kristallisationspunkte einer eigenständigen Selbstverortung der Hausbewohner darstellten, etwa in Bezug auf religiöse oder politisch-soziale Normen. Dass eine intensive Beschäftigung mit dem Hausbau und Interieur auch dazu beitragen kann, etablierte Vorstellungen in Bezug auf die Geschlechterordnung zu modifizieren, ist vor Kurzem am Beispiel englischer Hauseinrichtungen aufgezeigt worden, die weniger geschlechterspezifische Merkmale aufwiesen als gemeinhin angenommen.7 Ein solcher Zugang trägt schließlich dazu bei, die Vorstellung von einem trickle-down-effect von Modeerscheinungen im Allgemeinen und in Bezug auf das Haus im Besonderen auf den Prüfstand zu stellen. So ist das Haus zu Recht als „Versuchsanordnung“, bzw. als eine Art „Stilund Identitätslabor“ beschrieben worden, wo „strategischer Konsum genauso stattfindet wie […] ein ironischer […] Lebensstil“.8 Da Menschen demnach das Haus in vielerlei Hinsicht mit Leben füllen, eröffnet die Beschäftigung damit großes Erkenntnispotential im Hinblick auf individuelle und gruppenspezifische Kulturen.9 Zum Zweiten: Die Beschäftigung mit der Frage, was die Objekte mit den Menschen machen, ist eine Forschungsrichtung, die sich erst seit Kurzem in den historischen Wissenschaften etabliert.10 Ausgangspunkt dafür ist ein wachsendes Unbehagen an dem besonderen Vorzug, welcher den Diskursen und menschlichen Handlungen gegenüber den Objekten eingeräumt wird. Demgegenüber ist die Rolle der Dinge bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben; bisher beschränkte sich die Beschäftigung mit den Dingen weitgehend auf deren Verwendung innerhalb von bestimmten Handlungsmustern, etwa im Hinblick auf die Repräsentation. Vor diesem Hintergrund eines neu erwachenden Interesses an den Dingen wird eine Fokussierung auf den Stellenwert, den ein Gegenstand in einem Handlungszusammenhang für sich beanspruchen kann, vorgenommen – prägnant bezeichnet unter dem Etikett „Things that Talk“ (bzw. ‚What Objects Do‘).11
7 Amanda Vickery, Behind Closed Doors. At Home in Georgian England. New Haven 2009. Zur Rolle des Hauses bzw. der Wohnkultur bei der Selbstverortung vgl. auch die Beiträge von Tara Hamling und Christiane Holm in diesem Band. 8 Düllo, Häusliche Dinge (wie Anm. 3), 216. Vgl. hierzu auch der Beitrag von Julia Schmidt-Funke. Außerdem: dies., Handfass und Hirschgeweih. Zum Umgang mit den Dingen im Kontext frühneuzeitlichen Wohnens, in: Conrad u. a. (Hrsg.), Wohnen (wie Anm. 3), 115–141. 9 Düllo, Häusliche Dinge (wie Anm. 3), 214. 10 Als Überblick hierzu auch Hans Peter Hahn u. a., Einleitung. Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Samida u. a. (Hrsg.), Handbuch (wie Anm. 3), 1–12; in Bezug auf die Vormoderne demnächst: Kim Siebenhüner, Things that Matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: ZHF, 2015 (im Erscheinen). 11 Lorraine Daston (Hrsg.), Things that Talk. Object Lessons from Art and Science. New York 2004; Hans Peter Hahn, Konsumlogik und Eigensinn der Dinge, in: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Wey-
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Elizabeth Harding
Dieses neu entstehende Forschungsfeld, das seinen Fokus auf die Dinge richtet, ist derzeit noch sehr unübersichtlich. Versucht man die entsprechenden Ansätze zu bündeln, wird erkennbar, dass die Formel „Things that Talk“ in zweifacher Weise für einen Perspektivenwechsel stehen kann: Auf einer allgemeinen Ebene wird zunächst in diesem Kontext die Wirkmächtigkeit der Objekte in den Blick genommen. Hier erweisen sich schriftlose und schriftarme Kulturen, zu denen man (mit gewissen Abstrichen) auch die europäische Vormoderne zählen kann, als besonders interessant im Hinblick auf die Objekt-Mensch-Beziehungen. So existierte etwa in der Frühen Neuzeit eine elaborierte Zeichentheorie, in deren Kontext diskutiert wurde, inwiefern die Dinge und ihre spezifische Materialität, vermittelt über die Sinne, auf die Menschen wirken würden. Tatsächlich scheint man, insgesamt gesehen, in diesen Kulturen den Dingen als wirkmächtigen Subjekten eine größere Eigenständigkeit zugesprochen zu haben. Den Objekten ‚zuzuhören‘ war insbesondere – wenn auch nicht nur – im Kontext der Vermittlung des Transzendentalen relevant. Entsprechende Studien beschäftigen sich etwa mit der Deutung von Naturerscheinungen oder mit der Kunstrezeption.12 Auch vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass dem Haus in der Frühen Neuzeit menschliche Attribute zugewiesen wurden. So stattete man sein Haus mit einem eigenen Namen und einer Biographie aus; in einigen Gegenden übernahm man als Inhaber eines Hofes dessen Namen.13 Auch diente das Gebäude als Projektionsfläche für Aggressionen sowie Formen legitimer und ritualisierter ‚Gewalt‘, die gegen dessen Besitzer gerichtet waren.14 Diesen Ansatz kennzeichnet dabei ein großes Interesse an den entsprechenden Diskursen, die mit den Objekten verknüpft sind und den Umgang mit ihnen präfigurieren; letztlich berührt diese Herangehensweise damit den bereits vorgestellten Zugang, der sich mit der Frage beschäftigt, was die Menschen mit dem Haus mach(t)en – ihr Ausgangspunkt ist jedoch ein anderer. Einen deutlicheren Paradigmenwechsel hingegen fordern jene Wissenschaftler, die unter der Formel „Things that Talk“ einen Ansatz verstehen, der die Handlungen, die ein Ding gewissermaßen einfordert, ins Zentrum rückt. Sich abwendend von der in der Forschung etablierten Vorstellung einer Subjekt-Objekt-Dichotomie,
and (Hrsg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Frankfurt am Main 2011, 92–110. 12 Aus der Fülle an Literatur sei verwiesen auf Lorraine Daston, Speechless, in: dies (Hrsg.), Things (wie Anm. 11), 9–24, 375–377; auch Wietse de Boer/Christine Göttler (Hrsg.), Religion and the Senses in Early Modern Europe. Leiden 2013. 13 Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994; Margareth Lanzinger, Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten, Innichen 1700–1900. Wien 2003, 231–234. 14 Hierzu Daniel Jütte, Living Stones. The House as Actor in Early Modern Europe, in: Journ. of Urban Hist. 41, 2015, 1–29. Vgl. auch den Beitrag von Arno Haldemann in diesem Band.
Einführung: Materialität und Wohnkultur
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betonen sie, dass die Dinge aufgrund ihrer Materialität Handlungs- und Wissenszusammenhänge vorgeben, die nicht willkürlich sind. Tatsächlich sei ja auch der Sinn, mit dem man die Objekte versieht, nicht ganz beliebig, sondern von deren Beschaffenheit bestimmt. Im Zentrum stehen also eine Aufwertung des Objekts in seiner Eigenwilligkeit bzw. Nicht-Verfügbarkeit und das von den Dingen vorgegebene ‚Handlungsskript‘.15 Als besonders einflussreich haben sich dabei die Arbeiten von Bruno Latour erwiesen, der den Dingen eine eigene gestalterische Kraft zuspricht und sie als Aktanten analytisch mit den Menschen auf eine Ebene stellt (Akteur-Netzwerk-Theorie).16 Latours Gleichstellung der Objekte mit den Menschen hat in der Forschung allerdings Widerspruch hervorgerufen, weshalb inzwischen neuere, vermittelnde Positionen diskutiert werden. Ihr Ziel ist die Sensibilisierung für die Materialität der Dinge und ihre Rolle als relevante Faktoren bei der Ausgestaltung von Handlungen. Es interessieren die Dinge also sowohl hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit als auch in Bezug auf ihr durch Stofflichkeit und Beschaffenheit vorgegebenes Handlungspotential.17 Bezogen auf das Haus lotet eine solche Herangehensweise, die dabei auf soziologische Vorarbeiten zurückgreifen kann, die Folgen der Materialität für die Ausgestaltung von Häuslichkeit aus.18 Themenfelder, die unter diesen Vorzeichen in den Mittelpunkt rücken, sind etwa die von der Materialität des Hauses mitbestimmten Lebensweisen in Bezug auf Hygiene, Körperhaltung und Tagesroutinen. Ein weiterer wichtiger Bereich wären die Raumkonstellationen. In Bezug auf den Philosophen Immanuel Kant hieße dies etwa, die Geschichte des Erkerumbaus auch im Kontext der Bedeutung dieses Vorbaus für die Teilhabe am städtischen Leben zu erforschen. Sinnvoll zu erweitern wäre das Forschungsspektrum schließlich durch einen Zugang, der die Wohnkultur (der häuslichen Dinge) und die Materialität des Hauses als Zusammenspiel erforscht. Insgesamt erweist sich das Themenfeld häusliche Materialität und Wohnkultur als ein Brennpunkt, anhand dessen bekannte Meistererzählungen überprüft und
15 Hahn, Einleitung (wie Anm. 10), 7 f.; Susanne Küchler, Was Dinge tun. Eine anthropologische Kritik medialer Dingtheorie, in: Katharina Ferus/Dietmar Rübel (Hrsg.), Die Tücke des Objektes. Berlin 2009, 230–249. 16 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main 2014 [zuerst engl.: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford 2005]. 17 Andreas Reckwitz, Die Materialisierung der Kultur, in: Friederike Elias (Hrsg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geisteswissenschaften. Berlin 2014, 13–25; ders., Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, 131–156. 18 Zu den unterschiedlichen Bewertungen der Materialität des Hauses aus soziologischer Perspektive (zwischen determinierender Struktur und menschlichem Konstrukt): Thomas F. Gieryn, What Buildings Do, in: Theory and Soc. 31, 2002, 35–74.
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neuere Zugänge erprobt werden können. Bevor aber mit den hier aufgeworfenen Fragestellungen gewissermaßen ‚offene Türen eingelaufen‘ werden können, müssten zuvor noch diese Schwellen und Durchgänge genauer in den Blick genommen werden.
Raffaella Sarti
Ländliche Hauslandschaften in Europa in einer Langzeitperspektive Der Eingriff von Menschen in die Umwelt hat Landschaften entstehen lassen, die sich immer wieder verändert haben. Siedlungen und Häuser haben maßgeblich dazu beigetragen, Landschaften zu prägen und zu gestalten, und zwar nicht nur im städtischen, sondern auch im ländlichen Raum.1 Tatsächlich lebten, insgesamt gesehen, noch um 1800 zwischen 85 und 90 % der europäischen Bevölkerung trotz zunehmender Urbanisierung auf dem Land, entweder in Dörfern oder in Streusiedlungen.2 Im Folgenden wird versucht, in einer Langzeitperspektive einige Charakteristika des Wohnens im ländlichen Raum und deren Veränderungen zu erfassen, wobei der Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit liegt. Dabei soll zugleich das Zusammenspiel von ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren in einer Zeit, in der Europa insgesamt eine geringe Urbanisierung aufwies, sichtbar gemacht werden.
1 Baumaterialien zwischen Natur und Kultur Höhlen, in den Fels geschlagene Wohnungen, Trockensteinhäuser: Seit prähistorischer Zeit haben die rund um das Mittelmeer lebenden Menschen Fels und Stein genutzt, um Unterstände und Behausungen zu errichten. Das mag wenig überraschen, denn Felsen und Steine sind dort reichlich vorhanden. Sie verwendeten zwar auch Holz und andere pflanzliche Materialien, doch konnten selbst die elendsten Behausungen, die jeder Wohnlichkeit entbehrten, aus Stein erbaut sein. Dies gilt mehr oder weniger für all jene Regionen, in denen solches Material in ausreichendem Maße ver-
1 Vgl. z. B. Marco Bini, Linguaggio dei luoghi, documentazione, progetto, in: ders. (Hrsg.), Il paesaggio costruito della campagna toscana. Florenz 2011, 13–45. 2 Massimo Livi Bacci, Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte. München 1999, 35. Vgl. dazu auch Raffaella Sarti, Vita di casa. Abitare, mangiare, vestire nell’Europa moderna. Rom 1999, überarbeitete engl. Ausgabe: Europe at Home. Family and Material Culture. New Haven 2002, 86–89. Die am stärksten verstädterte Region Europas war um 1500 die mediterrane, wo etwa 9,5 % der Bevölkerung in Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern wohnte. Um 1800 war es die nordwestliche Zone, wo der Anteil 14,9 % erreichte (allerdings lag dieser in Holland schon um 1500 bei 15,8 % und in Belgien bei 21,1 %). In Osteuropa hingegen lebte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Städten (1,1 % um 1500; 4,2 % um 1800). Streusiedlungen vervielfachten sich im Laufe der Frühen Neuzeit in fast ganz Europa, obwohl gewisse Regionen wie Süditalien und die spanische Meseta von diesem Phänomen kaum betroffen waren.
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Raffaella Sarti
fügbar war, wie die Bretagne, Cornwall, Schottland, Burgund, oder die Ile-de-France. Im Unterschied dazu waren viele andere europäische Gebiete, wie die Tiefebenen, die sich von Polen bis in den Norden Frankreichs ziehen, arm an Fels und Stein; dementsprechend wurden dort andere Materialien eingesetzt – üblicherweise Holz, Schilf, Stroh und Lehm.3 Doch konnte die Fülle an alternativen Materialien auch in felsreichen Regionen andere Bauformen begünstigen. Dass es im alpinen Raum Bäume mit langen und geraden Stämmen wie Kiefern und Tannen gab, war ausschlaggebend für das Entstehen des Blockhauses. Die von der Umwelt gesetzten Grenzen sollten jedoch nicht überbetont werden. Menschen konnten weiträumig umherziehen und ihre Bauweisen und -techniken mitnehmen und diese manchmal sogar in Regionen überführen, wo diese keineswegs der Umgebung entsprachen. So trugen Migrationsbewegungen, Eroberungen und Kolonisierung dazu bei, die Hauslandschaften zu verändern. Hatte Tacitus (56–117 n.Chr.) eine hochgradig urbanisierte römische Welt mit einer germanischen kontrastiert, in der es zwar Dörfer mit soliden Wohnstätten gab, die Behausungen aber voneinander entfernt lagen und aus Holz bestanden4, so verschob sich die Grenze zwischen diesen beiden europäischen Baukulturen im Laufe der Zeit. Im Zuge der Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs ‚exportierten‘ die Römer die Baumaterialien Stein, Ziegel und Kacheln in Regionen, wo diese selten oder unbekannt waren.5 Umgekehrt brachten die ‚Invasion der Barbaren‘ und das Ende des Römischen Reiches häufig den Niedergang sowohl der Städte als auch der auf Mauerwerk basierenden Architektur mit sich und damit zugleich die Verbreitung anderer Arten des Bauens, die nicht notwendigerweise weniger ausgeklügelt waren.6 Manche Baumaterialien, insbesondere solche, die wie Marmor in reich ausgestatteten Bauten zur Verwendung kamen, wurden über weite Strecken transportiert. Darüber hinaus beschränkte man sich nicht nur auf vorgefundenes Baumaterial, sondern stellte solches auch her, vor allem Mauer- und Dachziegel sowie Kalk. Nicht zuletzt aus diesem Grund können Hauslandschaften in einem scharfen Gegensatz zur ‚natürlichen‘ Landschaft stehen. Forschungen über die östliche La Mancha in Spanien zum Beispiel zeigen, dass die Wände der Häuser, die in der Frühen Neuzeit vornehmlich aus tapial – in sog. Stampflehmbauweise aus Erde manchmal mit Stroh vermischt gebaut – bestanden, immer häufiger mit Kalk übertüncht wurden. Dies geschah, um sie gegen Wasser abzudichten, zum Zweck der Stabilität und Hygiene, aber auch aus
3 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 97. 4 Cornelius Tacitus, De origine et situ Germanorum/Über den Ursprung und die geographische Lage der Germanen, in: ders., Agricola – Germania. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Alfons Städele. München 1991, 78–135, 96–99. Jenseits der Grenzen germanischer Territorien erschienen Tacitus die Unterschiede zur römischen Zivilisation noch größer, so gegenüber nomadischen Völkern, die keine festen Wohnstätten kannten. 5 Pierre Chaunu, La civilisation de l’Europe des Lumières. Paris 1971, 366 f.; Simone Roux, La maison dans l’histoire. Paris 1976, 170. 6 Paola Galetti, Uomini e case nel Medioevo in Occidente e Oriente. Rom 2001, 111.
Ländliche Hauslandschaften in Europa in einer Langzeitperspektive
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ästhetischen Gründen. Waren die Wände im 16. Jahrhundert noch dunkel, erhielten sie in der Folge immer häufiger einen weißen Anstrich.7 Nachdem sich bereits in der Antike und im Frühmittelalter die Grenzen zwischen verschiedenen Wohnkulturen im Gefolge politisch-territorialer Veränderungen, technischer Innovationen und anderer Faktoren gewandelt hatten, fanden Häuser aus Stein und Mauerwerk nach einer langen Zeit des Niedergangs ab dem 10. und 11. Jahrhundert vor allem in den aufstrebenden Städten (sog. urban revival) zunehmend Verbreitung.8 In den folgenden Jahrhunderten wurden sie nicht nur im städtischen, sondern auch im ländlichen Raum, dort allerdings in einem geringeren Ausmaß, immer zahlreicher. Ärmliche, aus ein oder zwei Räumen bestehende fensterlose Häuser mit Wänden aus Holz oder aus pflanzlichen Materialien, mit Schlamm oder Lehm vermischt, mit Stroh- oder Schilfdächern, mit Böden aus gestampfter Erde, wurden zunehmend verlassen, zerstört, ersetzt, neu aufgebaut oder nur mehr als Lagerraum, Schuppen, Scheune etc. genutzt.9 Die europaweite Begeisterung für die italienische Renaissance-Architektur, die die römische und griechische wieder aufgriff, trug ebenfalls dazu bei, dass sich Gebäude aus Stein und Mauerwerk immer mehr durchsetzten.10 Doch spielten noch andere Faktoren eine Rolle. Dies zeigt sich etwa am starken Anstieg des Gebrauchs von Backsteinen in England ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. Dieser hing damit zusammen, dass Eichenholz in beträchtlichem Ausmaß für den Schiffbau benötigt wurde. „England ist ein Land aus Backstein“, stellte ein Reisender im Jahr 1790 fest (Abb. 1–2).11 Insgesamt wurden neue Häuser vor allem ab dem 18. Jahrhundert immer öfter aus Stein oder Ziegeln erbaut und mit Dachziegeln oder Dachschiefer gedeckt. Daher wurde im Europa der Frühen Neuzeit ein ‚Haus‘ zunehmend mit einem dauerhaften, gemauerten Gebäude assoziiert – wenngleich bestimmte Elemente weiterhin aus Holz bestanden, wie zum Beispiel die Balken. Allerdings zeigt sich dieser Siegeszug von Stein und Backstein über Holz und Lehm in Italien, Frankreich, im Rheinbecken und in Großbritannien durchgängiger als im deutschen Sprachraum entlang der Donau, in Böhmen und im Norden Europas. Im Baltikum, in Polen, in Russland und in Skandinavien fanden Stein und Backstein, mit Ausnahme von gewissen städtischen Arealen, als Bausubstanz weit weniger Verbreitung.12
7 Carmen Hernández López, La casa en La Mancha oriental. Arquitectura, familia y sociedad rural (1650–1850). Madrid 2013, 31–34. 8 Galetti, Uomini e case (wie Anm. 6), 114. 9 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 89 f. 10 Ebd., 98. 11 Maurice Willmore Barley, Rural Building in England, in: Joan Thirsk (Hrsg.), The Agrarian History of England and Wales, Bd. 5. Cambridge 1985, 590–682, hier 591. 12 Chaunu, La civilisation (wie Anm. 5), 366 f.
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Abb. 1: Abernodwydd Farmhouse, walisisch, ursprünglich 1678 in Llangadfan, Powys.
Abb. 2: Landhaus, englisch, 17. Jahrhundert, Arlington, East Sussex.
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2 Räumliche Arrangements Der Wandel in puncto Baumaterial ging mit weiteren Veränderungen einher. Die neuen Häuser waren tendenziell solider und beständiger, größer und höher, und sie verfügten über mehr Räume mit spezialisierten Funktionen. Doch wäre es allzu vereinfachend anzunehmen, dass gemauerte Häuser immer und überall besser als die aus pflanzlichem Material und Letztere grundsätzlich ärmlicher und weniger behaglich gewesen oder unverändert geblieben seien. Denn sowohl Stein und Mauerwerk als auch Holz und pflanzliche Materialien erforderten hochdifferenzierte Bautechniken. Ein Beispiel dafür sind die Fachwerkhäuser, die man in ganz Mittel- und Nordeuropa vor allem dort, wo es wenig Stein gab, finden kann. Diese bestanden aus einem Holzrahmen, der mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh oder mit einem mit Lehm verputzten Holzgeflecht gefüllt wurde (Abb. 1). Dabei handelte es sich nicht unbedingt um dürftige und kurzlebige Gebäude, im Gegenteil: Sie konnten sehr luxuriös sein. Darüber hinaus durchliefen sie eine Entwicklung, die sie tendenziell größer und höher werden ließ. Neuerungen und Veränderungen kennzeichnen auch Wohnmodelle, die sich auf die Frühgeschichte zurückführen lassen. Hierfür ist ein aus ein oder zwei Räumen bestehender, im ländlichen Raum nördlich der Alpen weit verbreiteter Haustyp ein Beispiel. Dieser geht auf das prähistorische, aufgrund seiner rechteckigen Form so genannte Langhaus zurück und wurde als Anlage mit der Zeit länger sowie um eine oder zwei Etagen aufgestockt. Dieses Langhaus wies nun tendenziell zunehmend Wohnräume auf, die vom Bereich für Tiere oder Gerätschaften abgegrenzt waren. Wenn sie auch immer seltener wurden, so bestanden bis in die jüngere Vergangenheit zugleich jene Häuser weiter fort, in denen Menschen und Tiere den Wohnraum teilten, manchmal nur durch Möbelstücke oder durch einen Bretterverschlag abgetrennt (Abb. 3).13 Am Wandel der Häuser im ländlichen Raum waren die Architekten nicht unbeteiligt14, wiewohl ihnen je nach Ort und Zeit eine sehr unterschiedliche Rolle zukam. Die Wohnstätten der Bauern, schrieb Leon Battista Alberti bereits im 15. Jahrhundert, müssen der Familie, dem Vieh und den landwirtschaftlichen Erzeugnissen Unterkunft bieten und „vor allem des Nutzens wegen errichtet“ sein: „Daher wird eine Küche bereitet werden, weiträumig und keinesfalls dunkel […], mit einem Backofen, einem Herde, Wasser und einem Kanal. Innerhalb des Küchengebäudes wird sich ein Gemach befinden, wo die Angeseheneren übernachten können und wo die Brotkiste, der Schinken und der Speck für den täglichen Gebrauch aufbewahrt werden.
13 Jean Cuisenier, La maison rustique. Logique sociale et composition architecturale. Paris 1991, 104. 14 So z. B. in der Toskana und in Latium, vgl. Claudia Lazzaro, Rustic Country House to Refined Farmhouse. The Evolution and Migration of an Architectural Form, in: The Journ. of the Soc. of Architec tural Historians 44, 1985, 346–367.
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Abb. 3: Govert Dircksz Camphuysen, Innenansicht eines bäuerlichen Hauses, 17. Jahrhundert.
Die übrigen werden so verteilt, daß jeder sich in der Sache, die ihm anvertraut ist, nützlich erweist.“15 Im sechsten Buch der Abhandlung „Sette Libri d’Architettura“ von Sebastiano Serlio (1475–1554/55) finden sich daneben für die unterschiedlichen sozialen Gruppen eigene Entwürfe von Landhäusern, die im französischen oder italienischen Stil realisiert werden sollten. Neben der ‚einfachen Hütte‘ des ‚armen Bettlers‘, über die er es nicht für nötig befand, zu schreiben, schlägt der Architekt eine Vielfalt von Häusern vor. Diese reicht von der nur aus einem Wohnraum und einem Stall bestehenden Kate des armen Bauern bis zum prächtigen Königspalast auf dem Land.16 Die Auffächerung eines architektonischen Panoramas für den ländlichen Raum, zu der er selbst beitrug, spiegelt sich auf diesen Seiten wider. So gab es auf
15 Leon Battista Alberti, De re aedificatoria. Rom 1485; deutsche Übersetzung: Zehn Bücher über die Baukunst. Darmstadt 1975 [Wien 1912], 265 f. 16 Sebastiano Serlio, Architettura civile. Libri sesto settimo e ottavo nei manoscritti di Monaco e Vienna, hrsg. von Francesco Paolo Fiore. Mailand 1994, 43–119. Das sechste Buch blieb jahrhundertelang
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dem Land nicht nur Bauernhäuser, sondern auch Schlösser, Villen, Klöster, Kirchen, Paläste sowie Behausungen von Kaufleuten und Handwerkern, Werkstätten, Ställe, Scheunen usw. (Abb. 4).
Abb. 4: Villa Almerico Capra (La Rotonda), Vicenza, Italien, entworfen vom Renaissance-Architekten Andrea Palladio.
In der Frühen Neuzeit beschäftigte die Planung ländlicher Wohnstätten nicht nur die Architekten. Im Jahr 1554, ungefähr zur selben Zeit als Serlio in Fontainebleau starb, veröffentlichte Charles Estienne einen Band mit dem Titel „Praedium rusticum“.17 Eine von ihm überarbeitete und übersetzte Fassung erschien im Jahr 1564 posthum unter
unveröffentlicht, aber sehr wahrscheinlich kursierte das Manuskript sowohl in Frankreich (wo Serlio es nach 1541 verfasst hatte) als auch in Italien. 17 Charles Estienne, Praedium rusticum. In Quo Cuiusuis Soli vel Culti vel Inculti Platarum Vocabula ac Descriptiones, Earumque Conseredarum atque Excolendarum Instrumenta suo Ordine Describuntur. Paris 1554.
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dem Titel „Agriculture et Maison Rustique“. Estiennes enorm erfolgreichem Werk, das mehrfach neu aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, kam in Frankreich eine Vorbildfunktion für ein ganzes literarisches Genre zu.18 Es präsentiert sich als Darstellung, „die alles enthält, was erforderlich sein kann, um einen Landsitz oder eine Meierei zu erbauen, Vieh und Geflügel aller Art zu nähren und zu warten, Küchenund Blumengärten zu bestellen, Honigbienen zu halten, jede Art von Obstbäumen zu pflanzen und zu ziehen, Pflanzgärten und Teiche instand zu halten, Kornfelder zu bestellen, Weingärten zu pflegen, Wälder und Gehölz zu pflanzen, ein Gehege für Hasen und Reiher und einen Garten für Wildtiere zu errichten.“19 Estienne, seines Zeichens Arzt, erteilte im Hinblick auf das Wie und Wo des Bauens von Häusern Ratschläge, die auch der Gesundheit der Bewohner förderlich sein sollten.20 Dabei verfolgte er einen in seiner Zeit bei Architekten und Reformern verbreiteten Ansatz21, der in der Folge ein noch größeres Echo finden sollte und der auch die bäuerliche Bevölkerung adressierte. Der aus der Toskana stammende Ferdinando Morozzi beispielsweise schrieb in seinem Buch über bäuerliche Häuser „Le case dei contadini“ (1770), dass er dank seiner Profession als Ingenieur und Architekt entdeckt habe, dass man „die Häuser der Bauern nicht unbeträchtlich verbessern“ könne. Nicht selten kamen diese nämlich einer Hütte gleich, in der Menschen und Tiere in einer Weise zusammenlebten, die immer öfter als Ursache von Krankheiten erachtet wurde.22 „Es ist wesentlich,“ betonte auch ein an Architektur interessierter Intellektueller wie Francesco Milizia im Jahr 1781, „dass sich die Häuser auf dem Land, die für die Bauern und die Feldarbeit bestimmt sind, in ihrer Einfachheit durch gesunde Bedingungen, durch eine geeignete Aufteilung auszeichnen.“ In diesem Sinne schlug er Häuser vor, die „mit einer geräumigen Küche mit der Herdstelle in der Mitte und mit rundherum angeordneten Schlafzimmern“ ausgestattet sein sollten; auf der anderen Seite des Gebäudes waren „weitere Räume oder Speicher“ vorgesehen, „um bäuerliches Arbeitsgerät und Erzeugnisse aufzubewahren und zu lagern. Im Stockwerk darüber lassen sich einige Kammern zur Nutzung für den Besitzer des Hofes oder seinen Verwalter einrichten.“ Ein Hof,
18 Cuisenier, Maison rustique (wie Anm. 13), 26, 33. 19 Charles Estienne, L’Agriculture et la Maison Rustique. Paris 1564, Frontispiz. Ende des 16. Jahrhunderts erschien eine erweiterte und an deutsche Verhältnisse angepasste Übersetzung dieses Werkes, allerdings ohne diese Inhaltsübersicht auf dem Frontispiz: Fünffzehen Bücher vom Feldbaw unnd recht vollkommener wolbestellung eines bekömmlichen Landsitzes, und geschicklich angeordneten Meyerhofs oder Landguts, sampt allem was demselben Nutzes und Lusts halber anhängig. Straßburg 1598. 20 Estienne, L’Agriculture (wie Anm. 19), z. B. 4 f. 21 Vgl. Royal Holloway Universität London, Projekt ‚Healthy Homes, Healthy Bodies in Renaissance and Early Modern Italy‘, URL: https://www.royalholloway.ac.uk/history/Research/HealthyHomes/ project.html (Zugriff: 06. 01. 2015); Sandra Cavallo/Tessa Storey, Healthy Living in Late Renaissance Italy. Oxford 2013. 22 Ferdinando Morozzi, Delle case de‘ contadini. Trattato architettonico. Florenz 1770, 2 f.
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Arkaden, Keller, Kornspeicher, Ställe und ein Taubenschlag sollten den Entwurf für die landwirtschaftlichen Mischbetriebe der italienischen Halbinsel vervollständigen.23 Die Spezialisierung der Räume, die im Laufe der Frühen Neuzeit kennzeichnend für die urbane Welt wurde, war also von einer ähnlichen Ausdifferenzierung der Räume in ländlichen Wohnstätten begleitet, die jedoch eigene Züge aufwies.24
3 Feuer und Fenster Zu Beginn der Frühen Neuzeit waren viele ländliche Behausungen wenig mehr als eine Unterkunft, die aus ein, zwei Räumen bestand, manchmal ohne Fenster, und mit einem Boden aus gestampfter Erde, auf dem das Feuer in einer einfachen Vertiefung angezündet wurde (Abb. 5). Dass diese Wohnstätten ungesund waren, hing nicht nur damit zusammen, dass Menschen und Tiere oft auf engstem Raum zusammenlebten und Mäuse und Insekten darin Unterschlupf fanden, sondern auch mit der Feuchtigkeit und dem Rauch. Um sie gesundheitsverträglicher zu gestalten, erschien es daher zusätzlich zur Verwendung anderer Baumaterialien und zur klaren Trennung der Räume für Menschen und Tiere notwendig, die Luftqualität zu verbessern, also Rauch und Feuchtigkeit zu mindern, eine Durchlüftung zu ermöglichen und gleichzeitig die Wärme zu halten.25 In vielen europäischen Regionen verbreitete sich beispielsweise der Einbau eines Kamins an der Seitenwand (Abb. 6). Das hatte zwar den Nachteil, dass dadurch viel Wärme verloren ging, aber die Räume waren weniger verraucht. Eine bessere Lösung stellten gemauerte Öfen dar, die keinen Rauch erzeugten und das Brennmaterial bestmöglich nutzten. Bisweilen mit Kacheln versehen, die nicht nur als Dekor dienten, sondern auch die Wärmeleistung verbesserten, standen diese Öfen häufig zwischen den Wohnbereichen und beheizten zwei Räume gleichzeitig; sie hatten auch umlaufende Bänke, auf denen man im Warmen schlafen konnte. Im Laufe der Zeit ersetzten diese Neuerungen die alten Formen, wenngleich in dem hier in den Blick genommenen Zeitraum nie zur Gänze. In ihrer Verbreitung folgten sie einer Geographie, die sich nicht allein durch mehr oder weniger raue klimatische Bedingungen oder durch lokal verfügbare Brennstoffe erklären lässt, sondern die auch vielfältigen Interaktionen zwischen Kulturen geschuldet war. Es lassen sich Netze des Austauschs und auch veränderliche kulturelle Hegemonien feststellen. In
23 Francesco Milizia, Principj di architettura civile, Bd. 2: Libro terzo. Della distribuzione. Finale 1781, teilweise wiedergegeben in: Giorgio Simoncini (Hrsg.), L’uso dello spazio privato nell’età dell’Illuminismo, Bd. 2. Florenz 1995, 643–651, hier 648. 24 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 137 f. 25 Vgl. John E. Crowley, The Invention of Comfort. Sensibility and Design in Early Modern Britain and Early America. Baltimore 2001, 36, 53 ff., allerdings: „in some cultures a smoky interior is considered desirable“, ebd. 10; Cavallo/Storey, Healthy Living (wie Anm. 21), Kap. 3.
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Abb. 5: Jan Brueghel der Ältere, Besuch beim Bauern, 1597.
diesem Sinn verbreitete sich der wahrscheinlich in Venedig zwischen 12. und 13. Jahrhundert erfundene Wandkamin in Italien, Frankreich, Portugal, England und Norwegen. Demgegenüber wurden die gemauerten Öfen, möglicherweise zuerst im Gebiet der Südalpen, in der Schweiz, in Österreich, Deutschland, Ungarn, Polen und Russland üblich. In den slawischen Ländern des Mittelmeerraums dominerte weiterhin die offene Feuerstelle, während in Spanien Kohlebecken charakteristisch blieben. In einigen Gebieten wie der Tierra de Campos oder der Tierra del Pan wurde Stroh verbrannt, dessen Rauch in kanalartigen Röhren unter dem Fußboden zirkulierte (gloria). Ab dem 17. Jahrhundert begannen sich in Europa zudem gusseiserne Öfen zu verbreiten, dies jedoch stärker in urbanen als in ruralen Gebieten.26 Kamine und offene Feuerstellen boten nicht nur Wärme, sondern auch Licht: In vielen ländlichen Häusern blieben andere Lichtquellen lange Zeit rar.27 Im Tal von Berkeley im britischen Gloucestershire besaßen zwischen 1650 und 1700 zum Beispiel
26 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 92 f. 27 Daniel Roche, Histoire des choses banales. Naissance de la consommation XVIIe–XIXe siècle. Paris 1997, 136 f.
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Abb. 6: Adriaen Jansz van Ostade, Bauern in einem Innenraum, 1661.
nur 2,7 % der ärmeren Familien (deren Besitz weniger als zehn Pfund wert war) und nur 29 % jener, die sich der unteren Mittelschicht (mit einem Vermögen zwischen zehn und 49 Pfund) zurechnen lassen, zumindest ein Leuchtmittel. In der Ebene von Caen in der Normandie verfügten 43 % der Familien zwischen 1700 und 1715 über keines (zwischen 1770 und 1789 waren es noch 22 %).28 Kerzen waren ein Luxusgut, das sich nicht jeder leisten konnte, und als solches wurden sie manchmal auch besteuert29, ebenso wie eine andere ‚Lichtquelle‘, nämlich die Fenster.30
28 James P. P. Horn, ‚The Bare Necessities‘. Standards of Living in England and the Chesapeake, 1650– 1700, in: Hist. Archaeology 22, 1988, 74–91, hier 80; Christian Dessureault/John A. Dickinson/Thomas Wien, Living Standards of Norman and Canadian Peasants, 1690–1835, in: Anton J. Schuurman/Lorena S. Walsh (Hrsg.), Material Culture. Consumption, Life-Style, Standard of Living, 1500–1900, B4 Proceedings Eleventh International Economic History Congress, Milan, September 1994. Mailand 1994, 95–111, hier 108. Die Daten stammen in beiden Fällen aus Nachlassinventaren. 29 Caroline Davidson, A Woman’s Work is Never Done. A History of Housework in the British Isles 1650–1950. London 1982, 104; Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 104 f. 30 Davidson, A Woman’s Work (wie Anm. 29), 101; Andrew E. Glantz, A Tax on Light and Air. Impact of the Window Duty on Tax Administration and Architecture, 1696–1851, in: Penn Hist. Rev. 15,
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Bereits im Jahr 1602 behauptete Richard Carew in seiner Beschreibung Cornwalls, dass die Bauern (husbandmen) nicht mehr wie bis dato kleine Häuser mit Lehmwänden, Strohdächern, wenigen Räumen, nur einer Öffnung als Kamin und ohne Glasfenster bewohnten.31 Sicher war er zu optimistisch. Denn viele der ärmlichsten englischen cottages, wie auch die dürftigen Behausungen in anderen europäischen Regionen, hatten auch am Ende der Frühen Neuzeit weder Glasfenster noch Fensteröffnungen.32 Er konstatierte dennoch einen Trend, der sich in vielen ländlichen Räumen, wenn auch mit jeweils spezifischer Charakteristik und Chronologie, dokumentieren lässt: Fensterlose Wohnstätten wurden seltener; die Öffnungen der Häuser vervielfachten sich tendenziell, und auch Glasfenster verbreiteten sich (Abb. 1–2). Glasfenster, die es zunächst nur in Kirchen, Klöstern und Palästen gab, fanden sich in Städten wie Florenz und Genua bereits im 14. Jahrhundert auch in Privathäusern. Außerhalb der Städte traten sie allerdings nur langsam an die Seite von hölzernen Fensterläden bzw. ersetzten gegebenenfalls Fenster aus Ölpapier oder Stoff.33 Auf seiner Reise durch die Toskana in den Jahren 1756 und 1757 hielt ein Beobachter fest, dass sämtliche Fenster der Häuser aus Glas seien. Deren Einführung setzte er aber nur achtzig Jahre zuvor an. Einem anderen Beobachter zufolge waren Fenster in Italien sowie in Spanien um 1670 und 1680 tatsächlich noch oft aus Papier oder Holz gefertigt.34 Noch im 19. Jahrhundert gab es in Europa Bauernhäuser mit Fenstern, die nur mit Holzläden verschließbar waren und in denen man bei Kälte entweder auf Wärme oder Sonnenlicht verzichten musste.35 Die Herdstelle von der Mitte des Raums an eine Wand zu versetzen oder das Feuer in einen Ofen zu verbannen, brachte zumindest für einige Bereiche des Hauses die Notwendigkeit mit sich, Baumaterial zu verwenden, das nicht brennbar war. Doch implizierte dies auch weniger ‚materielle‘ Veränderungen. Denn das Feuer bildete in vielen traditionalen europäischen Kontexten das Herz des Hauses; nicht zufällig stehen Begriffe wie fuoco, feu, focolare, hogar oder ‚Feuerstätte‘ synonym für Haushalt. Insofern bedeutet dessen Verlagerung eine Veränderung im symbolischen
2008, URL: http://repository.upenn.edu/phr/vol15/iss2/3/ (Zugriff: 06. 01. 2015); Félix Esquirou de Parieu, Traité des impôts considérés sous le rapport historique, économique et politique en France et à l’étranger, Bd. 2. 2. Aufl. Paris 1866, 7–30. 31 Richard Carew, The Survey of Cornwall and an Epistle Concerning the Excellencies of the English Tongue. London 1769, 66 [1602]. 32 Davidson, A Woman’s Work (wie Anm. 29), 101 f.; Mark Overton u. a., Production and Consumption in English Households 1600–1750. Abingdon 2004, Kap. 6; Crowley, Invention of Comfort (wie Anm. 25), 62–68. 33 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 93 f.; Crowley, Invention of Comfort (wie. Anm. 25), 36–44, 62–69. 34 Joseph Jêrome Le Français de Lalande, Voyage en Italie, Bd. 2. 3. Aufl. Genf 1790, 144; Gregorio Leti, Del Teatro Brittanico, Bd. 1. London 1683, 66. 35 Raffaella Sarti, Material Conditions of Family Life, in: Marzio Barbagli/David I. Kertzer (Hrsg.), Family Life in Early Modern Times 1500–1789. New Haven 2001, 3–23, 288–293.
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Gleichgewicht des Wohnhauses.36 Der Bau von Kaminen stellte ebenso wie die Vervielfachung von Fenstern, Toren oder andere Öffnungen neue Verbindungswege zur Außenwelt her, die einen Schutz durch Unheil abwehrende Gegenstände oder Objekte erforderlich machten, um den Zutritt von Geistern oder bösen Mächten zu verhindern. So sind dies auch jene Bereiche des Hauses, auf die sich viele rituelle Praktiken richteten.37 Je nach Kontext unterschiedlich, bezogen sich Volksglaube und Rituale auf sämtliche Aspekte des ‚Lebens‘ eines Hauses. Denn Häuser waren Träger polysemischer Vorstellungen auf der emotionalen, symbolischen und religiösen Ebene und Orte, in denen Symbole, Kreuze, Skulpturen, heilige Bilder, kleine Altäre etc. Frömmigkeit und ‚Aberglauben‘ ausdrückten.38
4 Reich, arm und andere Differenzierungen Tendenziell betrafen die Veränderungen der bäuerlichen Häuser zuerst die begüterten Schichten in wohlhabenden Regionen und dann erst die unteren Schichten in ärmeren Gegenden. Allerdings ist vielfach eher von einer aktiven Anpassung der Neuerungen an die spezifischen lokalen Bedingungen auszugehen als von nachahmender Adaptation.39 In England zum Beispiel hatte das great rebuilding schon im 17. und 18. Jahrhundert die Hauslandschaft so verändert, dass Häuser aus Holz, Lehm und Stroh relativ selten geworden waren (Abb. 1–2), obwohl die neuen Häuser – so die Sicht von Gregorio Leti – nicht so dauerhaft gebaut gewesen seien wie jene in Italien und Frankreich.40 Zumindest in Zentral- und Süd-England hatten allerdings auch arme
36 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 95 f. 37 Piero Camporesi, La terra e la luna. Alimentazione folklore società. Mailand 1989, 5; Claude Lecouteaux, La maison et ses génies. Croyances d’hier et d’aujourd’hui. Paris 2000, 57–86; Erika Lindig, Hausgeister. Die Vorstellungen übernatürlicher Schützer und Helfer in der deutschen Sagenüberlieferung. Frankfurt am Main 1987. 38 Andrea Menzione, Preghiera e diletto. Immagini domestiche a Pisa nel Seicento. Pisa 2010; Ottavia Niccoli, Vedere con gli occhi del cuore. Alle origini del potere delle immagini. Rom 2011, 21–42; Ana García Sanz, Analisis de una devoción doméstica: la imagen del niño Jesús en diferentes ámbitos e la vida cotidiana, in: Gloria A. Franco Rubio (Hrsg.), La vida de cada día. Rituales, costumbres y rutinas cotidianas en la España moderna. Madrid 2012, 229–247; Jessica Martin/Alec Ryrie (Hrsg.), Private and Domestic Devotion in Early Modern Britain. Farnham 2012. 39 Norman J. G. Pounds, Hearth & Home. A History of Material Culture. Bloomington 1989, 126, 132; Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 107–109. 40 W.G. Hoskins, The Rebuilding of Rural England, 1570–1640, in: P & P 4, 1953, 44–59; R. Machin, The Great Rebuilding. A Reassessment, in: P & P 77, 1977, 33–56; M. Johnson, English Houses 1300–1800. Vernacular Architecture, Social Life. Abingdon 2014 [2010], 88–112; C. Platt, The Great Rebuildings of Tudor and Stuart England. Revolutions in Architectural Taste. Abington 1994; Leti, Del Teatro Brittanico (wie Anm. 34), 66.
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Häuser im Schnitt zwei bis drei Räume. Die Auswertung einer Stichprobe von etwa 500 Nachlassinventaren von Landarbeitern aus Cheshire, Lincolnshire, Norfolk, Cambridgeshire, Kent und Hampshire zeigt, dass diese vor 1600 durchschnittlich 2,7 Räume zur Verfügung hatten; 2,9 zwischen 1600 und 1649; 3,2 zwischen 1650 und 1699 sowie 3,6 im 18. Jahrhundert.41 Bezieht man alle Häuser ein, dann gelangt man zum Ergebnis, dass in Kent die durchschnittliche Anzahl der Räume zwischen 1600 und 1749 wahrscheinlich von drei auf bis zu sieben angestiegen ist.42 Im Gegensatz dazu war die üblichste Form des Hauses im ruralen Polen – einem Land, das im Vergleich zu England arm war43 – noch im 19. Jahrhundert aus Holz auf einem Steinfundament erbaut; es hatte einen Lehmfußboden und ein Stroh- oder Schindeldach. In der Regel bestand es aus zwei Räumen, von denen nur einer beheizbar war.44 Wie schon erwähnt, spiegelte sich die jeweilige sozio-ökonomische Strukturierung einer Gesellschaft gleichsam in der ländlichen Hauslandschaft wider. Die ‚Heuerlinge‘ (landlose Tagelöhner) in Nordwestdeutschland wohnten zum Beispiel in ärmlichen Behausungen in der Nähe der Höfe jener Bauern, deren Land sie gepachtet hatten.45 In verschiedenen Gebieten Schottlands nahm im 18. und 19. Jahrhundert die Zahl der (verheirateten) Knechte (hinds) zu, die nicht mit dem Dienstherren unter einem Dach lebten, sondern ein winziges, aus einem Raum bestehendes Häuschen in deren Nähe als Teil ihres Lohnes erhielten.46 Ärmliche Häuser mit nur einem Raum bewohnten oft auch die sizilianischen Landarbeiter.47 Häuser sind auch nach den Funktionen zu unterscheiden, die ihnen zugedacht waren: Schlösser und Turmhäuser dienten unter anderem der Verteidigung; Freude an der Natur war einer der Gründe, elegante Villen zu bauen; große und vornehme
41 Craig Muldrew, Food, Energy and the Creation of Industriousness. Work and Material Culture in Agrarian England, 1550–1780. Cambridge 2011, 169, 178. 42 Overton u. a., Production and Consumption (wie Anm 32), 122, Tab. 6.1. 43 Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf ist sicherlich ein unbefriedigender Indikator; er kann aber als Annäherung dienen: Im Jahr 1870 lag jenes von Großbritannien bei 3 190 Dollar (in International Geary-Khamis-Dollar, 1990), während sich das polnische nur auf 946 Dollar belief, vgl. Universität Groningen, Groningen Growth and Development Centre, ‚Maddison Project‘, www.ggdc.net/maddison/maddison-project/data.htm (Zugriff: 06. 01. 2015). 44 Pounds, Hearth & Home (wie Anm. 39), 126. Der Versuch, sozialen Wandel und dessen Chronologie herauszuarbeiten, ist in keiner Weise als Werturteil gedacht und impliziert auch nicht die Annahme eines linear progressiven Modernisierungsmodells. 45 Werner Rösener, Die Bauern in der europäischen Geschichte. München 1993, 169; Christine Fertig, Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874). Münster 2012, 13, 73. 46 William Cobbett, Cobbett’s Tour in Scotland, and in the Four Northern Counties of England in the Autumn of the Year 1832. London 1833, 101–107; Thomas Martine Devine (Hrsg.), Farm Servants and Labour in Lowland Scotland, 1770–1914. Edinburgh 1984. 47 Giorgio Valussi/Maria Teresa Alleruzzo di Maggio/Francesco Bonasera, La casa rurale nella Sicilia Occidentale. Florenz 1968, 7.
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Häuser galten (auch) als Statussymbol und/oder Investition (wie zum Beispiel die Englische mansion houses) usw. Zugleich ist die Art der Unterkunft stark von den Wirtschaftstätigkeiten und sozialen Verhältnissen ihrer Bewohner beeinflusst, wenn auch nicht determiniert. Die Anforderungen von nomadischen Hirten etwa unterschieden sich von jenen der ansässigen Bauern, aber auch von jenen der Alm- und Weidewirtschaft, bei der die Hirten das Vieh nur zweimal im Jahr auf eine andere Weide führten; Leibeigene, die auf den Allmenden arbeiteten, wohnten anders als freie Bauern, die verstreute Höfe und Felder besaßen, usw.48 Entsprechend bewohnten landlose Tagelöhner, die nicht in der Heimindustrie tätig waren, oft einfache Häuser, die kaum oder gar keine produktive Funktionen hatten; während die Häuser der bäuerlichen Familien nicht nur der Arbeitsplatz, insbesondere für Frauen49, waren, sondern auch eine Art Arbeitsinstrumentarium. Die mittelitalienischen Bauernhäuser (case coloniche) verfügten zum Beispiel über Räume, um Oliven und Trauben zu verarbeiten und Öl und Wein herzustellen.50 Die Sorge um gesundes Wohnen in bäuerlichen Häusern konstituierte für zahlreiche Autoren einen Mosaikstein in einem umfassenderen Bemühen, das sich auf die bestmögliche Nutzung von Ressourcen und das Einkommen aus dem Grundbesitz richtete.51 Wenn dieser Ansatz auch besonders deutlich in den Reformbestrebungen des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, die auf eine Rationalisierung und Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion abzielten, so fehlte es nicht an in vieler Hinsicht sehr ähnlichen Interessen bei den Autoren, die sich schon im 16. und 17. Jahrhundert mit ländlichen Welten auseinandergesetzt hatten. So verwendeten zum Beispiel die sog. Ökonomiken (‚Hausväterliteratur‘) viel Aufmerksamkeit auf die landwirtschaftliche Produktion und in diesem Zusammenhang auch auf bäuerliche Häuser. Sie gaben etwa Anweisungen bezüglich der Lage und Ausrichtung der Häuser, um die Haltbarkeit von Wein und Getreide zu steigern.52 Als ein Beispiel für ein besonders erfolgreiches Werk sei auf die „Georgica curiosa“ des Wolf Helmhardt von Hohberg aus dem Jahr 1682 verwiesen.53
48 Gabriele Schwarz, Allgemeine Siedlungsgeographie. 4. Aufl. Berlin 1989, insbes. Kap. IV, B. 49 Jane Whittle, The House as a Place of Work in Early Modern Rural England, in: Home Cultures 8, 2011, 133–150. 50 Giuseppe Barbieri/Lucio Gambi (Hrsg.), La casa rurale in Italia. Florenz 1970; Lucio Gambi, La casa contadina, in: Ruggiero Romano/Corrado Vivanti (Hrsg.), Storia d’Italia, Bd. 6: Atlante. Turin 1976, 479–504. 51 Vgl. z. B. Morozzi, Delle case (wie Anm 24), 1 f. 52 In diesem Zusammenhang wichtig, wenn auch kontrovers, der Artikel von Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127. Siehe auch Daniela Frigo, Il padre di famiglia. Governo della casa e governo civile nella tradizione dell’‚economica‘ tra Cinque e Seicento. Rom 1985. 53 Wolf Helmhardt von Hohberg, Georgica curiosa. Nürnberg 1682, Erstes Buch, Kap. 19–23.
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Die ländlichen Unterschichten des frühmodernen Europa wurden von den Eliten oft für ‚Barbaren‘ gehalten, deren Kultur bzw. Hauskultur ‚zivilisiert‘ werden müsse. In diesen wie in vielen anderen Fällen lässt der Vergleich mit ‚anderen‘ Kulturen das Charakteristische der eigenen Wahrnehmung zutage treten. Vor diesem Hintergrund ist es erhellend, an die kontrastierende Klassifikation der Häuser von Katholiken und Muslimen zu erinnern, die der Ire Gian Battista de Burgo Ende des 17. Jahrhunderts vorgenommen hat. Er schrieb unter anderem: „Der Christ hat in seinem Haus Bettgestelle, Matratzen, Strohsäcke, Bettlaken, Stühle, Hocker, Anrichten, Tische, Feuerböcke etc. Der Türke hat einen einzigen Teppich mit drei oder vier Kissen auf den Dielen, vom Boden gemessen zwei Spannen hoch.“54 Diese Gegenüberstellung ist zum Teil sicher zugespitzt, auch deshalb, weil die Europäer Teppiche sehr schätzten und aus der islamischen Welt importierten. Im Grunde jedoch lag de Burgo mit seiner Beschreibung der ‚türkischen‘ Innenräume nicht ganz falsch: Während die Einrichtungsgegenstände in Europa hauptsächlich aus Holz gefertigt waren, bestanden diese in der islamischen Welt vornehmlich aus Textilien; abgesehen vom Maghreb gab es nur wenige Möbel.55 Aber was lässt sich über das Innere der ‚christlichen‘ Häuser sagen? Waren sie wirklich mit Bettgestellen, Matratzen, Bettlaken, Stühlen und Tischen ausgestattet? Im selben Jahr (1689), in dem der Ire de Burgo den dritten Band seines Werkes veröffentlichte, ging in London ein Gedicht in Druck, demzufolge der Großteil der Bevölkerung in Irland in Hütten aus Rohrgeflecht mit Strohdächern wohnte, die ohne Ziegel und Steine erbaut seien. Der Autor verglich diese Wohnungen mit einem düsteren Kabuff, das weder Fenster noch richtige Türen habe, sondern nur Öffnungen, die mit Stroh abgedeckt würden, ferner weder Küche noch eine Stube. Der Boden sei nicht mit Teppichen, sondern mit Binsen ausgelegt, die Bänke bestünden aus einfachen Erdschollen. Es gebe weder ein Bettgestell noch ein Bett oder einen Kamin, nur schmale Strohsäcke und einen Platz in der Mitte, wo ein Kochtopf befestigt und Feuer gemacht werden könne.56 Hierbei handelte es sich zwar um ein satirisches Gedicht, aber Beschreibungen dieser Art waren zahlreich. Zweifelsohne brachten solche Bilder Stereotype über die ‚urwüchsigen‘ Iren zum Ausdruck, die eine ‚zivilisierende‘ englische Kolonisierung rechtfertigen sollten.57 Jedoch bestätigen aktuelle
54 Giovanni Battista de Burgo, Viaggio di cinque anni in Asia, Africa, & Europa del Turco di D. Gio. Battista de Burgo abbate Clarense, e vicario apostolico nel regno sempre cattolico d’Irlanda. Mailand 1686, 449. 55 Raffaella Sarti, Cultura materiale e consumi in Europa e nel Mediterraneo, in: Alessandro Barbero (Hrsg.), Storia d’Europa e del Mediterraneo, Bd. 10: Ambiente, popolazione e società. Rom 2009, 353–416. 56 James Farawell, The Irish Hudibras, or Fingallian Prince. London 1689, 32 f. 57 Crowley, Invention of Comfort (wie Anm. 25), 76–78; Anne Laurence, Using Buildings to Understand Social History. Britain and Ireland in the Seventeenth Century, in: Karen Harvey (Hrsg.), History and Material Culture. A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources. Abington 2009, 103–122.
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Forschungen (wenn auch teilweise immer noch von Vorurteilen geprägt)58, dass im gälischen Irland neben anderen Haustypen kleine, einräumige, oft fensterlose, runde oder ovale Häuser aus Pfosten-Flechtwerk mit einer zentralen Feuerstelle ohne Kamin und mit einem Stroh- oder Grasdach (creats) zumindest bis ins 17. Jahrhundert, möglicherweise auch länger, sehr üblich waren. Diese von wenig dauerhaften Häusern, die schnell auf- und abgebaut werden konnten, charakterisierte Hauslandschaft lässt sich durch das lokale Erbsystem und die Wanderweidewirtschaft bzw. entsprechende Viehzucht erklären, aber auch durch den dauernden Kriegszustand und die Unsicherheit, die mit der Kolonisierung verbunden waren.59 Auch für andere Gebiete fehlt es nicht an Beschreibungen von Behausungen ohne Möbel. Im späten 17. Jahrhundert etwa hielt sich der französische Edelmann Jouvin de Rochefort eines Abends in einer Almhütte bei Tiroler Rinderhirten auf. Diese hießen ihn, auf „dem schönsten ihrer Stühle, und zwar auf einer umgedrehten Waschschüssel“, Platz zu nehmen, während sich die Familie selbst auf dem Boden niederließ. Anschließend bereiteten sie ihm ein Lager auf dem Stroh.60 Tatsächlich verbreiteten sich Betten, Tische, Stühle und anderes Mobiliar in den ländlichen Räumen Europas nur langsam und mit beträchtlichen regionalen Unterschieden. Wie Verlassenschaftsinventare zeigen, hatten zwischen 1550 und 1559 nur etwa 40 % der Landarbeiterfamilien in Mittel- und Südengland mindestens einen Stuhl.61 Im Tal von Berkeley in Gloucestershire und im östlichen Kent, einer der reichsten britischen Regionen, besaßen zwischen 1650 und 1700 35 % der ärmsten Haushaltsvorstände, deren Besitz wenig als zehn Pfund wert war, keinerlei Art von Sitzmöbeln, weder Stühle noch Sessel und auch keine Hocker oder Bänke. Die Mehrzahl hatte immerhin einen Tisch, ungefähr 80 bis 90 % ein Bett mit einem Gestell, und alle verfügten wenigstens über eine Matratze. Im Laufe weniger Jahrzehnte kamen dann allerdings Stühle in nahezu allen englischen Häusern in Gebrauch.62 Im spanischen Valle del Duero hingegen waren sie in weniger begüterten Häusern noch um 1750 selten. Zwar gab es Betten, Strohsäcke waren jedoch sehr viel üblicher als Wollmatratzen und die Bettlaken oft alt und abgenutzt.63 In der Normandie, in der Ebene
58 Mark Gardiner, Folklore’s Timeless Past, Ireland’s Present Past, and the Perception of Rural Houses in Early Historic Ireland, in: Int. Journ. of Hist. Archaeology 15, 2011, 707–724. 59 Kieran O’Conor, Housing in Later Medieval Gaelic Ireland, in: Ruralia 4, 2002, 201–210. 60 Albert Jouvin de Rochefort, Le voyageur d’Europe. Paris 1672, 174–176. 61 Muldrew, Food (wie Anm. 41), 194; Ende des 18. Jahrhunderts war der Anteil auf 71 % gestiegen. 62 Horn, Bare Necessities (wie Anm. 28), 80; ders., Domestic Standards of Living in England and the Chesapeake, 1650–1700, in: Schuurman/Walsh (Hrsg.), Material Culture (wie Anm. 28), 71–81, hier 72 f.; Lorna Weatherill, Consumer Behaviour and Material Culture in Britain 1660–1760. London 1988, 107, 159–161, 168. Laut Overton u. a., Production and Consumption (wie Anm. 32), hatten in Kent schon am Anfang des 17. Jahrhunderts fast 80 % der Haushalte einen Stuhl; mehr als 90 % um 1750. 63 Bartolomé Yun, Paesant Material Culture in Castile (1750–1900), in: Schuurman/Walsh (Hrsg.), Material Culture (wie Anm. 28), 125–136, hier 128. Siehe auch Máximo García Fernandéz, Estanci-
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von Caen, fanden sich dagegen zu Beginn des 18. Jahrhunderts Betten und Bettlaken in 98 % der Häuser, am Vorabend der Französischen Revolution sogar in sämtlichen. Und in fast allen Häusern gab es Ende des 18. Jahrhunderts Tische und Stühle. Zu Beginn des Jahrhunderts jedoch fehlten Letztere noch in einem Viertel der Haushalte, und in 17 % die Tische. Truhen stellten in den Häusern der Armen in vielen Gebieten bis zum 18. Jahrhundert und auch darüber hinaus das einzige Möbelstück dar, um Dinge aufzubewahren.64 Diese Knappheit impliziert einen anderen Gebrauch von Möbeln als heute üblich sowie eine andere Wohnkultur und eine andere Wahrnehmung des Privaten und Intimen.65 Als Beispiel dafür kann man das Bett nehmen, das zweifelsohne das wichtigste und teuerste Möbelstück darstellte. Es konnte je nach den lokalen Usancen sowie in Abhängigkeit von der jeweiligen Zeit und dem sozialen Milieu auf sehr unterschiedliche Weise gestaltet sein. Die Bandbreite reichte vom einfachen Strohsack bis zur aufwändigen Konstruktion mit einem Baldachin, der quasi ein Haus im Haus bildete. Das Bett konnte sich aber auch in einer Wandnische befinden, die durch einen Vorhang oder eine Tür abgeschirmt war. Oft nahm das Bett mehrere Personen auf, nicht nur die Eheleute, sondern auch andere Mitglieder der Familie oder Gäste.66 In der ländlichen Toskana beispielsweise gab es nur wenige lettucci, also Einzelbetten, vielmehr waren sie in der Regel ziemlich groß dimensioniert. Ein Bett für sich allein zu haben, war nicht üblich.67 Im Laufe der Zeit jedoch wurde das Innere der Häuser im ländlichen Raum reicher ausgestaltet. Neben Möbeln vervielfachten sich auch andere Gegenstände. Der Wandel kam Gewohnheiten und Bedürfnissen entgegen – stimulierte aber gleichzeitig auch neue. Wenn wir in der ländlichen Toskana bleiben, so verdoppelte sich dort zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert die Anzahl der Bettlaken im Besitz jeder einzelnen Familie.68 In der Normandie verzeichneten 61 % der Inventare zwischen 1700 und 1715 zumindest eine Tischdecke, 28 % vermerkten Gläser und 4 % Gabeln. Zwischen 1770 und 1789 nahm die Anzahl dieser Gegenstände zu: Ihre Präsenz stieg von 61 auf 76 %, von 28 auf 50 % bzw. von 4 auf 60 %.69
as y mobilario doméstico multifuncional. Alcobas y camas, in: Franco Rubio (Hrsg.), La vida (wie Anm. 38), 135–162. 64 Dessureault/Dickinson/Wien, Living Standards (wie Anm. 28), 102, 108 f. 65 Philippe Ariès/Georges Duby, Histoire de la vie privée, 5 Bde. Paris 1985–1987 [dt.: Geschichte des privaten Lebens, 5 Bde. Frankfurt am Main 1990]. 66 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 101–106, 119–123; Ruth-E. Mohrmann, Zur Geschichte des Schlafes in volkskundlich-ethnologischer Sicht, in: Rheinisch-westfälische Zs. für Volkskunde 57, 2012, 15–34; Gabriele Jancke, Bettgeschichten. Gastfreundschaft in der Frühen Neuzeit, in: Querellesnet 17, 2005, www.querelles–net.de/index.php/qn/article/viewArticle/390/398 (Zugriff: 06. 01. 2015). 67 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 2), 101. 68 Paolo Malanima, Il lusso dei contadini. Consumi e industrie nelle campagne toscane del Sei e Settecento. Bologna 1990, 161; ders., Changing Patterns in Rural Living Conditions. Tuscany in the Eighteenth Century, in: Schuurman/Walsh (Hrsg.), Material Culture (wie Anm. 28), 115–124. 69 Dessureault/Dickinson/Wien, Living Standards (wie Anm. 28), 102 f., 108 f.
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5 Schlussbemerkungen: Chronologie und Gründe der Transformation Die ländlichen Hauslandschafen und Hauskulturen Europas erfuhren während der Frühen Neuzeit eine langfristige Transformation. Charakteristisch ist die Vielfalt im Hinblick auf Zeit und Raum, soziale Gruppen und deren Tätigkeiten. Trotz großer regionaler und sozialer Unterschiede wurden die Häuser im Durchschnitt zunehmend größer und solider gebaut, besser geheizt und beleuchtet, aufwändiger eingerichtet und ausgestattet. Sie hatten mehr Räume, die zugleich deutlich voneinander abgetrennt wurden: für Menschen, für Tiere und mit Bezug auf verschiedene Tätigkeiten. In ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht von markanten Bruchlinien durchzogen, erfuhr also die bäuerliche Welt Europas im Laufe der Frühen Neuzeit tiefgreifende Veränderungen, die auch die Bauweise der Häuser sowie deren Einrichtung und Ausstattung betrafen, wie in der vorliegenden Synthese der Forschungsergebnisse gezeigt wurde.70 Die vor drei Jahrzehnten aufgestellte These, dass im 18. Jahrhundert in England eine Consumer Revolution stattgefunden habe71, wurde von der Forschung nicht bestätigt: Der Anstieg des Konsums, der dazu beitrug, Häuser und Wohnkultur grundsätzlich zu transformieren, setzte schon früher ein. Interessanterweise fand diese Zunahme manchmal auch im Kontext von Krisen und fallenden Löhnen statt, was neue Debatten angeregt hat.72 Eine der stark debattierten Fragen betrifft die Motivierung des Konsums und die Transformation der Wohnkultur. Zahlreiche Studien haben sich mit der von Jan de Vries entwickelten These der Industrious Revolution auseinandergesetzt.73 Aus seiner Sicht hing die wachsende Produktion von Konsumgütern, die das ökonomische Wachstum in Europa schon vor der Industriellen Revolution grundlegend geprägt habe, mit einem intensiveren Arbeitseinsatz der Haushalte (insbesondere der Frauen und Kinder) speziell im ländlichen Raum zusammen. So hätten bäuerliche Familien ab dem 17. Jahrhundert über ihre Feldarbeit hinaus immer stärker protoindustrielle Tätigkeiten ausgeübt. Weit davon entfernt, dem Markt und Kapitalismus schlicht unterworfen zu sein, hätten sie, dieser These zufolge, aktiv an der Herstellung von Gütern teilgenommen, die für den Markt bestimmt waren – nicht
70 Einflussreich war Fernand Braudel, Civilisation matérielle et capitalisme. Paris 1967 [dt.: Die Geschichte der Zivilisation. 15. bis 18. Jahrhundert. München 1971]. 71 Neil McKendrick/John Brewer/John Harold Plumb, The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England. Bloomington 1982. 72 Jan de Vries, Between Purchasing Power and the World of Goods. Understanding the Household Economy in Early Modern Europe, in: John Brewer/Roy Porter (Hrsg.), Consumption and the World of Goods. London 1993, 85–132; Muldrew, Food (wie Anm. 41). 73 Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008.
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zuletzt angestoßen von einem neuen Konsumbedürfnis. Dies habe dazu beigetragen, ihre Identität, die Landschaften des ländlichen Raums und – schließlich – die europäische Gesellschaft insgesamt zu verändern. Die These hat neue Forschung inspiriert, aber auch Kontroversen entfacht. Insgesamt haben die Forschungen über Hauslandschaften und Wohnkulturen Europas in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Aufwind erlebt. Dadurch wurden solide Grundlagen und wichtige Erkenntnisse über die materiellen Veränderungen von Häusern und deren Ausstattung erarbeitet. Über die Wahrnehmungen der Menschen, die ihre Umwelt so umfassend verändert haben, ist aber noch immer Vieles unbekannt. Aus dem Italienischen: Margareth Lanzinger
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Die Gestaltung des frommen Hauses im protestantischen Europa Das neue Genre des Gruppenporträts im 16. und 17. Jahrhundert wurde, so die einhellige Forschungsmeinung, dazu genutzt, den Reichtum und Status einer Familie darzustellen. Wie Wayne Franits gezeigt hat, bildeten Abbildungen von Familien beim Tischgebet eine besondere Unterkategorie des Porträts.* Diese sollten der Frömmigkeit und Tugend einzelner Haushalte Ausdruck verleihen. Sie waren insbesondere in den protestantischen Niederlanden beliebt und rekurrierten auf die Konvention und Ikonographie deutscher Einblattdrucke, die die geistliche und moralische Kindererziehung während der Mahlzeiten ebenso wie allegorisch den wohlgeordneten Haushalt visualisierten; beides verknüpfte das Familienbild zu idealisierten Repräsentationen eines vorschriftsgemäßen religiösen Verhaltens in der Familie. Franits zufolge gibt es einen engen Zusammenhang dieser Familienbilder mit den im Zuge der Reformation in großer Zahl in England und den Niederlanden erschienenen Haushaltsratgebern.1 Die geistliche Bedeutung der gemeinsamen Mahlzeit in der Familie wie auch Akzentverschiebungen im weiteren Verlauf der Reformation im 16. Jahrhundert sind jüngst im Rahmen des wachsenden Forschungsinteresses an häuslicher Frömmigkeitspraxis im frühneuzeitlichen Europa detailliert untersucht worden.2 Inzwischen sind auch die Veränderungen des häuslichen Interieurs und in den materiellen Lebensbedingungen in den Fokus der Forschung geraten. Entsprechende Untersuchungen haben vor allem auf der Basis der in großem Umfang erhaltenen Nachlassinventare sowohl die wachsende Anzahl und zunehmende Spezialisierung der Räume als auch den Konsum von Luxusgütern im häuslichen Kontext herausgearbeitet.3 Hinzu kommen kunst- und architektur-
* Ich bin Elizabeth Harding und Joachim Eibach für hilfreiche Kommentare und Anregungen dankbar. Außerdem möchte ich Andrew Morrall für seine großzügigen Auskünfte danken; seine Arbeiten stützen meine Überlegungen in diesem Versuch, den gewohnten geographischen Rahmen meiner Untersuchungen auszudehnen. 1 Wayne Franits, The Family Saying Grace. A Theme in Dutch Art of the Seventeenth Century, in: Simiolus. Netherlands Quart. for the Hist. of Art 16, 1986, 36–49. 2 Andrew Morrall, Protestant Pots. Morality and Social Ritual in the Early Modern Home, in: Journ. of Design Hist. 15, 2002, 263–273; Alec Ryrie, Being Protestant in Reformation Britain. Oxford 2013, Kap. 14, 363–405. Vgl. auch die im Rahmen des vom Leverhulme Trust finanzierten Projekts ‚Objects of Devotion. The Material Culture of Italian Renaissance Piety, 1400–1600‘ von Mary Laven entstandenen Publikationen, sowie das European Research Council Synergy Projekt mit dem Titel ‚Domestic Devotions. The Place of Piety in the Renaissance Italian Home‘ URL: http://domesticdevotions.lib. cam.ac.uk (Zugriff: 24. 03. 2015). 3 Raffaella Sarti, Europe at Home. Family and Material Culture 1500–1800. New Haven 2002; Marta Ajmar-Wollheim/Flora Dennis (Hrsg.), At Home in Renaissance Italy. London 2006; Elizabeth Currie,
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geschichtliche Arbeiten, die die formalen und stilistischen Entwicklungen der Inneneinrichtung und des Kunsthandwerks im Verlauf der Frühen Neuzeit nachzeichnen. Einige davon sind nationale Grenzen überschreitend angelegt.4 Kaum berücksichtigt wurde allerdings bislang die Schnittstelle von materieller Kultur und religiöser Praxis im protestantischen Haushalt: Auf welche Weise wurde die visuelle und materielle Ausschmückung des Hauses – gewissermaßen der Hintergrund des alltäglichen Lebens – genutzt, um Formen religiöser Identität Ausdruck zu verleihen und um zu legitimen Denk- und Verhaltensweisen anzuregen? Der aktuelle material turn in der Geschichtswissenschaft birgt nämlich das Risiko in sich, die Konsumrevolution und die Entsakralisierung als zusammenhängende Prozesse zu sehen. Tatsächlich sind Konsumdenken und das Investieren in Waren als ein grundsätzlich weltliches Streben verstanden worden. Zu recht betonen allerdings Irene Galandra und Mary Laven mit Bezug auf die materielle Kultur der Frömmigkeit der italienischen Renaissance: „[T]he relationship between the material and the spiritual is more complex and involved than the binary opposition of ‚secular‘ and ‚religious‘ would suggest.“5 Der vorliegende Artikel versucht, diese Beobachtung zu untermauern, richtet seine Aufmerksamkeit aber auf die Bedeutung der Innenausstattung protestantischer Häuser im nachreformatorischen Europa. Das Vorkommen und die Bedeutung einer großen Anzahl biblischer Bildmotive in der Raumausstattung und dem Mobiliar des frühneuzeitlichen Hauses sind bislang von der Forschung weitgehend übersehen oder heruntergespielt worden. Man ging von ihrer hauptsächlich dekorativen Funktion aus. Eine kunsthistorische Vorliebe für ‚Meisterwerke‘ bedeutender Künster verbunden mit der weitverbreiteten Annahme, dass religiöse Darstellungen kaum mehr eine bedeutende Rolle in Haushalten in protestantischen, vor allem aber nicht in reformierten Ländern spielten, hat dazu geführt, dass die Bedeutung und Funktion der Ikonographie einer großen Bandbreite des Kunsthandwerks vernachlässigt wurde. Dies gilt insbesondere im Vergleich zur Konzentration des Interesses auf Formen künstlerischer Hochkultur. Da Kunsthandwerk im Allgemeinen in getrennten Kategorien entsprechend des Mediums oder der Typologie behandelt wird, ist es kaum zu beurteilen, in welchem Maß es zu Wiederholung und Wechselwirkung in der Ikonographie kam.
Inside the Renaissance House. London 2006; Marta Ajmar-Wollheim, Flora Dennis/Ann Matchette (Hrsg.), Approaching the Italian Renaissance Interior. Sources, Methodologies, Debates. Oxford 2006. Vgl. die diversen Projekte zur materiellen Kultur von Antwerpen, Oudenaarde und Brügge unter der Leitung von Bruno Blondé, Centre for Urban History, Universität Antwerpen, URL: https://www.uantwerpen.be/en/rg/csg/ (Zugriff: 24. 03. 3015). 4 Peter Thornton, Seventeenth Century Interior Decoration in England, France and Holland. New Haven 1981 [1978]; Christine Casey/Conor Lucy (Hrsg.), Decorative Plasterwork in Ireland and Europe. Ornament and the Early Modern Interior. Dublin 2012. 5 Irene Galandra/Mary Laven, The Material Culture of Piety in the Italian Renaissance. Re-touching the Rosary, in: David Gamister/Tara Hamling/Catherine Richardson (Hrsg.), The Ashgate Research Companion to Material Culture in Early Modern Europe. Aldershot 2015 (im Erscheinen).
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Im Folgenden werden die Platzierung und Eigenart religiöser Darstellungen untersucht, die dazu dienten, bestimmte Bereiche und Gegenstände des Haushalts im protestantischen Europa auszuschmücken. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass die materielle Einrichtung des Hauses nicht nur dazu diente, der Mode zu folgen, Reichtum vorzuzeigen und den Wohnkomfort zu verbessern; vielmehr kamen der Wohnkultur auch religiöse Funktionen zu, etwa um Verhalten zu regulieren und die Glaubenslehre zu vermitteln. Die Schwellenposition des Hauses zwischen privaten und öffentlichen Sphären ist allgemein bekannt: Der häusliche Kontext erfüllte die Bedürfnisse des Individuums bzw. der Familie und bot zudem Raum für soziale Interaktion und die Übernahme öffentlicher Rollen. Doch birgt das zuletzt erwachte Interesse an der Ausrichtung des Wohnhauses nach außen hin das Risiko, dass dabei seine nach innen gerichtete Funktion als ‚Übungsgelände‘ für die Familie vernachlässigt wird bzw. dass die Folgen für die individuelle und kollektive spirituelle Haltung der Familienangehörigen übersehen werden. Das hier betrachtete Material verweist indes auf ein Gleichgewicht zwischen den nach außen und nach innen gerichteten Funktionen der Ausschmückung des Hauses. Es reflektiert damit den Lebensstil der städtischen Eliten, also der wohlhabenden Kaufleute, Händler und Amtspersonen, sowie der besitzenden Minderheit auf dem Land. Angehörige dieser sozialen Schicht waren besonders bestrebt, ihren Stand und ihr Ansehen gegenüber ihrem lokalen Umfeld zu kommunizieren und zu konsolidieren; die Ausgaben für teure und modische Ausstattungen und Möbel zielten darauf ab, die Wahrnehmung durch die Mitbürger zu befördern bzw. zu prägen. Zugleich waren sich diese Hausväter in besonderem Maße ihrer erzieherischen und religiösen Pflichten als Patriarchen bewusst, und dies konnte ihre Entscheidungen bei der Ausgestaltung ihres Hauses beeinflussen. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nur möglich, die Besonderheiten einzelner geographischer Regionen und Werkstätten anzudeuten bzw. die ihnen gewidmete umfangreiche Literatur in den Blick zu nehmen. Zudem fließen die eigenen Forschungsergebnisse der Verfasserin zur häuslichen Inneneinrichtung in Großbritannien mit ein.6 Als Ausgangspunkt dient ein besonders prächtiges Beispiel des Genres des Familienporträts. Dabei werden die einzelnen auf diesem Gemälde abgebildeten verzierten Gegenstände in ihrer Bedeutung analysiert. Das Heinrich Sulzer zugeschriebene Porträt zeigt die Familie des Hans Conrad Bodmer und ist auf das Jahr 1643 datiert (Abb. 1). Andrew Morrall hat die Darstellung einmal als „the full development of a specifically Protestant ideal of the well-tempered home but in much more schematic form“ bezeichnet.7 Das Gemälde zeigt den Zürcher Bürgermeister Bodmer zusammen
6 Vgl. Tara Hamling, Decorating the Godly Household. Religious Art in Post-Reformation Britain. New Haven 2010. 7 Andrew Morrall, The Reformation of the Virtues in Sixteenth-Century German Art and Decoration, in: Tara Hamling/Richard L. Williams, (Hrsg.), Art Re-formed. Re-assessing the Impact of the Refor-
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Abb. 1: Porträt der Familie Bodmer, 1643.
mit seiner Frau und Familie, versammelt um einen großen Esstisch. Bodmer und seine Frau sind am Kopfende platziert, zwölf ihrer Kinder sitzen bzw. stehen entlang der anderen drei Seiten des Tisches, während ein weiteres Kind sich um einen Säugling in einer Wiege kümmert. Darüber hinaus sind zwei Mägde dargestellt, von denen die eine in der Küche kocht und die andere soeben eine Schüssel mit Essen hereinträgt. Alle um den Tisch Versammelten haben die Hände zum Gebet gefaltet. Bezeichnend ist, dass diese Familie beim täglichen gemeinsamen Essen gezeigt wird, oder zumindest dabei, wie sie sich geistlich darauf vorbereitet: „In choosing specifically to be portrayed during the saying of grace, in a manner that recalls the prototypical meal of the Last Supper, the family members demonstrate – and memorialise – their collective piety“, wie es Andrew Morrall formuliert.8
mation on the Visual Arts. Newcastle 2007, 105–126, hier 114, Illustration auf Tafel 5. Vgl. auch seine Besprechung in Morrall, Protestant Pots (wie Anm. 2), 269. Meine Thesen basieren an vielen Stellen dieses Artikels auf Morralls Arbeiten zur Ornamentik in Nordeuropa. 8 Morrall, The Reformation (wie Anm. 7).
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Im Einklang mit der protestantischen Betonung der andauernden Selbstprüfung und Mäßigung war Essen (ebenso wie andere Formen körperlicher Betätigung) mit moralischer und geistlicher Bedeutung aufgeladen. Um der Hingabe an körperliche Gelüste und dem Missbrauch der reichen Gaben Gottes aus dem Weg zu gehen, waren die Haushaltsvorstände angewiesen, das Verhalten und die Gedanken ihrer Familie bei den Mahlzeiten zu lenken. Man las aus der Bibel, sprach ein Tischgebet und dankte nach dem Essen Gott, man sang auch noch Psalmen. Erbauungsschriften boten Anregungen dazu, welche geistlichen Dinge man während des Essens kontemplieren sollte. Warum genau diese besondere Form des Porträts so beliebt war bei Familien, die um die Vermittlung ihres Engagements für das Ideal guter Lebenshaltung und Gottesfurcht bemüht waren, hängt mit der überragenden Bedeutung des Mittagsmahls für die alltägliche Frömmigkeit der Familie zusammen. Wenn man wie Wayne Franits dieses Porträtgenre im Zusammenhang mit der vorgeschriebenen häuslichen Frömmigkeitspraxis sieht, so liegt es auch nahe, die Verzierung der Möbel ebenso als Teil einer Agenda zu interpretieren, die das fromme Haus zu formen suchte. Die große Aufmerksamkeit, die das Bodmer-Porträt der überaus reichen Wohnkultur und den Möbeln widmet, ist allerdings innerhalb des Genres außergewöhnlich. Morrall betont, dass sich die Einrichtung auf eine bestimmte moralische Grundhaltung und die Ziele eines reformatorischen kulturellen Ideals beziehen.9 Im Folgenden soll dieser Beobachtung nachgegangen werden, um zu zeigen, wie das in diesem Gemälde dargestellte dekorative Mobiliar nicht nur dazu diente, Wohlhabenheit, gesellschaftliche Stellung und Frömmigkeit in ihrer symbolischen Gestalt auf Gemälden zu vermitteln, sondern auch, wie diese materiellen Gegenstände selbst das Denken und Handeln im Haushalt beeinflussten. Die auf dem Bild sichtbaren modischen und auffälligen Einrichtungsgegenstände waren zu dieser Zeit noch relativ neu in den Häusern der stadtbürgerlichen Mittelschicht und dienten als Blickfang im wichtigsten Raum, in dem man sich zur Verköstigung und Unterhaltung versammelte. Der Zierrat dieses mit Bedeutung aufgeladenen Orts im Haus reflektierte den Charakter und die Interessen der Familie, trug zur Konstruktion der sozialen und religiösen Familienidentität bei und verhalf zur erwünschten Außenwirkung. Doch wurden diese Raumausstattungen und Einrichtungsgegenstände auch täglich von den Familienangehörigen wahrgenommen, und ihre bildlichen Darstellungen konnten auf diese Weise eine Wirkung auf das Verhalten entfalten, indem sie zur Reflexion bestimmter Aspekte der christlichen Lehre anregten. Ikonographische Wiederholungen ebenso wie auch die Form der bildlichen Darstellungen deuten darauf hin, dass es hier um spirituelle Bedeutungen und Verhaltensweisen ebenso wie um Selbstdarstellung ging.
9 Ebd.
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1 Die Funktion von Text und Bild in der Innenausstattung Am Beginn einer Analyse des auf dem Bodmer-Porträt erkennbaren Mobiliars ist zunächst danach zu fragen, wo innerhalb des Hauses das hier dargestellte Alltagshandeln zu verorten ist. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde es in großen Häusern zunehmend üblich, in einem vom Haupt-Wohnbereich gesonderten Raum zu speisen. Dafür wurde entweder im Erdgeschoss ein Raum abgetrennt oder man wählte die beste Kammer im ersten Stock. Wo dieser wichtige Raum innerhalb des Hauses genau lokalisiert war, hing von der regionalen Bautradition ab; zudem gab es Unterschiede zwischen Stadt und Land. Die Wanddekorationen solcher größerer Räume verweisen jedoch zuweilen auf ihre Funktion als Essplatz sowie auf ihre spirituelle Bedeutung. Auf dem Bodmer-Porträt hängt an einer Seitenwand eine Tafel mit einer Inschrift, die die Familie zwar daran erinnert, dass Gott seine Kinder sogar daheim in ihrer bequemen Wohnung prüft, aber auch auf die Erlösung durch das Opfer Christi hinweist.10 Eine solche Zurschaustellung religiöser Texte scheint als Innendekoration in gemalter oder gedruckter Form weit verbreitet gewesen zu sein; meist sind es Verse aus der Bibel oder Gebete. Jan Stehns Gemälde einer Familie beim Tischgebet (1660) zeigt – trotz des niedrigeren sozialen Standes der dargestellten Personen – eine auf ähnliche Weise an einer prominenten Stelle hinter dem Tisch aufgehängte Tafel. In freier Anlehnung an Spr. 30,7–9, heißt es dort: „Drei Dinge begehr ich und nicht mehr/ Zunächst Gottvater zu lieben/ keinen überflüssigen Reichtum zu begehren/ Aber das zu wünschen was die Weisesten erbaten/ Ein ehrbares Leben in diesem Tale/ In diesen dreien liegt alles begründet.“11 In England und Schottland war es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allgemein üblich, Inschriften direkt auf die Wandoberfläche zu malen.12 Eine derartige dauerhafte Veränderung der Bausubstanz stellt ein bemerkenswertes Bekenntnis zum Inhalt solcher Inschriften in Bezug auf die beabsichtigte Nutzung des Raums dar. Jüngst entdeckte Wandmalereien in einem Erdgeschossraum in Cowside Farmstead, Langstrothdale (North Yorkshire), stellen einen
10 Der ganze Text ist abgedruckt in: Andrew Morrall, Inscriptional Wisdom and the Domestic Arts in Early Modern Europe, in: Natalia Filatkina/Birgit Ulrike Münch/Ane Kleine-Engel (Hrsg.), Formelhaftigkeit in Text und Bild. Wiesbaden 2012, 127. Interessanterweise nimmt der Text gewissermaßen auf die Stelle, an der die Tafel aufgehängt ist, Bezug. Denn der Bereich hinter dem Kachelofen wird gemeinhin als ‚Hölle‘ bezeichnet. 11 Anmerkungen des Auktionskatalogs von Sotherby’s; das Gemälde wurde am 5. Dezember 2012 versteigert, URL: www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2012/old-master-british-paintings-evening-l12036/lot.9.html (Zugriff: 24. 03. 2014). 12 Michael Bath, Grave Sentences, in: ders., Renaissance Decorative Painting in Scotland. Edinburgh 2003, 169–184; Kathryn Davies, Artisan Art. Vernacular Wall Paintings in the Welsh Marshes, 1550– 1650. Almeley 2008.
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ausdrücklichen Bezug zwischen der Funktion des Raums und seiner Ausgestaltung her, und zwar mittels folgender Inschriften: „Whether ye eat, or drink or whatsoever ye do all to the glory of God [I] Cor[inthians] X: 31“, sowie „For of him and through him, are all things: to whom be glory for ever. Amen. Rom[ans] XI: 36“ (Abb. 2). Eine weitere Inschrift auf der östlichen Wand heißt: „Better is a dinner of herbs where love is than a stalled ox and hatred therewith Pro[verbs] XV: Cha[pter] 17 ver[se].“13 Ein auf 1580 datiertes Wandgemälde in der Pittleworth Manor in Hampshire betont christliche Nächstenliebe im Kontext des Essens anhand einer Darstellung des Gleichnisses vom reichen Mann und dem Bettler Lazarus (Lk 16,19–31).14 Die Raumgestaltung beinhaltet zwei Szenen aus diesem Gleichnis, die zu beiden Seiten des königlichen Wappen Elisabeths I. gemalt sind.
Abb. 2: Wandmalereien in Cowside Farmstead, Langstrothdale (North Yorkshire).
Das Gleichnis des reichen Mannes und des Lazarus erscheint als ein besonders passender Gegenstand zur Darstellung im häuslichen Kontext, da es sich auf die Nutzung als Ort der Verpflegung bezieht und die Hausangehörigen an ihre Pflicht erinnert, den Armen gegenüber Nächstenliebe zu erweisen. Doch verweist dieses Sujet auch auf Tod und Jüngstes Gericht und diente somit als eine Warnung vor den unheilvollen Auswirkungen der Nachlässigkeit in dieser Hinsicht. In Bezug auf das Wandgemälde in Pittleworth argumentiert Tessa Watt: „The image of the poor beggar functioned
13 Der Text folgt der King James Bible in der autorisierten Fassung, daher müssen die Malereien nach 1611 datieren, könnten aber auch erst aus der Zeit um 1700 stammen. Das Gebäude gehört dem Landmark Trust. 14 Illustriert in Hamling, Decorating (wie Anm. 6), 132 f., Abbildungen 80 f.
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much like a skull on the desk, which warned one in the fullness of life to be thinking of death. In fact, such a memento mori appears as a moral text on another wall in the same room: ‚Thus lyving all ways dred wee death and diing life wee doughte‘.“15 Dies deutet auf ein gezieltes Vorgehen bei der Auswahl vorgeblich ‚dekorativer‘ Darstellungsgegenstände hin, denn es zeigt sich hier, dass bewusst auf häusliche Alltagsaktivitäten zentrierte Themen und Bildwelten ausgewählt wurden, die gleichzeitig auf christliche Werte im Kontext von Tod und Jüngstem Gericht verwiesen. Ein ähnlich großes Potenzial bot die Parabel vom verlorenen Sohn, deren Szenen ausgelassenen Feierns und Trinkens vor den Gefahren weltlicher Laster warnten, die aber ebenso eine Trost spendende Erinnerung an Gottes Vergebung enthielt. Die Geschichte der Abenteuer des verlorenen Sohns findet sich in Wandgemälden in einer Kammer im ersten Stock der Knightland Farm in Hertfordshire dargestellt.16 Die Abbildung besteht aus fünf bildlichen Szenen, die jeweils mit gemalten Säulen im klassischen Stil voneinander getrennt sind – der Versuch einer optischen Täuschung, die den Eindruck vermitteln soll, dass der Betrachter von einer Kolonnade aus diese Szenen beobachtet. Die erste Szene ist stark beschädigt, wird aber sehr wahrscheinlich gezeigt haben, wie der Sohn den Hof des Vaters verlässt, denn die erhaltenen Darstellungen setzen damit ein, wie er in einer Schenke feiert und mit Frauen anbandelt. Die übrigen Szenen folgen seinem Abstieg bis zur Bitte des verlorenen Sohns um Lohn und Brot als Schweinehirt und seiner unrühmlichen Heimkehr, bei der er von seinem Vater umarmt wird. Die letzte, ebenfalls beschädigte Szene zeigt die Vorbereitungen zum Fest anlässlich der Heimkehr des verlorenen Sohns. Die Parabel vom verlorenen Sohn war in ganz Europa ein beliebter Gegenstand bildlicher Darstellungen auf beweglichen Kunstgegenständen wie beispielsweise Kissenbezügen. Wenn auch ihre theologische Interpretation variierte, so konnte diese Geschichte sowohl Katholiken als auch Protestanten ansprechen, denn ihre vorrangige Botschaft war Gottes Bereitschaft, Sünden zu vergeben.17 Daher wurden flämische Tapisserie-Kissenbezüge mit Szenen des Gleichnisses von Londoner Werkstätten
15 Tessa Watt, Cheap Print and Popular Piety, 1550–1640. Cambridge 1991, 208 f. Wie Elizabeth Honig bemerkt, nahm man in der Tudorzeit regelmäßig Bezug auf dieses Gleichnis in Debatten über die relative Position der Sphären Himmel (oben) und Hölle (unten) sowie die Unmöglichkeit, von einer in die andere zu wechseln (Fegefeuer). Wie die zeitgenössischen Texte nutzten auch diese Bilder die Geschichte, um soziale und eschatologische Geographien zu erkunden: Elizabeth Honig, ‚A Lodging for Lazarus‘. Representing Placement & Position in Late Elizabethan England, Vortrag auf der Society for Renaissance Studies Conference, 13.–15. 07. 2014. 16 Abgebildet in Hamling, Decorating (wie Anm. 6), 156f., Abbildungen 100–102. Eine mögliche gedruckte Vorlage dieser Gemälde wird vorgeschlagen in: Muriel Carrick, The Prodigal Son Wall Painting at Knightsland Farm, South Mimms, in: Hertfordshire Archaeology 12, 1994, 104–110. 17 Barbara Haeger, The Prodigal Son in Sixteenth and Seventeenth-century Netherlandish Art. Depictions of the Parable and the Evolution of a Catholic Image, in: Simiolus. Netherlands Quart. for the Hist. of Art 16, 1986, 128–138.
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des späten 16. Jahrhunderts kopiert.18 Tessa Watt hat die Beliebtheit des verlorenen Sohns für ein protestantisches Publikum auf die flexible Einsetzbarkeit des Gleichnisses zurückgeführt.19 Es verband eine moralische Warnung vor fleischlichen Lastern mit tiefer gehenden spirituellen Inhalten. Erbauungsschriften gingen näher auf die ursprüngliche Bedeutung des Gleichnisses als ein Beispiel der Gnade Gottes in seiner Vergebung gegenüber reuigen Sündern ein. Der elisabethanische Geistliche Samuel Gardiner führt dazu in seiner Vorrede „To the Religious Reader“ seines Buchs „The Portraitur of the Prodigal Sonne“ aus: „The spirit speaketh evidently throughout this whole discourse how as the Lord is just in punishing of sinners: so is hee as mercifull unto those that doe repent“.20 Inwiefern sich zeitgenössische Betrachter mehr an der bildlichen Lebendigkeit der Szenen des Feierns und der körperlichen Freuden erfreuten als deren moralische und spirituelle Bedeutungen zu erwägen, ist allerdings unklar. Es finden sich ferner noch andere biblische Sujets auf englischen Wandgemälden dargestellt, wie etwa Adam und Eva, Abrahams Opferung des Isaak sowie die Josephsgeschichte. Alle diese Geschichten verbindet, dass sie vielschichtig sind und als positive oder negative Exempel didaktische Zwecke erfüllen konnten, darüber hinaus aber auch gemeinhin exegetisch verwandt wurden, um Gottes geheime Gnadenwahl zu illustrieren. Obwohl die Wände von Hans Bodmers Esszimmer keine Wandgemälde mit biblischen Szenen aufweisen, so ist doch davon auszugehen, dass seine Familie mit vergleichbaren Bildern auf Hausfassaden vertraut war. Das berühmte, auf 1647 datierte und erhaltene Beispiel eines Wandgemäldes von Adam und Eva auf der Fassade eines Hauses im schweizerischen Ardez wird kaum ein Einzelfall gewesen sein.21 Jedenfalls wurden diese biblischen Erzählungen ebenso mittels der Gegenstände auf dem Esstisch dargestellt. Der Tisch auf dem Bodmer-Porträt ist mit Tafelgeschirr reichlich gedeckt. Der Gegenstand in der hinteren rechten Ecke des Tisches vor Bodmers Frau scheint ein Steingut-Humpen zu sein. Steingut wurde im Rheinland am Ende des 13. Jahrhunderts entwickelt. Als harte, nicht wasserdurchlässige Keramik war sie ideal für den Hausgebrauch.22 Im 16. Jahrhundert produzierten verschiedene Werkstätten in Köln, Frechen, Siegburg und Raeren kunstvolle Exportware, die mit plastischer Dekoration versehen war und oft mythologische oder biblische Szenen nach dem Vorbild zeitgenössischer Kupferstiche zeigte. Dieses
18 Einen nützlichen Vergleich bietet die Ausstellungsaufstellung in den Victoria & Albert British Galleries. Der englische Kissenbezug von ca. 1600–1610 (Nummer T.1–1933) kopiert den Bildentwurf des flämischen Kissenbezugs von ca. 1575 (Nummer T.278–1913). 19 Watt, Cheap Print (wie Anm. 15), 204. 20 Samuel Gardiner, The Portraitur of the Prodigal Sonne Livelie Set Forth in a Three-fold Discourse. London 1599. 21 Adam and Eva, Bild an der Fassade eines Hauses in Ardez, Kanton Graubünden (Schweiz), URL: www.inmagine.com/imagebrokerrm-649/ptg03503523-photo (Zugriff: 24. 03. 2015). 22 David Gaimster, German Stoneware 1200–1900. Archaeology and Cultural History. London 1997.
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Geschirr war nicht mehr primär auf den Gebrauch ausgelegt, sondern ein Luxusgut und Statussymbol. Andrew Morrall zeigt, wie keramisches Geschirr im Nordeuropa des 16. Jahrhunderts der „increased ritualization of dining habits“ Genüge tat, „so that their presence would reinforce the aura of piety expected of the household and, more specifically, the quasi-sacramental commensality accorded the family meal.“23 Er identifiziert Gefäße mit politisch aufgeladener, konfessioneller Bedeutung ebenso wie solche mit moralisierenden Schriftzügen. Dabei weist er auf einen besonders bemerkenswerten Wasserkrug hin, der Szenen von Lot und seinen Töchtern sowie von Noah und seinen Söhnen als warnende Exempel vor den Gefahren der Trunkenheit präsentiert. Zahlreiche andere erhaltene Keramikwaren veranschaulichen, wie die bildlichen Darstellungen die Aktivitäten bei Tisch reflektieren konnten, jedoch mit einer klaren moralischen Aussage. Ein kleiner, auf den Zeitraum 1525–1550 datierter Steingut-Humpen im ‚Museum of London‘ ist mit aufgesetzten Basrelief-Streifen verziert, auf denen Szenen aus dem Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus abgebildet sind.24 Andere Beispiele hierzu stammen aus den 1570er bis 1590er Jahren, darunter auch eines von 1572 mit Szenen aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn.25 Ein Steingut-Krug in den Sammlungen des ‚Shakespeare Birthplace Trust‘ zeigt das Fest des Herodes, auf welchem Herodes der Kopf des enthaupteten Johannes des Täufers auf einem Teller gereicht wird. Der Krug, der wahrscheinlich Bier enthielt und auf seiner Außenseite eine mit ausschweifender Festlichkeit assoziierte Szene aufwies, stellt somit einen Vergleich zwischen der Ausschweifung einerseits und der Ablehnung weltlicher Annehmlichkeiten durch Johannes andererseits. Zugleich präfiguriert dessen Tod Jesu Leidensgeschichte.26 Ein weißer Humpen aus Steingut aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, der im ‚Metropolitan Museum‘ in New York aufbewahrt wird, zeigt drastische Szenen: die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden sowie das Jüngste Gericht.27 Auf diese Weise war dieses Prestige-Geschirr nicht nur mahnend, sondern konnte den Geist während (potenziell exzessiver) körperlicher Freuden hin zu geistlichen Erwägungen lenken.
23 Morrall, Protestant Pots (wie Anm. 2). 24 Museum of London. Accession Number 6333. 25 Abgebildet in Francis Reader, Tudor Domestic Wall Paintings, Part II, in: Archaeological Journ. 93, 1936, 220–262, neben 251 (Tafel 24). 26 Der Krug wird besprochen in Victoria Jackson, Shakespeare’s World in 100 Objects. Number 5: German Panel Jug, in: Finding Shakespeare, URL: http://findingshakespeare.co.uk/shakespeares-worldin-100-objects-number-5-german-panel-jug (Zugriff: 24. 03. 2015). 27 Metropolitan Museum, New York. Accession Number 27.224.4.
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2 Platzierung des Dekors und Wirkung auf die Sinne Die Wärmequelle ist ein Mittelpunkt in den Räumen eines Hauses. Im Bodmer-Porträt zieht der große Kachelofen in der Ecke des Raums mit seinen bemalten Reliefkacheln die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Aus zusammengefügten Kacheln aufgebaute Öfen wurden im 15. Jahrhundert entwickelt und verbreiteten sich rasch in den zentral- und nordeuropäischen Regionen mit kälterem Klima, vom Gebiet des Heiligen Römischen Reichs samt der Schweiz ostwärts nach Ungarn und Polen sowie über die baltischen Regionen und Skandinavien. Ofenkacheln wurden auch nach England und in die Niederlande exportiert, scheinen dort aber zu keinem Zeitpunkt so weit verbreitet gewesen zu sein. Anfangs nur in größeren königlichen und kirchlichen Gebäuden anzutreffen, waren Kachelöfen immer mehr auch in den Wohngebäuden wohlhabender Bürger in Betrieb. Diese Öfen waren im Wesentlichen freistehend konzipiert. Sie verfügten aber über eine Verbindung zur Wand mit Öffnungen für die Befeuerung und den Rauchabzug. Auf diese Weise konnte ein solcher Ofen von einem angrenzenden Raum aus befeuert und der Rauch direkt abgeführt werden, so dass der beheizte Raum selbst rauchfrei und sauber blieb. Damit diese Quelle von Wärme und Bequemlichkeit die erwünschte Aufmerksamkeit erhielt, waren die frontseitigen Oberflächen mit Reliefs versehen, die mit gefärbten Bleiglasierungen oder bemalten Zinnglasierungen überzogen waren. Andrew Morrall hat herausgefunden, dass der Kachelofen des Bodmer-Porträts mit einer Serie von Darstellungen der Tugenden verziert ist: Sichtbar sind Gerechtigkeit, Klugheit, Glaube und Hoffnung. Er argumentiert, dass die Tugend-Metaphorik „was deeply bound up with the aims of a reformist cultural ideal: with the ordination of civility, the control of appetite, the transformation of nature by breeding and piety; even, in a sense, a means of Grace.“28 Eine andere Art des verzierten Ofens wurde aus Gusseisen hergestellt. Dieser bestand aus Eisenplatten, die zu einer freistehenden, kastenförmigen Brennkammer zusammengenietet waren. Während Kachelöfen aufgrund ihrer Pracht bereits die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben, sind Eisenöfen mit ihrer vergleichsweise schlichten, einfarbigen Erscheinung bislang weitestgehend ignoriert worden – und dies, obgleich sie oft reichlich mit biblischen Motiven bildert waren. Im Gebrauch seit den 1530er Jahren, stammt die überwiegende Anzahl der aufwändiger gestalteten Stücke aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Eine frühe Arbeit von Henry Mercer über die Ursprünge und Entwicklung der verzierten Gussöfen deutscher Einwanderer in Pennsylvania im kolonialen Nordamerika hat die im Deutschland des 16. Jahrhunderts beliebtesten Sujets identifiziert.29 Die aus dem Alten Testa-
28 Morrall, The Reformation (wie Anm. 7), 114. 29 Henry C. Mercer, The Bible in Iron. Or the Pictured Stoves and Stove Plates of the Pennsylvanian Germans. Pennsylvania 1914.
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ment ausgewählten Motive lassen sich im Wesentlichen familiären Themen und/oder Heil und Erlösung zuordnen. Auch eine der in Mercers Buch abgebildeteten deutschen Ofenplatten des 16. Jahrhunderts stellt das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus dar.30 Der mittlere Bereich zeigt den reichen Mann und seine Frau, wie sie mit zwei Gästen am Tisch sitzen, anscheinend in einem Gartenpavillon. Sie werden von einer Gruppe von Musikern im Hintergrund sowie von einem Narren unterhalten. Unter ihnen, unter einem Balkon, liegt Lazarus auf dem Boden in Lumpen mit einer Krücke und einer Schüssel in der Hand. Während Hunde seine Wunden lecken, zückt ein gutgekleideter Dienstbote eine Peitsche, um ihn zu vertreiben. Eine Inschrift bringt das Wesentliche der Geschichte auf den Punkt: „DER. ARMER. BEGERT. VON. DEM. RICHEN. ZO. SPISEN“. Auf der linken Seite der Bildkomposition stellen zwei kleinere Szenen den Tod der beiden Männer dar: den reichen Mann auf seinem Bett zusammen mit einem teuflischen Tier, das seine Seele zur Hölle entführt, während darunter Engel dem sterbenden Lazarus aufwarten. In der oberen rechten Ecke der Eisenplatte wird Lazarus im Frieden und Trost des himmlischen Königs gezeigt, der reiche Mann hingegen in den Flammen der Hölle. Wie schon bei den Wandgemälden in Pittleworth scheinen diese drastischen Hinweise auf Tod und Jüngstes Gericht aus heutiger Sicht fehl am Platz in einem üppig geschmückten Esszimmer, doch dienen sie als notwendige Erinnerung der Vergänglichkeit irdischer Freuden. Die Wirkung des Bildes des in der Hölle brennenden reichen Mannes muss durch das vom Ofen ausgestrahlte Gefühl der Wärme noch verstärkt worden sein, wodurch dem Appell zur frommen Betrachtung eine weitere sinnliche Dimension hinzugefügt wurde.31 Henry Mercer zufolge war das bei weniger wohlhabenden Schichten beliebteste, oft kopierte und wiederholte biblische Motiv in Deutschland die Hochzeit zu Kana, bei der Christus Wasser in Wein verwandelte. Ein Beispiel hierfür ist im Victoria und Albert Museum in London erhalten (Abb. 3). Die Ofenplatte stammt aus der Zeit um 1600 und zeigt zwölf modisch gekleidete Personen, plaziert um einen reichlich mit Essen und Tischgeschirr gedeckten Tisch herum; im Vordergrund des Bildes sind sechs Krüge aufgestellt. Christus und seine Jünger – in einfachen Gewändern – befinden sich zur Rechten der Tischgesellschaft. Eine Inschrift am unteren Rand identifiziert die Szene: „HISTORIA. VON. DER. HOCHZEIT. ZU CANA IN GALILEA. JOHAN. 2.“ Es liegt nahe, dass diese Geschichte mit ihrer Botschaft göttlicher Intervention zur Bereitstellung genügender Versorgung der Gäste gerade bei jenen Familien beliebt war, denen nur bescheidene Mittel zur Verfügung standen.
30 Ebd., 21, Tafel 17. 31 Ulinka Rublack wiederholt Caroline Walker Bynums Beobachtung, wonach die Fähigkeit von Lehm, Hitze aufzunehmen, einen Einfluss auf die Produktion und Wahrnehmung von solchen Ofenkacheln hatte, die die protestantischen Märtyrer inmitten der Flammen zeigten. Sie betont, dass viele Artefakte der Renaissance ihre Bedeutung und Attraktivität dadurch gewannen, dass sie die Aufmerksamkeit auf Aspekte ihrer Materialität und die zu ihrer Herstellung benötigten Kunstfertigkeiten lenkten: Ulinka Rublack, Matter in the Material Renaissance, in: P & P 219, 2013, 41–85.
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Abb. 3: Ofenplatte, welche die Hochzeit zu Kana darstellt, um 1600.
In jenen Gegenden Europas, in denen offene Feuerstellen zur Heizung dienten, war der Bereich des Kamins und des Kaminvorsprungs auf ähnliche Weise mit biblischen Bildern verziert. Gusseiserne Ofenrückwände wurden auf gleiche Weise hergestellt wie Ofenplatten und fungierten als eine verwandte Form des Kunsthandwerks in Ländern, in denen die Räume mit Feuerstellen und nicht mit Öfen beheizt wurden; sie schützten die Rückwand des Kamins und reflektierten die Hitze zurück in den Raum. Mit der zunehmenden Verbreitung von Kaminen in Wohngebäuden wuchs auch der Bedarf, diese hinsichtlich des Dekors zu verfeinern; die anfänglich schlichten Eisenplatten wurden immer häufiger mit bildlichen Darstellungen verziert. In England stammen die schmuckvollsten Beispiele aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Produziert wurden sie vor allem in den südöstlichen Grafschaften; es ist daher wahrscheinlich, dass sich diese Mode vor allem auf diese Region konzentrierte. Einige erhaltene Exemplare weisen biblische Darstellungen auf, darunter auch Adam und Eva sowie die Opferung des Isaak.32 Diese zwei Bildmotive wurden auch im Allgemeinen bevorzugt als Sujets zur Ausgestaltung der Inneneinrichtung verwendet. Dies lässt sich damit erklären, dass beide Erzählungen von großer Bedeutung für die Darstellung der wesentlichen Elemente des christlichen Schemas von Sünde und Errettung waren: Adam und Eva, die von der verbotenen Frucht aßen, standen für die Sünde. Demgegenüber repräsentiert das Bild von Abraham, wie er im Begriff ist, seinen Sohn Isaak zu opfern, Gehorsam und Erlösung – gleichsam eine alttestamentarische Präfiguration der Kreuzigung.33 Diese zwei Szenen findet man in England oft als Dekoration des Kaminvorsprungs. Einen hölzernen Kaminaufsatz (um 1620), der sich in einer Kammer im zweiten Obergeschoss des Hauses High Street Nr. 90 in Oxford befindet, ziert in der Mitte eine geschnitzte Darstellung von Adam und Eva, die beiderseits des Baums der Erkennt-
32 Jeremy Hodgkinson, British Cast Iron Firebacks of the 16th to Mid 18th Centuries. Crawley 2010, 173 f. 33 Tara Hamling, Seeing Salvation in the Domestic Hearth in Post-Reformation England, in: Jonathan Willis (Hrsg.), Sin and Salvation in Reformation England. Aldershot 2015 (im Erscheinen).
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nis stehen. Abrahams Opferung des Isaak bildet den Mittelpunkt eines prächtigen Kaminsimses, der wiederum im Zentrum der auf 1623 datierten Stuckdekoration der ‚Great Chamber‘ der ‚Boston Manor‘ in Brentford (Middlesex) steht. Ein weiteres holzgeschnitztes Beispiel, das wahrscheinlich ebenfalls aus den 1620er Jahren stammt, findet sich in einem Stadthaus in Salisbury.34 In ihrer üblichen Form enthalten diese spezifischen Ikonographien nicht genügend Informationen, um die jeweilige Geschichte vollständig wiederzugeben. Eher ist es umgekehrt: Die einzelnen Szenen – das Pflücken der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis oder der Moment, in dem der Engel eingreift, um Abrahams Hand zurückzuhalten – riefen Geschichten in Erinnerung, die in mündlicher und visueller Überlieferung bereits wohlbekannt waren. Die visuelle Ökonomie dieser vereinfachten, schematischen Ikonographien wird unter Berücksichtigung ihrer Rolle als ‚synoptische Bilder‘ verständlich, welche die kondensierte Essenz des Gegenstands als eine generelle Zusammenschau des Ganzen darboten. Hierzu hat Andrew Morrall bemerkt: „[T]he themes of ornament are closely related to the early modern tendency to hypostatize abstract concepts […]. One of the values of ornament for understanding cultural attitudes and beliefs lies precisely in this function of bodying forth mental constructs and attitudes.“35 Ebenso wie allegorische Bilder abstrakte Begriffe und moralische Eigenschaften greifbar machen konnten, wurde auch der metonymische Gebrauch biblischer Stoffe zur Bezeichnung damit zusammenhängender Vorstellungen eingesetzt; diese Art von Verkürzungen war ein fundamentaler Bestandteil frühmoderner Kommunikationsmodi. Tatsächlich könnte dies auch den vereinfachten und formelhaften Stil der Darstellung erklären, die von jeglichen Bildkomponenten befreit ist, die nicht unmittelbar zum Verständnis der Episode beitragen.36 Diese ‚synoptischen Bilder‘ konnten als visuell effiziente Erinnerung des göttlichen Plans den Glauben stärken und Trost im täglichen Leben spenden, beanspruchten dabei aber keine längere Aufmerksamkeit, die vom ‚wahren Glauben‘ oder notwendigen häuslichen Aufgaben abgelenkt hätte. Zuweilen wird die theologische Bedeutung dieser alttestamentarischen Geschichten als typologische Präfigurationen explizit gemacht, etwa wenn sie zusammen mit neutestamentlichen Szenen dargestellt werden, die die Erfüllung des göttlichen Versprechens durch Christus zeigen. Die tonnengewölbte Stuckdecke von 1620 in der vormaligen ‚guten Stube‘ des ersten Stocks eines Stadthauses in Barnstaple (Devon) bildet in Rundkartuschen Szenen von Adam und Eva und der Opferung des Isaak
34 Hamling, Decorating (wie Anm. 6), Abb. 94 und 152. 35 Andrew Morrall, Ornament as Evidence, in: Karen Harvey (Hrsg.), History and Material Culture. Abingdon 2009, 47–66, hier 48 f. 36 Auf die Eigenart und Bedeutung ‚synoptischer Bilder‘ wird näher eingegangen in: Tara Hamling, Visual Culture, in: Andrew Hadfield/Matthew Dimmock/Abigail Shinn (Hrsg.), The Ashgate Research Companion to Popular Culture in Early Modern England. Aldershot 2014, 75–102.
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neben denjenigen der Verkündigung und der Geburt Christi ab.37 Den ‚synoptischen Bildern‘ ähnliche Verkürzungen sind auf dem Bodmer-Porträt erkennbar, aber als Glasmalereien auf den Fenstern. Dort sind vier Szenen dargestellt: Adam und Eva, Kains Brudermord an Abel, ddie Opferung des Isaak und die Jakobsleiter. Die im Bodmer-Porträt dargestellte Glasmalerei geht wahrscheinlich nicht auf die bereits im Mittelalter übliche Glasmalerei zurück, sondern auf die neue Technik der Emailmalerei. Diese Technik, bei der größere Glasstücke auf einmal bemalt wurden, kam um die Mitte des 16. Jahrhunderts auf und wurde durch Verbesserungen in der Glas- und Farbenherstellung ermöglicht. Auf der rechten Seite der Fenster des Bodmer’schen Esszimmers sind Teller, vermutlich aus bemalter Keramik, auf einem Regalbrett aufgereiht. Auf der anderen Seite des Raums, in der Ädikula über der Tür zur Küche, befinden sich drei Messingschalen, die in dieser Form gewöhnlich in der Mitte mit biblischen Szenen verziert sind. Wichtigster Produktionort solcher Messingschüsseln war im 15. und 16. Jahrhundert Nürnberg, aber es gab auch andere Zentren in Nordeuropa, und Techniken und Stile wurden bis weit ins 17. Jahrhundert kopiert. Diese Schalen waren zur Zierde gedacht, konnten aber auch zum Waschen der Hände nach dem Essen verwendet werden. Mehrere solcher Schalen zeigen die zwei Spione, die Trauben aus Kanaan heraustrugen – ein Motiv, das den Überfluss im Gelobten Land und die Erfüllung von Gottes Versprechen seinem erwählten Volk gegenüber repräsentiert.38 Erneut wird hier zur Verzierung eines Gegenstands, der im spezifischen Kontext häuslicher Mahlzeiten benutzt wurde, das Thema Ernährung im Zusammenhang mit göttlicher Vorsehung verwandt. Auf diese Weise waren geistliche Mahner immer zur Hand, in diesem Fall im wörtlichen Sinne.
3 Die Position von Möbeln in der Frömmigkeitspraxis Abschließend sei ein Blick auf das auf dem Bodmer-Porträt abgebildete Mobiliar geworfen. Große Möbelstücke stellten eine beträchtliche Investition dar, die oft anlässlich einer Hochzeit oder der Errichtung eines neuen Hausstandes getätigt wurde.39 Abgesehen vom Tisch, der die Mitte des Raums einnimmt und den meisten
37 Hamling, Decorating (wie Anm. 6), Abb. 104–105. 38 Vgl. zwei Schalen im ‚Victoria & Albert Museum‘, eine im 16. Jahrhundert in Flandern oder Nürnberg hergestellt (Museum Number 7842–1861), die andere eine niederländische Version aus dem späten 17. Jahrhundert (Museum Number 162–1891). 39 Tara Hamling, ‚An Arelome To This Hous For Ever‘. Monumental Fixtures and Furnishings in the English Domestic Interior, c.1560–c.1660, in: Andrew Gordon/Thomas Rist (Hrsg.), The Arts of Re-
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Platz beansprucht – er ist vermutlich übertrieben groß und massiv dargestellt – ist das einzige andere größere Möbelstück ein Buffet. Über diesem Einrichtungsgegenstand sind Regalbretter zu sehen, die entweder als Oberteil damit verbunden oder direkt an der Wand befestigt sind. Julie De Groot hat an Inneneinrichtungen in Brügge im 16. Jahrhundert bemerkt, dass ein Schrank in Verbindung mit anderen Objekten wie Gemälden und Kerzen zu einer Art Hausaltar werden konnte.40 Eine solche Anordnung ist auf einem Familienporträt von Gortzius Geldorp von 1602 zu sehen: Hier erinnert ein großer Schrank im Hintergrund an einen Altar mit einem weißen Tuch und Kerzen; der Schrank steht neben einem gerahmten Gemälde der Kreuzigung, das an der angrenzenden Wand hängt.41 Ab dem 17. Jahrhundert wurden Schränke zudem mehr und mehr mit Bildschnitzereien verziert, die biblische Themen in die Gestaltung integrierten. Ein buffetkast aus dem 17. Jahrhundert im ‚Sint-Janshospital‘ (Memlingmuseum) ist beispielsweise in den rechteckigen Feldern des Oberteils mit geschnitzten Szenen der Verkündigung und der Geburt Jesu ausgestattet, während die zwei Rundmedaillons des unteren, größeren Teils ‚synoptische‘ Bilder von Kain und Abel beim Opfer sowie Kains Brudermord zeigen. Diese beiden zusammenhängenden Szenen versinnbildlichen das Mysterium des Bundes von Gott mit seinem auserwählten Volk, indem jener das Opfer des Jüngeren annahm, was zu Kains Eifersuchtsausbruch führte und dessen Verdammung besiegelte. Dienten Buffets in erster Linie der Zurschaustellung von Gegenständen, waren andere Möbel zur sicheren Aufbewahrung von wertvollen Dingen, vor allem von Wäsche, gedacht. Zwar blieben diese Dinge somit unsichtbar, doch demonstrierten allein schon die Größe und das Volumen großer Schränke wie etwa des niederländischen beeldenkast die Menge und Qualität der darin aufbewahrten Sachen. Daher waren solche Schränke bedeutende Schaustücke, die mit bildlichen Verzierungen übersät waren. Ein berühmtes Gemälde von Peter de Hooch veranschaulicht den zentralen Platz des beeldenkast im Haushalt, sowohl hinsichtlich seiner Platzierung im voorsael – der Hauptempfangsraum und Zentrum des Erdgeschosses – als auch als Mittelpunkt einer wichtigen häuslichen Betätigung; denn zwei Frauen sind gerade dabei, frisch gebügelte Wäsche vorsichtig darin zu verstauen.42 Meist waren die Stützen dieser extravaganten, aus Eiche geschnitzten niederländischen Schränke als Allegorien der Tugenden gestaltet, oder diese bildeten gleich das Hauptthema der Gestaltung. Dabei verkörperten die Darstellungen solche Tugenden, die man von denjenigen erwartete, die für die Pflege der häuslichen Wäsche zuständig waren. Ein auf
membrance in Early Modern England. Memorial Cultures of the Post Reformation. Aldershot 2013, 59–88. 40 Julie De Groot, Devotion on Display. Decorative and devotional objects in the 16th Century Bruges Home, Vortrag auf der 11th International Conference on Urban History in Prag, 29.8.–1. 9. 2012. 41 Rafael Valls Gallery, London. Eine Abbildung bietet Bridgeman Images, URL: www.bridgemanimages.com (Zugriff: 24. 03. 2015). 42 Pieter de Hooch, Interior with Women beside a Linen Cupboard, 1663, Rijksmuseum Amsterdam.
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1622 datierter beeldenkast im Metropolitan Museum in New York weist an seiner Front sechs große Tugendallegorien auf, zwischen denen sechs Episoden aus der Josephsgeschichte angeordnet sind (Abb. 4). Hinzu kommen noch kleinere Reliefs, die den Harfe spielenden David sowie Samson und Delila zeigen, die durch eine winzige Inschrift identifiziert werden, was nahelegt, dass diese Motive aus der Nähe betrachtet werden sollten. Mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn vergleichbar, verbindet die Josephsgeschichte ein großes dramatisches und visuelles Potenzial mit einem familiären Thema und geistlichem Symbolcharakter.
Abb. 4: Niederländischer Schrank (beeldenkast) mit Tugendallegorien, 1622.
Die Geschichte zeichnet den Lebensweg Josephs nach, vom Konflikt mit seinen Brüdern über sein Schicksal als Sklave, seinen kometenhaften Aufstieg zu Ruhm und Vermögen hin zu der Wiedervereinigung mit seiner Familie und Vergebung ihrer Sünden. Wichtige Stationen der Erzählung, wie etwa der Moment, als Joseph in den Brunnen geworfen wird, oder der Versuch von Potiphars Frau, Joseph zu verführen,
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illustrieren die Vergehen von begehrlichen Geschwistern und ehebrecherischen Ehefrauen. Doch lag die Hauptbedeutung dieser Geschichte der protestantischen Auslegung zufolge darin, Joseph als Vorbild gottgewollten Verhaltens zu preisen, und die Geschichte als eine alttestamentarische Parallele zu Episoden des Lebens Jesu auszuweisen.43 Auch diese Geschichte beinhaltet die Kernthemen des christlichen Glaubens, das Erdulden von Drangsalen und die schließliche Erlösung. Während die zentrale Platzierung dieser riesigen verzierten Schränke ihrer praktischen Bedeutung in der täglichen Routine des häuslichen Lebens entsprach, so kann ihr Dekor als integral für die Konstruktion des frommen Hauses verstanden werden. Indem ihre Bildschnitzereien an die moralische und religiöse Erziehung der gemeinsamen Bibellektüre und die damit verbundenen Andachten anknüpften, konnten die Möbel so dazu beitragen, das Verständnis protestantischer Ideale des wohlverwalteten Haushalts zu intensivieren und damit auch dem Leben, welches diesen Idealen entsprach, Auftrieb zu verleihen.
4 Zusammenfassung Die in normativen Texten formulierten religiösen Idealvorstellungen von den frommen Pflichten des Haushalts waren eingebettet in die materielle Umgebung des Haushalts. Man bildete sie in Objekten ebenso wie im Genre des Porträts der Familie beim Tischgebet ab. Weder die Reformation noch die Konsumkultur, die gemeinhin mit der material renaissance assoziiert wird, führten zu einer Entsakralisierung des häuslichen Interieurs oder häuslicher Praktiken. Die Verzierung von Raumausstattungen und Mobiliar von Prestigewert mit biblischer Symbolik ermöglichte es Familien, die Spannung zwischen ostentativem Konsum und den reformatorischen Werten der Mäßigung und Demut zu überbrücken, indem sie ihre Besitztümer und Identität innerhalb eines christlichen Rahmens repräsentierten. Zwar dienten religiöse Bilder in protestantischen Haushalten nicht mehr als Fokus der häuslichen Andacht, doch konnten die biblischen Darstellungen auf prominent im Innenraum platzierten Prachtmöbeln gutgeheißene Denk- und Verhaltensgewohnheiten wecken und verstärken und somit die Routine des täglichen Lebens beeinflussen. Die am weitesten verbreiteten Ikonographien verweisen auf die sorgfältige Auswahl angemessener Themen; sie spiegelten die häusliche Aktivitäten wider und reglementierten diese, nahmen gleichzeitig aber auf die christliche Lehre hinsichtlich Lebensführung und Familienleben Bezug. Damit ist nicht gemeint, dass diesen Deko-
43 Vgl. z. B. Henry Ainsworth, Annotations upon the First Book of Moses, Called Genesis. London 1616; Gervase Babington, Certain Plaine Briefe, and Comfortable Notes upon Everie Chapter of Genesis. London 1592; Robert Aylett, Joseph, or Pharoah’s Favourite. London 1623.
Die Gestaltung des frommen Hauses im protestantischen Europa
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rationen etwas spezifisch oder unverwechselbar ‚Protestantisches‘ anhaftet; vielmehr wird deutlich, dass die Präsenz biblischer Symbolik in nachreformatorischen Innenräumen keineswegs unvereinbar mit reformatorischen Werten und Frömmigkeitspraktiken waren. Doch scheint der ‚synoptische‘ Stil mancher Darstellungen von Bibelszenen in besonderem Maße der protestantischen Haltung gegenüber religiösen Bildern zu entsprechen, da sie wichtigen Glaubenssätze auf einfache und wirkungsvolle Weise Ausdruck verliehen und damit deren geistliches Verständnis stärkten. Diese Kunstwerke sollten daher nicht nur als Stilbeispiel oder Ausdruck von Wohlhabenheit und Status, sondern auch als Ausdruck religiöser Überzeugungen und als ein zentraler Teil der Frömmigkeitspraxis im frühneuzeitlichen Haushalt ernstgenommen werden. Aus dem Englischen: Philip Hahn
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Städtische Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit Traditionell gehört die materielle Kultur des Wohnens zu den Themenbereichen einer historischen Haus- und Wohnforschung. Der schon in den 1980er Jahren formulierte Anspruch, die häusliche Dingwelt auf die mit ihr verbundenen Bedeutungen und Praktiken hin zu befragen1, wurde und wird in vielen Untersuchungen zum frühneuzeitlichen Wohnen aber nicht eingelöst. Nur vereinzelt gelingt es, die sich in der „gesamten materiellen Ausprägung“ des Wohnens „manifestierenden individuellen und kollektiven Geschmacksvorlieben“2 – so eine jüngere Definition des Begriffs ‚Wohnkultur‘ – nicht nur zu benennen, sondern auch zu erklären. Dass sich hier mit dem zunehmenden Interesse, das die Geschichtswissenschaft den material culture studies zuwendet, neue Wege eröffnen, möchten die folgenden Ausführungen illustrieren. Sie beginnen mit einem knappen Überblick über Quellenlage und Forschungsansätze, bevor sie sich den spezifisch städtischen Bedingungen frühneuzeitlichen Wohnens zuwenden. Nach einem überleitenden Abschnitt zum Gefüge und zur Hierarchie von Wohnräumen in städtischen Häusern werden abschließend Wert und Bedeutung des Hausrats analysiert.
1 Vom Inventar zur Wohnkultur Grundlage nahezu aller geschichtswissenschaftlichen und volkskundlichen Versuche, historische Wohnumgebungen im Innern der Häuser zu rekonstruieren, war und ist die Quellengattung der Inventare.3 Dieser weit über Europa verbreitete Typ eines Rechtsdokuments verzeichnete im Rahmen verschiedener juristischer Kontexte den Besitz einer Person oder Institution. Inventare sind vielfach überliefert und bis zu einem gewissen Grad normiert, weshalb sie sich grundsätzlich für eine quantitative Auswertung anbieten. In methodischer Hinsicht weist die Arbeit mit ihnen jedoch
1 Hans Jürgen Teuteberg, Betrachtungen zu einer Geschichte des Wohnens, in: ders. (Hrsg.), Homo habitans. Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit. Stuttgart 1985, 1–23, hier 1. 2 Ruth-Elisabeth Mohrmann, Wohnkultur, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15. Stuttgart 2012, 213–221, hier 213. 3 Vgl. dazu grundlegend Ad van der Woude/Anton Schuurman (Hrsg.), Probate Inventories. A New Source for the Historical Study of Wealth, Material Culture and Agricultural Development. Wageningen 1980; Hildegard Mannheims/Klaus Roth: Nachlaßverzeichnisse. Internationale Bibliographie. Münster 1984.
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einige Probleme auf, über welche die Forschung immer wieder Rechenschaft abgelegt hat: Die vermeintlich objektiven Verzeichnisse sind lückenhaft und tendenziös, sie tradieren bevorzugt den Besitz der Wohlhabenden und spiegeln nur selten das Leben der ‚Habenichtse‘. Unverzichtbar bleiben sie trotzdem, denn eine bessere Quelle zur Analyse der Ausstattung frühneuzeitlicher Wohnräume gibt es nicht. Im Zuge der seriellen Auswertung von Inventaren haben Untersuchungen zur Wohnkultur Raumgefüge rekonstruiert und Wohnobjekte katalogisiert, um soziale und interkulturelle Diffusionsprozesse und historischen Wandel nachzuzeichnen. Wirtschaftshistorisch inspirierte Studien haben aus der Beobachtung, dass die Anzahl, das Spektrum und die Verfügbarkeit von Konsumgütern schon in der Frühen Neuzeit ein beträchtliches Ausmaß erreichten, den Schluss gezogen, dass bereits vor der Industriellen Revolution ein ökonomischer Systemwandel stattfand.4 Vermutet wird eine tiefgreifende Veränderung des Konsumverhaltens, in deren Verlauf die traditionelle Bevorzugung langlebiger Objekte mit hohem Materialwert durch einen an Mode, Geschmack und Neuigkeit orientierten Konsum abgelöst worden sei. Im Zuge dessen habe sich die Wohnkultur an Komfort, Wohnlichkeit und Häuslichkeit ausgerichtet. Bislang blieb allerdings keiner der bisherigen Versuche, diese Prozesse zeitlich, räumlich und sozial zu verorten, unwidersprochen. Neuere Studien stellen eine lineare Entwicklung deshalb grundsätzlich infrage.5 Sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten wandten sich der Frage zu, ob der sozialen Stratifikation spezifische Wohn- bzw. Lebensstile entsprachen. Unter dem Einfluss soziologischer Konzepte wie ‚Habitus‘ und ‚Distinktion‘, ‚conspicuous consumption‘, ‚trickle-down-Effekt‘ und ‚Imitation‘, die allesamt ein „Repräsentationsverhältnis von Güterwelt und Prestigeordnung“6 voraussetzen, gingen und gehen weite Teile der Forschung davon aus, dass der innerhalb der jeweiligen sozialen Strata gepflegte Wohnstil die soziale Hierarchie nicht nur abbildete, sondern von den historischen Akteurinnen und Akteuren auch bewusst zur Bekräftigung und Absicherung des eigenen Status eingesetzt wurde. Daraus leitet sich die Annahme ab, dass die sozialen Eliten (gezwungenermaßen) bei der Entwicklung und Verbreitung neuer Wohnformen tonangebend waren.
4 Vgl. Neil McKendrick/John Brewer/J. H. Plumb (Hrsg.), The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England. London 1982; Richard Goldthwaite, Wealth and the Demand for Art in Italy 1300–1600. Baltimore 1993; Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008. 5 Rainer Beck, Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne, in: Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hrsg.), ‚Luxus und Konsum‘. Eine historische Annäherung. Münster 2003, 29–46, hier 35. 6 Dominik Schrage, Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums. Frankfurt am Main 2009, 144. Die Relevanz dieser Konzepte für die Erforschung der ständischen Gesellschaft betonen u. a. Marian Füssel/Thomas Weller, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005, 9–22, hier 12–15.
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Der Umgang frühneuzeitlicher Menschen mit der sie umgebenden Objektwelt war allerdings vielschichtiger, als es diese Perspektive vermuten lässt.7 Eine von den material culture studies beeinflusste Forschung hat deshalb damit begonnen, in einer Nahsicht auf die Mensch-Ding-Beziehungen nach individuellen und kollektiven Praktiken der Aneignung und Handhabung zu fragen.8 Ein solches Vorgehen verfolgt nicht das Ziel, umfassende Narrative zur materiellen Kultur zu entwickeln, auch bleibt die soziale Reichweite seines mikrohistorischen Zugriffs notgedrungen begrenzt. Doch eröffnet gerade ein solcher Ansatz ein besseres Verständnis für die soziale Relevanz der materiellen Kultur eines Hauses und für die Komplexität der mit ihr verbunden Praktiken.
2 Städtische Bedingungen frühneuzeitlichen Wohnens In einer Stadt zu wohnen, war in der gesamten Frühen Neuzeit eher die Ausnahme als die Regel.9 Auch wenn Ausdehnung und Bevölkerung der Städte fast überall in Europa bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert zunahmen, zählte um 1800 sogar im stärker urbanisierten (Nord)Westeuropa die Bevölkerung in größeren Städten mit mehr als 5 000 Bewohnern nur wenig mehr als 20 % Prozent. In Osteuropa waren es gerade einmal 5 %. Da zudem die meisten Städte, gemessen an heutigen Maßstäben, außerordentlich klein waren, lebte wiederum nur ein Bruchteil der Stadtbewohner in den größeren urbanen Zentren der Handels- und Residenzstädte.10 Die Charakteristika städtischer Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit resultierten zu großen Teilen aus den rechtlichen, ökonomischen und sozialen Merkmalen, die die Städte vom Land unterschieden, oder anders gesagt: die die Stadt erst zu einer
7 Beck, Luxus (wie Anm. 5), 42 f. 8 Vgl. zuletzt Ulinka Rublack, Matter in the Material Renaissance, in: P & P 219, 2013, 41–85. 9 Grundlegend zur städtischen Wohnkultur des Alten Reiches die ebenso umfassende wie ausgewogene Darstellung von Gerhard Fouquet, ‚Annäherungen‘. Große Städte – kleine Häuser. Wohnen und Lebensformen der Menschen im ausgehenden Mittelalter (ca. 1470–1600), in: Imma Kilian/Ulf Dirlmeier (Hrsg.), 500–1800. Hausen, Wohnen, Residieren. Stuttgart 1998, 347–502; sowie Jens Friedhoff, ‚Magnificence‘ und ‚Utilité‘. Bauen und Wohnen 1600–1800, in: Kilian/Dirlmeier (Hrsg.), Hausen (wie Anm. 9), 503–788, hier 555–648; ferner Astrid Lang, Wohnbau, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 2), 202–213; Bernd Roeck, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der frühen Neuzeit. 2. Aufl. München 2011, 10–13, 15–22. 10 Peter Clark, European Cities and Towns 400–2000. Oxford 2009, 128; Ulrich Rosseaux, Städte in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, 5–13; Jan de Vries, European Urbanization 1500–1800. Cambridge, Mass. 1984. Es ist durchaus problematisch, dass diese Städte von der Forschung bevorzugt behandelt werden, so dass noch zu wenige Erkenntnisse über die spezifische Urbanität kleinerer Städte vorliegen. Vgl. zur Frage der Urbanität auch Fouquet, Annäherungen (wie Anm. 9), 349–356.
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solchen machten.11 Auch wenn sich die europäische Städtelandschaft der Frühen Neuzeit als äußert heterogen darstellt, lassen sich doch einige für das städtische Wohnen weithin gültige Faktoren benennen. In Erinnerung zu rufen ist dafür zunächst die korporative Verfasstheit und soziale Differenzierung frühneuzeitlicher Städte, die alles andere als homogene Bürgergemeinden waren. Die urbane Standesordnung beruhte zu unterschiedlichen Anteilen auf Anciennität, berufsständischer Zuordnung und finanziellem Vermögen. Die ebenso wichtigen Unterscheidungsmerkmale von Konfession, Herkunft und Bürgerstatus konnten quer zu dieser hierarchischen Binnengliederung liegen. Eine städtische Elite mit exklusivem Zugang zu den politischen Ämtern grenzte sich überall vom Rest der Bevölkerung ab. Abgesondert waren außerdem die exemte Bevölkerung, die eigene Rechtskreise bildete (Hof, Militär, Universität, katholische Geistlichkeit)12, sowie die Angehörigen nicht-christlicher Religionsgemeinschaften, also in erster Linie die Juden. Als eine für die frühneuzeitliche Wohnkultur relevante Konstituente ist die Verknüpfung von Grundbesitz und Bürgerrecht zu nennen. Eine Aufnahme in die Bürgerschaft setzte in vielen europäischen Städten des Mittelalters den Besitz städtischer Immobilien voraus.13 Auch wenn diese sog. Haushäblichkeit als Voraussetzung für das Bürgerrecht schon im Spätmittelalter aufgegeben wurde, blieb der Hausbesitz zumeist nur den Angehörigen der Bürgergemeinde gestattet.14 Folglich bestand das Leitbild des hausbesitzenden Bürgers als Norm fort, obwohl ihm in der Frühen Neuzeit nur noch ein Teil der städtischen Bevölkerung entsprach. Viele Bürger wohnten zur Miete, unverbürgerte Stadtbewohner mieteten notgedrungen ihren Wohnraum. Es existierte deshalb ein hoher Bedarf an Mietshäusern bzw. -wohnungen, der durch den Immobilienbesitz der städtischen Eliten, der öffentlichen Hand und der Kirche gedeckt wurde.15
11 Vgl. aus rechtsgeschichtlicher Sicht Gerhard Dilcher, Stadtrecht, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4. Berlin 1990, 1863–1873. Für Frankreich (und mit anderem Fokus) vgl. Daniel Roche, A History of Everyday Things. The Birth of Consumption in France, 1600–1800. Cambridge 2000, 33–36. 12 Markus Meumann, Exemtion, in: Albrecht Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin 2008, 1451 f. 13 Art. Bürger, Bürgertum, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2. München 1983, 1005–1041; Peter-Johannes Schuler, Grundbesitz, städtischer, in: ebd., Bd. 4, 1989, 1736 f. 14 Eberhard Isenmann, Bürgerrecht und Bürgeraufnahme in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches, 1250–1550. Berlin 2002, 203–249, hier 217–221. 15 Margrit Christensen-Streckebach/Wolfgang Fontzek, Das ‚Etagenmietshaus‘ an der Untertrave 96. Raumgefüge und Innenraumausstattung eines Lübecker Fachwerkbaus von 1569, in: Zs. des Ver. für lübeckische Gesch. und Altertumskunde 65, 1985, 53–86; Fouquet, Annäherungen (wie Anm. 9), 417– 428; Friedhoff, Magnificence (wie Anm. 9), 610–620; Michael Holtkötter, Die Ausstattung des Leipziger
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Von großem Einfluss auf den Wohnraum war außerdem die klare Umgrenzung bzw. wehrhafte Befestigung der Stadt16, die den zur Verfügung stehenden Baugrund beschränkte. Weil diese Begrenztheit eine kleinteilige Parzellierung und dichte Bebauung nach sich zog, prägte sie das städtische Bauen auch dann, wenn Häuser in Krisenzeiten leer standen oder verfielen oder größere Flächen unbebaut blieben.17 Bauherren mussten fast immer auf bereits bestehende Grundstücksgrenzen und Vorbauten Rücksicht nehmen18, weshalb für den frühneuzeitlichen Städtebau zugespitzt von einer „Kultur des Umbaus“ gesprochen worden ist.19 Ausschlaggebend für die Gestaltung städtischen Wohnraums waren zudem die urbanen Erwerbsstrukturen. Wenngleich diese vom jeweiligen Städtetyp abhingen20, lebten doch überall weite Teile der Einwohnerschaft von Handwerk und Handel, so dass die städtische Architektur auf die Bedürfnisse der Gewerbetreibenden abgestimmt war. Kennzeichnend war die gewerbliche Nutzung der zur Straße liegenden Räume des Erdgeschosses.21 Gesonderte Wohnräume waren, sofern vorhanden, dahinter oder darüber angeordnet. Von Bedeutung war außerdem der Status der Städte als kommerzielle und kommunikative Zentren, aus dem eine fortlaufende Konfrontation mit kulturellen Transfers und technischen Innovationen resultierte. Der Markt, der bekanntlich ein konstitutives Element der Stadt darstellte22, sowie die ansässigen Handwerker und Kaufleute garantierten den städtischen Haushalten ein beständig verfügbares
Bürgerhauses in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge zur Stadtgeschichte 4, 1986, 94–113, hier 97; Fred Kaspar, Unterschichtenwohnen in Westfalens Städten zur frühen Neuzeit – insbesondere am Beispiel der Stadt Warendorf. Stand der Forschung, offene Fragen und denkmalpflegerische Konzepte, in: Westfälische Zs. 151/152, 2001/02, 133–152. 16 Clark, European Cities (wie Anm. 10), 180; Yair Mintzker, The Defortification of the German City 1689–1866. Cambridge 2012, 11–42. 17 Konrad Bedal, Fachwerkbauten vor 1600 in Westfalen und Franken. Einige vergleichende Bemerkungen, in: Günter Wiegelmann (Hrsg.), Nord-Süd-Unterschiede in der städtischen und ländlichen Kultur Mitteleuropas. Münster 1985, 1–22, hier 18; Roche, History (wie Anm. 11), 97. 18 Vgl. u. a. Lang, Wohnbau (wie Anm. 9), 205 f. Diesen Umstand reflektierte auch die zeitgenössische Architekturtheorie. Vgl. Joseph Furttenbach, Architectura privata. Das ist: Gründtliche Beschreiben/ neben conterfetischer Vorstellung/ inn was Form und Manier/ ein gar Irregular, Burgerliches Wohnhauß: Jedoch mit seinen sehr guten Commoditeten erbawet […]. Augsburg 1641, 5; Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1675–1680. Wissenschaftlich kommentierte Online-Edition, hrsg. von Thomas Kirchner u. a., URL: http://ta.sandrart.net/de/ text/747 (Zugriff: 08. 01. 2015). 19 Gerd Kuhn, Um 1800 – Stadtwohnen im Aufbruch, in: Tilman Harlander (Hrsg.), Stadtwohnen. Geschichte, Städtebau, Perspektiven. München 2007, 70–91, hier 79. 20 Vgl. u. a. Rosseaux, Städte (wie Anm. 10), 24–46. 21 Günther Binding, Bürgerhaus, in: Lexikon des Mittelalters (wie Anm. 13), Bd. 2, 1043–1046; Roche, History (wie Anm. 11), 103 f. 22 Vgl. Dilcher, Stadtrecht (wie Anm. 11).
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Angebot an Waren, das sich in vielen Bereichen an wechselnden Moden ausrichtete. Kleinmöbel, Textilien, Geschirr, Spiegel, Gemälde und Leuchter wurden gebrauchsfertig angeboten.23 Zusätzlich war die gesamte Palette an Hausrat auf dem Gebrauchtwarenmarkt erhältlich.24 Neben den bereits genannten Faktoren war städtische Wohnbebauung nach Maßgabe der ‚guten Policey‘ obrigkeitlichen Normierungen unterworfen, die ein einvernehmliches Zusammenleben garantieren, das jeweilige Eigentum vor äußeren Einflüssen wie Feuer und Wasser schützen, die Gesundheit der Stadtbevölkerung bewahren und eine Behinderung des städtischen Verkehrsflusses abwenden sollten. Auch an die dem Nahrungsschutz geschuldete Verpflichtung, das städtische Handwerk zu beauftragen, ist hier zu denken.25 Eine Leerstelle bildeten das Innere und Äußere des Hauses hingegen in den Aufwandsgesetzen, die ebenfalls in den Kontext ‚guter Policey‘ gehören und bis ins 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaßen. Diese Ordnungen gaben zwar vor, wie sich die einzelnen Stände in einer frühneuzeitlichen Stadt kleiden oder wie sie feiern sollten, das Wohnen unterlag aber – entsprechend der Rechtstradition der leges sumptuariae26 – keinen vergleichbaren Vorgaben. Europaweit betraf nur ein verschwindend kleiner Anteil der Aufwandsordnungen andere Bereiche als Kleidung und Festlichkeiten.27 Zeitgenössische Architekturtraktate propagierten allerdings durchaus die Idee des standesgemäßen Bauaufwands (decorum).28 Ebenso warnten moraldidaktische Schriften und die Hausväterliteratur vor den Folgen zu teuren oder prachtvollen Bauens: „Derhalben baw/ du lieber Christ/ Was nötig/ vnd dir müglich ist/ Als viel dein Standt vnd deine Tasch/ Erfordert vnd erduldet das.“29 In baupolizeiliche Vor-
23 Vgl. z. B. Friedrich Bothe, Die Entwickelung der direkten Besteuerung in der Reichsstadt Frankfurt bis zur Revolution 1612–1614. Leipzig 1906, 156. 24 Laurence Fontaine, Die Zirkulation des Gebrauchten im vorindustriellen Europa, in: Josef Ehmer (Hrsg.), Märkte im vorindustriellen Europa. Berlin 2004, 39–52; Georg Stöger, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 2011. 25 Andrea Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2009, 73, 75–76. 26 Ernst Baltrusch, Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit. München 1986, 19 f., 105; Walter Hatto Groß, Bauwesen, in: Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hrsg.), Der kleine Pauly, Bd. 1. München 1979, 848−850. 27 Martha C. Howell, Commerce before Capitalism in Europe, 1300–1600. Cambridge 2010, 212. 28 Vgl. dazu u. a. Petr Fidler, ‚Form follows Function‘. Zur Funktionalität der Profanarchitektur der frühen Neuzeit, in: Olga Fejtová (Hrsg.), Život pražských paláců. Šlechtické paláce jako součast městského organismu od středověku na práh moderní doby. Prag 2009, 25–58, hier 26−28. 29 Bartholomaeus Ringwaldt, Die lauter Warheit. Darinnen angezeiget, wie sich ein Weltlicher vnnd Geistlicher Kriegßmann in seinem beruff verhalten sol/ Allen Ständen nützlich/ vnd zu jtziger Zeit fast nöthig zu lesen. Erfurt 1590, 36. Ähnlich äußerten sich auch Sebastian Brant, Geiler von Kaysersberg oder Cyriakus Spangenberg. Zur Hausväterliteratur vgl. Franz Philipp Florin, Oeconomus prudens et legalis. Oder allgemeiner Klug- und Rechts-verständiger Haus-Vatter. Nürnberg 1705, 1. Buch, 164.
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gaben, welche die Anzahl der Geschosse und Überhänge, die Breite der Fassade oder die Anzahl und Größe der Fenster eingeschränkten30, gingen diese Ideen aber nur teilweise ein. Denn anstatt wie die Kleider- oder Feierordnungen eine ständische Abstufung vorzunehmen, intendierten die Bauordnungen ein homogenes Erscheinungsbild städtischer Bauten. Die aus Gründen des Feuerschutzes erlassenen Gebote zur Verwendung höherwertiger Materialen (Stein statt Holz, Ziegel statt Stroh) liefen der Idee eines ständisch abgestuften Bauaufwands sogar geradewegs zuwider. Keinerlei Regulierung war die innere Gestaltung der Häuser unterworfen – die Aufwandsgesetze machten gewissermaßen vor den Mauern eines Hauses Halt.31 Wahrscheinlich blieb deshalb sogar der Besitz verbotener Kleidung ungeahndet, solange sie nicht ‚offensichtlich‘ getragen wurde.32 Wenngleich Äußeres wie Inneres des ‚offenen‘ frühneuzeitlichen Hauses ein hohes Maß an Sichtbarkeit aufwiesen33, bewegte sich der häusliche Konsum nach Meinung der Zeitgenossen doch in einer anderen Sphäre als das Zurschautragen von Kleidern, das aufwendige Feiern oder das Verschenken luxuriöser Festgaben, auch wenn dies ebenfalls innerhalb der Häuser stattfand. Somit fehlte im Bereich des Wohnens das klare Koordinatensystem ständischer Einordnung, das die Aufwandsgesetze bereitstellten.34 Insofern bestand im und am Haus ein größerer Gestaltungsspielraum, der freilich nur dann ausgeschöpft werden konnte, wenn entsprechende Ressourcen zur Verfügung standen.
30 Howell, Commerce (wie Anm. 27), 212; Simon Schama, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter. München 1988, 336. 31 Das vermeintliche Braunschweiger ‚Farbedikt‘ von 1653 stellt keine Ausnahme von dieser Regel dar, denn es steht in der Tradition der Hochzeitsordnungen. Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, dass es keine Auswirkungen auf den Gesamtmöbelbestand hatte. Vgl. Ruth-Elisabeth Mohrmann, Alltagswelt im Land Braunschweig. Städtische und ländliche Wohnkultur vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Münster 1990, 105–111. Zu den Hochzeitsordnungen vgl. Anke Keller, Von verbotenen Feierfreuden. Hochzeits-, Tauf- und Begräbnisverordnungen im Frankfurt a. M. und Augsburg des 14. bis 16. Jahrhunderts. Heidelberg 2012, 120–123. 32 Eine Inspektion des in den Häusern aufbewahrten Kleiderbesitzes, wie sie 1401 in Bologna stattfand, war die Ausnahme. Vgl. Neithard Bulst, Kleidung als Konfliktstoff. Probleme kleidergesetzlicher Normierung im sozialen Gefüge, in: Saeculum 44, 1993, 32–46, hier 32 f. 33 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 34 So auch Fouquet, Annäherungen (wie Anm. 9), 464 f. Zum ‚Koordinatensystem‘ vgl. Martin Dinges, Von der ‚Lesbarkeit der Welt‘ zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Saeculum 44, 1993, 90–112.
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3 Raum- und Rangfolgen Die Vielgestaltigkeit europäischer Hausformen bringt es mit sich, dass das Raumgefüge städtischer Wohnungen von Region zu Region unterschiedlich war.35 Ob Häuser trauf- oder giebelständig errichtet wurden36, ob eine horizontale oder vertikale Erschließung überwog37, wirkte sich wesentlich auf die Raumaufteilung aus. Wie der Wohnraum frühneuzeitlicher Häuser strukturiert war, lässt sich allerdings nur in begrenztem Umfang rekonstruieren. Die dafür herangezogenen Inventare weisen, abgesehen von den Küchen, für die meisten Räumlichkeiten keine funktionsbezogenen Bezeichnungen auf, so dass eine Annäherung über die in den Räumen situierten Gegenstände erfolgen muss. Es ist davon auszugehen, dass eine multifunktionale Nutzung frühneuzeitlicher Wohnräume die gesamte Frühe Neuzeit hindurch gegenüber einem monofunktionalen Gebrauch überwog. Mit Blick auf die in den Häusern nachweisbaren Schlafstätten etwa lässt sich die These von einer kontinuierlich zunehmenden Separierung verschiedener Wohnbereiche kaum aufrechterhalten. Zwar hat Renata Ago in der auf bestimmte Räumlichkeiten beschränkten Aufstellung von Betten, Anrichten, Stühlen und Hockern im Rom des 17. Jahrhunderts ein klares Zeichen für „the functional distinction among spaces“38 gesehen. Doch zeichnen Beispiele aus Städten nördlich der Alpen ein anderes Bild: Betten wurden auch im 17. und 18. Jahrhundert noch in Stuben, auf Gängen oder sogar in der Küche aufgestellt.39 Oft erwecken Inventare auch den Anschein, dass ein relativ hoher Anteil von Räumlichkeiten in den oberen Stockwerken des Hauses gar nicht dafür eingerichtet
35 Zusammenfassend Ruth- Elisabeth Mohrmann, Wohnverhältnisse, städtische, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), 221−226. 36 Roland Beatens/Bruno Blondé, Wohnen in der Stadt. Aspekte der städtischen Wohnkultur, in: Jan van der Stock (Hrsg.), Stadtbilder in Flandern. Spuren bürgerlicher Kultur 1477–1787. Brüssel 1991, 59–70, hier 63 f.; Schama, Überfluss (wie Anm. 30), 336. 37 Renata Ago, Gusto for Things. A History of Objects in Seventeenth-century Rome. Chicago 2013, 66; Tara Hamling/Catherine Richardson, The ‚Material Renaissance‘ and the Middling Sort. Domestic Goods and the Practices of Everyday Life in Provincial English Urban Houses, Conference Paper EAUH 2012, 4. 38 Ago, Gusto for Things (wie Anm. 37), 67. 39 So auch Mohrmann, Wohnkultur (wie Anm. 2), 220. Vgl. Karin Leonhard, Das Innenleben eines Hauses. Bürgerliches Wohnen bei Johannes Vermeer, in: Caroline Emmelius (Hrsg.), Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2004, 179–194, hier 187; Uwe Meiners, Wandel von Wohnstrukturen und Wohnfunktionen in städtischen Haushalten vom 17. bis 19. Jahrhundert, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Sigmaringen 1987, 187–200, hier 195; Marie-Louise Pelus-Kaplan, Raumgefüge und Raumnutzung in Lübecker Häusern nach den Inventaren des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, in: Manfred Eickhölter/Rolf Hammel-Kiesow (Hrsg.), Ausstattungen Lübecker Wohnhäuser. Raumnutzungen, Malereien und Bücher im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Neumünster 1993, 11–40, hier 18.
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war, bewohnt zu werden, sondern dass hier – ebenso wie in Keller, Speicher, Hof und Diele – lediglich Hausrat, Rohstoffe, Nahrungsmittel, Handelsgüter oder sogar Gerümpel gelagert wurden.40 „Unkram“ und die nicht täglich benötigten Gegenstände bewahrte beispielsweise Meta Klopstock, Schriftstellerin und Ehefrau des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock, um die Mitte des 18. Jahrhunderts in einer Kammer im zweiten Stock ihres Kopenhagener Hauses auf, im danebenliegenden Zimmer lagerten „Fleisch, Äpfel, Kohl u dergleichen“.41 Dies führt nochmals vor Augen, dass das Innere eines frühneuzeitlichen Hauses nicht nur dem Wohnen, sondern – und dies in weitaus größerem Umfang – auch dem Wirtschaften diente. Der entscheidende Faktor für die Nutzung und Wertschätzung frühneuzeitlicher Wohnräume war ihre Beheizbarkeit.42 Heizquellen bzw. Feuerstellen waren ein so elementarer Bestandteil frühneuzeitlicher Häuser, dass sie auch unter den einfachsten städtischen Wohnverhältnissen vorhanden waren, dort allerdings – und dies offenbar auch noch am Ende der Frühen Neuzeit – oft innerhalb eines ungeteilten oder nur mit minimaler Aufteilung versehenen Wohnraums, der wahrscheinlich nicht immer eine separate Küche besaß.43 Dieser Bedeutung der Herdstelle als Nukleus des Hauses entsprach ihre rechtliche und symbolische Gleichsetzung mit der Haushaltung an sich.44 Wärme war von so zentraler Bedeutung45, dass in vielen Häusern Geräumigkeit, Frischluft und Helligkeit notgedrungen eine untergeordnete Rolle spielten.46 Geschätzt wurden sie, wie die zeitgenössische Architekturtheorie belegt, aber durchaus; ebenso wurde über Aussicht und Ruhe eines Zimmers nachgedacht. So rechnete der Ulmer Architekt Joseph Furttenbach um die Mitte des 17. Jahrhunderts unter die
40 Die Verfasserin dieses Beitrags erschließt in einem laufenden Projekt die erhaltenen Inventare des frühneuzeitlichen Frankfurt am Main. Ein Einzelnachweis dieser Quellen kann hier nicht erfolgen. 41 Meta Klopstock an ihre Schwestern, Kopenhagen, 29. 11. 1756, in: Meta Klopstock, Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden, Bd. 2, hrsg. von Hermann Tiemann. Hamburg 1956, 553–555, hier 553. 42 Roche, History (wie Anm. 11), 123–130; Raffaella Sarti, Europe at Home. Family and Material Culture, 1500–1800. New Haven 2002, 92 f. 43 Ago, Gusto (wie Anm. 37), 65–67; Almut Junker, Frankfurt um 1600. Alltagsleben in der Stadt. Frankfurt am Main 1976, 60; Kaspar, Unterschichtenwohnen (wie Anm. 15), 143; Pelus-Kaplan, Raumgefüge (wie Anm. 39), 17, 20; Walter Sage, Das Bürgerhaus in Frankfurt a. M. bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Tübingen 1959, 48. 44 Karl-S. Kramer, Dingbedeutsamkeit. Zur Geschichte des Begriffes und seines Inhalts, in: Hermann Maué (Hrsg.), Realität und Bedeutung der Dinge im zeitlichen Wandel. Werkstoffe – ihre Gestaltung und ihre Funktion. Nürnberg 1995, 22–32, hier 24; Sara Pennell, Pots and Pans. The Material Culture of the Kitchen in Early Modern England, in: Journ. of Design Hist. 11, 1998, 201–216, hier 202. 45 Sarti, Europe at Home (wie Anm. 42), 118. 46 Vgl. z. B. die Untersuchungen zu einem bis 1665 als Rauchhaus bestehenden Würzburger Metzgershaus bei Erhard Schulz, Das Handwerkerhaus in der Pleicherkirchgasse 16 und das bürgerliche Investitionsverhalten in Würzburg. Eine Rekonstruktion an Hand von Grabungs- und Architekturbefunden sowie von Baumaterialuntersuchungen, in: Ulrich Ante (Hrsg.), Würzburg und seine Region. Würzburg 2007, 21–59, hier 34 f.
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Vorteile einer zur Straße gelegenen Fensterfront, dass „man den Wandel der vorüber gehend: vnnd reisenden Personen gaudiren/ die Victualien und Viuers, herbey getragen/ vnd also dieselbige genieesen möge.“47 Die dem Garten zugewandten ruhigen Zimmer seien hingegen für Kranke und Gelehrte geeignet.48 Gemäß einem solchen an das frühneuzeitliche Wohnen angelegten normativen Raster standen die Stube bzw. vergleichbare Räume wie das englische parlour in der innerhäuslichen Hierarchie an herausgehobener Stelle.49 Während es in Westeuropa zumeist kaminbeheizte Zimmer waren, in denen sich das gesellige Leben konzentrierte, setzte sich im deutschsprachigen Raum eher die ofenbeheizte, holzisolierte Stube durch.50 Vergleichsweise hell, oft straßenseitig untergebracht und mit Aussichtsmöglichkeiten versehen51, aufwendig gestaltet und mit wertvollen Dingen bestückt, hoben sich diese Räume von den übrigen Zimmern des Hauses ab. Bis ins 18. Jahrhundert waren sie multifunktional, doch überwog gegenüber anderen Zonen des Hauses ihre Funktion als Ort der Geselligkeit, Unterhaltung und Muße.52 Auch wichtige, unter Zeugen abgeschlossene Rechtsgeschäfte wie das Testieren vollzogen sich hier.53 Dort, wo ausreichend Ressourcen für eine differenzierte Raumnutzung zur Verfügung standen, erfuhren auch solche Zimmer hohe Wertschätzung, in denen die
47 Furttenbach, Architectura privata (wie Anm. 18), unpag. (Inhalt, 3.). 48 Ebd. 49 Zur Stube vgl. zusammenfassend Mohrmann, Wohnkultur (wie Anm. 2), 214–219. 50 Ria Fabri, Bürgertum und Innenausstattung der Häuser, in: van der Stock (Hrsg.), Stadtbilder (wie Anm. 36), 127–140, hier 128; Hamling/Richardson, Material Renaissance (wie Anm. 37), 4 f.; Paula Hohti, Domestic Space and Identity. Artisans, Shopkeepers and Traders in Sixteenth-Century Siena, in: Urban Hist. 37, 2010, 372–385; Fred Kaspar, Bau- und Raumstrukturen städtischer Bauten als sozialgeschichtliche Quelle, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Sigmaringen 1987, 165–200, hier 176 f., 183; Leonhard, Innenleben (wie Anm. 39), 184; Meiners, Wandel (wie Anm. 39), 195 f.; ders., Wohnkultur in süddeutschen Kleinstädten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Soziale Unterschiede und Wertestrukturen, in: Günter Wiegelmann (Hrsg.), Nord-Süd-Unterschiede in der städtischen und ländlichen Kultur Mitteleuropas. Münster 1985, 157–221, hier 180–190; Mohrmann, Alltagswelt (wie Anm. 31), 359–361; Pelus-Kaplan, Raumgefüge (wie Anm. 39), 18–20; Schama, Überfluss (wie Anm. 30), 339. 51 Fouquet, Annäherungen (wie Anm. 9), 471 f.; Otto Lauffer, Der volkstümliche Wohnbau im alten Frankfurt a. M., in: Archiv für Frankfurts Gesch. und Kunst 10, 1910, 213–317, hier 294–296; Pelus-Kaplan, Raumgefüge (wie Anm. 39), 17; Wilhelm Schwemmer, Die Bürgerhäuser der Nürnberger Altstadt aus reichsstädtischer Zeit. Erhaltener Bestand der Sebalder Seite. Nürnberg 1961, 3. 52 Vgl. die Diagramme bei Ruth-Elisabeth Mohrmann, Städtische Wohnkultur in Nordwestdeutschland vom 17. bis zum 19. Jahrhundert (aufgrund von Inventaren), in: Wiegelmann (Hrsg.), Nord-SüdUnterschiede (wie Anm. 50), 89–155, hier 127–129. 53 Vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (im Folgenden: IfSG), Testamente, Kasten 3.
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– in aller Regel männlichen54 – Mitglieder des Haushalts einer geistigen Tätigkeit nachgingen.55 Studierstuben, Bibliotheken und Sammlungszimmer entfalteten in den Häusern der städtischen Eliten großes identifikatorisches Potential. Schriftliche Zeugnisse über solche Zimmer belegen nicht nur die Sorgfalt, mit der frühneuzeitliche Hausväter sie einrichteten, sondern bezeugen auch, dass sich diese Räume als literarische Orte konstituierten.56 Entsprechende ‚Frauenzimmer‘ gab es in den städtischen Häusern nicht. Selbst wenn Hausmütter über solche Räume verfügten, wie sie vielleicht in den Nürnberger Prang- oder Prunkküchen zu erkennen sind57, bestanden keine vergleichbaren Formen literarischer Individualisierung.
4 Wert und Bedeutung des Hausrats Die Rechtspraxis, Inventare aufzustellen, verweist bereits auf den hohen ökonomischen Stellenwert des Hausrats in der Frühen Neuzeit. Für viele Haushalte stellte die sog. Fahrhabe oft beträchtliches, wenn nicht sogar das einzige Vermögen dar.58 Bei Bedarf wurden Teile davon vermietet, verpfändet oder verkauft59, bzw. – beispielsweise um unmündige Hinterbliebene zu versorgen oder Gläubiger zu befriedigen – durch eine Versteigerung auf dem Gebrauchtwarenmarkt zu Geld gemacht. Verschiedene Studien haben übereinstimmend darauf hingewiesen, dass das größte
54 Bürgerliche Sammlerinnen wie die von Quiccheberg erwähnte Augsburger Patrizierin Marina Pfister dürften die Ausnahme gewesen sein. Vgl. Harriet Roth (Hrsg.), Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat ‚Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi‘ von Samuel Quiccheberg. Berlin 2000, 198. 55 Vgl. Gadi Algazi, Scholars in Households. Refiguring the Learned Habitus, 1480–1550, in: Science in Context 16, 2003, 9–42, hier 25–30; Sabine Söll-Tauchert/Raphael Beuing/Burkard von Roda (Hrsg.), Die grosse Kunstkammer. Bürgerliche Sammler und Sammlungen in Basel. Basel 2011; Julia A. Schmidt-Funke, Buchgeschichte als Konsumgeschichte. Überlegungen zu Buchbesitz und Lektüre in Deutschland und Frankreich um 1800, in: Hanno Schmitt u. a. (Hrsg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung. Bremen 2011, 259–279, hier 274–279. 56 Antje Wittstock, Von eim Kemergin − minem studorio. Zur Darstellung von ‚Denkräumen‘ in humanistischer Literatur, in: Elisabeth Vavra (Hrsg.), Imaginäre Räume. Sektion B des internationalen Kongresses ‚Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter‘, Krems an der Donau, 24. – 26. März 2003. Wien 2007, 133–154. 57 Joannis ab Indagine, Wahre und Grund haltende Beschreibung der heutiges Tages weltberühmten Des Heiligen Römischen Reichs Freyen Stadt Nürnberg […]. Erfurt 1750, 852. 58 Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts. Göttingen 1993, 233–252. 59 Am Beispiel der ‚Gerade‘ nachgewiesen bei Karin Gottschalk, Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig. Frankfurt am Main 2003, 116–119.
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Kapital dabei zumeist in Kleidung, Wäsche, Wohntextilien und Bettzeug bestand60, denn Schmuck und Gerätschaften aus Edelmetall waren nicht immer oder nur in weniger wertvoller Ausführung vorhanden. Der Frankfurter Konstabler Johann Bohl und seine Frau Elisabetha beispielsweise hinterließen 1661 ein Haus im Wert von 520 Gulden, während ihre – noch nicht einmal vollständig versteigerte – Fahrhabe einen Erlös von über 592 Gulden einbrachte. Da die Pretiosen in Taufgeschenken der Kinder bestanden und als solche von der Versteigerung ausgenommen blieben, war das kostbarste Stück neben den Betten eine Kopfbedeckung aus Otterpelz.61 Die Eheleute Bohl gehörten dabei keineswegs zu den Mittellosen. Zu diesen zählte noch nicht einmal jemand wie der verwitwete Bender Johann Klinger, der in einer Zinsbehausung wohnte, Hausrat im Wert von lediglich 39 Gulden und erhebliche Schulden bei seinem Vermieter hinterließ.62 Es ist notwendig, sich die begrenzte Ausstattung solcher Haushalte vor Augen zu führen, um den Besitz der Wohlhabenden als jene Fülle wahrnehmen zu können, die sie für die Zeitgenossen darstellte. In welch bescheidenen Verhältnissen Klinger lebte, lässt sich an der Gesamtzahl aller von ihm besessenen Dinge ablesen: Klinger besaß rund 90 Stück Hausrat an alten Betten, Möbeln, Wäsche und Geschirr, dazu 27 Pfund Zinn sowie seine bürgerliche Rüstung und Waffen. Doch auch damit war noch nicht das unterste Ende der Skala erreicht (wie ja auch der verbürgerte Handwerker keineswegs in der sozialen Hierarchie an unterster Stelle stand), denn Klinger gehörten trotz seiner relativen Mittellosigkeit auch Dinge, die mehr als nur die elementarsten Bedürfnisse stillten: Er konnte zwei Lehnstühle aus Tannenholz, eine alte Nählade mit Intarsien und ein Handfassbrett sein Eigen nennen, außerdem drei Brottücher und zwei Servietten mit Bildschmuck sowie zwei große Krüge mit Zinndeckel.63 Das genannte Handfassbrett war gleichsam die Minimalvariante der in weiten Teilen Europas verbreiteten Kredenz, auf der – wer immer es sich leisten konnte – ausstellte, was er an Handwaschgerät, Trinkgeschirr oder anderen Schmuckstücken besaß. Allerdings greift es zu kurz, in diesem Gegenstand lediglich den Beleg für einen an höheren sozialen Schichten orientierten Lebensstil zu sehen. Eine eingehende Analyse des Aufstellungs- und Nutzungszusammenhangs macht vielmehr klar64, dass im Umgang mit diesem Objekt urbane Kultiviertheit aufgeführt und die Integration in die städtische Wertegemeinschaft bezeugt werden konnte. In Gegenständen wie den Spiegeln, die sich im Leipzig des 18. Jahrhunderts auch noch in den mittellosesten Bürgerhaushalten fanden, lassen sich Dinge mit vergleichbarer sozia-
60 Vgl. u. a. Groebner, Ökonomie (wie Anm. 58), 246–252; Meiners, Wohnkultur (wie Anm. 50), 177. 61 IfSG, Allgemeiner Almosenkasten: Bücher, 1149, Nr. 1–3. 62 IfSG, Kuratelamt Akten, Nr. 342. 63 Ebd. 64 Julia A. Schmidt-Funke, Handfass und Hirschgeweih. Zum Umgang mit den Dingen im Kontext frühneuzeitlichen Wohnens, in: Schweizerisches Jb. für Wirtschafts- und Sozialgesch. 28, 2014, 115– 141, hier 121–129.
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ler Funktion erkennen.65 Insofern verweisen die Habseligkeiten eines unvermögenden Stadtbewohners wie Klinger mindestens ebenso sehr auf die Gemeinsamkeiten, die das Wohnen der städtischen Bevölkerung über Stände, Vermögensunterschiede, Konfessions- bzw. Religionsgrenzen hinweg auszeichneten, wie auf die Unterschiede, die in der hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft bestanden. Klinger besaß zweifellos einen Grundstock an necessities im Smith’schen Sinn, d. h. einen kulturell variablen Bestand an unentbehrlichen Dingen, der eine schickliche Lebensführung ermöglichte.66 Dass es festgefügte Vorstellungen von der geziemenden Ausstattung eines Haushalts gab, die sich nicht im hauswirtschaftlich unbedingt Erforderlichen erschöpfte, belegen die von der Forschung bereits verschiedentlich herangezogenen Gedichte vom Hausrat, die im 15. und 16. Jahrhundert im oberdeutschen Raum entstanden. Bis auf eine Ausnahme richteten sich diese Texte, darunter Dichtungen der Nürnberger Meistersinger Hans Folz und Hans Sachs, an junge, vor der Eheschließung stehende Männer.67 Eine ähnliche Aufstellung notwendiger Dinge beinhaltete ein 1624 erschienener, an junge Augsburger Patriziertöchter gerichteter Vordruck eines Ausgabenbuchs, der gleichzeitig als orthographisches Lehrwerk dienen sollte.68 Aus solchen Publikationen resultierte schon weit vor den Modejournalen des 18. Jahrhunderts eine medial geleitete Homogenisierung der Wohnausstattung, von der Gemälde, Holzschnitte und Kupferstiche – beispielsweise im Motiv der Tischzucht69 – auch einen bildlichen Eindruck vermittelten. Aus solchen schriftlichen und bildlichen Darstellungen lässt sich ersehen, dass die geziemende Ausstattung eines Haushalts dem Ausweis häuslicher Tugenden diente. Nicht nur ein paar Schüsseln und Töpfe, wie es Hans Sachs seinen jungen Heißsporn vermuten ließ70, sondern ein definiertes Repertoire an Objekten ermöglichte es Hausvater und Hausmutter, den ihnen obliegenden Pflichten nachzukom-
65 Vgl. Holtkötter, Ausstattung (wie Anm. 15), 96 f. 66 Die berühmte Passage lautet: „Konsumgüter sind entweder lebensnotwendige oder Luxusgüter. Unter lebensnotwendigen Gütern [necessities] verstehe ich nicht nur für den Lebensunterhalt unentbehrliche Güter, sondern alles, ohne das achtbare Leute selbst der untersten Schichten nach der Landessitte schicklicherweise nicht auskommen können.“ Vgl. Adam Smith, Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, hrsg. von Erich W. Streissler. Tübingen 2005, 828. 67 Vgl. Theodor Hampe (Hrsg.), Gedichte vom Hausrat aus dem XV. und XVI. Jahrhundert. In Facsimiledruck herausgegeben. Straßburg 1899. 68 Caspar Augustin, Haußgärtlein. Das ist/ Kurtze Beschreibung allerhand notwendigster sachen/ besst möglich/ so in die Haußhaltung gebraucht vnd erkaufft werden. Den Frawen vnd Junckfrawen zu sondernm nutzen vnd lieb zusamen colligiert/ vnd in Truck verfertiget. Augsburg 1624. 69 Kristina Bake, ‚Spiegel einer christlichen und friedsamen Haußhaltung‘. Die Ehe in der populären Druckgraphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Wiesbaden, 95–104. 70 Hans Sachs, Spruchgedicht ‚Der gantz Hawsrat‘ (1544), in: Hampe (Hrsg.), Gedichte (wie Anm. 67), Anhang II, 2: „Er sprach wen man zwo schüesel hat/ Vnd ainen löffel oder drey/ Ein hafen oder vir darpey/ Des kann man sich gar lang petragen.“
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men: „Es ghört viel hausratz zum haushalten/ Wiltw es anderst recht verwalten.“71 Hochzeitsgeschenke und eingebrachtes Gut zielten – teilweise auch nur in symbolischer Form – darauf ab, einen Grundstock solcher Gegenstände zusammenzustellen, der für das Ansehen des Haushalts ebenso wichtig war wie für seine (haus-)wirtschaftlichen Belange. Die Habseligkeiten galt es zudem in gutem Zustand zu halten, denn auch an der Beschaffenheit des Hausrats konnte die Sittlichkeit seiner Bewohner abgelesen werden. Jeder Gegenstand, so riet Leon Battista Alberti schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts, müsse einen festen Aufbewahrungsort im Haus haben, und es zähle zu den Pflichten der Hausmutter, „jeden Tag mehrere Male von oben bis unten das ganze Haus zu besichtigen“.72 Die deutsche Hausväterliteratur des 17. Jahrhunderts formulierte dann in symptomatischer Zuspitzung auf die Hausmutter: „Die Reinlichkeit des Hauses/ und allen darinnen befindlichen Zubehörungen: Ingleichen der Gefäß/ und sonderlich was zur Speise gebrauchet: Item des weissen Wäsch-Gezeiches/ lässet sich eine Haußmutter dergestalt angelegen seyn/ daß sie von iederman gerühmet/ und ihr nicht nachgesaget werde/ das ist eine nachläßige schlammige [sic] Frau/ welches denn schimpffliche Verachtung giebet: […].“73 Zu den häuslichen Dingen, die als geschlechtsgebundene Chiffre für das normgerechte Verhalten seiner Besitzer standen, zählten neben der Weißwäsche oder dem blank gescheuerten Geschirr auch die Utensilien und Erzeugnisse textiler Handarbeit74 oder die aufgrund stadtbürgerlicher Wehrpflicht vorgehaltenen Waffen.75 Ein großer Teil des frühneuzeitlichen Hausrats erhielt zusätzliche Bedeutung dadurch, dass er im buchstäblichen Sinn ausgezeichnet war. Hauszeichen, Wappen, Inschriften, Embleme und allegorische Bildprogramme an Fassaden, Stuckdecken und Fenstern, auf Prunkbechern und Fayencen, Kissenbezügen und Teppichen, Armsesseln und Anrichten, Gemälden und Bucheinbänden stellten Beziehungen zwischen den Objekten und ihren Betrachtern bzw. Benutzern her.76 Im ‚offenen Haus‘
71 Ebd. 72 Leon Battista Alberti, Vom Hauswesen (Della Famiglia). München 1986, 304. Da Albertis Schrift erst im 19. Jahrhundert gedruckt wurde, ist ihr Einfluss auf die Hausväterliteratur umstritten. Die hier zitierte Passage entstammt allerdings dem dritten Buch („Oeconomicus“), das in Form von Handschriften und Zusammenfassungen zirkulierte. Vgl. Judith Ravenscroft, The Third Book of Alberti’s ‚Della Famiglia‘ and Its Two ‚Rifacimenti‘, in: Italian stud. 29, 1974, 45−53. 73 Christoph Heringen, Oeconomischer Wegweiser […]. Jena 1680, 112. 74 Vgl. Cornelia Niekus Moore, Books, Spindles and the Devil’s Bench or What is the Point in Needlepoint?, in: Martin Bircher/Jörg-Ulrich Fechner/Gerd Hillen (Hrsg.), Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Amsterdam 1984, 319–328. 75 Beverly Ann Tlusty, The Martial Ethic in Early Modern Germany. Civic Duty and the Right of Arms. Basingstoke 2011, 133–165. 76 Wolfgang Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen. Hausmarken und Wappen in den Tagebüchern des Kölner Chronisten Hermann Weinsberg, in: Karin Czaja/Gabriela Signori (Hrsg.), Häuser, Namen, Identitäten. Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. Konstanz
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der Frühen Neuzeit wurden solche Gegenstände von Bewohnern und Besuchern ausgedeutet, mit dem eigenen Wissen verknüpft und in Bezug zu ihrem jeweiligen Eigentümer gesetzt.77 Ihre Wirkung entfalteten solche ‚ausgezeichneten‘ Gegenstände oft im Rahmen geselliger Praktiken.78 Wohlhabende Frankfurter Bürger des frühen 16. Jahrhunderts beispielsweise schätzten ihre Kuchelsteine, in Schiefer geschnittene Kuchenmodel mit allegorischem Figurenschmuck.79 Wurde Gebäck mit den teils christlichen, teils profanen und mitunter anzüglichen Motiven verziert, lud es beim geselligen Beisammensein dazu ein, die dargestellten Szenen zu interpretieren. Ein Satz Silberbecher, den der Nürnberger Barbier und Wundarzt Conrad Schortz 1621 anfertigen und mit einer Reihe von Emblemen gravieren ließ, zeugt von der Praxis, kostbares Trinkgeschirr nicht nur zu leeren, sondern auch zu deuten.80 Selbstzeugnisse belegen, dass wappengeschmückte Prunkbecher in böhmischen Adelskreisen den Gästen eines Mahls dazu dienten, kenntnisreich die mit dem Wappen verbundene Familie zu ehren.81 Von solchem wappengeschmückten Silbergeschirr häufte vornehmlich das städtische Patriziat große Mengen an. Diese Objekte, mit denen im Zuge geselliger Praktiken die familiäre Memoria gepflegt und die Anciennität inszeniert werden konnte, standen in Frankfurt am Main sogar unter dem Schutz des Stadtrechts: Wurde zugunsten eines Mündels der elterliche Besitz veräußert, war das Familiensilber vom Verkauf ausgeschlossen.82 Inwieweit die verstärkte Einbindung von Objekten in gesellige Praktiken ein Signum frühneuzeitlichen Wohnens war und eine Abkehr von älteren Praktiken der Thesaurierung darstellte, ist nicht ganz klar. Sie steht auf jeden Fall im Kontrast zu den Empfehlungen Albertis, der dazu riet, „die Wertsachen, das Silberzeug, die Gobelins, die Gewänder, die Edelsteine“ im geschlossenen Schlafraum des Hausvaters aufzubewahren, „wo sie sicher vor Feuer und jedem anderen Unglücksfall aufbewahrt
2009, 43–64; Gerhard F. Strasser/Mara R. Wade (Hrsg.), Die Domänen des Emblems. Außerliterarische Anwendungen der Emblematik. Wiesbaden 2004. 77 Zur Diskussion um die sprechenden Dinge vgl. u. a. Lorraine Daston (Hrsg.), Things That Talk. New York 2004; Ruth-Elisabeth Mohrmann, Können Dinge sprechen?, in: Rheinisch-Westfälische Zs. für Volkskunde 56, 2011, 9–24. 78 Vgl. dazu Gabriele Jancke, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten. Göttingen 2013, 317−394. 79 Vgl. u. a. Andreas Hansert (Hrsg.), Aus Auffrichtiger Lieb vor Franckfurt. Patriziat im alten Frankfurt. Frankfurt am Main 2000, 94; Walther Karl Zülch, Frankfurter Künstler 1223–1700. Frankfurt am Main 1935, 269 f. 80 Carsten-Peter Warncke, Allegorese als Gesellschaftsspiel. Erörternde Embleme auf dem Satz Nürnberger Silberbecher aus dem Jahre 1621, in: Anz. des Germanischen Nationalmuseums, 1982, 43–62. 81 Václav Bůžek, Wertgegenstände als Medien zur Inszenierung des sozialen Status im bürgerlichen und adeligen Milieu zu Beginn der Neuzeit, in: Elisabeth Vavra (Hrsg.), Vom Umgang mit Schätzen. Internationaler Kongress, Krems an der Donau, 28. bis 30. Oktober 2004. Wien 2007, 269–287. 82 Frankfurter Erneuerte Reformation von 1578, 7, IIII, § XIII.
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würden“ und wo der Hausvater „jederzeit nach Belieben, um nach den Dingen zu sehen, allein“ oder mit wem ihm gut erschiene, sich einschließen könne.83 Für sienesische Handwerkerhaushalte des 16. Jahrhunderts hat Paula Hohti anhand von Inventaren interessanterweise ein Abweichen von dieser Aufbewahrungsform festgestellt, indem die wertvollen Teile des Hausrats gerade in den zugänglichen Bereichen des Hauses aufgestellt wurden.84 Wie sich in frühneuzeitlichen Reiseberichten nachlesen lässt, war es üblich, Besonderheiten der Wohnausstattung herzuzeigen bzw. vorzuführen. Natürlich galt dies für die bürgerlichen Kunst- und Kuriositätenkabinette; aber auch außergewöhnliche technische Anlagen wie beispielsweise die Heizung im Haus der Frankfurter Kaufleute Neufville wurden Besuchern demonstriert.85 Die im Haus aufbewahrten Dinge dienten als Studienobjekte oder Gegenstände des Vergnügens, an sie knüpfte sich das kenntnisreiche oder unterhaltsame Gespräch von Gastgebern und Gästen.86 Die innerhalb der häuslichen Sphäre zur Schau gestellten Gegenstände waren also keine stummen Zeichenträger, die ein Besucher des Hauses in stiller Anschauung entziffern (oder eben auch ignorieren) konnte, sondern Dinge, über die man – und wenn man so will: mit denen man – ins Gespräch kam.
5 Resümee Städtische Wohnkulturen im Europa der Frühen Neuzeit entfalteten sich unter den spezifischen Bedingungen der Stadt im Spannungsfeld zwischen Homogenität und Heterogenität, Kohäsion und Distinktion, Tradition und Innovation. Das städtische Gefüge beeinflusste die materielle Kultur des Hauses in mehrfacher Hinsicht, doch blieb die Ausgestaltung der Wohnräume frei von reglementierenden Eingriffen der städtischen Obrigkeiten. Insofern bestand, verglichen mit anderen Formen des Konsums, am und im Haus ein relativ großer Gestaltungsfreiraum. Eine zielgerichtete Ausstattung des Hauses bzw. des Wohnraums hing zwar von den materiellen Ressourcen seiner Bewohner ab, war aber kein ausschließliches Elitenphänomen. Selbst Inventare vergleichsweise mittelloser Haushalte zeugen von dem Bestreben, zentrale
83 Alberti, Vom Hauswesen (wie Anm. 72), 283; vgl. Gisela Ecker, Leon Battista Alberti. Ordnungen des Hauses, des Sehens und der Geschlechter, in: Heide Wunder/Gisela Engel, (Hrsg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Königstein, Ts. 1998, 348–357, hier 353. 84 Hohti, Domestic Space (wie Anm. 50), 375. 85 Balthasar de Monconys, Iovrnal Des Voyages, Bd. 2 : Voyage d’Angleterre, Païs-Bas, Allemagne, & Italie. Lyon 1666, 278. 86 Vgl. Kim Siebenhüner, Entwerfen, Modelle bauen, ausstellen. Joseph Furttenbach und seine Rüstund Kunstkammer, in: Kaspar von Greyerz u. a. (Hrsg.), Joseph Furttenbach. Lebenslauff 1652–1664. Köln 2013, 45–65; Barbara Wetzel, Galerien und Kunstkabinette als Orte des Gesprächs, in: Wolfgang Adam (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Wiesbaden 1997, 495–504.
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Gegenstände einer als geziemend empfundenen Hausausstattung zu besitzen. In wohlhabenden Haushalten wurde einzelnen Dingen, oftmals mittels einer aufwendigen Gestaltung, eine besondere Bedeutung zugewiesen. Solche besonderen Objekte konnten im Rahmen geselliger Praktiken ‚zum Sprechen‘ gebracht werden.
Christiane Holm
Bürgerliche Wohnkultur im 19. Jahrhundert Versuche, die europäische Wohnkultur des langen 19. Jahrhunderts als Epoche zu profilieren, setzen zumeist bei der kulturprägenden Rolle des Bürgertums sowie beim veränderten Stellenwert der materiellen Kultur an. Die kulturwissenschaftlichen Topoi vom „Jahrhundert der Dinge“ oder vom „Jahrhundert des Interieurs“ gründen nicht allein auf dem statistischen Befund einer exponentiell wachsenden Zahl von Dingen in den Haushalten, sondern auch auf der Beobachtung neuartiger Aneignungsweisen.1 Sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Untersuchungen notieren eine im 18. Jahrhundert einsetzende Veränderung im Wohnverhalten unter den Bedingungen bürgerlicher Erwerbsarbeit und Konsumkultur als geordneten Rückzug in das Familienleben.2 Entsprechend lässt sich in Architekturtheorien sowie in bildnerischen und literarischen Darstellungen eine Wahrnehmungsverschiebung vom Haus zum Wohnen, vom sichtbaren Baukörper zu dessen den Blicken entzogenem Innenleben ausmachen. Dieser Aspekt wird sowohl auf der Ebene der Wohnpraktiken als auch mit Blick auf die sie begleitenden wissenschaftlichen und ästhetischen Reflexionen von der interdisziplinären Forschung als interiorization bzw. interiority oder „Innenräumlichkeit“ bezeichnet.3 Und nicht zufällig wurde das volkskundliche Konzept des „ganzen Hauses“ Mitte des 19. Jahrhunderts explizit gegen diese in allen europäischen Großstädten beobachtbare Privilegierung des Innenraums in Stellung gebracht, um die moderne Tendenz der Vereinzelung der bürgerlichen Bewohner in ihren überfüllten Interieurs mit dem Ideal einer vermeintlich vormodern-ländlichen Lebensform zu korrigieren.4 Das lange 19. Jahrhundert als eigenständige Epoche der Wohnkultur zu bestimmen, ist gerade mit Blick auf ihr Ende gut zu plausibilisieren, denn die Konzeptionen des ‚Neuen Bauens‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts definierten sich explizit über den
1 Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek 2006, 17; Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmungen im 19. Jahrhundert. Weimar 2002, 86. 2 Stellvertretend seien genannt: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997; Clive Edwards, Turning Houses into Homes. A History of the Retailing and Consumption of Domestic Furnishings. Aldeshot 2005; Stefan Muthesius, The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior. London 2009. 3 Sharon Marcus, Apartment Stories. City and Home in Nineteenth-Century Paris and London. Berkeley 1999, 135–165; Muthesius, Poetic Home (wie Anm. 2), 314–316; Beate Söntgen, Interieur und Zimmerbild. Zur bürgerlichen Darstellungskultur, in: Christiane Holm/Heinrich Dilly (Hrsg.), Innenseiten des Gartenreichs. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich. Halle (Saale) 2011, 18–33, hier 20–23. 4 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. 3. Aufl. Stuttgart 1861, 177–202.
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Bruch mit dem „wohnsüchtig[en]“ Jahrhundert5, konkret mit der Dingdichte in den Interieurs sowie der wahrnehmungsästhetischen Abkoppelung der Innenräume vom Baukörper.6 Weniger programmatisch formuliert sind die Einsatzpunkte der Interieurisierung, die sich bereits im 18. Jahrhundert beobachten lassen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass eine „passion for privacy“ mit ihren sozial- und baugeschichtlichen Voraussetzungen und Effekten bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts in den Londoner terrace houses Raum erhielt7, ein Vorsprung, an dem sich die deutschsprachigen Einrichtungstheoretiker wie -praktiker des 19. Jahrhunderts orientierten.8 Denn in den englischen Reihenhäusern fand sich die zur bürgerlichen Norm gewordene Raumordnung bereits realisiert: Vergleichsweise schmucklose, mitunter sogar wehrhafte Fassaden betonten die Trennung von Außen- und Innenraum, Herrschaft und Personal wurden durch verschiedene Zugänge separiert, der Wohnbereich der Familie war in weibliche und männliche sowie in Eltern- und Kinderräume gegliedert. Diese funktionale Ausdifferenzierung im Hausinneren nahm dem Wohnen seine Selbstverständlichkeit und erforderte wie ermöglichte neue Formen seiner Beobachtung und Reflexion. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert zeichnet sich europaweit ein Diskursivierungsschub ab, der das Wohnen als voraussetzungsreiche Kulturpraxis theoriefähig macht. Das bezeugt nicht allein die anhebende Konjunktur von Einrichtungsratgebern, die eine Beschreibungssprache für Interieurs entwickelten, sondern ebenso literarische Gattungsinnovationen, etwa die französische Zimmerreise oder die leitmotivische Thematisierung des Wohnens im deutschen Bildungsroman.9 Auch in der bildenden Kunst etablierte sich um 1800 eine neue Bildgattung des Wohnens: Das Zimmerporträt präsentiert den Bewohner nicht inmitten seiner geordneten Einrichtung, sondern es charakterisiert den abwesenden Bewohner durch seinen – zumeist unaufgeräumten – Innenraum.10 Diese Umstellung des Interieurs vom Repräsentations- zum Identitätsmedium gründete auf der Physiognomik, die die Wohneinrichtung analog zur Kleidung als kulturell verfasste, individuell modifizierte und leiblich modellierte Ausdrucksform der Person begriff.11
5 Walter Benjamin, Das Passagenwerk. Das Interieur, zit. nach Adelheid von Saldern, Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens (wie Anm. 2), 145–332, hier 151. 6 Vgl. den Beitrag von Susann Buttolo in diesem Band. 7 Christoph Heyl, A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London. 1660–1800. München 2004. 8 Jacob von Falke, Das englische Haus, in: ders., Zur Cultur und Kunst. Wien 1878, 3–70; Donald J. Olsen, Die Stadt als Kunstwerk. London 1988, 134–147. 9 Norbert Wichard, Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter. Bielefeld 2012. 10 Donat de Chapeaurouge, Das Milieu als Porträt, in: Wallraff-Richartz-Jb. 22, 1960, 137–158. 11 Hans-Georg von Arburg, Seelengehäuse. Das Raumproblem im physiognomischen Diskurs vom ausgehenden 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert, in: Paul Michel (Hrsg.), Symbolik von Ort und Raum. Bern 1997, 33–69.
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Festzuhalten ist, dass die bürgerliche Wohnkultur des langen 19. Jahrhunderts epochal zwischen der Diskursivierung des Wohnens im ausgehenden 18. und dem ‚Neuen Bauen‘ im frühen 20. Jahrhundert positioniert werden kann. Im Folgenden geht es nicht darum, einen exemplarischen Querschnitt durch die materielle Kultur der europäischen Bürgerhäuser zu ziehen, vielmehr erfolgt – freilich um den Preis der Ausblendung großer, von der longue durée regionaler Spezifika geprägter Bereiche – eine Fokussierung auf die Wohnungen der Großstädte, da hier die Koppelung von übergreifenden Wohndiskursen und konkreten Einrichtungsobjekten in markanter, oft auch normbildender Ausprägung beobachtbar ist. Der erste Teil setzt bei einem neuartigen Präsentationsformat der materiellen Wohnkultur an, das sich europaweit ab Mitte des 19. Jahrhunderts findet: Musterhäuser und Hausmuseen stellen gerade das aus, was als Rückzugsraum unzugänglich geworden ist. Der zweite Teil widmet sich den bevorzugten Haustypen – dem Einfamilienhaus und dem luxuriösen Stadtpalais oder schlichteren Mietshaus –, wobei mit Rekurs auf das Konzept des „offenen Hauses“12 gerade die soziale Durchlässigkeit (Salon und Hintertreppe) sowie die haustechnischen Öffnungen (Wasser-, Luft- und Lichtversorgung) einbezogen werden. Der dritte Teil befasst sich mit der Inneneinrichtung und geht den komplexen Anforderungen an die Raumgestaltung nach, in der es kulturelle Kompetenz, konkret die reflektierte Teilhabe an Wohnwaren wie Wohnwissen, als auch Individualität zu behaupten galt.
1 Präsentationsformate des Wohnens: Musterhäuser und Hausmuseen War das Wohnen als Kulturpraxis im ausgehenden 18. Jahrhundert in innovativen Text- und Bildmedien beobachtbar gemacht worden, so wurde es im beginnenden 19. Jahrhunderts in begehbaren Schauräumen und Musterhäusern in neuer Weise erlebbar. Solche Arrangements der materiellen Wohnkultur konnten sowohl in der Verkaufsrhetorik als auch in kulturwissenschaftlichen Studien den Status von Argumenten erhalten. Schon die englischen (Innen-)Architekten und Sammler Thomas Hope (1769‒1831) und John Soane (1753‒1837) öffneten ihre Londoner Wohnungen zur plastischen Plausibilisierung ihrer Studien. Beide legten ihre Einrichtungstraktate in Form von reich illustrierten Hausführern vor und sowohl in Hopes 1807 gedrucktem „Household Furniture and Interior Decoration“ als auch in Soanes 1830 erschienener „Description of the House and Museum“ werden die Leser ausdrücklich instruiert, dass und wann sie sich in den Privathäusern einfinden und von den vertretenen Posi-
12 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664, hier 648–655.
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tionen überzeugen können. Mit vergleichbaren, jedoch historiographisch motivierten Argumenten öffnete der Privatier Alexandre Du Sommerard (1779‒1842) den interessierten Lesern seiner von 1838 bis 1846 erschienenen fünfbändigen Studie „Les Arts au Moyen Ȃge“ seine Pariser Mietwohnung im Hôtel de Cluny, in der er seine Sammlung mittelalterlicher Einrichtungs- und Alltagsgegenstände zu verschiedenen Interieurs arrangiert hatte.13 Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte findet sich das kommerzielle Pendant dieses Präsentationsformats in den Londoner Möbelkaufhäusern in Form von Musterzimmern.14 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts boten die Weltausstellungen in ihrer Verkoppelung von Waren- und Wissenstransfer ein Forum nicht allein für die Anbahnung europäischer Wohnmoden, sondern auch für die Aushandlung technischer, ästhetischer oder sozialer Normierungen wie auch ethno- und historiographischer Deutungshorizonte der Wohnkultur. Während die ersten komplett eingerichteten Musterinterieurs der Londoner Weltausstellung von 1851 auf die Möbelpräsentation der Wiener Fabrik Leitler zielte, fand sich auf der Pariser Weltausstellung von 1889 eine historistisch eingerichtete niederländische Küche für die Verkostung von Kakao der Traditionsmarke van Houten. Folglich sollte der Erlebniswert des Interieurs nicht nur die Ansicht einzelner Einrichtungswaren optimieren, sondern die sinnliche Wahrnehmung generell disponieren. Vergleichbare Ansätze finden sich in populären Ausstellungen zur Vermittlung historischen und ethnographischen Wissens.15 Als besondere Attraktion der Wiener Weltausstellung von 1873 wurden 200 europäische Bauernhäuser aufgebaut, die für die Dauer der Ausstellung von Landsleuten bewohnt und vorgeführt wurden. Dieses Schauwohnen markiert eine neue Qualität in der Ausstellung von Wohnräumen, da die Einrichtung mit spezifischen Praktiken der Aneignung zusammen gedacht wurde. War das ethnographische Dorf im Prater auf Europa beschränkt, so zeigte die Pariser Weltausstellung von 1889 eine vom Architekten Charles Garnier (1825‒1898) konzipierte und später in Buchform dokumentierte „Histoire de l’habitation humaine“ in 44 Häusern von der Steinzeithöhle über die Vitruvianische Urhütte und die Bauformen der Kolonien bis zur Gegenwart (Abb. 1). Bereits die erste Weltausstellung in London bildete ein Forum für ein folgenreiches Präsentationsformat der materiellen Wohnkultur, das das wachsende Wissen über die Wohnung als Ort der Formation kultureller Identität sozialpolitisch perspektivierte: Das Prince Albert Model House von Henry Roberts, ein 12 Meter langes, zweigeschossiges Haus für vier Arbeiterfamilien, war programmatisch neben dem Kristallpalast positioniert.16 Das kostengünstige Musterhaus war aus maschinell erstellten Hohlziegeln erbaut und komprimierte auf engstem Raum das bürgerliche Wohnideal
13 Alice von Plato, Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2001, 63–96. 14 Muthesius, Poetic Home (wie Anm. 2), 50–53; Edwards, Turning Houses (wie Anm. 2), 108–113. 15 Plato, Präsentierte Geschichte (wie Anm. 13). 16 Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt am Main 1999, 46.
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Abb. 1: Charles Garniers Architekturgeschichte in Modellhäusern auf der Pariser Weltausstellung von 1889.
einer abgeschlossenen Sphäre bei funktionaler Binnendifferenzierung in living room, Eltern- und Kinderschlafzimmer, Küche und Toilette. Damit stellte es einen Gegenentwurf zur Lebensrealität der Lohnarbeiter-Familien in Ein- oder Zweiraumwohnungen dar, die bei steigender Kinderzahl gezwungen waren, die verfügbaren Betten zusätzlich an Schlafgänger unterzuvermieten.17 Das kleine und kostengünstige Einfamilienhaus wurde durch die Sittlichkeits- und Hygienediskurse als sozialpolitisches Argu-
17 Vgl. den Beitrag von Bärbel Kuhn in diesem Band.
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ment aufgebaut und sollte bürgerliche Wohnkonventionen als ständeübergreifende Norm plausibilisieren. Die warenästhetisch, historio- und ethnographisch sowie sozialpolitisch motivierten Zeigeformate der materiellen Einrichtung des Wohnens reflektierten diese als Formation überindividueller kultureller Identität. Parallel dazu entwickelte sich allerdings ein neuer Museumstyp, der die individuelle Aneignung der verfügbaren Muster exponierte. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts resümierte ein goethezeitlicher Reiseroman, „[d]ie Wohnung des Menschen sei sein Denkmal, ein schöneres kenne ich nicht.“18 Und im Jahr 1823, Goethe ist über 70 und Schiller, Herder und Wieland leben schon lange nicht mehr, veröffentlicht das vor Ort verlegte, europaweit abonnierte „Journal des Luxus und der Moden“ Ansichten von den – weit vor deren Zeit erbauten – Stadthäusern der vier Weimarer Klassiker. Ergänzt werden die Kupferstiche von Sonetten, welche auf das dem Blick entzogene Innere und dabei auf die Metaphorik des Körpers als Wohnung der Seele anspielen. Als der schottische Übersetzer und Philologe Thomas Carlyle (1795‒1881) zwei Jahre später sein Buch „The Life of Friedrich Schiller“ an Goethe übersandte, bat dieser ihn umgehend um ein Bild seines Wohnhauses. Diese Abbildung wurde programmatisch in die Titelei der deutschen Übersetzung von 1830 gesetzt (Abb. 2). Goethe nahm sie in seinem Vorwort zum Ausgangspunkt der Überlegung, dass unter den Bedingungen der Weltliteratur als Form lesend und schreibend generierter Näheverhältnisse das Bedürfnis nach sinnlicher Präsenz entsteht, konkret der Wunsch von „weitabgesonderten Personen das Porträt, sodann die Abbildung ihrer Wohnung, so wie die nächsten Zustände, sich vor Augen gebracht zu sehen.“19 So stellt das Haus-Porträt des Schiller-Biographen inmitten einer einsamen Gebirgsgegend als vom kulturellen Leben separierter Rückzugsort gewissermaßen die räumliche Bedingung der medial induzierten Nähe zu den Lebensverhältnissen und Textproduktionen des Weimarer Dichters dar. Korrespondierend sind auf dem Buchumschlag vorder- und rückseitig Bilder von Schillers letzten Arbeitsstätten abgedruckt: das Stadthaus in Weimar und das Gartenhaus in Jena, wobei auch das erstere dank der geschickten Blickführung durch die Alleebäume als Solitär gleich einem abgelegenen Landhaus inszeniert ist. Aufschlussreich ist, dass die Musealisierung von Wohnräumen gerade bei Schriftstellern ansetzte, bei einer Profession also, deren kultureller Beitrag weniger materiell als ideell greifbar ist: Fast zeitgleich wurden 1847 in Stratford-upon-Avon das Shakespearehaus und in Weimar das Schillerhaus als Personalmuseen eröffnet.20 Beide Gründungen sind Teil von jeweils entstehenden nationalspezifischen literarischen
18 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein/Henriette Hermes, Die Eselsgeschichte. Oldenburg 1987, 33. 19 Johann Wolfgang Goethe, Vorwort, in: Thomas Carlyle, Leben Schillers. Frankfurt am Main 1830, X. 20 Constanze Breuer, Dichterhäuser im Europa des 19. Jahrhunderts. Eine vergleichende Skizze der Evolution von Personalgedenkstätten und Memorialmuseen, in: dies. u. a. (Hrsg.), Häuser der Erinnerung. Zur Geschichte der Personengedenkstätten im 19. Jahrhundert. Leipzig 2015, 71–91, hier 79 f.
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Abb. 2: Thomas Carlyle, Buchumschlag mit Schillers Wohnhaus in Weimar und seinem Gartenhaus in Jena, Titelei mit Carlyles Haus in Schottland.
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Erinnerungskulturen, wobei es weniger um die ästhetische Qualität der – ohnehin rekonstruierten – Einrichtungen als vielmehr darum ging, dass in diesen Räumen gewohnt, gedacht und geschrieben wurde. Konsequenterweise musealisierte man im weiteren Verlauf des Jahrhunderts auch Mietwohnungen, so in Franz Grillparzers (1791‒1872) Fall, dessen komplette Einrichtung 1884 in das Wiener Rathaus transferiert und 1900 mit Abriss des ehemaligen Wohnhauses auch um die originalen Wände und Fußböden ergänzt wurde. Dass Wohnverhältnisse von kulturell bedeutsamen Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert zum Denkmal werden konnten, zeigt eindrücklich, dass die Wohnung für das fiktive Eintreten in persönliche Näheverhältnisse stand. Diese medial generierte Koexistenz zwischen anwesendem Besucher und abwesendem Bewohner profilierte das Hausmuseum als Präsenzmedium.21 Das erklärt auch, warum die Attraktivität der Beschreibung, Abbildung und insbesondere der Ausstellung von Prominentenwohnungen keinesfalls nachließ22, als die psychologische Lesbarkeit der Interieurs durch den wissenschaftlichen Autoritätsverlust der Physiognomik zunehmend in Frage gestellt, ja sogar bereits 1807 im „Journal des Luxus und der Moden“ parodiefähig wurde.23 Zunehmend war das, was den individuell, nicht selten ästhetisch überraschend unambitioniert eingerichteten Wohnungen ihre nicht abreißende Faszination verlieh, gerade ihre Unlesbarkeit, das undurchschaubare Wechselspiel von Zeigen und Verbergen persönlicher Erinnerungen und Wünsche, die in Literatur wie Einrichtungsratgebern zunehmend als konstitutiver Bestandteil des Interieurs in den Leitbegriffen der Stimmung, Atmosphäre oder Poesie verhandelt wurden.24
2 Bürgerliche Wohnhäuser: Einfamilienhaus und Blockrandquartier In den von Erwerbsarbeit und Konsum geprägten, im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer schneller wachsenden europäischen Städten erhielt das bürgerliche Wohnen eine soziale und ästhetische Leitfunktion. Im deutschsprachigen Raum lässt sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts an der steigenden Zahl der Publikationen zur ‚Zivilbaukunst‘ sowie zum ‚bürgerlichen Ameublement‘ verfolgen, dass die dort präsentier-
21 Hier wird die für das frühneuzeitliche Haus konstitutive Kopräsenz der Bewohner nicht durch ein Distanzmedium simuliert, sondern durch ein Präsenzmedium inszeniert. Vgl. dazu Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 12), 650. 22 Chapeaurouge, Das Milieu (wie Anm. 10); Peter Thornton, Innenarchitektur in drei Jahrhunderten. Die Wohnungseinrichtungen nach zeitgenössischen Zeugnissen von 1620–1920. Herford 1985, 212. 23 W. u. C, Doctor Hanno, in: Journ. des Luxus und der Moden 22, Oktober 1807, 605–619. 24 Günter Oesterle, Zu einer Kulturpoetik des Interieurs im 19. Jahrhundert, in: Zs. für Germanistik 23, 2013, 543–557, hier 550–555; Muthesius, Poetic Home (wie Anm. 2).
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ten Entwürfe zunehmend dem ständischen Kontext enthoben und als Maßstab des guten und richtigen, konkret: des funktionalen, gesunden und geschmackvollen Bauens und Wohnens gehandelt wurden.25 Die diskursive Verschiebung von Bürgertum als geburtsgegebenem Stand zu Bürgerlichkeit als Habitus gewinnt in der postständischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in der Rede über Haus und Wohnen an Kontur: Das bürgerliche Haus wird gerade nicht über rechtliche, wirtschaftliche oder repräsentative Funktionen begründet (die es in der Praxis durchaus hatte), sondern über vermeintlich allgemein-menschliche Bedürfnisse. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden zwei zentrale Typen des bürgerlichen Hauses entwickelt: das Einfamilienhaus im Vorort und die Etagenwohnung im Stadtpalais bzw. im schlichten Mietshaus der Innenstadt. Tendenzen der Umstrukturierung des Stadtraums lassen sich am eindrücklichsten an den in ihrer Großräumigkeit und Konsequenz einzigartigen Maßnahmen des Stadtplaners Georges-Eugène Baron Haussmann (1809‒1891) ab 1853 in Paris nachvollziehen. Haussmann zog in Anbindung an bestehende markante Architekturen neue Straßenachsen mit Querverbindungen ein, wodurch räumlich klar voneinander abgetrennte, je nach Lage und Baugestaltung sozial vergleichsweise homogene Quartiere entstanden. Architektonisches Leitmodell bildete die Blockrandbebauung in Form von mehrstöckigen Stadthäusern, deren Adressen Aufschluss über den sozialen Status ihrer Bewohner zuließen. Je nach Viertel waren im Erdgeschoss Gastronomie und Geschäfte mit Warenauslagen untergebracht, die zugehörigen Küchen, Kontors oder Magazine waren ins Hinterhaus verlagert. Die darüber liegenden Stockwerke wurden als Etagenwohnungen vermietet. Somit wurde die noch im 18. Jahrhundert verbreitete Vertikalgliederung der Wohneinheiten durch horizontal übereinander geschichtete Raumzonen abgelöst. Entsprechend waren die Wohnungen innerhalb des Mietshauses sozial markiert: Die Beletage war, wie von außen sichtbar, häufig mit höheren Decken und Erkern versehen und in der Fassadendekoration hervorgehoben, während in den oberen Stockwerken bis unters Dach eine steigende Zahl kleinerer Wohnungen angelegt war. Die Tendenz zur Etagenwohnung von der exklusiven bis zur einfachen Ausführung lässt sich in fast allen europäischen Städten beobachten, Ende des Jahrhunderts zählte man in Berlin, dessen Einwohnerschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts exponentiell zunahm, den weltweit höchsten Anteil an Mietshäusern.26 Eine Sonderrolle kommt hier England zu, da die im ausgehenden 17. Jahrhundert etablierte Form des Reihenhauses in den Großstädten bestimmend blieb, auch wenn Architekten die ter-
25 Ulrich Schütte, ‚Ordnung‘ und ‚Verzierung‘. Untersuchungen zur deutschsprachigen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts. Braunschweig 1986. Vgl. den Beitrag von Hans-Georg Lippert in diesem Band. 26 Olsen, Die Stadt (wie Anm. 8), 117–131; Jonas Geist, Das Berliner Mietshaus, Bd. 2: 1862–1945. München 1984, 336–380.
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races zunehmend stadtgestalterisch in Frage stellten.27 Schon mit Beginn des 19. Jahrhunderts, bevor sich die Blockrandbebauungen in den Innenstädten durchsetzten, entwickelte sich an den problemlos mit Pferdefuhrwerken erreichbaren Stadträndern das frei stehende Einfamilienhaus. Diese Bauidee war in der Form des Gartenhauses als Sommerwohnsitz bereits im 18. Jahrhundert vorformuliert. Ein einflussreiches architektonisches Referenzmodell bildete das englische country house, in dem höfische Raumaufteilungen durch innovative Treppen- und Korridorformen abgelöst worden waren.28 Bezeichnenderweise verhandelten die deutschsprachigen Architekturtheorien das sog. ‚Familienhaus‘ der neu entstehenden Stadtviertel des 19. Jahrhunderts als zentrale Bauaufgabe, obwohl es in der realen Bebauung nur einen geringen Anteil ausmachte.29 Es wurde zunächst als ‚Landhaus‘ und schließlich als ‚Villa‘ bezeichnet, wenn auch diese traditionsreichen Bauformen erstens einen Sommersitz meinten, der jedoch nun dauerhaft bewohnt wurde, und zweitens an Landbesitz gekoppelt waren, der dem Stadtbürger nicht zu eigen war. Entscheidend für die Anlehnung an das Villenkonzept ist die damit verbundene Idee des Rückzugs aus dem Arbeits- und Geschäftsleben der zunehmend dichter bevölkerten Stadt und somit die architektursprachliche Markierung eines Privatraums. Bis zur Jahrhundertmitte dominierte die Orientierung des ‚Familienhauses‘ an Gartenarchitekturen. Mit dem Aufkommen eines finanzstarken Großbürgertums wurden die klassizistischen, symmetrischen Hausformen von historistischen, asymmetrischen Baukörpern abgelöst, die auch Turm-, Galerie- oder Verandaelemente integrierten und den Eindruck eines über einen langen Zeitraum, in vielen Bauphasen entstandenen Familiensitzes implizierten. In der zweiten Jahrhunderthälfte entstanden Villenviertel, die die freistehenden Häuser aus der Position des Landsitzes an die Straßenachsen zurückholten, wie es etwa in Berlin 1875 durch das preußische Fluchtliniengesetz durchgesetzt wurde.30 Zudem grenzten sie sich als Ansammlung differenter, individuell gestalteter Solitäre ostentativ von den seit der Einführung von öffentlichen Verkehrsmitteln in den Randbezirken entstehenden Arbeitervierteln ab.
27 Heyl, Passion (wie Anm. 7), 157 ff.; Marcus, Apartment Stories (wie Anm. 3), 83 ff. 28 Olsen, Die Stadt (wie Anm. 8), 134 f. 29 Heinrich Schatteburg, Das Familienhaus sonst und jetzt, in: Haarmann’s Zs. für Bauhandwerker, 1884, 161 f., 169, 177–179; 1885, 6 f., 11–14, 22 f., 25–27, 36–38, 46–48, 55 f., 58–60; J. von Fedor, Das gesunde Haus und die gesunde Wohnung. Braunschweig 1878, 31; Christian Ruepprecht, Der Mensch und seine Wohnung in ihrer Wechselbeziehung. München 1885, 20f.; vgl. Wolfgang Brönner, Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830–1890. Worms 1995, 25–30; Andreas Hauser, Die Formierung des ‚bürgerlichen‘ Interieurs. Wohnbauten in biedermeierlichen Architekturpublikationen, in: Kunst und Architektur in der Schweiz 55, 2004, 6–13, hier 6–10. 30 Thomas Weichel, Bürgerliche Villenkultur im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996, 234–251, hier 242.
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Auch wenn die Villa gemessen an der Zahl der Mietwohnungen faktisch nur eine geringe Rolle spielte, so wurde deren konsequente Konzeption als Rückzugsraum sowie deren idealtypische Raumaufteilung maßgeblich für alle bürgerlichen Wohnungstypen. Die Gestaltung des bürgerlichen Hauses, so resümiert ein repräsentativer Beitrag einer Fachzeitschrift 1884 die Tendenzen des Jahrhunderts, sei von den Innenräumen her konzipiert, so dass „das Äußere in gewisser Weise ein Spiegelbild des Inneren“ sei.31 Darüber hinaus wurden die architektonischen Gegebenheiten der Innenräume ihrer Einrichtung nachgeordnet und der Bewohner als der eigentliche „Hauptbaumeister“ gewürdigt, „der eine schlechte Wohnung zu einer guten und gesunden zu erheben vermag.“32 Die Begründung des bürgerlichen Hauses setzte folglich weniger bei den Bauformen, sondern vielmehr bei der Wohnpraxis, raumtheoretisch gesprochen nicht bei der carte, sondern beim parcours an.33 Der architektonische Abschluss vom Stadtleben als Voraussetzung der Interieurisierung, wie ihn der abgelegene Solitär verkörpert, prägte gleichermaßen das freistehende Einfamilienhaus, das englische Reihenhaus, das Pariser Apartment wie die Berliner Mietwohnung.34 Interessant ist, dass die Zeitgenossen die haustechnischen Innovationen der Beleuchtung, Heizung und Wasserversorgung35, die mehr Komfort in die Zimmer hinein holten, so dass diese seltener verlassen werden mussten, nicht bedingungslos als Gewinn von Wohnqualität begrüßten. Gegen die Gas- und später die Elektrobeleuchtung wurden wahrnehmungsästhetische Bedenken vorgebracht, da sie die Räume unbehaglicher erscheinen ließen, so dass mitunter gezielt auf das wärmere Streulicht der nunmehr anachronistischen Petroleumlampen zurückgegriffen wurde.36 Weitaus folgenreicher waren die Einsichten der wissenschaftlichen Materialund Bauforschung, wonach das Haus keinesfalls physikalisch abgeschlossen werden könne bzw. dürfe: „Die Wohnung stellt eine künstliche Verbindung und Abgrenzung zwischen den Bewohnern und der Außenwelt dar.“37 Die Aufgabe von Bau- wie Wohnweise bestand folglich darin, diese „künstliche Verbindung und Abgrenzung“ zu regulieren, wozu das zunehmende Schrifttum über die Haushygiene Problembewusstsein vermittelte und Verhaltensregeln bereithielt, die den Diskurs der Interieurisierung
31 Schatteburg, Familienhaus (wie Anm. 29), 55. 32 Theodor Meyer-Merian, Sicherer Wegweiser zu einer guten und gesunden Wohnung, in: Preisschrift der Gesellschaft des Guten und Gemeinnützigen. Basel 1860, 17. 33 Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin 1988, 220–226. 34 Marcus, Apartment Stories (wie Anm. 3), 135 ff. 35 Vgl. den Beitrag von Dieter Schott in diesem Band. 36 Ingrid Ehrensperger, Im Lichtkreis der Petroliumlampe. Der Einfluss der neuen Lichtquellen auf die Einrichtung der Räume und das Zusammenleben ihrer Bewohner, in: Kunst und Architektur in der Schweiz 55, 2004, 54–60. 37 William Baring, Wie Arbeiterwohnungen gut und gesund einzurichten und zu erhalten seien, in: Preisschrift (wie Anm. 32), 4.
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relativierten, wenn nicht durchkreuzten. Die nicht einsehbaren Abwasserleitungen eröffneten den vormodernen Ratten38 wie den modernen „unsichtbaren Feinden“39 – den Mitte des Jahrhunderts entdeckten Bazillen – Zugang ins Hausinnere. Und das durch neue Heiztechniken temperierte Innere saugte „inficirte Bodenluft“40 aus dem Baugrund an und führte in allzu abgeschlossenen Räumen zur menschlichen Produktion von lebensgefährlichem „Anthropotoxin“41. Solche Entdeckungen seitens der medizinisch-physikalischen Hygieneforschung kontaminierten die Privatsphäre und führten zu einer breiten Debatte über funktionelle Öffnungen des Hauses durch poröses Baumaterial, Fenster und vor allem richtiges Lüften.42 Keinesfalls handelte es sich um einen Spezialdiskurs, wie die Breite der Fach- und Ratgeberliteratur insbesondere zur „hygienische[n] Ausbildung der Frauen“ zeigt, über welche die Erkenntnisse nachhaltig umgesetzt werden sollten.43 Nicht nur mit Blick auf den physikalischen Baukörper ging es um Fragen von Offen- und Geschlossenheit, sondern ebenso in der Auseinandersetzung mit den häuslichen Sozialformen. Dies lässt sich am Beispiel des weit verbreiteten Modells des Berliner Mietshauses nachvollziehen. Was sich in der Villa durch die Stockwerke gesondert fand, wurde in der Etagenwohnung durch die Trennung in Vorder- und Hinterhaus strukturiert. Während Besucher direkt von der Treppe in das Vorderhaus geleitet wurden, sind die Schlafzimmer der Familie im Hinterhaus untergebracht. Zudem erfolgte eine strikte Trennung der Wohnräume von Küche und Toilette mit Doppeltüren und anderen Formen der Geruchsschleusen, die häufig im strategisch günstigen Verbindungstrakt zwischen Vorder- und Hinterhaus positioniert waren. In dieser Zone nächtigten die Bediensteten, häufig im eingezogenen Schlafboden oder in einer Kammer, denen folglich kein auch nur ansatzweise vergleichbarer Rückzugsort eingeräumt wurde. Durch die Installation von Klingelleitungen wurde die Kopräsenz des Personals medial geregelt, das auch außer Hörweite im Wohnbereich verfügbar blieb. Durch die Separierung der Zugänge erhielt das Treppenhaus zum Haushaltsbereich eine Schlüsselfunktion. Hier nämlich fand nicht nur der Waren- und Informationsaustausch mit den Lieferanten statt, sondern auch der hausinterne, wortwörtlich nicht salonfähige Austausch zwischen den sozial heterogenen Bewohnern, konkret dem Personal der verschiedenen Mietparteien sowie den Mietern der kleinen Woh-
38 Hans J. Teuteburg/Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850–1914. Bilder, Daten, Dokumente. Münster 1985, 237. 39 Carl Falkenhorst, Das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung. Leipzig 1891, 11–44. 40 Fedor, Das gesunde Haus (wie Anm. 29), 22. 41 Falkenhorst, Gesunde Wohnung (wie Anm. 39), 91. 42 Jon Mathieu, Das offene Fenster. Überlegungen zu Gesundheit und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: Ann. da la Societad Retorumantscha 106, 1993, 291–306, hier 299–302. Vgl. auch Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 12), 648–651. 43 Falkenhorst, Gesunde Wohnung (wie Anm. 39), 9.
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nungen der oberen Stockwerke.44 In den Pariser Appartementhäusern dominierte die von allen Bewohnern genutzte Haupttreppe; hier hatte einzig die Portière durch ihre Wohnpräsenz im Eingangsbereich den Überblick und somit eine gewisse Machtposition.45 Anders als die Familienzimmer des Hinterhauses öffnete der Salon im Vorderhaus die Wohnung zur Stadt und fungierte weniger als „Ort kleinfamilialer Privatheit“ als vielmehr als Ort „der gesellschaftlichen Konstituierung des modernen Bürgertums“.46 Die aufwändige materielle Ausstattung mit speziellen Salonmöbeln repräsentierte das symbolische Kapital einer Familie und war somit ein wichtiges Kommunikationsinstrument.47 Die Frau trat in diesen Räumen als gebildete Salonierin auf.48 Sie wurde von den Raumausstattern mitunter als konstitutiver Teil der Einrichtung aufgefasst, als „edelste[r] Schmuck in ihrer geschmückten Behausung“.49 Diese selbstreferenzielle Wendung erklärt sich dadurch, dass die weibliche Rolle im Salon ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend – und dies in Analogie zum Interieur – darauf zielte, den Müßiggang fern der Erwerbsarbeit in Szene zu setzen, so dass insbesondere der eigenhändigen Fertigung dekorativer Stickereien für die Raumgestaltung ein hoher Prestigewert zukam.50 Entgegen den funktional ausdifferenzierten Zimmern erfüllte das Wohnzimmer bzw. der living room als Aufenthaltsraum für die ganze Familie verschiedene Aufgaben. Bezeichnenderweise ist die Positionierung dieses Raums in der Wohnung am wenigstens festgeschrieben, man findet ihn in der idealtypischen Berliner Etagenwohnung in doppelter Ausführung im Vorder- wie im Hinterhaus, d. h. als Durchgangsraum zwischen Salon und Speisezimmer bzw. zwischen Kinderschlafzimmern und Wintergarten. Auf überlieferten Interieurbildern von Wohnzimmern sind neben Esstischen, Kinderspielzeug und Hausbibliotheken auch Damenmöbel wie Näh- und Schreibtische sowie Sekretäre der außer Haus arbeitenden Männer zu sehen. Folglich war dies der Raum, der die vorgesehenen Frauen- und Männerzimmer in sich aufnehmen konnte, was angesichts der realen Raumverhältnisse kein Ausnahmefall war. In England wurde der parlour room für die Gäste von einem drawing room ergänzt, der, zugleich familiär, insbesondere von den Frauen benutzt wurde und insofern eine
44 Gertrud Benker, Bürgerliches Wohnen. Städtische Wohnkultur in Mitteleuropa von der Gotik bis zum Jugendstil. München 1984, 67. 45 Marcus, Apartment Stories (wie Anm. 3), 42–50. 46 Gisela Mettele, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Hein/ Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur (wie Anm. 30), 155–169, hier 155. 47 Saldern, Im Hause (wie Anm. 5), 178–183, 187–191. 48 Ebd., 161 f. 49 Jacob von Falke, Die Kunst im Hause. Geschichtliche und kritisch-ästhetische Studien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung. 4. Aufl. Wien 1882, 456. 50 Mettele, Privater Raum (wie Anm. 46), 161 f.
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Mischform zwischen Salon und Wohnzimmer darstellte.51 In Frankreich hingegen gab es kein vergleichbares Zimmer, hier diente der Salon zugleich als familiärer Aufenthaltsraum.52 In den deutschsprachigen Reflexionen über das ‚Familienhaus‘ wurde das Wohnzimmer konsequent als Gegenentwurf zum Salon definiert und dabei prinzipiell zwischen familiär-privatem und gesellschaftlich-semiöffentlichem Leben unterschieden.53 Die Zeitgenossen beobachteten dabei ab der Jahrhundertmitte das Phänomen, dass der vergleichsweise selten genutzte, folglich ungeheizte und mit Möbelschonern verpackte Salon – später mit der griffigen Formel der ‚kalten Pracht‘ charakterisiert – größer, heller und besser positioniert war als das täglich genutzte Wohnzimmer. Die Klagen über diese Unverhältnismäßigkeit stellten jedoch den Salon nie in Frage, was zeigt, dass gerade dieser Raum als Scharnierstelle zum städtischen Leben unabdingbar war. Und zugleich war der Salon aus bürgerlicher Perspektive ein Distinktionsmerkmal gegenüber der Arbeiterwohnung, deren vergleichbar ungenutzte ‚gute Stube‘ als unangemessen diskreditiert wurde.54 Wilhelm Heinrich Riehl (1823‒1897) setzte in seiner Analyse des bürgerlichen Wohnhauses bei der zunehmenden Anzahl immer kleinerer Zimmer an und beklagte die „Vereinsamung des Familienmitglieds selbst im Innern des Hauses“.55 Als Gegenraum und Korrektiv entfaltete er den großen zentralen, multifunktionalen Gemeinschaftsraum des ‚ganzen Hauses‘, also Wohnhalle oder Diele. Interessant ist, dass diese vermeintlich vormoderne Raumidee in die Villengestaltung finanzstarker Großindustrieller Eingang fand, wobei sie keinesfalls die vielen Einzelzimmer ersetzte. Vielmehr diente sie als exklusive Eingangshalle und bot mit der vertikalen Staffelung durch Treppen und Galerien zugleich einen attraktiven Raum für große Auftritte auf Empfängen und Bällen.56
3 Bürgerliche Inneneinrichtungen: Verfügbarkeit und Aneignung von Wohnwaren und Wohnwissen Aus kunsthistorischer Perspektive steht das ‚bürgerliche Zeitalter‘ für das Ende der großen epochenprägenden Einrichtungsstile und für das Nebeneinander verschiede-
51 Olsen, Die Stadt (wie Anm. 8), 135. 52 Ebd., 160 f. 53 Brönner, Bürgerliche Villa (wie Anm. 29), 54–57. 54 Teuteburg/Wischermann, Wohnalltag (wie Anm. 38), 292–299; Saldern, Im Hause (wie Anm. 5), 211–214; Mettele, Privater Raum (wie Anm. 46), 162 f. 55 Riehl, Die Familie (wie Anm. 4), 211. 56 Ernst Siebel, Der großbürgerliche Salon 1850–1918. Geselligkeit und Wohnkultur. Berlin 1999, 105– 113; Brönner, Bürgerliche Villa (wie Anm. 29), 58.
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ner, funktional differenzierter Formen.57 Zu Beginn des Jahrhunderts sind drei Einrichtungsstile bestimmend, die sich nicht einem sozialen Feld zuordnen lassen und deren semantische Implikationen regional differieren: das archäologisch inspirierte, englische Regency, das ornamentale napoleonische Empire und das oberflächenästhetische deutsch-österreichische Biedermeier.58 Neuartige Stilqualitäten bot der Historismus, der bereits in den Gartenarchitekturen des 18. Jahrhunderts vorformuliert war und in zahlreichen Neo-Ismen verschiedene Einrichtungsmoden generierte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich in England, Deutschland und Frankreich eine Konjunktur der Neugotik in den Innenräumen dingfest machen, die parallel, freilich unter verschiedenen Vorzeichen, als jeweiliger Nationalstil propagiert wurde. Ab Mitte des Jahrhunderts ist der Rekurs auf die Renaissance als erfolgreiche Epoche der selbstbewussten Universitäts- und Handelsstädte aber auch auf das Barock als Repräsentationsform von politischer Macht zu finden, parallel wurden orientalische Raumelemente und andere Exotismen mit unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen zitiert. In den 1890ern kulminierte ein Stilpluralismus, der keinesfalls zu einer Beliebigkeit von Raumgestaltungen führte, sondern die Ausdifferenzierung der Raumfunktionen ästhetisch unterstützte. In diesem Sinne wurden die Rokokoformen für die Damenzimmer empfohlen als pastellfarbige, weich gepolsterte, von geschwungener Linienführung und kleinteiligen Dekorelementen bestimmte Zone des Müßiggangs, während kontrastierend dazu die klassizistischen Formen dem Herrenzimmer vorbehalten blieben als dunkle, durch gerade und eckige Linien und großen Flächen geprägte Zone, in der Bedeutsames gedacht wurde.59 Solche funktionsorientierten Vergegenwärtigungen vergangener Wohnstile wurden durchaus mit Blick auf zeitspezifische Anforderungen verhandelt, wie die ab 1880 erscheinende, mehrfach aufgelegte und erweiterte Studie „Das deutsche Zimmer“ vorführt.60 Und neben einem historisch reflektierten Umgang mit der kollektiven Wohngeschichte fordern die Einrichtungsratgeber auch, die Individualgeschichte raumgestalterisch einzubeziehen: Die Einrichtung kann sich allein deshalb nicht ohne Weiteres einer Stilrichtung verpflichten, da sie ihre eigenen Zeitschichten sichtbar machen muss, sie muss „die Geschichte unseres Lebens in der Geschichte unserer Wohnung […] reizend und anmuthig abspiegeln“.61
57 Beispielhaft für stilgeschichtliche Untersuchungen der Wohneinrichtung seien genannt: Thornton, Innenarchitektur (wie Anm. 22), 138–389; Benker, Bürgerliches Wohnen (wie Anm. 43), 45–69; Muthesius, Poetic Home (wie Anm. 2), 201–299. 58 Hans Ottomeyer/Axel Schlapka, Biedermeier. Interieurs und Möbel. München 1991, 38f.; Benker, Bürgerliches Wohnen (wie Anm. 44), 50; Brönner, Bürgerliche Villa (wie Anm. 29), 9 f. 59 Anne-Katrin Rossberg, Wie Frauen Zimmer wurden. Zur Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert, in: Sebastian Hackenschmidt (Hrsg.), Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge. Bielefeld 2011, 143–153, hier 147–153. 60 Georg Hirth, Das deutsche Zimmer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4. Aufl. München 1899. 61 Falke, Kunst im Hause (wie Anm. 49), 220.
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Die durch Bildbände und Ratgeber wie besonders medienwirksam durch die Weltausstellungen in Szene gesetzten Längsschnitte durch vergangene und entfernte Wohnkulturen sind eng verkoppelt mit der Popularisierung internationaler Warenangebote. Schnelle und breite Distribution des neu erschlossenen Formrepertoires ermöglichten nicht zuletzt innovative Materialsurrogate wie Möbel aus Papiermaché, Silbergeschirr aus galvanisiertem Blech, Kleinplastiken aus Zelluloid und anderes mehr, welche erst im ausgehenden Jahrhundert in Verruf gerieten.62 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Zahl der Polstermöbel in allen Bevölkerungsgruppen zum Gradmesser für den vorhandenen Luxus einer Wohnungsausstattung.63 Sessel und Sofas waren durch neue Fertigungsverfahren mit Sprungfedern und Knopfpolstern zu raumbestimmenden Objekten geworden.64 Ihre skulpturalen Qualitäten rückten in den Vordergrund, als sich seit den 1840er Jahren ausgehend von Paris eine neue Form der Salongestaltung durchsetzte, wonach die Sitzmöbel nicht mehr an den Wänden entlang aufgereiht, sondern locker in der Raummitte gruppiert waren, so dass sich in ihnen ein „Abbild geselliger Formationen materialisiert[e]“.65 Zudem ermunterten Einrichtungsratgeber dazu, stilistisch heterogenes Mobiliar, neueste Produkte mit Antiquitäten, glatte Oberflächen mit Gebrauchsspuren zu kombinieren, wobei jegliche Stellflächen mit (scheinbar) persönlichen Objekten zu bestücken seien, „either one’s own or some one else’s great-grandmother’s candlesticks“.66 Bildzeugnisse von Interieurs bestätigen, dass die Stellflächen der Behältnismöbel sich ab der Jahrhundertmitte mit kleinteiligen Objekten (Nippes, knick-knacks, bricà-brac) füllten, wofür auch spezielle Zeigemöbel, die Etagere, die Vitrine oder Eckregale für corner potpourries entwickelt wurden. Als intime Andenken evozierten die Objekte persönliche Ereignisse und Passionen und somit eine „habitusbildende Atmosphäre“.67 Die absichtsvolle Unordnung der Möblierung und ihre überbordende Belegung mit kleinteiligen Objekten löste die axial an den Wänden orientierte Möblierung ab. Ein weiteres Charakteristikum des 19. Jahrhunderts bestand im Einzug der Grünpflanze in den Wohnbereich. Topfpflanzen fanden sich zunächst auf den Fensterbänken der Wohnungen des Regency und Biedermeier, bevor sie auf speziellen Jardinièren im Raum verteilt wurden. Die Stadtvillen, deren zugehörige Grünflächen durch die anhaltende Bebauung schrumpften, wurden um Wintergärten und Veranden mit raumbestimmenden Grünpflanzen und Springbrunnen erweitert, so dass ide-
62 Wolfram Gabler, Surrogate. Material- und Technikimitationen des 19. Jahrhunderts, in: Angelika Thiekötter/Eckhard Siepmann (Hrsg.), Packeis und Pressglas. Von der Kunstgewerbebewegung zum Deutschen Werkbund. Gießen 1987, 115–126. 63 Saldern, Im Hause (wie Anm. 5), 160 f. 64 Thornton, Innenarchitektur (wie Anm. 22), 346; Asendorf, Batterien (wie Anm. 1), 88 f. 65 Siebel, Großbürgerlicher Salon (wie Anm. 56), 131. 66 Ella Rodman Church, How to Furnish a Home. New York 1882, 29. 67 Oesterle, Kulturpoetik (wie Anm. 24), 553.
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alerweise ein „reizendes kleines Landschaftsbild“ entstand und somit die Grenzen von artifiziellem Innenraum und natürlichem Außenraum verunklart wurden.68 Im Vergleich zum Zimmer um 1800, das einen vermeintlich überzeitlichen Zusammenhang von Stil und Funktion implizierte, war das Interieur um 1900 durch das Spektrum heterogener, historisch indizierter Gestaltungsmittel als ein Ort von ästhetischen Entscheidungen bestimmt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die „moderne Stubenexistenz“ auf der Folie der zunehmenden Einrichtungsmöglichkeiten diskutiert69, wobei der „Eigensinn“ der Aneignungsprozesse in den Blick geriet.70 Dieser Tendenz wird abschließend exemplarisch anhand zweier Interieurs nachgegangen, in denen gelebt und gearbeitet wurde und die einer großen Öffentlichkeit physisch wie medial zugänglich waren: die Wohnungen des Architekten Sir John Soane (1753‒1837) in London und des Malers Hans Makart (1840‒1884) in Wien.
4 Soanes Haus in London Der Architekt Sir John Soane erwarb von 1792 bis 1824 drei nebeneinander liegende Reihenhäuser mit Backsteinfassaden in Lincoln’s Inn Fields in der Nähe der Royal Academy of Arts, an der er 1806 eine Professur erhielt. Wie sein Kollege Hope öffnete auch Soane sein Wohnhaus an zwei Wochentagen für Architekturstudenten und Interessierte und veröffentlichte 1830 seine mehrfach aufgelegte „Description of the Residence of Sir John Soane“. Es gelang ihm 1833, sein Haus durch einen Parlamentsbeschluss auf Dauer zu stellen, womit das neue Format des Wohnraummuseums in Europa begründet war.71 Entgegen seiner ersten Umbau-Pläne, die sich an der konventionellen Kunstpräsentation in geräumigen Sälen orientierten und wie sie in Hopes Haus zu sehen waren, entwickelte Soane ein dem Reihenhaustypus gemäßes kleinteiliges Gefüge von Räumen unterschiedlicher Deckenhöhen mit vielen unerwarteten Durchblicken, in dem die schief verlaufende Hauswand des mittleren Baus, die drei kleinen Treppenhäuser und die drei Hinterhöfe integriert waren.72 Die Abfolge der Raumtypen ent-
68 Hermann Jäger, Die Zimmer- und Hausgärtnerei. Anleitung zur Anzucht, Pflege und Verwendung der Zierpflanzen in Wohnräumen mit Zubehör nebst Beschreibung der schönsten Zierpflanzen. Stuttgart 1870, 87; Christel Köhle-Hetzinger, Wie kam das Grün ins Haus?, in: Anita Bagus/Kathrin PögeAlder (Hrsg.), Alltagskultur. Sakral – profan. Münster 2011, 141–160. 69 A. v. St., Die Poesie unserer vier Wände. Der kleine oder häusliche, der gelehrte, der gemüthliche und der elegante Comfort, in: Die Gartenlaube 38, 1864, 599–603, hier 599. 70 Vgl. Certeau, Kunst des Handelns (wie Anm. 33), 77–97; Saldern, Im Hause (wie Anm. 5), 148. 71 Christine Hoh-Slodczyk, Das Haus des Künstlers im 19. Jahrhundert. München 1985, 21. 72 Helen Dorey, Sir John Soane, in: Margot Th. Brandlhuber/Michael Buhrs (Hrsg.), Im Tempel des Ich. Das Künstlerhaus als Gesamtkunstwerk. Europa und Amerika 1800–1948. Ausst.-Kat. Museum Villa Stuck. Ostfildern 2013, 38–53, hier 40.
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sprach jedoch nicht der herkömmlichen Ordnung. So ist der üblicherweise zentrale parlour room im Keller situiert und überrascht mit einer bad taste-Präsentation von grotesken gotischen Fragmenten. Das im Hinterhaus gelegene, dicht mit Kunstwerken gefüllte Museum ist durch stockwerkübergreifende Raumeinheiten mit Oberlichtern, schmalen Gängen und Galerien strukturiert und präsentiert die Kunstobjekte in Einbaumöbeln, die wie überdimensionierte Repositorien und Magazinschränke wirken. Der picture room enthält wandfüllende, in mehreren Schichten angebrachte Holzläden, die an ein hölzernes Album erinnern und nicht nur die Unterbringung von zahlreichen Großformaten auf engstem Raum sondern zudem mehrere Varianten ihrer Zusammenschau ermöglichen. Soanes Hausmonographie jedoch führt den Besucher nicht zuerst in die Besucherräume, sondern in den intimen breakfast room, der mit persönlichen Andenken ausgestattet ist (Abb. 3). Dieser zentral gelegene, kleine quadratische Raum wird durch die Glastüren und -fenster zum Museumstrakt und Innenhof sowie durch verschiedenförmige Buntglas-Oberlichter erhellt und geöffnet. Am Beispiel dieser komplexen Licht- und Blickregie erläutert Soane sein gestalterisches Programm: „The views of this room into the Monument Court and into the Museum, the Mirrors
Abb. 3: Breakfast Room in Soanes Haus.
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in the Ceiling, and the Looking Glasses, combined with the variety of outline and general arrangement in the design and decoration of this limited space, present an almost infinite succession of those fanciful effects which constitute the poetry of Architecture.“73 Soane vermittelte seinen Zeitgenossen von der Lichtregie bis zur Präsentation hochwertiger Kunstwerke in kleinteiligen Wohnräumen viele Einrichtungsinnovationen, die sich auf die besondere Raumsituation der Reihenhäuser übertragen ließen. Dabei konnte er die Widersprüche zwischen der musealen Präsentation der Sammlung und der Intimität der Wohnräume lösen, indem er sowohl die übliche Choreographie als auch die Stilkonventionen der etablierten Raumtypen völlig neu arrangierte.
5 Makarts Atelierwohnhaus in Wien Als der Historien- und Theatermaler Hans Makart aus München 1869 vom österreichischen Kaiser nach Wien berufen wurde, war das städtebauliche Großprojekt der neu angelegten Ringstraße mit repräsentativen öffentlichen Bauten und hochpreisigen Wohnpalais bereits seit über einem Jahrzehnt in Arbeit. Makart knüpfte sein Kommen an die Einrichtung eines Arbeitsplatzes und Wohnhauses nach seinen Vorstellungen und erhielt ein Stadthaus aus dem 18. Jahrhundert mit einem freistehenden Bau, der als Atelier ausgebaut und drei Jahre später von ihm selbst um einen größeren Anbau erweitert wurde. Das eigenwillig eingerichtete Wohnatelier stand den interessierten Besuchern täglich eine Stunde offen, wurde in vielen überregionalen Zeitschriften vorgestellt und konnte als Musterraum Aufträge für die Inneneinrichtungen der Salons in den Beletagen der Ringstraßenpalais einwerben74 (Abb. 4). Dieser Raum galt der Historismuskritik um 1900 geradezu als Synonym für das überfüllte, ausgepolsterte, abgedunkelte Interieur des „wohnsüchtig[en]“ Jahrhunderts. Dass der so genannte Makartstil nur während einer kurzen Phase und im begrenzten Raum großstädtischer Finanzeliten Einzug hielt, steht außer Frage, jedoch lässt sich gerade an dieser extremen Position eine generelle Veränderung in der materiellen Kultur des Wohnens nachvollziehen, da Makart wichtige Tendenzen der Einrichtungsmode aufnimmt und steigert: der Tageslicht raubende Einsatz von schweren Draperien, die Vielzahl von scheinbar zufällig platzierten, neuen wie verschlissenen Sitzmöbeln, die teilweise farblich überfassten, übereinander gestapelten Antiquitäten und Kuriositäten, der sogenannte Makartstrauß aus heimischen und exotischen Pflanzenteilen und Vogelfedern.75 Durch diese Koppelung
73 [John Soane], Description of the House and Museum on the North Side of Lincoln’s-Inn-Fields, the Residence of Sir John Soane, Professor of Architecture in the Royal Academy. 2. Aufl. London 1832, 2. 74 Siebel, Großbürgerlicher Salon (wie Anm. 56), 215–232. 75 Hoh-Slodczyk, Haus des Künstlers (wie Anm. 71), 80–86.
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von in Form, Farbe und Größe heterogenen Elementen wurde die funktionale und stilistische Homogenität der Einzelräume aufgegeben zugunsten eines malerischen Gesamtbilds.
Abb. 4: Das Atelier des Malers Hans Makart in Wien.
6 Zusammenfassung Das bürgerliche Wohnideal im 19. Jahrhundert – konkret: die funktionale Ausdifferenzierung, die Intimisierung und die Ästhetisierung der Innenräume – wurde vor allem am geschlossenen Baukörper des freistehenden Familienhauses plausibilisiert. Es erwies sich als ebenso verbindlich für die Wohnungen in den miteinander verzahnten und füreinander durchlässigen Baukörpern der Londoner Reihenhäuser, der Pariser und Wiener Stadtpalais wie der Berliner Mietshäuser. Die kulturpraktischen und diskursiven Anfänge dieser Interieurisierung erfolgten zweifelsohne im 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert aber vollzog sich einerseits die normative Durchsetzung des bürgerlichen Wohnideals, andererseits die Individualisierung seiner Aneignungen. Dieser Diskursivierungsschub wird in den neuen Zeigeformaten des Wohnens evident, in Musterhäusern und Wohnmuseen, die den Besucher in die Inte-
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rieurs hinein holen, um kulturell wie individuell disponierte Wohnformen erlebbar zu machen. Es ist bezeichnend, dass die ungewöhnlichen Interieurs von Soane und Makart in gewöhnlichen, bereits bestehenden älteren Stadthäusern entwickelt und präsentiert wurden. Während Soane zu Beginn des Jahrhunderts das Setting der etablierten Raumfunktionen und -stile neu kombinierte und choreographierte, installierte Makart gegen Ende des Jahrhunderts Raumkunstwerke, in denen funktionale und stilistische Kohärenz zugunsten der bildnerischen Gesamtwirkung verabschiedet wurden. Beide Musterwohnungen lassen sich nicht allein über ihr Verhältnis zu den im 18. Jahrhundert ausgebildeten Kategorien von Funktion und Stil erfassen, sondern zudem über die erlebnisorientierten, entdifferenzierenden Kategorien von Poesie und Atmosphäre. Bleiben derartige Künstlerwohnungen auch die vielbeachtete Ausnahme, so lässt sich an ihnen eine veränderte Auffassung von der ‚Stilsicherheit‘ des bürgerlichen Interieurs ausmachen, da die Komposition aus heterogenen Elementen zunehmend zum Gemeinplatz wird: aus alten wie neuen, regionalen wie exotischen, nützlichen wie unnützen, minder- wie hochwertigen, ererbten wie erkauften, maschinell wie manuell und fremd- wie selbstgefertigten Dingen. Damit steigen die Anforderungen an die Aneignungsleistung des Bewohners, der dafür keinesfalls ein Künstler sein, aber seinen Innenraum mit „feine[r] Kennerschaft aller Künste“ und „Congenialität“ arrangieren muss.76 Zusammengehalten wird das heterogene Gefüge zunehmend weniger durch eine planvolle Komposition, wie sie noch Soane zu sehen gab, als durch „Intimität“, die im tagtäglichen Näheverhältnis zur materiellen Einrichtung entsteht: Der Bewohner pflegt den „intimsten Umgang“ mit den Dingen, was „unermüdliches Ansehen, Indiehandnehmen, Nachdenken, […] Liebe und Begeisterung voraus[setzt]“77; der Bewohner macht also nicht nur etwas mit seinem Wohnräumen, sondern seine Wohnräume machen etwas mit ihm: „So erziehen die Interieurs ihre Bewohner.“78 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewinnt die bürgerliche Wohnkultur ihr spezifisches Profil in der Spannung zwischen einer kulturhistorisch wie warenästhetisch informierten Einrichtung und der emphatischen Vorstellung individueller Wohnerlebnisse.
76 Hirth, Deutsches Zimmer (wie Anm. 60), 62–64. 77 Ebd. 78 Alfred W. Fred, Die Wohnung und ihre Ausstattung. Leipzig 1903, 3, 134.
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Technisiertes Wohnen in der modernen Stadt In seinem Gedicht ‚Häuser‘ aus dem Jahr 1927 unterscheidet Kurt Tucholsky mehrere Generationen von Häusern, wobei sein Hauptaugenmerk dem „mittleren Haus“ gilt, dessen Charakteristika vor allem in einer bereits weitgehend vollzogenen Technisierung gesehen werden: „mittleres Haus. / Kotdurchrieselt stehst du, / von Drähten durchzuckt, / ein lebendiger Leib […].“1 Tucholsky grenzt dieses „mittlere Haus“, das er in den Straßen von Berlin, Paris oder Hamburg verortet, von „Hausgreisen“ ebenso ab wie von „Neubauten“ bzw. „weißgetünchte[n] Schubschachteln“, die – mit Badewanne und Fahrstuhl ausgestattet – nochmals einen jüngeren Technisierungsschub repräsentieren. Tucholskys Gedicht verweist darauf, dass die Technisierung des Wohnens und die Vernetzung der Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als epochaler Wandel wahrgenommen wurden. Wohnhäuser der ‚Generation‘ des ‚mittleren Hauses‘, d. h. ungefähr erbaut zwischen 1870 und 1900, waren in bis dahin unbekannter Weise technisiert; sie waren zumindest in Großstädten in der Regel mit Verund Entsorgungsnetzen für Wasser, Abwasser, Gas und Strom versehen.2 Dieser Beitrag zeichnet nach, wie sich das Wohnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts in europäischen Städten technisierte und fragt nach den Voraussetzungen, Formen und Folgen dieses Prozesses. Grundvoraussetzung dieser Technisierung war zunächst die „Vernetzung der Stadt“3, das heißt die Herstellung verschiedener technischer Netzwerke in den europäischen Städten. Diese Netzwerke organisierten den ‚Stoffwechsel der Stadt‘ neu4, also die Versorgung mit für städtisches Leben notwendigen Ressourcen wie Wasser und Energie sowie die Entsorgung der beim individuellen wie kollektiven ‚Stoffwechsel‘ anfallenden Rest- und Abfallstoffe (Fäkalien, Abfall, Asche, Rauch etc.). Sie schufen damit die infrastrukturellen Voraussetzungen für die umfassende Technisierung industriegesellschaftlichen Wohnens. Es geht folglich zunächst um die Geschichte der Hygienisierung einerseits und den Einzug von Gas und Elektrizität andererseits zwischen 1850 und 1914. In einem weiteren Schritt
1 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 5. Reinbek bei Hamburg 1975, 355–357. 2 Dieser Beitrag entwickelt frühere Arbeiten und Überlegungen des Autors weiter, vgl. Dieter Schott, Wohnen im Netz, in: Alena Janatková/Hanna Kozinska-Witt (Hrsg.), Wohnen in der Großstadt 1900– 1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich. Stuttgart 2006, 251–270; sowie ders., Empowering Cities. Gas and Electricity in the European Urban Environment, in: Mikael Hård/ Thomas J. Misa (Hrsg.), Urban Machinery. Inside Modern European Cities. Cambridge, Mass. 2008, 165–186. 3 Vgl. Dieter Schott, Die Vernetzung der Stadt. Kommunale Energiepolitik, öffentlicher Nahverkehr und die ‚Produktion‘ der modernen Stadt. Darmstadt, Mainz, Mannheim 1880–1918. Darmstadt 1999. 4 Vgl. zum Konzept Dieter Schott, Europäische Urbanisierung (1000–2000). Eine umwelthistorische Einführung. Köln 2014, 16–21.
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wird der Blick auf die praktische Nutzung der Netzwerktechnologien im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerichtet. Die Beispiele stammen in erster Linie aus Deutschland und Großbritannien. Die ‚Technisierung des Wohnens‘ begann nicht erst mit der Industrialisierung. So hat gemäß dem britischen Wirtschaftshistoriker Robert Allen schon die ‚Erfindung‘ des Kohle verbrennenden Hauses im späten Mittelalter den Übergang von Holz zu Kohle als allgemeinem Brennstoff für Hausbrand ermöglicht.5 Endpunkt dieses Innovationsprozesses war, dass das Haus aufgebaut war “ […] around a central chimney with back-to-back fireplaces on the ground and first floors. They could burn coal and warm the house without filling it with smoke.“6 Allerdings wurde im frühen 20. Jahrhundert diese Art der Hauskonstruktion bereits für so selbstverständlich erachtet, dass der Begriff ‚Technik‘ nur für die neuen, die Häuser nunmehr durchziehenden technischen Netzwerke reserviert blieb, wie etwa die Geringschätzung Tucholskys für die ‚Hausgreise‘ zeigt.
1 Vernetzung der Stadt: Die durchspülte und hygienisierte Stadt (1850–1914) Die Vernetzung der Stadt war eines der auffälligsten und folgenreichsten Merkmale des Urbanisierungsprozesses in der Hochindustrialisierungsphase.7 Vernetzung meint hier den Aufbau und Betrieb von maschinengetriebenen und leitungsnetzgebundenen Systemen zur Versorgung und Entsorgung und zur Herstellung von Verkehrsverbindungen. Wesentliche, teilweise parallel verlaufende Stränge des Vernetzungsprozesses waren erstens die Installierung von Systemen zur Trinkwasserversorgung, Abwasserbeseitigung und Entwässerung und zweitens die Erstellung von Energieversorgungssystemen, ausgehend von der Verbesserung der öffentlichen Beleuchtung.8
5 Vgl. Robert C. Allen, The British Industrial Revolution in Global Perspective. Cambridge 2009, insbes. 80–105; ders., Energy Transitions in History. The Shift to Coal, in: Richard W. Unger (Hrsg.), Energy Transitions in History. Global Cases of Continuity and Change. München 2013, 11–15. 6 Allen, Energy Transitions (wie Anm. 5), 13. 7 Zur europäischen Urbanisierung vgl. Peter Clark, European Cities and Towns, 400–2000. Oxford 2009; zur jüngeren Phase Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013. 8 Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 2–8. Zum Gesamtkomplex ‚Vernetzung der Stadt‘ gehört eigentlich auch die verkehrsmäßige sowie telekommunikative Vernetzung, die hier jedoch nicht näher betrachtet werden, weil die verkehrsmäßige Vernetzung primär das außerhäusliche Stadtleben modernisierte und die telekommunikative Vernetzung auf breiter Front erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte.
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Der Aufbau von Trinkwasserversorgung, Abwasserbeseitigung und Entwässerung war zentraler Bestandteil der Reaktion auf die Krise der Stadt Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese stellte sich den Zeitgenossen in erster Linie als eine hygienische Krise dar, manifest vor allem in der Gefahr von Epidemien, insbesondere Cholera, und der insgesamt erhöhten Sterblichkeit der städtischen Bevölkerung.9 Ziel dieses Strangs der Vernetzung war eine fundamentale ‚Hygienisierung‘ der Stadt, der Haushalte und somit der Bewohner: Das technisch als Gesamtkomplex fungierende Netzwerk Wasserversorgung / Abwasserbeseitigung – eigentlich zwei Netzwerke, die über das Wasser-Closett in den Wohnungen verkoppelt wurden – ermöglichte ein weiteres Wachstum der Städte ohne demographische Katastrophe und machte die ‚Krise der Stadt‘ auf gesundheitlicher Ebene beherrschbar. Führende Hygieniker wie Edwin Chadwick (1800–1890) in England und Max Pettenkofer (1818–1901) oder Georg Varrentrapp (1809–1886) in Deutschland erwarteten hiervon die Verbesserung der Reinlichkeit und die Beseitigung von Faul- und Abfallstoffen in den Wohnungen sowie auf Höfen und Straßen, die als Ursache krankheitsauslösender Miasmen gesehen wurden.10 Tatsächlich stellt auch Richard Evans‘ Studie über die Cholera in Hamburg eine deutlich negative Korrelation zwischen Anteil von Wohnungen mit Badezimmer und (geringer) Höhe der Cholerasterblichkeit fest, was natürlich letztlich den sozialen Status der unterschiedlichen Stadtviertel bemisst.11 Mit dem Einzug von Rohrleitungen mit fließendem Wasser in die Wohnungen und der Möglichkeit, körperliche Ausscheidungen mittels des WC wohnungsnah zu erledigen, vollzog sich innerhalb weniger Jahrzehnte ein tiefgreifender Wandel im Verhalten der Menschen, den Peter Gleichmann – im Anschluss an Norbert Elias – als „Verhäuslichung von Vitalfunktionen“ fasst.12 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
9 Vgl. zur Sanitary Reform in Großbritannien Christopher Hamlin, Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick. Britain, 1800–1854. Cambridge 1998; zu Deutschland Ulrich Koppitz/Jörg Vögele, Sanitäre Reform und der epidemiologische Übergang in Deutschland (1840–1920), in: Susanne Frank/Matthew Gandy (Hrsg.), Hydropolis. Wasser und die Stadt der Moderne. Frankfurt am Main 2006, 75–93; Anne I. Hardy, Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005; Beate Witzler, Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung. Stuttgart 1995; zum Bau der Kanalisation immer noch wichtig John v. Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983. 10 Vgl. Hamlin, Public Health (wie Anm. 9); Hardy, Ärzte (wie Anm. 9). 11 Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830– 1910. Reinbek bei Hamburg 1991, 505–592. 12 Peter R. Gleichmann, Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen, in: ders./Johan Goudsblom/ Hermann Korte (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias‘ Zivilisationstheorie. Frankfurt am Main 1979, 252–279; ders., Von der stinkenden Stadt zum Toilettenzimmer. Zur langfristigen Verhäuslichung menschlicher Vitalfunktionen – die Harn- und Kotentleerung, in: Marie-Paule Jungblut/Martin Exner (Hrsg.), ‚Sei sauber …!‘. Eine Geschichte der Hygiene und öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa. Köln 2004, 76–85.
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waren öffentliches Urinieren und Defäkieren auf Straßen und Plätzen noch durchaus übliche Praktiken. In dem Maße, wie einerseits technische Alternativen in Form von Wohnungs-WCs13, aber auch öffentliche Bedürfnisanstalten als „unentbehrliche Requisiten der Großstadt“14 zur Verfügung standen, andererseits aber solche Verhaltensweisen im Zuge des Normenwandels zunehmend als ‚peinlich‘ und ‚unanständig‘ empfunden sowie auch als Ordnungswidrigkeiten obrigkeitlich verfolgt wurden, verlagerten sich die Vitalfunktionen in häusliche, dem allgemeinen Blick versperrte Bereiche. Zunehmend veränderte sich auch dort die Platzierung der Örtlichkeit, wo körperliche Ausscheidungen erledigt wurden: Befand sich im frühneuzeitlichen Haus der Abort häufig noch auf dem Hof, also außerhalb des eigentlichen Hauses, so rückte dieser zunehmend, zunächst am Rand, in den Binnenraum des Hauses. Die Hygienisierung des alltäglichen Verhaltens, die im Bürgertum schon im 18. Jahrhundert begann15, erfasste immer breitere Volksschichten und führte mittelfristig zu einem Verhaltenswandel auf breiter Basis. Ein solch fundamentaler Diffusionsprozess brauchte längere Zeit: Die Popularisierung von WCs hatte in England einen bedeutenden Schub im Gefolge der ersten Weltausstellung von 1851 gemacht, bei der über 800 000 Besucher die als Wasser-Closetts gestalteten Ausstellungstoiletten benutzten.16 Der erste infrastrukturell erforderliche Schritt, der Anschluss von städtischen Häusern an die Kanalisation, erfolgte in der Regel in erstaunlich kurzen Zeiträumen. In Darmstadt etwa waren, nachdem 1880 die Wasserversorgung ihren Betrieb aufgenommen und der Bau der Kanalisation begonnen hatte, 1897 alle Straßen der Stadt kanalisiert und fast alle Grundstücke an die Kanalisation angeschlossen.17 Das erlaubt aber noch keine Aussage darüber, welche sanitäre Infrastruktur in den Wohnungen selbst vorhanden war. Ein wesentliches Hindernis für die rasche Diffusion sanitärer Infrastruktur waren die hohen Kosten für den nachträglichen Einbau von Wasserleitungen, insbesondere aber von Abwasserrohren. Deren großer Durchmesser und die Notwendigkeit der vertikalen Führung brachten massive Beeinträchtigungen für das Mauerwerk. Daher dauerte es teilweise sehr lange, bis die Ausstattung von Wohnungen mit WCs allgemeiner Standard war.
13 Zur Geschichte des WC vgl. Daniel Furrer, Geschichte des stillen Örtchens. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens. Darmstadt 2010; David J. Eveleigh, The Story of Domestic Sanitation. Thrupp 2006 [2002]. 14 Vgl. Peter Payer, Unentbehrliche Requisiten der Großstadt. Eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten von Wien. Wien 2000. 15 Vgl. Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860. Göttingen 1997. 16 Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt am Main 1999, 52. 17 (Stadtbaurat) Keller, Die Entwässerung der Stadt Darmstadt, in: Wilhelm Glässing/Rudolf Mueller/Erwin Stein (Hrsg.), Darmstadt. Oldenburg 1913, 159–176; Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 174; Marcus Stippak, Beharrliche Provisorien. Städtische Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in Darmstadt und Dessau 1869–1989. Münster 2010.
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So waren etwa in Berlin-Kreuzberg in einem Sanierungsgebiet am Kottbuser Tor im Jahr 1962 noch zwei Drittel aller Wohnungen ohne WC innerhalb der Wohnung, nur 15 % der Wohnungen hatten ein Badezimmer. Dies hing natürlich auch mit dem Alter des Wohnungsbestands zusammen. 68 % dieser Häuser waren vor 1870, also vor der allgemeinen Einführung der Kanalisation in Berlin, gebaut worden.18 WCs wurden in Altbauten nicht selten, weil baulich einfacher, an das Treppenhaus angebaut, lagen also außerhalb der Wohnung auf ‚halber Etage‘ und wurden teilweise auch von mehreren Wohnparteien gemeinsam genutzt. Noch nach 1900 hatte nur gut die Hälfte der Münchner Wohnungen einen eigenen Abort; 44,9 % mussten sich den Abort – nicht notwendig ein WC – mit anderen Wohnparteien teilen.19 Der Fortschritt hygienischer Modernisierung auf der Ebene der Wohnungsausstattung hing wesentlich von der Erneuerungsrate des Wohnungsbestands ab. Bedenkt man, dass die Wachstumsrate des städtischen Wohnungsbestands damals trotz rapiden Stadtwachstums bei unter 3 % pro Jahr lag, so zeigt sich der langfristige Charakter dieser Technisierung.20 Bei Neubauwohnungen wurde teilweise durch Bauordnungen bereits Ende des 19. Jahrhunderts der Einbau von WCs vorgeschrieben.21 Die Jahrhundertwende brachte eine deutliche Steigerung von Badezimmern – was in der Regel auch den Einbau von WCs beinhaltete – etwa in Berlin von 6,8 % 1895 auf 13,5 % im Jahre 1910, von 10,7 % auf 20,9 % im gleichen Zeitraum in Hamburg.22 Knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung hatte um 1900 fließend Wasser in der Wohnung.23 Auch im Reformwohnungsbau unmittelbar nach 1900 war die Ausstattung mit Badezimmern keineswegs allgemeiner Standard, wie Beispiele von positiv hervorgehobenen Projekten aus Ulm zeigen.24
18 Zahlen nach Thomas H. Elkins, Berlin. The Spatial Structure of a Divided City. London 1988. 19 Clemens Wischermann, Mythen, Macht und Mängel. Der deutsche Wohnungsmarkt im Urbanisierungsprozeß, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, 333–502, hier 431. 20 Berechnung nach Clemens Wischermann, Wohnen in Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg. Münster 1983, 442 (Tab. 7: Das Versorgungsniveau mit Wohnungen in Hamburg von 1867 bis 1912). Angesichts der Tatsache, dass Hamburg, für das diese Zahl berechnet wurde, eine der am dynamischsten wachsenden Städte des Reiches war, wird einsichtig, dass eine Durchsetzung der Sanitärtechnologie allein durch die natürliche Verjüngung des Hausbestands nur recht langfristig zu erwarten war. 21 Vgl. Ekke Feldmann, Bauordnungen und Baupolizei. Zur Entwicklungsgeschichte zwischen 1850 und 1950. Frankfurt am Main 2011. 22 Haushaltsträume. Ein Jahrhundert Technisierung und Rationalisierung im Haushalt, bearb. von Barbara Orland. Königstein im Taunus 1990, 83; vgl. auch Christina Trupat, ‚Bade zu Hause!‘ Zur Geschichte des Badezimmers in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Technikgesch. 63, 1996, 219–236; Wischermann, Mythen (wie Anm. 19), 429–434. 23 Ute Daniel, Der unaufhaltsame Aufstieg des sauberen Individuums. Seifen- und Waschmittelwerbung im historischen Kontext, in: Imbke Behnken (Hrsg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Opladen 1990, 43–60, hier 48. 24 Grundrisspläne eines Beamtenwohngebäudes des Spar- und Bauvereins Ulm und einer Arbeitersiedlung in Clemens Zimmermann, Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Reformerisches
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Allerdings heißt es um 1910 in einer populären Anleitung zum Eigenheimerwerb: „Die Zeiten, wo man ein Badezimmer im Eigenheim als Luxus ansieht, sind wohl endgültig vorüber; heute ist das Badezimmer ebenso sehr ein selbstverständlicher Raum wie z. B. die Küche.“25 Die Entwicklung des Badezimmers als standardisierte architektonische Einheit war – so Christina Trupat – in Deutschland um 1914 abgeschlossen: Die Technik der Warmwasserbereitung war ausgeformt, und allgemeine und generell anerkannte Prinzipien der Anordnung von Badewanne, Waschtisch und WC hatten sich herausgebildet.26 Die weitere Diffusion von Badezimmern hing also wesentlich von der Bereitschaft der Bauherren bzw. Hausbesitzer ab, die erforderlichen zusätzlichen Kosten bei Neubauten in Erwartung höherer Mieten aufzubringen oder Badezimmer nachträglich zu installieren. Dies war allerdings sehr teuer und in kleinen Wohnungen mangels eines verfügbaren Zimmers kaum durchführbar. Auch eine eigene Küche war um 1900 keineswegs genereller Standard: In größeren württembergischen Städten hatten 1905 zwischen 67,2 und 91,5 % der Wohnungen eine eigene Küche.27 Waren die Triebkräfte für die Einführung der sanitärtechnischen Netzwerke auf gesamtstädtischer Ebene in erster Linie gesundheitspolitische, d. h. die Vorsorge gegen unkontrollierbare Epidemien wie die im 19. Jahrhundert gefürchtete Cholera, aber auch das Bemühen, endemische Magen-Darm-Krankheiten wie Typhus und Ruhr zu reduzieren, so hing die Diffusionsgeschwindigkeit dieser sanitärhygienischen Modernisierung auf der Ebene des einzelnen Hauses vom ökonomischen Kalkül ab, nämlich der Überlegung, ob die hohen Kosten für eine nachträgliche Installierung (zum Beispiel von WCs) im Verhältnis zum erwartbaren Mehrertrag bei Mieten standen.
2 Energietechnische Vernetzung der Stadt: Gas und Elektrizität in die Wohnungen Im Energiebereich waren Gaswerke historisch meist die erste Form von Vernetzung, die nach britischen Vorläufern seit 1810 in deutschen Haupt- und Handelsstädten schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte (in Berlin etwa 1826, in Leipzig
Engagement und öffentliche Aufgaben, in: Reulecke (Hrsg.), Das bürgerliche Zeitalter (wie Anm. 19), 503–636, hier 607 f. 25 Ph. Kamm (Hrsg.), Wie jede Familie im Eigenhause billiger als zur Miete wohnen kann. Wiesbaden o. J. [um 1910], 80. 26 Trupat, ‚Bade zu Hause‘ (wie Anm. 22), 229. 27 Wischermann, Mythen (wie Anm. 19), 428.
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1838).28 Hauptzweck der Gaswerke war aus städtischer Sicht zunächst die Verbesserung der öffentlichen Beleuchtung, für die sich die Städte häufig von den privaten Betreibern der Gaswerke Vorzugspreise und Konditionen in den Konzessionsverträgen sicherten. Mit der Verlegung von Gasröhren in fast allen städtischen Straßen entstand aber auch für private Verbraucher die Möglichkeit, in ihren Wohnungen und Wirtschaftsbetrieben Gaslicht zu installieren. Ab Mitte der 1880er Jahre trat die Elektrizitätsversorgung als weiterer Zweig der Energieversorgung hinzu, und es entwickelte sich ein spannungsreiches Verhältnis der Konkurrenz bzw. Kooperation zwischen den beiden Energieversorgungssystemen.29 Zentral wurde insbesondere die Innovation des Auer-Gasglühlichts um 1890, das zunächst die Konkurrenzposition des Gaslichts wegen sehr großer Preisvorteile wieder stärkte. Andererseits sah sich die Gasindustrie angesichts der enormen Einspareffekte des Glühlichts – das Auer-Glühlicht verbrauchte bei gleicher Lichtausbeute nur ein Sechstel der Gasmenge im Vergleich zu einer konventionellen Gaslampe – im Sinne der Erhaltung ihres Marktanteils zur Diversifizierung und zur Entwicklung neuer Anwendungsfelder gedrängt. Seit den 1890er Jahren erschlossen die Gaswerke daher intensiv neue Märkte im Wärme- und Energiebereich, was vor allem für die Modernisierung des Wohnens sehr wichtig wurde.30 Gaswerke, zu diesem Zeitpunkt in Deutschland wie in Großbritannien ganz überwiegend in städtischem Besitz, gaben Gas für Beleuchtung und für Wärmebedarf nach unterschiedlichen Tarifen ab. Das Heizgas wurde dabei in der Regel deutlich billiger verkauft. Als Folge kam Gas im Wohnungsbereich zunehmend als Heizenergie in der Küche, bei der Warmwasserbereitung und bei der Raumheizung zum Einsatz. In kurzer Zeit entwickelten Hersteller von Gasherden und Gasboilern ein breites Spektrum von im Wohnbereich einsetzbaren Geräten, die dann auch von den Gaswerken in Schauräumen und durch
28 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München 1983; Johannes Körting, Geschichte der deutschen Gasindustrie. Essen 1963; Dieter Schott, The Significance of Gas for Urban Enterprises in Late 19th Century German Cities, in: Serge Paquier/Jean-Pierre Williot (Hrsg.), L’industrie du gaz en Europe aux XIXe et XXe siècles. L’innovation entre marchés privés et collectivités publiques. Bruxelles 2005, 491–508. 29 Vgl. Helmut Lindner, Strom. Erzeugung, Verteilung und Anwendung der Elektrizität. Reinbek bei Hamburg 1985; Thomas P. Hughes, Networks of Power. Electrification in Western Society 1880–1930. Baltimore 1983; Thomas Herzig, Wirtschaftsgeschichtliche Aspekte der deutschen Elektrizitätsversorgung 1880 bis 1990, in: Wolfram Fischer (Hrsg.), Die Geschichte der Stromversorgung. Frankfurt am Main 1992, 121–166. 30 Hans-Joachim Braun, Gas oder Elektrizität? Zur Konkurrenz zweier Beleuchtungssysteme, 1880– 1914, in: Technikgesch. 47, 1980, 1–19; Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 224–229, 423–437, 532–542, 672–676; zum Gasherd und dessen Propagierung im ausgehenden 19. Jahrhundert Joachim Schaier, Kochmaschine und Turbogrill. Haushaltstechnik im 19. Jahrhundert und neue Energien, in: Technikgesch. 60, 1993, 331–346.
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entsprechende Gerätemiettarife nachdrücklich beworben wurden.31 Der bereits oben erwähnte Schub im Hinblick auf den Einbau von Badezimmern in bürgerlichen Wohnungen und Häusern fand hier, in der Verfügbarkeit einfach zu bedienender Gasbadeöfen und Gasboiler, seine technische Grundlage. Kurz nach der Jahrhundertwende überwog dann bereits bei vielen deutschen Gaswerken der Verbrauch für Koch- und Heizgas jenen für Lichtgas.32 Diese Diffusion hatte sich zunächst, angesichts der hohen Kosten für Gasherde und Gasboiler, eher auf die Ober- und Mittelschicht beschränkt, aber recht bald wurde Gas auch für die Arbeiterschaft attraktiv. Der Gasherd bot etwa für Arbeiterfrauen, die selbst auch arbeiten gingen, die Möglichkeit, rasch ein Essen bereiten zu können, während der traditionelle Holz- und Kohleherd erst ein längeres Vorheizen benötigte, um die für das Kochen erforderlichen Temperaturen zu erreichen.33 Städtische Gaswerke waren zudem bestrebt, den Einstieg in die Nutzung von Gas – vor allem zum Kochen für Arbeiterfamilien – durch den Einsatz von Münzgasautomaten attraktiv und kalkulierbar zu machen, was die Stadt Mannheim ab 1902 durch die Überlassung von einem einfachen Gasherd und zwei Gaslampen für die Küche und ein angrenzendes Zimmer förderte. Die (Mindest-)Kosten von 18 Pf/Tag waren bei einem Taglohn von 3–4 Mark eine nicht zu unterschätzende Belastung, aber 1910 bezogen immerhin 1 500 Mannheimer Haushalte Gas über solche Automaten. Das wesentliche Motiv für das Gaswerk, dieses nicht allzu profitable Angebot zu machen, lag in der Hoffnung, Arbeiterfamilien, die sich sonst aus Angst vor unkalkulierbaren Belastungen ferngehalten hätten, auf diese Weise an den Gaskonsum zu gewöhnen.34 Ähnliche Modelle waren auch in vielen britischen Städten im Gebrauch, wo die Gaswerke deutlich aktiver als in deutschen Städten die Diffusion von gasverbrauchenden Haushaltsgeräten mittels Mietkaufsystemen, bei denen die Raten über Zuschläge zum Gaspreis entrichtet wurden, vorantrieben.35 Die energietechnische Vernetzung bewirkte (wie auch die sanitärhygienische) eine Verhäuslichung der Haushaltsarbeit: Die für Heizen, Kochen, Warmwasserbereitung erforderlichen Brennstoffe mussten
31 Vgl. Schaier, Kochmaschine (wie Anm. 30); Trupat, ‚Bade zu Hause‘ (wie Anm. 22); Karl Ditt, Zweite Industrialisierung und Konsum. Energieversorgung, Haushaltstechnik und Massenkultur am Beispiel nordenglischer und westfälischer Städte 1880–1939. Paderborn 2011, 301 f. 32 1901 entfielen in Mannheim 47,1 % auf Leuchtgas, dagegen 52,9 % auf Koch- und Motorengas, vgl. Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 339; in Mainz überholte um 1900 der Verbrauch für Koch-, Heiz- und Motorengas den für Leuchtgas, vgl. ebd., 535. 33 Diese Nutzung für Kochzwecke in Arbeiterhaushalten wird etwa in der Konsumentenstatistik deutlich: 1908 wurden in Mannheim 4 571 Verbraucher gezählt, die nur Koch- und Heizgas verbrauchten bei insgesamt 17 346 Gaskonsumenten. Auch bei Tarifdebatten in der Stadtverordnetenversammlung wurde wiederholt das Argument angeführt, ein höherer Kochgaspreis treffe insbesondere die Arbeiterschaft, vgl. Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 426, 436. 34 Ebd., 431 f. 35 Ditt, Zweite Industrialisierung (wie Anm. 31), 307–309; Francis Goodall, Burning to Serve. Selling Gas in Competitive Markets. Ashbourne 1999, insbes. Kap. 9, 158–169.
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nicht mehr aus dem Wald bzw. aus dem Kohlenkeller geholt werden; die jeweils benötigte Energie stand sofort zur Verfügung. Zudem versprach die Nutzung von Gas und Strom eine durchgreifende Hygienisierung der Wohnung: Kein Kohlestaub verunreinigte mehr die Wohnung, die Verbrennung erfolgte wesentlich sauberer. Es entstand kein Ruß, keine Asche und Schlacke waren mehr zu entsorgen. Da gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Tuberkulose zum wichtigsten epidemiologischen Problemfall geworden war, und damit die Frage der Luftqualität, der Reduzierung von Staub und Rauch zum zentralen gesundheitspolitischen Thema avancierte36, begrüßten die Wortführer der Wohnungsreform wie auch die Hygieniker die neuen Technologien enthusiastisch.37 Diese versprachen, die bislang unvermeidlich scheinende Umweltbelastung der Industrialisierung zu reduzieren bzw. ganz zu vermeiden. Wie wurden Gas und Strom nun für die Nutzung in Wohnungen verfügbar, welche Faktoren waren für deren Diffusion und Nutzung entscheidend? Da fast alle ordentlich ausgebauten Straßen mit Gaslicht beleuchtet wurden, war innerhalb der Städte in der Regel eine Anschlussmöglichkeit für Gas vorhanden. Es hing also (wie beim Wasser) vom einzelnen Hausbesitzer ab, ob er prinzipiell einen Gasanschluss für das Haus erstellte. In Häusern, die überwiegend von Mietern aus der Unterschicht bewohnt wurden, war zunächst der finanzielle Anreiz, einen Gasanschluss nachträglich zu installieren, relativ gering. In Arbeiterhaushalten war bis ins 20. Jahrhundert die Petroleumbeleuchtung, die preislich deutlich günstiger war als die Gasbeleuchtung, die Regel. Die Petroleumlampe war im Unterschied zum Gaslicht mobil; sie wurde dort aufgestellt, wo man Licht brauchte. In einer Untersuchung von 85 Dresdener Arbeiterhaushalten aus dem Jahr 1903 war in keinem einzigen Gas- oder elektrisches Licht vorhanden.38 In bürgerlichen Wohnungen wurde im Gegensatz dazu am Ende des 19. Jahrhunderts Gasversorgung zunehmend zum Standard. Neubauten in Großstädten waren ab den 1880er Jahren fast durchgängig mit Wasser-, Abwasserund Gasleitungen ausgestattet.39
36 Vgl. Flurin Cundrau, Lungenheilanstalt und Patientenschicksal. Sozialgeschichte der Tuberkulose in Deutschland und England im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2000. 37 Vgl. zur Bedeutung der Hygiene als gesellschaftlicher Leitbegriff um 1900 Dieter Schott, The ‚Handbuch der Hygiene‘. A Manual of Proto-Environmental Science in Germany of 1900, in: Victoria Berridge/Martin Gorsky (Hrsg.), Environment, Health and History. Basingstoke 2012, 69–93. Zur symbolischen Wirkung der Elektrizität als ‚zauberhafte‘ Technik vgl. Beate Binder, Elektrifizierung als Vision. Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag. Tübingen 1999; Dieter Schott, Das Zeitalter der Elektrizität. Intentionen – Visionen – Realitäten, in: JbWG, 1999, 31–49. 38 Robert Liefmann, Petroleum, in: Ludwig Elster/Adolf Weber/Friedrich Wieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. Bd. 6. Jena 1925, 837–859; Elisabeth Gransche/Erich Wiegand, Zur Wohnsituation von Arbeiterhaushalten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1981. 39 Das massive Insistieren von Vororten bei Eingemeindungen, dass sich die Kernstädte in Eingemeindungsverträgen verpflichteten, innerhalb kurzer Zeit die Straßen der Vororte mit Wasser-, Abwasser- und Gasleitungen zu versehen, unterstreicht dieses Verständnis der Infrastrukturen als un-
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Bei der Elektrizität können wir für die Frühphase dagegen nicht von einem flächendeckenden Netz ausgehen. Elektrizität wurde zunächst aus Kostengründen nur punktuell zur Straßenbeleuchtung eingesetzt40, daher beschränkte sich das Leitungsnetz in der Anfangszeit auf die Innenstadtstraßen, wo das Elektrizitätswerk die wichtigsten Verbraucher vermutete.41 Prestigeträchtige Theater, gehobene Restaurants, Warenhäuser, Geschäfte und Lokale in der Innenstadt waren die Kunden der frühen Elektrifizierung, nicht dagegen Privathaushalte. Wollten sich Anwohner von gehobenen Wohnvierteln elektrische Beleuchtung sichern, so mussten sie gegenüber dem Elektrizitätswerk häufig eine Abnahmegarantie unterschreiben, die die Rentabilität der hohen Netzinvestitionen sicherstellen sollte.42 Ein E-Werk in der Stadt bedeutete also noch lange nicht, dass elektrische Energie tatsächlich überall zur Verfügung stand. Neben den hohen Preisen wirkten hier auch technische Eigenschaften der in der Anfangsphase meist präferierten Gleichstromtechnik restriktiv: Weil sich im Gleichstromsystem der Strom nur über einen eng begrenzten Radius ohne zu große Verluste transportieren lässt, blieben Gebiete am Stadtrand, aber häufig auch die Industrie, zunächst unversorgt. Erst mit dem Drehstromsystem, das ab 1900 zunehmend zur Technik der Wahl wurde, konnten diese Hindernisse überwunden werden.43 Elektrizität war entsprechend vor dem Ersten Weltkrieg für den Wohnbereich eine Art ‚Luxusillumination‘, die Domäne der Oberschicht. Angesichts der sehr hohen Kosten sowohl für Installation als auch für Verbrauch hatten nur ca. 10 % der Privathaushalte in den vom Verfasser näher untersuchten deutschen Städten 1914 elektrischen Anschluss, dagegen etwa 50 % Gasanschluss; eine Kilowattstunde kostete im Durchschnitt 50 Pf, während gelernte Industriearbeiter in Deutschland 1913 Stundenlöhne von 60–70 Pf erhielten.44
verzichtbarer und mittlerweile ‚normaler‘ Ausstattung von Großstädten, vgl. Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 492 ff., 609, 728. 40 Für Darmstadt wurde berechnet, dass um 1900 eine elektrische Straßenbeleuchtung hinsichtlich der Verbrauchs- und Wartungskosten etwa dreimal so teuer gekommen wäre, vgl. Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 225. 41 Vgl. ebd., 177 ff.; für Düsseldorf Thomas Bohn/Hans-Peter Marschall, 100 Jahre Strom für Düsseldorf 1891–1991. Düsseldorf 1991, 15–19; für Bremen Achim Saur, Eine ‚elektrische Centralanlage‘ für Bremen. Die Anfänge der Elektrizität in der Hansestadt, in: Jörn Christiansen (Hrsg.), Bremen wird hell. 100 Jahre Leben und Arbeiten mit Elektrizität. Bremen 1993, 18–33. 42 Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 222 f. 43 Die Umweltbelastungen durch ein zentrumsnahes Gleichstromkraftwerk waren auch wesentlich für die jahrelangen Debatten über Elektrifizierung, die in Frankfurt etwa zur wegweisenden ‚Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung‘ von 1891 führten, vgl. Jürgen Steen u. a., ‚Eine neue Zeit…!‘ Die Internationale Elektrotechnische Ausstellung 1891. Frankfurt am Main 1991. 44 Stundenlöhne nach Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd., Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Weltkriegs: 1849–1914. München 1995, 778. Strompreise nach Schott, Vernetzung (wie Anm. 3), 733; vgl. auch Adelheid von Saldern, Im Hause, zu Hause. Woh-
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Die Technisierung von Beleuchtung und Energieversorgung in Wohnhaushalten vor dem Ersten Weltkrieg erweist sich als eine indirekte Folge der Einführung öffentlicher Gasbeleuchtung in den Städten. Im Zuge der weitgespannten Kommunalisierung dieser Gaswerke um 1880 bemühten sich diese – auch angesichts des drohenden Absatzverlustes wegen technischer Innovationen (Auer-Brenner) – intensiv um eine Erschließung der häuslichen Licht- und Wärmemärkte. Resultat der mittelfristig zu beobachtenden Kosten- und Preissenkungen war eine signifikante Zunahme des kaufkräftigen Publikums, zunächst vorrangig beim Gas, nach dem Ersten Weltkrieg aber auch bei der Elektrizität.
3 Technisierung des Wohnens im Zeichen von Knappheit und kommunaler Wohnungspolitik (1914–1939) Um 1900 waren die technischen und infrastrukturellen Voraussetzungen für eine durchgreifende Modernisierung des Wohnbereichs im Prinzip gegeben. Allerdings standen theoretisches Potential und praktische Nutzung der Netzwerktechnologien über mehrere Jahrzehnte in einem Spannungsverhältnis. Zentrale Determinanten für die Diffusion und Nutzung der Netzwerktechnologien im Wohnbereich waren neben den genannten Kosten später vor allem der Umfang des Wohnungsneubaus sowie die Struktur und Funktionsweise des Wohnungsmarkts. In Deutschland wirkten der fast völlige Stillstand des Wohnungsbaus während des Ersten Weltkriegs und das stark reduzierte Volumen während der Inflationsjahre einer raschen Diffusion moderner Sanitärtechnik in den Wohnungen entgegen.45 Weil der private Mietwohnungsbau, der vor 1914 den Löwenanteil des Angebots produziert hatte, praktisch völlig darnieder lag46, hing die Modernisierung des Wohnungsbestands in der Weimarer Republik in erster Linie vom Willen der öffentlichen Träger, insbesondere der Kommunen, ab. Diese förderten den Mietwohnungsbau aus Mitteln der Hauszinssteuer im Eigenbau oder über Genossenschaften und gemeinwirtschaftliche Betriebe, meist für untere
nen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Reulecke (Hrsg.), Das bürgerliche Zeitalter (wie Anm. 19), 145–332. 45 Zum Wohnungsbau in der Zwischenkriegszeit Gert Kähler, Nicht nur Neues Bauen, in: ders. (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 4: 1918–1945: Reform, Reaktion, Zerstörung. Stuttgart 1996, 303–452; Günther Schulz, Wohnungspolitik in Deutschland und England 1900–1939, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Europäische Wohnungspolitik in vergleichender Perspektive 1900–1939. Stuttgart 1997, 153–165. 46 Vgl. Karl Christian Führer, Mieter, Hausbesitzer, Staat und Wohnungsmarkt. Wohnungsmangel und Wohnungszwangswirtschaft in Deutschland 1914–1960. Stuttgart 1995.
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und mittlere Schichten.47 Die große Wohnungsnot der Nachkriegsjahre hatte den Bau kleiner Wohnungen, meist noch ohne Badezimmer, zur Folge.48 Erst ab 1924 erholte sich auf der Basis der Hauszinssteuer der Wohnungsbau. Im Reformwohnungsbau, wie er beispielhaft etwa unter dem Stadtbaurat Ernst May in Frankfurt am Main praktiziert wurde und im Weiteren noch eingehender vorgestellt wird, waren Innentoilette und eine Dusche oder Sitzbad dann Standard.49 Der durch den Weltkrieg ausgelöste radikale Systemwechsel im Wohnungsmarkt und Wohnungsbau, der Verfügungsgewalt und Mietpreisbildung stark regulierte, dürfte die Modernisierung des privaten Mietwohnungsbestands im Zusammenwirken mit anderen Faktoren wie den extrem hohen Kapitalzinsen nach der Inflation wesentlich verlangsamt haben. Angesichts gedeckelter Mieten und deutlich reduzierter Kaufkraft gerade der bürgerlichen Mittelschichten im Vergleich zur Vorkriegszeit war der materielle Anreiz für den quantitativ nach wie vor überwiegenden privaten Hausbesitz, in sanitärtechnische Modernisierung zu investieren, erheblich eingeschränkt. Trotz spektakulärer und eindrucksvoller Einzelprojekte im Siedlungsbau ‚vergreiste‘ gesamtwirtschaftlich gesehen der Wohnungsbestand in der Zwischenkriegszeit, was sich erst mit dem Wiederaufbau nach 1945 ändern sollte. Deutlich anders stellt sich die Situation im Hinblick auf den Hausbau in Großbritannien dar. Hier setzte zwar ebenfalls mit sozial pazifizierender Intention (Homes for Heroes) nach 1918 ein substantielles Engagement des Staates für den sozialen Wohnungsbau ein, der die Form des council housing annahm: Einfachere, meist kleinere Wohnhäuser wurden am Rand der Städte von den Stadtverwaltungen mit Hilfe staatlicher Zuschüsse errichtet.50 Weil die Mittelschichten in Großbritannien aber nicht einen vergleichbaren Prozess der Verarmung erlebten wie in Deutschland und die Baukosten angesichts niedriger Bodenpreise am Rand der Städte und der economies of scale durch massenhafte Produktion gleicher Häuser real sanken, war hier ab Mitte der 1920er Jahre ein erhebliches Potential für privaten selbstgenutzten Wohnungs- und Hausbau, meist in Form von Ein- und Zweifamilienhäusern, vorhanden.
47 Vgl. Kähler, Neues Bauen (wie Anm. 45); Axel Schildt/Arnold Sywottek, ‚Massenwohnung‘ und ‚Eigenheim‘ – Zum Stand der Diskussion und Erforschung der Geschichte des großstädtischen Wohnungsbaus und Wohnens seit dem Ersten Weltkrieg, in: dies. (Hrsg.), Massenwohnung und Eigenheim. Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 1988, 9–40. 48 Eine Schrift der Firma Thyssen über ihre Werkssiedlungen von 1922 erwähnt Badezimmer mit keinem Wort, auch nicht bei Neubauten nach dem Krieg, vgl. Thyssen-Bergbau (Hrsg.), Siedlungswesen und soziale Einrichtungen des Thyssen-Bergbaues am Niederrhein. Hamborn 1922. 49 Gerd Kuhn, Wohnkultur und kommunale Wohnungspolitik in Frankfurt am Main 1880 bis 1930. Auf dem Wege zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen. Bonn 1998, 127; Grundrisspläne von Berlin-Britz und Karlsruhe-Dammerstock aus der Mitte der 1920er Jahre weisen Badezimmer aus, wenngleich räumlich sehr knapp bemessen (abgedruckt in Kähler, Neues Bauen (wie Anm. 45), 343, 345). 50 Ditt, Zweite Industrialisierung (wie Anm. 31), unterstreicht die umfassende Ausstattung dieser Council Houses mit Gas und Elektrizität, 312.
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Während der Zwischenkriegszeit wurden in Großbritannien daher rund vier Millionen neue Häuser errichtet, zwei Drittel davon von privat. Das Gros dieser neuen und infrastrukturell modern mit Badezimmer und Elektrizität ausgestatteten Häuser wurde in den prosperierenden Regionen rund um London, Birmingham und in den Midlands errichtet, während der stärker krisengeschüttelte altindustrielle Norden deutlich weniger davon geprägt war. Hausbesitz wurde in dieser Periode im Königreich geradezu zum Distinktionsmerkmal, das die Zugehörigkeit zur middle class definierte.51 Wie wirkten sich nun die politischen und wirtschaftlichen Konjunkturen 1914– 1939 auf die Umsetzung der Vernetzungstechnologien im Wohnbereich aus? In Großbritannien vollzog sich die Haushaltselektrifizierung zunächst eher langsam; tatsächlich galt Elektrizität als „[a] rich man’s energy“.52 1924 nutzte nur ein Siebtel der Haushalte von Manchester, vorrangig in bürgerlichen suburbs, Elektrizität. Bis 1937 stieg dieser Anteil wegen langfristig abnehmender Grundgebühren und der Verbreiterung verfügbarer Elektrogeräte auf fünf Siebtel. In den 1930er Jahren führten die Elektrizitätswerke von Manchester, ähnlich wie dies am Beispiel von Mannheim bereits für das Gas um 1900 gezeigt wurde, Münzautomaten ein, so dass die Arbeiterschaft in breiterem Umfang als Stromkunden gewonnen werden konnte. Insgesamt verdoppelte sich zwischen 1933 und 1940 der Stromverbrauch in britischen Städten.53 In Deutschland setzten dem Ausbau der Gas- und Stromversorgung trotz Petroleummangel zunächst während des Kriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit kriegswirtschaftliche Mangelsituationen in puncto Kohle, aber auch an Materialien für Kabel- und Röhrenbau enge Grenzen. Der nach Ende der Inflation 1924 einsetzende nachholende Investitionsschub in Kraftwerke und Netze produzierte dann Ende der 1920er Jahre erhebliche Überkapazitäten. Langfristig gesehen, verbilligten sich die realen Kosten für Gas, insbesondere aber für Strom sehr erheblich: Lag der in den meisten deutschen Städten übliche Preis für Lichtstrom für Haushalte vor 1914 bei 50 Pf/kWh, so sank dieser bis 1930 auf unter 40 Pf, bei Berücksichtigung neuer Tarifformen sogar noch deutlich darunter.54 Dies veranlasste die Elektrizitätswirtschaft
51 Vgl. J. A. Yelling, Land Property and Planning, in: Martin Daunton (Hrsg.), The Cambridge Urban History of Britain, Bd. 3: 1840–1950. Cambridge 2000, 467–493,484–490; Colin G. Pooley, Patterns on the Ground. Urban Form, Residential Structure and the Social Construction of Space, in: Daunton (Hrsg.), Urban Hist., 429–465, 453–465; Andrew Miles, Social Structure 1900–1939, in: Chris Wrigley (Hrsg.), A Companion to Early Twentieth-Century Britain. Oxford 2003, 337–352. 52 Bill Luckin, Questions of Power. Electricity and Environment in Inter-war Britain. Manchester 1990, 53. 53 Ebd., 63. 54 In Bremen 1926 35 Pf/kWh, in Düsseldorf 38 Pf/kWh 1935, in Darmstadt 1931 40 Pf/kWh; zu Bremen Achim Saur, Die Geschichte der Bremer Stromversorgung, in: Heinz-Gerd Hofschen (Hrsg.), Bremen wird hell. 100 Jahre Leben und Arbeiten mit Elektrizität. Bremen 1993, 54 f.; zu Düsseldorf Bohn/ Marschall, 100 Jahre Strom (wie Anm. 41), 53–55.
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u. a. zu systematischer Werbung für Stromnutzung im Haushalt.55 So engagierte der regionale Stromversorger HEAG in Darmstadt 1927 eine bekannte Schriftstellerin für Werbevorträge mit Probekochen in zahlreichen Orten des Absatzgebietes.56 Nach 1933 unterstützte das NS-Regime dann unter dem martialischen Namen ‚Elektrofront‘ Kampagnen zur Haushaltselektrifizierung und zum Kauf von Elektrogeräten als Beitrag zur Arbeitsbeschaffung und zur Autarkiepolitik. So warb man etwa für den Kauf von Kühlschränken mit dem Motto ‚Kampf dem Verderb‘. Allerdings blieb der Erfolg solcher Kampagnen begrenzt: Weniger als 1 % der deutschen Haushalte hatte 1937 einen elektrischen Kühlschrank.57 Wirtschaftspolitisch zielte die staatliche Energiepolitik, wie sie sich im Energie-Wirtschafts-Gesetz und in der Deutschen Gemeinde-Ordnung von 1935 artikulierte, dahin, die Elektrizitätswirtschaft im Sinne einer kriegsvorbereitenden Wehrhaftmachung zu effektivieren und bei Einräumung regionaler Versorgungsmonopole unter staatliche Aufsicht zu stellen.58 Bereits in den 1920er Jahren entwickelte sich die Haushaltselektrifizierung, nachdrücklich befördert von der Elektrizitätswirtschaft, recht rasch: In Berlin stieg die Anschlussquote privater Haushalte von 27,4 % 1925 auf 54,8 % 1928.59 Um 1930 war die Elektrifizierung Deutschlands dann fast flächendeckend. Nur abgelegene Orte waren noch ohne öffentliche Stromversorgung und wurden in den 1930er Jahren mit großer propagandistischer Orchestrierung elektrifiziert. Elektrizität diente im Haushalt vorrangig der Beleuchtung sowie dem Betrieb kleinerer Geräte, die vergleichsweise wenig Strom verbrauchten. Sehr populär war etwa das elektrische Bügeleisen; in einem Vorort von Darmstadt hatten Ende der 1920er Jahre bereits 90 % der an
55 Kristiana Hartmann, Alltagskultur, Alltagsleben, Wohnkultur, in: Kähler (Hrsg.), Reform (wie Anm. 45), 287 ff.; Wolfgang Zängl, Deutschlands Strom. Die Politik der Elektrifizierung von 1866 bis heute. Frankfurt am Main 1989, 115 f.; Martina Heßler, Die Einführung elektrischer Haushaltsgeräte in der Zwischenkriegszeit. Der Angebotspush der Produzenten und die Reaktion der Konsumentinnen, in: Technikgesch. 65, 1998, 297–311, insbes. 300–303. 56 ‚Darmstädter Tagblatt‘, 8. 4. 1927. Im Jahr 1939, nach intensiven Werbekampagnen, zählte man in Deutschland 800 000 Elektroherde bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 70 Millionen, vgl. Zängl, Deutschlands Strom (wie Anm. 55), 245. 57 Ullrich Hellemann, Künstliche Kälte. Die Geschichte der Kühlung im Haushalt. Gießen 1990, 154. 58 Hans-Dieter Hellige, Entstehungsbedingungen und energietechnische Langzeitwirkungen des Energiewirtschaftsgesetzes von 1935, in: Technikgeschichte 53, 1986, 123–155; Bernhard Stier, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950. UbstadtWeiher 1999, 442–484. 59 Frauke Langguth, ‚Elektrizität in jedem Gerät‘ – Die Elektrifizierung der privaten Haushalte am Beispiel Berlins, in: Orland (Bearb.), Haushaltsträume (wie Anm. 22), 93–102. In anderen Städten lag der Elektrifizierungsgrad allerdings höher, in Bremen etwa bei 75 %, in Stuttgart bei 82 %, vgl. Heinrich Büggeln, Die Entwicklung der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft in Deutschland. Stuttgart 1930, 177.
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das Stromnetz angeschlossenen Haushalte ein Bügeleisen, 20 % verfügten über ein Radio.60 Zur ‚Modernisierungsfront‘ von Staat, Elektroindustrie und Elektrizitätswirtschaft gesellten sich weitere Akteure: Architekten und Wohnungsreformer, die in der Zwischenkriegszeit programmatisch und praktisch neue Bau- und Wohnformen zu entwickeln suchten, plädierten für eine durchgreifende Modernisierung der ‚Wohnkultur‘ im Sinne einfacherer, schlichter Wohnformen, rationalisierter Wohnungsproduktion sowie rationalisierter Grundrisse.61 Dabei galt insbesondere die Elektrizität als die moderne, hygienische und universale Energietechnologie par excellence.62 Hausfrauenverbände sahen angesichts der volkswirtschaftlich „geforderten“ Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen wie auch der Schwierigkeiten, hauswirtschaftliches Personal für die bürgerlichen Haushalte zu rekrutieren, in der verstärkten Ausstattung der Haushalte mit Elektrogeräten die Chance, der Frau im Bürgertum die Chance zu geben, ihren Haushalt mit Hilfe der ‚elektrischen Helfer‘ weiterhin auf dem gewohnten Stand zu halten. Zugleich schien die Nutzung elektrischer Geräte die Hausarbeit als eine ‚verwissenschaftlichte‘, den aktuellen Normen des Taylorismus entsprechende Standardisierung statusmäßig aufzuwerten.63 Beide Tendenzen, die Rationalisierung des Wohnens wie auch der Hausarbeit, kamen im Reformsiedlungsbau der 1920er Jahre zusammen. Besonders markant zeigt sich dies in den Bestrebungen des Frankfurter Stadtbaurats Ernst May und seiner Innenarchitektin Margarete Schütte-Lihotzky, die kommunalen Siedlungsbauten mit rund 10 000 auf reine Funktionsküchen reduzierten ‚Frankfurter Küchen‘ und die Bäder vollelektrisch auszustatten. Allerdings stieß diese forcierte Modernisierung der Küchenarbeit und der Energietechnologien teilweise auf massiven Widerstand der Bewohner.64 Häufig waren die zur Verfügung stehenden Geräte noch unzureichend. So brauchte das WasserErhitzen mit Elektrizität viel zu lang und kostete sehr viel Strom. Zugleich dürften aber auch ‚mentale‘ Widerstände eine Rolle gespielt haben. Der traditionelle Kohle-
60 Erhebung über elektrische und Gasanschlüsse (o. D.), Stadtarchiv Darmstadt, ST 15/243 (Eberstadt). In Berlin hatten 1928 56 % der Haushalte mit elektrischem Anschluss ein elektrisches Bügeleisen, 27,5 % einen Staubsauger, vgl. Peter Czada, Die Berliner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit. Berlin 1969, 156. Zur Diffusion des Radios Uta Schmidt, Vom ‚Spielzeug‘ über den ‚Hausfreund‘ zur ‚Goebbels-Schnauze‘. Das Radio als häusliches Kommunikationsmedium im Deutschen Reich (1923– 1945), in: Technikgeschichte 65, 1998, 313–327. 61 Vgl. Bruno Taut, Die Neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin. 3. Aufl. Leipzig 1925. 62 Hartmann, Alltagskultur (wie Anm. 55), 251–275; zur Bedeutung der Hygiene für Wohnungspolitik Marianne Rodenstein/Stefan Böhm-Ott, Gesunde Wohnungen und Wohnungen für gesunde Deutsche, in: Kähler (Hrsg.), Reform (wie Anm. 45), 453–555. 63 Kirsten Schlegel-Matthies, ‚Im Haus und am Herd‘. Der Wandel des Hausfrauenbildes und der Hausarbeit 1880–1930. Stuttgart 1995, 174 ff. 64 Kuhn, Wohnkultur (wie Anm. 49); Martina Heßler, ‚Mrs. Modern Woman‘. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushaltstechnisierung. Frankfurt am Main 2001.
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herd – aus Sicht der Hygieniker und Wohnungsreformer ein Produzent von Dreck, Staub und Ruß – war für viele Familien der Unter- und Mittelschicht Quell der Wärme, Mittelpunkt des Familienlebens, Warmwasserbereiter und Müllschlucker in einem.65 Die von oben verordnete und forcierte Rationalisierung und Modernisierung des Wohnens wurde von den Betroffenen teilweise auch als Zumutung und Fremdbestimmung wahrgenommen.66 Ähnliche Phänomene zeigten sich auch in Manchester, als der Stadtrat Anfang der 1930er Jahre neue kommunale Wohnsiedlungen mit Elektroherden und -boilern ausstattete. Die Mieter hatten enorme Probleme, ihren Konsum mit der neuen Technik auf einem bezahlbaren Niveau zu halten und protestierten massiv.67 Ein besonders spektakuläres Beispiel für die Elektropropaganda seitens fortschrittsorientierter Frauen-Verbände war das All-Electric House, initiiert von der Electrical Association of Women (EAW), eine 1924 gegründete Lobby-Organisation. Die EAW propagierte die Elektrifizierung des Haushalts und forderte mehr Mitbestimmung für Frauen bei diesem Prozess. Diese Lobby-Arbeit war zugleich Bestandteil einer breiteren progressiven Reformagenda mit dem Ziel einer Verbesserung der Haushaltspraxis und einer Hygienisierung der Städte. Die EAW gab die Zeitschrift „Electrical Age for Women“ heraus, gründete bis 1932 30 Ortsgruppen und versuchte Einfluss darauf auszuüben, wie Häuser elektrifiziert wurden, indem eine eigene „Women’s National Specification“ publiziert wurde. Höhepunkt der EAW-Aktivitäten war der Bau eines All-Electric Wohnhauses in Bristol 1935. Unterstützt durch attraktive Stromtarife seitens der Stadt demonstrierte dieses Haus den universalen Charakter häuslicher Elektrifizierung zu diesem Zeitpunkt. Auch architektonisch stach das Haus mit seiner kubistischen Bauhaus-Architektur ins Auge und unterschied sich massiv von der eher konventionellen klinkerdominierten Wohnhausarchitektur britischer Vorstädte der Zwischenkriegszeit. Auch die Heizung war elektrisch, der fireplace bestand aus einem elektrischen Heizstab. Obwohl das Haus großes öffentliches Interesse auf sich zog – rund 20 000 Besucher kamen in einem Monat, und zahlreiche Artikel berichteten in Bau- und Frauenzeitschriften meist positiv darüber – zeigte sich rasch, dass ein solches Haus nach wie vor nur von einer Minderheit bezahlt werden konnte. Die Kosten für Bau und Ausstattung des Hauses lagen bei 1 000 Pfund, dem Dreifachen des Preises eines durchschnittlichen 3-bedroom-Hauses, und die Verbrauchskosten für Strom bei hohen 30 Pfund pro Jahr, immerhin 15 % des durchschnittlichen Einkommens.68 Obwohl kurz vor dem
65 Zur universalen Bedeutung des gemauerten Herds für die Haushaltsarbeit Barbara Orland, Haushalt, Konsum und Alltagsleben in der Technikgeschichte, in: Technikgesch. 65, 1998, 273–295, hier 284 f. 66 Heßler, Mrs. Modern (wie Anm. 64), 293–302. 67 Luckin, Questions (wie Anm. 52), 63. 68 Vgl. Susanna Reece/Gerrylynn Roberts, ‚This Electric Age is Woman’s Opportunity‘. The Electrical Association for Women and its All-Electric House in Bristol, 1935, in: The Local Historian 28, 1998, 94–
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Zweiten Weltkrieg zwei Drittel der britischen Haushalte elektrifiziert waren, nutzte man Strom meist nur zur Beleuchtung. Insgesamt blieb das britische Haus „a machine heated by coal, coke and gas and powered by women.“69
4 Fazit: das technisierte Haus Die Schlüsseltechnologien, die die Technisierung des Hauses im Bereich der Wasserversorgung und Hygienisierung trugen, lagen bereits um ca. 1870 vor. Aufgrund der hygienischen Problematisierung wurden sie dann auch recht rasch von infrastruktureller Seite als städtisches Leistungsangebot prinzipiell verfügbar gemacht. Dennoch dauerte es mehrere Jahrzehnte, in Deutschland nicht selten bis zur WiederaufbauArchitektur nach 1945, bis ein WC innerhalb der Wohnung und ein Badezimmer zum allgemein erwarteten Standard von Wohnungen wurden. Die Diffusionsgeschwindigkeit hing wesentlich von der Erneuerungsrate des Wohnungsbestands ab bzw. der Bereitschaft der Wohnungsbesitzer, erhebliche Beträge in die sanitärtechnische Nachrüstung zu investieren. Der unterschiedliche Entwicklungspfad der Wohnungswirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg war hier von entscheidender Bedeutung. Wirkte in Deutschland die weitgehende Wohnungsbewirtschaftung und Mietbegrenzung als Hemmnis rascher Modernisierung im Altbestand, so war der breite Eigenheim-Boom, der sich in Großbritannien in der Zwischenkriegszeit entwickelte, einer Diffusion der Sanitärtechnologie sehr förderlich. Im Energiebereich waren mit einer nachträglichen Modernisierung nicht so prohibitive Kosten verbunden, von daher vollzogen sich in Zeiten der Knappheit bestimmter Leuchtmittel – etwa Petroleum in Deutschland während des Kriegs – sehr rasche Diffusionsprozesse, die spätestens in den 1930er Jahren dazu führten, dass das Gros städtischer Haushalte in Großbritannien wie in Deutschland elektrisch beleuchtet wurde. Allerdings blieb der vollelektrische Haushalt, angesichts sowohl der Kosten als auch der noch defizitären Geräteentwicklung, das Reservat kleiner vermögender Eliten und ein geistiges Exerzierfeld progressiver Architekten und Haushaltsreformer.
107; Angaben zu Durchschnittslöhnen und Kosten eines Hauses gemäß BBC-News, Pre-war Britons ‚were happier‘, URL: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/wales/4203686.stm (Zugriff: 13. 09. 2014). 69 Leslie Hannah, Electricity Before Nationalisation. A Study of the Development of the Electricity Supply Industry in Britain to 1948. London 1979, 208.
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Wohnungsbau und Wohnen im Sozialismus Seit seiner Erstausstrahlung 1976 gehört es in Russland zu den Neujahrsritualen, den Fernsehfilm „Ironie des Schicksals“ von Eldar Rjazanow zu schauen. Die außerordentliche Beliebtheit dieses sowjetischen Films kann mit der Parodie auf diverse typisch russische Lebensweisen erklärt werden. Vor allem aber erheitert sich das Millionenpublikum alljährlich an der Satire auf die vehement durchgesetzte sowjetische Wohnungspolitik der Nachkriegszeit, die ein hohes Maß an Gleichförmigkeit der Wohnungen und Städte produzierte. Dieser Aspekt des Lebens im Sozialismus wird in „Ironie des Schicksals“ durch die identische fiktive Adresse in Moskau und Leningrad (‚3. Straße der Bauarbeiter, Haus 25, Wohnung 12‘) illustriert, sodass der Hauptdarsteller Schenja erst nach dreistündiger Verwirrung erkennt, dass er sich nicht in seiner Wohnung in Moskau, sondern in einer bis zum Wohnungsschlüssel identischen Wohnung in Leningrad befindet. Nach 1945 entstanden industriell errichtete Wohnsiedlungen nicht nur in den sozialistischen Staaten, sondern auch in West- und Nordeuropa, denn der von NaziDeutschland begonnene Krieg hatte in weiten Teilen Europas und der damaligen Sowjetunion gewaltige Zerstörungen hinterlassen. Die aus dieser Situation resultierende akute Wohnungsnot wurde durch das Wachstum der städtischen Bevölkerung infolge Geburtenüberschuss sowie durch die wieder bzw. neu einsetzende industrielle Entwicklung weiter verstärkt; dementsprechend wurde das Wohnungsbauwesen zu einem politischen Thema.1 Gleichzeitig bot sich durch die gewaltigen Verwüstungen die Möglichkeit, beim Wiederaufbau der Städte Alternativen zu den städtebaulichen Unzulänglichkeiten der sich infolge der Industrialisierung ab dem 19. Jahrhundert immer stärker verdichtenden Städte zu entwickeln und das Wohnen – entsprechend den allgemeinen Prämissen des modernen Bauens – großflächig aus den bestehenden städtebaulichen Kontexten herauszulösen.2 Zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse entstanden daher grundlegend neue, funktionsgegliederte Stadtstrukturen mit einer Trennung der Bereiche Wohnen, Arbeit, Verkehr und Erholung. In Anlehnung an die in den späten 1920er Jahren formulierten Städtebauideale ‚Licht, Luft und Sonne‘ wurden sog. Scheiben-, Zeilen- und Punkthochhäuser frei im
1 Allein in Deutschland waren mehr als 30 % des Wohnraumbestands zerstört, in Polen sogar 40 %; vgl. Nikolai Baranow, Moderner Städtebau. Bau- und Regenerierung der Städte, 1945–1957. Hauptbericht auf dem V. UlA-Kongress in Moskau 1958. Moskau 1958, 3 ff. 2 Tatsächlich soll auch der britische Premierminister Winston Churchill seinen Landsleuten nach den deutschen Luftangriffen im Jahr 1944 zugerufen haben: „A great disaster, but a great opportunity!“ Zit. nach Werner Durth, Nachkriegsarchitektur unter dem Einfluss der Besatzungsmächte; in: Sächsische Akademie der Künste (Hrsg.), Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa. Dresden 2014, 13.
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Stadtgrundriss angeordnet. Die zerstörte ursprüngliche Altbausubstanz wurde vielerorts nicht wieder instandgesetzt, sondern zugunsten einer aufgelockerten Bebauung aufgegeben (Abb. 1). Der Anspruch der Planer war, die Wohnbauten künftig allein in Bezug auf funktionelle und geometrische statt stilverhaftete Ansprüche zu entwickeln, um für die Bevölkerung wohnlichere und hygienischere Wohnverhältnisse zu schaffen. In den sozialistischen Ländern stand darüber hinaus die Entwicklung einer neuen gemeinschaftsbildenden Ordnung im Vordergrund.
Abb. 1: Industrieller Wohnungsbau in Dresden-Johannstadt 1974.
Der folgende Beitrag thematisiert die Geschichte des ‚sozialistischen Wohnens‘ und fragt nach den politischen Einflussnahmen auf das private, häusliche Leben. Im ersten Abschnitt geht es um die Anfänge des ‚sozialistischen Wohnens‘ in der Sowjet union, anschließend richtet sich der Blick auf die Baupolitik und deren Protagonisten in der DDR. Der dritte Teil stellt das Fallbeispiel Dresden in den Mittelpunkt und untersucht Wirkungen und Grenzen der Wohnungsbauprogrammatik. Zum besseren Verständnis sei vorweg der politische Anspruch an eine ‚sozialistische Wohnkultur‘ erläutert: Mit diesem Begriff verband man die Gesamtheit der räumlich-gegenständlichen Bedingungen, sozialen Beziehungen und individuellen Verhaltensweisen im Kontext des Wohnens; also diejenigen Strukturen, die die Persönlichkeitsentwicklung, die Entstehung sozialistischer Gemeinschaftsbeziehungen, die Befriedigung kultureller Bedürfnisse und das soziale Wohlbefinden der Bürger
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fördern sollten, um eine die sozialistische Idee widerspiegelnde Lebensweise herauszubilden. Als deren wesentliche Elemente wurden die Qualität der Wohnung und ihre Lage, eine der Familienstruktur entsprechende Größe, eine den wachsenden materiellen Bedürfnissen entsprechende Ausstattung (sanitäre Einrichtungen, Heizung) sowie die Berücksichtigung kultureller Möglichkeiten und der Ansprüche des einzelnen wie auch der Familie angeführt. Vorrangig galten die Prinzipien der Zweckmäßigkeit und der effektiven Haushaltsführung. Dazu gehörte auch die Ausstattung der Wohngebiete mit gesellschaftlichen Einrichtungen zur Versorgung, Bildung und Erziehung. Zugleich ging es beim Wohnungsbauprogramm aber wesentlich um die Überwindung sozialer und territorialer Unterschiede bezüglich der Wohnbedingungen – was dann zwangsläufig zu einer starken Vereinheitlichung der Wohnverhältnisse führte. Nicht zuletzt galten ein kameradschaftliches und vertrauensvolles Klima in den Hausgemeinschaften sowie gesellschaftliche Aktivitäten zur Ausprägung sozialistischer Verhaltensweisen im Zusammenleben der Bürger in Haus und Wohngebiet als wesentliche Faktoren für ‚sozialistische Wohnkultur‘ – zum Beispiel die Verschönerung der Bauten und der sie umgebenden Anlagen.3 Wenn im Folgenden von ‚sozialistischem Wohnen‘ die Rede ist, dann ist ein explizit auf diesen Anspruch bezogener politischer Ansatz gemeint, der sich zum Ziel setzte, durch eine vereinheitlichte (baulich typisierte), soziale Unterschiede aufhebende Wohnkultur ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. ein kollektives Wohnen zu etablieren und den Menschen im Sinne der sozialistischen Idee umzuerziehen. Durch diese hoch gesteckten Ziele wurde der Wohnungsbau zu einem Symbol für die dahinter stehende politische Idee.
1 Anfänge des ‚sozialistischen Wohnens‘ in der Sowjetunion In der Sowjetunion erhielt das Thema Wohnungsbau frühzeitig Bedeutung, was insbesondere mit der dort zum Aufbau des Sozialismus forcierten Industrialisierung zusammenhing.4 Vor dem Hintergrund der politisch angestrebten Kollektivierung gewann auch die Idee des kollektiven Zusammenlebens zunehmend an Bedeutung. Die ersten Maßnahmen zur Etablierung einer neuen, als sozialistisch verstandenen
3 Manfred Berger u. a., Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin 1970, 770 f.; ferner Walter Ulbricht, Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat. Eröffnungsreferat auf dem V. Parteitag der SED vom 10. bis 16. Juli 1958, in: Bundesarchiv Berlin, Stiftung Parteien- und Massenorganisationen (SAPMO-BArch), NY4182/559, 96. 4 Thomas Flierl (Hrsg.), Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930–33. Texte und Dokumente. Berlin 2012, 47.
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Lebensweise erfolgten in Russland bereits unmittelbar nach der Oktoberrevolution (1917). Als Voraussetzung dazu überführten die Bolschewiki den Grund und Boden mit dem im Februar 1918 erlassenen Dekret über die ‚Sozialisierung des Bodens‘ in Gemeinbesitz.5 Noch im gleichen Jahr folgte die Aufhebung des Privateigentums an Immobilien. Diese Dekrete ermöglichten es den Planern, großräumige und umfassende Planungsziele anzugehen, ohne Rücksicht auf bestehende Grundstücksgrenzen bzw. die Interessen von Grund- und Hausbesitzern. Die dringend erforderliche Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation für die Arbeiter schien mittelfristig realisierbar. Zum Zweck der sofortigen Linderung der Wohnungsnot wurden zunächst Maßnahmen zur Umverteilung des Wohnraums eingeleitet und die sog. Kommunalwohnung geschaffen.6 Die Kommunalwohnung entstand zudem mit dem Ziel, eine Politik der Umverteilung zugunsten der Wohnverhältnisse der Arbeiter und zulasten des Adels sowie der Bourgeoisie durchzusetzen. So wurden in Petrograd Arbeiter aus den Industrievierteln am Stadtrand in die ehemaligen Wohnungen des Adels und der Bourgeoisie im Zentrum umgesiedelt.7 Laut Julia Obertreis galt eine Wohnung bereits als ‚Reichenwohnung‘, „wenn die Anzahl der Räume gleich der Anzahl der Bewohner war oder sie überstieg.“8 Ab 1919 gab es betreffend der Hygiene gesetzliche Mindestanforderungen an Wohnungen, die jeder Person eine Wohnfläche von 8,25 qm zuerkannten. Allerdings lebten nach den Umsiedlungen oft mehrere Mietparteien in einer Wohnung; manchmal bewohnte eine ganze Familie ein Zimmer. Die Umsiedlung wurde von den Arbeitern Petrograds ohne Begeisterung angenommen. Einige verweigerten gar die Umsiedlung wegen der großen Entfernung zu den Arbeitsstellen bei gleichzeitig unzureichendem öffentlichem Nahverkehr. Zudem fehlte den in den neuen, üppig ausgestatteten Wohnungen lebenden Arbeitern das vertraute soziale Umfeld. Letztlich war die Kommunalwohnung eine nur wenige Jahre währende Kampagne mit propagandistischem Charakter, die nicht zur Etablierung des von den Bolschewiki angestrebten kollektiven Wohnens führte.9 In der frühen Phase der Sowjetunion war der deutsche Architekt und Stadtplaner Ernst May (1886‒1970) ein Protagonist bei der Planung von Wohnsiedlungen, die zur Bildung einer sozialistischen Gemeinschaft führen sollten. Auf der Suche nach Lösungen für die in der Sowjetunion bestehenden Wohnungsprobleme hatten sowjetische Delegationen den sozialen Wohnungsbau der Weimarer Republik studiert.10 Neben Bruno Tauts ‚Hufeisensiedlung‘ in Berlin-Britz (1925‒1930) galten die von Ernst
5 Diana Zitzmann, Architektur nach der Oktoberrevolution. Wohnhäuser, Klubs und Banjas in Petrograd/Leningrad 1917 bis 1932, Bd. 1. Diss. TU Dresden 2012, 90. 6 Julia Obertreis, Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917– 1937. Köln 2004, 72. 7 Zitzmann, Architektur (wie Anm. 5), 90 f. 8 Obertreis, Tränen (wie Anm. 6), 71. 9 Zitzmann, Architektur (wie Anm. 5), 90. 10 Vgl. Flierl (Hrsg.), Standardstädte (wie Anm. 4), 39 ff.
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May in der Formensprache des Neuen Bauens erbauten Wohnsiedlungen in Frankfurt am Main als beispielhaft für das Schaffen von gesunden Lebensbedingungen mit kollektivistisch-egalitärer Orientierung. May war geprägt von seinem einflussreichen Lehrer, dem Architekten Theodor Fischer (1862‒1938), konkret dessen Auseinandersetzung mit den Stilen der Gründerzeit, der Überwindung des Historismus sowie den Beginn einer modernen Architektur.11 Wie Fischer erkannte May die Vorzüge des Zeilenbaus hinsichtlich Besonnung, Belichtung und Belüftung. Fischer hatte diese beim Bau einer der ersten deutschen in Zeilenbauweise errichteten Kleinwohnungsanlagen, nämlich der ‚Alten Heide‘ in München (1918‒1930), umgesetzt. Auch seine Erfahrungen bei der Standardisierung des Bauens und der Entwicklung neuer Baumaterialien mit dem Ziel, bei gleichen Produktionskosten möglichst viel Wohnraum bereitstellen zu können, zeichneten May aus.12 Es verwundert daher nicht, dass Ernst May zum Chefplaner für das Großexperiment der Projektierung und den Bau gänzlich neuer Wohnstädte in der Sowjetunion berufen wurde. Mit May bildeten weitere, vor allem aus dem Frankfurter Bauamt stammende Kollegen, die sich bewusst vom sozialen Wohnungsbau in Deutschland dem sozialistischen Städtebau in der Sowjet union zuwandten, ein als ‚May Gruppe‘ bekannt gewordenes Kollektiv. Einige von ihnen, wie Werner Hebebrand (1899‒1966), Hans Schmidt (1893‒1972) oder Mart Stam (1899‒1986), wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zentrale Figuren beim Wiederaufbau der Städte in beiden deutschen Staaten.13 Zusammen mit insgesamt 17 Architekten ging May 1930 voller Enthusiasmus nach Moskau. Wie May waren damals viele Intellektuelle vom „Aufschwung, den die Revolution trotz Niederlagen, Hungersnöten und Interventionskriegen fremder Mächte bewirkt hatte“14, beeindruckt. So waren diese Akteure von den in der Frühphase der Sowjetunion – noch vor der kulturpolitischen Doktrin des ‚Sozialistischen Realismus‘ entstandenen – literarischen, musikalischen und filmischen Werken beeinflusst. Ein dezidiert sozialistisches Wohnkonzept entstand mit dem ‚Kommunehaus‘, eine radikale Wohnform zur Kollektivierung der Gesellschaft: Nach optimalen ‚Berechnungen‘ war es für 400 Menschen konzipiert.15 Pro Bewohner waren 6 bis 9 qm Wohnfläche vorgesehen, die Sanitärräume teilten sich zwei oder mehr Personen. Ansonsten gab es kollektiv genutzte Räume: u. a. einen Speisesaal, eine Teeküche und einen Klubraum. Die Säuglinge wurden in einer an das Haus angegliederten Krippe, die Kleinkinder Tag und Nacht in einem Kindergarten untergebracht. Für die
11 Vgl. Winfried Nerdinger, Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer. Berlin 1988, 7 ff. 12 Unter anderem entstand 1925/26 die Siedlung Bruchfeldstraße, 1926–29 die Siedlung Praunheim, 1927/28 die Siedlung Römerstadt, vgl. Christoph Mohr, Das neue Frankfurt. Wohnungsbau und Großstadt 1025–1930; in: Claudia Quiring u. a. (Hrsg.), Ernst May 1886–1970. München, 55 ff. 13 Flierl (Hrsg.), Standardstädte (wie Anm. 4), 43 ff. 14 Justus Buekschmitt, Ernst May. Bauten und Planungen, Bd. 1. Stuttgart 1963, 59. 15 Ernst May, Der Bau neuer Städte in der U. d. S. S. R., 1931; zit. nach Flierl (Hrsg.), Standardstädte (wie Anm. 4), 279.
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schulpflichtigen Kinder war ein Internat vorgesehen. Durch das Wohnen in diesen individuell und kollektiv genutzten Räumen sollte die noch vorhandene ‚bürgerliche‘ Lebensweise überwunden werden. Es ging also darum, sich von traditionellen Familienstrukturen zu emanzipieren sowie Hausarbeit und Kinderbetreuung als gesellschaftliche Dienstleistung zu organisieren: „Unabhängig von der Art seiner Behausung sollte sich der ‚neue Mensch‘“, so Dietmar Neutatz, „in seiner Lebensweise vom bisherigen Typus abheben. Es galt den Kommunisten als unschicklich, eine schöne Wohnung und überhaupt materiellen Besitz anzustreben. Vielmehr war ein spartanischer Lebensstil angesagt […]. Die Wohnung beziehungsweise das Zimmer des Bolschewiken sollte frei von Nippes, Blumentöpfen, Häkeldecken und anderen Zeichen ‚kleinbürgerlicher‘ Häuslichkeit sein.“16 Eine gemilderte Form des ‚Kommunehauses‘ bildete die ‚Kollektivwohnung‘, bei der die einzelnen Wohneinheiten ohne Küchen ausgestattet waren, da entweder in Gruppenküchen oder in öffentlichen Küchen gekocht und gespeist wurde. Architekten wie Soziologen in der Sowjetunion waren uneins über die Wirksamkeit und Angemessenheit dieser kollektivistischen Maßnahmen (insbesondere für die Erziehung der Kinder). Zu den Befürwortern gehörte (zunächst) Ernst May, der sie dementsprechend bei seinen Planungen für die neu konzipierten Städte, wie zum Beispiel Magnitogorsk, berücksichtigte. Letztlich realisiert wurden in der Sowjetunion jedoch nur relativ wenige ‚Kommunehäuser‘ oder ‚Kollektivhäuser‘. Im Jahr 1931 betrug ihr Anteil an den neu errichteten Wohnbauten nur 25 %. Den weitaus größeren Anteil stellten Individualwohnungen, ergänzt um Klubs als Sammelpunkte für das gesellschaftliche Leben innerhalb der Siedlungskomplexe. Allen Häusern gemein war eine standardisierte Zeilenbauweise auf der Grundlage von Typenprojekten mit einer auf das Nötigste reduzierten Ausstattung. Zudem waren die Wohnhäuser räumlich von den Arbeitsstätten der Bewohner getrennt, was als Bedingung für gesünderes Wohnen galt.17
2 Grundlagen des ‚Sozialistischen Wohnens‘ in der DDR nach 1945 Auch in der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) – sowie den sozialistischen Staaten Osteuropas – sollte das Wohnen nach sowjetischem Vorbild grundlegend verändert werden, um das private, häusliche Leben systematisch für das Schaffen einer explizit ‚sozialistischen Wohnkultur‘ aufzugeben. Im
16 Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, 178 f. 17 May, Der Bau (wie Anm. 15), 279.
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Unterschied zur Sowjetunion der späten 1920er Jahre war nach 1945 zunächst nicht der Bau neuer Städte entscheidend. Als ‚Erste sozialistische Stadt Deutschlands‘ wurde 1956 ‚Stalinstadt‘ (1961 in ‚Eisenhüttenstadt‘ umbenannt) gegründet.18 Vielmehr stand der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte im Vordergrund. Dabei wurde die Frage des richtigen Wiederaufbaumodells intensiv diskutiert. In Städten mit massiven Kriegszerstörungen erwog man die Aufgabe der Stadt am historischen Ort und eine Neugründung an anderer Stelle. Unterdessen wurden die Beseitigung der riesigen Trümmerberge und die Reaktivierung der durch die Zerstörung unmöglich gewordenen Lebensprozesse vorangetrieben.19 In den vierzig Jahren, in denen die DDR bestand, gab es kein einheitliches Wohnkonzept. Vielmehr erfolgten mit Bezug auf baupolitische Leitbilder verschiedene Versuche, ein ‚sozialistische Wohnen‘ zu etablieren. Die divergierenden architektonischen Leitbilder lassen sich am Erscheinungsbild der Städte ablesen. Das Gerüst für die Entwicklung von Städtebau und Architektur wurde auf den Parteitagen der SED bzw. durch Regierungsbeschlüsse festgelegt. Eine einheitliche Durchsetzung der Leitlinien wurde möglich durch die zentralistischen Leitungsstrukturen von Partei und Staatsapparat, die Anfang der 1950er Jahre nach dem sowjetischen Vorbild einer totalitären Gesellschaftsordnung auf die DDR übertragen wurden.20 Insgesamt zeigt sich bei allen von oben verordneten Maßnahmen, dass der utopisch-sozialistische Anspruch galt, gleich gute Wohnbedingungen für die gesamte Bevölkerung zu schaffen und dafür die kapitalistische Ökonomie des Grundeigentums zu überwinden. Nach sowjetischem Beispiel galten in der DDR schon vor ihrer Gründung 1949 verbindliche baupolitische Rahmenbedingungen. Wie in allen Bereichen der Verwaltung wurde auch mit der Zentralisierung des Bauwesens begonnen, wobei man den Stadtverwaltungen systematisch die Planungskompetenzen entzog. Nach 1949 wurde die Zentralisierung weiter vorangetrieben, indem auch die Planung, Lenkung und Kontrolle des Baugeschehens durch sog. volkseigene Entwurfsbüros staatlich organisiert wurde. Damit geriet das Bauen, insbesondere der Wohnungsbau, immer mehr zur Staatsplanaufgabe, zugleich wurde der private Wohnungsbau systematisch reduziert.21 Schon bald zeichnete sich ab, dass in der DDR beim Wiederaufbau der Städte eine grundlegende Neugestaltung angestrebt wurde. Dem ‚Sozialistischen Wohnen‘
18 Vgl. Rosemarie Beier (Hrsg.), Aufbau West – Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit. Buch zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 16. Mai bis 12. August 1997. Ostfildern-Ruit 1997. 19 Ralf Koch, Leipzig und Dresden. Städte des Wiederaufbaus in Sachsen. Stadtplanung, Architektur, Architekten 1945–1955. Diss. Univ. Leipzig 1999, 130 ff.; Matthias Lerm, Abschied vom alten Dresden. Rostock 2000, 33 f. 20 Vgl. Susann Buttolo, Planungen und Bauten in der Dresdner Innenstadt zwischen 1958 und 1971. Diss. TU Dresden 2010, 13. 21 Koch, Leipzig (wie Anm. 19), 130 ff.; Lerm, Abschied (wie Anm. 19), 33 f.
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kam dabei eine entscheidende Rolle zu, denn Wohnungsbau wurde im Systemwettbewerb mit der Bundesrepublik Deutschland für die machtpolitische Legitimation der DDR von Beginn an als entscheidend betrachtet. Artikel 26 der mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 in Kraft tretenden ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes schrieb das Grundrecht der Bürger auf Wohnraum fest.22 Mit der propagierten ‚bedarfsgerechten‘ Wohnraumversorgung war ein staatlicher Wohnungsbau mit dem Prinzip der Minimalwohnung verbunden. Gleichzeitig intensivierten sich die Bestrebungen, das Bauen zu industrialisieren. Um nach NS-Diktatur und Krieg wieder den Anschluss an das zeitgenössische Baugeschehen zu erlangen, schauten Architekten und Ingenieure wie ihre europäischen Kollegen mit großem Interesse auf das Bauen vor allem in den USA, wo bereits Erfolge mit industrialisierter Baupraxis vorzuweisen waren. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in den USA eine leistungsfähige „maschinell-rationalisierten Bauindustrie, die im Credo der ‚Efficiency‘ eine Welt aus Komfort und Wohlstand für alle versprach.“23 Henry Ford hatte 1913 durch die Einführung der Fließbandproduktion den entscheidenden Impuls für industrielle Fertigungen gegeben. Diese neuen Methoden beeinflussten auch den Wohnungsbau, zum Beispiel das 1941/42 von Konrad Wachsmann (1901‒1980) und Walter Gropius (1883‒1969) entwickelte General-Panel-System (Packaged House System). Auch wenn sich die US-amerikanischen Verhältnisse nicht einfach auf das Bauen in Europa übertragen ließen, waren die europäischen Architekten und Stadtplaner doch überzeugt, dass ein schneller Wiederaufbau und die Beseitigung der Wohnungsnot in absehbarer Zeit nur mittels der industriellen Bauweise gelingen würden. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland widmeten sich einige Architekten verstärkt dem Thema einer einheitlichen Normung des Bauwesens, was in Anbetracht der drängenden Bauaufgaben unumgänglich war. Mit einer für beide deutsche Staaten verbindlich geltenden ‚Maßordnung im Hochbau‘ sollte die entscheidende Voraussetzung für eine Industrialisierung des Bauwesens geschaffen werden. Man erhoffte sich davon, das Bauen zu rationalisieren und mit standardisierten Bauelementen vielseitige Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten. Protagonisten wie Ernst Neufert (1900‒1986), Walter Henn (1912‒2006), Heinrich Rettig (1900‒1974), Walter Wickop (1890‒1957) und Leopold Wiel (*1916) kamen unter dem Dach des Deutschen Normenausschuss zusammen, der 1946 genehmigt vom Alliierten Kontrollrat seine Tätigkeit wiederaufgenommen hatte.24 Als 1952 die ‚Maßordnung im Hochbau‘ (DIN 4172) sowohl in der DDR als auch der BRD eingeführt wurde, war jedoch das Leitbild einer funktions-
22 Vgl. Leitsätze der Wohnungspolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: BArch, DH1/14184. 23 Vgl. Karin Wilhelm, Deutsche Architekten reisen nach Amerika. Aufbauarbeit in der BRD nach 1945. Amerika in Bildern, in: Anke Köth/Kai Krauskopf/Hans-Georg Lippert (Hrsg.), Building America, Bd. 3: Eine große Erzählung. Dresden 2008, 115–138, hier 118. 24 Ernst Neufert, Bauordnungslehre. Frankfurt am Main 1961 [1943], 8 ff.
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untergliederten Stadt und das Projekt des industriellen Bauens kurzfristig wieder ad acta gelegt worden.25 Denn im Mai 1950 kehrte eine Regierungsdelegation der DDR von einer als „Reise nach Moskau“26 bekannt gewordenen Studienreise zurück, die bereits mit der Absicht vorbereitet worden war, das Bauwesen gänzlich nach sowjetischem Vorbild umzustellen. Im Anschluss an diese Reise wurden die „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ und das sogenannte „Aufbaugesetz“27 erlassen, das die Verstaatlichung von Grund und Boden zuließ. Mit den „Sechzehn Grundsätzen“ wurde ein historisierendes Bauen vorgegeben, das als „Nationale Bautraditionen“ mit regional vertrauten architektonischen Elementen die Identifikation der Bevölkerung mit dem neuen Staatssystem und seiner Manifestation in der baulich-räumlichen Umwelt zu erleichtern versuchte. Man übernahm damit kurzzeitig ein Leitbild, das in der Sowjetunion im Kontext des 1931/32 unter Stalin erfolgten kulturpolitischen Wechsels stand.28 Stalins Tod im Jahr 1953 und die folgende Entstalinisierung führten in der Sowjet union und damit auch (allerdings etwas zeitversetzt) in der DDR dann aber zu einem Wandel des Städtebau- und Architekturleitbilds. Nikita Chruschtschow leitete diesen Wandel offiziell auf der ‚Allunionstagung der Baufachleute, Architekten und Arbeiter der Baustoffindustrie‘ in Moskau im Dezember 1954 ein. Damit führte er die Politik des ‚Neuen Kurses‘ weiter, wobei aber die Machtstrukturen unverändert blieben. Fortan galt es, durch Standardisierung und Typisierung wirtschaftliche Projektlösungen im Massenwohnungs-, Kultur- und Versorgungseinrichtungsbau durchzusetzen. Entscheidendes Motiv für die Aufgabe des historisierenden Bauens stalinistischer Prägung war Chruschtschows Bestreben, den Kult um Stalin durch dessen Ächtung zu zerschlagen.29 Für die Entwicklung des Bauwesens in den sozialistischen Ländern
25 Mit den „Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus“ wurde die in der Sowjetunion aktuell gültige Stadtidee und Architekturästhetik übernommen. Das führte zur Abkehr von den funktionalistischen (nunmehr als „kosmopolitisch“ abgelehnten) Wiederaufbaumodellen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Denn sie waren den Thesen der CIAM, allen voran der „Charta von Athen“ (1933) entlehnt, der nun die „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ als Gegenposition gegenüber standen. Fortan war in der DDR ein gleichermaßen kompaktes wie großzügig komponiertes, hierarchisch strukturiertes und zentral organisiertes Stadtkonzept vorgeschrieben und ein historisierendes Bauen vorgeschrieben; vgl. Sechzehn Grundsätze des Städtebaus, in: Ministerialblatt der DDR 1950/25 vom 16. September 1950, in: BArch, DH1/44203. 26 Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (Hrsg.), Reise nach Moskau. Dokumente zur Erklärung von Motiven, Entscheidungsstrukturen und Umsetzungskonflikten für den ersten städtebaulichen Paradigmenwechsel in der DDR und zum Umfeld des ‚Aufbaugesetzes‘ von 1950. Berlin 1995, 35 f. 27 Gesetz über den Aufbau der Städte in der Deutschen Demokratischen Republik und der Hauptstadt Deutschlands, Berlin (Aufbaugesetz) vom 6. September 1950, in: BArch, DH1/1258. 28 Thomas Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Berlin 1991, 58. 29 Da die Aufarbeitung der Stalin-Diktatur parteiintern aber erst auf dem XX. Parteitag der KPdSU (14.–25. Februar 1956) thematisiert wurde, wurde die Aufgabe des stalinistischen Bauens zunächst mit
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wurde der programmatische Titel seines Referats ‚Besser, billiger und schneller bauen‘, gehalten auf der Moskauer Allunionstagung 1954, zu einer einprägsamen, von den Entscheidungsträgern der DDR jedoch oft missverstandenen Losung. Für die Entwicklung in der DDR ebenfalls relevant war, dass eine 1956 durchgeführte Analyse der Wohnraumsituation bis 1960 einen Bedarf von etwa 700 000 Wohnungen aufgrund von fehlendem bzw. sanierungsbedürftigem Wohnraum ergab.30 Dabei versuchte die DDR-Führung mit einem vereinheitlichten Wohnungsbau die Bewusstseinsentwicklung der Menschen im Sinne der oben skizzierten sozialistischen Ideen zu beeinflussen. Das Wohnen wurde Teil eines ambitionierten politischen Programms. Bereits Ende 1955 galten dann verbindliche Richtlinien für eine einheitliche sog. Typenprojektierung, die den Industrialisierungsprozess im Wohnungsbau voranbringen sollten. Fortan sollten „100 000 Wohnungen im Jahr“ auf der Basis von Typenprojekten in der industriell zu fertigen den Großblock- und Plattenbauweise gebaut werden, wobei die Blöcke und Platten im Takt- und Fließverfahren auf der Baustelle lediglich zu montieren waren.31 Das zwang die Planer, die städtebaulichen Konzepte der Wohngebiete und die Entwürfe für die Wohnbauten vor allem auf technologische Erfordernisse auszurichten. Ab 1957 galten zudem verbindliche Richtwerte wie die durchschnittliche Wohnfläche von 55 qm und Baukosten von 22 000 Mark je Wohnung.32 Das damit verbundene Schaffen von gleichen Wohnverhältnissen für die arbeitende Bevölkerung stand dabei im Zeichen des propagierten umfassenden Programms des Aufbaus des Sozialismus, der laut Herbert Warnke, Kandidat des Politbüros des Zentralkomitees der SED, „in erster Linie eine Erziehung des Menschen“ war.33 Dass mit dem industriellen Bauen und einer einheitlichen Maßordnung im Hochbau allerdings ein flexibler, variabler und expandibler, d. h. ein an die jeweilige Lebenssituation der Bewohner anpassungsfähiger, Wohnungstyp entwickelt werden konnte, hatte der an der Technischen Hochschule Dresden lehrende Leopold Wiel mit seinem Wohnungstyp ‚Qx‘ nachgewiesen. 1957 konnte der als Wohnzeile mit vier Hauseingängen konzipierte ‚Qx‘ als Experimentalbau in Berlin-Karlshorst realisiert werden und wurde sowohl von der Bevölkerung als auch der Fachwelt begeistert auf-
den bestehenden ökonomischen Schwierigkeiten im Bauwesen begründet; vgl. dazu Joachim Palutzki, Architektur in der DDR. Berlin 2000, 115. 30 Bericht der Kommission des Zentralkomitees für die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Durchführung der Beschlüsse der Baukonferenz und den Bau von 100 000 zusätzlichen Wohnungseinheiten im 2. Fünfjahrplan, 9. November 1956, in: SAPMO-BArch, DY30/JIV2/2A/551; Protokoll Nr. 9/57 der Sitzung des Politbüros des ZK am 19. Februar 1957 im Zentralhaus der Einheit; in: ebd., DY30/JIV2/2/529. 31 Direktive über die Bezirks- und Kreisleitungen über Maßnahmen des zusätzlichen Wohnungsbaus, 19. Februar 1957, in: SAPMO-BArch, DY30/JIV2/2/529; Beschluss des Politbüros des ZK der SED am 30. September 1958, in: SAPMO-BArch, DY30/JIV2/2A/656. 32 Direktive über die Bezirks- und Kreisleitungen über Maßnahmen des zusätzlichen Wohnungsbaus, 19. Februar 1957 (wie Anm. 31). 33 Herbert Warnke auf dem V. Parteitag der SED, 10.–16. 7. 1958, in: SAPMO-BArch, DY30/IV1/V/3, 1097.
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genommen. Im Inneren ließ er nicht nur eine bedarfsgerechte Wohnungsaufteilung zu (Ein- bis Fünfzimmerwohnungen), sondern auch Gestaltungsfreiheiten bei der Möblierung und Nutzung der einzelnen Zimmer. Dieser Experimentalbau in Großblockbauweise war aus Trümmersplitt konzipiert, was auch seine äußere Ästhetik bestimmte: Größe und Materialität der Fassadenelemente sowie durch das Fugenbild auch die Art der konstruktiven Fertigung waren sichtbar. Die Deutsche Bauakademie der DDR, die 1952 als Forschungseinrichtung für den Wohnungsbau gegründet worden war, lehnte jedoch den Wohnungstyp ‚Qx‘ ab, weil er weder auf dem Prinzip der ‚Minimalwohnung‘ noch auf Typenbauweise beruhte, sondern durch ein austauschbares System der Bauelemente Vielfältigkeit in Grund- und Aufriss und damit natürlich auch bei der Benutzung, dem Wohnen zuließ. Die staatliche Vorgabe gleicher Wohnungen für alle hatte Wiel in ein sich an den Bedürfnissen der Nutzer orientierendes Wohnen verändert, was von den Ideologen als Affront verstanden wurde und übrigens von der Forschungsgruppe um Wiel auch so gemeint war.34 1958 veröffentlichte die Deutsche Bauakademie die Richtlinie ‚Der sozialistische Wohnkomplex‘ (Abb. 2). Das Konzept unterschied sich nicht wesentlich von manchen in Westdeutschland entstandenen Wohngebieten der Nachkriegszeit. Verwiesen sei etwa auf die Bebauung um die Kreuzkirche in Hannover, die im Hinblick auf Geschossigkeit, Wohnungsgrundrisse oder Anordnung der Blöcke bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufwies. Eine wesentliche Abweichung bestand aber darin, dass der ‚sozialistische Wohnkomplex‘ nicht nur als ein einheitliches Ganzes erdacht und gebaut, sondern dass auch die Wohnweise entsprechend geplant wurde. Deshalb war eine der entscheidenden Anforderungen, die Bauten so anzuordnen, dass sie in einem vom Bewohner wahrgenommenen einheitlichen Zusammenhang standen. Aus diesem Grund sollten vorzugsweise viergeschossige Wohnzeilen in offener Bauweise errichtet werden und in ihrer Mitte aufgrund funktioneller und anderer Überlegungen (kurze Wege für alle Bewohner) ein ‚gesellschaftliches‘ Komplexzentrum aus ein- oder zweigeschossigen Bauten. Bereits die einfachsten Formen des öffentlichen Lebens – der Einkauf oder der Besuch der Gaststätte, wo die Mahlzeiten künftig gemeinsam eingenommen werden sollten – wurden im Hinblick auf die Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls und des gesellschaftlichen Lebens der Bewohner gedacht. Nicht zuletzt sah man aber durch diese Konzentration des gesellschaftlichen Lebens und die Vergesellschaftung der Haushaltsfunktionen, neben der Entlastung der berufstätigen Frau und Mutter, die Möglichkeit, private Lebensbereiche kontrollieren zu können. Integriert in die Wohnanlage waren auch sog. Folgeeinrichtungen wie Schulen, Kindertagesstätten und Feierabendheime für die Versorgung der Bewohner.35
34 Leopold Weil, Lebenserinnerungen, Bd. 4: Beiträge zum Wohnungsbau. Dresden 1984 (Privatarchiv von Leopold Weil, Dresden). 35 Ministerium für Bauwesen/Deutsche Bauakademie, Der sozialistische Wohnkomplex. Berlin 1958, 2 ff.
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Abb. 2: Schemata Sozialistischer Wohnkomplex 1958.
Letztlich folgte der ‚Sozialistische Wohnkomplex‘ dem Konzept der ‚Kleinstadt in der Großstadt‘, das beispielsweise auch in Frankreich im Rahmen des staatlich geförderten Wohnungsbaus Anwendung fand. Während die Schulen, Kinderbetreuungs- und Versorgungseinrichtungen von der Bevölkerung in der DDR auch gut angenommen wurden, verkamen etliche Restaurants, die für das gemeinschaftliche Speisen vorgesehen waren. Denn mit zunehmenden staatlichen Repressalien verstärkte sich die Neigung zum Rückzug ins Private. Hinzu kam, dass aufgrund der massiven ökonomischen Probleme sowie des Mangels an Arbeitskräften und Baumaterialien die Investitionsmittel für das Bauen stark gekürzt wurden, was sich negativ auf das Bauwesen auswirken musste. Nach dem Amtsantritt Erich Honeckers 1971 stellte die DDR-Führung den Massenwohnungsbau in den Vordergrund aller baupolitische Belange. Allein für die Jahre 1971 bis 1975 wurde die Fertigstellung von einer halben Million Wohnungen geplant, was vor allem durch die Errichtung komplexer Wohngebiete, aber auch durch die Modernisierung und Um- bzw. Ausbau vorhandener Wohnungen erreicht werden sollte.36 Mit der Ära Honecker wurden der Wohnungsbau und die bedarfsgerechte Wohnungsversorgung zum Kernstück des sozialpolitischen Programms, mit dem auch die sozi-
36 Eröffnungsreferat von Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED, in: SAPMO-BArch, DY30/ IV1/VIII/1, 92 ff.
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alistische Gesellschaftsordnung langfristig legitimiert werden sollte. Das Antlitz der neuen Wohngebiete in der DDR prägte insbesondere die Wohnungsbauserie WBS 70 (Abb. 3), die von der Deutschen Bauakademie und den örtlichen Planungskombinaten entwickelt wurde. Die städtebaulichen Prinzipien verlangten ‚Konzentration‘ der Lebensfunktionen und ‚Intensivierung‘ der Materialverwendung. Die Plattenbauweise WBS 70 wurde nach dem Baukastenprinzip konstruiert, wobei Farben, Winkel und Plattenoberfläche einheitlich und werkgerecht, Eingänge, Fenster usw. variabel waren. Bei WBS 70 kamen weniger Bauteile als bei vorangegangenen Plattenbauten zum Einsatz, der Typenkatalog wurde reduziert und eine vereinheitlichte Bauweise für alle Wohnungsbaukombinate eingeführt. Die Verkehrsflächen im Gebäude und in der Wohnung wurden zugunsten der Wohnfläche minimiert. Zugleich wurden die Nutzflächen minimal geplant, so dass die Wohnungseinrichtungen einem nahezu einheitlichen Muster folgten. Die sichtbare Konstruktion und Materialität bestimmten fortan das äußere Erscheinungsbild – wie bei den vorherigen Großblocktypen.37
Abb. 3: Industrieller Wohnungsbau in Dresden-Prohlis 1976.
37 Vgl. Symposium Komplexe Gestaltung von Wohngebieten; in: Architektur der DDR, 1975, 329 ff.
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Ein wesentlicher Bestandteil der ‚sozialistischen Wohnkultur‘ in diesen Wohngebieten war die ‚sozialistische Hausgemeinschaft‘. Noch vor ihrem Einzug wählten die Mieter eine Hausgemeinschaftsleitung, zu der ein Vorsitzender, ein Brandschutzbeauftragter, ein Kassierer und ein Hausbuchführer gehörten. Die Schlüssel wurden an die künftigen Bewohner erst ausgegeben, wenn alle Funktionen besetzt waren. Zudem mussten die Hausgemeinschaften Mitwirkungs- und Pflegeverträge schließen und sich zu Arbeitseinsätzen im Wohngebiet im Rahmen der ‚Volkswirtschaftlichen Masseninitiative‘ verpflichten. Auf diese Weise sollten die Bewohner zu Gemeinsinn und Verantwortung angehalten werden. Häufig verstanden sich die Hausgemeinschaftsleitungen aber nicht als Funktionäre und fühlten sich der ihnen zugedachten politischen Arbeit nicht gewachsen. Letztlich unterlag die faktische Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Wohnens stark den Interessen der Mieter. Sofern sie sich in ihren Häusern wohlfühlten, gestalteten sie Vorgärten, bauten Waschplätze und veranstalteten Kinderfeste. Allerdings fällt auf, dass mit zunehmender Wohndauer und Fertigstellung der Außenanlagen die freiwilligen gemeinschaftlichen Aktivitäten nachließen und die Mieter sich in ihr häuslich-privates Umfeld zurückzogen.38 Die seitens des Staats propagierte ‚sozialistische Wohnkultur‘, die zur Bildung von spezifischen Gemeinschaftsbeziehungen, gesellschaftlicher Aktivität und weiteren ‚sozialistischen Verhaltensweisen‘ im Zusammenleben der Bürger in Haus und Wohngebiet führen sollte, erwies sich als nicht durch eine vorgegebene einheitliche Wohnform steuerbar. Die Art und Weise des gemeinschaftlichen Zusammenlebens beruhte in der Praxis vor allem auf unterschiedlichen sozialen Bindungen, die nicht per Dekret, sondern durch ähnliche Lebenssituationen zustande kamen. Auch hinsichtlich der anvisierten sozialistisch-einheitlichen Wohnform zeigten sich die Grenzen der Baupolitik: Für den Bau großer familienfreundlicher Wohnungen, für jeweils charakteristische Wohnviertel und für das Einfamilienhaus waren in diesem System kaum Platz. Folglich entstanden in der DDR zahlreiche in ihrer Baustruktur als monoton empfundene Wohngebiete: oftmals Häusergruppen mit Spielplatz, Parkplätzen, einer Vorschule (ggf. Schule) und einer Kaufhalle. Zeitliche Verzögerungen und der Mangel an Baumaterialien zwangen zudem häufig zu Kompromissen bei der Gestaltungsqualität der gemeinschaftsbildenden Einrichtungen. Oft lebten die Bewohner bisweilen mehrere Jahre faktisch auf der Baustelle und ‚flüchteten sich‘ in die individuelle Wohn- und Balkongestaltung oder auch die ‚Datsche‘ auf dem Land.
38 Vgl. Anita Maaß, Wohnen im Neubaugebiet – Prohlis und Gorbitz; in: Holger Starke (Hrsg.), Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, 774 ff.
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3 Das Beispiel Dresden Der in Dresden nach 1945 realisierte Wohnungsbau sollte sich exemplarisch an den sozialistischen Wohnkonzepten orientieren. Der Wohnungsbau wurde auch dort nach sowjetischem Vorbild durch staatlich-baupolitische Dekrete sowie die verbindlich geltenden städtebaulichen und architektonischen Leitbilder bestimmt. Gleichermaßen zeigt sich aber auch, dass durch Renitenz und Eigensinn der am Wiederaufbau beteiligten Architekten sowie auch der späteren Nutzer eine Wohnkultur möglich wurde, die nicht den staatlichen Vorgaben folgte. Zunächst zu den historischen Rahmenbedingungen: Einhergehend mit einem enormen Bevölkerungswachstum hatte sich Dresden – wie zahlreiche andere europäische Städte – im Zuge der Industrialisierung innerhalb weniger Jahrzehnte von einer beschaulichen Residenzstadt zu einer Verwaltungs- und Industriestadt mit einer Vielzahl neuer Stadtfunktionen entwickelt.39 Im Februar 1945 – kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges – wurde Dresden durch Luftangriffe auf einer Fläche von 15 Quadratkilometern zerstört. Besonders schwer war die Innenstadt betroffen. Der Stadtkern lag nahezu vollständig in Trümmern. Nach einer im Jahr 1946 veröffentlichten Schadensbilanz waren 220 000 Wohnungen beschädigt bzw. zerstört, große Teile der Industrie vernichtet sowie die stadt- und verkehrstechnischen Infrastrukturen zusammengebrochen.40 Wie in allen zerstörten europäischen Städten drängte ein schneller Wiederaufbau. Große Teile der Bevölkerung hausten in überbelegten Wohnungen oder in kriegsbeschädigten Gebäuden. Besondere Aufmerksamkeit kam deswegen dem Wohnungsbau zu. Der Anspruch der Architekten und Stadtplaner war aber nicht nur, die akute Wohnungsnot zu lindern, sondern auch flächendeckend hygienischere und gesündere Wohnungen zu schaffen.41 Unmittelbar nach dem Krieg setzten in Dresden intensive Diskussionen über das anzustrebende Wiederaufbaumodell ein. Es zeichnete sich schnell ab, dass die Innenstadt grundlegend neu aufgebaut werden sollte. Noch bevor ein Konzept für den Wiederaufbau der Stadt und die neuen städtischen Wohnsiedlungen entstand, wurde 1950 das sog. traditionalistische Bauen auf der Grundlage der „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ eingeführt. Eine der ersten in Dresden im Stil der ‚Nationalen Bautraditionen‘ realisierten Wohnsiedlungen war ein
39 Die Dresdner Bevölkerung wuchs durch Eingemeindungen, Zuzug und Geburtenüberschuss stetig an. 1849 lebten nur 94 092 Menschen in Dresden. Bis 1905 erhöhte sich die Einwohnerzahl um mehr als das Fünffache auf 516 996, während die Fläche der Stadt im gleichen Zeitraum nur um das Zweieinhalbfache zunahm; vgl. Folke Stimmel u. a., Stadtlexikon Dresden A–Z. Basel 1994, 116 f. 40 Von 220 000 Wohnungen waren 75 000 vollständig zerstört, 11 000 schwer, 7 000 mittelschwer sowie 81 000 leicht beschädigt. In dem einst am dichtesten besiedelten Stadtbezirk Mitte standen nur noch 800 Wohnungen zur Verfügung; vgl. Bericht zur Presskonferenz, in: Stadtarchiv Dresden, 4.2.17/62. 41 Vgl. dazu allgemein den Beitrag von Dieter Schott in diesem Band.
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südlich des Stadtzentrums gelegenes Wohngebiet beiderseits der Nürnberger Straße. Unter Leitung des Architekten Albert Patitz (1906‒1978) entstanden dort bis 1954 fünfgeschossige Zeilenbauten. Insgesamt 1 500 Wohneinheiten mit Zwei-, Drei- und Vierraumwohnungen wurden in Wohnzeilen so angeordnet, dass Höfe für gemeinschaftliche Aktivitäten oder Erholung entstanden. Jede Wohnung erhielt ein Bad und eine großzügige Küche. Im Erdgeschoss der traditionell geziegelten Bebauung waren partiell Geschäfte integriert, die der täglichen Versorgung der Anwohner dienten. Kunststein-Putzfassaden mit Sgraffito-Schmuck prägten das schlicht gehaltene äußere Erscheinungsbild. Noch heute werden diese Wohnungen von den Bewohnern als äußerst ästhetisch empfunden.42 Anders verhielt es sich bei der Bebauung der innerstädtischen Bereiche, die großmaßstäblich mit Aufmarschstraße und Aufmarschplatz überformt und bebaut werden sollten. So entstanden die seitlichen Platzwände des Dresdner Altmarkts als siebengeschossige Wohnbauten mit zweigeschossiger Ladenzone ebenfalls in sog. traditioneller Bauweise. Die 1953‒1958 nach Entwürfen des Kollektivs43 Johannes Rascher errichtete Westseite und die 1956 fertiggestellte, vom Kollektiv Herbert Schneider konzipierte Ostseite wurden von der Bevölkerung begeistert angenommen. Grund für die hohe Akzeptanz waren nicht nur die individuelle, hochwertige, bis ins kleinste Detail von den Architekten entworfene Ausstattung der Geschäfte und Wohnbereiche und deren großzügige Grundrisse. Entscheidend war, dass die durch die ‚Nationalen Traditionen‘ vorgegebene barockisierende Architekturästhetik an die Formensprache der zerstörten Stadt erinnerte. Bewohnt wurden diese Häuser von Personen mit hohem Rang; als Vorlage diente auch das bürgerliche Wohnen. So sind etwa die als seitliche Platzwände des Dresdner Altmarkts errichteten Wohnbauten mit recht üppigen Wohnungen ausgestattet. Sie umfassten teilweise Salon, Herrenund Speisezimmer.44 Als erstes Wohngebiet entsprechend der Richtlinie ‚Der sozialistische Wohnkomplex‘ (Abb. 4) entstand zwischen 1956 und 1960 die Seevorstadt Ost. Es wurde überwiegend mit dem einheitlichen Gebäudetyp QD58 und seiner späteren Variante QD58/60 bebaut. Wie die Gebäudekonstruktion selbst erfolgte auch die Verteilung der Wohnungsgrößen unter der Maßgabe der Wirtschaftlichkeit nach einem von der Baupolitik der DDR vorgegebenen ‚Wohnungsschlüssel‘. Der Wohnungsschlüssel war eine Leitlinie, die die zulässige durchschnittliche Wohnfläche von 38 qm (55 qm Nutzfläche) pro Wohneinheit im Wohngebiet, die Nutzung der Flächen, die zulässigen Baukosten und auch die Unterhaltskosten bestimmte. Dementsprechend waren
42 Walter May/Werner Pampel/Hans Konrad, Architekturfüher der DDR. Bezirk Dresden. Dresden 1978, 54. 43 Als Kollektive wurden in der DDR die Entwurfsgruppen der staatlichen Entwurfsbüros bezeichnet. 44 Detaillierte Beschreibungen der östlichen und westlichen Altmarktbebauung in Werner Durth/ Jörn Düwel/Niels Gutschow, Aufbau. Städte, Themen, Dokumente. Frankfurt am Main, 353 ff.
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15 % der Wohnungen in der Seevorstadt Einraum-, 24,7 % Zweiraum- und 51,3 % Zweieinhalb- bzw. Dreiraumwohnungen. Nur 9 % der Wohnungen umfassten dreieinhalb Wohnräume. Es entstanden Wohnzeilen aus vier aneinander gereihten Häusern gleichen Achsmaßes, die als Zwei- und Dreispänner mit überwiegend Zwei- oder Dreiraumwohnungen angelegt waren.45 Das Erscheinungsbild der vier- bzw. fünfgeschossigen Wohnzeilen mit Satteldach prägten geputzte und farbig gestrichene Fassaden, die durch die übereinander angeordneten Fenster und Balkone eine dezente vertikale Gliederung erhielten.
Abb. 4: Wohnzeilen in Dresden-Seevorstadt Ost um 1960.
Allerdings war diese Bauweise im Kontext der Debatten um ‚sozialistisches Wohnen‘ nicht unumstritten. Beispielhaft sei der gebürtige Basler Architekt Hans Schmidt (1893‒1972) angeführt. Schmidt war in den 1930er Jahren Mitglied der Gruppe um Ernst May in der Sowjetunion gewesen und seit 1955 am ‚Institut für Typung‘ im Ministerium für Aufbau der DDR für die Einhaltung der politischen Dekrete zuständig. Er kritisierte 1958 im Magazin „Deutsche Architektur“ den traditionalistischen Einfluss auf den modernen Städtebau und forderte, in den „sozialistischen Wohnkomplexen“ auf „plastische Akzente“ zu verzichten. Man versuche noch immer „das, was man dem mittelalterlichen Städtebau als Rezept der ‚malerischen‘ Komposition
45 Vgl. Rat der Stadt Dresden, Der Chefarchitekt, Teilbebauungsplan Seevorstadt-Ost, Dezember 1957, in: BArch, DH1/39199; Rat der Stadt Dresden/Stadtbauamt. Verteilung der Wohnraumgrößen in Prozenten, Seevorstadt Ost, in: Stadtarchiv Dresden, 4.2.17/66; Index für durchschnittliche Größe der Wohnungen, in: BArch, DH1/14184.
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glaubt abgucken zu können, […] für den modernen Siedlungsbau zu verwenden; aber mit ein paar plastischen ‚Akzenten‘ […] wird noch kein echter Raum geschaffen.“46 Aber entgegen der Richtlinie und trotz dieser Einwände wurde in der Mitte der Seevorstadt Ost ein achtgeschossiges Appartementwohnhochhaus mit angrenzender eingeschossiger Ladenzeile als vertikaler Akzent erbaut. Dies sollte – wie oben skizziert – der Verortung des gesellschaftlichen Zentrums in der Mitte des Wohngebiets dienen. Dort sollte eine Klubgaststätte für die gemeinschaftliche Einnahme der Mahlzeiten entstehen, was als wirksame Maßnahme für die Identifikation der Bewohner mit ihrem Wohnkomplex und die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls galt. Die hierfür vorgesehenen Investitionsmittel wurden allerdings immer wieder zugunsten des Wohnungsbaus zurückgestellt. Von der Bevölkerung wurde sehr wohl registriert, dass die Großgaststätten nicht zuletzt der staatlichen Kontrolle privater Lebensbereiche dienten; dementsprechend wurden sie abgelehnt. Die mittäglichen Mahlzeiten wurden faktisch in den Kantinen der Betriebe, Institute oder Kinder- bzw. Bildungseinrichtungen eingenommen, an den Wochenenden im privaten, häuslichen Bereich. Die Arbeitsorte in oder außerhalb der Wohngebiete bestimmten in hohem Maße den Alltag. Die Kinder besuchten, begünstigt durch die fußläufige Nähe, die Betreuungs- und Bildungseinrichtungen im Wohngebiet. Die pflegebedürftigen Bewohner wurden in sog. Feierabendheimen versorgt. Die Entwicklung einer umfassenden einheitlichen ‚sozialistischen Wohnkultur‘ blieb größtenteils ideologischer Anspruch. Denn Ansätze zu einem gemeinschaftlichen Wohnen waren abhängig von den jeweiligen Bedürfnissen der Hausbewohner. Trotz aller staatlichen Vorgaben hinsichtlich des Bauens gab es Spielräume, die vielfach auch genutzt wurden. Dies zeigt sich am Wohngebiet um die Borsbergstraße (Abb. 5). Unter der Leitung des Architekten Wolfgang Hänsch (1929–2013) entstanden zwischen 1956 und 1958 zeilenartige fünfgeschossige Blöcke mit Satteldach. Schon bald nach der Fertigstellung des Bauensembles erregte seine Farbgestaltung Aufsehen. Mit den taubenblauen Wandpaneelen, die durch die weißgrauen Deckenstreifen und die hellgelben Großblockschäfte akzentuiert wurden und dem roten Ziegeldach kontrastreich gegenüberstanden, erfreute sich die Borsbergstraße in der Bevölkerung bald großer Beliebtheit. Parteifunktionäre kritisierten die Bauten jedoch wegen ihrer Raumkomposition, individuellen Formensprache und Farbigkeit, die politisch und ökonomisch nicht gewollt war. Denn die Wohnbauten entsprachen nicht den standardisierten Typenbauten, mit denen laut Parteiapparat gleiche Wohn- und Lebensverhältnisse für alle Schichten der sozialistischen Gesellschaft geschaffen werden sollten.47
46 Hans Schmidt, Der sozialistische Wohnkomplex als Architektur, in: Deutsche Architektur, 1958, 326. 47 Tanja Scheffler, Charme und Esprit statt Monotonie. Wolfgang Hänsch und der Beginn des industriellen Wohnungsbaus in Dresden, in: Wolfgang Kil (Hrsg.), Wolfgang Hänsch – Architekt der Dresdner Moderne. Berlin 2009, 40 ff.
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Abb. 5: Kollektiv Wolfgang Hänsch, Wohnzeile Borsbergstraße mit eingeschossiger Ladenzone 1956.
Abweichungen von der Norm finden sich auch in der Praxis der Wohnkultur. Zwar wurden die in Großblockbauweise errichteten Wohnsiedlungen und Wohnzeilen aufgrund ihrer zweckmäßigen, wenn auch nicht großzügig bemessenen Grundrisse und der für damalige Verhältnisse sehr modernen Ausstattung mit Bädern und fließend Warmwasser, Fernheizung und Loggien sowie den großflächigen Außenanlagen von großen Teilen der Bevölkerung begeistert angenommen. Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass diese Wohnungen nicht nach den Prämissen der ‚sozialistischen Wohnkultur‘ genutzt wurden. Auch bevorzugten Intellektuelle, Künstler und praktizierende Mitglieder der Kirchen alternative Wohnformen mit deutlich geringerem Ausstattungskomfort (teilweise keine Bäder, WC auf der halben Treppe, Kohleheizung). Sie lehnten die dichte Anordnung der Massenwohnungsbauten mit ihren funktionellen, aber vor allem auch starren Grundrissen ab, da die Räume weder individuell eingerichtet noch genutzt werden konnten, zudem durch Einbaumöbel bereits einheitlich ausgestattet waren. Auch an den ‚sozialistischen Hausgemeinschaften‘, durch die in das private, häusliche Leben zum Zweck der Erziehung des sozialistischen Menschen eingegriffen werden sollte, nahmen viele Menschen ganz einfach nicht teil. Der politische Aspekt unterschiedlicher Wohnstile – Wohnen im Altbau vs. Neubau – wurde 1972 in dem sehr beliebten Film „Die Legende von Paul und Paula“ (Regie Heiner Carow, produziert in den DEFA-Studios der DDR) thematisiert, erneut dann nach der Wende 2006 in dem von Florian Henckel von Donnersmarck gedrehten Film „Das Leben der Anderen“. Viele Bewohner der nur durch die Ausbesserungsarbeiten der Mieter und der wenigen Hausbesitzer erhaltenen Altbauten nahmen bewusst Nachteile in puncto Heizung, Hygiene und Komfort in Kauf, um ein individuelles, häuslich-privates Wohnen zu praktizieren. Die in dem sowjetischen Film „Ironie des Schicksals“ gezeigte Verwirrung um eine in zwei verschiedenen Städten vollkommen identische Wohnung in der ‚3. Straße der Bauarbeiter‘ war für sie ein Schreckensszenario. Auch die geheimdienstliche Überwachung des Privatraums war nicht dazu angetan, ihre Zweifel an der sozialistischen Idee bzw. deren Umsetzung im ‚realen Sozialismus‘ zu beseitigen.
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4 Fazit Durch die Verstaatlichung von Grund und Boden und die Zentralisierung des Bauens nach sowjetischem Vorbild schienen in der DDR zunächst großangelegte Planungsziele realisierbar. Wie der Privatwirtschaft wurden auch den Stadtverwaltungen systematisch die Planungskompetenzen entzogen und das Baugeschehen komplett staatlich organisiert. Aufgrund der durch weitreichende volkswirtschaftliche Probleme bestimmten Entwicklung der DDR konnte aber das Versprechen nicht eingelöst werden, die Bevölkerung ausreichend mit Wohnraum zu versorgen. Auch der ursprünglich utopisch-sozialistische Anspruch des Schaffens von gesunden und gleich guten Lebensbedingungen für alle, die letztlich zu einer ‚sozialistischen Wohnkultur‘ führen sollten, scheiterte zusehends. Zwar hatte man aus den Erfahrungen der frühen Sowjetunion gelernt, dass streng kollektivistische Wohnmodelle wie das ‚Kommunehaus‘ nicht durchzusetzen waren. Stattdessen hatte man in mehreren Etappen des ‚sozialistischen Wohnens‘ in der DDR auf den Bau von Individualwohnungen hingewirkt, dabei aber sowohl die dafür notwendigen bauwirtschaftlichen Investitionsmittel als auch insbesondere die Bedürfnisse der Bevölkerung unterschätzt. Diese wollte – gerade in der Spätphase der DDR – nicht nur mit einheitlichstandardisiertem Wohnraum versorgt werden, sondern auch die Möglichkeiten für eine Lebensweise erhalten, die nicht auf ideologischem Diktat beruhte, sondern die Umsetzung individueller Bedürfnisse ermöglichte. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Idee des Typenbaus nicht ein Alleinstellungsmerkmal des sozialistischen Wohnungsbaus ist. Auch heute werden die Vorzüge von vereinheitlichten Typenbauten diskutiert, wenn akuter Wohnungsnot – beispielsweise nach Naturkatastrophen – schnell und bezahlbar entgegengewirkt werden soll. Insofern kann diese Bauweise nicht grundsätzlich abgelehnt werden, jedoch – dies ist die Lehre – sollte auf Flexibilität, Variabilität und Erweiterbarkeit geachtet werden, um die Wohnbedürfnisse der Bewohner nachhaltig zu befriedigen.
Ausgewählte Literatur Ago, Renata: Gusto for Things. A History of Objects in Seventeenth-Century Rome. Chicago London 2013. Bath, Michael: Renaissance Decorative Painting in Scotland. Edinburgh 2003. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, Erster Teil, 2. Kap.: Das Haus oder die verkehrte Welt. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009, 48–65. Brandlhuber, Margot Th./Michael Buhrs (Hrsg.): Im Tempel des Ich. Das Künstlerhaus als Gesamtkunstwerk. Europa und Amerika 1800–1948. Ausst.-Kat. Museum Villa Stuck. Ostfildern 2013. Brönner, Wolfgang: Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830–1890. Worms 1995. Crowley, John E.: The Invention of Comfort. Sensibility and Design in Early Modern Britain and Early America. Baltimore 2001. Cuisenier, Jean: La maison rustique. Logique sociale et composition architecturale. Paris 1991. Daston, Lorraine (Hrsg.): Things that Talk. Object Lessons from Art and Science. New York 2004. Ditt, Karl: Zweite Industrialisierung und Konsum. Energieversorgung, Haushaltstechnik und Massenkultur am Beispiel nordenglischer und westfälischer Städte 1880‒1939. Paderborn 2011. Düllo, Thomas: Häusliche Dinge, in: Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans Peter Hahn (Hrsg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart 2014, 214‒217. Flierl, Thomas (Hrsg.): Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930‒33. Texte und Dokumente. Berlin 2012. Gieryn, Thomas F.: What Buildings Do, in: Theory and Soc. 31, 2002, 35–74. Gleichmann, Peter R.: Von der stinkenden Stadt zum Toilettenzimmer. Zur langfristigen Verhäuslichung menschlicher Vitalfunktionen – die Harn- und Kotentleerung, in: Marie-Paule Jungblut/ Martin Exner (Hrsg.), ‚Sei sauber …!‘. Eine Geschichte der Hygiene und öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa. Köln 2004, 76‒85. Hamling, Tara/Richard L. Williams (Hrsg.): Art Re-formed. Re-assessing the Impact of the Reformation on the Visual Arts. Newcastle 2007. Hamling, Tara: Decorating the Godly Household. Religious Art in Post-Reformation Britain. New Haven 2010. Harding, Elizabeth: Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden 2014. Hoepfner, Wolfram u. a. (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, 5 Bde. Stuttgart 1997‒1999. Hohti, Paula: Domestic Space and Identity. Artisans, Shopkeepers and Traders in Sixteenth-Century Siena, in: Urban Hist. 37, 2010, 372–385. Hoscislawski, Thomas: Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Berlin 1991. Marcus, Sharon: Apartment Stories. City and Home in Nineteenth-Century Paris and London. Berkeley 1999. Mohrmann, Ruth-Elisabeth: Alltagswelt im Land Braunschweig. Städtische und ländliche Wohnkultur vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Münster 1990. Morrall, Andrew: Protestant Pots. Morality and Social Ritual in the Early Modern Home, in: Journ. of Design Hist. 15, 2002, 263–273. Muldrew, Craig: Food, Energy and the Creation of Industriousness. Work and Material Culture in Agrarian England, 1550–1780. Cambridge 2011. Muthesius, Stefan, The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior. London 2009. Obertreis, Julia: Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917–1937. Köln 2004. Oesterle, Günter: Zu einer Kulturpoetik des Interieurs im 19. Jahrhundert, in: Zs. für Germanistik 23, 2013, 543–557.
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Teil III: Soziale und ökonomische Konstellationen
Margareth Lanzinger
Einführung
Das Haus eines Frédéric Le Play, Wilhelm Heinrich Riehl oder Otto Brunner basierte auf Projektionen in eine vermeintlich bessere Vergangenheit und war unter anderem von Vorstellungen einer weitgehenden Autarkie hinsichtlich Produktion und Konsum, der unhinterfragten väterlichen und ehemännlichen Autorität und der „gerechten Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ getragen.1 Ein großes Verdienst der Historischen Familienforschung ab den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren bestand darin, Mythen, die allzu romantisierende Bilder evozierten und transportierten – wie etwa jenes der „vorindustriellen Großfamilie“ –, kritisch zu durchleuchten und mit Hilfe quantitativer Auswertungen von Haushaltsdaten zu demontieren.2 Der Fokus richtete sich in diesem international breit vernetzten Forschungsfeld – im Unterschied zur genealogisch-biologischen – auf die soziale Familie, die alle im Haushalt mitlebenden Personen, verwandte und nicht verwandte, mit einschloss.3 So waren Haushalt und Familie quasi äquivalent gesetzt. Fragen galten den Zusammenhängen zwischen Familienstrukturen, Wirtschaftsweisen und Arbeitsorganisation; Implikationen der Generationenablöse und verschiedener Erbmodelle standen ebenso zur Diskussion wie die Frage nach sozialer Mobilität. In der Forschung der 1980er Jahre erfolgte eine Vielfalt an Ausdifferenzierungen, die ihren Ausgang von neuen Fragestellungen und Zugängen, aber auch von Kritik an der klassischen Familiengeschichte nahmen. Problematisiert wurde, dass das Hauptaugenmerk dem Haushalt als Untersuchungseinheit galt. Nicht zuletzt quellenbedingt kamen dabei zum einen all jene sozialen Beziehungen viel zu wenig in den Blick, die über das Haus hinausführten. Dies galt für Nachbarn und Verwandte sowie für andere Personen des sozialen Nahraums, die in Arbeitszusammenhänge und verschiedene Formen der Soziabilität involviert waren. ‚Familie‘ wurde zum anderen zu sehr als Einheit betrachtet, insbesondere das
1 Edith Saurer, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Margareth Lanzinger. Wien 2014, 79 f. David Sabean merkt an, Brunner habe die Hausväterliteratur als Realität verstanden, nicht als Programm mit ordnungspolitischen Zielen. David Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1990, 91 f. Vgl. kritisch zu Brunner auch Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Brunners Konzept des ‚Ganzen Hauses‘, in: GG 20, 1994, 88–98; Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhundert. Wien 1999, 211–256. 2 Michael Mitterauer, Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, in: ders./Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991, 46–71. 3 Vgl. Michael Mitterauer, Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht, in: ders., HistorischAnthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Wien 1990, 87–130.
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Margareth Lanzinger
Ehepaar.4 Dies überdeckte das Einwirken von Macht und Hierarchie, von unterlegten Geschlechterordnungen und von konkurrierenden Interessen.5 Um diese Sichtweise aufzubrechen, war das Heranziehen von Gerichtsakten, die ehelichen Streit, häusliche Konflikte und Gewalt dokumentierten, sowie von Quellen, die Besitz- und Vermögensarrangements im Detail auswiesen und so zugleich das damit verbundene Konfliktpotenzial erkennen ließen, erforderlich. Damit setzten sich unter anderem die Mikrogeschichte6, die historische Kriminalitätsforschung und eine auf die Rechtspraxis konzentrierte Geschlechtergeschichte auseinander und eröffneten so neue Felder. Die Auswertung von Prozessen, die vor Ehegerichten um die Frage der Gültigkeit einer Ehe ausgetragen wurden, konstituierte insbesondere in Italien einen Forschungsschwerpunkt, der ein neues Licht auf die vorreformatorische und vortridentinische Eheschließung warf, bei der dem Haus als bevorzugtem Ort des Rituals eine entscheidende Bedeutung zukam.7 Denn dieses allein auf dem Konsens des Paares beruhende Heiratsmodell stand keineswegs – wie gerne unterstellt – unter dem Signum der ‚Unordnung‘, sondern war an bestimmte Gesten, Worte und Handlungen gebunden, wenn sich diese in Form und Reihenfolge auch als variabel erwiesen. Die Historiographie hat lange unbesehen in den Unordnungsdiskurs der Reformatoren eingestimmt und dessen instrumentellen Charakter nicht erkannt.8 Verhindert werden sollten durch die kirchliche Reglementierung vor allem geheime Eheschließungen, da diese nicht selten der sozialen Logik zuwiderliefen, etwa wenn das Paar nach Vermögensstand und Ehre ungleichen Familien angehörte. Das zeigt zugleich, dass der Zugriff auf Ressourcen und deren intergenerationaler Transfer ein maßgebliches Kriterium in Hinblick auf die Herstellung und Konsolidierung der sozialen Ordnung wie auch der Geschlechterordnung in der Frühen Neuzeit – und darüber hinaus – darstellte. Gegenüber einer vornehmlich auf Erbrecht und Erbpraxis fokussierten Sicht hat sich die Perspektive in den letzten Jahren
4 Die Forschungen zu Witwen sind hervorzuheben, die nach geschlechtsspezifischen Handlungsräumen und rechtlichen Rahmungen gefragt haben und Teil des Feldes der Historischen Familienforschung waren, weniger allerdings in der deutschsprachigen Debatte. 5 Vgl. die Kritik von Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick/ Anne-Charlott Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, 15–55, hier 30 f. 6 Für eine kritische Bilanz David Warren Sabean, Reflections on Microhistory, in: Gunilla Budde/ Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen, Theorien. Göttingen 2006, 275–289. 7 Silvana Seidel Menchi/Diego Quaglioni, Matrimoni in dubbio. Unioni controverse e nozze clandestine in Italia dal XIV al XVIII secolo. Bologna 2001. 8 Vgl. dazu Susanna Burghartz, Umordnung statt Unordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hrsg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen 2003, 165–185.
Einführung: Soziale und ökonomische Konstellationen
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deutlich erweitert – in Italien, England und Frankreich früher als im deutschsprachigen Raum.9 In Hinblick auf unterschiedliche soziale Milieus und auf verschiedene Rechtskulturen rückten Vermögensarrangements zwischen den Geschlechtern – Verträge, Vereinbarungen, Testamente, Absicherungen für die Zeit während und nach der Ehe und damit Ehegüter- und Mitgiftregime – stärker ins Zentrum des Interesses. Dies eröffnete in mehrfacher Hinsicht neue Perspektiven. Deutlich wurde, dass das Vererben von Häusern und Grundstücken, das Auszahlen von Erbteilen, der eheliche Gütertransfer in Form von Geldsummen und Dingen des alltäglichen Gebrauchs, aber auch das testamentarische Bedenken mit symbolisch bedeutsamen Objekten stärker als bisher zusammengedacht werden müssen.10 Über deren Zusprechen und Absprechen wurde nicht nur Geschlecht ausgehandelt, sondern auch Verwandtschaft: Materielle Verpflichtungen, Erwartungen und Kalküle modellierten die Beziehungen zwischen Eheleuten, zwischen den Generationen, zwischen Brüdern und Schwestern, zu Schwägern und Schwägerinnen, zu Neffen und Nichten oder Cousins und Cousinen. Sie lassen einen durch Achsen der Konkurrenz strukturierten Raum erkennen, der sich erst über ein Netz an Dokumenten und an Arrangements erschließt. Ob hinsichtlich der Ansprüche und Verfügungsrechte über Vermögen einer an Vorfahren und Nachkommen orientierten vertikalen Linie und damit den Verwandten der Vorrang galt oder aber dem Ehepaar, das hatte Auswirkungen auf die innerhäusliche Machtbalance oder -imbalance und prägte lokale Gesellschaften und soziale Milieus.11 Der Weg ‚vom Patriarchat zur Partnerschaft‘ verlief in der europäischen Geschichte keineswegs linear, sondern weist unterschiedliche Chronologien auf, die an die jeweilige gesellschaftliche Verfasstheit und an Rechtskulturen gekoppelt waren. Diese konnten – so bezüglich des Ausschlusses von Töchtern und Ehefrauen vom Erbe – enorme Beharrungskraft haben oder grundsätzlich, wie im jüdischen Recht, unveränderbar sein. Gerade dann wurden Strategien und komplexe Vertragspraktiken entwickelt, um Widersprüchen zu begegnen, die gesellschaftlicher Wandel – etwa die Kapitalisierung des Wirtschaftslebens oder der zunehmend monetäre Beitrag von Frauen zu den Haushaltsressourcen – nach sich zog. Diese Veränderungen kann nur ein auf die soziale Praxis des Rechts gerichteter Blick sichtbar machen.
9 Als Auswahl: Giulia Calvi/Isabelle Chabot (Hrsg.), Le ricchezze delle donne. Diritti patrimoniali e poteri familiari in Italia (XIII–XIX). Turin 1998; Barbara B. Diefendorf, Women and Property in ‚Ancien Régime‘ France. Theory and Practice in Dauphiné and Paris, in: John Brewer/Susan Staves (Hrsg.), Early Modern Conceptions of Property. London 1995, 170–193; Amy Louise Erickson, Women and Prop erty in Early Modern England. London 1993. 10 Renata Ago, Gusto for Things. A History of Objects in Seventeenth-Century Rome. Chicago 2013. 11 Margareth Lanzinger u. a., Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich. 2. Aufl. Köln 2015; David Warren Sabean/Simon Teuscher/Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1800). New York 2007.
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Zugleich wird damit das Konzept des Patriarchats in Frage gestellt, da es Handlungsräume von Frauen verdeckt.12 Die Bedeutung der jüngeren Debatten zu den Logiken des Vererbens und Verfügens über Vermögen wie des sich Organisierens von Verwandtschaft liegt neben einem zunehmenden Interesse an der Materialität und Medialität des Herstellens und Konsolidierens von Beziehungen hauptsächlich darin, dass deren politischer Charakter in den Vordergrund gestellt wurde. So ist das Haus als sozialer Raum des Miteinanders und Gegeneinanders, der Verortung und Vernetzung familialen und verwandtschaftlichen Handelns, von Macht und Memoria als Bestandteil der politischen Textur der jeweiligen Zeit zu fassen. Hervorzuheben ist des Weiteren der polysemantische Charakter des Hauses, der eine Verflechtung verschiedener Bereiche impliziert, zugleich aber auch die Wirkmacht von Differenzkategorien offenlegt. In Hinblick auf konfessionelle und religiöse Kontexte variabel, fungierte das Haus als Ort ritueller Praxis. Bedeutung kam ihm in Zusammenhang mit Eheanbahnung und Eheschließung, oft, wenn auch nicht immer, zugleich bei der Begründung eines neuen Hausstands, zu, die sich je nach der sozialen Position des Paares unterschiedlich gestaltete. Das Haus konnte als ein Instrument der Machttechnik fungieren, wenn bestimmte soziale Gruppen vom Hausund Grundstückserwerb ausgeschlossen oder in Ghettos verbannt wurden. Politiken dieser Art blieben nicht ohne Auswirkungen auf die sozialen Außen- wie Innenbeziehungen. Das Haus war als Immobilie und Mietobjekt, als Arbeits-, Ausbildungs- und Produktionsstätte ein ökonomischer Faktor – und ein Handlungsraum von Frauen. Das 19. Jahrhundert gilt klassisch als eine Zeit des Übergangs vom dominant hauszentrierten Wirtschaften zur zunehmend außerhäuslichen Tätigkeit. Dieser von Karin Hausen in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort der „Dissoziation von Erwerbsund Familienarbeit“ gefasste Prozess13 ging mit nachhaltig wirkmächtigen dichotomen Zuschreibungen von bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten an Frauen und Männer qua Geschlecht einher, die zudem mit einem Paradigma von männlich konnotierter ‚Öffentlichkeit‘ und weiblich konnotierter ‚Privatheit‘ verschaltet wurden. Nicht zuletzt dienten diese ‚Geschlechtscharaktere‘ dazu, das Verwiesensein von Frauen auf den häuslichen Bereich – auf hausfrauliche und mütterliche Agenden – zu legitimieren. Doch konnte das Haus gerade im 19. Jahrhundert, wie neuere Forschungen zeigen, zu einem Ort der Ausbildung, der Professionalisierung und Berufstätigkeit von Frauen werden14 – wenn dies auch als eine Kehrseite von deren anhaltendem
12 Claudia Ulbrich, Patriarchat, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9. Stuttgart 2009, 911–916. 13 Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienarbeit, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393. 14 Elisabeth Joris, Liberal und eigensinnig. Die Pädagogin Josephine Stadlin – die Homöopathin Emilie Paravicini Blumer. Zürich 2011.
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Ausschluss von höherer Schul- und universitärer Bildung sowie vom Zugang zu den entsprechenden Arbeitsbereichen zu sehen ist. Vor allem Frauen aus dem liberal-bürgerlichen Milieu lancierten in zahlreichen europäischen Ländern und darüber hinaus vielfältige Gründungsinitiativen und schufen sich Tätigkeitsfelder vornehmlich im Bereich der Bildung und Medizin. Sie verstanden es, ihre Zuordnung zum Häuslichen produktiv zu nutzen, indem sie das eigene Haus zum Ort ‚öffentlicher‘ Dienstleistungen machten. Damit konterkarierten sie das für das 19. Jahrhundert gerne entworfene Bild von Haus und Heim als Hort des ‚Privaten‘ und der Intimisierung. Diese Sicht relativiert sich auch, wenn man nach konkreten Arrangements des Mitwohnens fragt. Denn bürgerliche Häuser erweisen sich unter diesem Blickwinkel als offener als angenommen: Alleinstehende Männer, die in einer gewissen Phase des Lebens zu Zweck- und Wohngemeinschaften zusammenfanden, um beispielsweise das für den Haushalt vorgesehene Budget zu schonen und dennoch einen standesgemäßen Lebensstil pflegen zu können, sind quellenmäßig ebenso dokumentiert wie Arrangements, in denen Frauen oder Männer in bürgerlichen Haushalten mitwohnten. Umgekehrt lässt sich dem düsteren Szenario der überfüllten Arbeiterwohnungen mit ‚fremden‘ Schlafgängern, die sich im Schichtwechsel die Betten mit anderen teilten, entgegensetzen, dass auch solche Formen des Mitwohnens vielfach über soziale Beziehungen vermittelt wurden. Die zeitgenössische Perhorreszierung, die moralische Verwerfungen unterstellte und auch Geschichtsbilder geformt hat, dürfte zu einem guten Teil einer bürgerlichen Abgrenzungspolitik und -ideologie geschuldet sein.15 Sie inspirierte unterschiedliche architektonisch-politische Programme mit dem Ziel, die Wohnverhältnisse der städtischen Arbeiterschaft zu verbessern. Zu fragen ist dabei jedoch nach der Bereitschaft zur Aneignung von Seiten der hier Adressierten: Diese stieß nämlich an Grenzen, und zwar gerade auch dort, wo es um Kernelemente des ‚Privaten‘ – eine vornehmlich bürgerlich konnotierte Bastion – ging, wie zum Beispiel um das Essen am gemeinsamen Familientisch. Von der geschichtswissenschaftlichen Forschung lange kaum beachtet blieben die Tiere, auf die sich die Aufmerksamkeit erst in den letzten Jahren verstärkt gerichtet hat.16 Dies gilt auch für die Tiere im Haus, die im Laufe des 18. Jahrhunderts im Zuge eines Prozesses der emotionalen Aufladung zu Familientieren gemacht wurden. Mit pädagogischen Funktionen belegt, als Prestigeobjekte und – in der Gestalt des wohlerzogenen Hundes beim Spaziergang – als Repräsentation von häuslicher Ordnung und Status auch außerhalb der eigenen vier Wände fügten sich Haustiere bestens in bürgerliche Programme der Erziehung, der Emotionalisierung und der sozialen Dis-
15 Vgl. dazu die Diskussion im Beitrag von Bärbel Kuhn. 16 Silke Bellanger/Katja Hürlimann/Aline Steinbrecher (Hrsg.), Tiere – eine andere Geschichte, Themenheft von Traverse 3, 2008; Gesine Krüger/Aline Steinbrecher (Hrsg.), Tierische (Ge)fährten, Themenheft von HA 2, 2011; Linda Kalof/Brigitte Resl/Bruce Boehrer (Hrsg.), A Cultural History of Animals, 6 Bde. Oxford 2007.
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tinktion ein.17 Das Innen verband sich hier wie in anderen der skizzierten Kontexte mit dem Außen, und die Offenheit des Hauses zeigt sich nicht zuletzt am Inklusionspotenzial gegenüber Tieren. Das Haus war in der europäischen Geschichte ein vorrangiger Ort, an dem eheliche, familiale, verwandtschaftliche und freundschaftliche Verbindungen gelebt und aktiviert wurden und immer auch von Konflikten und konkurrierenden Interessen bedroht waren. Das Haus erweist sich in diesen Zusammenhängen als ein sozial, kulturell, rechtlich, politisch und ökonomisch wirkmächtiger Raum. Dabei strukturierten Ordnungsvorstellungen – in der Aneignung wie in der Abweichung – das häusliche Zusammenleben zwischen Geschlechtern und Generationen, zwischen Menschen und Tieren, von eng Vertrauten und Zweckgemeinschaften. Auf diese Weise waren Haus und Gesellschaft miteinander verwoben, nicht nur in der Frühen Neuzeit, sondern auch in der Moderne. Vom Haus als Knotenpunkt sozialer Beziehungen ausgehend, lassen sich vielfältige Erscheinungen des Wandels in jeweils zeitspezifischen Kontexten deutlich machen. Der genaue Blick in das Innere des Hauses als sozialer Raum durchbricht gängige Narrative, woraus differenzierte und auch widerstreitende Bilder resultieren. Die Konsequenz daraus kann nicht sein, neue Metaerzählungen zu konstruieren; solche Befunde sind vielmehr geeignet, das Konzept eines offenen Hauses zu bereichern und zu untermauern.
17 Vgl. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000.
Cecilia Cristellon
Das Haus als Bühne: Vorund nachreformatorische Heirats- und Ehepraxis Sowohl die Reformation als auch das Konzil von Trient setzten bezüglich der Eheschließung einen Prozess der Reglementierung in Gang, den säkulare Ordnungen und Statuten frühneuzeitlicher Territorien in der Folge maßgeblich mittrugen. Die neuen Normen schrieben jene Rituale fest, die dem Trauungsakt Gültigkeit verliehen, schränkten diese aber zugleich auch ein. Dies begann damit, dass die Trauung zu einem genau feststellbaren Zeitpunkt erfolgen musste. Die daran anknüpfende statische Vorstellung einer Heirat prägte lange das Bild der Historiker und Historikerinnen und führte nicht selten dazu, in der vorreformatorischen und vortridentinischen Eheschließungspraxis „eine Einheitlichkeit der Formen und eine Regelhaftigkeit der Abläufe“ zu sehen, „die sich jedoch nur in bestimmten sozialen Milieus feststellen lassen“ und grundsätzlich von vielfältigen Variationen durchzogen waren.1 Im Spätmittelalter und in der Renaissance erfolgte eine Heirat im Zuge eines längerfristigen Prozesses, der im Idealfall von einem auf die Zukunft hin orientierten Eheversprechen seinen Ausgang nahm, nach einiger Zeit im Konsens, das heißt in der beiderseitigen für die Gegenwart ausgesprochenen Einwilligung in die Ehe seine Fortsetzung fand und mit dem Einzug der Frau in das Haus des Ehemannes zum Abschluss kam. Kirchliche und weltliche Obrigkeiten versuchten, dieses mehrstufige Modell zu regulieren, indem sie den priesterlichen Segen einführten, die Öffentlichkeit des Aktes mittels einer Verkündigung in der Kirche und/oder in Form einer notariellen Registrierung empfahlen sowie im Fall von adligen Eheschließungen den Aushang einer entsprechenden Mitteilung in den Höfen der Regierungspaläste vorsahen.2 In der Praxis zeigt sich, dass der eben skizzierte Ablauf nicht notwendigerweise eingehalten wurde: In Italien wie in England und Deutschland maßen Brautpaare
1 Silvana Seidel Menchi, Percorsi variegati, percorsi obbligati. Elogio del matrimonio pretridentino, in: dies./Diego Quaglioni (Hrsg.), Matrimoni in dubbio Unioni controverse e nozze clandestine in Italia dal XIV al XVIII secolo. Bologna 2001, 17–60, hier 18. Ferner: Sämtliche Dokumente des Archivio Storico del Patriarcato di Venezia (ASPV), auf die im Folgenden verwiesen wird, befinden sich in den Beständen der ‚sezione antica‘. 2 So in Venedig, vgl. dazu Patricia H. Labalme/Laura Sanguineti White/Linda L. Carrol, How to (and How Not to) Get Married in Sixteenth-Century Venice (Selection from the Diaries of Marin Sanudo), in: Renaissance Quart. 52, 1999, 43–72, hier 44. Vgl. für den deutschen Raum. Lyndal Roper, ‚Going to Church and Street‘. Wedding in Reformation Augsburg, in: P & P 106, 1985, 62–101; Richard van Dülmen, Fest der Liebe. Heirat und Ehe in der Frühen Neuzeit, in: ders., Gesellschaft der frühen Neuzeit. Kulturelles Handeln und sozialer Prozess. Wien 1993, 194–235. Für eine Rekonstruktion der Geschichte der christlichen Eheschließung und der Vorgangsweise kirchlicher und weltlicher Obrigkeiten, um
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Cecilia Cristellon
und Zeugen der Formulierung des Konsenses im Präsens oder im Futur häufig keine unterschiedliche Bedeutung und Legitimation bei. Es konnte sogar vorkommen, dass der Einzug ins Haus des Ehemannes der beiderseitigen Einwilligung in die Ehe vorausging oder mit dieser zeitlich zusammenfiel.3 Aus Sicht des kanonischen Rechts begründete allein der Konsens des Brautpaares, unabhängig davon, ob er öffentlich, im familialen Kreis oder im Geheimen ausgesprochen wurde, eine gültige und sakramentale Ehe. Deren Gültigkeit war überdies nicht an Worte geknüpft: Der Konsens konnte auch in einem längeren Prozess der Annäherung zum Ausdruck kommen; regelmäßige Treffen implizierten diesen gleichermaßen wie das Zusammenleben des Paares.4 Ein Eheversprechen, auf das ein Geschlechtsverkehr folgte, begründete ebenfalls eine Ehe mit all ihren Rechtswirkungen.5 Die reformierten Kirchen und die nachtridentinische katholische Kirche mussten enorme Anstrengungen unternehmen, um die Eheschließung von der häuslichen Sphäre in den sakralen und öffentlichen Raum der Kirche zu transferieren. Dies konnte fallweise auch schon zuvor Teil des Hochzeitsrituals sein, konstituierte aber keineswegs dessen Höhepunkt.6 Weltliche und kirchliche Obrigkeiten intervenierten im Spätmittelalter nur dann in Eheangelegenheiten, wenn es Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Faktizität einer Ehe gab und der Prozess der Eheschließung nicht zum Abschluss gekommen war. Kirchengerichte ordneten in solchen Fällen das feierlichen Begehen der Hochzeit und den Einzug in das Haus des Ehemannes an, oder sie untersagten die weitere Verbreitung des Gerüchts, dass eine Ehe vorliege, wenn ein Gerichtsurteil deren Existenz verneint hatte. Weltliche Amtsträger geboten entweder sog. Reparaturehen, aber auch
deren Öffentlichkeit sicherzustellen, verweise ich hier nur auf Charles Donahue Jr, Law, Marriages and Society in the Later Middle Ages. Cambridge 2007. 3 Zu der nicht getroffenen Unterscheidung zwischen der auf die Gegenwart (gültige Eheschließung) und der auf die Zukunft (Eheversprechen) bezogenen Formulierung vgl. Daniela Lombardi, Matrimoni di antico regime. Bologna 2001, 200; Seidel Menchi, Percorsi variegati (wie Anm. 1), 35–42; Shannon McSheffrey, Place, Space and Situation. Public and Private in the Making of Marriage in Late-Medieval London, in: Speculum 79, 2004, 960–990, hier 965. Zu der vortridentinischen Eheschließungspraxis und den unterschiedlichen Abläufen vgl. Ermanno Orlando, Sposarsi nel Medioevo. Percorsi coniugali tra Venezia, mare e continente. Rom 2010, 9–29; 59–112; Cecilia Cristellon, La carità e l’eros. Il matrimonio, la chiesa e i suoi giudici nella Venezia del Rinascimento. Bologna 2010, 185–248. 4 Vgl. Cecilia Cristellon/Silvana Seidel Menchi, Rituals before Tribunals in Renaissance Italy. Continuity and Change, 1400–1600, in: Mia Korpiola (Hrsg.), Regional Variations in Matrimonial Law and Custom in Europe, 1150–1600. Leiden 2011, 275–287. 5 Vgl. Donahue, Law (wie Anm. 2). 6 Zum Fortwirken einiger Phänomene wie beispielsweise der Vorstellung von Heirat als einem mehrstufigen Prozess und der sozialen Akzeptanz sexueller Beziehungen von Verlobten vgl. Margherita Pelaja, Matrimonio e sessualità a Roma nell’Ottocento. Rom 1994; Giorgia Arrivo, Seduzioni, promesse, matrimoni. Il processo per stupro nella Toscana del Settecento. Rom 2006.
Das Haus als Bühne: Vor- und nachreformatorische Heirats- und Ehepraxis
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Gefängnisstrafen wegen ‚Unzucht‘ (stuprum) für den Mann oder eine Entschädigung der Frau in Form einer angemessenen Mitgift.7 Zu den für vorreformatorische und vortridentinische Eheschließungen – zumindest für bestimmte Teile des Zeremoniells – am häufigsten genutzten Orten zählte zweifelsohne quer durch alle sozialen Milieus das Haus. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten spielte dieses als Bühne bereits für sich genommen eine wichtige Rolle und vielfach zugleich auch als Teil einer größeren Szenerie, die das nähere städtische oder ländliche Umfeld miteinschloss. Das Haus bot sowohl Raum für stark ritualisierte Formen der Eheschließung, die eine Allianz zwischen zwei Familien besiegelten, als auch für vergleichsweise spontane eheliche Verbindungen, für erzwungene oder auf betrügerische Weise eingefädelte Heiraten, für Ehen, die auf dem Zusammenleben nach einem gegebenen Eheversprechen gründeten und dadurch legitimiert waren, ferner für Beziehungen, die als ‚Konkubinat‘ begonnen hatten, sich aber durch Zuneigung (affectus) zu einem ehelichen Verhältnis wandeln konnten.8 Dieser Beitrag analysiert die Bedeutung des Hauses für das Eingehen von Ehen und damit verknüpfte Vorstellungen von Geschlecht und Generation, aber auch dessen Rolle als Arena von Konflikten, die mit Heirat und Ehe verbunden sein konnten. Er nimmt hauptsächlich Bezug auf Italien, verweist aber immer wieder auch auf breitere europäische Kontexte. Wie sich zeigen wird, formierte in ganz Europa das Haus als Hochzeitsbühne einen Übergangsraum zwischen dem Außen und Innen. Es stellte einen Ort der Begegnung mit Verwandten und Nachbarn dar, die entweder eingeladen waren, am Ereignis teilzunehmen, oder die sich der Feier anschlossen, weil sie zufällig vorbeikamen und auf die festliche Atmosphäre aufmerksam wurden, oder sie waren Zeugen einer im kleinen Kreis oder im Geheimen begangenen Eheschließung, die sie durch ein Fenster hindurch beobachteten oder durch einen Mauerspalt erspähten.9 Verwandte und Nachbarn konnten also fester Bestandteil einer Hochzeit sein und durch ihre Teilnahme dazu beitragen, das Paar in breitere soziale Zusammenhänge einzubinden, oder auch nur das bestehende Eheband bezeugen. Schließ-
7 Vgl. Richard Helmholz, Marriage Litigation in Medieval England. Cambridge 1974; Donahue, Law (wie Anm. 2); Seidel Menchi/Quaglioni, Matrimoni in dubbio (wie Anm. 1); dies. (Hrsg.), Trasgressioni. Seduzione, concubinato, adulterio, bigamia (XIV–XVIII secolo). Bologna 2004; dies. (Hrsg.), I tribunali del matrimonio (secoli XV–XVIII). Bologna 2006; Shannon McSheffrey, Marriage, Sex, and Civic Culture in Late Medieval London. Philadelphia 2006. 8 Über die Macht des affectus, ein Konkubinat in ein coniugium, eine Ehe, zu transformieren vgl. James Brundage, Law, Sex and Christian Society in Medieval Europe. Chicago 1987, 297, sowie dort die Anm. 182 und 183. Für eine Analyse der rechtlichen Bedeutung des affectus maritalis vgl. Frederik Pedersen, Marriage Disputes in Medieval England. London 2000, 153–175. 9 Vgl. ASPV, Causarum Matrimoniorum (CM), vol. 11, Zinevra filia Nicolai barbitonsoris vs Hieronimo Baldigara, 1509–1510. In den fünf von Donahue, Law (wie Anm. 2), 92 und dort Anm. 8 untersuchten Gerichten im englischen und französisch-belgischen Raum treten ebenfalls häufig Fälle von Zeugen auf, die der Hochzeit durch die Fenster oder einen Mauerriss beigewohnt haben.
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lich konnten sie auch bei ehelichen Konflikten eingreifen, als Vermittler fungieren und verhindern, dass es zu (übermäßiger) Gewaltanwendung kam.10 Die Bedeutung der Eheschließungen im Haus war so groß, dass es sogar möglich war, einen religiösen und einen weltlichen Part zu integrieren, und zwar in der Person des Priesters, und/oder – in Italien – auch des Notars.11 Insgesamt gesehen hatte nicht nur die Hochzeitsfeier selbst, sondern auch der im Haus gepflegte Lebensstil, die von den Frauen übernommenen Aufgabenbereiche, der Umstand, welche Räume ihnen zugänglich oder verschlossen waren, entscheidende Auswirkungen darauf, ob eine Frau als Ehefrau oder als Konkubine galt.12
1 Eheschließungen im Haus – zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ Der geeignetste und sicherste Modus, eine Ehe zu schließen, war die öffentliche Form (publice). Dass Hochzeiten häufig im Haus erfolgten, schloss deren Öffentlichkeit keinesfalls aus. Häuser des Spätmittelalters und der Renaissance waren kein rein ‚privater‘ Raum. Sie waren zugleich Arbeitsstätte und beherbergten oft mehrere Familien; ihre Wände wiesen Löcher und Risse auf, durch die man am Leben der Nachbarn teilhaben konnte; sie waren ein ganz wesentlicher Ort der Soziabilität – eine Institution, die sich nicht über die Kategorien ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ fassen lässt, da ihr eine integrative Funktion zukommt.13 Bei den häufigen häuslichen Hochzeiten erfolgte die beiderseitige Einwilligung in die Ehe in ganz Europa zumeist im Haus der Braut: im Haus ihrer Eltern oder von Verwandten, mit denen sie zusammenlebte, eines Vormunds oder eines Angehörigen, dessen Haus von den Räumlichkeiten her besser für die Feier geeignet war, manchmal auch im Haus des Arbeitgebers, der – etwa im Fall junger Dienstmädchen – dann
10 Vgl. Bernard Capp, When Gossips Meet. Women, Family, and Neighbourhood in Early Modern England. Oxford 2003, 103–126; Chiara La Rocca, Tra moglie e marito. Matrimoni e separazioni a Livorno nel Settecento. Bologna 2009, insbes. 265, 275; Martine Charageat, La délinquence matrimoniale. Couples en conflit et justice en Aragon (XVe–XVIe siècle). Paris 2011, 203–254. 11 Zum Priester, der Eheschließungen im Haus zelebrierte, vgl. Roper, Going to Church (wie Anm. 2), 67; Cristellon, La carità (wie Anm. 3), 246; Lombardi, Matrimoni (wie Anm. 3), 290. Zum Notar siehe insbes. Christiane Klapisch Zuber, Women, Family and Ritual in Renaissance Italy. Chicago 1987, 165– 212. 12 Vgl. Cecilia Cristellon, Public Display of Affection. The Making of Marriage in the Venetian Courts before the Council of Trent (1420–1545), in: Sarah Matthews Grieco (Hrsg.), Erotic Cultures in Renaissance Italy. Aldershot 2010, 177–197. 13 Marta Ajmar-Wollheim, Sociability, in: dies./Flora Dennis (Hrsg.), At Home in Renaissance Italy. London 2006, 206–221, hier 207; Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664.
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die Stelle des Vaters einnahm. Wenn die Eheschließung im Haus einer alleinstehenden Frau – meistens handelte es sich dabei um eine Witwe – stattfand, achtete man darauf, dass zumindest ein Mann bei der Feier anwesend war, da Männer als Zeugen allgemein und insbesondere vor Gericht als zuverlässiger galten.14 Der Umstand, dass die Hochzeit im Haus der Braut erfolgte, hatte eine große symbolische Bedeutung. Da dem Mann in der Ehe eine aktive Rolle zugesprochen wurde, war er es, der in die häusliche und bewachte Sphäre der Frau eingeführt werden musste. In London wurde es – im Unterschied zu Venedig – als unumgänglich angesehen, dass die Heirat im Haus der Braut stattfand. Das ging sogar soweit, dass eine Frau, die die Ehe zum Beispiel im Haus des Arbeitgebers ihres Bräutigams schloss, der Verführung beschuldigt und diejenige, die die Ehe vermittelt hatte, als Kupplerin angesehen wurde.15 Das Eingehen der Ehe auf ‚weiblichem Territorium‘ unterstrich nicht nur die aktive männliche Rolle – die der passiven weiblichen entgegengesetzt war –; dies konnte auch einen ostentativen Akt der Befreiung von jüngeren, nicht erbberechtigten Söhnen (cadetti) darstellen. Dies war dann der Fall, wenn ein Sprössling ohne Wissen oder gegen den Willen seiner Familie eine durch betrügerische künftige Schwiegerverwandte angezettelte Mesalliance einging. Dann erfolgten die Hochzeitsfeierlichkeiten mit großem Pomp im Haus der Familie der Braut, die ein massives Interesse daran hatte, diesem von sozialer Ungleichheit geprägten Trauungsakt die größtmögliche Publizität zu verschaffen, indem sie ihn von einem Notar registrieren ließen – ein Akt, bei dem die Angehörigen des Bräutigams entgegen der Usance jedoch nicht anwesend waren.16 War das Haus der Braut üblicherweise der Ort, an dem die Eheschließung stattfand, so bekräftigte von Italien über Skandinavien bis nach Russland ihr Einzug ins Haus des Ehemannes (traductio) den Abschluss dieses Prozesses und markierte zugleich den Übergang der Verantwortung für den Unterhalt der Frau von ihrer Herkunftsfamilie zum Ehemann.17 Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Europa die ‚Virilokalität‘ vorherrschend war, also dass das Eheleben im Haus des Mannes stattfand – mit Ausnahme von Apulien sowie einigen Gebieten in England und Sizilien, wo in der Regel die Braut das Haus in die Ehe einbrachte.18 Das Ritual der Begleitung der Braut auf diesem Weg konnte in einem Zug durch die wichtigsten Straßen der Stadt führen, wie in Venedig oder in der Toskana, wo bei adligen Hochzeiten nicht nur das Haus des Ehemannes, sondern auch die Häuser von nahen Verwandten mit Gobelins geschmückt sowie durch Beleuchtung und Kerzen auf den Balkonen, an den Fens-
14 ASPV, CM, vol. 19, Franceschina Lando vs Johanne Baptista Ferro, 1519. 15 McSheffrey, Place (wie Anm. 3), 974. 16 Vgl. Seidel Menchi, Percorsi variegati (wie Anm. 1); ASPV, Cm, vol. 17, Marietta Barbaro vs Francesco Giustiniani, 1516; ASPV, Filciae Causarum (FC), vol. 2. 17 Mia Korpiola, Between Betrothal and Bedding. Marriage Formation in Sweden 1200–1600. Leiden 2009, 51 und die dortigen Literaturhinweise in Anm. 159; Eve Levin, Sex and Society in the World of the Orthodox Slaves 900–1700. New York 1989, 83 f. 18 Raffaella Sarti, Vita di casa. Abitare, mangiare, vestire nell’Europa moderna. Rom 2003, 46, 51.
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tern und sogar auf dem Dach festlich erhellt waren.19 In der Toskana eröffnete die Braut im Sattel eines Pferdes den Zug, und die Diener, die ihr folgten, führten die für das Zimmer des Ehepaares bestimmten Truhen, die mit anlassbezogenen Bildmotiven prächtig verziert und mit den Wappen der beiden Familien versehen waren. Sie enthielten die Aussteuer und die Geschenke, die die Braut bekommen hatte. In Schweden erfolgte die transductio ebenfalls in einem feierlichen Reiterzug.20 Die Aussteuer setzte sich aus Gegenständen für ‚Leib und Seele‘ der angehenden Ehefrau zusammen: aus Andachtsbüchlein, Taschentüchern und Hemden, Strümpfen, Holzschuhen und Pantoffeln, Gürteln und Accessoires, Kämmen, Spiegeln, Parfums, Bändern, Nähzeug und – sowohl bei adligen als auch bei Bräuten aus den mittleren und unteren Schichten – aus Spindel und Rocken. Die Aussteuer der Frauen aus den mittleren und unteren Schichten schloss in der Regel Wäsche für die gesamte Familie mit ein sowie Küchenutensilien, Arbeitsgerätschaften, Lebensmittel und vor allem das Bett.21 Die schönsten und wertvollsten Aussteuerstücke wurden zur Schau gestellt – zur Ehre der Brautfamilie. In Udine etwa konnten die Nachbarn die im väterlichen Haus der Braut ausgebreitete Aussteuer am Vorabend der Hochzeit bewundern.22 Damit stand das Haus der Braut ein weiteres Mal im Zentrum der Aufmerksamkeit. In Florenz wie auch im Veneto und in der Romagna gab es zudem das Ritual der Rückkehr (ritornata): Üblicherweise eine Woche nach dem Einzug in das Haus des Ehemannes kehrte die Frau in das väterliche Haus zurück, wo Festlichkeiten im Kreis ihrer Verwandten stattfanden.23 Dieses Ritual symbolisierte den Fortbestand der Bindung der Frau an ihre Herkunftsfamilie und unterstrich den transitorischen Charakter der Ehe. Im Fall ihrer Verwitwung (oder der Misshandlung durch den Ehemann) konnten Frauen von ihrer Herkunftsfamilie wieder aufgenommen werden.
2 Orte des Rituals und Räume des Übergangs Hochzeitsfeierlichkeiten im Haus hatten einen unterschiedlichen Grad an Öffentlichkeit oder Intimität, je nachdem welcher Raum dafür gewählt wurde. Die Loggia, eine Säulenhalle, beispielsweise oder der Portego im venezianischen Palazzo, der sich im
19 Orlando, Sposarsi nel Medioevo (wie Anm. 3), 99 f. 20 Zu Hochzeitstruhen vgl. Claudio Paolini, Chests, in: Ajmar-Wollheim/Dennis (Hrsg.), At Home (wie Anm. 13), 120 f. Zu den schwedischen Reiterzügen vgl. Korpiola, Between Betrothal (wie Anm. 17), 51. 21 Sarti, Vita di casa (wie Anm. 18), 49. Zur Gerade im deutschen und insbesondere sächsischen Kontext vgl. Karin Gottschalk, Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig. Frankfurt am Main 2003. 22 Vgl. Alice Sachs, Le nozze in Friuli nei secoli XVI e XVII. Bologna 1983. 23 Vgl. Orlando, Sposarsi nel medioevo (wie Anm. 3); Daniela Lombardi, Storia del matrimonio. Dal Medioevo ad oggi. Bologna 2008, 30.
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ersten Stock befand, den man über eine große Freitreppe erreichte und der mit dem Saal verbunden war, stellten eine Bühne für das Hochzeitsritual dar, das von einer Rhetorik des Zeremoniells und einem Gestus des Öffentlichen geprägt war: einsehbar auch von außen zum Gaudium der Stadtbewohner.24 Dies waren zugleich Räume für die Zurschaustellung der Braut, die mit Musik und Tanz vom Zimmer in die Halle und von dort in den Portikus geführt wurde.25 Für Empfänge bestimmt, repräsentierte dieser Raum das Standesbewusstsein. Hier waren die Wappen ausgestellt sowie Kriegstrophäen und die Waffen jener Familienmitglieder, die Regierungsämter inne gehabt hatten. Ähnlich dem Portikus wurde der Saal als ein festlicher und öffentlich zugänglicher Raum wahrgenommen, so dass sich im Fall einer Hochzeit auch Außenstehende befugt sahen, einzutreten. Das konnte so weit gehen, dass manche – so etwa in London – nicht wussten, wem das Haus gehörte, in dessen hall sie an einer solchen Feierlichkeit teilnahmen.26 Die Kammer, in der das Bett stand, bot einen Ort für heimliche, vielleicht spontan geschlossene Ehen und für Heiraten, die unter Drohungen der Angehörigen der Braut erfolgten, nachdem sie das Liebespaar in flagranti erwischt hatten.27 Dabei war man üblicherweise sehr darum bemüht, in aller Eile einen Geistlichen herbeizurufen, der diesem Akt Feierlichkeit verleihen sollte28 – analog zu stark ritualisierten Hochzeiten, die im Beisein von Verwandten und Bekannten, manchmal auch eines Priesters zelebriert wurden. In Italien war im Haus von Adligen, aber auch von wohlhabenden Handwerkern, das Zimmer des Familienoberhauptes für die Durchführung einer Hochzeit vorgesehen. Nachdem sich die Hochzeitsgesellschaft kurz im Zimmer aufgehalten hatte, wurde die Braut gerufen, die begleitet von einigen Frauen eintrat und sich neben ihre Mutter und andere Frauen stellte. Daraufhin folgte die mehrmalige Anfrage nach ihrer Einwilligung in die Ehe durch den Priester, dessen Präsenz bei Eheschließungen im Laufe des 16. Jahrhunderts häufiger wurde, oder durch einen anderen Anwesenden. Das Ritual bestimmte, dass die Braut – der Unterwerfung und Schüchternheit oder sogar Unwilligkeit geboten war – beim Zeremoniell eine passive Rolle einnahm. Daher ziemte es sich nicht, dass sie sogleich ihre Zustimmung gab, vielmehr sollte sie dreimal dazu aufgefordert werden. Auf den von ihr ausgesprochenen Konsens hin reichte sich das Brautpaar die Hände. Diese Praxis konnte bisweilen die Worte auch ersetzen. Denn aus landläufiger Sicht war das Reichen der Hände die deutlichste und am weitesten verbreitete Repräsentation des ehelichen Konsenses.29 Nach der beider-
24 Vgl. Labalme/Sanguineti White/Carrol, How to (wie Anm. 2). 25 ASPV, CM, vol. 17, Marietta Barbaro vs Matteo Giustinian, 1515–1517. 26 McSheffrey, Place (wie Anm. 3), 975. 27 ASPV, CM, vol. 2, fasc. 7, Ursina Basso vs Alvise Soncin, 1462. 28 ASPV, CM, vol. 11, Ambrosina de Blasonibus vs Marco Antonio Bacinetto, 1509–1510. 29 Cristellon, La carità (wie Anm. 3), 195–197. Über das Schlafzimmer als Szenerie für Hochzeiten, aber auch über die unwillige Braut vgl. Silvana Seidel Menchi, Cause matrimoniali e iconografia nu-
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seitigen Einwilligung wurde das Brautpaar aufgefordert, sich auf die Bank des Bettes zu setzen, das man manchmal eigens für die Zeremonie hatte bringen lassen. Dort tauschten sie die ersten schüchternen Zärtlichkeiten aus. Dabei handelte es sich um rituelle Gesten von höchster rechtlicher und symbolischer Bedeutung: So galt etwa der Kuss, den sich das Brautpaar peinlich errötet unter dem Druck der Verwandten gab, als eine mimetische Vorwegnahme des Vollzugs der Ehe und als Besiegelung einer wesentlichen Phase der Vermögensbeziehung, in die die Eheleute damit eintraten.30 Das Ritual sah vor, dass ein Angehöriger dann den Vorhang des Bettes herunterließ, um das Paar vor den Blicken der Umstehenden zu schützen.31 In verschiedenen Regionen Europas – von Deutschland über Frankreich bis nach Schweden und Finnland – war es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit üblich, das Hochzeitsbett (thalamus) zu segnen, in der Regel durch einen Priester, und zwar als Abschluss einer festlichen Prozession, die die Brautleute manchmal bis ans Bett geleitete.32 In den jüdischen Gemeinden Italiens stellte die Begleitung des Brautpaares zum Ehebett ebenfalls einen wichtigen Bestandteil der Zeremonie dar.33 In protestantischen Gebieten hingegen wurde dessen Segnung als abergläubische und mit dem Katholizismus verbundene Praxis verboten. Da die Abschaffung dieses Ritus bei der Bevölkerung jedoch auf Widerstand stieß, versuchten ihn die Reformtoren durch einen anderen zu ersetzen, der mit dem eigenen religiösen Verständnis in besserem Einklang stand: Die Brautleute waren aufgerufen, sich vor dem Bett niederzuknien und zu beten, bevor sie sich hineinlegten.34 Von den Protestanten bekämpft, von den Katholiken praktiziert, wurde die rituelle Begleitung des Brautpaares zum Ehebett bei gemischt konfessionellen Ehen in katholischen Schriften scharf verurteilt. Sie sahen darin eine Begünstigung von ‚Unzucht‘ (mit der sie interkonfessionelle Ehen gleichsetzten) und von Blasphemie, wenn die immissio thalami eines Katholiken mit einer ‚Häretikerin‘ oder umgekehrt von Gebeten und einem Segen begleitet war.35
ziale. Annotazioni in margine a una ricerca d’archivio, in: dies./Quaglioni (Hrsg.), I tribunali (wie Anm. 7), 663–704. Zur vorgeschriebenen Zurückhaltung der Braut siehe auch Max Seidel, Hochzeits ikonographie im Trecento, in: Mitt. des Kunsthistorischen Inst. in Florenz 38, 1994, 1–47. 30 ASPV, Curia, II, CM, Nicolò q. Dominaci Cortesii vs Angela Sebastiani Cavazza, 1503–1508. Ottavia Niccoli, Storie di ogni giorno in una città del Seicento. Rom 2000, 109–129, insbes. 128. Ein geraubter Kuss stellte eine schwerwiegende Geste des Besitzergreifens dar, die sogar mit der Todesstrafe geahndet werden konnte; vgl. ebd. Den Statuten zahlreicher italienischer Städte zufolge verlieh ein Kuss der Frau den Anspruch auf ein Hochzeitsgeschenk. Vgl. Nino Tamassia, Osculum interveniens, in Rivista storica Italiana 2, 1885, 241–264, hier 262 f. 31 ASPV, Curia II, CM, vol. 12, Clara Marcello vs Francesco de Orlandis, 1512. 32 Zu diesem Ritual vgl. Korpiola, Between Betrothal (wie Anm. 17), 60–65. 33 Roni Weinstein, Marriage Rituals Italian Style. A Historical Anthropological Perspective on Early Modern Italian Jews. Leiden 2004, 384–393. 34 Roper, Going to Church (wie Anm. 2), 92. 35 Francisi Duysseldorpii, Tractatus de Matrimonio non ineundo cum his, qui extra ecclesiam sunt. Antwerpen 1636, 195.
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Im Bett wurden häufig auch jene Eheschließungen zelebriert, die auf einer bereits gefestigten Beziehung gründeten. Im Bett, das ein Paar seit längerem schon teilte, beharrten Frauen mehr als sonst darauf, dass der Partner das Eheversprechen erneut bekräftige, was gleichbedeutend war mit seinem legitimierten Zugang zu ihrer Intimität. Er heiratete sie in dem Moment, in dem er ihr die Hand reichte.36 Das Bett als bevorzugten Ort für eine solche Form des Heiratens zu wählen, stand nicht nur in Zusammenhang damit, dass für das Paar dadurch die Intimität gewahrt war, sondern dies erklärt sich auch aus der großen Bedeutung, die diesem Mobiliar im Rahmen des Hochzeitsrituals zukam. So konnte es vorkommen, dass zwei junge Leute, die in einem anderen Raum des Hauses geheiratet hatten, anschließend das Schlafgemach aufsuchten, um dort auf dem Bett den Konsens zu erneuern. Genau auf solche Details pochten in Italien Gerichtsurteile, wenn sie die Rechtmäßigkeit einer umstrittenen Ehe beweisen wollten.37 In London hingegen stellte das Schlafzimmer einen ganz und gar nicht geeigneten Ort für eine Heirat dar: Wurde sie angezweifelt, dann brachte der Verweis auf diesen Raum als Ort der Zeremonie es fast unweigerlich mit sich, dass die Beziehung als ‚unzüchtig‘ galt und nicht als ehelich.38 Das Ehebett stellte in ganz Europa üblicherweise die Frau, die es auch mit allem, was dazu gehörte, ausstattete. Selbst wenn eine Braut sehr arm war, brachte sie dennoch das Bett als Mitgift oder Aussteuer in die Ehe. Das Bett erlangte dadurch rechtlich eine ehestiftende Bedeutung.39 Als Ort des Konsenses war das Schlafzimmer mit zugleich dekorativ und religiös konnotierten Gegenständen ausgestattet, die in der Hochzeitszeremonie eingesetzt wurden und diese mit einer Sphäre des Sakralen umgaben. In einem Ehegerichtsfall ist überliefert, dass der Bräutigam, der in das Zimmer der Braut eindrang, diese und die schreienden Dienerinnen beruhigte, indem er ein Bild der Madonna mit Kind zur Hand nahm und versprach, die Braut „im Angesicht von Maria und Christus und der Kirche zu heiraten“.40 Wenn keine Zeugen anwesend waren, konnte eine Ikone der Jungfrau Maria oder – allerdings seltener – der gekreuzigte Christus als deren Stellvertreter fungieren. Als eine Frau in Venedig 1509 trotz ihrer Verliebtheit zögerte, weil sie nicht ohne Beisein von Zeugen heiraten wollte, versicherte der junge Mann, indem er sich an „Unsere Frau in griechischer Gestalt aus vergoldetem Holz“ wandte, dass „deren Zeugenschaft weit mehr wert sei als diejenige jedes beliebigen Mannes oder jeder beliebigen Frau dieser Welt“.41 Vergleichbare Fälle sind auch aus Bologna über-
36 Vgl. ASPV, FC, vol. 3, Damianus Masarachias vs Marieta filia domine Bone sclavone, 1525. 37 Vgl. Lombardi, Matrimoni (wie Anm. 3). 38 McSheffrey, Place (wie Anm. 3), 977. 39 Sarti, Vita di casa (wie Anm. 18), 49–51; Roper, Going to Church (wie Anm. 2), 72. Archivio Segreto Vaticano, Synopsis variarum resolutionum ex selectioribus decretis Sacrae Congregationis Concilii collecta per materias ordine alphabetico disposita (Synopsis), vol. 2, c. 80. 40 ASPV, CM, vol. 2 fasc. 10, Catharina de Varda de Nigroponte vs Matteo Permarin, 1462–1465. 41 ASPV, CM, vol. 11, Zinevra fi lia Nicolai barbitonsoris vs Hieronimo Baldigara, 1509–1510.
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liefert.42 In Venedig waren es vor allem Zuwanderer griechischer Herkunft, die vor einem Bild der Jungfrau Maria die Ehe schlossen; dies nahm Bezug auf die griechischorthodoxe Praxis, den Eid auf eine Darstellung der Madonna abzulegen und nicht auf die Bibel.43 Ganz allgemein bestätigt die Verwendung dieser Bilder den besonders lebendigen Marienkult im Spätmittelalter und am Beginn der Frühen Neuzeit. Der körperliche Kontakt mit dem Bild kam den Erfordernissen einer Frömmigkeit nach, die von Objekten getragen wurde. Diese bedurfte einer gegenständlichen Grundlage und schrieb solchen Repräsentationen des Heiligen die magische Wirkung einer Reliquie zu.44 Das Schlafgemach konstituierte den bevorzugten Ort sowohl für adlige als auch für sehr bescheidene Hochzeitsfeierlichkeiten. Wo das Feuer brannte – oft diente dieser Raum zugleich zum Schlafen –, war die Bühne für Eheschließungen der einfachen Leute. Eine Heirat vor der Herdstelle verwies auf die haushaltsführenden Aufgaben der Braut. Das Zentrum des Haushalts war nicht nur der Ort, an dem der Konsens ausgesprochen wurde, sondern von dessen Gestaltung hing die Einwilligung der Braut letztlich ab. Bevor die Frau den Heiratsantrag annahm, wurde sie in Venedig von der Heiratsvermittlerin in das Haus des künftigen Ehemannes begleitet. Während er „die Ware, das heißt die Frau“ begutachtete, wurde sie durch die Räume der Wohnung geführt und sobald sie an der Herdstelle ankam, brachte sie – sofern sie alles zu ihrer Zufriedenheit vorgefunden hatte – ihre Zustimmung mit den Worten „hier kann ich gut arbeiten, hier möchte ich arbeiten“ zum Ausdruck.45 Während der Hochzeitszeremonie nahm die Braut ebenfalls eine aktive Rolle ein: Nachdem der Bräutigam sie empfangen hatte, kochte sie für sich und die Gäste. Im Anschluss daran gingen sie zum Austausch des Konsenses über. Der Umstand, dass die Frau durch das Kochen die Hochzeit einleitete, hatte nicht nur seine praktische Seite, sondern auch eine rechtlich-symbolische. Dies unterstrich ihre Position in der Führung des Haushalts: Die Mahlzeiten unterstanden ihrer Kontrolle. Selbst wenn der Ehemann beispielsweise bei einer Konkubine übernachtete, aß er bei seiner Ehefrau, oder er schickte jemand vorbei, um das von ihr zubereitete Essen zu holen.46 Das Gesinde folgte ihren Anweisungen. In ihrer Obhut standen die Vorratskammern, deren Schlüssel sie verwahrte. Ebenso wie zahlreiche europäische Drucke des 15. Jahrhunderts die Hausherrin mit den Schlüsseln am Gürtel abbildeten, konnte in Eheprozessen das Faktum, dass sie die Schlüssel in ihren Händen hielt, als Beweis für eine bestehende
42 Lucia Ferrante, Matrimoni diseguali e avvocati nella Bologna del Cinquecento, in: Seidel Menchi/ Quaglioni (Hrsg.), I tribunali (wie Anm. 7), 431–457, hier 436 f. 43 Cristellon, La carità (wie Anm. 3), 178. 44 Vgl. Ottavia Niccoli, La vita religiosa nell’Italia moderna, secoli XV–XVIII. Rom 1998. 45 ASPV, CM, vol. 13, Giovanni Mammoli vs Lucia d’Este, 1513. 46 ASPV, CM, vol. 7, Bernardina de Garzonibuz vs Bernardino conte di Collalto, 1500.
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Ehe herangezogen werden.47 Im deutschsprachigen Kontext verliehen die Schlüssel den Frauen symbolisch und effektiv Autorität in der häuslichen Administration.48 Über die Hervorhebung der Zuständigkeit der Frauen für die Organisation von Familie und Haushalt hinaus erklärt sich das Zelebrieren der Hochzeit vor dem Feuer auch daraus, dass dieses die Familie symbolisierte (sogar ein Synonym dafür war) und zugleich das Leben.49 Die symbolische Bedeutung des Feuers war so groß, dass es einer Heirat Beweiskraft verlieh. Wenn zwei Brautleute neben einander auf einer Bank vor dem Feuer saßen, galt dies in den Augen der Leute und vor Gericht als Einwilligung in die Ehe. Vor dem Feuer wurden auch Ehen unter Notabeln geschlossen. In ganz Europa unterstrich das Hochzeitszeremoniell die Bedeutung des Übergangs, der zu diesem Ereignis untrennbar dazugehörte.50 Bewegung charakterisierte auch den Eintritt in das Haus, zum Beispiel das Wechseln von einer Räumlichkeit in die andere oder der festliche Zug, der vom Haus auf die Straße, in die Kirche und wiederum ins Haus führte. Heimliche Eheschließungen fanden ebenfalls häufig in einem liminalen Ambiente statt, das nach außen hin offene Kommunikationskanäle aufwies.51 Bevorzugte Orte für Begegnungen und für das Umwerben wie Tore, Balkone, Säulenhallen, Treppen und – insbesondere – Fenster bildeten zugleich den Rahmen für Eheschließungen, bei welchen die Initiative von den beiden jungen Leuten ausging und nicht von deren Familien.52 Eine solche Heirat war oft mit großer Aufregung verbunden; jedoch vergaß man dabei nicht die rituellen Gesten: Sie reichen sich die Hände durch eine Öffnung im Eingangstor; sie berühren sich beim Vorübergehen auf der Treppe; der Bräutigam, der fast von der Leiter fällt, schafft es dennoch, der Braut durch das Fenstergitter einen Ring über den Finger zu streifen, während sie ihm ein Taschentuch zusteckt „als Zeichen einer wahren und rechtmäßigen Ehe“.53 Gerade weil es sich hierbei um Öffnungen nach Außen handelte und um Räume, die
47 Zur Ikonographie vgl. Orest Ranum, Refugium der Intimität, in: Philippe Ariès/Roger Chartier (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt am Main 1986, 213–267. Für ein konkretes Beispiel vgl. ASPV, Curia, II, CM, vol. 3, fasc. 3, Barbarella de Pastis vs Giorgio Zaccarotto, 1470. 48 Vgl. Karin Gottschalk, Schlüssel und ‚Beschluss‘. Verfügungsmacht über Verschlossenes in der Frühen Neuzeit, in: Comparativ 15, 2005, 21–32. 49 Sarti, Vita di casa (wie Anm. 18), 116. 50 Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe. Cambridge 1997, 33. 51 Orlando, Sposarsi nel Medioevo (wie Anm. 3), 106. 52 Vgl. Seidel Menchi, Cause matrimoniali (wie Anm. 29). 53 ASPV, CM, vol. 9, Marco Antonio de Stefani vs Lucretia q. Simonis Vacha, 1506–1507. Das Taschentuch war als Hochzeitsgeschenk weit verbreitet; es stellte das materielle Zeichen des Konsenses von Seiten der Frau dar und symbolisierte ihre Reinheit. Manchmal konnte es auch eine magische Bedeutung annehmen (diese entfaltete ihre Wirkung in der Abwehr von Zauber und Unheil), und es zählte zu jenen Objekten, die die Braut den Zeugen, dem Heiratsvermittler und jenen, die ihr zur Hochzeit gratulierten, schenkte – jenen Personen also, die die Öffentlichkeit der Verbindung gewährleisteten. Vgl. dazu Cristellon, La carità (wie Anm. 3), 90.
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zu Unternehmungen und Eigeninitiative einluden, waren sie den Hütern weiblicher Keuschheit suspekt. Junge Frauen, denen ihr Ruf teuer war, hielten sich von Fenstern fern.54 Als in Vicenza Mitte des 16. Jahrhunderts ein junger Mann behauptete, die Eheschließung mit der Tochter bereits am Fenster zelebriert zu haben, ging deren Vater, der gegen diese Verbindung war und seine Kontrollmacht beweisen wollte, sogar so weit, das betreffende Fenster zuzumauern – wohl als Versuch, damit die Heirat ungeschehen zu machen.55
3 Das Haus als Konfliktarena Im Kontext der Arrangierens von Eheschließungen und im Eheleben konnte das Haus eine Arena des Konflikts und eine Bühne der Gewalt darstellen, die – und hier beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen auf Gewalt als funktionales Element in einem patriarchalen Familiensystem – vielmehr durch die Position im familialen Gefüge als von der persönlichen Beziehung bestimmt war: Kinder und Heranwachsende wurden von den Älteren mit eiserner Hand geführt, und deren von Vermögen und Status bestimmten Interessen beeinflussten die Entscheidungen über das Leben der Jüngeren.56 In den Blick kommen dabei spezifische Situationen: Eltern und Vormünder, die mittels Gewalt ihre Kinder oder Mündel zu einer Ehe zwingen oder die den Verführer nötigen, die Verführte zu heiraten; Gewalt der Eltern gegenüber der Tochter, um sie für einen Ehebruch zu bestrafen und damit die Ehre der Familie zu retten; Gewalt von Ehemännern gegen ihre Frauen, um sie zu ‚bessern‘. Bei der Realisierung ihrer Heiratsstrategien setzten Familien – auch wenn sie Elemente, die zu einer harmonischen Verbindung beitragen konnten, nicht ganz außer Acht ließen57 – Männer wie Frauen unter erheblichen physischen, materiellen und psychischen Druck. Die Familieninteressen fanden in den weltlichen Statuten einen wertvollen Verbündeten, denn diese sahen in Italien wie in Spanien und Frankreich ab dem 15. und insbesondere im 16. Jahrhundert schwere Strafen – vom Verlust der Mitgift über Enterbung bis hin zu Gefängnis – für jene vor, die sich ohne Einwilligung
54 Alessandra Macinghi Strozzi, Tempi di affetti e di mercanti. Lettere ai figli esuli. Mailand 1987, 238, 242, 280; Lauro Martines, Strong Words. Writing and Social Strain in the Italian Renaissance. Baltimore 2001, 199–229. 55 Seidel Menchi, Percorsi variegati (wie Anm. 1), 19. 56 Vgl. Anne Jacobson Schutte, By Force and Fear. Taking and Breaking Monastic Vows in Early Modern Europe. Itaca 2011. Zum Übergang zwischen positionalen und persönlichen Beziehungen vgl. Mary Douglas, To Inner Experience, in: dies., Natural Symbols. Explorations in Cosmology. New York 1970, 19–36. 57 Arrangierte Ehen mussten nicht notwendigerweise einer harmonischen Verbindung entgegenstehen. Vgl. Hans Medick/David Warren Sabean (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung. Göttingen 1984.
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der Eltern verehelichten.58 Wenn Eltern die Zustimmung ihrer Kinder oder Verwandte diejenige ihrer Mündel nicht erhielten, versuchten sie oft deren Unterwerfung mit Gewalt zu erreichen. Da das kanonische Recht die Annullierung einer Ehe für den Fall, dass diese infolge von Zwang und Gewalt geschlossen worden war, ermöglichte, stellen die Annullierungsprozesse, die per vim et metum – aufgrund von Gewalt und Furcht – angestrengt wurden, eine wichtige Quelle dar, um festzustellen, welcher Grad an Gewaltanwendung in Zusammenhang mit Eheschließungen vermutlich zum Einsatz kam. Die gegen Frauen im häuslichen Umfeld ausgeübte Gewalt, um sie dazu zu bringen, einen der Familie genehmen Mann zu heiraten, richtete sich häufig gegen junge und sehr junge Frauen, die fast noch Kinder waren. Gerichtsprotokolle erzählen von Müttern, die ein Messer an die Kehle ihrer Töchter setzten, von Vätern, die sie an den Haaren vor das Haus zerrten und verprügelten59, und auch von Stiefmüttern, die ihre Stieftöchter fast erwürgt hätten.60 Um eine Annullierung der Ehe zu erreichen, mussten die jungen Frauen beweisen, dass sie ihr Nichteinverständnis vor der Heirat klar und deutlich gezeigt hatten. Argumentiert wurde dabei wie folgt: Niemals hätten sie die Wahl, die die Familie an ihrer Stelle getroffen hatte, angenommen und vielmehr ihre Abscheu gegenüber dem künftigen Ehemann erkennen lassen, indem sie jedes Mal den Tisch verließen, wenn dieser beim Namen genannt wurde, indem sie versucht hatten, zu fliehen oder sich vor der Hochzeit in der Küche versteckten, oder indem sie sich selbst verunstalteten, sich das Gesicht zerkratzten.61 Sie mussten zudem beweisen, dass sich ihre Aversion auch nach der Heirat nicht gemindert hatte. Denn der Kirchenlehre zufolge erhielt eine unter Zwang geschlossene Ehe durch freiwilliges Zusammenwohnen Gültigkeit.62 Alle Protagonistinnen dieser Prozesse beriefen sich einhellig darauf, dass die Ehe nicht vollzogen worden sei, und sie versuchten darüber hinaus in der Regel zu beweisen, dass die Gewalt und die Schläge, die sie zum Eingehen der Ehe gezwungen hätten, nach der Heirat nicht aufgehört hätten und sie dadurch in ihren Möglichkeiten gehindert worden seien, sich gegen die Zwangsehe zur Wehr zu setzen. Als er sie gegen ihren Willen geküsst habe, sei sie wütend geworden63; sie habe nie „gute Miene“ gemacht und ihn weder als „ihren Mann“ angeredet noch seinen Ring, noch Kleider getragen, die er für sie hatte machen lassen; sie gehorche ihm nicht, und wenn
58 Lombardi, Storia del matrimonio (wie Anm. 23), 42–45. 59 Cristellon, La carità (wie Anm. 3), 244 f. 60 Vgl. Daniela Hacke, ‚Non lo volevo per marito in modo alcuno‘. Forced Marriages, Generation Conflicts and the Limits of Patriarchal Power in Early Modern Venice, c. 1580–1680, in: Anne Jacobson Schutte/Thomas Kuehn/Silvana Seidel Menchi (Hrsg.), Time, Space, and Women’s Lives in Early Mod ern Europe. Kirksville 2001, 203–222. 61 ASPV, AMP, reg. 26, Petrus a Lacu vs Catarucia filia Bone, 1465. 62 Decretales Gregorii IX, liber IV, titulus I, canon 21. 63 ASPV, CM, vol. 2, fasc. 15, Francischine Britti vs Francisco Agnusdei, 1465–1466.
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er krank sei, würde sie ihn nicht pflegen – lauteten die gängigen Argumentationen.64 Dass es sich nicht um eine ‚wahre‘ Ehe handelte, wurde dadurch offensichtlich, da die mit der beiderseitigen Einwilligung verbundenen Rituale und die Zeichensprache des affectus in ihr Gegenteil verkehrt wurden.65 Die Annullierungsfälle, in denen Männer das Ehehindernis des Zwangs geltend machten, folgten einer ganz anderen Logik. Männer in einer hohen sozialen Position, oder jedenfalls in einer höheren als jene der Frauen, wurden von den Angehörigen der Braut, die meist bewaffnet waren, in dem Moment zu einer Heirat gezwungen, in dem sie im eigenen Haus mit ihr im Bett in flagranti überrascht worden waren. In Anwesenheit ihrer Verwandten – und manchmal eines schnell herbeigeholten Priesters – musste der Bräutigam jenes Eheverspechen einhalten, das der Intimität mit der jungen Frau vorausgegangen war, oder eine zuvor heimlich geschlossene Ehe feierlich bekräftigen, bevor die Schwangerschaft der Braut von der ‚Schande‘ der Illegitimität überschattet werden konnte.66 Aus gesellschaftlicher Sicht hatte die Familie der Braut – in Italien wie in Deutschland und England – das Recht und die Pflicht, den Verführer zur Ehe zu zwingen oder die ‚Schande‘ der Entehrung mit Blut reinzuwaschen.67 Allein die Anwesenheit des Mannes im Haus der jungen Frau konnte für deren Familie entehrend sein.68 Die Gewaltförmigkeit von Eheschließungen lagerte sich in das Hochzeitsritual ein: Wenn die Braut weinte oder sich an Möbel klammerte, um das väterliche Haus nicht verlassen zu müssen, wenn sie sich in der Scheune versteckte, wenn sie ihre Zustimmung zur Heirat erst nach wiederholtem Anfragen gab – all dies ist sowohl als Bestandteil von qualvoller Erfahrung als auch als rituelles Moment dokumentiert.69 Zur erzwungenen Heirat, die einem Bräutigam widerfuhr, gab es ebenfalls ein entsprechendes Ritual wie das über dem Kopf hängende Schwert, das bei Hochzeiten in Rom üblich war.70 In Gesellschaften, die stark an der väterlichen und männlichen Linie ausgerichtet waren, bestand die wesentliche Rolle der Frauen darin, durch ihre Keuschheit und Reinheit die „Kontinuität der Gruppe und die genealogische Kohärenz“ zu gewähr-
64 ASPV, AMP, reg. 26, Giorgio Bruna vs Trevisana di Francesco da Monfalcone. 65 Zu den mit dem Konsens verbundenen Ritualen und den Implikationen des affectus vgl. Pedersen, Marriage Disputes (wie Anm. 8), 245. 66 ASPV, CM, vol. 2, fasc. 7, Ursina Basso vs Alvise Soncin, 1462. Zur Präsenz von Geistlichen vgl. ASPV, CM, vol. 11, Ambrosina de Blasonibus vs Marco Antonio Bacinetto. 67 Lombardi, Matrimoni (wie Anm. 3), 290; McSheffrey, Marriage (wie Anm. 7), 1 f. Für Deutschland ACDF, SO, MM b. 1, 1630, Positio I Germania, c. 1210. 68 ASPV, CM, vol. 2, fasc. 7, Ursina Basso vs Alvise Soncin, 1462. 69 Sarti, Vita di casa (wie Anm. 18), 86. 70 Vgl. Dina Bizzarri, Per la storia dei riti nuziali in Italia, in: Federico Patetta/Mario Chiudano (Hrsg.), Studi di storia del diritto italiano. Torino 1937, 611–629.
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leisten.71 Deren Ehre hing in erster Linie von der sozialen Wahrnehmung ihres sexuellen Verhaltens ab, die Ehre des Mannes von der Wahrnehmung des sexuellen Verhaltens jener Frauen, die seiner Kontrolle unterstanden. Für das Aufrechterhalten der familialen Ehre spielten Brüder eine Schlüsselrolle, indem sie sich zu den Hütern der Ehre ihrer Schwestern machten. Diese Verpflichtung endete auch nicht mit der Heirat der Frauen.
4 Ausblick Im Zuge der Reformation und nach dem Konzil von Trient (1563) wurde die Hochzeitsbühne quasi vom Haus in die Kirche transferiert. Das verlief nicht ohne Widerstand: In Augsburg versuchten Katholiken, die in reformierten Pfarrgemeinden wohnten, zu Hause und nicht vor einem Pastor zu heiraten; Adlige machten von Sondergenehmigungen Gebrauch, um gegen Entrichtung einer Taxe weiterhin häusliche Hochzeiten abhalten zu können.72 Das Haus blieb damit weiterhin eine relevante Hochzeitsbühne, wenn auch nur in Ausnahmefällen oder bei tumultartigen Hochzeiten, wenn Brautleute mit ihren Zeugen ins Pfarrhaus eindrangen und den Pfarrer mit ihrem Heiratsvorhaben überrumpelten, da nunmehr allein dessen Präsenz für die Gültigkeit des Trauungsaktes ausschlaggebend war und nicht mehr nur die beiderseitige Einwilligung. Dabei handelte es sich in der Regel um Verbindungen, die von den Angehörigen, dem Gutsherren oder von kirchlichen Würdenträgern (bei interkonfessionellen Ehen etwa) abgelehnt wurden. Für ganz Europa sind darüber hinaus Eheschließungspraktiken dokumentiert, die voll gültig, wenn auch im Grund verboten waren: wenn beispielsweise ein Brautpaar die Worte des beiderseitigen Konsenses im Haus der Braut vor dem Pfarrer aussprach, der unter dem Vorwand, dass sie beichten wolle, herbeigeholt worden war.73 Da das ‚Decretum Tametsi‘ des Trienter Konzils (1563) die Anwesenheit des Pfarrers von zumindest einem der beiden Heiratenden vorschrieb, war die Festlegung, welcher Pfarre die Brautleute angehörten – und daher auch, wo ihr Wohnort war – nun grundlegend für das tatsächliche Bestehen einer Ehe. Es konnte nämlich vorkommen, dass eine nicht in der für das Paar zuständigen Pfarre geschlossene Ehe für ungültig erklärt wurde: etwa wenn die Pfarre, in der die Trauung stattgefunden hatte, infolge eines Umzugs nicht jene war, in der der Bräutigam zuvor gewohnt hatte, oder wenn die Heirat auf dem Dorf zelebriert worden war, wo sich zwar der Landsitz befand, aber nicht der dauernde Wohnsitz. In Rom gab es 1568 den Fall, dass
71 Claudio Povolo, L’intrigo dell’onore. Poteri e istituzioni nella Repubblica di Venezia tra Cinquecento e Seicento. Verona 1997, 361. 72 Vgl. Roper, Going to Church (wie Anm. 2). 73 ASV, Congr. Concilio, Positiones, b. 2, cc. 198–249, 1568–1570.
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eine Frau einer inzwischen unbequem gewordenen Ehe entkommen konnte, indem sie den Beweis lieferte, dass sie diese im Haus ihres Onkels, das an ihr Wohnhaus grenzte, geschlossen hatte, zu dem sie über eine Öffnung in der Mauer Zutritt und wo sie zuvor auch gelebt hatte, das aber zu einer anderen Pfarre gehörte.74 Insgesamt gesehen verlor das Haus nach dem Konzil von Trient als Bühne von Hochzeitsritualen zwar an Bedeutung, zugleich aber gewann es eine zentrale Rolle für die Gültigkeit der Ehe. Aus dem Italienischen: Margareth Lanzinger
74 ASV, Synopsis, vol. 2, c. 86. Roma. Matrim. 2 iunii et 28 iulii 1696.
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Vererbung: Soziale und rechtliche, materielle und symbolische Aspekte Bis in die Gegenwart ist Erben ein wesentlicher Modus, der den Zugang zu Vermögen bestimmt und steuert.1 Umso mehr galt dies für die Frühe Neuzeit, aber auch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus: Insbesondere in Adels- und Patrizierfamilien, im besitzenden Teil der ländlichen Gesellschaft sowie im Handels- und Wirtschaftsbürgertum. Eigentum und Besitz von Liegenschaften kam eine milieukonstituierende Bedeutung zu, die gegenüber dem durch Lohn und Leistung Erworbenen nur allmählich und nie gänzlich in den Hintergrund trat. Wer was erbte oder überhaupt erben konnte, das stellte die sozialen Weichen für die jeweils nächste Generation. Enterbung konnte als Drohmittel entsprechend wirkmächtig sein. Vererbung modellierte jedoch nicht nur familiale, sondern auch gesellschaftliche Machtgefüge.2 Erbrecht und Erbpraxis sowie die damit einhergehenden Implikationen sind daher zentrale Themen der Sozial- und Familiengeschichte seit deren Aufbruch in den späten 1960er Jahren. Wichtige Impulse gehen zudem von der Geschlechtergeschichte und der Historischen Verwandtschaftsforschung aus.
1 Das Haus als ‚Erbstück‘ Wesentliche Problemstellungen, die die Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte zum Thema Vererbung angeregt haben, sind in eine Matrix der Ungleichheit eingeschrieben: Ungleichheit unter Geschwistern, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, soziale Ungleichheit. Denn auch dort, wo alle Kinder auf dem Papier wertmäßig gleiche Erbteile zugesprochen erhielten, konnten in der realen Umsetzung Gewichtungen zugunsten eines Sohnes oder einer Tochter vorgenommen werden.3 Daran ist die Frage anzuschließen, inwieweit im jeweiligen gesellschaftlichen und familialen Kontext das Verfügen über Liegenschaften Voraussetzung für eine Heirat und Famili-
1 Vgl. Jens Beckert, Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt am Main 2004. 2 Bernard Derouet hat in der Praxis der Besitznachfolge einen „turning point“ für die Organisation lokalpolitischer Macht in den Dörfern und Kleinstädten gesehen. Vgl. Bernard Derouet, Political Power, Inheritance, and Kinship Relations. The Unique Features of Southern France (Sixteenth to Eighteenth Centuries), in: David Warren Sabean/Simon Teuscher/Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1500–1900). New York, 105–124, hier 106–108. 3 Vgl. Andrea Hauser, Erben und Teilen – ein zweiter Blick auf Forschungsergebnisse einer Sachkulturforschung, in: Stefan Brakensiek/Michael Stolleis/Heide Wunder (Hrsg.), Generationengerechtigkeit? Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500–1850. Berlin 2006, 301–315, hier 309.
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engründung sowie für eine selbständige Haushalts- und Wirtschaftsführung war, wie also Erbpraxis und innerhäusliche Machtgefüge zusammenhingen und welche Alternativen den von der Besitznachfolge Ausgeschlossenen offen standen. Das ‚Haus‘ – als Sinnbild für immobilen Besitz – war nicht nur ein Parameter sozialer Organisation und Differenzierung, sondern auch ein demographisch-ökonomischer Faktor. Häuser dienten nicht nur zum Wohnen und der Regeneration, sondern sie fungierten insbesondere in der Frühen Neuzeit, bevor sich die Tätigkeit weiter Bevölkerungsteile in Form von Erwerbsarbeit nach Außen verlagerte, zugleich als Arbeits- und Betriebsstätten und konstituierten damit eine wesentliche wirtschaftliche Existenzgrundlage: so in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Handel, in der Gastwirtschaft oder in der Heimarbeit. Zudem war vielerorts der Erwerb des frühneuzeitlichen Bürgerrechts an Hausbesitz gekoppelt bzw. umgekehrt dessen Voraussetzung. Schließlich kam Häusern selbst Relevanz als Träger von Rechten zu – so von Gewerbe- und Handwerksberechtigungen oder Nutzungsrechten an Weiden und Almen. Solche Formen des immateriellen Besitzes hatten eine nicht zu unterschätzende ökonomische Bedeutung, aber auch eine soziale: Denn darüber wurden Ein- und Ausschlüsse in Hinblick auf Zugang und Teilhabe hergestellt. Dies galt für eine Meisterposition im Zunfthandwerk genauso wie für die Nutzung von Allmenden in der Dorfgesellschaft. Liegenschaften standen, wenn es ums Erben ging, immer in einem bestimmten Verhältnis zu mobilem Vermögen – den so genannten ‚Fahrnissen‘, wozu Mobiliar, Gerätschaften, Tiere, Essvorräte und Geld zählten. Das Inventar erfasste und schätzte beides im Wert. Offene Schulden wurden darin ebenfalls aufgelistet und weitervererbt. Wer was bekommen oder übernehmen sollte, das folgte unterschiedlichen, teils geschlechtsspezifischen Logiken.4 Nicht zuletzt verbanden sich mit Häusern und Höfen, Villen und Schlössern Vorstellungen von Stabilität, von familialer Kontinuität. Diese wurde stets von demographischen Wechselfällen – Kinderlosigkeit, dem Fehlen von Söhnen, hoher Sterblichkeit – und konkurrierenden Interessen bedroht. Wurde Kontinuität hoch bewertet, dann musste sie mitunter auf dem Wege langer Erbstreitigkeiten oder durch die Inkorporierung von Schwiegersöhnen – etwa durch Adoption – hergestellt werden. Die Position von Frauen in der Generationenfolge war unterschiedlich beschaffen: Bei strikt patrilinealem Verwandtschaftsdenken konnten sie die väterliche Linie nicht repräsentieren und weiterführen, so dass ihnen im Erbgang ein männliches Pendant, häufig ein Cousin, vorgezogen wurde, während sie bei einer offeneren Konzeption durchaus als Besitznachfolgerinnen in Frage kamen. Formen eines in diesem Sinne an Erbvorgänge gebundenen ‚dynastischen‘ Denkens finden sich sowohl in adligen als auch in manchen mittel- und großbäuerlichen Kontexten.
4 Klare Regeln galten in dieser Hinsicht etwa für die aus Bettzeug, Bett- und Tischwäsche, Schmuck etc. bestehende sächsische Gerade, die nur über die weibliche Linie vererbt werden durfte. Vgl. Karin Gottschalk, Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig. Frankfurt am Main 2003.
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Im städtischen Handwerk war zwar die berufliche Kontinuität zwischen Vätern und Söhnen hoch, die betriebliche Vater-Sohn-Nachfolge kam in der Praxis jedoch nicht sehr häufig vor5, tendenziell am ehesten in produktionsmittelintensiven Branchen, so etwa bei Schmieden, Gerbern, Bäckern. Aus der Fülle an Themenbereichen, die mit Haus und Vererbung zusammenhängen, können hier nur einige Fäden aufgegriffen und einige markante Aspekte angesprochen werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zusammenspiel von strukturierenden sozialen und rechtlichen Faktoren einerseits, lebensweltlichen, familialen und verwandtschaftlichen Logiken sowie konkurrierenden Interessen andererseits sowie auf wichtigen Forschungsdebatten.
2 Erbrecht und Erbpraxis Bezogen auf historische Gesellschaften in Europa von ‚Erbrecht‘ zu sprechen, stellt vor eine Schwierigkeit, denn ein solches war lange nicht territorial einheitlich und verbindlich kodifiziert. Vielmehr herrschte in diesem Bereich eine große Rechtpluralität, die Gewohnheitsrechte mit einschloss. Diese Rechtspluralität gründete nicht nur auf unterschiedlichen weltlichen und kirchlichen Herrschaftsbereichen und Jurisdiktionsbefugnissen, sondern auch auf einer ständischen Differenzierung: Für Bauern, Bürger, Adlige und Geistliche galt nicht dasselbe Recht. Inwieweit und mit welchen Auflagen Liegenschaftsbesitz vererbbar war, das hing im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit maßgeblich von dessen grundund lehensrechtlicher Qualität ab.6 Zu unterscheiden ist zwischen frei vererbbaren, ‚allodialen‘ Gütern, die auch Töchtern zugesprochen werden konnten, und Lehen, die im Prinzip männlichen Nachkommen vorbehalten waren. Töchter hatten nur nachrangig, sofern kein Sohn vorhanden war, einen möglichen Anspruch auf Letztere.7 Daneben gab es sog. ‚Weiberlehen‘ oder ‚Kunkellehen‘, die Frauen übertragen werden konnten – unter der Bedingung allerdings, dass sie von Kriegs- und Beratungsdiensten, zu denen ein Lehensträger, ein Vasall, grundsätzlich verpflichtet war, absehen
5 Michael Mitterauer, Zur familienbetrieblichen Struktur im zünftischen Handwerk, in: ders., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus und Gemeinde in vorindustrieller Gesellschaft. Stuttgart 1979, 98–122, hier 112 f. 6 Vgl. dazu Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1993, 201–204. 7 Michaela Hohkamp, Eine Tante für alle Fälle. Tanten-Nichten-Beziehungen und ihre Bedeutungen für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Margareth Lanzinger/Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, 147– 169, hier 153 f.
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würden.8 Die Herausbildung des Erbrechts an Besitz im Sinne der prinzipiellen Erblichkeit von verliehenen Gütern war ein Prozess, der sich regional unterschiedlich erst im Laufe des Spätmittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit durchsetzte. Zuvor übertrugen Grund- oder Lehensherren Grund und Boden nur zeitlich begrenzt an einen bestimmten Lehensträger und setzten nach Ablauf der Frist einen Nachfolger ein. An die Stelle der wiederholt – im Extremfall des bäuerlichen Freistiftrechts jährlich – neu anzusuchenden Belehnung und des grundsätzlichen Rückfalls an den Grundherrn sowohl bei dessen Tod als auch beim Tod des Bewirtschafters traten zunehmend Vertragsformen, die die Erblichkeit von Gütern vorsahen. Bauern hatten dadurch mit der Zeit zwar weitreichende Besitztitel inne, Eigentümer blieb bis zu den Agrarreformen Ende des 18. Jahrhunderts (in Frankreich) bzw. Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts (in Deutschland und Österreich) der Grundherr. Für die konkrete Ausgestaltung von Rechten, Pflichten und Freiheiten entscheidend war der jeweilige grundherrschaftliche oder gutsherrschaftliche Kontext.9 Das Vererben von Liegenschaften folgte grundsätzlich zwei Modellen, die sich dahingehend unterschieden, ob das Haus mitsamt Grundstücken geteilt oder ungeteilt an die nächste Generation überging. Bei ungeteilter Besitzweitergabe an einen Sohn oder eine Tochter – dem ‚Anerbenrecht‘ – gingen die Geschwister, die sog. ‚weichenden Erben‘ jedoch nicht leer aus. Sie erhielten Erbteile zugesprochen, die in manchen rechtlichen Kontexten und Regionen die Gestalt einer Mitgift (für Töchter im Adel und im Dotalsystem) oder eines Brautschatzes (so in Westfalen für Töchter und Söhne)10 annehmen konnten. Begrifflich eindeutiger ist daher, von ungeteilter Besitznachfolge zu sprechen, die im Adel üblicherweise mit der Herrschaftsnachfolge verbunden war. Weitere Differenzierungen sind dahingehend zu machen, ob bei der ungeteilten Besitznachfolge eine klare Präferenz für einen bestimmten Haupterben zum Tragen kam: für den ältesten Sohn (Primogenitur) oder für den jüngsten (Ultimogenitur), ob die Altersreihung ausschlaggebend war unabhängig vom Geschlecht oder aber das Kriterium der besten Eignung zählte. So verfügten der Weißbäckersohn Franz Egg und die Bierbrauertochter Maria Josepha Eschenbacherin in ihrem 1783 in Salzburg abgeschlossenen ‚Heiratspakt‘ unter Punkt sieben, keinem ihrer etwaigen Kinder ‚einen Vorzug‘ geben zu wollen. Vielmehr sollte sich die Wahl des länger lebenden Eltern-
8 Hedwig Röckelein, De feudo femineo – Über das Weiberlehen, in: Peter Aufgebauer/Christine van den Heuvel (Hrsg.), Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken. Hannover 2006, 267–284. 9 Vgl. Jan Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften. München 1995; ders. (Hrsg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der frühen Neuzeit. Göttingen 1995. 10 Vgl. Dietmar Sauermann, Bäuerliche Brautschatzverschreibungen in Westfalen (17.–20. Jh.), in: Rheinisch-westfälische Zs. für Volkskunde 18/19, 1972, 103–153.
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teils danach richten, welches der Kinder „sich mit guter aufführung und eigenschaften um vater und mutter am meisten verdient gemacht“ und entweder selbst oder zusammen mit dem Ehepartner „am tauglichsten“ erachtet würde.11 War Teilung des Liegenschaftsbesitzes das handlungsleitende Modell, so kamen dabei entweder alle Kinder zum Zug oder nur die Söhne; die Töchter wurden dann mit Geld oder beweglichen Gütern abgefunden. Im 19. Jahrhundert gestaltete es sich aufgrund der Mobilisierung der Gesellschaft immer schwieriger, Besitz realiter aufzuteilen, so dass er – etwa im schwäbischen Raum – stattdessen versteigert wurde und die dabei erzielte Geldsumme anteilig an die Erben fiel.12 Welche Auswirkungen die beiden Erbmodelle auf die Lebensperspektiven der Kinder sowie auf das Verhältnis zwischen den Generationen, den Geschwistern und den Geschlechtern hatten und darüber hinaus auf die sozio-politische, -ökonomische und -kulturelle Strukturierung regionaler Gesellschaften, darüber haben Historiker und Historikerinnen viel geforscht. Weitgehend herrscht Konsens darüber, dass Recht und Praxis nicht direkt aufeinander bezogen zu denken sind, sondern Praxis als ein Prozess der ‚Übersetzung‘ von Rechtsnormen zu sehen ist, in dem historische Akteure und Akteurinnen Lücken und Uneindeutigkeiten ebenso genutzt haben wie darin angelegte Möglichkeiten der Instrumentalisierung. Daher weist die Praxis eine große Vielfalt an Arrangements auf. In der Frage nach Lebensperspektiven von Kindern ging ein wirkmächtiges Modell, das die historische Demographie im Anschluss an Bevölkerungstheorien von Thomas Malthus und Gerhard Mackenroth für Agrargesellschaften entwickelt hatte, davon aus, dass eine Heirat im bäuerlichen und handwerklich-gewerblichen Milieu zeitlich wie ökonomisch an das Vorhandensein einer üblicherweise nur mittels Vererbung zugänglichen existenzsichernden ‚Stelle‘ – in Form eines Bauernhofs oder eines Betriebs – gekoppelt sei. Das in diesem Zusammenhang geprägte Bild einer „eisernen Kette zwischen Fortpflanzung und Vererbung“13 brachte plastisch zum Ausdruck, dass dieser Zusammenhang als unabdingbar gedacht wurde. Die ProtoIndustrialisierungsforschung setzte dem als erste ein anderes Modell entgegen: Die in der Proto-Industrie Tätigen konnten sich durch ihre Arbeit eine von ererbtem Besitz unabhängige Existenzbasis aufbauen, infolgedessen tendenziell früh heiraten und Kinder haben – und damit die ‚eiserne Kette‘ durchbrechen.14
11 Gunda Barth-Scalmani, Ausgewogene Verhältnisse. Eheverträge in der Stadt Salzburg im 18. Jahrhundert, in: Margareth Lanzinger u. a., Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich. 2. Aufl., Köln 2015, 121–203, hier 191. 12 Vgl. Andrea Hauser, Dinge des Alltags. Studien zur historischen Sachkultur eines schwäbischen Dorfes. Tübingen 1994, 375–383. 13 Begriffsprägung durch Charles Tilly/Richard Tilly, Agenda for European Economic History in the 1970s, in: JEconH 31, 1971, 184–198, hier 189. 14 Mit weiteren Differenzierungen Jürgen Schlumbohm, ‚Proto-Industrialisierung‘ als forschungsstrategisches Konzept und als Epochenbegriff – eine Zwischenbilanz in: Markus Cerman/Sheilagh C.
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Die ‚Vollstellen‘-These geht von einem Gleichgewicht zwischen Bevölkerungszahl und verfügbaren Ressourcen aus, was impliziert, dass auch die Zahl der ‚Stellen‘ begrenzt, quasi eingefroren sei. Diese starre Vorstellung blendet die Vielfalt an Möglichkeiten des Zugangs zu Besitz und Wohnmöglichkeiten sowie zu einer ökonomischen Basis aus, die es neben dem Erbgang in der Frühen und späteren Neuzeit gegeben hat: Häuser und Höfe, Hausanteile und Grundstücke waren nicht nur Erbmasse, sondern sie wurden auch verpachtet, vermietet und verkauft und – manchmal sogar in Anerbengebieten – geteilt; mehr Wohnraum ließ sich auch durch Umbauten, Zubauten oder Neubauten schaffen. Allzu schematisch ist zudem die Abfolge – zuerst erben, dann heiraten, dann Kinder haben – gedacht. Die Bindung der Familiengründung an eine ererbte ‚Stelle‘ sei, so das Fazit von Georg Fertig in seiner Studie über das ländliche Westfalen, wo Höfe ungeteilt weitergegeben wurden, im 19. Jahrhundert, letztlich „eine Chimäre“.15 Die ‚Vollstellen‘-These hat aufgrund von Differenzierungen und Relativierungen ihren Modellcharakter verloren. Der Punkt, dass eine Eheschließung in vergangenen Jahrhunderten an gewisse, sozial erwartete oder normativ vorgeschriebene Voraussetzungen und Erfordernisse gebunden war, dass Männer und Frauen vielfältige Anstrengungen unternehmen mussten, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie zu sichern, bleibt dennoch relevant. Zu denken ist an das zünftisch organisierte Handwerk16, an ökonomisch definierte Heiratsbeschränkungen, die im Extremfall Hausbesitz zum Kriterium für Ehefähigkeit machten17, an religiös/konfessionell bestimmte Heiratsverbote oder an die Konflikte und Konsequenzen in adligen Familien, wenn ein Sohn eine nicht standesgemäße Ehe einging oder ein jüngerer Brüder entgegen seiner Ankündigung doch heiratete und damit die getroffenen Besitz- und Machtarrangements ins Wanken brachte.18 Dort, wo Realteilung üblich war, bot das Ererbte zwar eine Grundausstattung, reichte aber als Lebensgrundlage vielfach nicht aus: „Die materielle Kultur in einer Realteilungsgemeinde war geprägt“ von einem „immerwährenden Kreislauf des
Ogilvie (Hrsg.), Proto-Industrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter. Wien 1994, 23–33. 15 Georg Fertig, ‚Wenn zwei Menschen eine Stelle sehen‘. Heirat, Besitztransfer und Lebenslauf im ländlichen Westfalen des 19. Jahrhunderts, in: Christophe Duhamelle/Jürgen Schlumbohm (Hrsg.), Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien. Göttingen 2003, 93–124, hier 117. 16 Als Überblick mit umfassenden Literaturangaben siehe Reinhold Reith, Handwerk, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5. Stuttgart 2007, 148–173; Helga Schultz, Handwerker, in: ebd., 174–177. 17 Vgl. Elisabeth Mantl, Heirat als Privileg. Obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen in Tirol und Vorarlberg 1820–1920. Wien 1997, 196 f. 18 Vgl. Michael Sikora, Dynastie und Eigensinn. Herzog Georg Wilhelm von Celle, Eleonore d’Olbreuse und die Spielregeln des Fürstenstandes, in: Heiko Laß (Hrsg.), Hof und Medien im Spannungsfeld von dynastischer Tradition und politischer Innovation zwischen 1648 und 1714. München 2008, 19–30.
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Zusammenfügens und Teilens. Hatte man das Erbe sukzessive in einem Zeitraum von zwanzig und mehr Jahren endlich übernommen, wurde es schon wieder für die nächste Generation zerstückelt.“19 Die Besitzweitergabe in Etappen galt lange als typisch für Realteilungsgebiete. Wenn Geschwister in die Ferne migrierten, bevor das Erbe ausbezahlt wurde, zog sich der Prozess noch weiter – sogar über Generationen – in die Länge. Inzwischen haben Forschungen zur ungeteilten Besitzweitergabe aufzeigen können, dass es sich auch dabei lange nicht immer um einen punktuellen Akt der Generationenablöse gehandelt hat. Übergabeverträge bestimmten nicht selten einen Sohn oder eine Tochter zwar zum Haupterben bzw. zur Haupterbin, stellten die faktische Besitzübertragung aber nur in Aussicht. Diese erfolgte de facto erst später, bei Krankheit oder Tod des Vaters. Die Ausgestaltung solcher Besitzübergaben unterscheidet sich nach zwei in der Forschung breit diskutierten Grundformen, die paradigmatisch für intergenerationale Machtgefüge im Haus stehen: die sog. Ausgedingefamilie und die Stammfamilie.
3 Zwischen den Generationen In Hinblick auf die Frage nach der Verteilung von Autorität und Macht könnte eine These lauten, dass die ältere Generation eine umso stärkere Position zeitlebens behaupten und beibehalten konnte, je abhängiger die jüngere Generation vom Transfer des Erbes war. Ein wichtiger struktureller Parameter sind in diesem Zusammenhang die sog. Residenzmuster, die Konstellationen des Zusammenlebens, die mit verschiedenen Formen der Besitzweitergabe verknüpft waren. Ausgangspunkt einer solchen Klassifizierung ist die Frage, wo sich ein Paar nach der Heirat niederließ: ob es neolokal einen eigenen Hausstand gründete oder patrilokal bzw. uxorilokal wohnte, also im väterlichen Haus des Bräutigams oder im Haus der Braut, wobei noch weiter zu differenzieren ist, ob die eine oder andere Form des ‚Einheiratens‘ zu Lebzeiten beider Eltern, der verwitweten Mutter oder des verwitweten Vaters erfolgte. Vergleichbar gestaltete sich die Situation, wenn ein kinderloser Onkel oder eine kinderlose Tante, eine Nichte oder einen Neffen in deren Haus einheiraten ließ. Am unabhängigsten werden neolokale Haushalte gedacht, vor allem wenn sie mit erworbenem Vermögen gegründet und auf Basis eines eigenen Einkommens geführt wurden. Als ein weiteres Kriterium der Unabhängigkeit gilt die Abwesenheit von Angehörigen und Verwandten über die aus Eltern und Kindern bestehende Kernfamilie hinaus. Ebenso prominent wie kritisiert sind die Schlussfolgerungen, die in der Historischen Familienforschung aus der Verbreitung solcher Kernfamilienhaushalte gezogen wurden. Einen hohen Anteil hatte vergleichsweise früh England auf-
19 Hauser, Erben und Teilen (wie Anm. 3), 308.
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zuweisen, was zu einem allzu linearen Modernisierungsnarrativ verführte. Dieses nahm seinen Ausgang von der Vorstellung, dass die Befreiung vom Zwangsverband der Verwandtschaft erst die Selbstbestimmung der Geschlechter und die Liebesheirat ermöglicht habe. Dies wurde zugleich als Voraussetzung der Individualisierung erachtet, auf der – so die These weiter – die moderne Gesellschaft und deren ökonomischer Aufstieg gründen.20 Breiter angelegte Forschungen haben etwaige, mit der Unabhängigkeit von Kernfamilien ursächlich verknüpfte, weitreichende Implikationen deutlich relativiert und zugleich Präsenz und Bedeutung von Verwandtschaft als Faktor gerade der Moderne hervorgehoben.21 Auf den ersten Blick selbständige und neolokale Haushalte waren vielfach finanziell und/oder in ihren Arbeitsbeziehungen mit dem Haus der Eltern oder anderer Verwandter verflochten.22 Nach dem Brand der örtlichen Papiermühle ersuchte der Notar Michel Piaget, der Schwiegervater des Geschädigten, im Herbst 1818 die Walliser Regierung, eine Kollekte zu deren Wiederaufbau durchführen zu dürfen. Die Verwandten würden zwar alle zusammenhelfen, doch mit Geld könne ihm kaum einer beistehen. Er selbst besitze und verdiene nicht wenig, doch, so schrieb er, „wenn man die Bürden berücksichtigt, die auf mir lasten, sind meine Mittel sehr bescheiden.“ Er habe „[a]cht Kinder, 14 Enkelkinder und gegenwärtig 24 Menschen zu unterhalten“, nicht eingerechnet die bisweilen zahlreichen Tagelöhner. Drei unverheiratete Töchter und eine verwitwete Tochter mit ihren Kindern wohnten in seinem Haus sowie sein Schwiegersohn mit Familie und einer Tante und seine eigene Frau. Die anderen Kinder lebten zwar in anderen Häusern, doch im Wallis war es üblich, dass Familienbetriebe vor dem Tod der Eltern nicht geteilt wurden, so dass auch verheiratete Kinder, vor allem Söhne, dort weiterarbeiteten, auch wenn sie einen eigenen Haushalt führten.23 Auf unterschiedliche Art und Weise konnten Generationen über das Elternhaus hinaus und über räumliche Distanzen hinweg existenziell eng miteinander verbunden bleiben – etwa auch, wenn das mütterliche oder väterliche Erbe der Kinder durch lebenslange Fruchtgenussrecht des überlebenden Elternteils blockiert war.
20 Klassisch: Edward Shorter, The Making of the Modern Family. New York 1975; Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800. London 1977. 21 Vgl. Naomi Tadmor, Family and Friends in Eighteenth-Century England. Household, Kinship, and Patronage. Cambridge 2001, 107–117; Leonore Davidoff/Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class 1780–1850. London 2002 [1987], 353–356; David Warren Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge 1998, 398–510; Sabean/Teuscher/Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe (wie Anm. 2). 22 Vgl. Jon Mathieu, ‚Ein Cousin an jeder Zaunlücke‘. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700–1900, in: Lanzinger/Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft (wie Anm. 7), 55–71. 23 Sandro Guzzi-Heeb, Von der Familien- zur Verwandtschaftsgeschichte: Der mikrohistorische Blick. Geschichte von Verwandten im Walliser Dorf Vouvry zwischen 1750 und 1850, in: HSR 30, 2005, 107–129, hier 108 f.
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Wie sich das Zusammenleben von zwei bzw. drei Generationen ‚unter einem Dach‘ gestaltete, war vor allem bezogen auf den ländlichen Raum ein Thema der Forschung. Zwei bereits genannte Formen waren hierfür üblich. Die in Westeuropa weit verbreitete Ausgedingefamilie war gekennzeichnet durch die Besitzübergabe und den Rückzug der älteren Generation auf das Altenteil. Abmachungen oder Verträge garantierten eine Grundversorgung und Wohnraum, wofür in manchen Regionen ein eigenes, meist kleines Haus – ein ‚Austraghaus‘ – vorgesehen war.24 Deutlich seltener begegnet in Westeuropa die in ihren Wirkungen nach Innen und Außen kontrovers diskutierte „Stammfamilie“ im engeren Sinn.25 In dieser in Mittel- und Südfrankreich, in den französischen Pyrenäen, aber auch im alpinen Raum punktuell nachgewiesenen Konstellation blieb die Autoritätsposition bei der älteren Generation.26 Wirtschaftsführung und Entscheidungsmacht lagen in der Hand des Vaters bzw. des Großvaters; der erwachsene, verheiratete Sohn oder Schwiegersohn unterstand dessen hausväterlicher Gewalt. Das Stammfamilienmodell war an die ungeteilte Besitznachfolge gekoppelt; üblich scheint zudem die Verknüpfung mit einem Mitgiftoder Gütertrennungsregime gewesen zu sein.27 Antoinette Fauve-Chamoux hat im Vergleich zweier Zeitschnitte gezeigt, dass dieses Muster der Stammfamilie veränderlich war: In den französischen Pyrenäen erwies sich die Situation des zeitlebens die Macht innehabenden Vaters als typisch für das 18. Jahrhundert, während in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Rückzug in einem bestimmten Alter die nun häufigere Variante darstellte.28 Oft war die aus drei Generationen bestehende Konstellation, bedingt durch den Tod der älteren, auch nur von kurzer Dauer. Dies relativiert die Verbreitung und Bedeutung der Stammfamilie, die von modernisierungskritischen Soziologen
24 Michael Mitterauer, Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, in: ders./Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991, 46–71, hier 56–58. 25 Vgl. Lutz Berkner, The Stem Family and the Developmental Cycle of the Peasant Household. An Eighteenth-Century Austrian Example, in: AHR 77, 1972, 398–418; Michael Mitterauer, Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht, in: ders., Historisch-Anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Wien 1990, 87–130, hier 94–98, zu Mittel- und Südfrankreich 97 f. Der Begriff ‚Stammfamilie‘ wird zum Teil auch auf das Zusammenleben von drei Generationen (verbunden mit ungeteiltem Erbe) bezogen, jedoch ohne die Frage nach der Verteilung der Machtposition zu stellen. 26 Als Überblick dazu vgl. Antoinette Fauve-Chamoux/Emiko Ochiai (Hrsg.), The Stem Family in Eurasian Perspective. Revisiting House Societies, 17th–20th Centuries. Bern 2009. 27 Vgl. Margareth Lanzinger, Paternal Authority and Patrilineal Power. Stem Family Arrangements in Peasant Communities and Eighteenth-Century Tyrolean Marriage Contracts, in: dies. (Hrsg.), The Power of the Fathers. Historical Perspectives from Ancient Rome to the Nineteenth Century. London 2015, 65–89. 28 Antoinette Fauve-Chamoux, Aging in a Never-Empty Nest. The Elasticity of the Stem Family, in: Tamara K. Hareven (Hrsg.), Aging and Generational Relations Over the Life Course. A Historical and Cross-Cultural Perspective. Berlin 1996, 75–99, 83.
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und Historikern, vorrangig von Frédéric Le Play, gefolgt von Wilhelm Heinrich Riehl und Otto Brunner, als dominante Familienform vorindustrieller Zeit deklariert und mit ideologisch gefärbten Vorstellungen familialer und gesellschaftlicher Stabilität verbunden wurde.29 Um Einblick in diese Machtgefüge zu bekommen, reichen die in der Historischen Familienforschung massenhaft ausgewerteten Haushaltslisten und Seelenbeschreibungen nicht aus, da diese die einzelnen Positionen nur formal durchdeklinieren – Haushaltsvorstand, Hausfrau, Kinder usw. –, aber keine Information zum konkreten Besitz- und Rechtsstatus enthalten. Dieser ist durch Verträge erschließbar, die über die vereinbarten Arrangements Auskunft geben und in ihren Vorkehrungen häusliches Konfliktpotenzial erkennen lassen. Wurde eine Tochter als Besitznachfolgerin bestimmt, kann davon ausgegangen werden, dass dies das innereheliche Machtgefüge zwar nicht determiniert, für Frauen aber zumindest theoretisch eine stärkere Position und größere Handlungsräume bedeutet hat. Welche konkreten Arrangements mit Schwiegersöhnen getroffen wurden, das war auch vom Ehegüterrecht abhängig. Gütergemeinschaft schuf aus dem von beiden Seiten Eingebrachten einen gemeinsamen Pool und relativierte ungleiche Vermögensverhältnisse. Witwer wie Witwen hatten in der Regel Anspruch auf die Hälfte des Vermögens der bzw. des Verstorbenen und verfügten zusammen mit der eigenen Hälfte gegenüber den Kindern über den größten Teil des Besitzes. Die Wahrscheinlichkeit einer Wiederverehelichung war damit relativ hoch; in Extremfällen führte dies zu Ketten an aufeinanderfolgenden Eheschließungen in derselben Generation und zu einer wiederholten horizontalen Besitzweitergabe unter Ausschluss der Kinder. Diese wurden mit ihrem Erbteil abgefunden.30 Bei Gütertrennung hingegen, die tendenziell an einem Denken in Abstammungslinien orientiert war, galt als Maxime: „Das Gut rinnt wie das Blut“. Wiederverheiratungsketten, die einen Besitztransfer an die andere Linie implizierten, waren dabei undenkbar. Solange die Besitznachfolge durch Söhne gesichert war, ließ sich dieses Modell reibungslos umsetzen. War eine Tochter Besitznachfolgerin, so wird aus der Vertragspraxis ersichtlich, dass Formen des Ausgleichs gesucht wurden, um eine gewisse Balance herzustellen. In der Tiroler Landesordnung von 1573 beispielsweise, die bis ins ausgehende 18. Jahrhundert Gültigkeit hatte, werden in das Haus der Braut
29 Hans Medick, Zwischen Mythos und Realität – die historische Erforschung der Familie, in: Susanne Mayer/Dietmar Schulte (Hrsg.), Die Zukunft der Familie. München 2007, 37–55, hier 40–42; Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20, 1994, 88–98. 30 Gertrude Langer-Ostrawsky, Vom Verheiraten der Güter. Bäuerliche und kleinbäuerliche Heiratsverträge im Erzherzogtum Österreich unter der Enns, in: Lanzinger u. a. (Hrsg.), Aushandeln von Ehe (wie Anm. 11), 27–76, hier 72 f.; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994, 475–480.
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einheiratende Männer in ihrem inferioren Status markiert als „einfahrende Gesellen“ bezeichnet.31 Die vertragliche Deklarierung zum gleichberechtigten Mitbesitzer konnte in dieser Situation einen Ausgleich schaffen; von Seiten des Mannes eingebrachtes Kapital war dem sehr förderlich. In Bezug auf die nachfolgende Generation wurden jedoch Grenzen gezogen, um die eigene Verwandtschaftslinie zu priorisieren. Dies geschah, indem der zu heiratende Ehemann bzw. Schwiegersohn im Fall der Kinderlosigkeit – trotz Mitbesitz – von allen Erbansprüchen ausgeschlossen wurde, ebenso wie dessen Kinder aus einer etwaigen weiteren Ehe.32 Hinter den beiden skizzierten Ehegütermodellen stehen unterschiedliche Vorstellungen von Kontinuität und deren Koppelung an einen bestimmten Liegenschaftsbesitz.33 Strukturell gesehen, besteht bei den Arrangements zwischen Generationen und Geschlechtern ein entscheidender Aspekt darin, in welchem Konkurrenzverhältnis das Ehepaar bzw. Witwer oder Witwe, Kinder und Verwandte zueinander standen.
4 Brüder und Schwestern Das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit werden in der neueren Verwandtschaftsforschung als Zeitraum eines langen Übergangs von variablen und relativ ausgeglichenen Erbarrangements unter Geschwistern zur Primogenitur – der Besitznachfolge des ältesten Sohns – gesehen. Diese Tendenz bezieht sich in erster Linie auf den Adel, auf bäuerliche Gesellschaften mit ungeteilter und präferenziell männlicher Besitznachfolge sowie auf Gebiete mit einem strikten Dotalsystem, wie dieses etwa in Italien vorgeherrscht hat. Dieser Prozess der Fokussierung auf die die Vater-SohnLinie – begrifflich als Vertikalisierung von Verwandtschaftsbeziehungen gefasst34 – war im Adel damit verbunden, dass die den Töchtern zugesprochene Mitgift an die Stelle des in der Regel im Wert höheren Erbanteils an den Besitzungen trat. Töchter blieben dennoch weiterhin an Grund und Boden erbberechtigt, weshalb sie ab dem 15. Jahrhundert immer häufiger angehalten wurden, einen expliziten Verzicht auf das
31 New reformierte Landsordnung der fürstlichen Grafschaft Tirol. Innsbruck [1573], 3. Buch, fol. 50ve–51re. 32 Margareth Lanzinger, Von der Macht der Linie zur Gegenseitigkeit Heiratskontrakte in den Südtiroler Gerichten Welsberg und Innichen 1750–1850, in: dies. u. a., Aushandeln von Ehe (wie Anm. 11), 205–326, hier 300–304. 33 Vgl dazu die unter dem Begriff der land family bond geführte Forschungsdebatte: Jürgen Schlumbohm, The Land-Family Bond in Peasant Practice and in Middle-Class Ideology. Evidence from the North-West German Parish of Belm, 1650–1860, in: CEH 27, 1994, 461–475. Für eine auf Verwandtschaft ausgedehnte Perspektive bezogen auf Kauf und Verkauf von Grundstücken vgl. Bernard Derouet, Parenté et marché foncier à l’époque moderne. Une réinterprétation, in: Annales HSS 2, 2011, 337–368. 34 Zu diesem Konzept vgl. David Warren Sabean/Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term Development, in: dies./Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe (wie Anm. 2), 1–32.
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väterliche, oft auch brüderliche Erbe zu leisten.35 Nicht immer erklärten sich Töchter dazu bereit, was langwierige Konflikte nach sich ziehen konnte. Im italienischen Dotalsystem bedurfte es keiner expliziten Verzichtserklärung: Die Ausstattung mit einer Mitgift war gleichbedeutend mit dem Ausschluss der Töchter vom väterlichen Erbe. Doch nicht nur die Töchter, sondern auch die jüngeren Brüder waren vom „Triumph der Primogenitur“ betroffen.36 Hatten sie zuvor Grundbesitz geerbt, sollte dies nun vermieden und durch Apanagen und andere Vermögenstransfers kompensiert werden. Geistliche, militärische oder diplomatische Karrieren, hohe Ämter und Funktionen boten alternative Perspektiven. Väter betonten in dieser Zeit des Übergangs in ihren Testamenten die Vorzüge des Zusammenhaltens von Besitz in einer Hand und legitimierten damit die ungleiche Behandlung ihrer Söhne. Zugleich beschworen sie – in dieser konfliktträchtigen Situation – die brüderliche Liebe. Testamentarische Bestimmungen waren jedoch nicht gleichbedeutend mit dem, was nach dem Tod des Vaters der Fall sein würde. Denn alle davon Betroffenen mussten sich damit einverstanden erklären.37 Anfechtungen und Streit unter Brüdern waren nicht selten und trotz vielfältiger Absicherungsmaßnahmen vorprogrammiert. Manche Adelsfamilien nahmen jedoch bis ins 17. Jahrhundert Besitzteilungen vor. Die Primogenitur ist schließlich auch dahingehend zu relativieren, dass sich Macht in adligen Kreisen nicht nur über Besitznachfolge reproduzierte, sondern wesentlich auch über vorteilhafte Heiratsverbindungen. In Adels- und Patrizierfamilien – so etwa in Frankfurt – finden sich Formen von Erbgemeinschaften, die als ‚Ganerbschaft‘ bezeichnet werden. Im ländlichen Raum ist das gemeinsame Erbe mehrerer verheirateter Brüder, die so genannte frérèche, aus Frankreich bekannt, in Form von ‚Mithausereien‘ aus dem Osttiroler Defereggental, wobei es hier einen übergeordneten ‚Vorhauser‘ gab, und als ‚gleichberechtigtes Männererbe‘, das ebenfalls zu solch komplexen Haushalten führte, in Südosteuropa.38
35 Anke Hufschmidt, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status – Rollen – Lebenspraxis. Münster 2001, 275 f, 291; Spieß, Familie (wie Anm. 6), 133, 327–343; Stephanie Marra, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. Jahrhundert. Köln 2007, 97 f. 36 Karl-Heinz Spieß, Lordship, Kinship, and Inheritance among the German High Nobility in the Middle Ages and Early Modern Period, in: Sabean/Teuscher/Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe (wie Anm. 2), 57–75, hier 60; Renata Ago, Giochi di squadra. Uomini e donne nelle famiglie nobili del XVII secolo, in: Maria Antonietta Visceglia (Hrsg.), Signori, patrizi, cavallieri in Italia centro-meridionale nell’Età moderna. Rom 1992, 256–264. 37 Michaela Hohkamp, Sisters, Aunts, and Cousins. Familial Architecture and the Political Field in Early Modern Europe, in: Sabean/Teuscher/Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe (wie Anm. 2), 91–104, hier 93. 38 Michael Mitterauer, Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum, in: Josef Ehmer/ders. (Hrsg.), Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften. Wien 1985, 185–323,hier 211 f.; Mitterauer, Komple-
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Außerhalb des Adels scheint es verbreitet gewesen zu sein, dass ein bereits erhaltenes Heiratsgut von Töchtern auf das noch zu erwartende väterliche Erbe angerechnet wurde. Ob weichende Söhne und Töchter Geld und andere mobile Güter zu gleichen oder ungleichen Teilen erhielten, das konnte lokalen Usancen ebenso folgen wie persönlichen Entscheidungen. Eine Bevorzugung, die übliche, nach Alter und Geschlecht strukturierte Rangfolgen durchbrach, bedurfte der Begründung. Söhne konnten andere Lebenswege einschlagen, sich woanders niederlassen und auf die Besitznachfolge verzichten. Manchmal kam eine jüngere Tochter deshalb zum Zug, weil sie im Haus geblieben war, die Eltern in Krankheit und Alter unterstützt hatte. Historiker und Historikerinnen haben verschiedentlich eingemahnt, nicht nur das Erbe und dessen Verteilung in den Blick zu nehmen, sondern dieses mit ehegüterrechtlichen Arrangements und Heiratsgaben zu verbinden.39 Die gesamte Bandbreite an intergenerationellen Transfers systematisch in den Blick zu nehmen, heißt in Konsequenz, eine Lebenslaufperspektive auf Personen, Besitz und Vermögensteile gegenüber einer Fokussierung auf Tod und Heirat als neuralgische Momente der Re-Distribution zu favorisieren. ‚Investitionen‘ in die Karrieren der Söhne sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie Differenzierungen zwischen Ererbtem und Erworbenem oder die Konvertierbarkeit von Erbansprüchen und verwandtschaftlichen Bindungen in Wohnrechte beispielsweise. Eine Ausbildung zum Handwerker – das sprichwörtliche Lehrgeld – war in westeuropäischen Städten vielfach real zu bezahlen und fungierte als Startkapital. Die Handwerksausbildung konnte als solche in die Ehe und auch in Heiratsverträge anstelle von Liegenschaftsbesitz eingebracht werden. Wo Unteilbarkeit die Maxime war, bezog sich diese auf eine bestimmte Zusammensetzung der Besitzeinheit, wie diese von der Elterngeneration ererbt worden war. Elterlicher oder väterlicher Besitz konnte daneben aber auch noch andere, erworbene und deshalb frei vererbbare Grundstücke umfassen, die weiteren Kindern neben dem Haupterben oder der Haupterbin eine Existenzgrundlage boten. Ledigen Geschwistern stand bei Krankheit oder in dienstlosen Zeiten für einige Wochen vielfach eine ‚heimatliche Zuflucht‘ im einstigen Elternhaus zu. Sozialer Abstieg innerhalb der Geschwisterreihe war nicht automatisch durch den Ausschluss von der Besitznachfolge präfiguriert. Ein hoher Erbteil oder eine Ausbildung, günstige Erwerbs- oder Heiratsmöglichkeiten, Migration und Vernetzung konnten vielfältige Chancen eröffnen, die allerdings auch immer von zeitlich, räumlich und situativ jeweils nutzbaren Opportunitätsstrukturen abhingen. Jürgen Schlumbohm hat der Frage der sozialen Ungleichheit in seiner Studie über das
xe Familienformen (wie Anm. 25), 92–94; Karl Kaser, Macht und Erbe. Männerherrschaft, Besitz und Familie im östlichen Europa (1500–1900). Wien 2000. 39 Susanne Rouette, Erbrecht und Besitzweitergabe: Praktiken in der ländlichen Gesellschaft Deutschlands. Diskurse in Politik und Wissenschaft, in: Reiner Prass u. a. (Hrsg.), Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.–19. Jahrhundert. Göttingen 2003, 145–166, hier 159.
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osnabrückische Kirchspiel Belm, wo ungeteilte Besitznachfolge vorherrschte, einen wichtigen Platz eingeräumt und sein Augenmerk auch auf mögliche Formen des Ausgleichs gelegt. Geschichten des sozialen Aufstiegs waren dort selten, weit häufiger jene des sozialen Abstiegs. Sein Fazit: „Die Großbauern waren nahezu ausschließlich Kinder von Großbauern, und spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammte die überwiegende Mehrheit der Landlosen von landlosen Eltern; lediglich die schmale Schicht der Kleinbauern war offener. […] Seltene Ausnahmen waren enge verwandtschaftliche Bande zwischen einem Bauern und seinem Heuerling […], doch ‚rituelle Verwandtschaft‘ verstärkte die Beziehungen: Häufig wählten eigentumslose Eltern den Besitzer jenes Hofes, auf dem sie lebten und arbeiteten, oder dessen Familienangehörige als Taufpaten ihres Kindes.“40 Bernard Derouet hat für Südfrankreich aufgezeigt, dass Patronage-Beziehungen einen gewissen Ausgleich für die mit Statusverlust konfrontierten jüngeren Geschwister schufen.41 Zu einem frappanten Ergebnis gelangten in den 1960er Jahren die Anthropologen John W. Cole und Eric R. Wolf in ihrer Studie, die auf Feldforschungen zu zwei Dörfern im Südtiroler-Trentiner Grenzraum basierte. Trotz diametral entgegengesetzter, wie sie es nennen, „Erbideologien“ gestaltete sich die Praxis des Transfers und der Organisation von Besitz im romanischen Tret mit vorherrschender Erbteilung und im deutschsprachigen St. Felix mit dominant ungeteilter Besitznachfolge ähnlich. „Ein Erstgeborener in St. Felix erbt nur selten den gesamten, ungeteilten Hof, während in Tret nicht alle Geschwister den gleichen Anteil am elterlichen Hof erhalten. In St. Felix wird der Besitz manchmal geteilt, oder einzelne Grundstücke werden abgetrennt. Oft ist es ein jüngerer Bruder und der Älteste, der den Hof oder einen Großteil davon erbt, und manchmal werden alle Söhne zugunsten einer Tochter übergangen. In Tret ist es eher der Fall, daß einer oder mehrere Erben den Großteil des Besitzes erben, während die meisten anderen Geschwister entweder eine symbolische Abfindung oder überhaupt nichts erhalten.“42 Eine eindeutig ungleiche Ausgangslage zwischen Brüdern und Schwestern schuf das in Italien, in Teilen Frankreichs und Spaniens verbreitete Dotalsystem. Die Mitgift stattete Frauen bei näherem Hinsehen aber zugleich mit einem potenziellen Machtinstrument aus. Denn die Mitgiftsumme war hypothekarisch gesichert, wodurch ehemännlicher Liegenschaftsbesitz nicht verkauft werden konnte. Schließlich musste sie im Fall der Witwenschaft zurückgezahlt werden. War das nicht möglich, erhielten Witwen in begüterten Familien nicht selten stattdessen ein Haus, das als Sicherstellungsobjekt fungiert hatte – was vom Dotalrecht her ganz und gar nicht vorgesehen
40 Schlumbohm, Lebensläufe (wie Anm. 30), 621, 623. 41 Derouet, Political Power (wie Anm. 2), 117–120. 42 John W. Cole/Eric R. Wolf, Die unsichtbare Grenze. Ethnizität und Ökologie in einem Alpental. Wien 1995, 235 [zuerst engl.: The Hidden Frontier. Ecology and Ethnicity in an Alpine Valley. New York 1974].
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war.43 In der Praxis konnte sich ein Instrument gegenüber dem, was dessen normative Intention war, also deutlich wandeln. Doch war damit auch erhebliches Konfliktpotenzial verbunden, angefangen bei der nicht erfolgten oder verzögerten Auszahlung der vereinbarten Summe bis zum Streit um deren Rückerstattung im Todesfall. Neuere Forschungen haben auf die Bedeutung der Mitgift für Handelsfamilien und deren Kapitalgrundlage aufmerksam gemacht. In Venedig etwa schlossen sich Vater und Söhne, manchmal gemeinsam mit Onkeln und Neffen, zu einer so genannten fraterna zusammen, in die dann auch die Mitgift der Schwestern und Schwägerinnen einfloss. Aus dem im Jahr 1507 vom Handelsmann Alberto Grifalcone erstellten und seinem Testament beigelegten Inventar, das sein Kapitalvermögen mit seltener Genauigkeit auflistet, geht hervor, dass die Mitgift der Frau seines Bruders in der Höhe von 3 000 Dukaten Teil des Vermögens der fraterna Grifalconi war – jener Handelsgesellschaft, die er zusammen mit seinen beiden Brüdern bildete.44 Miki Sugiura hat die Fallgeschichte von Maria van Ommeren, der Tochter eines erfolgreichen niederländischen Weinhändlers, rekonstruiert. Sie heiratete im Jahr 1705 mit 32 Jahren relativ spät. Sie hatte keinen Zugriff auf das ihr von der verstorbenen Mutter zugesprochene Erbe, da dieses für den Ausbau des Unternehmens durch ihre Brüder verwendet wurde. Vermutlich erst, als sich das Geschäft soweit stabilisiert hatte und der Vater an seinen Rückzug dachte, eröffnete sich für sie die Aussicht auf eine Heirat. In ihrer Wahl war sie allerdings eingeschränkt, denn sie musste einen Mann finden, der damit einverstanden war, dass ihr Vermögen an das Unternehmen ihrer Brüder gebunden blieb – am besten also einen Weinhändler, der in das Geschäft ihrer Brüder einsteigen würde. Ihr Bräutigam Jacob van Aalst erfüllte diese Voraussetzungen.45 In diesem Bereich von verwandtschaftlicher Vernetzung, Erb- und Mitgiftpraxis sowie unternehmerischer Organisation ist noch großer Forschungsbedarf zu orten.46 Der Code civil von 1804, der nicht nur in Frankreich Geltung hatte, sondern im Gefolge der napoleonischen Eroberungen ebenso in linksrheinischen Territorien Einzug hielt wie in fast ganz Italien und darüber hinaus für zahlreiche Kodifikationen als Vorbild wirkte, brach mit der Ungleichbehandlung von Söhnen und Töchtern als Erben. Allen sollte nun ein gleicher Erbteil zustehen; testamentarische Verfügungen, die dem entgegen liefen, waren verboten bzw. ungültig. Auch wenn Hintertürchen
43 Anna Bellavitis, Die Mitgift in Venedig zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, in: L’Homme. Z.F.G. 22, 2011, 23–37. 44 Ebd., 32. 45 Miki Sugiura, Heiratsmuster der ‚wijnkopers‘ in Amsterdam 1660–1710, in: Mark Häberlein/Christof Jeggle (Hrsg.), Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz 2010, 407–447, hier 424–435. 46 Vgl. dazu Francesca Trivellato, The Familiarity of Stranges. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period. New Haven 2012, Kap. 5; vgl. auch Elisabeth Joris, Kinship and Gender. Property, Enterprise, and Politics, in: Sabean/Teuscher/Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe (wie Anm. 2), 231–257.
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gefunden wurden, um einen Sohn dennoch bevorzugen zu können47, eröffnete diese neue Bestimmung einen Handlungsraum. Benachteiligte Schwestern und Brüder brachten entsprechende Klagen bei Gericht ein.48 Christopher H. Johnson sieht ausgehend von seinen Forschungen im bretonischen Vannes im gleichen Erbe aller Kinder einen wesentlichen Baustein der „Entthronung“ des Vaters.49 Doch scheint es sich dabei um einen langfristigen Veränderungsprozess zu handeln, der bis ins 20. Jahrhundert hineinführt. Insgesamt wird für die Zeit um 1800 eine Intensivierung von Geschwisterbeziehungen festgestellt, die sich in der nächsten Generation unter deren Kindern, also den Cousins und Cousinen, fortsetzte. Die damit einhergehende Horizontalisierung von Verwandtschaftsbeziehungen im Sinne einer Stärkung der Bindungen auf derselben generationellen Ebene weist nicht nur emotionale, sondern auch materielle Komponenten auf. Dies gilt insbesondere für das wirtschaftsbürgerliche Milieu, das sich in dieser Zeit nicht unwesentlich über Verwandtschaftsnetze und Verwandtenheiraten etablierte und konsolidierte.50 Dies hatte eine gewisse soziale Abschließung zur Folge, die zugleich die Zirkulation von Gütern steuerte. Konsequenterweise schaffte der Code civil auch die Fideikommisse ab, die den ältesten Sohn bzw. Bruder privilegierten. Seit dem 16. Jahrhundert scheinen diese, vermutlich am spanischen Vorbild orientiert, im deutschsprachigen Raum auf und bestanden bis ins 20. Jahrhundert fort. Sie können als eine Strategie beschrieben werden, mittels der sich ein Verwandtschaftsverband um ein in seiner Gesamtheit über Generationen unverändert transferiertes und quasi ‚eingefrorenes‘ Vermögen organisiert hat. Üblicherweise war ein Fideikommiss mit männlicher Primogenitur verbunden. Dieses auf den Erhalt von Besitz abzielende Instrumentarium nutzten vornehmlich adlige Familien, doch gab es auch bürgerliche Fideikommisse wohlhabender Stadtbürger, vor allem von Handelsleuten – wie etwa den Fuggern und den Baumgartner in Augsburg.51 Deren Verbreitung gerade im 17. Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg ist unter anderem in Zusammenhang damit zu sehen, dass ein
47 Vgl. Beatrice Zucca-Micheletto, L’introduzione del codice civile napoleonico a Torino. Il regime patrimoniale dei coniugi tra norma e pratica, in: Gesch. und Region/Storia e regione 20, 2011, 92–105. 48 Für Klagefälle vgl. Werner Schubert, Die Rechtsprechung des Trierer Cour d’appel in Familien- und Erbrechtssachen nach den Urteilssammlungen von Johann Bierbaum, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt/Alessandro Somma (Hrsg.), Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs. Frankfurt am Main 2006, 129–171, hier 148–164. 49 Christopher H. Johnson, Das ‚Geschwister Archipel‘. Bruder-Schwester-Liebe und Klassenformation im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: L’Homme. Z.F.G. 13, 1, 2002, 50–67, hier 51; ders., Siblinghood and the Emotional Dimensions of the New Kinship System, 1800–1850. A French Example, in: ders./David Warren Sabean (Hrsg.), Sibling Relations & the Transformation of European Kinship 1300–1900. New York 2011, 189–220. 50 Vgl. Joris, Kinship and Gender (wie Anm. 46); Christopher H. Johnson/David Warren Sabean, Introduction. From Siblingship to Siblinghood: Kinship in the Shaping of European Society (1300–1900), in: dies. (Hrsg.), Sibling Relations (wie Anm. 49), 1–28. 51 Rudolf Hübner, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 5. Aufl. Leipzig 1930, 338.
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Vermögen aus Fideikommiss – wichtig im Kontext der Konfessionalisierung – vor Enteignung schützen konnte.52 Nicht zuletzt fungierten Fideikommisse als Mittel der langfristigen Machtsicherung, etwa wenn sich mit einem Fideikommiss ein Sitz im Parlament verband: Im preußischen Herrenhaus beispielsweise saßen im Jahr 1912 insgesamt 121 Fideikommissinhaber als Abgeordnete.53
5 Ausblick Festzuhalten ist abschließend, dass in zahlreichen europäischen Ländern bis ins 20. Jahrhundert hinein im Intestatfall, das heißt wenn kein Testament vorlag, der Anspruch von Verwandten auf ein Erbe bis in ferne Grade vor jenem des überlebenden Ehepartners rangierte.54 Mitzudenken ist immer auch die Reichweite der Testierfreiheit, die Frage also, über welche Besitz- und Vermögensteile Erblasser überhaupt testamentarisch frei bestimmen konnten und was hingegen über rechtliche Regelungen – im Sinne von Pflichtteilen, Einschränkung von Schenkungen etc. – vorgegeben war.55 Von Vererbungsmodellen auf gesellschaftliche Strukturierungen zu schließen, hat seine Grenzen, allein schon aufgrund des Reichtums an Varianten in der (Vertrags-)Praxis und der vielfältigen Palette an Lebenswegen. Versuche hat es dennoch gegeben, wie jenen höchst umstrittenen, gleichermaßen schematisch-statischen wie generalisierenden von Emmanuel Todd56, der in letzter Konsequenz einen mehr oder weniger direkten Zusammenhang zwischen ungeteilter Besitznachfolge und der Neigung zum Faschismus hergestellt hat. Der Weg dahin führte ihn über die Verknüpfung von Erbmodellen und Residenzmustern, woraus er vier Typen von Familienstrukturen für West-, Ost- und Südeuropa ableitete und diese durch spezifische Werthaltungen, die die Beziehung zwischen Eheleuten sowie zwischen Eltern und Kindern
52 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. Göttingen 1979, 142. 53 Klaus Heß, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich. Landwirtschaftlicher Großbetrieb, Großgrundbesitz und Familienfideikommiß in Preußen (1867/71–1914). Stuttgart 1990, 186, dort Anm. 515. Die Gesamtzahl der Mitglieder veränderte sich immer wieder. Im Jahr 1915 waren es 350. Vgl. Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854–1918. Düsseldorf 1998, 399. 54 Vgl. Ernst Holthöfer, Die Sozialisierung des Verwandtenerbrechts. Vergleichende Gesetzgebungsgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, in: Lanzinger/Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft (wie Anm. 7), 171–197. 55 Karin Gottschalk, Erbe und Recht. Die Übertragung von Eigentum in der Frühen Neuzeit, in: Stephan Willer/Sigrid Weigel/Bernhard Jussen (Hrsg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Frankfurt am Main 2013, 85–125, hier 99–113. 56 Emmanuel Todd, La troisième planète. Structures familiales et systèmes idéologiques. Paris 1983.
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Margareth Lanzinger
geprägt haben sollen, charakterisierte. Allein die hier in gebotener Kürze skizzierten Aspekte und Differenzierungen von Vererbung sollen nicht zuletzt solchen deterministischen Sichtweisen entgegenwirken und zugleich verdeutlichen, dass der Blick auf Vererbung einer breiten gesellschaftlichen und politischen Kontextualisierung bedarf. Dionigi Albera hat das Haus als sozialen Raum, in dem unterschiedlichste Fäden zusammenlaufen, zuletzt ins Zentrum gerückt und den zu Enträumlichung tendierenden verwandtschaftlichen und anderen Netzwerken die häusliche Organisation als Zugriff entgegensetzt.57
57 Dionigi Albera, Au fil des générations. Terre, pouvoir et parenté dans l’Europe alpine (XIVe–XXe siècles). Grenoble 2011, Kap. 1.
Birgit E. Klein
Reale und ideelle Häuser im Judentum Seit der Antike existiert im Judentum ein ebenso umfassender wie polysemantischer Begriff für das ‚Haus‘. Das ‚Haus‘ (hebr. bajit) steht weniger für das Gebäude als vielmehr für den ‚Haushalt‘ im erweiterten Sinne. Daneben kann bajit biblisch auch das ‚Vaterhaus‘ (bet aw) als kleinste Einheit einer ‚Sippe‘ oder eines ‚Geschlechts‘ (mischpacha, heute ‚Familie‘, daher die sprichwörtliche jiddische mischpoche) meinen (Num 3,24), die wiederum die Grundlage eines jeden ‚Stammes‘ bildet, aus denen sich das ‚Haus Israel‘ (bet jissrael, Ezech 3,7) konstitutiert.1 Neben dem Gebäude bezeichnet das ‚Haus‘ bereits in biblischer Zeit auch den Haushalt, so die tüchtige und tatkräftige Ehefrau, die „ihrem Haus Nahrung gibt“ (Sprüche 31,15), ein Loblied, das noch heute traditionell an jedem Freitagabend zu Beginn des Schabbat vom Ehemann vorgetragen wird. In der rabbinischen Literatur der Antike erfuhr der Begriff des ‚Hauses‘ (bajit) eine maßgebliche Bedeutungserweiterung. Als nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. d. Z. an die Stelle der Priester die rabbinischen Gelehrten als neue religiöse Elite traten, zeichneten sie sich nicht durch genealogische Abstammung aus wie die Priester, sondern vielmehr durch ihre Gelehrsamkeit in der von ihnen tradierten und studierten ‚Mündlichen Tora‘. Diese besaß, da sie gleich der ‚Schriftlichen Tora‘ (im engeren Sinne der Pentateuch) am Sinai geoffenbart, dann aber bis zu ihrer ersten Kompilation in der ‚Mischna‘ um 220 n. d. Z. tradiert worden war, für sie gleiche Autorität. Nach Auffassung der rabbinischen Gelehrten, die bis heute das Judentum maßgeblich bestimmt, war und ist die ‚Schriftliche Tora‘ weitgehend nur durch ihre ständige Diskussion und Adaption in der ‚Mündlichen Tora‘, festgehalten in der ‚Mischna‘ und den weiteren Werken der rabbinischen Literatur, versteh- und praktizierbar. Bei dieser programmatischen Neukonzeption übernahm der Begriff des Hauses eine wesentliche Brückenfunktion:2 Zum einen stand ‚das Haus‘ (habajit) in der antiken rabbinischen Literatur für ‚das Haus‘ schlechthin, den Jerusalemer Tempel, und dies retrospektiv, da er zur Zeit der ersten Kompilation nicht mehr existierte. So war der „Hausberg“ der Tempelberg und der „Mann des Hausberges“ der Priester, der die Aufsicht über den gesamten Tempel hatte (Mischna Middot 1,2). Zum anderen erschien das ‚Haus‘ (bajit bzw. bet für ‚Haus von‘ bzw. ‚des/der‘) in Wendungen für die neuen Institutionen des rabbinischen Judentums, die an die Stelle des
1 Anson Rainey, Family in the Bible, in: Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica. 2. Aufl. Bd. 6. Detroit 2007, 690–693. 2 Vgl. Marjorie Lehman, Reimaging Home, Rethinking Sukkah. Rabbinic Discourse and its Contemporary Implications, in: Simon J. Bronner (Hrsg.), Jews at Home. The Domestication of Identity. Oxford 2010, 107–139, hier 110 f.
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Birgit E. Klein
Tempels traten: ‚Haus der Versammlung‘ (bet knesset) für die Synagoge und ‚Haus der Auslegung‘ (bet midrasch) für das rabbinische Lehrhaus, ‚Haus des Buches‘ (bet sefer) für die Schule und ‚Haus des Rechts‘ (bet din) für das rabbinische Gericht. Das ‚Haus Hillels‘ (Bet Hillel) und das ‚Haus Schammajs‘ (Bet Schammaj) stehen für zwei maßgebliche Schulen im Sinne von zwei Lehrtraditionen, benannt nach den antiken führenden Gelehrten Hillel und Schammaj und ihren Schülern. Neben diesen Wendungen, die das rabbinische Torastudium bezeichnen, tritt das häusliche Domizil (bajit) als wesentlicher Ort der rabbinischen Ritualpraxis, die viele Rituale im Tempel ersetzt, in Erscheinung. Mit der Ausdifferenzierung der biblischen Speisevorschriften zum rabbinischen System der kaschrut werden häuslicher Herd und Essplatz zum neuen Altar. Im Haus wird gewissermaßen das einzige noch praktizierte Opfer dargebracht, indem vom Teig der beiden Brote für den Schabbat ein Teil abgesondert und verbrannt wird (challa). An die Stelle des Tempelleuchters, der menora, treten im Haus die mit religiöser Funktion entzündeten Lichter, die nicht nur Licht spenden, sondern überdies den Schabbat einweihen. Anstelle der rituellen Reinheitspraktiken der Tempelpriester praktiziert von nun an jede Ehefrau die Vorschriften zur Wiederherstellung ihrer rituellen Reinheit nach ihrer Menstruation, und nicht von ungefähr werden in diesem Kontext ihre Genitalien als ‚Haus‘ (bajit) bezeichnet.3 Indem so die Frau maßgeblich die Ritualpraxis im Haus bestimmt, bezeichnet das ‚Haus‘ als bajit aber nicht nur einen Raum, sondern auch den gesamten Komplex von miteinander verbundenen Vorgängen und Beziehungen;4 „meine Frau“ und „mein Haus“ werden schließlich zu Synonymen (Babylonischer Talmud, Schabbat 118b).5 Entsprechend hoch ist der Wert, der dem ‚häuslichen Frieden‘ (schlom bajit) seit der Antike beigemessen wird.6 Einerseits wurde der Grundsatz, wer in seinem Haus Frieden stifte, gleiche dem, der Frieden in ganz Israel stifte, auf den Mann bezogen, da ein jeder Mann einem König gleich in seinem Haus herrsche.7 Andererseits symbolisierte das „Licht seines Hauses“ in Form der Schabbatlichter den „Frieden seines Hauses“ (Babylonischer Talmud, Schabbat 23b), für deren Entzünden wiederum seit der Antike die Frau zuständig war, so dass beide Geschlechter ihren Beitrag zum ‚häuslichen Frieden‘ leisteten. Schabbatlichter und andere Ritualgegenstände wie die Mesusa (Kapsel, die Pergament mit dem „Höre Israel“ aus Deut 6,4–9 und 11,13–21 enthält) am Pfosten der Eingangstür und zu einem jeden Raum markieren seit der
3 Charlotte E. Fonrobert, Menstrual Purity. Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender. Stanford 2000, 48–60. 4 Ausführlich dazu Cynthia M. Baker, Rebuilding the House of Israel. Architectures of Gender in Jewish Antiquity. Stanford 2002, 48–59. 5 Barbara E. Mann, Space and Place in Jewish Studies. New Brunswick, NJ 2012, 86 f. 6 Emanuel Rackman, Domestic Peace, in: Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica (wie Anm. 1), Bd. 3, 739. 7 Solomon Schechter (Hrsg.), Aboth de Rabbi Nathan. Edited from Manuscripts with an Introduction, Notes and Appendices. New York 1945, Version A, Kap. 28, fol. 43a.
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Antike die religiöse Bedeutung des Hauses als jüdisches Heim. Neben dem ‚realen‘ materiellen ‚Haus‘ verkörperte also immer auch das ‚ideelle Haus‘ einen Ort für die Praxis grundlegender religiöser Gebote im Alltag. Auch in Mittelalter und Früher Neuzeit behielt das jüdische ‚Haus‘ seine facettenreiche und vielschichtige Bedeutung, die indes bislang nicht umfassend erforscht ist. Der folgende Artikel skizziert daher die Bedeutung der jüdischen ‚Häuser‘ in der Frühen Neuzeit im aschkenasischen8 Judentum und richtet dann sein Augenmerk darauf, welche Rolle Frauen als Mütter, Ehefrauen, Töchter und Schwestern nicht nur in ihrer religiösen Funktion für das ‚ideelle Haus‘, sondern auch für das ‚reale Haus‘ in wirtschaftlicher Hinsicht spielten. Zunächst wird ein Überblick über die Grundlagen des jüdischen Ehegüter- und Erbrechts gegeben. Danach wird die Frage des realen Hausbesitzes in der Frühen Neuzeit erörtert, der Juden oft verwehrt war, um in einem letzten Schritt an zwei Fallbeispielen das Wechselspiel von ‚realen‘ und ‚ideellen Häusern‘ und den Besitztransfer in ‚Häusern‘ in seiner Komplexität aufzuzeigen.
1 Frauen als Vermögenstradentinnen im jüdischen Ehegüter- und Erbrecht In der weitgehend agrarischen Gesellschaft der jüdischen Antike standen die praktischen Fähigkeiten einer Frau für den Erhalt eines ‚Hauses‘ im Vordergrund. Bei der Eheschließung der Tochter stellten sie gleichermaßen ihre Mitgift wie auch das eigentliche Eingebrachte in die Ehe dar. Entsprechend nachrangig war hingegen die Bedeutung der Tochter als Vermögenstradentin für die Übertragung von Immobilien und Kapital. Auch beim Tod des Ehemanns oder Vaters waren jüdische Frauen in der Antike vom familiären Vermögenstransfer ausgeschlossen, denn Witwe und Tochter waren nach der Norm antiken jüdischen Rechts, überliefert in den antiken jüdischen Rechtssammlungen, nicht erbberechtigt.9 Seit dem Mittelalter veränderte sich die Situation im aschkenasischen Judentum grundlegend:10 Die Ehefrau wurde als ‚Hausfrau‘ die Herrscherin im Haushalt und
8 Aschkenas bzw. aschkenasisch bezeichnet im Mittelalter einen geographischen Raum, der sich annähernd mit dem heutigen Deutschland deckt. 9 Vgl. Birgit E. Klein, Erbinnen in Norm und Praxis. Fiktion und Realität im Erbstreit der Familien Liebmann – von Geldern, in: Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Berlin 2007, 175–205. 10 Vgl. Birgit E. Klein, ‚Angleichung der Geschlechter‘ – Entwicklungen im jüdischen Ehegüter- und Erbrecht des Mittelalters, in: Andreas Holzem/Ines Weber (Hrsg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt. Paderborn 2008, 225–242.
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Birgit E. Klein
damit der „Inbegriff des Hauses“.11 Überdies trug sie oft als Geschäftsfrau durch ihre ‚Nahrung‘ zum notwendigen Unterhalt einer Hausgemeinschaft bei. Auf diese Weise bestimmte sie über die Geschicke des ‚Hauses‘ mit, nicht nur über seinen religiösen Charakter, sondern als Geschäftsfrau auch über seinen wirtschaftlichen Erfolg.12 Denn der wirtschaftliche Aspekt des Hauses (oikos) als Wirtschaftseinheit und seine ‚Hauswirtschaft‘ (oikonomia) spielten für jüdische ‚Häuser‘ seit dem Mittelalter eine besondere Rolle: Die Erwerbstätigkeit der jüdischen Bevölkerung war seitens der Obrigkeit zumeist auf den Geldhandel beschränkt; von ihrem finanziellen Potential wurde vielfach die Vergabe der Schutzprivilegien zur immer häufiger zeitlich befristeten Niederlassung abhängig gemacht.13 Aufgrund der obrigkeitlichen Restriktionen blieb vielen Juden oft nur ein ‚ideelles Haus‘. Daher standen Erhalt und Erhöhung des Geschäftsvermögens als existentiell notwendige Ressource im Zentrum des jüdischen ‚Hauswohls‘, dessen traditionelle Bezeichnung ‚häuslicher Frieden‘ (schlom bajit) zunehmend die Aspekte einer ökonomischen ‚Hausräson‘ einschloss. Umgekehrt waren bei einer Bedrohung des ‚Hausfriedens‘ auch der reale Hausbesitz sowie die Existenz der Hausgemeinschaft gefährdet. Dieser ‚Hausräson‘ folgte in der Vormoderne die verwandtschaftliche Vernetzung der ‚Häuser‘ innerhalb der wirtschaftlichen Elite durch Konnubien. Die anlässlich der Eheschließung ausgestellten Verträge zum Kapitaltransfer in Form von Mitgift und Erbe dokumentieren Stellung und Funktion der Mitglieder eines ‚Hauses‘ in seiner Ökonomie und ihren Zugriff auf das Geschäftsvermögen. Da sich die antike jüdische Rechtsnorm hinsichtlich des Ehegüter- und Erbrechts nicht ändern ließ, war es umso wichtiger, dass an ihre Seite ein Vertragsrecht von gewohnheitsrechtlichem Charakter trat, das einen völlig neuen und der Antike diametral entgegen gesetzten Rechtzustand schuf: den der erbenden Witwe und der erbenden Tochter. Dies geschah vor allem mithilfe von drei Verträgen, die ab dem Spätmittelalter bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts verbindlich bei jeder jüdi-
11 Von R. Jakob Mulin (Main, Anfang 15. Jahrhundert) ist überliefert, dass er seine Frau auf Deutsch „mein Haus Frau“ nannte, auf der Basis der Erklärung des berühmten Bibel- und Talmudkommentators R. Salomon b. Isaak (als Akronym RaSchI, gest. 1105) zum Babylonischen Talmud (Schabbat 118b): Ein Mann nenne seine Frau sein Haus, da sie der „Inbegriff des Hauses“ sei (hebr. ikkaro schel bajit, zuweilen auch als akkeret habajit bezeichnet, so von R. Jesaja Horowitz, Polen, Frankfurt am Main, Anfang 17. Jahrhundert). 12 Vgl. Martha Keil, ‚Maistrin‘ und Geschäftsfrau. Jüdische Oberschichtsfrauen im spätmittelalterlichen Österreich, in: Sabine Hödl/dies. (Hrsg.), Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart. Berlin 1999, 27–50; dies., Mobilität und Sittsamkeit. Jüdische Frauen im Wirtschaftsleben des spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Michael Toch (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen. München 2008, 153–180; Natalie Zemon Davis, Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian. Berlin 1995, 11–79. 13 Vgl. Dietmar Willoweit, Die Rechtsstellung der Juden, in: Arye Maimon (Hrsg.), Germania Judaica, Band 3: 1350–1519, 3. Teilbd.: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices. Tübingen 2003, 2165– 2207, hier 2182 zum Bürgerrecht.
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schen Eheschließung ausgestellt werden mussten: erstens die Heiratsverschreibung (ketubba), zweitens die ‚Bedingungen‘ (tna’im), d. h. der detailliert formulierte Heiratsvertrag, und drittens das ‚Dokument über einen (halben) männlichen (Erb)teil‘ (schtar [chazi] chelek sachar). Ausgangspunkt des Vertragsrechts ist die ‚Verschreibung‘ (ketubba von hebr. kataw: schreiben) als der ehegüterrechtliche Vertrag par excellence; sie wird erstmals in der Mischna für jede jüdische Ehe angeordnet. Diese Heiratsverschreibung hatte der Ehemann (bzw. seine Erben) der Frau als Abfindung bei Auflösung der Ehe durch (die prinzipiell mögliche) Scheidung oder Tod zu zahlen, denn die Witwe war grundsätzlich nicht erbberechtigt. Als einzige Zuwendung der Mannesseite betrug diese Heiratsverschreibung mindestens 200 Sus oder Denar – in der Antike war dies beispielsweise der Wert eines Ochsengespanns zum Pflügen (Mischna Bawa batra 5,1) – für eine Frau, die bei der Eheschließung noch Jungfrau, d. h. bislang unverheiratet war bzw. 100 Denar für eine Frau, die als Witwe oder Geschiedene erneut heiratete und daher aus einer früheren Ehe mindestens 200 Denar erhalten hatte (Mischna Ketubbot 1,2). Diese Mindestsumme der ketubba sollte den Lebensunterhalt der Frau in der ersten Zeit (mindestens für ein Jahr) nach Auflösung der Ehe durch Tod oder Scheidung sichern und zudem eine voreilige Scheidung seitens des Mannes verhindern; sie konnte beliebig erhöht werden. Eine Reduktion indes war untersagt, selbst mit Einwilligung der Frau etwa in Form einer fiktiven Quittung. In der agrarischen Gesellschaft der Antike waren Frauen zumindest in der Rechtsnorm vom Grundbesitztransfer weitgehend ausgeschlossen, da Liegenschaften vornehmlich in männlicher Linie weitergegeben wurden, sofern Söhne existierten.14 Als aber im Mittelalter in Mitteleuropa Juden vor allem auf den Beruf des Geldhändlers beschränkt wurden und ihnen der Erwerb von Immobilien zunehmend untersagt wurde, erforderten diese veränderten sozio-ökonomischen Bedingungen neue, flexible Regelungen. So konnte nun nicht mehr grundsätzlich auf die Funktion von Frauen beim Vermögenstransfer verzichtet werden; ihre normative Ungleichheit sollte durch Verträge partiell ausgeglichen werden, und dies betraf vor allem die Benachteiligung der Frauen im Erbrecht. Da die biblischen Normen nicht geändert werden konnten, mussten sie umgangen werden, und dies geschah auf sehr trickreiche Weise: Seit dem 12. Jahrhundert ist für das aschkenasische Judentum bezeugt, dass in der ketubba neben der antiken Mindestsumme von 200 Denar noch zwei weitere Standardsummen grundsätzlich zu verzeichnen waren, eine Rechtsgewohnheit, die von nun ab bis in die Neuzeit geübt wurde. Diese beiden neuen, in ihrer Höhe festgesetzten Standardsummen betrugen 50 Mark ‚Pfund‘ Silber für das von der Frau Eingebrachte, d. h. ihre ‚Mitgift‘, und 50 Mark ‚Pfund‘ Silber für das vom Mann im Gegenzug Geleistete, die sog. Widerlegung, insgesamt also 100 ‚Pfund‘ Silber – eine ungeheure Summe, für die man im 12. Jahr-
14 Ausführlich dazu Klein, Erbinnen (wie Anm. 9), 176–178.
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hundert eine Burg mit Umland erwerben konnte.15 Für diese hohe Summe – gewissermaßen eine Schuldverschreibung – belastete der Mann bei der Eheschließung sein gesamtes Hab und Gut zugunsten der Frau für den Fall der Auflösung der Ehe. Folglich diente die ketubba nicht mehr wie in der Antike dazu, die Minimalversorgung der Witwe oder Geschiedenen nach Auflösung der Ehe zu garantieren, sondern gab der Witwe vielmehr einen Anspruch auf den gesamten Nachlass oder zumindest einen großen Teil des Nachlasses und schuf so einen neuen Rechtsstandard: den der erbenden Witwe. Durch die Einführung der Standardsummen konnte indes in der ketubba nicht mehr festgehalten werden, was eine Frau als Vermögen tatsächlich in die Ehe eingebracht hatte. Hierzu war nun ein eigener Vertrag notwendig, die sog. tna’im, wörtlich ‚Bedingungen‘, die als neue Form des Vertrags seit dem Spätmittelalter in den hebräischen Quellen aufscheinen. Diese tna’im wurden zusätzlich zur ketubba geschlossen und hielten als eigentlicher Heiratsvertrag neben anderen Bedingungen nicht nur die Höhe der tatsächlich geleisteten, zuweilen hohen Mitgift der Frauenseite fest, sondern auch die der Mannesseite, eine weitere Neuerung, die sich erstmals Mitte des 13. Jahrhunderts beobachten lässt und im 15. Jahrhundert üblich wurde. In vielen Fällen brachten beide Seiten eine gleich hohe Mitgift ein. Der Grund für die beiderseitige Mitgift lag wiederum vor allem im Geldhandel: Ein Paar konnte nur Erfolg versprechend in den Geldhandel einsteigen, wenn es ein angemessenes Startkapital zur Verfügung hatte. Daher erhielten in vielen Fällen Männer wie Frauen die gleiche finanzielle Grundausstattung und fungierten damit beide als Vermögenstradenten. Da überdies Frauen als Witwen oft Haushaltsvorstände waren, konnte der Wohnort bei der Heirat sowohl patrilokal bzw. virikolal als auch matrilokal bzw. uxorilokal sein, so dass die Tochter bei einer Heirat nicht grundsätzlich ihre vertraute Umgebung verlassen musste. Dies konnte ihre Position innerhalb der Ehegemeinschaft stärken.16 Darüber hinaus waren bei vielen Ehepaaren die Rollen nicht in die des Mannes als des Ernährers und die der Frau als der zu Ernährenden geteilt; vielmehr bestand oft eine Partnerschaft mit gleichen Rechten und Pflichten für beide Seiten. So erstaunt es nicht, dass seit dem Spätmittelalter in den tna’im nicht nur festgehalten wurde, „dass beide [Ehepartner, B. K.] gleichermaßen über das gemeinsame Vermögen verfügen und keiner dem anderen etwas ohne dessen Wissen und Erlaubnis entziehen dürfe“, sondern dass Frauen nachweislich bei Verstößen gegen diese Klausel auch
15 Vgl. Birgit E. Klein, ‚Der Mann: ein Fehlkauf‘ – Entwicklungen im Ehegüterrecht und die Folgen für das Geschlechterverhältnis im spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Christiane E. Müller/Andrea Schatz (Hrsg.), Der Differenz auf der Spur. Frauen und Gender in Aschkenas. Berlin 2004, 69–99. 16 Ebd., 73–76. Für weitere Beispiele dies., Jüdisches Ehegüter- und Erbrecht in der Vormoderne. Der Funktionswandel der ketubba und seine Folgen, in: L’Homme. Z. F. G. 22, 1, 2011, 39–54, hier 48.
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vor Rabbinern klagten.17 Seit dem 16. Jahrhundert sind tna’im in wachsender Zahl überliefert, so allein mehr als 5 000 aus dem Elsass.18 Sie führen nicht nur die bar eingebrachten Mitgiftsummen der Frauen- und Mannesseite auf, sondern zuweilen eine Vielzahl weiterer Klauseln, so zum Erwerb eines Schutzprivilegs für das Brautpaar durch einen Elternteil, zur Versorgung von Kindern aus einer Vorehe der Frau und zur Übertragung von Hausanteilen, meist auf einen Sohn, zuweilen aber auch auf eine Tochter.19 Welche Bedeutung dies für das Machtverhältnis in der Ehe hatte, ist bislang nicht erforscht. Der Umstand, dass der Geldhandel zur maßgeblichen Erwerbsquelle geworden war, führte nicht nur zu erheblichen rechtlichen Veränderungen hinsichtlich der Heiratsgaben, sondern bedingte auch eine weitere Neuerung: das faktische Erbe der Töchter. Indem die Söhne nun gleichfalls bei ihrer Heirat mit einer Heiratsgabe ausgestattet werden mussten, konnte die Heiratsgabe an die Töchter nicht länger als Begründung dafür dienen, Töchter vom Erbe auszuschließen. Seit dem 15. Jahrhundert dokumentiert im aschkenasischen Judentum ein neuer Vertrag den Erbanspruch der Frauen. Seine geläufigste Bezeichnung lautet ‚Dokument über einen (halben) männlichen (Erb)teil‘ (schtar [chazi] chelek sachar), im Folgenden kurz ‚Erbteil-Dokument‘ (schtar) genannt. Gemeint ist ein Schuldschein, den die sog. ‚Tochter‘ bei der Heirat von ihrem Vater oder den Eltern erhielt. Wie bei der ketubba als Schuldverschreibung mit fiktiver Summe seitens des Ehemanns war auch in diesem Fall das rechtliche Konstrukt eines Schuldscheins mit fiktiver Summe seitens des Vaters zwingend erforderlich, um eine explizite ‚Vererbung‘ auf die Tochter zu umgehen, da sie nach der Tora nicht erbberechtigt war und nach antiker Rechtsnorm auch nicht durch den Erblasser als Erbin eingesetzt werden konnte. Dies folgte dem antiken und weiterhin gültigen Rechtsgrundsatz: Wer an jemanden expressis verbis vererbt, der nicht zur Erbfolge berechtigt ist, dessen Worte haben keine Gültigkeit.20 Daher erklärte nun im ‚Erbteil-Dokument‘ (zumeist) der Vater, seiner Tochter stehe eine bestimmte Summe an seinem Besitz zu; diese Summe solle ihr aber frühestens eine Stunde vor seinem Tod ausgezahlt werden. Seinen Erben stehe es aber frei, alternativ anstelle dieser Summe der Tochter den (halben) männlichen Erbteil einzuräumen. Da im Allgemeinen die in fiktiver Höhe angegebene Schuldsumme den zu erwartenden Erbteil der Tochter bei Weitem überstieg, sollten die Erben auf diese Weise gewissermaßen gezwungen werden, ihr den in der Regel geringer ausfallenden Erbteil tatsächlich zu gewähren. Wie ein Erbe sollte diese Schuldverschreibung in
17 Ebd. 75. 18 Aufgelistet mit sehr knappen Angaben zum Inhalt bei André Aaron Fraenckel, Mémoire juive en Alsace. Contrats de Mariage au XVIIIème siècle. Strasbourg 1997. 19 Ebd. u. a. 14, 87 ff., 91 f. (Übertragung auf einen Sohn), 94, 102, 104–106 (Übertragung auf eine Tochter). 20 Ausführlich dazu Klein, Erbinnen (wie Anm. 9), 178–182.
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fiktiver Höhe der Tochter auch Anteil an jenem Besitz ihres Vaters zusichern, der zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung noch nicht existierte.21 Von der Teilhabe am Nachlass waren Immobilien und Bücher explizit ausgenommen; Immobilien konnten somit nur bei der Eheschließung in den tna’im oder in einer Schenkung zu Lebzeiten auf eine Tochter oder Schwiegertochter übertragen werden. Das ‚Erbteil-Dokument‘ setzte die Bereitschaft der Tochter und ihres Ehemanns voraus, den fiktionalen Charakter der hohen Schuldsumme anzuerkennen und diese nicht einzuklagen, da ihre Auszahlung in voller Höhe niemals beabsichtigt war. Das ‚Erbteil-Dokument‘ konnte nur solange erfolgreich seine Funktion zum Wohl eines ‚Hauses‘ erfüllen, als es den Anspruch auf Beteiligung am Erbe dokumentierte, nicht aber zur faktischen Auszahlung der Schuldsumme diente. Wenn aber Tochter und Schwiegersohn das ‚Erbteil-Dokument‘ als einen Schuldschein mit einer realen Summe vor einem nichtjüdischen Gericht einklagten, das um die komplexe Konstruktion und die impliziten Bedingungen nicht wusste, stand das Schicksal des ‚realen‘ wie ‚ideellen Hauses‘ auf dem Spiel, wie später an einem Fallbeispiel zu sehen sein wird.
2 Realer jüdischer Haus- und Grundbesitz Bis ins Spätmittelalter hinein spielte der Hausbesitz eine wichtige Rolle bei der Vermögensbildung und im Vermögenstransfer in jüdischen Familien. Ein eindrückliches Beispiel hiervon gibt das Kölner ‚Judenschreinsbuch‘, indem es detailliert die Übertragungen von Hausanteilen innerhalb jüdischer Familien oder ihren Verkauf an andere Jüdinnen und Juden von den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts bis 1347 registriert.22 Seit dem Spätmittelalter mehren sich aber die Nachrichten, dass es Juden verboten war, Grund zu erwerben, und das Mietverhältnis für Juden anscheinend selbst in Städten die Regel war, in denen über Verbote, Immobilien zu erwerben, nichts bekannt ist.23 Bislang ist nicht erforscht, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Vermögensverhältnisse hatte. Auch ist unklar, inwieweit die Verhältnisse in der Frühen Neuzeit ähnlich waren, da noch keine Untersuchung für das Alte Reich über
21 Israel Jacob Yuval, Scholars in their Time. The Religious Leadership of German Jewry in the Late Middle Ages (hebr.). Jerusalem 1988, 29; ders., Die finanziellen Heiratsregelungen in Aschkenas im Mittelalter (hebr.), in: Menahem Ben-Sasson (Hrsg.), Religion and Economic Connections and Interactions (hebr.). Jerusalem 1995, 191–207, 204 f. 22 Robert Hoeniger/Moritz Stern (Hrsg.), Das Judenschreinsbuch der Laurenzpfarre zu Köln. Berlin 1888, 105 f., Nr. 256 und 110 f., Nr. 265. Jetzt auch in Regestenform online zugänglich; vgl. Alfred Haverkamp/Jörg R. Müller (Hrsg.), Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich. Trier 2011, KS01, Nr. 117, URL: www.medieval-ashkenaz.org/KS01/CP1-c1–0256.html (Zugriff: 30. 12. 2014) bzw. Nr. 122, URL: www.medieval-ashkenaz.org/KS01/CP1-c1–025a.html (30. 12. 2014). 23 Vgl. Willoweit, Rechtsstellung (wie Anm. 13), 2182 f.
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den Immobilienbesitz und damit auch den realen ‚Hausbesitz‘ von Juden vorliegt. Daher können hier für die komplexe Situation nur einige Beispiele aus einzelnen Territorien angeführt werden. So war in der Landgrafschaft Hessen-Marburg der Haus- und Grundbesitz von Juden im 16. Jahrhundert noch eine „weitgehend selbstverständliche Erscheinung“, wohingegen 1616 festgestellt wurde, dass Juden der Immobilienbesitz in der Landgrafschaft verboten sei.24 1625 untersagte der neue Landesherr, Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt, den Juden der Landgrafschaft Hessen-Marburg, Häuser und andere Liegenschaften zu erwerben, ein Verbot, das 1627 wiederholt und 1629 als § 11 in die neue „Judenordnung“ einging. Unklar ist aber, inwieweit das Verbot in der Landgrafschaft Hessen-Marburg durchgesetzt wurde. So unterstellte der Bürgermeister von Biedenkopf 1646 den dortigen Juden anscheinend zu Unrecht, Häuser zu besitzen, um sie so zu Kontributionsgeldern heranzuziehen, wohingegen 1649 die Marburger Regierungskanzlei ausdrücklich den Schultheiß von Kirchhain anwies, den Juden Hayman zum Hauskauf zuzulassen. Wenn im Kurfürstentum Köln die erste „Judenordnung“ von 1592 den Juden anordnete, bereits erworbene Liegenschaften innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre wieder zu verkaufen, so war auch dies eine Reaktion darauf, dass Juden bis dahin Immobilien besaßen.25 Die zweite kurkölnische Judenordnung von 1599 setzte ein Verbot des Immobilien- und Grundbesitzes voraus, indem sie Juden untersagte, „auf Hauß, Hof, Weingarten, Wiesen“ und anderen Grund zu leihen.26 Diese Bestimmung war dem Geldhandel abträglich, denn oft konnten Schuldner nur Immobilien als Pfand bei einer Kreditaufnahme stellen. Daher genehmigte der Kurfürst im Jahr 1602 unmittelbar nach der Publikation der Judenordnung von 159927 den Antrag der Juden, auf Immobilien leihen zu dürfen, sofern der Schuldner keine bewegliche Habe besaß. Falls die aufgenommene Summe einschließlich der Zinsen nicht fristgerecht zurückgezahlt werde, sollten die Immobilien gerichtlich verkauft und der Gläubiger bezahlt werden; ein Überschuss fiel an den Schuldner.28 Hiermit sollte verhindert werden, dass Juden dauerhaft in den Besitz von Immobilien gelangten.
24 Alle Angaben zur Landgrafschaft Hessen-Marburg nach Wolfgang Treue, Landgrafschaft HessenMarburg. Tübingen 2009, 121–123, hier 121. 25 Vgl. Horst Dinstühler, Die erste kurkölnische Judenordnung von 1592. Zur Situation der Juden in Kurköln am Ende des 16. Jahrhunderts, in: Geschichte der Juden im Kreis Viersen. Viersen 1991, 25–38, hier 36. 26 Vollständige Sammlung deren die Verfassung des Hohen Erzstifts Cölln betreffender Stucken, mit denen benachbahrten Hohen Landes-Herrschaften geschlossener Concordaten und Verträgen, dan in Regal- und Cameral-Sachen, in Justitz- Policey- und Militair-Weesen vor- und nach ergangener Verordnungen und Edicten, Bd. 1. Köln 1772, 224 (Caput I § V). 27 Landesarchiv NRW, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reichskammergericht I/J 284/1367 (Nr. 1996), Q 34, Nr. 8, Dok. H, fol. 227v–234v, hier fol. 234v. 28 Ebd., Q 34, Nr. 8, Dok. HH, fol. 235r–238v.
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Birgit E. Klein
Dennoch versuchten Juden wiederholt, Immobilien zu erwerben, was ihre ökonomische und soziale Bedeutung unterstreicht. Als in der dritten kurkölnischen Judenordnung von 1614 das Verbot des Immobilienbesitzes versehentlich fehlte, beantragte der einflussreiche kurfürstliche Agent Levi zu Bonn sogleich, das von ihm gemietete Haus in der Bonner Sterngasse, vorteilhaft in der Nähe des Marktes gelegen, kaufen zu dürfen, was ihm jedoch verweigert wurde.29 1655 wollte der Linzer Jude Vaes zwei Häuser samt Gärten mit einem Verkehrswert von rund 1 000 Reichstalern erwerben. Auch dieser Kauf kam nicht zustande, weil die kurfürstliche Behörde die Genehmigung dazu versagte.30 Die nächste, unter Kurfürst Maximilian Heinrich erlassene Judenordnung vom 16. November 1686 enthielt eine leicht veränderte Bestimmung: „Es sollen die Juden ohne Unsere special Erlaubnuß keine liegende oder unbewegliche Güter/ und was unter deren Nahmen begriffen/ erb- und eigenthumblich an sich bringen.“ Sie sah jedoch Ausnahmen von der Regel grundsätzlich vor.31 Die Bestimmung wurde nahezu wortgleich in der letzten kurkölnischen „Erneuerte[n] Juden-Ordnung“ von 1700 wiederholt, die bis zur Auflösung des Kurstaats durch die französische Eroberung gültig blieb.32 Eine entscheidende Ausnahme vom regelmäßigen Verbot wurde gemacht, als Kurfürst Joseph Clemens von Bayern 1715 nach 13-jährigem Exil in Frankreich infolge des Spanischen Erbfolgekriegs zurückkehrte und Bonn wiederaufbaute, das 1689 im Zuge des seit 1672 andauernden Französisch-Holländischen Kriegs weitgehend zerstört worden war. Im Zuge des Wiederaufbaus ordnete er auch den Bau einer ‚Judengasse‘ an.33 Erstmals in der kurkölnischen Geschichte sollten die Bonner Juden fortan ausnahmslos geschlossen in einer abgesonderten Gasse wohnen, gewissermaßen in einem ‚Ghetto‘ als Folge einer obrigkeitlichen Zwangsmaßnahme. Dies war zwar mit dem Vorteil verbunden, von nun an Häuser besitzen zu können, allerdings um
29 Zu seinen Funktionen ausführlich Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich. Hildesheim 2003. Der Vorfall von 1614 ist in überliefert in: HStA Düsseldorf, KK III, Nr. 13, fol. 171r/v. 30 Anton Rings/Anita Rings, Die ehemalige jüdische Gemeinde in Linz am Rhein. Erinnerung und Gedenken. 2. Aufl. Linz am Rhein 1992, 32 f. (Stadtarchiv Linz, B 3, S. 744, 1655 VI 22). 31 Gedruckt in Bonn 1686 von Georg Friedrich Franckenberg/Churfürstlicher Hoff-Buchdrucker (u. a. überliefert in: Niedersächsisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover, Hild. Br. 1, Nr. 9684, fol. 9r–15v); dann wieder abgedruckt bei Josef Joesten, Zur Geschichte der Hexen und Juden in Bonn. Bonn 1900, 14–31, hier 26, Caput V § 1. 32 Vollständige Sammlung (wie Anm. 26), 226–235, hier 232: „Es sollen die Juden ohne unser special Erlaubniß keine ligende oder unbewegliche Güter, und was unter deren Namen begriffen, erb- und eigenthümlich an sich zu bringen bemächtiget seyn.“ 33 Parallel verlaufend zur späteren Josefstraße, heute direkt nördlich von der Berliner Freiheit, der Auffahrt zur Kennedy-Brücke. Vgl. Alfred Levy, Aus Bonner Archiven. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde. Zum 50jährigen Jubiläum der Synagoge. Bonn 1929, 8 f. (Nrn. 1 und 2). Die von den Juden beantragte Zahl der Häuser reduzierte der Kurfürst von 20 auf 16, da „sonst die Häuser zu klein würden“ (vgl. ebd.).
Reale und ideelle Häuser im Judentum
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den hohen Preis, weit vom Markt entfernt in ein sehr nahe am Rhein gelegenes Randgebiet umsiedeln zu müssen, das alljährlich vom Hochwasser überschwemmt wurde.34 Dass seitens mancher Juden der Nachteil schwerer als der Vorteil wog, zeigt die gegenseitige Verpflichtung beim Bau der Gasse, keine Wohnung außerhalb der Gasse zu erwerben.35 Denn gegen den Umzug in die Judengasse sprach auch, dass ihr Bau zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt angeordnet worden war, wohingegen die wenigen anderen abgeschlossenen ‚Judengassen‘ mit ausnahmslos jüdischen Einwohnern im Heiligen Römischen Reich bereits seit dem Mittelalter existierten: in Frankfurt am Main ab 1462, in Worms seit 1481.36 Noch 1773 wohnten allein die beiden am Hof tätigen Ärzte und der erstrangige Hoffaktor Baruch sowie sein Sohn Simon Baruch „langs die Judengaß“, d. h. außerhalb, aber immer noch in unmittelbarer Nähe des als Judengasse ummauerten Areals. Sie mussten sich damit nicht deren Ausgangs- und anderen Restriktionen unterwerfen, was im Interesse der höfischen Patienten und Kunden lag.37 Selbst 1786 noch verzeichnete man nur „2 Häuser in der Stadt und 17 in der Judengaß“, in denen summa summarum „296 Köpfe“ lebten.38 Zwar schlossen die Häuser von Dr. Moses Wolff – der seines vom Schwiegervater übernommen hatte – und Hoffaktor Baruch unmittelbar an das der Stadt zugewandte Kopfende der Judengasse an, dennoch war die symbolische Repräsentationsfunktion für deren Bewohner von enormer Bedeutung. So ist es wenig verwunderlich, dass deren Interieur am besten dokumentiert ist.39 Auch in anderen Territorien ist die zunehmende Bedeutung des ‚realen Hauses‘ in seiner Repräsentationsfunktion wie auch für das ‚Haushalten‘ zu beobachten: Glikl bas Juda Leib (1648/49–1726), von der die frühesten erhaltenen Memoiren einer Jüdin stammen, beschreibt die beeindruckende Wirkung eines sar bajit, eines „ministerialen Hauses“ oder „Herrenhauses“: „Wir sind in ein Haus gekommen, das fast eine königliche Wohnung gewesen ist und in aller Art wohl möbliert wie ein Herrenhaus.“40
34 Ebd., 9, Nr. 3. 35 Ebd., 8. 36 Zur mittelalterlichen Entwicklung detailliert Markus Wenniger, Grenzen in der Stadt? Zu Lage und Abgrenzung mittelalterlicher deutscher Judenviertel, in: Aschkenas 14, 2004, 9–29, hier 27. 37 „Langs die Judengaß“ (später Burgstraße, heute Doetschstraße) wohnten „Wolf Doctor, Méd. Juif, bei Ihro kurfürstl. Durchlaucht, höchstsel. Andenkens, gewesener Leib-Medicus, Jud Wolff, Doctor Medicinae, Jud Baruch, [der getaufte] N. Salomon, Hof-Musicus, Jud Simon Baruch, Hof-Faktor.“ Entsprechend dem Verzeichnis der Bonner Gassen und Straßen von 1773 bei Levy, Aus Bonner Archiven (wie Anm. 33), 11, Nr. 4. 38 Levy, Aus Bonner Archiven (wie Anm. 33), 11, Nr. 5. 39 Vgl. Birgit Klein, Einführung, in: Rotraud Ries/J. Friedrich Battenberg (Hrsg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hamburg 2002, 135–142. 40 Chava Turniansky (Hrsg.), Glikl. Memoires 1691–1719 (hebr.). Jerusalem 2006, 268; Glückel von Hameln, Die Memoiren der Glückel von Hameln, bearb. von Bertha Pappenheim. Weinheim 1994 [1910], 136.
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Birgit E. Klein
Wie in den Städten, so war Hausbesitz auch in ländlichen Judensiedlungen keineswegs selbstverständlich.41 Im Unterschied zu den außergewöhnlich repräsentativen städtischen Häusern waren jene auf dem Land anscheinend oft weitaus bescheidener, selbst wenn ihre Inhaber als Hoffaktoren der wirtschaftlichen Elite angehörten. In der habsburgischen Markgrafschaft Burgau in Schwaben besaßen nur die Schutzjuden eigene Wohnhäuser oder zumindest Hausanteile, wohingegen andere zur Miete wohnten, teilweise in einem proportional höheren Verhältnis als Christen. Insgesamt mussten sich die jüdischen Dorfbewohner nicht nur mit weniger Wohnraum als die Christen begnügen, sondern selbst die jüdischen Hoffaktoren mit Häusern der unteren Besitzkategorie42, so dass sie zwar in der jüdischen Gesellschaft die wirtschaftliche Elite bildeten, innerhalb der Dorfgesellschaft aufgrund ihrer Haustypen indes der Unterschicht zugewiesen wurden. Wie hoch aber selbst die Bedeutung von bescheidenem Hausbesitz war, zeigen die Memoiren des Ascher Levy von Reichshofen im Elsass aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in denen er wiederholt die Vorzüge seines 1626 gekauften Hauses schildert: Sein „zuverlässiges Haus“ (bajit ne’eman) diente ihm nicht nur zur Anlage von Vorrat, sondern seine Türen standen auch immer für Fremde offen, so dass er sich in Wohltätigkeit üben konnte. Auch weitere religiöse Gebote konnte er dank seines Hauses praktizieren: „Zu Ehren Gottes und zu Ehren seiner Lehre“ habe er darin ein Studierzimmer sowie einen Ofen für die ungesäuerten Brote am Pessachfest gebaut, in dem auch Speisen für den Schabbat warmgehalten und die Schabbatbrote (challot) gebacken werden konnten. Zudem hatte er ein Badezimmer angebaut, „um es mir gütlich zu tun am Freitag“ vor dem Schabbat, doch auch seine Frau konnte es vor dem Untertauchen in der Mikwe, dem rituellen Tauchbad, zur körperlichen Reinigung nutzen, damit sie nicht ein Badehaus aufsuchen musste, das von Frauen wie Männern gleichermaßen besucht wurde.43
3 Reale und ideelle Häuser oder: Heiratsverträge in der Rechtspraxis 1712 gelang es Josef Juspa van Geldern, Hofkammeragent, -bankier und -juwelier des Kurfürsten Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg, den wirtschaftlichen und sozialen
41 Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999, 349. 42 Ebd., 354 f. 43 Moses Ginsburger (Hrsg.), Die Memoiren des Ascher Levy aus Reichshofen im Elsaß (1598–1635). Berlin 1913, 48 dt. / 43 f. hebr. Zum eher ländlichen Hausbesitz vgl. auch Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wien 1999, 115–119; 192–194.
Reale und ideelle Häuser im Judentum
349
Aufstieg des ‚Hauses‘ van Geldern in Stein zu dokumentieren, indem er ein Palais in der von Kurfürst Jan Wellem gegründeten Düsseldorfer Neustadt (heute Neusser Straße 25) erbaute. Mehrflügelig errichtet, befand sich hierin auch die erste Synagoge Düsseldorfs. Gewissermaßen performativ demonstrierte dieses ‚reale Haus‘, dass in dieser Familie der wirtschaftlichen Elite Vermögen und Wohltätigkeit sowie Einsatz für die jüdische Gemeinschaft Hand in Hand gingen.44 Doch auch sein ‚ideelles Haus‘ hatte Josef van Geldern versucht, bestmöglich auszubauen, indem er 1698 seine Tochter Fradt mit dem Sohn der Berliner Hofjuden Jost Liebmann und Esther Schulhoff verheiratet hatte. Diese Heirat über die weite Distanz brachte ihn in die Nähe zum Berliner Hof, allerdings war der Einsatz für dieses ambitionierte Konnubium mit der „damals einflußreichsten Hoffaktorenfamilie am Berliner Hofe“45 hoch: Allein das ‚Erbteil-Dokument‘ hatte er 1698 über 20 000 Reichstaler ausstellen müssen; über die Höhe der 1698 ausgezahlten Mitgift wissen wir nichts. Einen gewissen Ausgleich für das Geschäftsvermögen brachte spätestens 1712, dem Jahr des Hausbaus, ein weiteres erfolgreiches weiträumiges Konnubium, als Josefs Sohn Emanuel die Nichte des kurpfälzischen Kriegsfaktors Lemle Moses Reinganum heiratete: Rechle brachte eine hohe Mitgift von 20 000 Gulden ein, ein ‚ErbteilDokument‘ sowie einen Schuldschein von ihrem Onkel über 10 000 Gulden, gültig im Fall seines Todes. Hierfür verschrieb ihr Emanuel von Geldern, der nur 15 000 Gulden Mitgift einbrachte, als ketubba-Zulage (hebr. tossefet ketubba) oder – wie Rechle es formulierte – als Widerlegung (donatio propter nuptiam), zusätzlich zu den 600 Gulden oder 400 Reichstalern der Standard-ketubba weitere 19 600 Reichstaler. Somit hatte er sich also insgesamt zu 20 000 Reichstalern ketubba-Zulage verpflichtet, für deren Zahlung er sein gesamtes Vermögen als Hypothek stellte. Als Josef Juspa van Geldern im Juni 1727 starb, forderte sein Berliner Schwiegersohn Jost Liebmann die Auszahlung des im ‚Erbteil-Dokument‘ (schtar) festgeschriebenen Betrags über 20 000 Reichstaler von den Erben, den Brüdern van Geldern. Da diese der Forderung nicht umgehend nachkamen, legte Jost Liebmann Anfang 1728 dem Geheimen Rat des Herzogtums Jülich-Berg eine Übersetzung des ‚Erbteil-Dokuments‘ vor, die suggerierte, dass mit Josef van Gelderns Tod der Erbfall eingetreten und damit die Auszahlung der Summe von 20 000 Reichstalern fällig war. Für diesen Zweck wurde die ursprünglich fiktiv gedachte Summe als eine Art verspäteter Mitgiftzahlung und damit das ‚Erbteil-Dokument‘ als Teil der pacta dotalia, der Mitgiftverträge, interpretiert. In der Folgezeit waren beide Streitparteien bemüht, ihren Einfluss an den höchsten
44 Weitere Beispiele u. a. bei Rotraud Ries, Hofjuden – Funktionsträger des absolutistischen Territorialstaates und Teil der jüdischen Gesellschaft. Eine einführende Positionsbestimmung, in: dies./ Battenberg (Hrsg.), Hofjuden (wie Anm. 39), 11–39. 45 Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, Bd. 3: Die Institution des Hoffaktorentums in den geistlichen Staaten Norddeutschlands, an kleinen norddeutschen Fürstenhöfen, im System des absoluten Fürstenstaates. Berlin 1955, 116.
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Birgit E. Klein
Israel Aaron gest. 1673
Malka Hameln gest. 1675 1E Jost Liebmann gest. 1702
1E h 1677
Jost Liebmann h in Berlin gest. 1747 1698
Esther Schulhoff gest. 1714
Fradt schtar: 20 000 Rtlr. > 33 333 Rtlr.
h
= heiratete
1E
= erste Ehe
m
Josef van Geldern gest. 1728
Sara h Moses Samuel Cohen in Amsterdam
Helena h Simon b. Jacob Reischer in Metz gest. 1714
Emmanuel gest. 1746 h 1712 Rechle b. Süßkind Reinganum aus Mannheim gest. 1774 tna 'im : Mitgift: R. 20 000 fl. + E. 15 000 fl. tossefet ketubba: 20 000 Rtlr.
Lazarus gest. 1769 h
Bräunche gest. 1735
Salomon
Isaak
1716
Sara Lea Pressburg aus Wien
Gottschalk
(Chevalier) Simon van Geldern
Betty
Samson Heine (SchaumburgLippe)
m
Heinrich Heine
Abb. 1: Verwandtschaftsbeziehungen der Familie van Geldern.
Reichsgerichten bestmöglich zu nutzen. Die Düsseldorfer Beklagten versuchten mehrfach und letztlich vergeblich, die ihnen gehörenden Immobilien, u. a. mit Verweis auf die durch Liegenschaften gesicherte Generalhypothek im Heiratsvertrag, zu sichern, die am Ende versteigert wurden.46 Im Zeitraum von 1730 bis 1756 erhielt Fradt, Jost Liebmanns Witwe, schließlich eine Summe von insgesamt 33 000 Reichstalern. Der Erfolg der Berliner Liebmanns verdankte sich zu einem großen Maß Jost Liebmanns resolutem Vorgehen: Von Anfang an konnte er seine Forderungen in eine Terminologie übersetzen, die die christlichen Gerichte überzeugte: das ‚ErbteilDokument‘ (schtar) sei Teil der pacta dotalia. Dank seiner wirtschaftlichen Stellung wusste er geschickt Strategien zu nutzen, um sein Ziel zu erreichen. Zudem hatte er den einflussreicheren Schutzherrn und Fürsprecher, nämlich König Friederich II. oder den Großen von Preußen, der seine Interessen vor dem Kaiser unterstützte. Und schließlich war Jost Liebmann nicht nur wie (angeblich) „alle Mitglieder dieser Hoffaktoren-Familie […] sehr streitsüchtig“47, sondern scheute sich auch nicht, gegen
46 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 40 Nr. 6 g Interzessionen 1752– 1759 (unfol.). 47 Schnee, Die Hoffinanz (wie Anm. 45), Bd. 1: Die Institution des Hoffaktorentums in BrandenburgPreußen, 1953, 63.
Reale und ideelle Häuser im Judentum
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das ‚Hauswohl‘ seiner Düsseldorfer Schwiegerfamilie obrigkeitliche Gerichte in einer Erbsache einzuschalten, in der es ausschließlich um nach jüdischen Rechtsprinzipien aufgesetzte Dokumente ging. Dies war ein ungewöhnliches Vorgehen, denn in familienrechtlichen Fragen wurde die traditionelle jüdische Rechtsautonomie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend geachtet. Jost Liebmann trat indes in die Fußstapfen seines Vaters, der in seinem Testament seine Frau Esther zur Erbin und Verwalterin seines Nachlasses eingesetzt hatte; kurz vor seinem Tod 1702 hatte er den preußischen König gebeten, seinen letzten Willen vor den Kindern zu schützen, woraufhin das Berliner Kammergericht angewiesen wurde, jede Eingabe eines Familienmitglieds gegen das Testament abzuweisen.48 Als Heinrich Heine, der berühmte Nachfahr der van Geldern, in seinen Memoiren die Folgen dieses jahrzehntelangen Erbstreits für seine Düsseldorfer Vorfahren erinnerte, rekurrierte er auf die Vorstellung der ‚Hausräson, im 19. Jahrhundert ‚Familie‘ genannt: Josef van Geldern habe auf die Achtung seines letzten Willens vertraut als Ausdruck der von Heine gepriesenen „Solidarität der Familien. Der Gesetzgeber der Juden hat sie tief erkannt und besonders in seinem Erbrecht sanczionirt; für ihn gab es vielleicht keine individuelle Fortdauer nach dem Tode und er glaubte nur an die Unsterblichkeit der Familie; alle Güter waren Familien-Eigenthum, und niemand konnte sie so vollständig alieniren daß sie nicht zu einer gewissen Zeit an die Familienglieder zurückfielen.“49 Wie gemäß Heines Prämisse von der ‚Solidarität der Familien‘ mit dem ‚ErbteilDokument‘ gütlich zum ‚Wohl eines Hauses‘ umgegangen wurde, zeigt ein anderer Fall. Er findet sich in den seriell überlieferten Protokollen von Rabbinatsgerichten. In erster Linie sind hier die Protokolle des Landrabbinats Heidingsfeld (heute Würzburg) zu nennen, fast zwanzig, zum Teil sehr umfangreiche Bände von bis zu 500 Blatt, die im Bayerischen Staatsarchiv Würzburg überliefert sind.50 Die ausführlichen Protokolle sind in einer Mischung von Hebräisch und Jiddisch abgefasst, in einer teilweise sehr schwer zu lesenden hebräischen Kursive niedergeschrieben und daher von der Forschung, ungeachtet ihres hohen Quellenwertes, bislang kaum erschlossen. Sie enthalten hunderte innerjüdischer Nachlassinventare aus der Zeit zwischen 1719 und 1814, eine Quelle, wie sie in dieser Form im deutschen Sprachraum sonst nicht zu finden ist.51 Sie listen detailliert den Nachlass auf, geben die Verhandlungen über die
48 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 9 Y 5; vgl. Hugo Rachel/Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Bd. 2. Berlin 1967 [1938], 36; Schnee, Hoffinanz, Bd. 1 (wie Anm. 47), 65. 49 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, 16 Bde., hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973–1997, Bd. 15: Geständnisse, Memoiren und kleinere autobiographische Schriften. Hamburg 1982, 1107. 50 Bayerisches Staatsarchiv Würzburg, ‚Juden‘, Nrn. 20–34, Laufzeit 1719–1814. 51 Zu Inventaren als Quelle für den christlichen Bereich vgl. Rolf Bidlingmaier, Inventuren und Teilungen. Entstehung und Auswertungsmöglichkeiten einer Quellengruppe in den württembergischen
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Birgit E. Klein
Erbteilung mit den Familienmitgliedern, teilweise fast wörtlich, wieder und enthalten daher auch die von den einzelnen Familienmitgliedern eingereichten Verträge, mit denen diese ihre Ansprüche am Nachlass dokumentierten, darunter Testamente, ketubbot, Heiratsverträge (tna’im) und ‚Erbteil-Dokumente‘. Da die Nachlassregelung vor dem Rabbinatsgericht grundsätzlich die Bereitschaft aller Familienmitglieder voraussetzte, zu einem einvernehmlichen Kompromiss zu gelangen, liefern die Verhandlungsprotokolle ein beredtes Zeugnis vom Umgang mit dem differenzierten Vertragssystem in der Rechtspraxis, für den Verhandlungsspielraum von Frauen und für ihren Platz innerhalb des ‚Hauses‘; so auch im folgenden Fall. Am 4. Adar II 5556, am 14. März 1796, starb David, Sohn von (ben) Ascher, im unterfränkischen Kleinsteinach, zwischen Schweinfurt und Coburg gelegen.52 Er hinterließ neben seiner zweiten Ehefrau Reiz eine verheiratete Tochter aus erster Ehe (Serle, Gattin des Kalman b. Jakob segal), eine verheiratete Tochter aus zweiter Ehe (Bella, Gattin des Ascher b. David), zwei unverheiratete Töchter (Hena und Gelich) und zwei unverheiratete Söhne (Josef Gabriel und Lew) aus zweiter Ehe sowie ein Nachlassvermögen in Höhe von 5 085 Reichstalern. Das Ergebnis der Nachlassregulierung auf der Basis von Testament, verschiedenen Verträgen (ketubba, tna’im, ‚Erbteil-Dokument‘ [schtar] etc.) und der mündlichen Verhandlung vor dem rabbinischen Gericht lässt erkennen, dass die Beziehung der Witwe Reiz und ihrer unverheirateten Kinder mit Serle, der seit bereits 14 Jahren verheirateten Stieftochter und Halbschwester, schwächer war als mit der erst seit vier Jahren verheirateten Tochter und Schwester Bella, die zudem näher als Serle bei ihrer Herkunftsfamilie lebte. Folglich war Serles Anspruch am Nachlass im ‚Erbteil-Dokument‘ durch den Vergleich befriedigt worden, wohingegen der Umstand, dass Bellas Forderung bestehen blieb, auf einen engeren Kontakt mit ihrer Herkunftsfamilie schließen lässt. Indem sowohl der Anteil der Witwe über 833 Reichstaler53 als auch die Mitgiftansprüche der unverheirateten Kinder über 2 600 Reichstaler sowie die Erbanteile am Restnachlass von 883 Reichstalern nicht ausgezahlt wurden, stand ein Geschäftskapital von 4 315 Reichstalern zur Verfügung. Hätten Bella und ihr Gatte indes versucht, die Schuldsumme ihres ‚Erbteil-Dokuments‘ über 5 000 Reichstaler einzuklagen, hätte ihre Forderung die Ansprüche aller anderen Hinterbliebenen überstiegen. Dies zeigt, dass das ‚Erbteil-Dokument‘ nur solange erfolgreich seine Funktion zum Wohl des ‚ideellen Hauses‘ erfüllen konnte, wie es den Anspruch auf Beteiligung am Erbe dokumentierte, nicht aber auf Auszahlung der Schuldsumme in ihrer fiktiven Höhe pochte.
Stadt- und Gemeindearchiven, in: Nicole Bickhoff/Volker Trugenberger (Hrsg.), Der furnehmbste Schatz. Ortsgeschichtliche Quellen in Archiven. Stuttgart 2001, 71–82; ders., Inventuren und Teilungen, in: Regina Keyler/Christian Keitel (Hrsg.), Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven. Stuttgart 2005, 21–28. 52 Bayerisches Staatsarchiv Würzburg, ‚Juden‘ 29/1, Inventar Nr. 225. 53 Die Angaben von Testament und Endabrechnung differieren um einen Reichstaler.
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Reale und ideelle Häuser im Judentum
Elkele b. Abraham ha-kohen
1782
h
Serle
Bella
1792
h
Ascher b. David
schtar: 5 000 fl. > nicht ausgezahlt
h
= heiratete
1E
= erste Ehe
h
50 Rtlr.
Reiz b. Arjeh Leib b. R. Mordechai
450 Rtlr. (Wiederheirat) 833 Rtlr. (Witwe) > nicht ausgezahlt
4 316 Rtlr. Geschäftskapital
Kalman b. Jakob segal
Mitgift: 500 Rtlr. schtar: 2 000 Rtlr. > Vergleich über 125 Rtlr.
2. Ehe 1770
David b. Ascher gest. 4 Adar II 5556 (14. März 1796)
1E
Hena
Gelich
(Standard-)ketubba: 400 Rtlr. tna'im acharonim: Mitgift: 300 Rtlr. tossefet ketubba: 50 Rtlr. > Reiz’ ketubba: 450 Rtlr.
Josef Gabriel
Lew
2 600 Rtlr. > nicht ausgezahlt 650
650
650
650
[Nachlass 883 Rtlr. > nicht ausgezahlt] 147
147
294
294
Abb. 2: Verwandtschaftsbeziehungen der Familie David Sohn von (ben) Ascher.
Bei der Nachlassregulierung hatte indes das ‚reale Haus‘, im Nachlassinventar mit nur 300 Reichstalern angegeben, eine nachrangige Bedeutung; immerhin sollte die Witwe darin lebenslanges Wohnrecht genießen. Weitaus bedeutender aber für Repräsentation und Status war die Torarolle der Familie in der Kleinsteinacher Synagoge – und vermutlich auch deutlich wertvoller.54
4 Fazit Die Minderheit der jüdischen Wirtschaftselite suchte ihre ‚ideellen Häuser‘ nach Möglichkeit auch in realen Bauten zu manifestieren, um so ihren Einfluss und Status in der Öffentlichkeit gegenüber der christlichen Mehrheitsgesellschaft im Allgemeinen und ihrer sozialen Referenzgruppe im Besonderen zu unterstreichen. Zudem vermochten Liegenschaften in der Wirtschaftselite als Hypothek die grundsätzlich hohen finanziellen Verpflichtungen abzusichern, die auf den männlichen Familienmitgliedern infolge der Verträge lasteten, welche die Erbansprüche der weiblichen Familienmitglieder innerhalb des jüdischen Ehegüter- und Erbrechts manifestierten. Über die engere Hausgemeinschaft hinaus konnte Hausbesitz zuweilen dem Wohl der gesamten Judenschaft dienen, wenn das Haus beispielsweise die Gemeindesynagoge oder -schule oder ein rituelles Tauchbad (Mikwe) beherbergte, als Versammlungsort
54 Im 19. Jahrhundert betrug der Wert einer Torarolle 1 000 Gulden, heute je nach Qualität zwischen 30 000 und 200 000 Euro.
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oder zur vorübergehenden Unterkunft von armen und durchreisenden Juden diente. Diese häusliche ‚Offenheit‘ war umso wichtiger in den vielzähligen Territorien, die die Errichtung öffentlicher jüdischer Gemeindebauten wie Synagogen und Mikwen erst im 19. Jahrhundert gestatteten. Das ‚reale Haus‘ konnte indes als Existenzgrundlage gefährdet werden, wenn unternehmungsfreudige Familien wie die van Geldern zudem ihr ‚ideelles Haus‘ über weiträumige exogame und ambitionierte, dadurch aber auch risikoreiche Konnubien zu erweitern suchten. Für die weniger vermögende Mehrheit der jüdischen Gesellschaft blieb der reale Hausbesitz erstrebenswert, da er weniger soziale Kontrolle und mehr Selbstbehauptung (z. B. durch die Anbringung äußerer jüdischer Kennzeichen wie von Mesusot und hebräischen Sprüchen), wirtschaftliche Sicherheit und Schutz bedeuten, Zugehörigkeit z. B. über Hausnamen symbolisieren und auch ein religiöses Leben erleichtern konnte. Für den Erhalt des ‚ideellen Hauses‘ und seiner wirtschaftlichen Existenz war der reale Hausbesitz jedoch nachrangig gegenüber den konsensuellen Beziehungen der Hausmitglieder im Dienst ihrer korporativen Einheit. Zuletzt war das ‚ideelle Haus‘ jenseits der sozialen Stellung vor allem der Ort, an dem unabhängig von seinem realen Besitz religiöse Gebote und Rituale praktiziert wurden, die in der jüdischen Tradition ein höheres Ansehen als das ‚reale Haus‘ genossen.
Elisabeth Joris
Profession und Geschlecht: Das Haus als Ort der Ausbildung und Berufstätigkeit im 19. Jahrhundert „Im 18. Jahr kehrte ich ins Elternhaus zurück und fing folglich an, meinen Beruf [einer Schneiderin, E. J.] auszuüben. Dabei suchte und fand ich Schülerinnen für Nähen. […] Ich fühlte mich getrieben, diese Kinder nicht bloss in Handarbeiten, sondern auch im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Den Eltern war das recht u. unversehens überwog das Lernen u. mit der Zeit dann das Interesse noch bei weitem die Handarbeiten. Ich war also Lehrerin geworden; niemand, ich selber nicht, wusste wie. Die Schule wuchs schnell auf 30 u. mehr Schülerinnen u. mit der Zeit wuchs die Lehr- u. Lernfreudigkeit.“1 So beschrieb die 1806 geborene Schweizer Pädagogin Josephine Stadlin 1843 rückblickend ihren Einstieg ins Lehrfach. Sie hielt damit beispielhaft den Wandel des Elternhauses zu einem Raum des Lehrens und Lernens, der Interkommunikation zwischen Lehrerin und ihren Schülerinnen, fest. Eine ähnliche Erweiterung im Sinne der Konstituierung eines ‚offenen Hauses‘ zeigt sich in verschiedenen Briefstellen aus dem Nachlass der 1808 geborenen Bildungsbürgerin Emilie Paravicini-Blumer. Sie definierte die Wohnräume des Erdgeschosses ihres Hauses in Mollis/Kanton Glarus nach ihrer weitgehend autodidaktischen Ausbildung zur Homöopathin als Praxis, an deren Türe vorwiegend arme Kranke und Leidende um Hilfe anklopften. Auch diese entwickelte sich zu einem Raum der Interaktion, in der die Trennung von Innen und Außen aufgehoben war. Beispielhaft verweist darauf ein Brief von Emilie Paravicini-Blumer an ihre Nichte während der von Not geprägten 1870er Jahre: „[…] denn diese Zeit bringt auch manche Patienten, u: solche die ich lieber zurückweisen würde. So gestern zwey Bauernfrauen aus dem Wägithal, die am frühen Morgen ihren weiten Weg mit der Laterne antraten. Die Einte den Arm voll offener Wunden bis unter die Achsel. […] Ich hoffe, mit der Zeit u: Gottes Hülfe an’s Ziel zu kommen u: durfte sie vor meinem Gewissen nicht abweisen! Wo hätten sie hin sollen? Aber leicht sind solche Aufgaben nicht.“2 Beide Frauen stehen für die Durchbrechung eines für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konstitutiven Zuordnungsmusters. Obwohl die Zuordnung des Hauses zum Bereich des Privaten und Weiblichen, der Berufstätigkeit zum Bereich des Öffentlichen und zugleich Männlichen weitgehend als Konstrukt erachtet werden kann, kommt dieser in Bezug auf Institutionalisierungsprozesse hohe Wirkmächtig-
1 Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek (HsZB) Zürich, Ms. P 2198, Biographisches, 3 Josephine Stadlin Autobiographie. 2 Privatarchiv de Quervain, Brief an Betsy Usteri, 12. Nov. 1875, 5, DQ547.
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keit zu.3 Darauf verweisen in ausgeprägtem Maße die je unterschiedlichen Professionalisierungsprozesse für Männer und Frauen im Kontext der wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Auslagerung der beruflichen Qualifikation an die Universitäten verstanden die Liberalen als zentralen Faktor der Abgrenzung von der ständischen Ordnung einerseits und der Verwissenschaftlichung und männlicher Individualisierung andererseits. Der Text fokussiert daher auf die Bedeutung des Hauses für Frauen, die sich in der liberalen Bewegung verorteten und zugleich Professionalisierung im pädagogischen und im therapeutischen Bereich für sich in Anspruch nahmen. Das berufliche Tun von Josephine Stadlin und Emilie Paravicini-Blumer zeigt, wie Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit von Frauen zwar im Haus verankert blieben, das jedoch im Sinne eines ‚offenen Hauses‘ nicht als ein dem Öffentlichen Entgegengesetztes zu verstehen ist. Ausgehend von der Biographie dieser beiden Bildungsbürgerinnen lässt sich in der Verknüpfung mit den Entwicklungen in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen die Vergeschlechtlichung der Professionalisierung nachzeichnen.
1 Wissensproduktion als Resultat der Überlagerung von Innen und Außen Individualität und gesellschaftlicher Status wurden im liberalen Bürgertum des 19. Jahrhunderts über Beruf, Leistung und politische Positionierung definiert. Als Kernstück des Individualisierungsprozesses galt die freie Berufswahl, unabhängig von Stand und Herkunft. Daher entwickelten sich Berufe und Professionen zu Schlüsselbereichen im Institutionengefüge moderner Gesellschaften. ‚Profession‘ als Expertenberuf setzte eine spezialisierte, tendenziell wissenschaftlich fundierte akademische Ausbildung voraus, die Frauen bis ins späte 19. Jahrhundert verweigert blieb. Diese Marginalisierung und Ausgrenzung – von Angelika Wetterer als „soziale Schließung“ definiert – konfigurierte im 19. Jahrhundert die Geschlechterdifferenz neu entlang der als männlich kodierten Profession.4 So lässt sich in der theoreti-
3 Sabine Lang, Öffentlichkeit und Geschlechterverhältnis. Überlegungen zur einer Politologie der öffentlichen Sphäre, in: Eva Kreisky/Birgit Sauer (Hrsg.), Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung. Frankfurt am Main 1995, 83–121, hier 94. 4 Angelika Wetterer, Professionalisierung und Geschlechtshierarchie. Vom kollektiven Frauenausschluss zur Integration mit beschränkten Möglichkeiten. Kassel 1993, 59; Claudia Honegger/Brigitte Liebig/Regina Wecker, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Wissen, Gender, Professionalisierung. Historischsoziologische Studien. Zürich 2003, 9–16, hier 9–11; Christine Mayer, Zur Kategorie ‚Beruf‘ in der Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Elke Kleinau (Hrsg.), Bildung und Geschlecht. Eine Sozialgeschichte des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland vom Vormärz bis zum Dritten Reich. Weinheim 1997, 14–38, hier 15 f.
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schen Terminologie eines relationalen Raumverständnisses von Martina Löw die in den Professionen implizierte Anordnung von sozialen Gütern und Menschen, die den Zugang zu Reichtum, Wissen und gesellschaftlichem Rang durch Regeln festschreibt, als räumliche Struktur verstehen. In diesem Sinn traten im Raum der durch Ausbildung definierten Berufe sowie in der Politik nur Männer miteinander in Beziehung, während das ‚Haus‘ zwar den Frauen zugeordnet, aber nicht diesen vorbehalten war. Daher verweist auch das Haus in seiner Ordnungsdimension auf gesellschaftliche Strukturen, die indes nicht als starr, sondern als ‚offen‘ zu denken sind.5 Frauen aus dem Bildungsbürgertum wussten die ihnen durch eine solche Anordnung auferlegten Beschränkungen zu umgehen, indem sie sowohl Haus als auch Beruf vieldeutig interpretierten. Denn Verberuflichung bedeutete nicht nur Bildung von Professionen im Sinne von öffentlich anerkannten Experten mit spezifischem Berufsethos und eigener Gruppenidentität, sondern ebenso Aneignung von praktischen Fachkompetenzen für eine spezifische Tätigkeit. Für Frauen bezogen sich diese Fachkompetenzen insbesondere auf den Bereich des Häuslichen.6 Diesem Verständnis entsprach der bereits im Gefolge der Aufklärung entwickelte ‚weibliche Beruf‘ im Sinne eines ‚Geschäfts‘, das auf die dreifache Bestimmung der Frauen als Gattinnen, Mütter und Vorsteherinnen des inneren Hauswesens ausgerichtet war. Diese Definition bezog sich auf die Tätigkeiten von Frauen, die nicht mehr in der traditionell im Haus verankerten familiengewerblichen Erwerbsarbeit eingebunden waren. Vor allem im deutschsprachigen Europa traten Frauen für ein erweitertes Verständnis dieses ‚Geschäfts‘ ein. So zum Beispiel die deutsche Pädagogin Betty Gleim, die 1810 verlangte, dass dem Mädchen ebenso wie dem Jungen eine „Erwerbsbildung“ zuteilwerde. Doch sei dabei „das Berufsgeschäft, welchem ein Frauenzimmer sich widmet, so nahe wie möglich in Beziehung mit dem eigentlichen weiblichen Berufe und seinen Verhältnissen“ zu setzen.7 Selbst eine solche im Haus verankerte berufliche Ausbildung wurde Frauen nur eingeschränkt zugestanden. Doch ermächtigten sich Bildungsbürgerinnen durch Wissensaneignung über praktische Erfahrung und gezieltes Lernen selber zur Berufstätigkeit, für die sie dennoch Professionalität im Sinne von Fachkompetenz und spezifischem Berufsethos in Anspruch nahmen. Sowohl die höhere Mädchenbildung als auch die therapeutische Tätigkeit von Frauen entwickelte sich in der Folge aus privaten hin zu beruflichen Tätigkeiten. Diese Berufstätigkeiten knüpften an Frauen zugeordnete erzieherische und pflegerische Zuständigkeiten im häuslichen Rahmen
5 Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, 131, 158–160; Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–655. 6 Vgl. Alexandra Bloch Pfister, Priester der Volksbildung. Der Professionalisierungsprozess der Zürcher Volksschullehrkräfte zwischen 1770 und 1914. Zürich 2007, 11–22, 371. 7 Zit. nach Mayer, Kategorie ‚Beruf‘ (wie Anm. 4), 17 f., 23.
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an, die ebenso die Selbstermächtigung von Frauen zum Lehren und Heilen wie deren Forderungen nach Zugang zu spezifischer Ausbildung in diesen beiden Bereichen legitimierten. Auch Josephine Stadlin und Emilie Paravicini-Blumer hatten beide im familiären Rahmen mit Lehren und therapeutischem Experimentieren begonnen, um sich dann zusätzlich fachspezifisches Wissen und praktische Erfahrung anzueignen. Durch diese Art der Wissensaneignung und durch die Legitimierung ihres Tuns mit dem Rekurs auf das ‚Haus‘ knüpften Bildungsbürgerinnen implizit an Formen der Wissensvermittlung aus der Frühen Neuzeit an. Die Auslagerung der Wissensproduktion aus dem Haus im Rahmen der männlich kodierten Professionalisierung vollzog sich in Europa zwar erst im 19. Jahrhundert, war aber bereits seit dem 17. Jahrhundert in der Institutionalisierung von Akademien wie der ‚Royal Society of London‘ über die Pariser ‚Académie royale‘ bis zur ‚Societas regia scientarium‘ in Berlin angelegt. Während diese drei Akademien dem weiblichen Geschlecht versperrt blieben, nahmen die russische und die römische Akademie der Wissenschaften Frauen auf. Auch der Zugang zu den meisten Universitäten stand nur Männern offen. Dennoch war es Frauen möglich, selbst eine Professur zu erhalten, gleichwohl dies nur eine absolute Ausnahmeerscheinung darstellte. Beispielweise lehrten im 18. Jahrhundert die Physikerin Laura Bassi an der Universität von Bologna Philosophie und Maria Agnesi Mathematik.8 Ebenso eine seltene Ausnahme war die Zulassung von Frauen zur Promotion. Eine solche hing fast immer von verwandtschaftlichen Bezügen zu Autoritätspersonen ab. So hatte Dorothea Erxleben geborene Leporin als erste promovierte Ärztin der Universität Halle ihr theoretisches und praktisches Wissen im Hause ihres Vaters, eines bekannten Arztes, und nicht an der Universität erworben.9 Trotz der einsetzenden Verlagerung der Wissensproduktion an Universitäten und Akademien war Wissenschaft in der Frühen Neuzeit kein eigener, abgegrenzter Bereich und der Haushalt keine räumlich abgeschlossene Einheit. Verwandtschaft und familiäre Netzwerke blieben für den Wissenstransfer zentral. Insbesondere die empirisch ausgerichtete Naturforschung war auf die Zu- und Mitarbeit zahlreicher Personen angewiesen, bei Experimenten im Labor ebenso wie bei der zeichnerischen Darstellung von Erkenntnissen.10 An deren Erarbeitung waren oft die Ehefrau sowie die Töchter und
8 Christiane Coester, Gelehrte Frauen, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4. Stuttgart 2006, 373–376, hier 374; Ursula Schlude, Weibliche Wissenskulturen, in: ebd., Bd. 14, 2011, 752–759, hier 755. 9 Vgl. Kornelia Steffi/Gabriele Markau, Dorothea Christiana Erxleben (1715–1762). Die erste promovierte Ärztin Deutschlands. Eine Analyse ihrer lateinischen Promotionsschrift sowie der ersten deutschen Übersetzung. Diss. med. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2006, Kap. 3, 10–36. URL: http:// sundoc.bibliothek.uni-halle.de/diss-online/06/06H090/t4.pdf (Zugriff: 13. 01. 2015). 10 Sebastian Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700. Göttingen 2011, 41–44, 148–161 und Kap. 4: Gelehrte zur Hause – die Arbeitsökonomie des Haushalts, 88–123; Theresa Wobbe, Die longue durée von Frauen
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Schwestern des Gelehrten entscheidend beteiligt. Allerdings sahen die Gelehrten in Abgrenzung zu den als Hilfe gedachten Frauen (und Männern) ihre spezifische Tätigkeit als ein besonderes Berufsfeld, das vor allem dadurch definiert war, dass sie nach außen und im Austausch mit anderen Gelehrten die Erkenntnisse repräsentierten. Zu den prominenten gemeinsam arbeitenden wissenschaftlichen Ehepaaren zählen Marie-Anne und Antoine Lavoisier. Nicht nur finanzierte sie das Labor ihres Gatten, des französischen Entdeckers des Prinzips der Oxydation, sondern rezipierte für ihn die englischsprachige wissenschaftliche Literatur, visualisierte seine Experimente und setzte seine Tätigkeit nach seinem Tod in seinem Namen fort.11 Deutlich zeigt sich die an das Haus gebundene Wissensproduktion in der Astronomie, wo in der Regel alle Mitglieder einer Familie in die Ausbildung und Arbeit zur Aufzeichnung der Bewegungen der Himmelskörper während der Nacht einbezogen waren. Wichtigste Mitarbeiterin des Berliner Astronomen Gottfried Kirch war seine Frau Maria Kirch-Winkelmann. Gemeinsam mit dem Sohn und den Töchtern trieben sie die Forschung in ihrem Haus voran. Auch nach der Verlagerung der Astronomie an die Akademie blieb die Verbindung zum Haushalt und zu den Frauen erhalten, da die Akademie aus ökonomischen Gründen auf deren Mitarbeit nicht verzichten konnte.12 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Grenze zwischen den Fachgelehrten und den nicht akademisch geschulten Zuarbeiterinnen jedoch klar gezogen, gleichzeitig die Frauen fast durchgehend von den Universitäten ausgeschlossen.13 So verstärkte sich die diskursive Verschränkung von Männlichkeit, Wissen und Verstand durch die Verschiebung zu Akademie und Universität. Gleichzeitig traten um 1800 im Kontext der Empfindsamkeit Tugend und Intellekt in ein Konkurrenzverhältnis. Das Verständnis der „weiblichen Natur“ reduzierte die Frauen auf ihre erzieherischen und gemütsbildenden Funktionen im Haus.14 Dennoch blieben Frauen aus bildungsbürgerlichem oder adligem Haus nicht von der Wissensvermittlung ausgeschlossen. Dazu trug das familiale Milieu ebenso bei wie die Salonkultur, die sich in der Aufklärung ausgebildet hatte und im beginnenden 19. Jahrhundert weitergepflegt wurde. Erinnert
in der Wissenschaft. Orte, Organisationen, Anerkennung, in: dies. (Hrsg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft, Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000. Berlin 2002, 1–28. 11 Schlude, Weibliche Wissenskulturen (wie Anm. 8), 754. 12 Vgl. Monika Mommertz, Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Wobbe (Hrsg.), Frauen in Akademie (wie Anm. 10), 31–62; Londa Schiebinger, Wissenschaftlerinnen im Zeitalter der Aufklärung, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung (12.–20. Jahrhundert), Bd. 1. Frankfurt am Main 1996, 295–324. 13 Vgl. Ina Lelke, Die Berliner Akademie der Wissenschaften und die ‚arbeitende Geselligkeit‘, in: Wobbe (Hrsg.), Frauen in Akademie (wie Anm. 10), 65–91. 14 Sabine Toppe, Mutterschaft und Erziehung zur Mütterlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Kleinau/Opitz (Hrsg.), Mädchen- und Frauenbildung (wie Anm. 12), 346–359; Ulrike Weckel, Der Fieberfrost des Freiherrn. Zur Polemik gegen weibliche Gelehrsamkeit und ihre Folgen für die Geselligkeit der Geschlechter, in: ebd., 362–372.
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sei an Cornelia Goethe, die in diesem Umfeld eine ebenso breite Bildung erfuhr wie ihr später zu Berühmtheit gelangter Bruder, aber auch an Rahel Varnhagen-Levin, das große Vorbild von Emilie Paravicini-Blumer. In deren Berliner Salon trafen sich die Gelehrten zum geselligen Gespräch. Ebenso genoss die spätere Institutsleiterin Doris Lütkens geborene von Cossel um 1810 auf dem elterlichen Rittergut in Holstein eine sorgfältige Erziehung, wenn auch stark konzentriert auf die den Frauen zugeordneten musischen Bereiche. Den Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë gerieten die Bücher und der gegenseitige Austausch im väterlichen Pfarrhaus in Yorkshire zur reichen Quelle für ihren Umgang mit Sprache und für ihren erzählerischen Impetus. Das im Pfarrhaus erworbene Wissen legte zugleich die Basis für ihre spätere Erwerbstätigkeit als Lehrerin und Gouvernante. Die junge Emilie (Paravicini-)Blumer war bis zu ihrer Heirat die Vertraute ihres Vaters, eines angesehenen Arztes und Autors. Josephine Stadlin, wie Emilie Paravicini-Blumer die Älteste in einer langen Geschwisterreihe, profitierte vom breiten Wissen ihres Vaters, der belesenen Mutter sowie der gelehrten und weit gereisten Verwandten. Beide, Josephine Stadlin und Emilie Paravicini-Blumer, gehörten seit ihrer Kindheit zum Milieu des aufgeklärten Bürgertums in der kleinräumigen Schweiz. Gleichwohl verweist ihr Werdegang auf zwei Modelle ökonomischer Absicherung von Frauen aus dem Bürgertum, die in ganz Europa verbreitet und von Schriftstellerinnen wie Jane Austen in Erzählungen verarbeitet wurden: die Verheiratung als das ältere, noch ständisch geprägte, Beruf und Erwerbstätigkeit als das jüngere Modell. Diese Modelle lösten sich im 19. Jahrhundert nicht ab, sondern existierten nebeneinander. Gemeinsamer Bezugspunkt war der Rekurs auf eine an die Familie und das Haus gebundene Verantwortlichkeit, nicht der Anspruch auf einen individuellen Lebensentwurf. Emilie (Paravicini-)Blumers Vater erwog für die existenzielle und ständische Absicherung der Tochter wie der Familie nur die verwandtschaftliche Verbindung mit einer einflussreichen Familie und ordnete damit die möglichen individuellen Aspirationen der knapp Siebzehnjährigen der gezielten Heiratspolitik unter. Die Eltern von Josephine Stadlin sahen dagegen in der eigenständigen oder familienbetrieblich orientierten Erwerbstätigkeit das zentrale Fundament einer Zukunftsplanung, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Sie maßen deshalb nicht nur der (Aus-)Bildung der Söhne, sondern auch derjenigen der Töchter Gewicht bei. So vollzog sich der berufliche Werdegang Josephine Stadlins kontinuierlich von ihrer Jugend in den 1820er Jahren bis ins Alter: als ökonomische Verantwortung tragendes Mitglied der Familie und selbständiges Individuum, als angestellte Lehrerin und risikofreudige Unternehmerin. Nach dem frühen Tod des Vaters war sie als junge Frau in Absprache mit der Mutter für den Unterhalt der Familie und die Ausbildung der jüngeren Geschwister zuständig. Sie erweiterte ihre Ausbildung im Institut NiedererKasthofer in Yverdon, übernahm 1834 die Leitung des Töchterinstituts in Aarau und bildete kurz darauf in ihrer Wohnung Lehrerinnen aus. Seit Ende der 1830er bis in die 1850er Jahre fungierte sie als selbständige Leiterin eines Instituts und Seminars, das sie als gewerblichen Familienbetrieb führte.
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Emilie Paravicini-Blumer wusste vor allem nach dem Tod ihres Ehemanns im Frühjahr 1862 ihre Erfahrungen als Zugehörige des Bildungsbürgertums gewinnbringend einzusetzen und ihr Netzwerk zu aktivieren. Dank ihres Erbes unabhängig von ökonomischen Zwängen, erschloss sie sich als gut Sechzigjährige ein neues berufliches Feld. Als junge Frau hatte sie allerdings die aus standesspezifischen Gründen und zur Existenzsicherung der Familie arrangierte Heirat mit dem geistig beschränkten Sohn aus reicher Handelsfamilie als eine traumatische Wende in ihrem Leben erfahren. In späteren Ehejahren betreute sie neben ihrem Gatten auch die geistig ebenfalls etwas zurückgebliebene Schwester Agatha. Als Witwe dann der Sorge um den Ehemann enthoben, setzte sie sich Ende der 1860er Jahre wegen der zunehmend kränkelnden Schwester im Selbststudium mit der Homöopathie auseinander. Trotz der grundlegend unterschiedlichen beruflichen Ausgangslage verorteten sich beide Frauen gleichermaßen in der liberalen Bewegung, die das Weltbild vieler Bildungsbürgerinnen in Europa prägte und nicht wenigen den Weg zu einer in soziale und familiale Verantwortung eingebundenen beruflichen Tätigkeit öffnete. Diese Bewegung entwickelte sich über Bekanntschaften, Freundschaften und Briefwechsel als horizontal strukturiertes und transnational geprägtes Netzwerk, in das Frauen über verwandtschaftliche sowie direkte Beziehungen zu Exponenten des Aufbruchs eingebunden waren. Sie etablierte sich durch Vereinsbildungen und eine steigende Zahl von Zeitungen und Zeitschriften insbesondere nach 1830 als eine Form von politischer Öffentlichkeit, die jedoch fast nur von Männern bestimmt war. Die von Jürgen Habermas als „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ definierte Entwicklung erwies sich also für Frauen und Männer als eine je andere.15 Ebenso stand die in dieser Phase vorgenommene normative Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit entlang der Geschlechterdifferenz im Widerspruch zu Praktiken von Frauen und Männern, die sich der liberalen Bewegung zugehörig fühlten. Zudem entsprach die auf diskursiver Ebene vollzogene Bestimmung von Raum als öffentlich bzw. privat nicht den Erfahrungen der Überlagerungen und Verknüpfungen von Innen und Außen im ‚offenen Haus‘. Vielmehr war die Entwicklung von Ambivalenzen durchzogen. Auch wenn sich die Zielsetzungen von Frauen und Männern nicht gänzlich deckten, setzte der von gemeinsamen Werten bestimmte Erwartungshorizont bei Männern wie Frauen emotionale Energien frei. Als besonders wirkmächtig erwies sich in Europa die Verknüpfung von Befreiungsdiskurs und Fortschrittsglaube. Für diesen Diskurs war im deutschsprachigen Bildungsbürgertum das fortwährende Streben nach persönlicher Vervollkommnung konstitutiv.16 Mit dem Verweis auf ihre im Haus verankerten, aber nach außen wirksamen sozialen Verpflichtungen eröffneten sich
15 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990 [1976]. 16 Elisabeth Joris, Liberal und eigensinnig. Die Pädagogin Josephine Stadlin – die Homöopathie Emilie Paravicini-Blumer. Zürich 2011, 438.
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Frauen neue Möglichkeiten zur Partizipation. Zugleich verfestigten sich geschlechterdifferenzierende Zuschreibungen, die aber weiterhin je nach Kontext modelliert werden konnten, um weitergehende, auch egalitäre Ansprüche zu legitimieren. Dabei wirkte das Reden über das Recht auf Bildung und Ausbildung dynamisierend.
2 Bildung und Ausbildung im Haus Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stieg die Nachfrage im Adel und im Bürgertum – selbst kleinerer Städte – nach einer umfassenderen Bildung der Töchter durch Unterricht, sei es in einem Privatinstitut oder zu Hause. Diese Nachfrage entsprach einerseits den Ansprüchen einer auch von Frauen geprägten geselligen Gesprächskultur, andererseits dem sich entwickelnden Leitbild einer von Respekt und gegenseitigem Verständnis getragenen Ehe sowie den sich im Gefolge von Rousseau und Pestalozzi verbreitenden pädagogischen Vorstellungen. Waren zuerst vor allem Französinnen als Lehrerinnen in Privathäusern und -instituten gefragt, wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts nun zunehmend Deutsche, aber auch Schweizerinnen über persönliche Beziehungen und Referenzen von der Leitung privater Institute nach ganz Europa – von Großbritannien über Frankreich, Spanien, Italien, Österreich-Ungarn, Rumänien, Russland bis nach Skandinavien – als Erzieherinnen und Gouvernanten vermittelt. Zur Ausbildung dienten unter anderem das 1803 gegründete Königliche ‚Seminarium für Erzieherinnen‘ und die 1811 eröffnete ‚Luisenstiftung‘ in Berlin, später die Privatinstitute von Rosette Niederer-Kasthofer, von Josephine Stadlin und ihrer Tante Lisette Ruepp-Uttinger in der Schweiz sowie die Privatschule von Doris Lütkens bei Hamburg oder die städtische ‚Hannoveranische Lehrerinnen-Bildungsanstalt‘ unter Hermann Dieckmann.17 Die eminent wichtige Funktion der in transnationale Netzwerke eingebundenen ehemaligen Lehrerinnen oder Privatschulleiterinnen bei der europaweiten Stellenvermittlung in Privatinstituten und Privathaushalten – von den direkt Involvierten als mütterliche Verantwortung gedeutet – ist Ausdruck der fehlenden Institutionalisierung der höheren Mädchenbildung. Denn die meisten Staaten erachteten die Mädchenbildung weiterhin, vielfach sogar bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als eine Angelegenheit von Privaten. Private Organisationsformen behielten daher in Europa zahlenmäßig den Vorrang vor öffentlichen Einrichtungen, was bedeutete, dass Mädchen über eine geschlechtsspezifische schulische Qualifikation verfügten, die sie wiederum dem Bereich des Hauses zuordnete.
17 Vgl. Irene Hardach-Pinke, Erziehung und Unterricht durch Gouvernanten, in: Kleinau/Opitz (Hrsg.), Mädchen- und Frauenbildung (wie Anm. 12), 409–427; Joris, Liberal und eigensinnig (wie Anm. 16), 205–218; Karin Ehrich, Karrieren von Lehrerinnen 1870–1930, in: Elke Kleinau (Hrsg.), Frauen in pädagogischen Berufen, Bd. 1: Auf dem Weg zur Professionalisierung. Bad Heilbrunn 1996, 76–104, hier 87–90.
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Daher erwies sich im Kontext der liberalen Bildungsoffensive zwar die Lehrtätigkeit sowohl für Frauen als auch für Männer als mögliches Erwerbsfeld, doch unter je anderen Prämissen. Parallel zum männlich kodierten Professionalisierungsprozess war die höhere Schulbildung mit Vorstellungen einer auf Spezialisierung und Leistung basierenden männlichen Berufsorientierung verknüpft. Für die weibliche Jugend wurde eine ‚höhere‘ Bildung nur als eine allgemeine, auf das Haus im Sinne der Familie und Hauswirtschaft bezogene konzipiert. War bereits die weibliche Lehrtätigkeit auf Ebene der Grundstufe wegen der vielerorts markierten starken Opposition der Volksschullehrer umstritten und prekär, so war eine Lehrtätigkeit auf höherer Schulstufe für Frauen fast gänzlich ausgeschlossen. Für die auf einen Erwerb angewiesenen Bildungsbürgerinnen war eine Tätigkeit als Erzieherin oder die Führung eines Instituts im 19. Jahrhundert eine Alternative zur Anstellung im öffentlichen Schuldienst. In den privaten Mädcheninstituten unterrichteten vorzugsweise Lehrerinnen. Die formelle Leitung besetzten oft Frauen, die als Eigentümerinnen das unternehmerische Risiko trugen. Selbst wenn ein Privatinstitut formell unter der Leitung eines Mannes stand, waren in der Regel dessen Ehefrau und Töchter für die Mädchen zuständig. Gleichzeitig fungierten diese privaten Mädcheninstitute je nach Bedarf oft als Reservoir für den Lehrerinnenbedarf im öffentlichen Schulwesen, so beispielsweise in den meisten deutschen Staaten und Schweizer Kantonen. Denn im Gegensatz zu den staatlich reglementierten einheitlichen Ausbildungsgängen für das männliche Geschlecht sah das Lehrerinnenbildungsmodell fast überall vielfältige Institutionen vor.18 Es waren vorwiegend Privatschulen, die angehenden Lehrerinnen und Erzieherinnen Möglichkeiten zur Unterrichtspraxis boten.19 Die Gründung oder Leitung eines solchen Privatinstituts ermöglichte initiativen Bildungsbürgerinnen die selbständige und manchmal auch innovative Gestaltung der Mädchen- und Lehrerinnenbildung. Sofern sie sich der liberalen Bewegung zuge-
18 Zu Deutschland verweise ich insbes. auf die Veröffentlichungen von Elke Kleinau und auf die Untersuchung von Gudrun Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf. Einblicke in das Leben von Autobiographinnen aus dem 19. Jahrhundert. Wien 2000; zur Schweiz siehe Claudia Crotti, Die Professionalisierung der Weiblichkeit für das öffentliche Bildungssystem. Lehrerinnenbildung in der Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Honegger/Liebig/Wecker (Hrsg.), Wissen (wie Anm. 4), 229–248, hier 229–232); Pietro Scandalo/Franziska Rogger/Jürg Gerber, Lehrerinnen und Lehrer zwischen Schule, Stand und Staat. Die Geschichte der Bernischen Lehrerinnen- und Lehrerverein (BLV). Jubiläumsband 100 Jahre BLV. Münsingen 1992, 14–40; Sarah Brian/Andreas Steigmeier, ‚Der Lehrer sei arm, aber brav‘. Eine kleine Geschichte der aargauischen Lehrerschaft am Beispiel ihrer Kantonalkonferenz. Baden 2000, 12–27; Ursula Renold, ‚Wo das Männliche anfängt, da hört das Weibliche auf‘! Frauenberufsbildungsdiskussionen im Spiegel der sozioökonomischen Entwicklung (1860–1930). Brunegg 1998, Kap. 2, 3; Alexandra Bloch, ‚Hauptsache Sturz der Burg von Küsnacht‘. Gesetzesvorlagen und Diskurse um eine akademische Volksschullehrerbildung im Kanton Zürich zwischen 1865 und 1938, in: Lucien Criblez/Rita Hofstetter (Hrsg.), Die Ausbildung von Primarlehrerinnen. Geschichte und aktuelle Reformen. Bern 2000, 239–266. 19 Wedel, Lehren (wie Anm. 18), 39–41.
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hörig erklärten, verstanden sie sich trotz des Ausschlusses von den Institutionen der Entscheidungsmacht als öffentlich agierende Subjekte. Sie positionierten sich politisch wie auch beruflich im Öffentlichen, obwohl sie sich diskursiv auf das Häusliche bezogen. Denn ihre bildungsspezifischen Vorstellungen verlangten nach einer rational wie auch moralisch legitimierten Begründung, um dem doppelten Charakter der Frau als Mensch mit gleichen Rechten und mit besonderen weiblichen Aufgaben zu entsprechen.20 Ein zentraler Referenzpunkt war dabei Johann Heinrich Pestalozzi, der die Bindung zwischen Kind und Mutter als Basis für alle anderen Bindungen – zur Gemeinschaft, zur Nation und zur Religion – definiert hatte.21 Darauf bezogen sich vorwiegend im deutschsprachigen Raum die Pädagoginnen: von Caroline Rudolphi und Betty Gleim über Rosette Niederer-Kasthofer bis Josephine Stadlin. Henriette Breymann, die sich gegen eine von ihrem Vater vorgesehene Konvenienzehe auflehnte, entwickelte in Anlehnung an Friedrich Fröbel und Heinrich Pestalozzi das Konzept der ‚Geistigen Mütterlichkeit‘. Diese durchdringe das Leben in all seinen Formen und sei nicht an die biologische Mutterschaft gebunden.22 Eine solche auf Geschlechterdifferenz basierende Argumentation kaschierte die für viele Frauen zentralen Beweggründe für die Eröffnung einer Privatschule. Das erlaubte ihnen über die eigene Erwerbstätigkeit hinaus, weitere Angehörige zu beschäftigen. So erwies sich im 19. Jahrhundert die im Hause erworbene Bildung als eine substantielle Ressource von Frauen und Familien aus dem Bürgertum ohne gesichertes Einkommen. Es sind denn auch vor allem Frauen aus vermögenslosen oder verschuldeten bürgerlichen Familien mit breiter Bildung, die allein oder gemeinsam mit ihren Töchtern oder weiblichen Verwandten die Verschmelzung ihres privaten Haushalts mit einer von ihnen gegründeten Privatschule vollzogen.23 1785 eröffnete Caroline Rudolphi, deren Familie wegen des frühen Todes des Vaters in finanzielle Not geraten war, in Hamm bei Hamburg ein bewusst als erweiterte Familie konzipiertes Erziehungsinstitut für Töchter aus dem deutschen Bildungsbürgertum und Adel. Betty Gleim, die nach dem ebenfalls frühen Tod ihres Vaters selbständig für sich aufkommen musste, leitete von 1806 bis 1812 eine von ihr geschaffene höhere Lehranstalt für Mädchen in Bremen und gemeinsam mit ihrer Freundin Sophie Lasius erneut von 1819 bis zu ihrem Tode 1827.24 Tinette Homberg, die neben Gleim als bedeutende Akteurin im Bereich der Ausbildung von Lehrerin-
20 Joris, Liberal und eigensinnig (wie Anm. 16), 178. 21 Ann Taylor Allen, ‚Geistige Mütterlichkeit‘ als Bildungsprinzip. Die Kindergartenbewegung 1840– 1870, in: Kleinau/Opitz (Hrsg.), Mädchen- und Frauenbildung (wie Anm. 12), Bd. 2, 18–34. 22 Ebd., 27–30. 23 Ehrich, Karriere von Lehrerinnen (wie Anm. 17), 83–87. 24 Vgl. Elke Kleinau, Höhere Töchterschulen um 1800, in: dies./Opitz (Hrsg.), Mädchen- und Frauenbildung (wie Anm. 12), 393–408; dies., Pädagoginnen der Aufklärung und ihre Bildungstheorien, in: Claudia Opitz/Ulrike Weckel/dies. (Hrsg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Münster 2000, 309–338.
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nen gilt, wurde nach dem 1812 erfolgten Bankrott ihres Vaters, eines Tuchfabrikanten, über die Praxis in Privathaushalten und Privatinstituten zur Gründerin einer eigenen Erziehungsanstalt in Krefeld. Doris Lütkens geborene von Cossel begann erst nach der finanziell bedingten Schließung der privaten Knabenschule ihres Ehemanns mit Malunterricht für Mädchen in ihrem Haus. Darauf aufbauend eröffnete sie im zeitlichen Kontext des Vormärz ein Mädcheninstitut, das sie sukzessive erweiterte und dem sie 1848 den ersten Kindergarten Hamburgs angliederte. In dem von ihr geplanten Lehrerinnenseminar sollten Frauen einen Beruf erlernen, ohne von ihrem „weiblichen Beruf“ entfremdet zu werden.25 Den Weg der materiellen Absicherung der Familie wählte in der Schweiz die verwitwete Paulina Stadlin-Uttinger gemeinsam mit ihrer Tochter Josephine, die dabei äußerst zielgerichtet agierte. Auch ihre Schwester bzw. Tante, die Arztgattin und Pestalozzi-Schülerin Elise Ruepp-Uttinger, nutzte nach dem Tod ihres Mannes das im ländlichen Umfeld gelegene Wohnhaus als Privatinstitut. Hier bereitete sie junge Frauen aus bildungsbürgerlichen Kreisen auf ihre Aufgaben im Hause vor und bildete gleichzeitig einzelne jüngere Frauen auf Antrag der Regierung des Kantons Aargau zu Lehrerinnen aus. Sie zählte dabei auf die Unterstützung ihrer Töchter, die sie gezielt auf diese Aufgabe hin hatte ausbilden lassen. Für ihre Schülerinnen war sie das ‚Mutterli‘, eine von Pestalozzi abgeleitete Bezeichnung, der über den Schülerkreis hinaus von Bekannten ‚Vater Pestalozzi‘ gerufen wurde. Auch Ruepp-Uttingers Nichte Josephine Stadlin verstand sich als Mutter ihrer Schülerinnen und ließ sich an ihrem Geburts- und Namenstag, dem 19. März, als solche inthronisieren und feiern. Einen Brief an eine Schülerin begann sie in der Regel mit „Mein liebes Kind“. Wie ihre Tante zählte auch sie bei ihrer selbständigen Tätigkeit als Lehrerin, Instituts- und Seminarleiterin immer auf die Unterstützung von Familienangehörigen. In dem von ihr eröffneten Institut in Olsberg und anschließend in Zürich beschäftigte und beherbergte sie neben der Mutter über längere oder kürzere Zeit eine oder mehrere Schwestern, ebenso während Jahren einen Bruder, bevor dieser mit ihrer Unterstützung als Mathematiker an die Universität berufen wurde. Sie führte das Institut als Familienbetrieb und Familiengemeinschaft. Als Kontrahentin der liberalen Institutsgründerinnen Stadlin und Ruepp-Uttinger eröffnete im selben Zeitraum in Uster die Pfarrfrau Magdalena Werdmüller-Esslinger zusammen mit ihren unverheirateten Töchtern in ihrem Privathaus ein Institut für Mädchen aus pietistischem Milieu. Die materielle Existenz der Familie nach Ende der Amtszeit des Pfarrers mit Unterrichten abzusichern, war eine in ganz Europa weit verbreitete Praxis in protestantischen Pfarrfamilien. In England planten beispielsweise
25 Christine Mayer, Macht in Frauenhand. Fallbeispiele zur Berufsbildung im 19. Jahrhundert, in: Martina Löw (Hrsg.), Geschlecht und Macht. Analysen zum Spannungsfeld von Arbeit, Bildung und Familie. Wiesbaden 2009, 193–213, hier 201–203; Manfred Berger, Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Frankfurt am Main 1995, 55–59.
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die Schwestern Brontë als unverheiratete Pfarrtöchter die gemeinsame Führung eines Mädcheninstituts. Im deutschsprachigen Raum waren von Frauen formulierte Befreiungsideen im Gegensatz zu England und Frankreich – erinnert sei diesbezüglich an Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges, an die Frühsozialistin Flora Tristan und die linken 1848er Feministinnen um Jeanne Deroin in Paris – nur denkbar in Form von Bildungstheorien für Mädchen, die an die Erziehungsverantwortung der Frauen im Haus anknüpften.26 Laut Gudrun Wedel gingen selbst die ‚emanzipierten‘ Vormärz autorinnen, die in programmatischen Schriften weitreichende Forderungen nach Arbeitsmöglichkeiten erhoben, nicht über die akzeptierten Bilder von Weiblichkeit hinaus.27 Auch sie sahen Handlungsmöglichkeiten für Frauen vorwiegend im sozialen und pädagogischen Feld. Als entscheidend erwiesen sich dabei die religiöse Oppositionsbewegung des Deutschkatholizismus um den exkommunizierten Priester Johannes Ronge sowie die freien protestantischen Gemeinden, die in starkem Maße von verheirateten Frauen verschiedener sozialer Herkunft geprägt waren. Viele von ihnen lebten in konfessioneller ‚Mischehe‘. Für sie war Frauenemanzipation ebenso sehr eine Menschheitsfrage.28 Ihr Entwurf einer neuen ‚befreiten‘ Weiblichkeit entsprach weitgehend den Emanzipationsauffassungen von Louise Otto-Peters, die in ihrer „Frauen-Zeitung“ zur Gründung von Frauenvereinen aufrief. Deren doppelte Zielsetzung lag in der humanitären Hilfe und der geistigen Selbständigkeit.29 Die Ausweitung bestehender und die Eröffnung neuer Erwerbsmöglichkeiten waren dieser Zielsetzung inhärent. Die im Sinne der christlich-jüdischen Verständigung gegründeten überkonfessionellen Frauenvereine propagierten im Gefolge von Friedrich Fröbel insbesondere die Verbreitung von Kindergärten, so auch der von Johanna Goldschmidt-Schwabe und Charlotte Paulsen 1849 initiierte ‚Frauenverein zur Unterstützung der Armenpflege‘, der eine Kinder-Bewahranstalt eröffnete. Zusammen mit Doris Lütkens und der verwitweten Louise Fröbel-Levin avancierte Johanna Goldschmidt zur zentralen Figur in der Entwicklung der Ausbildung von Kindergärtnerinnen in Hamburg. Auch sie hatte sich über Selbststudium dazu befähigt und leitete die von ihr mitbegründete Ausbildungsstätte, die sich unter dem Namen ‚Fröbelseminar‘ zur Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik entwickeln sollte.30 Ebenfalls in Hamburg verfolgte der aus der religiösen Dissidenzbewegung heraus entstandene ‚Allgemeine Bildungs-
26 Kleinau, Pädagoginnen der Aufklärung (wie Anm. 24), 330. 27 Wedel, Lehren (wie Anm. 18), 90 f. 28 Vgl. Sylvia Paletschek, Frauen und Säkularisierung Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel der religiösen Oppositionsbewegung des Deutschkatholizismus und der freien Gemeinden, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1993, 300–317. 29 Louise Otto-Peters, Frauen-Zeitung 1, 1849, 42–45, 51–54. 30 Vgl. Mayer, Macht in Frauenhand (wie Anm. 25), 195–200; Berger, Frauen in der Geschichte (wie Anm. 25), 40–44, 55–59.
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verein deutscher Frauen‘ das ehrgeizige Projekt einer ‚Hochschule für das weibliche Geschlecht‘.31 Auch diese war vorwiegend auf die Ausbildung von Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen ausgerichtet. Schon kurz nach der endgültigen Niederlage der 1848er Revolution musste sie jedoch unter dem Druck von Repression und finanziellen Problemen schließen, ein Schicksal, das sie mit dem Seminarprojekt von Josephine Stadlin in Zürich teilte. Für Jahre stagnierte die Bewegung, bis Frauen mit neuem Selbstbewusstsein, statt zur Gründung von Orten der Mädchenbildung aufzurufen, die Öffnung der Universitäten für das weibliche Geschlecht forderten.
3 Therapeutische Praxis zwischen Fürsorge und Profession Als sich die rund sechzigjährige Emilie Paravicini-Blumer in den späten 1860er Jahren der Homöopathie zuwandte, studierten bereits die ersten Frauen an der Universität Zürich Medizin. Allerdings hatte sich dieses Studium im Laufe des Jahrhunderts fundamental in Richtung Naturwissenschaften verändert. Die akademisch ausgebildeten Schulmediziner verstanden sich nun als Teil einer transnational geprägten scientific community. Diese lehnte mehrheitlich die Homöopathie und die Naturheilmethoden als unwissenschaftlich ab. Die therapeutische Praxis von Emilie Paravicini-Blumer brachte ihr daher eine Anklage wegen Kurpfuscherei von Seiten der organisierten Ärzteschaft des Kantons Glarus ein, die von Fridolin Schuler präsidiert wurde. Sie wurde zu einer Buße verurteilt, was zu lokalen Auseinandersetzungen um das therapeutische Monopol der Ärzte führte. Diese endeten mit der völligen Freigabe der medizinischen Praxis im Kanton Glarus. Der höchst verärgerte Schuler übergab seine Praxis kurz darauf einem Neffen. Als erster eidgenössischer Fabrikdirektor avancierte er später dank intensiver Forschungstätigkeit zu einem der prominentesten Sozialmediziner und Hygieniker in Europa. Am Status der an Universitäten ausgebildeten Ärzte zeigt sich, wie diese als verbandsmäßig organisierte Gruppe über einen privilegierten Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern verfügten und das Monopol auf medizinische Therapie sowie die Freiheit von Fremdkontrolle erreichten. Fridolin Schulers Ausbildung und Karriere steht paradigmatisch für diesen Professionalisierungsprozess. 1832 als Sohn eines Pfarrers im Kanton Glarus geboren, studierte er Medizin an der Universität Zürich, wo unter anderem der deutsche Physiologe und Ernährungswissenschaftler Carl Ludwig lehrte. Dieser empfahl ihn seinen Kollegen an der Universität Würzburg, so auch dem
31 Vgl. Mayer, Macht in Frauenhand (wie Anm. 25), 194–198; Elke Kleinau, Ein (hochschul-)praktischer Versuch. Die ‚Hochschule für das weibliche Geschlecht‘ in Hamburg, in: dies./Opitz (Hrsg.), Mädchen- und Frauenbildung (wie Anm. 12), 66–82.
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bekannten Zellularpathologen Rudolf Virchow. In Würzburg pflegte Schuler zudem freundschaftliche Beziehungen zu einer Reihe hervorragender Medizinstudenten, die später als naturwissenschaftlich orientierte Professoren Hochschulkarriere machten und mit ihm in engem Kontakt bleiben sollten. Er ergänzte seine Ausbildung an den Universitäten Wien und Prag sowie in Kliniken von Paris, dem Mekka der naturwissenschaftlich fundierten Medizin. So fand Schuler über das Studium Zutritt zur europäischen scientific community, bevor er sich definitiv in Mollis, der Wohngemeinde seiner späteren Kontrahentin, niederließ. Im Gegensatz zu dieser akademischen Laufbahn hatte sich Emilie ParaviciniBlumer aus persönlicher Sorge um die Folgen der chronischen Knieentzündung ihrer Schwester Agatha der Homöopathie zugewandt. Ihre Tätigkeit basierte auf häuslicher verwandtschaftlicher Zuständigkeit, bevor sie ihr Haus Patientinnen und Patienten ‚öffnete‘. Frei vom Zwang zum Erwerb eignete sie sich ihre Kenntnisse autodidaktisch über Lektüre, Unterweisung durch ihren medizinischen Betreuer und Lehrer Baron von Heyer sowie durch Beobachtung an. Ausgehend von der Selbstmedikation dehnte sie ihre medizinische Praxis auf Verwandte und die sie aufsuchenden Kranken und Bedürftigen aus. Im dialogischen Austausch mit diesen erfasste Emilie Paravicini-Blumer nicht nur die Krankheitssymptome, sondern eignete sich über kommunikativ geteilte Erfahrungen prozesshaft Wissen an. Obwohl sie ihre Tätigkeit demnach als eine therapeutische verstand, verlangte sie von ihren Patientinnen und Patienten keine Entschädigung. Da sie vor allem von Armen konsultiert wurde, die sie unentgeltlich behandelte und zusätzlich mit Spenden aus der Behandlung von Wohlhabenden unterstützte, deutete sie selber ihre Praxis als uneigennützige Hilfe. Sie band sich so in die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung ein, die zumindest auf diskursiver Ebene Frauen dem Haus und privater Wohltätigkeit zuwies. Erst nach dem Beschluss zur Freigabe der medizinischen Tätigkeit im Kanton Glarus interpretierte Emilie Paravicini-Blumer die ihr freiwillig gewährten Entschädigungen als Erwerbseinkommen.32 Die relevante Trennlinie der Profession verlief auch im therapeutischen Bereich über die Konstruktion von Geschlechterdifferenz: zwischen dem selbständig agierenden Arzt einerseits und den pflegerischen Berufen als sog. Semi- oder vermittelnden Professionen sowie der privaten Pflege – beides Bereiche, die vornehmlich Frauen zugeordnet wurden – andererseits. Fließend waren die Grenzen aber auch deshalb, weil der Ausschluss der Frauen von der therapeutischen Praxis bzw. deren Zulassung zur medizinischen Tätigkeit in Europa sehr unterschiedlich verlief. So waren Homöopathie und Naturheilkunde in Frankreich und Großbritannien weniger umstritten als in der Schweiz, die ihrerseits als Pionierin des universitären Frauenstudiums Geschichte schrieb. Im Deutschen Reich zeigte sich der sonst als fortschrittlicher und sozial engagierter Arzt bekannte Pathologe Rudolf Virchow als äußerst vehementer
32 Vgl. Joris, Liberal und eigensinnig (wie Anm. 16), 331–405, 419–431.
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Gegner der Homöopathie und ebenso gehässiger Gegner des medizinischen Studiums von Frauen. Zwar wurden alternative Heilpraktiken nicht verboten, doch zog ein Gesetzesbeschluss eine klare Grenze zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin. Frauen blieben im Deutschen Reich ebenso wie in Österreich-Ungarn explizit vom Studium ausgeschlossen.33 In anderen Staaten war dies – wie beispielsweise in der Schweiz und in Frankreich – nur implizit der Fall. Denn bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Frauen fast überall in Europa keinen Zugang zu Gymnasien. In Frankreich gab es zwar im Zuge des antiklerikalen Kurses der Dritten Republik seit 1880 öffentliche lycées für Mädchen, doch war diesen der Eintritt in die Grandes Écoles verwehrt, die Universitäten aber standen ihnen offen. In Österreich-Ungarn akzeptierten Fakultäten erst ab 1900 sukzessive auch Studentinnen. In Großbritannien verweigerten noch im 20. Jahrhundert die bekannten Universitäten wie Oxford und Cambridge den Frauen die Graduierung.34 In Zürich waren zwar ab Mitte der 1860er Jahre Frauen zum Studium zugelassen und bald darauf auch in Bern und Genf. Die dazu notwendigen Vorkenntnisse mussten sie sich allerdings im Haus eigenständig oder mit männlicher Unterstützung erarbeiten.35 Wie ambivalent die Situation in der Schweiz effektiv war, zeigt sich darin, dass Marie (Heim-)Vögtli als erste Schweizerin in Zürich Medizin studierte, jedoch kaum Chancen auf eine Spezialisierung in Geburtshilfe hatte, weil Frauen keine Ausbildungsstellen in Spitälern offenstanden. So dissertierte sie an der Frauenklinik in Dresden, wo dies möglich war, während andererseits die deutschen Universitäten noch länger keine Frauen aufnahmen. Deshalb studierten Franziska Tiburtius und Emilie Lehmus in Zürich, wo sie zwar dissertierten, ihnen aber der Titel ‚Arzt‘ wegen fehlender deutscher Approbation verweigert wurde. Sie galten lediglich als Heilpraktikerinnen. Verworren zeigte sich auch die Situation in England. Elizabeth Garrett schloss als erste Frau ein Medizinstudium an einer Hochschule ab, jedoch nur über Umwege. Weil sie von allen Colleges und den Universitäten Oxford, Cambridge und der ‚University of London‘ abgelehnt worden war, ließ sie sich vorerst als Apothekerin zertifizieren und eröffnete ein Krankenhaus mit angegliederter Apotheke. Gemeinsam mit Florence Nightingale und Sophia Jex-Blake bildete sie an der ‚London School of Medicine for Women‘, dem später ein medizinisches College beigefügt wurde, Krankenschwestern und Ärztinnen aus. Ein Studienabschluss war aber in England nicht möglich, daher setzte sie ihr eigenes Studium an der medizinischen Fakultät der Sorbonne in Paris
33 Vgl. Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens. Göttingen 1985. 34 Vgl. James C. Albisetti, Compromise and Containment. The Prussian Reforms of 1908 in Comparative Perspective, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergesch. 53/54, 2008, 8–17. 35 Vgl. Jeannette Voirol, Die ersten Schweizer Ärztinnen und ihr Stand in der Profession, in: Honegger/Liebig/Wecker (Hrsg.), Wissen (wie Anm. 4), 41–63.
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fort, die dank der Intervention von Kaiserin Eugénie Frauen zum Studium der Medizin zuließ. 1872 wurde die ‚School of Medicine for Women‘ dann offiziell als medizinische Schule von universitärem Rang anerkannt. Generell wurden auch in England Frauen bezüglich therapeutischer Praxis auf das Häusliche verwiesen, nicht zuletzt wegen der Popularität des Bildes von Florence Nightingale als die verwundete Soldaten fern der Heimat mütterlich umsorgende Frau. Garrett orientierte sich ihrerseits an Elizabeth Blackwell, die bereits als Kind in die USA ausgewandert war, ihr Medizinstudium in New York und Philadelphia absolvierte und sich zusätzlich in der Pariser ‚Maternité‘ als Hebamme ausbilden ließ. Blackwell praktizierte im eigenen Haus in New York, das als Ambulatorium zum Kern ihres 1857 gegründeten Frauen- und Kinderspitals wurde, das sie um einen universitären Ausbildungsgang für Frauen erweiterte: das ‚Women’s Medical College of the New York Infirmary‘. Am Modell der engen Verbindung von theoretischer und klinischer Ausbildung orientierten sich auch Marie Heim-Vögtlin und Anna Heer, die zusammen mit dem Gemeinnützigen Frauenverein die Schweizerische Pflegerinnenschule mit angeschlossenem Spital in Zürich initiierten, ebenso Franziska Tiburtius, Gründerin der ‚Chirurgische Klinik weiblicher Ärzte‘ in Berlin.36
4 Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Frauen, insbesondere aus dem kulturell tonangebenden Bürgertum, im 19. Jahrhundert trotz der postulierten Zuordnung zum ‚Haus‘, das als ein nach außen hin geschlossener Raum verstanden wurde, über ihre Tätigkeiten und Stellungsnahmen in dem als öffentlich verstandenen Bereich des Politischen zu intervenieren wussten. Nicht über institutionelle Anerkennung fachspezifischer Fähigkeiten gelang es ihnen, die Hürden zu einer wissensbasierten Berufstätigkeit zu überspringen. Sie ermächtigten sich dazu vielmehr durch die Verschmelzung des angeeigneten theoretischen Wissens mit praktischem Wissen, das in soziale Bezüglichkeiten eingelagert war. Das Wirken der Frauen im Haus wurde als ein Wirken zum allgemeinen Wohl des Volkes gedeutet: Frauen erzogen Söhne oder männliche Zöglinge zu zukünftigen Staatsbürgern, Frauen pflegten und umsorgten Arme, Kranke und Gebärende. Ausgehend von im Haus verankerten Zuständigkeiten im Bereich der Erziehung und Pflege
36 Vgl. Elisabeth Joris, Elizabeth Blackwell, Ärztin, 1821–1910, in: Olympe. Feministische Arbeitsblätter zur Politik 10, 1999, 8–10; Sabina Roth, Arbeit am Pflegewissen. Ausbildung, entwickeln und forschen an der Krankenpflegeschule Zürich. Zürich 2010, 26; Caroline Bühler, Pflegi. Ein Spital für Frauen – von Frauen geschaffen und geprägt. Zürich 2007; Ulrich Knellwolf, Lebenshäuser. Vom Krankenasyl zum Sozialunternehmen – 150 Jahre Diakoniewerk Neumünster. Zürich 2007; Anna-Paula Kruse, Krankenpflegeausbildung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1987.
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forderten zuerst einzelne Frauen, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dann auch die neuen Frauenorganisationen überall in Europa die Professionalisierung ihrer Tätigkeitsbereiche bzw. deren Anerkennung als Beruf. Doch die Legitimierung des eigenen beruflichen Tuns durch Rekurs auf im Hause verankerte Geschlechterzuschreibungen hatte ihre Tücken: So erregte Josephine Stadlin mit ihrem selbstbewussten Auftreten Anstoß, da ihre Gestik und ihr Reden dem Bild der von ihr propagierten Mütterlichkeit zuwiderliefen und mit dem Schrecken erregenden Wort ‚Emancipation‘ verknüpft wurde. Auch die ‚Hochschule für das weibliche Geschlecht‘ scheiterte zumindest teilweise an den normativen Vorstellungen weiblicher Sittlichkeit, weil die Lebensführung der Mitinitiantin Bertha Trauns-Meyer für bürgerliche Maßstäbe als anrüchig galt. Sie verließ als sechsfache Mutter ihren Mann und lebte unverheiratet mit dem exkommunizierten Priester Ronge zusammen.37 Ebenso begegnete die Zürcher Ärztin Caroline Farner in bürgerlichen Kreisen einem gewissen Misstrauen, weil sie im Gegensatz zu den beiden anderen Pionierinnen des Medizinstudiums in Zürich, Marie Heim-Vögtli und Anna Heer, nicht vorwiegend Frauen und Kinder behandelte, sondern in ihrer Praxis auch Männer als Patienten empfing und sich damit dem verbreiteten Berufsbild der ‚mütterlichen‘ Ärztin widersetzte. Bei der Herausbildung des pädagogischen Berufsbildes führte dessen enge Verbindung zum ‚natürlichen‘ Beruf der Frau dazu, dass sich die für die Professionalisierung notwendige berufliche Spezifizierung und Spezialisierung nur schwer durchsetzen konnten.38 Nicht zuletzt deshalb war das höhere weibliche Bildungswesen lange weitgehend häuslich-privat organisiert. Die Situation der Lehrerinnen und Erzieherinnen blieb eine prekäre, die Anstellung unsicher, die Grenze zwischen Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit unklar.39 Dennoch erwies sich das ‚Haus‘ als ein kommunikativer Raum mit je nach Kontext wechselnden Bedeutungen. Frauen konnten sich das ‚offene Haus‘ seiner Vieldeutigkeit wegen für ihre Ziele zu eigen machen. Es zeigte sich als ein Raum, der sich über die traditionelle familiengewerblich organisierte Erwerbstätigkeit hinaus dem beruflichen Tun von Frauen aus dem Bürgertum öffnete. So konterkarierte das ‚offene Haus‘ über die Legitimierung weiblicher Erwerbstätigkeit von Bildungsbürgerinnen die bürgerliche Geschlechterordnung und damit auch die klare Trennung von Außen und Innen, Kernelemente eben dieser Geschlechterordnung. Es ist das durch konkretes Tun erzeugte Paradox, das die von Karin Hausen auf der normativen Diskursebene analysierte Dissoziation von Öffentlichkeit und Privatheit entlang der Geschlechtergrenze unterlief.40
37 Kleinau, Ein (hochschul-)praktischer Versuch (wie Anm. 31), 81. 38 Mayer, Kategorie ‚Beruf‘ (wie Anm. 4), 32. 39 Vgl. Ehrich, Karrieren von Lehrerinnen (wie Anm. 17), 76–104; Wedel, Lehren (wie Anm. 18), 183– 187, 203–208. 40 Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtercharaktere‘ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393.
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Mitwohnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert 1 Vom ‚offenen Haus‘ zur ‚halb-offenen Familie‘ Mit dem rasanten Wachstum der Städte sank nicht nur für unterbürgerliche Schichten, sondern auch für weite Teile der Mittelschichten die Möglichkeit, ein eigenes, von nur einer Familie bewohntes Haus zu erwerben. In Berlin etwa lag die Eigentümerquote in den 1890er Jahren bei 0,5 %.1 Die Mehrheit der Menschen lebte in Mietwohnungen, die vielfach nicht ausschließlich von den Mitgliedern einer Familie bewohnt wurden. Für die meisten der in die Städte strömenden Lohnarbeiter waren die dort vorgefundenen Wohnungen zu teuer. Sie waren deshalb oft schon vom Eigentümer in kleinere Einheiten zerteilt worden, die dann wiederum in Teilen untervermietet wurden.2 Parallel zur Auflösung der Wirtschaft des „Hauses“3 der Frühen Neuzeit bildeten sich neue Formen „halb-offener Familien“4. Diese konnten Mehrgenerationenhaushalte sein oder aus Kernfamilien mit einzelnen Seitenverwandten oder nicht verwandten Personen wie Kost- und Schlafgängern bzw. Bettgehern, Untermieterinnen und -mietern bzw. Aftermietern5, Chambregarnisten, Studenten, Quartiergängern, Soldaten oder Kost- und Pflegekindern bestehen. Die Übergänge zwischen Nähe und Distanz im Verhältnis der zusammen wohnenden Menschen waren vielfach fließend.6 Diese Ambivalenz gilt für Arbeiter- und Handwerkerhaushalte wie auch für bürgerliche Haushalte des 19. Jahrhunderts, was im Hinblick auf eine Systematisierung
1 Clemens Wischermann, ‚Familiengerechtes Wohnen‘. Anspruch und Wirklichkeit in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Homo habitans. Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit. Münster 1985, 169–198, hier 172. 2 Ebd., 174. 3 Vgl. kritisch dazu insbesondere Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20, 1994, 88–98. Vgl. zur Kritik an Brunner und zum Konzept des ‚offenen Hauses‘ Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 4 Franz Josef Brüggemeier/Lutz Niethammer, Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie. Aspekte der Arbeiterwohnungsfrage im Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg, in: Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hrsg.), Fabrik – Familie – Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte im Industriezeitalter. Wuppertal 1978, 135–175, hier 153. 5 Nach Wischermann, ‚Familiengerechtes Wohnen‘ (wie Anm. 1), 191, Anm. 25: „Untermieter von Leerzimmern“, oft alte Menschen, oft Witwen, die noch Einrichtungsgegenstände, aber nicht ausreichend Einkünfte für eine eigene Wohnung hatten, vgl. ausführlicher Clemens Wischermann, Mythen, Macht und Mängel. Der deutsche Wohnungsmarkt im Urbanisierungsprozeß, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), 1800–1918 – Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, 333–502, hier 493. 6 Josef Ehmer, Wohnen ohne eigene Wohnung. Zur sozialen Stellung von Untermietern und Bettgehern, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft. Wuppertal 1979, 132–150, hier 133.
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Schwierigkeiten mit sich bringt. Diese soll im Folgenden dennoch versucht werden, indem in einem ersten Teil für die städtischen Unter- und unteren Mittelschichtshaushalte die Entwicklung durch das Jahrhundert verfolgt wird. In einem dritten Abschnitt wird nach Facetten des Mitwohnens in bürgerlichen Haushalten gefragt. Ein Scharnier zwischen beiden Teilen bilden in der Realität wie im folgenden Beitrag die verschiedenen Versuche, das Wohnen und Leben der unteren Schichten nach bürgerlichen Vorstellungen zu verändern, nach deren Verständnis zu ‚reformieren‘. Dank einer anderen Quellenlage – Egodokumente liegen aus bürgerlicher Feder weitaus zahlreicher vor als von Arbeiterinnen und Arbeitern – kann für den Blick in die bürgerlichen Haushalte verstärkt auch die Perspektive von deren Bewohnerinnen und Bewohnern selbst einbezogen werden. Die neuen städtischen Wohnkonstellationen können in der Tradition der ländlichen Lebensformen gesehen werden, sind aber zugleich Übergangserscheinungen – in zweifacher Hinsicht: In der Frühphase außerhäuslicher städtischer Lohnarbeit waren sie zum einen oft zeitlich begrenzt, beispielsweise saisonal bedingt. Zum anderen konnten durchaus beide Lebensformen nebeneinander genutzt werden, und die betroffenen Personen nahmen weiterhin am Arbeitsleben sowie an der Gemeinschaft des ‚Hauses‘ teil. Die Hausstrukturen änderten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts und in Relation dazu auch im ländlichen Bereich, weisen jedoch über eine längere Dauer Phänomene der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem auf.7 Das Gesinde, das im Haus der Frühen Neuzeit zur bäuerlichen Familie gerechnet worden war, wurde zunehmend mehr durch Verwandte ersetzt, die Inwohner wurden zu zahlenden Mietern.8 Insgesamt lockerten sich die Beziehungen der vormaligen Hofgemeinschaft, die Fluktuation wuchs, zugleich erfuhr die Familie eine „Privatisierung“.9 Mit fortschreitender Industrialisierung und damit zusammenhängender Urbanisierung veränderten sich von hauswirtschaftlichen, durch die Arbeitsorganisation bestimmte und teilweise so begründete Lebenszusammenhänge mehr und mehr zu Verbrauchergemeinschaften.10 Eine Übergangsform war das Mitwohnen auch insofern, als vor allem jüngere Menschen zwischen 15 und 30 Jahren nicht in eigenen Haushalten wohnten, sondern oft zunächst als Schlafgänger, dann als Untermieter, bis sie die angestrebte Veränderung, den Umzug in die eigene Wohnung schafften. Wohnung – das bedeu-
7 Vgl. dazu mit zahlreichen Beispielen Michael Mitterauer, Auswirkungen von Urbanisierung und Frühindustrialisierung auf die Familienverfassung an Beispielen des österreichischen Raums, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, 53–146. 8 Vgl. zur Kategorie der ‚Inwohner‘ Michael Mitterauer, Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht, in: ders., Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Wien 1990, 87–130, hier 99. 9 Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt am Main 1987, 17–19, hier 19; Ehmer, Wohnen (wie Anm. 6), 134. 10 Wischermann, ‚Familiengerechtes Wohnen‘ (wie Anm. 1), 172.
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tete zunächst vor allem die kleine Wohneinheit, die aus der Aufteilung großer Wohnungen entstanden war, bis Ende des Jahrhunderts zunehmend Miethäuser gebaut wurden, die statt der offenen (Groß- oder Klein-)Wohnung11 abgeschlossene Kleinwohnungen zur Verfügung stellten und das Mitwohnen entsprechend zurückging.12 Die Mitwohner und Mitwohnerinnen in der Stadt waren in handwerklichen Haushalten weiterhin die in patriarchalischen Wohnbeziehungen stehenden Gesellen, Gehilfen oder Lehrlinge.13 Der Zerfall dieses Modells vollzog sich zeitversetzt, je nach Branche und Region und je nachdem, wann Zunftbeschränkungen aufgehoben wurden.14 Die Handwerksmeister nutzten die frei werdenden Räume, um neue – sie als bürgerlich ausweisende – Wohnansprüche zu erfüllen oder nahmen zahlende Mitbewohner auf. Vielfach waren es nicht gänzlich fremde Menschen, mit denen man die Wohnung teilte, sondern verwandte oder bekannte ledige wie auch verheiratete Männer und Frauen, die (noch) keinen eigenen Haushalt hatten, jedoch in der Stadt einen Beruf erlernen oder eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Rosa Kempf, Zeitgenossin und Kennerin der Münchner Verhältnisse, nennt weitere Hintergründe: „In einigen Fällen wohnen junge Mädchen, die aus irgendwelchen Gründen im elterlichen Haushalt nicht verbleiben können oder wollen, in der Familie ihrer Freundin; in anderen Fällen entfernte junge Verwandte, auswärts lebender Eltern Kinder, oder Freunde und Alterskollegen des Sohnes in dessen Familie. Nur in vier Fällen sind dem Alter nach nicht zu den Kindern des Hauses passende Schlafgänger angetrof-
11 Nach Gerhard Fehl, ‚Der Kleinwohnungsbau, die Grundlage des Städtebaus‘? Von offenen Kleinwohnungen in Berlin und vom unbeirrt seit 1847 verfolgten Reformprojekt der ‚abgeschlossenen Kleinwohnung‘, in: Juan Rodríguez-Lores/ders. (Hrsg.), Die Kleinwohnungsfrage. Zu den Ursprüngen des sozialen Wohnungsbaus in Europa. Hamburg 1987, 95–134, hier 98 bedeutet ‚Offenheit‘ zum einen, dass zwischen den Räumen und Raumteilen Flure lagen, welche auch von anderen Haushalten genutzt wurden, zum anderen eine ‚soziale Offenheit‘, die Haushaltsfremde mit einschloss. Nach Eduard Führ/Daniel Stemmrich, ‚Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen‘. Bürgerliche Wohnrezepte für Arbeiter zur individuellen und sozialen Formierung im 19. Jahrhundert. Wuppertal 1985, 118–121 bedeutete – aus anderer Perspektive – der Flur nach bürgerlichem Vorbild aber auch die Möglichkeit der Trennung und Abschließung – gegen Nachbarn wie gegen familienfremde Schlafgänger oder Logierleute. 12 Elisabeth Gransche/Franz Rothenbacher, Wohnbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1861–1910, in: GG 14, 1988, 64–95, hier 71; Clemens Wischermann, Wohnungsmarkt, Wohnungsversorgung und Wohnmobilität in deutschen Großstädten 1870–1913, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Stadtwachstum, Industrialisierung, Sozialer Wandel. Berlin 1986, 101–134, hier 113. 13 Seit den 1820er Jahren bis in die 1860er Jahre war dies in vielen deutschen Städten eine zur Vorbeugung gegen revolutionäre Bewegungen vorgeschriebene Wohngemeinschaft, vgl. Josef Ehmer, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1994, 72. 14 Adelheid von Saldern, Im Hause, zu Hause, in: Reulecke (Hrsg.), Das bürgerliche Zeitalter (wie Anm. 5), 147–332, hier 228.
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fen worden, Familienfremde im eigentlichen Sinne des Wortes […].“15 Die Arbeiterin Adelheid Popp schildert die manchmal zufällig entstandenen Wohngemeinschaften aus einer anderen Perspektive: „Auch mein jüngster Bruder kam wieder zu uns und brachte einen Kollegen mit, mit dem er sein Bett teilte. So waren wir vier Personen in einem kleinen Raum, der nicht einmal ein Fenster hatte […]. Als einmal ein bekanntes Dienstmädchen stellenlos wurde, kam sie auch zu uns, sie schlief bei meiner Mutter im Bett und ich mußte zu ihren Füßen liegen und meine eigenen Füße auf einen angeschobenen Stuhl lehnen.“16 Die neue Art des unselbständigen Wohnens alarmierte wegen der enormen quantitativen Zunahme in der zweiten Jahrhunderthälfte die bürgerlichen Beobachter. In den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lebten in Zürich, Zagreb und Wien rund zwei Drittel, in Berlin über 50 % der unselbständig erwerbstätigen Bevölkerung nicht in einer eigenen Wohnung.17 Die Fluktuation war hoch und die Verweildauer in einem Haushalt oft nur wenige Monate. Die Rollen in einem solchen Zusammenleben konnten auch wechseln: Josef Ehmer schildert den Fall einer Wiener Familie, die Schlafstellen vermietet hatte, in der die Ehefrau mit ihren Kindern im Sommer aufs Land zur Mutter zog, die Familienwohnung aufgegeben wurde und der Ehemann in Wien nun selbst als Bettgänger wohnte.18 Ohne die prekären Lebensbedingungen zu beschönigen, war die Einschätzung der Lebensverhältnisse in städtischen Unterschichtsquartieren als Problem vielfach eher eine Interpretation des Bürgertums, das seine Normen infrage gestellt sah, als eine grundsätzliche Selbstwahrnehmung der Betroffenen.19 Beweggründe, in eine Familie zu ziehen, waren nicht nur ökonomische, sondern die Logierfamilie bedeutete auch Kontakt und Orientierung in einer zunächst fremden Umgebung.20 Nichtselbständig
15 Rosa Kempf, Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Die soziale und wirtschaftliche Lage ihrer Familie, ihr Berufsleben und ihre persönlichen Verhältnisse. Leipzig 1911, 100. Kempf hatte in nur elf von 266 Haushalten familienfremde Schlafgänger ermitteln können, wovon vier der Familie wirkliche Fremde waren. 16 Adelheid Popp, Jugend einer Arbeiterin, hrsg. von Hans J. Schütz. Berlin 1977 [1915], 36, 91. 17 Ehmer, Traditionen (wie Anm. 13), 65; ders., Wohnverhältnisse städtischer Unterschichten zur Mitte des 19. Jahrhunderts in familienhistorischer Perspektive, in: Siedlungsforschung 5, 1987, 163– 176, hier 166 f. Nach Brüggemeier/Niethammer, Schlafgänger (wie Anm. 4), 152 betrug der Anteil der Haushalte mit Schlafgängern im deutschen Kaiserreich 10 bis 20 % aller Haushalte, bei Arbeiterfamilien sicherlich mehr. 18 Nach Ehmer, Wohnen (wie Anm. 6), 145 blieben die Schlafgänger der untersuchten 119 Wiener Familien im Schnitt 18 Wochen; vgl. auch Brüggemeier/Niethammer, Schlafgänger (wie Anm. 4), 150 f. 19 Barbara Koller, ‚Gesundes Wohnen‘. Ein Konstrukt zur Vermittlung bürgerlicher Werte und Verhaltensnormen und seine praktische Umsetzung in der Deutschschweiz 1880–1940. Zürich 1995, 47, 319. 20 Brüggemeier/Niethammer, Schlafgänger (wie Anm. 4), 153; vgl. auch Ursula Becher, Geschichte des modernen Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen. München 1990, 132; Walter Hartinger, Schlafgänger und Schnapstrinker. Bürgerliche Klischees vom Arbeiter und was dahinter steckt, in: Helge Gerndt (Hrsg.), Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremd-
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Beschäftigte, die in hoher Zahl in fremden Familien wohnten, waren vor allem junge Zugewanderte ohne familiäre Netzwerke in der neuen Umgebung. Berichte und Autobiographien vermitteln widersprüchliche Bilder.21 Auf der einen Seite war emotionale Distanz ein geeigneter Schutz gegen die „Zumutungen der diffusen Kommunikationsund Interaktionsbeziehungen“, auf der anderen konnte es durchaus vertrauensvolles und harmonisches Zusammenleben geben.22 Man wird jedoch nicht im Sinne einer gewählten und eigenständigen Wohnkultur von einer ‚Wohngemeinschaft‘ sprechen können. Die Mitwohngemeinschaften lösten sich schnell auf, wenn die ökonomischen Zwänge nicht mehr bestanden und genügend Wohnraum zur Verfügung stand. Das Zusammenwohnen verwandter und nichtverwandter Männer und Frauen auf kleinstem Raum kollidierte mit bürgerlichen Vorstellungen von Privatheit und Intimität und der damit einhergehenden Idee der Geschlechtertrennung. Hier und an den neu formulierten Hygienevorstellungen setzten seit den 1890er Jahren staatliche Eingriffe an, die mit dem Anspruch gerechtfertigt wurden, zum Wohl der Allgemeinheit zu handeln, das nach Auflösung der traditionellen Familienstrukturen vom Staat zu garantieren sei.23 Die „halboffenen Familien“ in „offenen Kleinwohnungen“ wurden schon lange schärfstens kritisiert, weil sie „ein fortwährendes und engeres Zusammenleben unbemittelter und ungebildeter Personen befördern, das Familienleben zerstören, und durch die unabwendbare Vermischung des Geschlechts und der Alters-Klassen die Unsitte begünstigen und die Arbeitslust schwächen“.24 Thomas Hafner hat darauf hingewiesen, dass als Belege für die Unterstellung geschlechtlicher
bilder – Selbstbilder – Identität. Festschrift für Georg R. Schroubek. München 1988, 90–103; David Kertzer, Living with Kin, in: ders./Marzio Barbagli (Hrsg.), Family Life in the Long Nineteenth Century 1789–1913. New Haven 2002, 40–72. Die von Brüggemeier und Niethammer postulierte Integrationsfunktion hat sich nicht grundsätzlich bestätigen lassen und wird in der Literatur kritisch hinterfragt, vgl. Wischermann, ‚Familiengerechtes Wohnen‘ (wie Anm. 1), 196 und Ehmer (für seine Wiener Untersuchung), Wohnen (wie Anm. 6), 147; Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982, 436; Thomas Hafner, Kollektive Wohnreformen im Deutschen Kaiserreich 1871–1918. Anspruch und Wirklichkeit. Stuttgart 1988, 87 weist darauf hin, dass die Einschätzung Brüggemeiers und Niethammers auf der Untersuchung einer sehr homogenen Gruppe von Bergleuten aus dem gleichen Einwanderungsgebiet beruht. 21 Ehmer, Traditionen (wie Anm. 13), 86–94. 22 Gottfried Korff, Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ‚inneren‘ Urbanisierung, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hrsg.), Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. Berlin 1985, 343–361, hier 350; Moritz Th. W. Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Mit einem Nachwort, hrsg. von Bernd Neumann. Frankfurt am Main 1971 [1905], 8 berichtet von abendlichen Gesprächen mit den Logierherren. 23 Gerd Kuhn, Wohnkultur und kommunale Wohnungspolitik in Frankfurt am Main 1880 bis 1930. Auf dem Wege zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen. Bonn 1998, 58. 24 So Carl W. Hoffmann, Die Wohnungen der Arbeiter und Armen. Berlin 1852, 19.
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Beziehungen als angeblich verbreitetes Phänomen in der zeitgenössischen Literatur immer wieder dieselben – wenigen – aktenkundigen Fälle zitiert wurden.25 Der Verdacht geschlechtlicher Beziehungen zwischen Familienangehörigen und Schlafgängern war in manchen Fällen sogar begründet, denn Schlafgänger- und Untermieterbeziehungen verdeckten teilweise das Zusammenleben nicht verheirateter Paare. Die Gründe hierfür waren vielfältig, bis in die 1870er Jahre etwa obrigkeitliche Ehebeschränkungen. In den ‚halboffenen Familien‘ entstanden Partnerschaften, die mangels finanzieller Möglichkeiten zunächst an der Wohnsituation nichts ändern konnten und in ‚wilder Ehe‘ in einem fremden Haushalt lebten. Auch die Konstellationen, dass ein Schlafgänger oder Zimmermieter mit seiner Wirtin oder eine Handwerkerwitwe mit einem Gesellen in einer nicht ehelichen Paarbeziehung lebte, waren nicht ungewöhnlich. Sie sollten jedoch weniger als Ablehnung des bürgerlichen Modells der Familie verstanden werden, denn zumeist begründeten äußere Zwänge das Zusammenleben „als ob“ – nicht „anders als“ in einer Ehe.26
2 Von der Notökonomie zur Wohnreform Die industrielle Fabrikarbeit, wachsende Urbanisierung und die moderne Gesellschaftsplanung bildeten den Hintergrund für eine soziale Regulierung, die im 19. Jahrhundert unter den Vorzeichen von Erziehung, Aufklärung, Hoffnung auf Einsicht und Anpassung stand.27 ‚Private‘ Räume, die im Unterschied zu Schulen oder Fabriken für Eingriffe und Veränderungen schwerer zugänglich schienen, wurden über normative Vorgaben wie Wohnungsordnungen oder von Wohnungsinspektoren als deren Vermittler und Bewacher erfasst. Sie kontrollierten nicht nur das Verhalten der Bewohner und Bewohnerinnen in den von ihnen übernommenen Räumen, sondern versuchten, durch entsprechende Wohnprogramme und Baumaßnahmen ein erwünschtes Verhalten zu lenken. Die Frage ist also im Blick zu behalten, in welcher Wechselwirkung Wohnung und Sozialverhalten stehen: gebaute Wohnumwelt und materielle Ausstattung auf der einen Seite und subjektives Wohnerlebnis und eigen-sinnige Aneignung vorgefundener Bedingungen auf der anderen Seite.28 Die seit den 1870er Jahren diskutierte ‚Wohnungsfrage‘ verband in der Diagnose einer Unterversorgung mit kleinen Wohnungen ideologische, gesundheitliche, sozialpolitische und wohnungspolitische Ansätze und Anliegen. Mit vorstädtischen Klein-
25 Hafner, Kollektive Wohnreformen (wie Anm. 20), 86. 26 Karin Gröwer, ‚Wilde Ehen‘ in den hanseatischen Unterschichten 1814–1871, in: AfS 38, 1998, 1–22, hier 22. 27 Kuhn, Wohnkultur (wie Anm. 23), 51 f. 28 Hans J. Teuteberg, Betrachtungen zu einer Geschichte des Wohnens, in: ders. (Hrsg.), Homo habitans (wie Anm. 1), 1–23, hier 21.
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häusern sollte Angehörigen der Mittelschicht wie auch Arbeitern eine Alternative zu den innerstädtischen Mietskasernen geboten werden, in denen ebenfalls kleine abgeschlossene Wohnungen vorgesehen waren.29 Eine andere Lösung des Problems der Überfüllung von Wohnungen waren Angebote kollektiven Wohnens: Es entstanden Wohnheime für unverheiratete Männer und Frauen.30 Anders als die Schlafhäuser, mit denen Betriebe vor allem der Schwerindustrie und im Bergbau ‚ihren‘ Arbeitern einen Schlafplatz in einem kasernenähnlich angelegten Schlafsaal zur Verfügung stellten, waren die Wohnheime oft konfessionell gebunden. Es galten strenge Hausordnungen, die auch erzieherisch wirken sollten. Die Männer und Frauen getrennt beherbergenden Häuser hatten zugleich Kontroll- und Disziplinierungsfunktionen im Hinblick auf die Geschlechterbeziehungen. Im Rahmen der Wohnreformbewegung wurden nach dem Vorbild des englischen Kabinensystems Konzepte für Bauanlagen mit kleinen, vollständig ausgestatteten Einzelzimmern entwickelt. Die sich hier abzeichnende Tendenz verweist auf eine zunehmende Individualisierung des Wohnens. Sie erfasste in der Hierarchie der bürgerlichen Werte sukzessive verschiedene Räume: In einem ersten Schritt wurde die aus bürgerlicher Sicht größte Unsitte des Schlafens mehrerer Personen – ob unterschiedlichen oder auch gleichen Geschlechts – in einem Raum unterbunden. Sinnvoll schien hingegen vor allem aus der Perspektive sozialistisch gesonnener bürgerlicher Reformer und Reformerinnen zunächst noch eine zentrale Nahrungszubereitung, als weitergehende Möglichkeit auch eine kollektive Nahrungsaufnahme. So wurden Häuser mit unterschiedlich vielen Wohnungen, aber nur einer gemeinschaftlichen Küche entwickelt, sog ‚Einküchenhäuser‘. Das Konzept zielte nicht grundsätzlich auf gemeinsames Wohnen, sondern die ‚Wirthschaftsgenossenschaft‘ sollte Arbeiterfrauen wie bürgerliche erwerbstätige Frauen von der Hausarbeit entlasten. Ihre engagierteste Advokatin in Deutschland, die Sozialdemokratin Lily Braun, stellte sich das so vor: „In einem Häuserkomplex […], befinden sich etwa 50 bis 60 Wohnungen, von denen keine eine Küche enthält […]. An Stelle der 50–60 Küchen, in denen eine gleiche Zahl Frauen zu wirthschaften pflegt, tritt eine im Erdgeschoß befindliche Zentralküche, die mit allen modernen arbeitssparenden Maschinen ausgestattet ist. […] Die ganze Hauswirthschaft steht unter einer erfahrenen Wirthschafterin, deren Beruf die Haushaltung ist […]. Die Mahlzeiten werden, je nach Wunsch
29 Clemens Zimmermann, Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Die Reformbewegung in Deutschland 1845–1914. Göttingen 1991, 109–111. An dieser Stelle kann nicht näher auf die Diskussion um ‚soziale Mischung‘ eingegangen werden, vgl. dazu ausführlich: Tilman Harlander/Gerd Kuhn/ Wüstenrot Stiftung (Hrsg.), Soziale Mischung in der Stadt. Case Studies – Wohnungspolitik in Europa – Historische Analyse. Stuttgart 2012. 30 Nach Hans J. Teuteberg/Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850–1914. Münster 1985, 331: „familienunabhängiges“ Wohnen.
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und Neigung, im gemeinsamen Eßsaal eingenommen oder durch besondere Speiseaufzüge in alle Stockwerke befördert.“31 Bis in die 1930er Jahre entstanden in einigen europäischen Städten Einküchenhäuser, so etwa in Kopenhagen, Stockholm, Berlin, Zürich und Wien.32 Das Einküchenhaus wurde heftig diskutiert, kritisiert und breit abgelehnt. Meistens verbargen sich hinter den Sachgründen, nämlich der Schwierigkeit, ein solches Projekt gerade für die Zielgruppe der Arbeiterfamilien zu finanzieren, ideologische Einwände. Konservative bürgerliche Skeptiker sahen ihr Ideal der Privatheit in der Kleinfamilie angegriffen. Die Pläne scheiterten aber wohl auch daran, dass sie nicht auf ein Bedürfnis bzw. eine konkrete Nachfrage antworteten, sondern von bürgerlichen Reformern und Reformerinnen zum angeblich Besten der Arbeiterinnen und Arbeiter entwickelt worden waren.33 Die Arbeiterinnen und Arbeiter hießen die Zentralisierung bei einfachen, aber körperlich schweren Arbeiten wie Waschen oder Heizen durchaus willkommen. Sie wollten jedoch Kochen und Essen als individuelle, symbolisch und emotional konnotierte Handlungen als privates Leben beibehalten.34 Viele sozialistisch orientierte Künstler, Architektinnen und Architekten sahen schließlich im ‚Neuen Bauen‘, dem in Serie gehenden Massenwohnungsbau, die Möglichkeit, ihre sozialen Anliegen zu realisieren. Grete Schütte-Lihotzky, die Architektin der sog. ‚Frankfurter Küche‘ und zuvor selbst Anhängerin des Einküchenhauskonzepts, rechtfertigte 1927 die Neuorientierung: „Bald aber zeigte sich, daß man 20 Familien nicht so ohne weiteres in einen Haushalt vereinigen kann. […] Nach den bereits gemachten Erfahrungen erkennen wir, daß wir beim Einzelhaushalt bleiben, jedoch diesen so rationell wie nur irgend möglich gestalten müssen.“35
31 Lily Braun, Frauenarbeit und Hauswirthschaft. Berlin 1901, 21 f. Vgl. dazu auch ausführlich Günther Uhlig, Kollektivmodell ‚Einküchenhaus‘. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus 1900–1933. Gießen 1981; Hiltraud Schmidt-Waldherr, Emanzipation durch Küchenreform? Einküchenhaus versus Küchenlabor, in: L’Homme. Z.F.G. 2, 1991, 57–76 und Ulla Terlinden/Susanna von Oerzen, Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933, Berlin 2006, 137–186. 32 Vgl. Uhlig, Kollektivmodell ‚Einküchenhaus‘ (wie Anm. 31); Erwin Mühlestein, Kollektives Wohnen gestern und heute. Neue Wohnformen für die Industriegesellschaft 1935–1975, in: archithese 14, 1975, 3–23, hier 3–6; vgl. auch Gottfried Pirhofer, Gemeinschaftshaus und Massenwohnungsbau, in: Transparent 3/4, 1977, 38–56, hier 54, Anm. 24. 33 Gertraude Kittler, Hausarbeit. Zur Geschichte einer ‚Natur-Ressource‘. München 1980, 60; Uhlig, Kollektivmodell ‚Einküchenhaus‘ (wie Anm. 31), 83 f. 34 Vgl. dazu Heinz Hirdina, Rationalisierte Hausarbeit. Die Küche im neuen Bauen, in: Jb. für Volkskunde und Kulturgesch. 26, 1983, 44–80, hier 75; Michael Wildt, Technik, Kompetenz, Modernität. Amerika als zwiespältiges Vorbild für die Arbeit in der Küche, 1920–1960, in: Alf Lüdtke/Inge Marssolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, 78–95, hier 82. 35 Grete Lihotzky, Rationalisierung im Haushalt, in: Das Neue Frankfurt 1, 1926/27, 120–123, hier 120. Die Einküchenhäuser in Berlin-Friedenau und in Groß-Lichterfelde wurden in den 1920er Jahren umgewandelt und Einzelküchen in die Wohnungen eingebaut, vgl. Günther Uhlig, Zur Geschichte des
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In der Gartenstadtbewegung war die Idee der Zentralküche zwar diskutiert, in den deutschen Gartenstädten jedoch nicht realisiert worden.36 Die Idee ihres populärsten Verfechters Ebenezer Howard war auch weniger eine Vorstellung kollektiven Wohnens als vielmehr eine Verbindung der Vorzüge städtischen und ländlichen Lebens.37 Dieser Gedanke lag auch den Werkssiedlungen zugrunde, die vor allem in ländlichen Regionen bereits seit den 1840er Jahren die Arbeiterschaft mit dem Angebot von Kleingärten anwarben. Hier konnten die Anliegen der Reform- und Hygienebewegung an die ländliche Herkunft vieler Berg- oder Fabrikarbeiter anknüpfen. Indem den Beschäftigten ein Grundstück und Haus zum Mietkauf überlassen wurde, konnten die Arbeitskräfte zudem gebunden werden.38 Im Ruhrgebiet lebten 20 % der Belegschaft in 25 000 zecheneigenen Wohnungen.39 Zusammenwohnen ist in diesem Falle in einem erweiterten Sinne zu verstehen, denn die Ein- oder Zweifamilienhäuser waren durch zahlreiche Gemeinschaftsprojekte und -angebote verbunden. Die Siedlung Port Sunlight der Seifenfabrikanten Lever bei Liverpool oder die mehr als 2 500 Häuser umfassende Siedlung in Le Creusot waren Gegenstand europaweiten Vergleiches und Austauschs.40 Einige dieser Projekte knüpften explizit an die Anfang des Jahrhunderts von frühen Sozialisten entwickelten Vorstellungen an, etwa das 1859 von dem Fabrikanten Jean-Baptiste André Godin in Nordfrankreich gegründete Familistère an die Phalanstères von Charles Fourier.41
Einküchenhauses, in: Niethammer (Hrsg.), Wohnen im Wandel (wie Anm. 6), 151–170, hier 153. Langlebiger war das Wiener Einküchenhaus, der ‚Heimhof‘. In dem nach dem Vorbild eines 1912 auf Initiative von Auguste Fickert erbauten Heims für alleinstehende berufstätige Frauen entstandenen Haus wurde die Zentralküche 1934 geschlossen, vgl. Hanna Hacker, Wer gewinnt? Wer verliert? Wer tritt aus dem Schatten? Machtkämpfe und Beziehungsstrukturen nach dem Tod der ‚großen Feministin‘ Auguste Fickert (1910), in: L’Homme. Z.F.G. 7, 1996, 97–106; Gisela Urban, Das Wiener Einküchenhaus, in: Westfälisches Wohnungsblatt 6, 1927 , 234–238; dies., Das Heim ohne Eigenherd, in: Neue Hauswirtschaft 1/2, 1929, 3–6. Zur Schließung vgl. Pirhofer, Gemeinschaftshaus (wie Anm. 32), 41; Peter Haiko/Mara Reissberger, Die Wohnungsbauten der Gemeinde Wien 1919–1934, in: archithese 12, 1974, 49–54, hier 54. 36 Kristina Hartmann, Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform. München 1976, 38. 37 Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013, 137. 38 Zimmermann, Wohnungsfrage (wie Anm. 29), 69–72. 39 von Saldern, Im Hause (wie Anm. 14), 215. 40 Lenger, Metropolen (wie Anm. 37), 138. 41 Roger-Henri Guerrand, Private Räume, in: Michelle Perrot (Hrsg.), Von der Revolution zum Großen Krieg. Frankfurt am Main 1992, 331–417, hier 375–378.
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3 Bürgerliches Miteinanderund Nebeneinanderwohnen Bürgerfamilien im 19. Jahrhundert wohnten zumeist in Etagenwohnungen oder in Villen der Vorstädte, die die Eigenschaften von Landhäusern mit jenen städtischer Repräsentationshäuser kombinierten. Die Häuser glichen sich in Europa von London über Berlin, Paris, Wien bis St. Petersburg.42 In puncto Größe reichte die Bandbreite der innenarchitektonisch ähnlichen Häuser und Wohnungen von vier bis zwanzig Räumen.43 Die Einschätzung, was als standesgemäß galt, unterschied sich im internationalen Vergleich: Während in England in der zweiten Jahrhunderthälfte das Eigenheim in den Vorstädten die bevorzugte Wohnform wurde, blieb dies in deutschen Städten bis zum Ersten Weltkrieg die Etagenwohnung.44 Gehörten zu einem ländlichen bürgerlichen Haushalt in den 1870er Jahren eine hohe Kinderzahl und familienfremde Personen wie – so in einem von Margarethe Freudenthal angeführten Beispiel – Kutscher, Hausmädchen, Köchin, Hauslehrerin, zeitweise ein Pensionär oder einquartierte Offiziere, waren zu der gleichen Zeit die städtischen bürgerlichen Haushalte weitgehend auf Familienmitglieder und ein bis zwei Dienstboten reduziert.45 Um 1900 stand nur 10 % der Dienstmädchen ein eigenes Zimmer zur Verfügung, die übrigen schliefen in Treppenkammern, in der Badestube oder auf dem berüchtigten Hängeboden, einem Schlaffach unter der Küchendecke.46 Bereits seit dem Vormärz bestand zumeist keine Tischgemeinschaft mehr, sondern die Dienstboten wurden immer mehr von der Familie separiert. Sie mussten oft einen eigenen Hauseingang benützen. Ein wachsendes Bedürfnis nach Ungestörtheit nicht nur dem Personal gegenüber, sondern auch innerhalb der Familie drückt sich in der zunehmenden Ausstattung der Wohnungen mit Korridoren aus. Dank ihnen konnte man Zimmer erreichen, ohne andere durchqueren zu müssen.47 Das Mit- und Zusammenwohnen bedeutete Nähe auf der Basis von Distanz und war sehr konkret zum Nebeneinanderwohnen geworden.48
42 Michelle Perrot, Formen des Wohnens, in: dies. (Hrsg.), Von der Revolution (wie Anm. 41), 313– 330, hier 317 f. 43 von Saldern, Im Hause (wie Anm. 14), 173. 44 Gunilla Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914. Göttingen 1994, 68–71; Lenger, Metropolen (wie Anm. 37), 106 f. 45 Margarethe Freudenthal, Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft zwischen 1760 und 1910. Diss. 1934, hrsg. mit einem Vorwort von Katharina Rutschky. Frankfurt am Main 1986, 108, 145–148. 46 von Saldern, Im Hause (wie Anm. 14), 185. 47 Ursula Kanacher, Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen. Frankfurt am Main 1987, 98; Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 20), 303. 48 Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 20), 367.
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Die Wohnungs- und Lohnverhältnisse wie eine verbesserte Altersversorgung gestatteten tendenziell immer mehr Menschen ein Alleinleben.49 Historische Personenstandslisten belegen, dass Einzelhaushalte von Witwen und auch Witwern ebenso wie die Einzelhaushalte lediger Personen in den Städten häufiger waren als in ländlichen Gebieten.50 Jedoch lebten unverheiratete Männer und Frauen des Bürgertums in der Stadt wie auf dem Land in den meisten Fällen weiterhin in einer Gemeinschaft, sei es als Mitbewohner oder Mitbewohnerin in einem (Kern-)Familienhaushalt oder mit anderen Einzelpersonen zusammen, wobei im ersten Fall zumeist eine verwandtschaftliche Bindung bestand, im zweiten Fall oft auch nicht. Viele unverheiratete Männer und Frauen blieben im elterlichen Haushalt wohnen – Männer, um versorgt zu werden, Frauen, weil sie häufig finanziell nicht unabhängig waren. Die Frage, wer bei wem wohnte und wen versorgte, verschob sich im Laufe des Lebens. Männer, die nicht heirateten, nahmen später nicht selten die verwitwete Mutter oder auch die verwaiste ledige Schwester bei sich auf, die ihnen den Haushalt führte. Die folgenden Beispiele sollen punktuell Einblick in verschiedene Wohnkonstellationen bürgerlicher Haushalte geben, die manchmal unter dem Familienbegriff versteckt, durch die Ideologie verdeckt und nicht weiter differenziert wurden.51 Die Aufnahme der Schwester war häufig eine Wiedergutmachung für den Verzicht auf Ehe oder eigene Berufstätigkeit, der ihr zugunsten der Ausbildung des Bruders abverlangt worden war. Insofern war das Zusammenleben nicht immer freiwillig – womöglich von den Eltern testamentarisch verfügt52 – oft wenig harmonisch und zumeist ein asymmetrisches.53 So zum Beispiel bei den Keller-Geschwistern. Der 1819 geborene Gottfried Keller kehrte nach mehr oder weniger erfolgreichen Lehrjahren, in denen er von Mutter und Schwester finanziell unterstützt worden war, 1855 nach Zürich zurück. Um das bishe-
49 William H. Hubbard, Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. München 1983, 126. 50 Michael Mitterauer, Faktoren des Wandels historischer Familienformen, in: ders., Familie und Arbeitsteilung. Historisch vergleichende Studien. Wien 1992, 214–255, hier 245. 51 Vgl. zur Schwierigkeit einer genaueren Erfassung der Generationentiefe in bürgerlichen Familien auch Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 20), 365. 52 Hinweise auf schriftliche Versorgungsverpflichtungen gegenüber nicht verheirateten Geschwistern lassen sich schwer finden, ein Beispiel für das späte 18. Jahrhundert findet sich bei Michaela Hohkamp, Wer will erben? Überlegungen zur Erbpraxis in geschlechtsspezifischer Perspektive in der Herrschaft Triberg von 1654–1806, in: Jan Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften. München 1995, 327–341, hier 329 f. Der Fall wurde aktenkundig, weil die blinde Schwester wider Erwarten doch noch heiratete und auf ihrem Leibgedinge bestand. Nach Peter Borscheid, Geschichte des Alters, Bd. 1. Münster 1987, 209 f. wurden auch für die Eltern Leibgedingeverträge in schriftlicher Form erst Ende des 18. Jahrhunderts üblich. 53 Vgl. für die folgenden Beispiele ausführlich Bärbel Kuhn, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum 1850–1914. 2. Aufl. Köln 2002, 293–311.
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rige Versorgungsverhältnis endlich umzukehren und im gemeinsamen Haushalt mit Mutter und Schwester der ‚Ernährer‘ zu sein, nahm er 1861 die angesehene und gut dotierte Stelle als Staatsschreiber des Kantons Zürich an, die er bis 1876 innehatte, bis er sich und die Schwester – die Mutter war 1864 gestorben – mit der Schriftstellerei ernähren konnte. Die Geschwisterbeziehung wurde schon zu Lebzeiten Kellers als symbiotisch, aber nichtsdestoweniger problematisch wahrgenommen. Bruder und Schwester Gottfried und Regula Keller galten geradezu als das klassische Beispiel geschwisterlichen Zusammenlebens. Für den 1864 geborenen Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin waren sie ein abschreckendes Beispiel: „Es schnürt einem das Herz zusammen, wenn man ihn in seiner Einsamkeit sitzen sieht bei der ‚ungluschtigen‘ Schwester und nachher bei noch tieferer Einsamkeit diese Schwester ihm doch schmerzlich fehlt. […] Das ‚Ungluschtige‘ liegt vielleicht doch weniger bei ihr als in der Tatsache des Zusammenlebens mit dem Bruder. Es hat immer etwas Drückendes, wenn die natürliche Form des Zusammenlebens von Mann und Weib ersetzt wird durch die unnatürliche eines geschwisterlichen Zusammenseins. Dann lieber ganz allein. Meine Mutter hatte hierfür einen ganz richtigen Instinkt und fand die Situation unleidlich, wenn zwei Geschwister – den besten Fall angenommen – sich liebend zu Tode füttern.“54 Wölfflin, selbst Junggeselle, nahm sich den für Schwester wie Bruder tristen Fall zu Herzen und folgte dem Rat der Mutter: Er entschied sich gegen eine Lebensgemeinschaft mit seiner ebenfalls unverheirateten Schwester und wohnte allein. Das Verhältnis insbesondere der Mitglieder einer verwandtschaftlichen Wohngemeinschaft war abhängig von den ökonomischen Beziehungen, in denen sie zueinander standen. Die Ernährerrolle machte zum Haushaltsvorstand, sowohl in der inneren Struktur des Haushalts als auch in der äußeren Wahrnehmung. Die Lebensgemeinschaft von zwei Schwestern, von der eine verdiente, die andere bediente, war eine verbreitete Lebensform lediger Frauen.55 Sie war wohl auch die gesellschaftlich am meisten gebilligte Form des Zusammenlebens von Frauen, da sie an familiäre Bande anknüpfte.56 Anna Ettlinger lebte während ihrer Ausbildung in Berlin bei zwei Schwestern, von denen die ältere den Haushalt führte und die jüngere als Musikleh-
54 Heinrich Wölfflin an Anna Bühler-Koller, 30. 11. 1919 und an dies. 17. 1. 1920, in: Heinrich Wölfflin 1864–1945. Autobiographie, Tagebücher und Briefe, hrsg. von Joseph Gantner. 2. Aufl. Basel 1984, 218–220. 55 Das Sprichwort „Wer verdient, wird bedient“ galt also nicht nur für Arbeiterehen und war auch nicht auf „die unterschiedliche Zentrierung des emotionalen Austauschs bei Männern und Frauen“ beschränkt. Vgl. Hans Medick/David Sabean, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft. Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: dies. (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung. Göttingen 1984. 27–54, hier 38. 56 Vgl. so auch Gilla Dölle/Conny Wenzel, Weiberwirtschaft. Der unbekannte Alltag bekannter Frauen, in: Ariadne 14, 1989, 23–34, hier 24 mit Beispielen von Schwesternwohngemeinschaften.
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rerin beschäftigt war.57 Anna hatte ihr Zimmer durch private Vermittlung gefunden. Ebenso gut hätte sie über Anzeigen in Familienzeitschriften wie „Die Gartenlaube“ oder „Daheim“ suchen können, die beispielsweise lauteten: „Eine oder zwei Damen finden in einer gemütlichen Häuslichkeit zweier gebildeter Damen freundliche Aufnahme mit voller Pension.“58 Später wohnte Anna mit ihrer Mutter und den Schwestern Emma und Rudolphine im Elternhaus in Karlsruhe. Nach der Scheidung des Bruders Alfred nahmen sie dessen Kinder für einige Jahre zu sich.59 Je ausgeglichener die finanzielle Situation der Mitglieder einer geschwisterlichen Wohngemeinschaft war, umso egalitärer und offenbar auch harmonischer waren die Beziehungen. Der Junggeselle Wilhelm Busch beispielsweise war im gemeinsamen Haushalt mit der verwitweten Schwester und deren Söhnen zwar der ‚Hausvater‘, indem er die Vaterrolle bei den Neffen übernahm, doch blieb die Schwester im Pfarrwitwenhaus und später im Haushalt des Sohnes, wo auch Busch seinen Alterssitz fand, vom Bruder unabhängig.60 Im Berliner Hause Tiburtius lebten Schwester, Bruder, dessen Frau und die zwei Kinder des Paares zusammen.61 In der 31 Jahre dauernden Wohn- und Arbeitsgemeinschaft stand die Ärztin Franziska Tiburtius als ökonomisch unabhängige berufstätige Akademikerin in einem egalitären Verhältnis mit Bruder Carl, auch er Arzt, und Schwägerin Henriette, einer Zahnärztin, und war nicht ein im traditionellen Sinn geduldetes und bestenfalls nützliches Anhängsel als Familientante. Eine ungewöhnlichere Konstellation geschwisterlichen Zusammenwohnens war die Wohn- und Lebensgemeinschaft von zwei oder mehreren Brüdern. Möglicherweise kam sie im ländlichen Bereich, wenn ein Hof gemeinsam bewirtschaftet wurde, häufiger vor als in den Städten. Eine Männerwohngemeinschaft mag auch als wenig sinnvoll erachtet worden sein, weil Männer in der Regel nicht bereit waren, Hausarbeit zu übernehmen. Diese Arbeit wurde grundsätzlich als Frauenarbeit verstanden. In den wenigen Beispielen solcher Gemeinschaften lebten noch weitere, weibliche Personen im Haushalt, beispielsweise die Mutter, Schwester oder Nichte: „Man muß sich beizeiten als Onkel beliebt machen“62, kommentierte Jacob Burckhardt ironisch die Großzügigkeit gegenüber seiner Nichte. Ein vorausschauender Pragmatismus war natürlich dabei, denn um ledige Männer und Frauen küm-
57 Anna Ettlinger, Lebenserinnerungen für ihre Familie verfaßt. Leipzig o. J. [um 1920], 84. 58 Daheim Anzeiger, Daheim 26, Nr. 5, 1889/1890, 2. November 1889. Zur Zimmervermietung als Erwerbsmöglichkeit für verwitwete oder ledige Frauen vgl. Luise Gunga, ‚Zimmer frei‘. Berliner Pensionswirtinnen im Kaiserreich. Frankfurt am Main 1995. 59 Vgl. Ettlinger, Lebenserinnerungen (wie Anm. 57), 157. 60 Bärbel Kuhn, Wilhelm B. oder das wenig abenteuerliche Leben eines Junggesellen im 19. Jahrhundert, in: Hist. Mitt. 8, 1995, 43–64. 61 Vgl. dazu Franziska Tiburtius, Erinnerungen einer Achtzigjährigen. Berlin 1929. 62 Jacob Burckhardt an Emma von Baeyer, 24. 12. 1849, in: Jacob Burckhardt, Briefe, Bd. 3. Basel 1955, 119.
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merten sich im Alter oft die Nichten und Neffen. Manchmal lebten sie mit Onkel oder Tante zusammen, wie im Falle des Pfarrers James Woodforde, der, als er Ende des 18. Jahrhunderts mit 36 Jahren seine Pfarrstelle in Norfolk antrat, zunächst drei Jahre mit dem Neffen William, dann dreißig Jahre bis zu seinem Tod mit der Nichte Nancy zusammenwohnte.63 Selten scheint die Wohngemeinschaft von nicht verwandten ledigen Männern gewesen zu sein. Sicherlich ist in Deutschland in der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Beziehungen von Männern ein Grund dafür zu sehen, dass sich kaum jemand einem solchen Verdacht aussetzen wollte. Da Rudolph von Delbrück mit 58 Jahren noch heiratete, schien er dagegen gefeit und konnte in den 1905 verfassten Erinnerungen bedenkenlos über seine 18 Jahre dauernde Wohngemeinschaft mit dem jüngeren Freund und Kollegen von Schweinitz schreiben. Doch auch schon zur Zeit des Zusammenwohnens scheint Delbrücks Umwelt die Situation akzeptiert und sie eher befremdet und belustigt als mit Argwohn beobachtet zu haben. Delbrück war 185064 mit Schweinitz zusammengezogen: „Nach meiner Ernennung zum vortragenden Rat hielt ich es für nötig, die möblierte Wohnung aufzugeben und mich in einer Mietswohnung einzurichten. Herr von Schweinitz empfand das nämliche Bedürfnis, und wir vereinigten uns, gemeinschaftlich eine Wohnung und einen Bedienten zu mieten. […] Ich hatte den größeren Teil des Stockwerks inne und richtete mich nach damaligen Begriffen sehr elegant ein. […]. Mein Wohnungsgenosse wurde von Jahr zu Jahr mehr mein lieber und treuer Freund. […]. Wir haben achtzehn Jahre lang eine gemeinschaftliche Wohnung besessen und eine glückliche Ehe geführt, wie unser Verhältnis genannt wurde.“65 Die Vorteile einer „Wohnungsgemeinschaft“ (wie Delbrück sie nannte) zweier berufstätiger Menschen, die im Kontext der Frauenbewegung immer wieder unverheirateten Frauen empfohlen wurde66, galten auch für Männer, wie Delbrück überzeugend darlegte: „Durch mein Zusammenleben mit Herrn von Schweinitz war es mir möglich, eine allen Ansprüchen genügende Wohnung und Bedienung verhältnis-
63 Vgl. Leonore Davidoff, Thicker than Water. Siblings and their Relations, 1780–1920. Oxford 2011, 184 f. 64 Im Jahr 1851 stellte das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten „Die widernatürlich Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren verübt wird“, nach mehrjährigen Debatten (seit 1825) über eine Liberalisierung des entsprechenden Artikels, im Allgemeinen Landrecht mit § 143 unter Strafe. Die Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren war moderat, verglichen mit der früher drohenden Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren. Vgl. Rüdiger Lautmann, Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht. Seine Grundlegung in der preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts, in: ders./Angela Taeger (Hrsg.), Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen. Berlin 1992, 141–186, hier 167. 65 Rudolph von Delbrück, Lebenserinnerungen. 1817–1867. Mit einem Nachtrag aus dem Jahre 1870, Bd. 1. 2. Aufl. Leipzig 1905, 236. 66 Vgl. etwa Louise Otto, Weibliche Freundschaften, in: Neue Bahnen. Organ des allgemeinen deutschen Frauenvereins 18, 1890, 137–140, hier 139.
Mitwohnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert
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mäßig wohlfeil zu besitzen […].“67 Während bei Frauen allgemein bekannt war, dass ihr meist geringer Verdienst kaum ein ihrer Herkunft angemessenes Leben zuließ und deshalb jede Möglichkeit des Sparens, beispielsweise durch einen gemeinsamen Haushalt mit gemeinsamem Dienstmädchen, Zustimmung fand, war dies bei Männern eher ungewöhnlich. Im Kontext der Frauenbewegung kennen wir mehrere Lebensgemeinschaften zweier Frauen. Bekannteste Beispiele sind wohl Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg68, die mehrere Jahrzehnte zuerst in München und nach ihrer Emigration 1933 bis zu ihrem Tod 1943 in Zürich zusammenlebten, oder Gertrud Bäumer und Helene Lange69, die von 1898 bis zum Tod Langes im Jahr 1930 in Berlin eine Lebensund Arbeitsgemeinschaft bildeten. Während es häufig vorkam, dass nicht nur zwei, sondern auch drei Schwestern in einem gemeinsamen Haushalt wohnten, vermieden Frauen in ‚Wahlverwandtschaften‘ diese konfliktträchtige Dreier-Konstellation und wohnten mit nur einer weiteren Person, einer Lebenspartnerin, Freundin oder Kollegin zusammen.
4 Schlussbemerkungen Die Einblicke in die Häuser und Wohnungen des 19. Jahrhunderts, die in diesem Rahmen notwendigerweise nur punktuell sind und Tendenzen aufzeigen können, gestatten im Hinblick auf die Zusammensetzung der Bewohner und Bewohnerinnen ein differenzierteres Bild als vielfach angenommen.70 Die Entwicklung der Familie des 19. Jahrhunderts war weder in Arbeiter- und Handwerkerfamilien eine geradlinige hin zur Kernfamilie, noch bestanden bürgerliche Haushalte selbstverständlich aus Familien, seien es Kern- oder erweiterte Familien.71 Erfolgte in Arbeiterhaushalten und in solchen kleinerer Handwerker und Gewerbetreibender der Städte die Aufnahme von Mitbewohnern zumeist aus ökonomischen Gründen, konnten diese so gebildeten Wohngemeinschaften aus der Perspektive der Mitwohnenden durchaus als Halt und Orientierung in einer neuen, fremden Umgebung empfunden werden – zumal die Wohnsituation zum Beispiel als Schlafgänger gewöhnlich eine vorüber-
67 Delbrück, Lebenserinnerungen (wie Anm. 65), Bd. 2, 145. 68 Lida Gustava Heymann/Anita Augspurg, Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden, 1850–1940, hrsg. von Margrit Twellmann. Meisenheim am Glan 1977. 69 Gertrud Bäumer, Lebensweg durch eine Zeitenwende. Tübingen 1934. Zum Verhältnis beider vgl. Margit Göttert, Macht und Eros. Frauenbeziehungen und weibliche Kultur um 1900 – eine neue Perspektive auf Helene Lange und Gertrud Bäumer. Königstein 2000 und Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. 2. Aufl. Köln/Weimar/Wien 2010. 70 Vgl. zum Problem der Vielschichtigkeit der Entwicklung von Haushaltsstrukturen im 19. Jahrhundert in Europa zum Beispiel Kertzer, Living with Kin (wie Anm. 20), 40–72. 71 Vgl. zur Begrifflichkeit Mitterauer, Komplexe Familienformen (wie Anm. 8), 92–94.
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gehende war. In Handwerkerhaushalten wurde aus der rechtlichen und patriarchalischen Bindung von Gesellen oder Lehrlingen an die Meisterhaushalte mehr und mehr eine pragmatische, auf einem bezahlten und so versachlichten Untermietverhältnis beruhende Hausgemeinschaft. So könnte man als Gemeinsamkeit formulieren, dass die hier vorgestellten Formen des Mitwohnens zwar oft auf beiden Seiten ökonomischen Zwängen folgten und zunächst nicht immer freiwillig waren, aber die Konstellation, das Wie und die Frage, mit wem man zusammen wohnte, konnte in vielen der beschriebenen Fälle leichter als in früheren Zeiten modifiziert werden. Im Bürgertum trugen die zunehmend selbstverständlicher werdende Erwerbstätigkeit von Frauen und die damit verbundene ökonomische Unabhängigkeit dazu bei, dass bewusster entschieden werden konnte, mit wem man in welcher Form eine Wohngemeinschaft einging. Wenn Frauen nicht mehr notwendigerweise heiraten mussten, um versorgt zu sein, eröffneten diese gesellschaftlichen Veränderungen auch Männern neue Spielräume, die hegemoniale Männlichkeitsrolle des Versorgers nicht selbstverständlich übernehmen zu müssen.
Maren Möhring
Das Haustier: Vom Nutztier zum Familientier Seit einigen Jahren haben die Human-Animal-Studies auf die Bedeutung der TierMensch-Beziehungen für ein differenzierteres Verständnis von Gesellschaft, Geschichte und Gegenwart hingewiesen.1 Trotzdem hat das Haustier als Mitglied des Haushalts und als Wesen, das „in unmittelbarer Gemeinschaft mit dem Menschen lebt“2, in Studien über die Geschichte des Hauses und der Familie noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren. Ziel dieses Beitrags ist es, den Wandel dessen, was unter einem Haustier zu unterschiedlichen Zeiten verstanden wurde, sowie die sich verändernden soziokulturellen Praktiken der Tier-Mensch-Interaktion herauszuarbeiten. Der Fokus liegt dabei auf der Verbürgerlichung und sukzessiven Familialisierung3 des Haustiers seit dem 18. Jahrhundert. Im Zuge dieses Prozesses entwickelte sich ein neuartiger Umgang mit dem Haustier, das, so die These, zu einem zentralen Element bürgerlichen Familienlebens, des Gefühlshaushalts und der Selbstrepräsentation des Bürgertums wurde. Da die Forschung zum Haustier nach wie vor disparat ist, werden zwar Beispiele aus verschiedenen europäischen Ländern und den USA herangezogen, jedoch ohne im engeren Sinne systematische Vergleiche vornehmen zu können. Ausgehend von der bisherigen Forschung sollen abschließend weiterführende Perspektiven für die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Haustieren und ihrer Bedeutung für die Geschichte des Hauses und der Häuslichkeit entwickelt werden. In Definitionen der frühneuzeitlichen Hausgemeinschaft wird diese – so etwa von Andreas Gestrich in seiner „Geschichte der Familie“ – als „Gesamtheit der unter dem Regiment eines Hausvaters stehenden Personen“ definiert, die „zusammen arbeiteten, wohnten und aßen“. Das Haus stellte nach Gestrich „eine Rechts-, Arbeits-, Konsum- und Wirtschaftseinheit“ dar, „zu der nicht nur die Familie im heutigen Sinne, sondern auch das Gesinde und der Besitz gehörten.“4 Tiere tauchen in derartigen Definitionen des Hauses (und der Familie) nur selten auf, wohingegen sie in den Quellen sehr oft benannt werden. So waren es bei Luther „weib und kind, knecht und
1 Vgl. Mieke Roscher, Forschungsbericht Human-Animal Studies, in: IMS 2, 2009, 94–103. 2 Art. Haustier, in: Walter Hirschberg (Hrsg.), Wörterbuch der Völkerkunde. Stuttgart 1965, 173 f., hier 173. 3 Gemeint ist hier die Entwicklung hin zur heute üblichen Bedeutung von ‚Familie‘, die sich semantisch erst im 19. Jahrhundert durchsetzte und sich von der mittellateinischen familia durch ihren „familiale[n] und domestische[n] Kern“ unterschied. Vgl. Ludolf Kuchenbuch, … mit Weib und Kind und… Die Familien der Mediävistik zwischen den Verheirateten und ihren Verwandten in Alteuropa, in: Karl Heinz Spieß (Hrsg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters. Ostfildern 2009, 325–376, hier 375. 4 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. 2. Aufl. München 2010, 4.
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magd, vieh und futter“, die dem Hausvater unterstanden.5 In der zitierten Definition von Gestrich wären Tiere wohl am ehesten unter „Besitz“ zu subsumieren. Tiere galten im Römischen Recht, das in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein maßgeblich war, als Ding. Erst seit dem Tierschutzgesetz von 1986 firmieren Tiere als „Mitgeschöpfe“; 1990 ist dann auch im Bürgerlichen Gesetzbuch ihre Sacheigenschaft weggefallen. Das Tier ist aber noch immer keine Rechtsperson, sondern bleibt Objekt der Rechtsordnung, wenn es nun auch eine eigene Kategorie, getrennt von (anderen) Gegenständen, bildet.6 In der Alltagspraxis jedoch war die Differenz von Tier und Ding stets von Bedeutung; mit Tieren durfte keineswegs nach Belieben umgesprungen werden. So verbot der Amsterdamer Magistrat bereits 1675 die Verwendung von Hunden als Zugtiere (wenn auch ohne Erfolg).7 Das heißt, die Interaktionen zwischen Menschen und Tieren wurden anders konfiguriert als zwischen Menschen und leblosen Sachen. In diesem Sinne nahmen Tiere zwischen den zum Haushalt gehörenden Personen und dem übrigen dinglichen Besitzstand eine intermediäre Position ein – und gerade diese macht Tiere zu einem so interessanten Forschungsgegenstand. Dieser ‚Zwischenstatus‘ kam in besonderem Maße Haustieren zu.8
1 Das (Haus-)Tier: Definitionen und Differenzierungen In Johann Christoph Adelungs „Grammatisch-Kritischem Wörterbuch“ aus den späten 1770er Jahren wird ein Haustier als „ein jedes zahmes Thier“ definiert, „so fern man es in den Häusern zu halten pfleget“.9 Welcher Art das Haus beziehungsweise die
5 Martin Luther, Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga (1524), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe/Weimarer Ausgabe (WA), Bd. 15. Weimar 1899, 364. Zit. nach Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständische Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt am Main 2010, 465–485, hier 470. 6 Winfried C. J. Eberstein, Das Tierschutzrecht in Deutschland bis zum Erlaß des Reichs-Tierschutzgesetzes vom 24. November 1933. Unter Berücksichtigung der Entwicklung in England. Frankfurt am Main 1999, 374. 7 Jutta Nowosadtko, Die policierte Fauna in Theorie und Praxis. Frühneuzeitliche Tierhaltung, Seuchen- und Schädlingsbekämpfung im Spiegel der Policeyvorschriften, in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000, 297–340, hier 300. 8 Haustiere werden in der Forschung oft als „intermediate species“ begriffen, so bei Alexander Wilson, The Culture of Nature. North American Landscape from Disney to the Exxon Valdez. Cambridge, Mass. 1992, 127. 9 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 2. Aufl. Bd. 2.
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Häuser waren und wo im Haus beziehungsweise in der Hauswirtschaft die Tiere ihren Platz fanden, wird nicht diskutiert. Auch bleibt unklar, ob es allein um das Haus als Gebäude ging oder ob ein rechtlicher oder ökonomischer Ort (mit) gemeint war. Von zentraler Bedeutung ist die Abgrenzung vom ungezähmten, wilden Tier. Damit wird das Haustier nicht nur dem häuslichen Bereich, sondern dem Bereich der Kultur insgesamt zugeordnet. Als Tier jedoch bleibt es auch innerhalb des Hauses stärker der Sphäre der Natur verhaftet. Solchermaßen ein Mischwesen, verkörpert das Haustier auf besonders prägnante Weise eben jene historisch wandelbare Grenze von Natur und Kultur. Und diese Grenze trägt es in den Binnenraum des Hauses hinein. Der Fokus auf das im Haushalt lebende Tier schärft damit den Blick nicht nur für Aushandlungen des Innen und Außen, sondern auch des Natürlichen und Kulturellen im häuslichen, familiären und gesellschaftlichen Ordnungsgefüge. Ebenso relevant wie die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier sind die Binnendifferenzierungen in dem, was wir – räumlich gesprochen – das Tierreich nennen. Auf diese Klassifizierungen und ihre historischen Veränderungen möchte ich im Folgenden näher eingehen, da sie für eine Bestimmung dessen, was ein Haustier ausmacht, von zentraler Bedeutung sind. Meine Ausführungen sind dabei nicht als ausgearbeitete Begriffsgeschichte des Haustiers zu verstehen – eine solche steht noch aus –, sondern als erste Anhaltspunkte, um sich der Geschichtlichkeit des Haustiers anzunähern. In Zedlers Universallexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wird das Tier als „belebter Cörper“ definiert, der sich aus mehreren Teilen zusammensetze, sich durch tägliche Nahrung erhalte und zu mancherlei Bewegung fähig sei.10 Die erste grundlegende Differenz, die im Zedler eingezogen wird, ist die (aristotelische) zwischen vernünftigen und unvernünftigen Tieren beziehungsweise zwischen „Menschen und Vieh“. Dem Animale rationale werden hier also nicht die Tiere, sondern das Vieh gegenübergestellt; ‚Tier‘ fungiert als übergreifender Begriff. Liest man dann allerdings den Eintrag Vieh, so erfährt man, dass unter Vieh „eine Bestie, die zahm ist“, zu verstehen sei, wohingegen Tiere im Grunde allein wilde Tiere seien: „Im eigentlichen und besondern Verstande aber braucht man das Wort Thier nur von den wilden Bestien.“11 ‚Tier‘ wird also plötzlich, in demselben Lexikon, aber in einem anderen Eintrag, deutlich restriktiver definiert und dient nun der Binnendifferenzierung der unvernünftigen Tiere, zu denen das Vieh und die (wilden) Tiere respektive Bestien zählen. Diese uneinheitlichen Begriffsverwendungen und die Bedeutungsverschiebungen innerhalb des lexikalischen Verweissystems machen nicht nur die generelle Schwierigkeit sichtbar, einen Begriff definitiv festzulegen, sondern weisen auf ein
Leipzig 1796, 1036 f. 10 Johann Heinrich Zedlers Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 43. Halle 1745, 1333. 11 Ebd., Bd. 48, 1746, 1044.
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inhärentes Problem der Tierdefinitionen hin, gab es doch nicht ‚das‘ Tier, sondern nur jeweils sehr unterschiedliche Tiere, deren Einteilung in verschiedene Gruppen sich letztlich nicht stabilisieren ließ.12 Gerade in diesen Uneindeutigkeiten und Verschiebungen ist die historische Dynamik der Tier-Mensch- und mit ihr der Tier-TierUnterscheidungen spürbar.13 Zum Vieh, das – wie das spätere Haustier – über die Abgrenzung vom wilden Tier definiert wird, zählt der Zedler „alle vierfüßige[n] Thiere, welche in Heerden weise gehalten, oder vor den Hirten getrieben werden.“ Vor allem aber wird das Vieh definiert als „allerley zahme Thiere“, die „zum Nutzen einer Hauswirthschafft gehalten“ würden. Der Aspekt der Nützlichkeit war es, der diese Tiere an das Haus und seine Ökonomie band und es zugleich auf die ‚gute Ordnung‘ des gesamten Gemeinwesens bezog. Sowohl im Hinblick auf die anthropozentrische Bestimmung der Tiere aufgrund ihrer Nützlichkeit für den Menschen als auch hinsichtlich der auf Gegensatzpaaren aufbauenden Ordnung kann der Zedler als typisch für Klassifizierungen der Tierwelt im 18. Jahrhundert gelten.14 Das Kriterium der Nützlichkeit markiert – nach Vernunft versus Unvernunft und Zahmheit versus Wildheit – die dritte Leitdifferenzierung der Tierwelt, die der Zedler vornahm. So werden den nützlichen Tieren die schädlichen Tiere gegenübergestellt.15 Zu letzteren gehörten Löwen, Bären und Wölfe, aber auch bissige Hunde und um sich schlagende Pferde. Kriterium der Zuordnung war, dass ein solches Tier „Leuten an Leib oder Leben Schaden thun möchte“. Verschiedene frühneuzeitliche Landrechte verpflichteten den Besitzer eines solchen schädlichen Tiers, das Tier „weg[zu]schaffen“ und den entstandenen Schaden zu ersetzen.16 Deutlich wird hier, dass Tiere nicht allein Objekte rechtlicher Reglementierungen oder ökonomischer Überlegungen waren, sondern immer wieder in einer vom Menschen nicht vollständig kontrol-
12 Die Vermischung widersprüchlicher Diskurse und verschiedener Kategorisierungen von Tieren ist typisch für die Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, die sich erst sukzessive für verschiedene Leserschaften ausdifferenzierten. Vgl. Jeff Loveland, Animals in British and French Encyclopaedias in the Long Eighteenth Century, in: Journ. for Eighteenth-Century Stud. 4, 2010, 507–523. 13 Vgl. Pascal Eitler, Der ‚Ursprung‘ der Gefühle. Reizbare Menschen und reizbare Tiere, in: Ute Frevert u. a. (Hrsg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt am Main 2011, 93–119, hier 95, 98. 14 Vgl. Nowosadtko, Policierte Fauna (wie Anm. 7), 325. 15 Einzelne Tierarten wurden im 17. Jahrhundert als „landschädlich“, im 18. Jahrhundert als „gemeinschädlich“ definiert (vgl. ebd., 324). Eines aber kannte man bis weit ins 19. Jahrhundert hinein noch nicht: den Schädling. Bei diesem Gegenpart zum nützlichen Haustier handelt es sich um einen wissenschaftlich-politischen Gegenstand, der zwischen 1840 und 1920 entstanden und in Deutschland lexikalisch erstmals 1933 nachgewiesen ist. ‚Der‘ Schädling stellte eine Bedrohung nicht mehr nur für einen einzelnen Menschen, Feld oder Forst dar, sondern für etwas weit Umfassenderes, nämlich für Kollektivkörper wie ‚den deutschen Wald‘ (oder ‚das deutsche Volk‘). Vgl. Sarah Jansen, ‚Schädling‘. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840–1920. Frankfurt am Main 2003. 16 Zedlers Universallexicon (wie Anm. 10), Bd. 34, 1742, 739 f.
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lierbaren Art und Weise agierten. Ihnen wurde also durchaus eine gewisse Wirkungsund Handlungsmacht zugeschrieben, die besonders dann zutage trat, wenn sie in einer menschlichen Wünschen nicht entsprechenden Form tätig wurden.17 Festzuhalten bleibt, dass der Zedler noch heute relevante Unterscheidungen innerhalb der Tierwelt vornahm. Daneben aber differenzierte er die Tiere auch nach Kriterien, die in der Moderne an Bedeutung verlieren sollten wie die Einträge zum reißenden, zum grimmig reißenden oder zum sonderbaren [= ausländischen/ fremden] Tier zeigen. Vor allem aber kannte der Zedler als Lexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts die Kategorie ‚Haustier‘ noch nicht, und dies obwohl das Vieh klar der Hauswirtschaft zugeordnet war. Lexikalisch erfasst wurde das Haustier im deutschsprachigen Raum erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts18, und es wurde bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zunächst noch weitgehend als Nutzvieh verstanden. In Herders Conversations-Lexikon von 1855 etwa ist über Haustiere lediglich zu erfahren, dass „bei uns“ Pferde, Esel, Schafe, Schweine, Ziegen, Hunde, Katzen, Kaninchen, verschiedenes Federvieh und „allenfalls auch Bienen und Seidenwürmer“ zu dieser Kategorie zählen.19 Der Verweis auf Bienen und Seidenwürmer macht dabei deutlich, dass ein Haustier nicht zwangsläufig räumlich an das menschliche Haus (oder die benachbarte Stallung) gebunden sein musste. Entscheidend war die Zugehörigkeit zur Hauswirtschaft, war das Haus hier doch vor allem ökonomisch definiert. In Meyers Konversations-Lexikon von 1871 werden Haustiere dann vor allem als zahme Tiere definiert, „welche der Mensch zu seinem Nutzen in seinen Wohnungen hält und erzieht.“ Es folgt eine ganz ähnliche Aufzählung von Pferd, Rind, Schwein etc.; Hund und Katze aber werden nun gesondert genannt.20 1896 tritt in Meyers Konversations-Lexikon an die Stelle der bloßen Aufzählung eine funktionale Definition: Haustiere gelten nun als „zahme Tiere“, „deren Zucht in größerem Umfang zum Nutzen oder zum Vergnügen getrieben wird.“21 Damit trat erstens ein neues Wissensgebiet, nämlich die Haustierzucht, in Erscheinung. Zwar hat die bewusste Züchtung von Tieren eine lange Tradition und war insbesondere in England bereits im 17. Jahrhundert verbreitet. Mit der Darwin’schen Evolutionstheorie jedoch wurden Abstammung und Selektion zu zentralen Elementen des Konzepts wie auch des Umgangs mit Haustieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Zuchtvereine gegründet, die sich der systematischen Züchtung von Haustieren (inklusive der Erstellung umfangreicher Stammbücher)
17 Zur viel diskutierten Agency von Tieren vgl. Aline Steinbrecher, Eine Stadt voller Hunde. Ein anderer Blick auf das frühneuzeitliche Zürich, in: IMS 2, 2009, 26–40, hier 39. 18 Vgl. Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch (wie Anm. 9). 19 Herders Conversations-Lexikon, Bd. 3. Freiburg im Breisgau 1855, 240. 20 Neues Konversations-Lexikon, ein Wörterbuch des allgemeinen Wissens, hrsg. v. Hermann J. Meyer. 2. Aufl. Bd. 8. Hildburghausen 1871, 667. 21 Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 8. Leipzig 1896, 462. Diese Definition blieb allgemeinverbindlich.
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widmeten.22 Die meisten der uns heute bekannten Haustierarten sind erst am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden.23 Zweitens machen die Lexikoneinträge klar, dass am Ende des 19. Jahrhunderts zum Haustier nicht nur die heute als Nutztiere bekannten Tiere, sondern unbestritten auch die so genannten Vergnügungs- und Geselligkeitstiere zählten. Auch wenn der gemeinsame Oberbegriff nicht in Frage gestellt wurde, so belegen die Einträge doch eine zunehmende Ausdifferenzierung der Haustiere in Nutztiere einerseits und vornehmlich als unnütz verstandene Haustiere wie Hunde, Katzen und Vögel andererseits.24 Bereits im Zedler waren Hunde nicht zum Vieh gezählt worden; sie fielen in keine der aufgemachten Kategorien.25 Diese Sonderstellung wurde zunehmend systematisch ausformuliert – in den meisten deutschsprachigen Enzyklopädien geschah das erst relativ spät. In britischen Lexika hingegen findet sich neben dem Pendant zum Haustier, dem domestic animal, das den Bezug zum Haus respektive domus bewahrt, bereits seit dem 16. Jahrhundert der Eintrag pet26, für den das Haus weniger als Wirtschafts- und Arbeitseinheit von Relevanz ist denn als gesellig-familiärer Raum. In der bürgerlichen Praxis hingegen war die besondere Stellung der pets, die als ‚Lieblinge‘ mit besonderer Hingabe behandelt wurden27, auch im deutschsprachigen Raum spätestens im 18. Jahrhundert etabliert. Die Aufspaltung in Nutz- und Geselligkeitstiere korrelierte dabei mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von Erwerbs- und Familienarbeit. Diese Separierung erfasste auch das Haus selbst, das im Laufe der Frühen Neuzeit nach und nach in allgemein zugängliche einerseits und in bestimmten Personen und Tätigkeiten vorbehaltene Räume andererseits getrennt wurde, wobei Letztere idealiter der – sich zumindest auf normativer Ebene etablierenden – Eltern-Kind-
22 Harriet Ritvo, The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age. Cambridge, Mass. 1987, 82–121. 23 Im Falle vieler Hunderassen war dabei nicht mehr die Leistung, sondern das Aussehen entscheidend. Vgl. Jutta Buchner, Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Tierverständnisses im 19. Jahrhundert. Münster 1996, 101. 24 Die Übergänge sind allerdings fließend, zumal viele kleinere Haustiere als Versuchstiere Verwendung finden. Zur ambivalenten Positionierung von Hunden und Katzen „zwischen Labor und Familie“ vgl. Pascal Eitler, Ambivalente Urbananimalität. Tierversuche in der Großstadt (Deutschland 1879–1914), in: IMS 2, 2009, 80–93, hier 87. 25 Der Zedler charakterisiert den Hund als nützlich (Jagdhilfe/Bewachen), aber betont bereits, dass Hunde „auch wohl zur Lust“ gehalten würden (Zedlers Universallexicon (wie Anm. 10), 1372). 26 Bruce T. Boehrer, Introduction. The Animal Renaissance, in: ders. (Hrsg.), A Cultural History of Animals in the Renaissance. Oxford 2007, 1–25, hier 20–24. 27 Ein „pet“ ist laut Oxford English Dictionary „any animal domesticated or tamed kept as a favorite or treated with indulgence“. Ursprünglich bezeichnete der Terminus „pet“ Lämmer, die per Hand aufgezogen wurden.
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Familie vorbehalten waren.28 Die zum Vergnügen gehaltenen Haustiere durften im Gegensatz zu den meisten (menschlichen) Besuchern häufig auch in die privatesten Räume wie das Schlafzimmer vordringen – eine Zutrittserlaubnis, die sie zu engen Vertrauten machte.29 Im Gegensatz zum Ungeziefer, das sich ungewollt im menschlichen Haus aufhält, ist das Haustier freiwillig in das Innerste hineingelassen worden und auch in dieser Hinsicht ein „boundary breaker“.30
2 Verhäuslichung als Familialisierung und Emotionalisierung Dass (meist kleinere) Haustiere in den Innenräumen des Hauses zugegen waren und durchaus enge Bindungen zu ihren Herrchen und Frauchen unterhielten, ist kein modernes Phänomen. Diese Form der Haustierhaltung lässt sich bereits im Mittelalter nachweisen, hier vor allem in adligen Haushalten, aber auch in Klöstern.31 Quantitativ und qualitativ hat diese Praxis aber erst seit dem 17. und insbesondere dem 18. Jahrhundert einen deutlichen Entwicklungsschub erfahren, um im 19. Jahrhundert schließlich zu einem zentralen Bestandteil bürgerlicher Lebensweise zu werden. Das schlug sich nicht zuletzt in der im 18. und 19. Jahrhundert in zahlreichen europäischen Städten eingeführten Hundesteuer nieder, die zwischen als nützlich definierten (Wach-, Hüte- und Blinden-)Hunden und als unnütz eingeschätzten Hunden unterschied und nur Letztere besteuerte.32 Das zum Vergnügen gehaltene Haustier war nach Ansicht der städtischen Behörden, die mit Funktionalitätskriterien operierten, ein Luxusgut ohne ökonomischen Nutzen. Gegen diese enge Definition von Funktionalität regte sich Widerstand. Die Auseinandersetzungen um die Hundesteuer und die ihr zugrunde liegende unterschiedliche Klassifizierung von Hunden führten zur
28 Vgl. Joachim Eibach, Das Haus. Zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.–18. Jahrhundert), in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 2004, 183–205. 29 In der Frühen Neuzeit waren die Nutztiere in England zunehmend auf Distanz gehalten worden; mit Verachtung wurden die Iren, Schotten und Waliser betrachtet, die mit ihren Tieren unter einem Dach aßen und schliefen. Vgl. Keith Thomas, Man and the Natural World. Changing Attitudes in England 1500–1800. London 1983, 94. Das Haus- als Heimtier aber durfte nun einen Platz im engsten Familienkreise einnehmen. 30 Gerade das macht Haustiere so bedeutsam in der Moderne, so Erica Fudge, Pets. Stocksfield 2008, 20. 31 Simon Teuscher, Köter und ‚edle wind‘ als Medien sozialer Beziehungen vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: HA 6, 1998, 347–369. 32 Zur 1796 in England eingeführten Hundesteuer vgl. Thomas, Man (wie Anm. 29), 105; für Frankreich vgl. Kathleen Kete, The Beast in the Boudoir. Petkeeping in Ninenteenth-Century Paris. Berkeley 1995, 41; für Zürich: Steinbrecher, Stadt voller Hunde (wie Anm. 17), 33 f.
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öffentlich vorgetragenen Verteidigung der vor allem in städtischen, bürgerlichen Haushalten gehaltenen Hunde. Ihre Besitzer argumentierten vorrangig mit dem emotionalen Nutzen, den die Familie aus der Haustierhaltung zog. Ein US-amerikanisches Wörterbuch von 1844 macht die tendenzielle Verschiebung vom Haus zur Familie greifbar, wenn „undomesticated“ nun definiert wird als „not accustomed to a family life“.33 Der familiäre Nutzen des Haustiers erstreckte sich sowohl auf die moralische Erziehung der Kinder, die durch die Pflege eines Haustiers Fürsorge und Mitgefühl erlernen sollten34, als auch generell auf die Bedeutung des Haustiers als Gegenpol zur ‚kalten‘, allein an rationalen Kriterien ausgerichteten Außenwelt. In dieser Hinsicht kam dem Haustier und der Hausfrau eine ähnliche Funktion zu, die es lohnend erscheinen lässt, die Geschichte des bürgerlichen Haushalts und der Emotionalisierung des Familienlebens über das Haustier, also gleichsam vom Rande her, neu zu perspektivieren. Dabei trug das Tier als Subjekt wie Objekt zur Emotionalisierung bei und fungierte als Scharnier zwischen Außen und Innen, indem es die (bürgerliche) Familie als Einheit zu formieren half.35 Die Verbürgerlichung des Haustiers und insbesondere des Hundes ist also nicht als nachträglicher Effekt einer vornehmlich anderswo stattfindenden Verbürgerlichung zu verstehen, sondern als zentraler Bestandteil dieses Vorgangs, der spezifische räumliche Ein- und Ausschlüsse implizierte. Dabei lässt sich das ‚häusliche Reich‘ nicht einfach als fixer räumlicher Rahmen fassen, in dem die Prozesse der Verbürgerlichung stattfanden. Vielmehr ist das doing (middle-class) family, an dem Haustiere beteiligt waren, als ein spacing zu verstehen, das erst besagten häuslichen Bereich der Familie und des Selbst geschaffen hat.36 Haustiere fungierten dabei als Grenzwächter zwischen Innen und Außen – einer prekären Grenze, deren Bewahrung auf mannigfaltigen Formen der Kontrolle basierte. Insofern auch zum Vergnügen gehaltene Hunde durchaus Wachfunktionen übernahmen, schützten sie Familie und Haushalt nicht nur in symbolischem, sondern auch praktischem Sinne vor der bedrohlichen Außenwelt. Zugleich aber waren sie selbst Gegenstand der Disziplinierung und ‚Zivilisierung‘; ihr Verhalten musste reguliert und dem häuslichen Raum und seinen Werten angepasst werden.37 Zudem erfüllten sie nicht nur für die Konstruktion des Hauses als räumliches Ensemble, sondern auch für die Familie als Beziehungsgefüge eine wichtige Funktion.
33 An American Dictionary of the English Language. Exhibiting the Origin, Orthography, Pronunciation, and Definition of Words, bearb. von Noah Webster. New York 1844, 1002. 34 Dass Tierliebe in dieser Hinsicht klar als Menschenführung verstanden werden kann, zeigt Pascal Eitler, Tierliebe und Menschenführung. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Tierstud. 3, 2013, 40–48. 35 Vgl. Kete, Beast (wie Anm. 32), 48. 36 Zum Konzept des spacing vgl. Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. 37 Dass auch diese Einhegung prekär sein konnte, macht die verbreitete Angst vor der von Hunden übertragenen Tollwut sichtbar, die, so Kete, Beast (wie Anm. 32), 99, „the implosive nature of the bourgeois interior“ offenbare.
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Als „machine à aimer“ wurden sie zu zentralen Figuren des bürgerlichen (Gefühls-) Haushalts.38 Das zeigt unter anderem ihre häufige Thematisierung in verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Briefwechseln, in denen oft auch die Tier-MenschKommunikation verhandelt wurde, also ein Austausch über einen kommunikativen Grenzbereich stattfand.39 Angesichts der zentralen Rolle, die Haustiere und Hunde in besonderem Maße im emotionalen Regime der bürgerlichen Familie einnahmen, verwundert es nicht, dass ihre Besteuerung nicht den von den Behörden erwünschten Effekt erzielte, nämlich ihre Zahl deutlich zu reduzieren. Ganz im Gegenteil: Im Jahr 1872 wurden in Frankreich 2 240 000 Hunde besteuert, 1885 waren es 2 690 000 und 1896 schließlich über drei Millionen.40 Die wachsende Bedeutung der Haustiere als Familienmitglieder seit dem 18. Jahrhundert machen auch die zahlreichen bildlichen Darstellungen von Familien deutlich, in denen die Haustiere wie selbstverständlich ihren Platz einnehmen. In den Niederlanden entstanden bereits im 16. und 17. Jahrhundert Gemälde, die Hunde, Katzen und Vögel zeigen, die in der Wohnung mit Kindern spielen und als „Zeugen des Familienlebens“ wie der (christlichen) Ordnung des Heimes fungieren. Haustiere und Kinder verkörpern hier gleichermaßen Unschuld und Erziehbarkeit – sowie die Notwendigkeit der pädagogischen Anleitung.41 Von dieser Bildtradition sind auch noch die Familienporträts des 18. und 19. Jahrhunderts beeinflusst, die das Haustier dem (Klein-)Kind zuordnen.42 Für die Kinder fungierte der Hund als Spielkamerad und zugleich als Erziehungsmedium, sollte im Umgang mit dem Hund doch – neben der pfleglichen Behandlung von Tieren – auch der angemessene Umgang zwischen Herr und Diener, Eltern und Kind erlernt werden. Der bürgerlichen Repräsentation aber diente nicht nur die bildliche Darstellung mit Haustier, sondern auch der Spaziergang mit dem eigenen Hund, dessen gelungene Formung durch den Menschen öffentlichkeitswirksam – und das heißt auch: in der Öffentlichkeit – inszeniert werden musste. Aline Steinbrecher hat herausgestellt, dass der Spaziergang mit Hund im Laufe des 18. Jahrhunderts von einer vormals vor allem in adligen Kreisen üblichen zu einer in breiteren (bürgerlichen) Schichten gän-
38 Ebd., 55. 39 Instruktiv zur Tier-Mensch-Kommunikation: Rainer E. Wiedenmann, Die Tiere der Gesellschaft. Studien zur Soziologie und Semantik von Mensch-Tier-Beziehungen. Konstanz 2003. 40 Vgl. Kete, Beast (wie Anm. 32), 54. 41 Kathleen Kete, Verniedlichte Natur. Kinder und Haustiere in historischen Quellen, in: Dorothee Brantz/Christoph Mauch (Hrsg.), Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Paderborn 2010, 123–137, hier 129, 136. 42 Zum „visual twinning of children and animals“ vgl. auch Katherine C. Grier, ‚The Eden of Home‘. Changing Understandings of Cruelty and Kindness to Animals in Middle-Class American Households, 1820–1900, in: Mary J. Henninger-Voss (Hrsg.), Animals in Human Histories. The Mirror of Nature and Culture. Rochester, New York 2002, 316–362, hier 345.
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Abb. 1: Der Hund als Familienmitglied – Pierre-Auguste Renoir „Madame Charpentier und ihre Kinder“, 1878.
gigen Praxis wurde – eine Praxis, die nicht zuletzt signalisierte, dass ‚man‘ Zeit hatte, mit seinem Haustier zu flanieren. Insofern sich Hunde mitnehmen ließen, eigneten sie sich, ähnlich wie die am Körper getragene Kleidung, in besonderem Maße für Repräsentationszwecke in der Öffentlichkeit. Als mobiles Haustier entwickelte sich der Hund schnell zu einem beliebten Reisebegleiter.43 Doch auch die in Käfigen oder Aquarien gehaltenen Vögel oder Fische fungierten als dekorative und prestigeträchtige Statussymbole in der immer auch (halb-)öffentlichen Privatheit der bürgerlichen Wohnung.44 Setzte bereits die Gestaltung von Volieren in adligen Gärten und Parks auf die Sichtbarmachung der Tiere und ihrer Bändigung, so galt das in ähnlicher Weise auch für die in bürgerlichen Haushalten häufigen Vogelbauer und Aquarien,
43 Das zeigen die Baedeker-Reisehandbücher, die eigens die Fahrtkosten für Hunde anführen. Vgl. z. B. Rheinreise von Basel bis Düsseldorf. 6. Aufl, bearb. von Karl Bädeker. Koblenz 1849, IV. 44 Stefan Zahlmann, Mehr als alte Vögel und schräge Käuze. Die vier Körper des Papageien in der Stadt, in: IMS 2, 2009, 52–64, hier 62.
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deren Zweck unter anderem im Ausstellen der gelungenen Domestizierung der Tiere bestand.45 Zudem signalisierten insbesondere die sogenannten Kleinvögel Liebreiz, Harmlosigkeit und Schutzbedürftigkeit, mithin weiblich kodierte Eigenschaften46, und unterstrichen damit die Konstruktion eines vermeintlich friedvollen und von Fürsorge geprägten Innenraums. Doch geht die Bedeutung von Haustieren und insbesondere von Hunden nicht in ihrer Funktion als bürgerliches Prestigeobjekt oder Accessoire auf. Aline Steinbrecher hat darauf hingewiesen, dass Spaziergang und Hundehaltung sich nicht zufällig parallel etablierten, sondern das Bedürfnis der Hunde, sich draußen zu bewegen, mit Sicherheit zur Beliebtheit des Spaziergangs beigetragen hat. Sie sieht im gemeinsamen Spaziergang von Mensch und Hund ein Beispiel für ein „geteiltes praktisches Wissen“, in das die Agency auch von Tieren eingegangen sei.47 Für die Frage der Haustierhaltung stellt der Spaziergang insofern ein interessantes Beispiel dar, als er außerhalb des Hauses den Hund als Familienmitglied präsentiert, das durch gemeinsame Handlungen und das Einhalten bestimmter Regeln die häuslichen Werte auch in der Öffentlichkeit repräsentiert, auch wenn er sich räumlich vom Haus als seinem Wohnund Bestimmungsort entfernt. Für derartige Aufgaben eignete sich die Katze weit weniger und galt nicht zuletzt deshalb lange Zeit als bevorzugtes Tier der ‚anti-bürgerlichen‘ Bohème.48 Dass Katzen auch heute nachts oft allein nach draußen gelassen werden, lässt sich als Zeichen ihrer nicht vollständigen Domestizierung lesen.49 Trotz (oder gerade wegen) ihrer Unterschiedlichkeit konnten sich insbesondere Hunde und Katzen als bevorzugte Haustiere etablieren. Anders als die Nutztiere, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend aus der Stadt verschwanden und deren Tötung fortan in nicht-öffentlichen Schlachthöfen vorgenommen wurde, vermochten die ökonomisch marginalen Hunde, Katzen und Vögel ihren Platz im städtischen
45 Julia Breittruck, Pet birds. Cages and Practices of Domestication in Eighteenth-Century Paris, in: InterDisciplines 1, 2012, 6–24, hier 12. 46 Vgl. Reinhard Johler, Vogelmord und Vogelliebe. Zur Ethnographie konträrer Leidenschaften, in: HA 5, 1997, 1–35, hier 20. 47 Aline Steinbrecher, Eine praxeologisch performative Untersuchung der Kulturtechnik des Spaziergangs (1750–1850), in: Tierstud. 2, 2012, 13–24, hier 23. Der gemeinsame Spaziergang verhinderte zudem, dass der Hund als herrenlos angesehen und Opfer von Sanktions- oder gar Tötungsmaßnahmen seitens der auf Hygiene bedachten Obrigkeit wurde. 48 Zur Katze als „the anti-pet par excellence“ vgl. Kete, Beast (wie Anm. 32), 56. Mittlerweile gibt es mehr Katzen als Hunde in Privathaushalten. Dieser Wechsel in der Beliebtheit fiel nicht zufällig mit der zunehmenden Distanz zu autoritären Mustern in der (Kinder-)Erziehung zusammen, so Miriam Gebhardt, Die Katze als Kind, Ehemann und Mutter? Zur Geschichte der therapeutischen Beziehung im 20. Jahrhundert, in: Clemens Wischermann (Hrsg.), Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen. Konstanz 2007, 237–247, hier 246. 49 Dasselbe gilt für das – ebenfalls transgressive – Heranschleppen von Mäusen, vgl. Huw Griffiths/ Ingrid Poulter/David Sibley, Feral Cats in the City, in: Chris Philo/Chris Wilbert (Hrsg.), Animal Spaces, Beastly Places. New Geographies of Human-Animal Relations. London 2000, 56–70, hier 58.
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Raum zu behaupten beziehungsweise auf neue Art und in erstaunlichem Ausmaß zu erobern.50 Im Laufe des 20. Jahrhunderts sollte sich dann eine komplexe, allein auf sie ausgerichtete Infrastruktur entwickeln, zu der Institutionen wie Hundesalons und Tierkliniken, (multinationale) Tierfutterproduktionsstätten, aber auch Tierheime und Tierfriedhöfe gehören. Gerade der Umgang mit dem Tod des geliebten Haustiers markiert die Differenz zum Nutztier: Während Kühe, Schweine oder Hühner massenhaft und anonym getötet werden, um anschließend verzehrt zu werden, wird dem Familienhund oder der -katze eingeräumt, alt zu werden und eines natürlichen Todes zu sterben – oder qua Einschläferung einem vermeintlich qualvollen Ende zu entgehen. Auf Tierfriedhöfen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in europäischen Großstädten entstanden sind (der erste Hundefriedhof wurde 1899 in Paris gegründet)51 –, erhalten diese privilegierten Haustiere einen Grabstein mit ihrem Namen. Im Tod zeigt sich damit nochmals die Besonderheit dieses Haustiers, das sich, so Keith Thomas52, vom Nutztier vor allem durch drei Merkmale unterscheidet: Erstens darf es im Haus leben (und auf dem Friedhof seinen letzten Ruheort finden, wenn auch nicht im Familiengrab); zweitens darf es nicht verzehrt werden53, und drittens erhält es einen individuellen Namen. Dabei hat sich die Mode im Laufe des 18. Jahrhunderts hin zu menschlichen Namen verschoben; anders als in Frankreich erhielten Hunde in Großbritannien und Deutschland oft auch christliche Namen.54 Die Namensgebung lässt sich als weiteres Anzeichen für die Stärkung der Beziehungen zwischen Mensch und Haustier sowie für die zunehmende Anthropomorphisierung des Haustiers verstehen. Doch auch Nutztieren wurde und wird nicht selten ein individueller Name gegeben. Es wäre daher lohnenswert, die emotionale Bindung an ‚das Vieh‘ (auch historisch) genauer zu untersuchen und damit weitere (nicht-bürgerliche) soziale Gruppen und ihr Verhältnis zu Tieren stärker in den Blick zu nehmen.55 Im Todesfall des geliebten Haustiers können die Besitzer mittlerweile auf zahlreiche Ratgeber zurückgreifen, die Hilfe in praktischen Fragen wie der Sargauswahl,
50 Der erste öffentliche Schlachthof entstand in Paris 1818. Vgl. Dorothee Brantz, Die ‚animalische Stadt‘. Die Mensch-Tier-Beziehung in der Urbanisierungsforschung, in: IMS 1, 2008, 86–100, hier 92. Nur noch das Haustier und das Zootier besaßen einen ihnen zugewiesenen, klar definierten Ort in der Stadt, so Mieke Roscher, ‚Urban Creatures‘. Die britische Tierschutzbewegung als urbanes Phänomen, in: IMS 2, 2009, 65–79, hier 78. 51 Kete, Beast (wie Anm. 32), 33. 52 Thomas, Man (wie Anm. 29), 112 f., 115. 53 Ausnahmen von diesem Tabu wurden jedoch in Notzeiten gemacht, und zwar in allen historischen Perioden. Vgl. Sabine von Heusinger, Die Katze im Kochtopf. Zu Ernährung und Kultur des Mittelalters, in: Wischermann (Hrsg.), Katzen und Menschen (wie Anm. 48), 33–52. 54 Thomas, Man (wie Anm. 29), 115. 55 Gegen eine rein utilitaristische Beziehung zum Nutztier argumentiert Karin Jürgens, Emotionale Bindung, ethischer Wertbezug oder objektiver Nutzen? Die Mensch-Nutztier-Beziehung im Spiegel landwirtschaftlicher (Alltags-)Praxis, in: ZAA 12, 2008, 41–56.
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aber auch für die zu leistende Trauerarbeit anbieten.56 Nichts verdeutlicht stärker als der Umgang mit dem Tod des geliebten Tiers, welch weitreichende Prozesse der Emotionalisierung stattgefunden haben und wie sehr das Haustier zu einem „affektive[n] Beziehungspartner“ geworden ist.57 Verhäuslichung, Privatisierung und Emotionalisierung waren dabei auf das Engste miteinander verwoben und haben Haustiere – die im 20. und 21. Jahrhundert mitunter auch als „Heimtiere“ firmier(t)en, um die Differenz zum Nutztier auch begrifflich zu markieren58 – an den familiären Haushalt gekoppelt. Die semantische Verschiebung vom Haus zum Heim, die sich auch im Englischen (vom „house“ zum „home“) im Laufe des 19. Jahrhunderts nachweisen lässt59, wäre in dieser Hinsicht noch genauer auszuloten, um der Spezifik der emotionalisierten Häuslichkeit im 19. Jahrhundert auf den Grund zu gehen. Mit Emotionalisierung ist hier nicht eine generelle Zunahme von Gefühlen, sondern die Verschiebung in der Betrachtung dessen, was den Kern des Familienlebens ausmachen sollte60, sowie die Kultivierung bestimmter Gefühle, allen voran der Liebe, gemeint. Zudem ist die Verschränkung von Emotionalisierung und Verhäuslichung bedeutsam, und zwar in dem Sinne, dass intensivere emotionale Beziehungen zunehmend auf die häusliche Sphäre beschränkt wurden.61 Bürgerliche Liebeskonzeptionen haben das Heim als einzig zulässige Stätte der Liebe etabliert und waren auch für die Heimtierhaltung maßgeblich. In der englischen Bezeichnung pet ist eine liebevoll-zärtliche Umgangsform (und damit deutlich andere Behandlung, als sie dem Gros der Tiere zu Teil wurde) direkt angesprochen. Die in Texten und Bildern zu findende Betonung der Liebe zwischen den Familienangehörigen inklusive des Heimtiers sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die häusliche Sphäre (auch) im Bürgertum keineswegs frei von ökonomischem Kalkül und damit den Marktgeset-
56 Vgl. Andrew Kirk/Jane Moseley, Tote Lieblinge. Wie Sie Ihr Haustier stilvoll unter die Erde bringen. Frankfurt am Main 2009. Der Zedler hatte es noch als Sünde bezeichnet, wenn man verstorbenen Tieren eine „gewisse Ehre erweiset, Grabschrifften verfertiget, und mit ihnen, wie mit Menschen umgehet“ (Zedlers Universallexicon (wie Anm. 10), 1377). Der Eintrag macht allerdings deutlich, dass diese Praktiken auch im 18. Jahrhundert nicht unüblich gewesen sein müssen. 57 Steinbrecher, Stadt voller Hunde (wie Anm. 17), 40, im Rekurs auf Yi-Fu Tuan, Dominance and Affection. The Making of Pets. New Haven 1984. 58 Das Europäische Abkommen vom 13. 11. 1987 zum Schutz von Heimtieren versteht unter diesen Tieren solche, die der Mensch „insbesondere in seinem Haushalt zu seiner eigenen Freude und als Gefährten hält“, zit. nach Albert Lorz, Haustiere – Heimtiere – Nutztiere, in: Natur + Recht 8, 1989, 337–341, hier 339. 59 Stefan Muthesius, The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior. London 2009, 27. 60 Inken Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850. Köln 2010, 9–27, hier 20. 61 Annabelle Sabloff, Reordering the Natural World. Humans and Animals in the City. Toronto 2001, 62.
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zen der vermeintlich äußeren Lebenswelt war. Wie neuere Arbeiten zum Konnex von Liebe und Kapitalismus, aber auch zu häuslicher Gewalt zeigen, lässt sich die Trennung von angeblich geschütztem Innenraum und ‚brutaler‘/marktförmiger Außenwelt nicht aufrechterhalten.62 Zum einen lässt sich die „domestic ethic of kindness to animals“ als „covert discourse about domestic violence“ lesen.63 Zum anderen ergreift die Warenförmigkeit auch das Haustier. In Zoohandlung oder Tiergeschäft erworben, tritt das Transitorische des Familientiers zwischen „potential kin“ und „article for sale“, mithin sein „dual status as property and social being“ besonders deutlich in Erscheinung.64 Gerade im Falle der Ziervögel ging die bürgerliche Heimtierhaltung oft einher mit der Züchtung im eigenen Haus und dem anschließenden Verkauf.65 Wirtschaftliche und emotional-affektive Aspekte verbanden sich in der Heimtierhaltung also auf eine spezifische, diese Institution prägende Art und Weise. Innerhalb der affektiven Ökonomie des bürgerlichen Haushalts sollte das Heimtier (ähnlich wie das Kind) auf die ihm entgegengebrachte Liebe mit Gegenliebe und Anhänglichkeit antworten. Die „Konfrontation bestimmter Tiere mit bestimmten Gefühlen“ beinhaltete demnach auch „Zumutungen, denen bestimmte Tiere gezielt unterworfen wurden“, insofern als die Tiere selbst bestimmte Gefühle entwickeln und zudem für den Menschen verständlich anzeigen sollten – eine ergiebige Konstellation für eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Tier-Mensch-Verhältnisses.66 Ein Topos nicht nur in literarischen Diskursen war in diesem Zusammenhang die im Vergleich zum Menschen größere Verlässlichkeit und unerschütterliche Treue vor allem des Hundes, die ihn als besseren Freund erscheinen ließ. Die Figur des Freundes ist insofern interessant, als man mit diesem Freund das Haus oder gar das Bett teilte, ohne mit ihm verwandt zu sein. Das Heimtier ist damit auch in dieser Hinsicht ein Indiz dafür, dass das ‚Haus‘ nicht zu eng gefasst werden sollte. Dass es sich bei diesem Topos um eine als Freundschaft, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt auch als Kameradschaft zwischen Männern konzipierte Nähe handelte67,
62 Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt am Main 2002. Zum Zusammenhang von häuslicher Gewalt gegen Frauen und (Haus-)Tiere vgl. Carol J. Adams, Woman-Battering and Harm to Animals, in: dies./Josephine Donovan (Hrsg.), Animals and Women. Feminist Theoretical Explorations. Durham, NC 1999, 55–84. 63 Grier, Eden of Home (wie Anm. 42), 332. 64 Sabloff, Reordering (wie Anm. 61), 84; Susan J. Pearson/Kimberley K. Smith, Developing the Animal Welfare State, in: Carol Nackenoff/Julie Novkov (Hrsg.), Statebuilding from the Margins. Between Reconstruction and the New Deal. Philadelphia 2014, 118–139, hier 138. 65 Für das Paris des 18. Jahrhunderts zeigt das Breittruck, Pet birds (wie Anm. 45), 8, mit Bezug auf Jean-Claude Hervieux de Chanteloups „Nouveau traité de serins de Canarie“ von 1705, der 1716 ins Deutsche und 1718 ins Englische übersetzt wurde. 66 An einer solchen arbeitet Pascal Eitler am MPI für Bildungsforschung in Berlin. Die Zitate stammen aus Eitler, Tierliebe (wie Anm. 34), 47. 67 (Größere) Hunde wurden auch gerne von Studentenverbindungen gehalten; generell war die Hundehaltung in Universitätsstädten sehr verbreitet. Vgl. Inge Auerbach, Hunde in Universitätsstädten
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macht die klischeehafte Gegenüberstellung des Hundes als treuem Begleiter des Menschen/des Mannes auf der einen Seite und des sogenannten Schoßhündchens als Liebhaberei der Frau aus gehobenen Kreisen auf der anderen Seite deutlich. So charakterisiert Brehms Tierleben den Hund als „unseren treuesten Freund, unseren liebsten Gesellschafter aus dem ganzen Tierreiche“; der Schoßhund „verweichlichter Frauen“ jedoch wird als „ein verzogenes, verzärteltes, launenhaftes und nicht selten heimtückisches Geschöpf“ beschrieben.68 Der Hund nimmt nach Brehm die Eigenschaften seines Herrchens beziehungsweise Frauchens an und spiegelt deren Wesen, gerade auch in moralischer Hinsicht. Gemeinsam ist dem Bild vom treuen Hund mit seinem Halter und dem Klischee vom Hündchen, das als Dekoration seiner Besitzerin fungiert, dass beide auf die Beziehung zwischen einem Tier und einem Menschen abheben, bei denen es sich nicht selten um alleinstehende Personen handelt; die Familialisierung des Haustiers ist also nur ein Aspekt der emotionalisierten Heimtierhaltung. Das Schoßhündchen konnte schon dem Namen nach einen besonders intimen Platz für sich beanspruchen. Diese meist kleinen und zu keinen Wachdiensten oder Ähnlichem fähigen Hunde und ihre Halterinnen bildeten einen festen Bestandteil der kulturkritischen Luxusdebatten seit dem 18. Jahrhundert.69 Zudem erfuhren beide eine umfassende Sexualisierung.70 Über tatsächliche sexuelle Kontakte mit Haustieren wissen wir nur wenig. Die bisherige Forschung legt nahe, dass Frauen eher intim-sexuelle Kontakte mit kleineren, im Haus gehaltenen Tieren haben, während Männer vielfach (größere) Nutztiere als ‚Partnerinnen‘ oder ‚Partner‘ wählen. Bereits der Zedler erwähnt „Frauenzimmer“, die „gewiß strafbar“ seien, weil sie ihre Hunde küssten, Menschen (Männern) aber einen Kuss versagten.71 In England bildete sich bereits in den 1710er Jahren eine satirische Tradition aus, die zum einen die Keuschheit von Schoßhündchen und Halterin in Zweifel zog und zum anderen die Eifersucht des männlichen Verehrers auf den in die Intimsphäre der Geliebten gelassenen Hund wortreich artikulierte.72
18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, in: IMS 2, 2009, 41–51; Barbara Krug-Richter, Hund und Student – eine akademische Mentalitätsgeschichte (18. –20. Jahrhundert), in: Jb. für Universitätsgesch. 10, 2007, 77–104. 68 Die Haushunde, in: Brehms Tierleben (Meyers Volksbücher). 3. Aufl. Leipzig 1890, 13–15, hier 13 f. 69 Zum Schoßhündchen als „Zeichen des demonstrativen Müßiggangs der Oberschicht“ vgl. Michaela Laichmann, Hunde in Wien. Geschichte des Tieres in der Großstadt. Wien 1998, 18. 70 Vgl. z. B. das berühmte Gemälde Jean-Honoré Fragonards „Mädchen mit Hund“ von ca. 1775, Bayer. Gemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München. 71 Zedlers Universallexicon (wie Anm. 10), 1377. 72 Vgl. z. B. Henry Carey’s ‚The Rival Lap-Dog, a Song‘ von 1713, zit. nach Theresa Braunschneider, The Lady and the Lapdog. Mixed Ethnicity in Constantinople, Fashionable Pets in Britain, in: Frank Palmeri (Hrsg.), Humans and Other Animals in Eighteenth-Century British Culture. Representation, Hybridity, Ethics. Aldershot 2006, 31–48, hier 42.
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Sexuelle Kontakte zwischen Tieren und Menschen wurden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit hart bestraft, wobei auch die an der ‚Unzucht‘ beteiligten, der Verführung angeklagten Tiere mit und oft zum Tode verurteilt wurden.73 Die meisten der menschlichen Angeklagten waren Männer, denen ein „Verbrechen gegen die göttliche und menschliche Natur“ vorgeworfen wurde. Oft handelte es sich um Bauern, die mit Kühen oder Schafen sexuell verkehrten und das in den zu ihrem Hof beziehungsweise Haus gehörigen Ställen taten. Durch die alltägliche Nähe zum Tier besaßen die Bauern das nötige praktische Wissen darum, wie sie sich dem Tier zu nähern hatten.74 Galt Sex mit Tieren lange Zeit als Sünde, stehen heute eher Tierschutzmotive im Vordergrund, wenn sexuelle Handlungen zwischen Menschen und Tieren inkriminiert werden.75 Während die Emotionalisierung des Verhältnisses von Mensch und Haustier langsam international zu einem Forschungsgegenstand geworden ist, gilt das für das tabuisierte Thema sexueller Kontakte zwischen Mensch und Tier nicht. Hier besteht noch großer Forschungsbedarf.
3 Fazit Der kursorische Durchgang durch die Geschichte der sich wandelnden Definitionen des Haustiers hat vor allem eine funktionale Ausdifferenzierung zu erkennen gegeben, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Trennung von Nutztier einerseits und Heim- beziehungsweise Familientier andererseits geführt hat. Statt einer ökonomisch bedeutsamen Rolle innerhalb der Hauswirtschaft nahm das Heimtier im städtischen bürgerlichen Haushalt vor allem eine zentrale Position in der affektiven Ökonomie der Familie ein. So bedeutsam diese Ausdifferenzierung ist, so bleibt doch zu fragen, inwieweit das hartnäckige Festhalten am Haustierbegriff, der Nutz- und Familientiere gleichermaßen umfasst, nicht ein Hinweis darauf sein könnte, dass jenseits der ‚privatisierten‘ bürgerlichen Familie auch noch ganz andere, parallele Haushaltsformen und Funktionen häuslichen Lebens virulent blieben. Damit kommt nicht eine geradlinige historische Veränderung in den Blick, sondern konkurrierende und jeweils spezifische Ausprägungen des Mensch-TierVerhältnisses in unterschiedlich kommunizierten Räumen. Eine Analyse der histori-
73 Peter Dinzelbacher, V. Mittelalter, in: ders. (Hrsg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Stuttgart 2000, 181–292, hier 278. 74 Jose Cáceres Mardones, Böse Gedanken, teuflischer Mutwillen und Liebe. Ehepaare und Tiere in Gerichtsverfahren gegen Bestialität, in: Tierstud. 3, 2013, 51–61, hier 51, 55 f. 75 Diese Verschiebung vom „‚sittenwidrigen‘ Verhalten des Menschen hin zu dem in seiner ‚tierlichen Würde‘ verletzten Tier“ verweist laut Massimo Perinelli auf eine „Neuausrichtung des aktuellen Sexualitätsdiskurses“. Massimo Perinelli, Die Lust auf das Tier. Zoophilie, Film und der normative Reflex, in: Tierstud. 3, 2013, 62–74, hier 62.
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schen Semantik kann dabei nur ein Ausgangspunkt sein, um sich diesen vielfältigen Beziehungen anzunähern. Die – teils sehr intensiven – Nahbeziehungen zu Tieren bedürfen einer weit ausführlicheren Erforschung, will man das Gefüge ‚Haus‘ oder ‚Familie‘ in seiner ganzen Komplexität verstehen. Dabei scheinen mir insbesondere die Nähe, die visuell und diskursiv zwischen Kindern und Haustieren hergestellt wurde, sowie die Ähnlichkeit der (emotionalen) Funktionen des Haustiers und der Hausfrau viel versprechende Ansatzpunkte für weitere Studien zu bieten. Die unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnisse von Hausfrauen, Haustieren und Kindern, aber auch von Dienstboten (domestics) und Sklaven in einem Haushalt gemeinsam zu betrachten76, könnte für die Analyse der ein Haus strukturierenden Machtbeziehungen gewinnbringend sein. Eine eingehendere Beschäftigung mit dem skizzierten Verständnis von Verhäuslichung als ‚Zivilisierung‘ würde zudem eine Auseinandersetzung mit den kolonialen Implikationen bürgerlicher Familienmodelle bedingen. Denn für die Selbstverständigung des europäischen Bürgertums war die Abgrenzung nicht nur von den unteren sozialen Schichten, sondern auch von außereuropäischen Kulturen zentral. Dass den Unterschichten Tierquälerei und den sogenannten nicht-zivilisierten Völkern ein verachtungsvoller Umgang mit Tieren vorgeworfen wurde, macht deutlich, dass das emotionalisierte und moralisierte Verhältnis zum Haustier als bürgerliche und westliche Errungenschaft begriffen beziehungsweise behauptet wurde. Die Vehemenz, mit der der ‚richtige‘ Umgang mit Tieren gefordert wurde, zeigt die Zentralität der Institution der Heimtierhaltung für das bürgerliche Selbstverständnis und macht deutlich, dass sich ‚das Haus‘ ohne das Haustier nur unzureichend erklären lässt.
76 Auf Parallelen zwischen „pets and slaves“ in der britischen Kultur des 18. Jahrhunderts weist Braunschneider, Lady (wie Anm. 72), 32, hin.
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Teil IV: Interaktion und soziale Umwelt
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Einführung: Interaktion und soziale Umwelt Das Haus und die in ihm lebenden und wirtschaftenden Menschen waren durch alltägliche Interaktionen in eine soziale Umwelt eingebettet, die in verschiedenerlei Weise Einfluss nahm und in das Haus hineinwirkte. Nachbarn, Verwandte, Berufsgenossen, Geschäftspartner und Kunden prägten die häusliche Ökonomie und Lebenszusammenhänge. Sie waren für das Funktionieren des Haushalts unerlässlich und ganz unterschiedlich im Haus präsent. Der Kontakt und die Interaktion mit der sozialen Umwelt zeichneten sich durch einen je nach Kontext spezifisch regulierten Prozess des Öffnens und Schließens aus, da Haus und Haushalt baulich wie rechtlich distinkte Räume waren, deren Grenzen die Interaktionen bestimmten und formten. In der räumlichen Dimension manifestierte sich dies in der Zugänglichkeit des Hauses: Nachbarn und Gäste betraten das Haus durch eine offenstehende Tür, oder sie klopften an und baten um Einlass. Je nach Innenausstattung und Situation hielten sie sich möglicherweise in der Küche, der ‚guten Stube‘ oder in einer Studierstube auf, wohingegen abends die Türen wegen der Nachtruhe meist verschlossen wurden. In der sozialen Dimension zeigte sich die Öffnung anhand der verschiedenen Netzwerke, die jedes Haushaltsmitglied zur sozialen Umwelt aufbaute – Hausherr und Hausfrau ebenso wie die Kinder, das Gesinde oder weitere im Haushalt lebende Personen. Die Interaktionen mit der sozialen Umwelt wurden durch verschiedene Normengefüge reguliert, deren Beherrschung und Beachtung selbstverständlicher Teil des häuslichen Lebens war: vor allem die ‚gute Nachbarschaft‘ und die ‚Gastfreundschaft‘. Diese ermöglichten den Aufbau und die Pflege sozialer Beziehungen, die nicht nur für den einzelnen Haushalt, sondern für die gesellschaftliche Ordnung insgesamt von zentraler Bedeutung waren. Dies galt insbesondere für die vormodernen Gesellschaften Europas, in denen Haushalte in ökonomischen oder familialen Krisen notwendig auf die Unterstützung der sozialen Umwelt angewiesen waren und noch keine staatlich garantierten sozialen Sicherungssysteme existierten. Der Blick auf die Verflechtung von Häusern und Haushalten mit ihrer sozialen Umwelt bezieht daher auch die übergeordneten Fragen nach den Formen der sozialen und rechtlich-politischen Integration von Häusern in die Gesellschaft ein. Ältere Arbeiten thematisierten das Verhältnis von Haus und Umwelt dezidiert aus der Perspektive des klar definierten Rechtsraums, der sich dann dichotomisch als ein ‚Innen‘ bzw. ‚Außen‘ des Hauses begreifen ließ. Dies war in erster Linie der Quellendiktion geschuldet, basierten diese Arbeiten doch wesentlich auf normativen Textgattungen wie der sog. Hausväterliteratur, die einen fest umrissenen Herrschaftsbereich des Haushaltsvorstands definierten, oder aber obrigkeitlichen Quellen wie Haushalts- und Zensuslisten, die ebenfalls nach den Haushaltsvorständen und den
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der Rechtsgewalt des Hausvaters Untergebenen geordnet waren.1 Auch Arbeiten aus dem Umfeld der politisch orientierten Gemeindeforschung konzeptualisierten das Verhältnis von Haus und Nachbarschaft vom Aspekt der institutionalisierten Herrschaft her als klar voneinander abgegrenzte Einheiten, wobei die Haushalte durch ihren Haushaltsvorstand vertreten wurden, d. h. den Hausherrn oder eine Witwe, in Frauenangelegenheiten auch mal von der Hausherrin.2 Zwar erlangten Männer in diesem normativen Setting des Hauses durch Heirat, Liegenschaftsbesitz oder Bürgerrecht die Rechtsvertretung ihres ‚Hauses‘ nach außen, aber damit war weder die gesamte Alltagspraxis der Interaktion mit der sozialen Umwelt abgedeckt, noch darf man davon ausgehend auf die innerhäuslichen Konstellationen schließen. Mikro- und geschlechtergeschichtlich ausgerichtete Arbeiten haben gezeigt, dass ein erhebliches Maß an individuellen Interessen und Strategien der Mitglieder eines Haushalts vorherrschte und deutlich mehr Heterogenität offenbarte, als man zunächst angenommen hatte. Gerade die Ehepartner pflegten je eigene nachbarschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen und verfolgten dabei durchaus eigene Präferenzen und Bedürfnisse, die nicht zwangsläufig auch den Haushalt als Gesamtheit betrafen.3 Das Ineinandergreifen ganz unterschiedlicher sozialer Beziehungsgefüge im Haus ist in einigen Studien mitunter also so dicht und überlagernd wahrgenommen worden, dass sich in der Forschung zeitweise die Grenzen zwischen Haus und anderen sozialen Figurationen aufzulösen und zu verflüssigen schienen.4 Dagegen betonen neuere Arbeiten, die das soziale und ökonomische Funktionieren des Hauses vor allem im Zusammenhang des generationellen Übergangs in
1 Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk des Wolf Helmhard von Hoberg 1612–1688. Salzburg 1949; Julius Hoffmann, Die ‚Hausväterliteratur‘ und die ‚Predigten über den christlichen Hausstand‘. Ein Beitrag zur Geschichte der Lehre vom Hause und die Bildung für das häusliche Leben. Weinheim 1954; für die demographisch orientierten Arbeiten vgl. klassische Werke wie Peter Laslett/Richard Wall, Household and Family in Past Times. Cambridge 1972; Jack Goody, The Development of Marriage and Family in Europe. Cambridge 1983 oder Michael Mitterauer/Josef Ehmer (Hrsg.), Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften. Wien 1986, 185–325. 2 Vgl. hierzu Peter Blickle (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich. München 1991; Christina Vanja, Frauen im Dorf – Ihre Stellung unter besonderer Berücksichtigung landgräflich-hessischer Quellen des späten Mittelalters, in: ZAA 2, 1986, 147–159. 3 David Sabean, Property, Production and Family in Neckarhausen 1700–1870. Cambridge 1990; Heide Wunder, ‚Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond‘. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992; Margareth Lanzinger (Hrsg.), Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich. Köln 2010. 4 Simon Teuscher/Jon Mathieu/David Sabean (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches in Long-term Developments (1300–1900). New York 2010; Sabean, Property (wie Anm. 3); Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. 2. Aufl. Göttingen 1997; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien und Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrücker Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit. Göttingen 1991.
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den Blick nehmen, dass Herkunftsfamilien, Verwandtschaften, Paten- und Vormundschaften zwar ganz erheblichen Einfluss auf die ökonomischen Strategien eines Hauses nehmen konnten. Zugleich besaßen die Eheleute aber einen nicht unbeträchtlichen Handlungsspielraum, durch Eheverträge, Ausgedingeabsprachen und Testamente ganz individuell auf Situationen und Konstellationen zu reagieren und den Haushalt in seinem Bestand zu schützen.5 Das Funktionieren häuslicher Ökonomien war also auf die soziale Umwelt angewiesen, eine Perspektive, die jüngst auch als Ausgangspunkt für eine alternative Konzeptualisierung des Hauses vorgeschlagen wurde.6 Vor allem anhand der Nachbarschaft lassen sich die Charakteristika dieser Wechselwirkung herausarbeiten, in der sich tagtäglich Gesellschaft durch Integration und Kontrolle ‚vollzog‘. Haus und Nachbarschaft waren also komplementär aufeinander bezogen, wobei im Unterschied zum Raum des Hauses, der einem hierarchischen Ordnungsmodell folgte, der Raum der Nachbarschaft heterarchisch, also ohne formal festgelegte Leitung, organisiert war. Gleichwohl überlagerte sich ein solches soziales Gefüge von Nachbarschaft mit rechtlich-institutionellen Strukturen, wenn Nachbarschaften zugleich gemeindlich administrative Organisationseinheiten mit entsprechenden Hierarchien, Ordnungen und Aufgaben darstellten. Dies war in der Vormoderne vor allem im ländlichen Bereich, aber auch in zahlreichen Städten der Fall.7 Betrachtet man Nachbarschaft als Handlungs- und Kommunikationszusammenhang eigener Qualität, der gleichwohl so selbstverständlich zum Haus gehörte wie Kinder, Gesinde und Gäste8, lassen sich unterschiedliche Ebenen „zwischenhäuslicher Interaktionen“9 herausstellen. Wenngleich unausweichlich, wurden nachbarliche Beziehungen aktiv gestaltet. Nachbarliche Konflikte stellten in diesem Gefüge eine wichtige Form kommunikativer Praxis dar, in denen die gemeinsam geteilten Grundregeln des Zusammenlebens immer neu hinterfragt, ausgehandelt und befes-
5 Lanzinger, Aushandeln (wie Anm. 3); regionale Untersuchungen in Anne-Lise Head (Hrsg.), Inheritance Practices, Marriage Strategies and Household Formation in European Rural Societies. Turnhout 2012. 6 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 7 Eric Piltz, Vergemeinschaftung durch Anwesenheit. Sozialräumliche Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld, in: Christine Roll (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln 2010, 385–398; Blickle, Landgemeinde (wie Anm. 2); Karl-Sigismund Kramer, Die Nachbarschaft als bäuerliche Gemeinschaft. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung Bayerns. München 1954. 8 Vgl. hierzu gerade auch die normative Literatur der sog. Ökonomiken bei Philip Hahn, Geliebter Nächster oder böser Nachbar? Die Bewertung der Außenwelt in der ‚Hausväterliteratur‘, in: Zeitsprünge 14, 2010, 456–476 sowie die Beiträge von Inken Schmidt-Voges und Gabriele Jancke in diesem Teil. 9 Jon Mathieu, ‚Ein Cousin an jeder Zaunlücke‘. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700–1900, in: Margareth Lanzinger/Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Wien 2007, 55–71, hier 61.
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tigt wurden – und zwar entlang der multiplen Grenzziehungen zwischen Haus und Nachbarschaft. Nachbarschaft war der Raum eigener ritualisierter Formen sozialer Kontrolle, in denen Zugehörigkeit durch das Markieren und Sühnen von häuslichem Fehlverhalten performativ hergestellt wurde. War die Ordnung im Haus durch individuelles Fehlverhalten eines oder mehrerer Mitglieder grundlegend gefährdet, fungierten Rügerituale in zwei Richtungen als symbolische Kommunikation. Wurde auf der einen Seite den inkriminierten Haushalten bzw. devianten Personen in aller Öffentlichkeit hör- und sichtbar signalisiert, dass in den Augen der Nachbarschaft fundamentale Grenzen überschritten worden waren, so diente die Teilnahme bzw. deren Beobachtung des Rituals auf der anderen Seite der Bestätigung und Selbstvergewisserung über die Gültigkeit der grundlegenden Normen. Wie eng das Haus als Gebäude hierin als Sinnbild und nachgerade Verkörperung der in ihm hausenden Menschen fungierte, wird in den konkreten Praktiken deutlich. Entweder wurde der Körper der betreffenden Personen etwa durch Hörner aufsetzen, Auspeitschen oder Eselreiten entehrt, oder aber das Haus selbst wurde durch gezieltes Übertreten und Zerstören von Grenzmarkierungen wie Zaun- und Hauspfosten, Dächern oder Fenstern Gegenstand von Entehrung. Dass solche Rügerituale eigene, auf das Haus bezogene Konsensrituale darstellen, die die gesellschaftliche Integration eines jeden Hauses im Sinne der ‚guten Ordnung‘ gewährleisten sollten, zeigt der enge Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen, an dessen Vortag oder -abend solche Rituale bevorzugt stattfanden.10 Die soziale Begegnung von Nachbarn, Freunden, Verwandten und Gästen im Haus war durch den Normenkomplex der Gastfreundschaft reguliert. Gast und Gastgeber zu sein war wichtig für die Ökonomie sozialer Beziehungen, auf die ein Haus in seiner Existenz angewiesen war – im Rahmen der Nachbarschaft, aber überlokal in der Pflege familialer, verwandtschaftlicher und anderer beruflicher Netzwerke. Dementsprechend waren Gastungspraktiken wie auch der Umgang mit Nachbarn ein zentrales Thema in der normativen Literatur der Ökonomiken. Während in der Vormoderne die häusliche Gastfreundschaft auch ein wichtiger infrastruktureller Aspekt war, auf den sich Reisende für die Bereitstellung von Herberge und Verpflegung verlassen mussten, trat dem in zunehmendem Maße eine ‚professionelle‘ und kommerzielle Gastfreundschaft durch Gast- und Wirtshäuser zur Seite, die dann in besonderem Maße obrigkeitlich reguliert wurde. Mit dem zunehmenden Verlust der infrastrukturellen Funktion und dem Einfluss neuer Zuschreibungen an Gastfreundschaft durch die Aufklärung verschob sich zwar der ideelle und normative Rahmen
10 Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit. Münster 2004; Magnus Eriksson (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit. Köln 2003; Natalie Zemon Davis, The Reasons of Misrule. Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France, in: P & P 50, 1971, 41–75 sowie die Literatur im Beitrag von Arno Haldemann in diesem Band.
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von Gastfreundschaft, ihre Funktion bezüglich der Pflege sozialer Beziehungen blieb jedoch bestehen.11 Der Wandel der wechselseitigen Beziehung von Haus und Nachbarschaft von der Vormoderne zur Moderne lässt in ihrer kulturellen und sozialen Bedingtheit insbesondere in der mikrohistorischen Perspektive gut beobachten und beschreiben. Im 16. Jahrhundert formierte sich die stadt- und bauräumliche Nachbarschaft in enger Anlehnung an kirchliche Seelsorgeeinheiten, denen vielfach auch städtisch-administrative Aufgaben wie etwa die Steuerverwaltung zukamen. Mit der zunehmenden Professionalisierung städtischer Verwaltung bis ins das 17. Jahrhundert hinein intensivierten sich teilweise diese Überlagerungen. Man schuf administrative Subeinheiten zur Kontrolle und Organisation städtischer Aufgaben, in denen man ganz explizit Nachbarn und Bewohner eines Viertels wegen ihrer intimen Kenntnis der jeweiligen häuslichen Verhältnisse einsetzte. Diese Tendenz setzte sich bis in die niedergerichtlichen Instanzen fort, in denen die ausgebildeten Juristen oft zugleich als Nachbarn über Streitigkeiten und Konflikte entschieden.12 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildete die Nachbarschaft zwar immer noch einen zentralen sozialen Bezugsrahmen, den es entsprechend der normativen Erwartung an den ‚guten Nachbarn‘ zu pflegen galt. Und auch wenn die wohnräumliche Separierung nach sozialen Schichten und Milieus sich noch nicht stark durchgesetzt hatte, orientierten sich die sozialen Praktiken der Beziehungspflege aber durch Einladungen, Besuche und gemeinsame Geselligkeit sehr viel deutlicher an der eigenen bzw. angestrebten sozialen Schicht. Gerade im bürgerlichen Milieu entfaltete sich diese private Öffentlichkeit des Hauses als eine wichtige Plattform gesellschaftlicher Organisation, die eng mit dem entstehenden Vereins- und Gesellschaftswesen verbunden war. Wie sehr die sozialen Praktiken auch kulturell bedingt waren, zeigt ein Vergleich mit England und die irritierenden Erfahrungen, die deutsche Reisende dort in vermeintlich ähnlichen sozialen Milieus machten.13 Auch auf dieser Ebene der Interaktion von Haus und Umwelt spielten also verschiedene Formen des Öffnens und Schließens eine wichtige Rolle, die unmittelbar in deren Dynamiken hineinwirkten. Dass man sich der Bedeutung dieses Prozesses unter den Zeitgenossen deutlich bewusst war, lässt sich am Umgang mit baulichen Elementen des Hauses zeigen, die hochgradig symbolisch aufgeladen waren. Neben der Türschwelle, die auch eine wichtige rechtliche Funktion besaß14, galt das Fenster sowohl in den alltagshistorischen Zusammenhängen wie in der normativen Reflexion
11 Gabriele Jancke, Gastfreundschaft in der Frühen Neuzeit. Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten. Göttingen 2013 und ihr Beitrag in diesem Band. 12 Vgl. den Beitrag von James Palmitessa in diesem Band zum Beispiel Prag. 13 Vgl. hierzu die umfangreiche Literatur im Beitrag von Frank Hatje in diesem Band. 14 Ulrich Schütte, Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Markus Bauer/Thomas Rahn (Hrsg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, 159–176.
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als ein Bereich, der diese Ambivalenz auf wenigen Quadratmetern konzentrierte: Als Ort des Ausblicks und des Einblicks, der Zurschaustellung und der Kommunikation sowie der baulichen und künstlerischen Gestaltung wurde das Fenster in zahlreichen alltäglichen wie besonderen Situation in einer Vielzahl von Praktiken genutzt, die sich die besondere Situierung des in between zu Nutze machten: der nachbarliche Plausch durchs Fenster, die Beobachtung öffentlicher Prozessionen und Rituale oder das Liebeswerben. Die physische Präsenz im Raum des Hauses, der gerade nicht Öffentlichkeit war, und die Teilnahme an der face to face-Kommunikation der Straße ermöglichten Handlungsspielräume, die weder im Haus noch in der Öffentlichkeit gegeben gewesen wären. Der Blick auf die Einbettung des Hauses in seine soziale Umwelt, ihre Ambivalenzen und die mit ihr verknüpften Interaktionen ermöglichen einen geschärften Blick auf den Vollzug von Gesellschaft im Alltag wie auch auf den Einfluss sich wandelnder kultureller, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und rechtlicher Rahmenbedingungen. Weder das Haus noch die unmittelbare soziale Umwelt der Nachbarschaft sind ohne einen Fokus auf diese Wechselwirkungen angemessen zu erfassen.
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Das Haus und seine Nachbarschaft: Integration und Konflikt Häuser und Haushalte waren immer in nachbarschaftliche Gefüge eingebunden, Haus und Nachbarschaft bedingten sich gegenseitig.* Das zeigt die Wortgeschichte in den unterschiedlichen europäischen Sprachen. Der ‚Nachbar‘ im Deutschen geht auf den ‚nachbaur‘, also den nahe wohnenden, angrenzenden Bauern zurück, wie auch in anderen germanischen Sprachen: der neighbour (englisch), nabo (dänisch/norwegisch), buurman bzw. buurvrouw (niederländisch) oder in den romanischen Sprachen vicinus (lateinisch), voisin (französisch), vecino (spanisch) bzw. vicino (italienisch). Die gemeinsame Grenze zwischen Nachbarn betonen hingegen granne (schwedisch) oder die lateinischen Ausdrücke confinis und accolens. Bereits in frühneuzeitlichen Wörterbüchern verweisen die entsprechenden Übersetzungen auf die Konstitution der Nachbarschaft durch räumliche Nähe von Häusern – unabhängig davon, ob sich weit auseinander liegende Gehöfte eine Grundstücksgrenze teilten oder Häuser in der gedrängten Dichte einer Stadt standen.1 Kaum ein anderer Typ sozialer Beziehungen „machte den wechselseitigen Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Organisation von Gesellschaft so konkret, so elementar und so unmittelbar erfahrbar wie die Nachbarschaft.“2 Das Teilen und Nutzen gemeinsamer Räume führte zwangsläufig zu sozialer Interaktion und zur Herstellung nachbarschaftlicher Beziehungen, die damit integraler Bestandteil des häuslichen Alltags waren. Häuser und ihre Bewohner interagierten dabei auf vielfältige Weise, indem sich die Hausbewohner gegenseitig besuchten, gemeinsame Tätigkeiten erledigten, in anderen Haushalten aushalfen, durchs Fenster kommunizierten oder über Abwasser und überhängende Zweige im Hof stritten. Gebäudegrenzen fungierten als Stein (oder Holz) gewordene soziale und rechtliche Grenzen, die Ansprüche, Rechte und Pflichten festlegten. Das machte permanente Anpassungs- und Abstimmungsprozesse unter den Nachbarn notwendig, die sich nicht zuletzt entlang von Abgrenzungspraktiken manifestierten. Zentral waren die Fragen, was noch in die exklusive Entscheidungsbefugnis eines
* Ich danke Margareth Lanzinger für die kritische Lektüre und Joachim Eibach für die Anregungen aus seinem Paper „Doing House and Neighbourhood“ (Vortrag auf der European Social Science History Conference in Wien, 24. April 2014). 1 Art. Nachbarschaft, in: Christina Kimmel (Hrsg.), Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 9. Stuttgart 1996, 1136–1138; Peter Kolin, Dictionarium latinogermanicum. Zürich 1541, 895; Jean Nicot, Dictionnaire françois-latin, augmenté outre les précédentes impressions d’infinies dictions françoises […]. Paris 1584, 637, 754. 2 Julia Günther, Nachbarschaft und nachbarschaftliche Beziehungen, in: Karl Lenz/Frank Nestmann (Hrsg.), Handbuch. Persönliche Beziehungen. München 2009, 445–465.
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Haushalts fiel und was bereits berechtigte nachbarliche Interessen berührte und deshalb im Kontext der Nachbarschaft verhandelt werden musste. Wie sich Haus und Nachbarschaft zueinander verhielten, lässt sich besonders da beobachten, wo solche Integrationsprozesse in Form von Konflikten stattfanden. Denn in der Auseinandersetzung über umstrittenes Verhalten waren alle Beteiligten gezwungen, sich neu über die gemeinsam geteilten Werte und Normen zu verständigen. Dass dies nicht nur die ‚klassischen‘ Nachbarschaftskonflikte um tropfende Dachrinnen und zugebaute Einfahrten betraf, sondern gerade auch die Rolle von Nachbarn bei innerhäuslichen Auseinandersetzungen, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Dieser Ansatz erlaubt Einblicke in die räumliche und soziale Verzahnung des Hauses mit seiner Nachbarschaft und ermöglicht darüber hinaus, strukturelle Aspekte des Funktionierens von Nachbarschaften als Teil der häuslichen Ökonomie aufzugreifen. Aufgrund der Forschungslage, die aus historischer Sicht deutlich mehr Studien für die Zeit vor 1800 bereithält, wird dies überwiegend an Settings aus dem 18. Jahrhundert diskutiert werden, die gleichwohl Fragen im Hinblick auf Veränderungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert aufwerfen. Um die Funktion von Konflikten ums und im Haus als nachbarschaftliche Integrationsprozesse zu lesen, sind zum einen die Rahmenbedingungen vorzustellen, innerhalb derer sich Nachbarschaft als soziale Gruppe in ihrer Alltagspraxis formieren konnte. Zum anderen soll das sich in den praktischen Erfordernissen begründete Normenfeld der ‚guten Nachbarschaft‘ skizziert werden, vor dessen Hintergrund die Strategien und Argumentationen der Akteure erst in ihrer kommunikativen Funktion einzuordnen sind.
1 Forschungslandschaften Die Feststellung der Sozialwissenschaften, dass Nachbarschaft trotz ihrer immensen Bedeutung für soziale Ordnung ein erstaunliches Randphänomen in der Forschung darstelle3, lässt sich auch auf die historischen Wissenschaften übertragen. Studien, die sich explizit der Nachbarschaft und nachbarschaftlichen Beziehungen widmen, sind nicht zahlreich, dagegen wird Nachbarschaft, insbesondere die Verbindung von Nachbarschaft und Haus, en passant in vielen vornehmlich sozial- und kulturhistorischen Arbeiten thematisiert, die sich mit Aspekten des Alltagslebens, der Lebenswelt, Mentalitäten und Geschlechtergeschichte befassen. In diesem methodischen Umfeld ist der Beginn des genuin historischen Interesses an der Nachbarschaft zu sehen. In Auseinandersetzung mit den sich etablierenden Sozialwissenschaften entwickelte vor allem die französische Historiographie im Umfeld der Annales-Schule seit den 1960er
3 Günther, Nachbarschaft (wie Anm. 2), 445.
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Jahren neue Zugänge zur Erforschung historischer Lebenswelten, in denen Nachbarschaft eine zentrale Rolle spielte.4 Spezifischer mit Bezug auf das soziale Gefüge, ihre Funktionsweisen und Mittlerfunktionen wurde die Nachbarschaft im Rahmen der Revolutionsforschung und der Stadtgeschichte mit einem Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert untersucht. In diesen Arbeiten standen vor allem die Überschneidungen von politisch-administrativen Strukturen der Nachbarschaft oder Viertel mit den informellen sozialen Beziehungsgeflechten im Mittelpunkt des Interesses – sowohl was die Bewältigung der Herausforderungen des Alltags betrifft, als auch die Frage, inwiefern Nachbarschaften als Basis politisch aktiver Opposition und Protestbewegung fungierten.5 In der anglophonen Historiographie spielen Nachbarschaften seit den 1960er Jahren im Rahmen der sog. parish studies eine wichtige Rolle. Ausgehend von der Gemeinde als sozialer Kohäsionskraft auf lokaler Ebene, brachte dieses sozialhistorische Forschungsfeld eine Vielzahl von Studien hervor, die sich mit der Bedeutung von Nachbarschaft für häusliche Ökonomien, Alltagsleben, soziale Sicherheit und Kontrolle befassten.6 Fallstudien zur Nachbarschaft als sozialem System liegen hier für einzelne Stadtteile vor, so etwa für Southwark in London oder den Faubourg St. Antoine in Paris.7 Die deutschsprachige Forschung thematisierte Nachbarschaft zunächst vor allem im Kontext der Gemeindebildung. In den 1950er Jahren skizzierte Karl-Sigismund Kramer mit der sog. rechtlichen Volkskunde Nachbarschaft als Form sozialer Organisation in bäuerlichen Gemeinden, wobei er stark an das von Max Weber geprägte
4 Yves Castan, Honnêteté et relations sociales en Languedoc 1715–1780. Paris 1974; Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor. Frankfurt am Main 1983 [zuerst franz.: Montaillou. Un village occitan de 1294 à 1324. Paris 1978]; Nicole und Yves Castan, Vivre ensemble. Ordre et dés ordre en Languedoc au XVIIIe siècle. Paris 1981; Georges Duby u. a. (Hrsg), Geschichte des privaten Lebens, 5 Bde. Augsburg 2000 [zuerst franz.: Histoire de la vie privée. Seuil 1985–1987]; Yves Castan, Voisinage rural et rupture des rapports sociaux, in: Françoise Thelamon (Hrsg.), Sociabilité, pouvoirs et société. Rouen 1987, 47–67. 5 Arlette Farge, Vivre dans la rue à Paris au XVIIIe siècle. Paris 1979; Jean Nagle/Robert Descimon, Les quartiers de Paris du Moyen Âge au XVIIIe siècle. Évolutions d’un espace plurifonctionnel, in: Annales 34, 1979, 956–983; Maurice Garden, Le quartier, nouvel objet de l’histoire?, in: Économie et humanisme 261, 1981, 51–59; Alain Cabantous, Le quartier, espace vécu à l’époque moderne, in: Ann. HES 13, 1994, 427–439; Olivier Zeller, Espace privé, espace public et cohabitation. Lyon à l’époque moderne, in: Bernard Haumont/Alain Morel (Hrsg.), La société des voisins. Partager un habitat collectif. Paris 2005; Marc Vacher, Voisins, voisines, voisinage. Les cultures du face-à-face à Lyon à la veille de la Révolution. Lyon 2007. 6 Für einen kritischen Überblick vgl. Keith Wrightson, The ‚Decline of Neighbourliness‘ Revisited, in: Norman L. Jones/Daniel Wolf (Hrsg.), Local Identities in Late Medieval and Early Modern England. Basingstoke 2007, 19–49; Emily Cockayne, Cheek by Jowl. A History of Neighbours. London 2012. 7 Jeremy Boulton, Neighbourhood and Society. A London Suburb in the Seventeenth Century. Cambridge 1987; David Garrioch, Neighbourhood and Community in Paris 1740–1790. Cambridge 1986.
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Nachbarschaftskonzept der Not- und Hilfsgemeinschaft anknüpfte.8 In der Stadtgeschichte lag der Fokus insbesondere auf der politischen und administrativen Funktion von verfassten Nachbarschaften und Nachbarschaftskonflikten, die sich vielfach auf die bauliche und stadträumliche Organisation oder Ehrverletzungen bezogen.9 Mit der Konfessionalisierungsforschung rückte dann die Nachbarschaft als Ort sozialer Kontrolle in Kirchen- und Sittenzucht in den Mittelpunkt des Interesses. Die Aussagen der befragten Akteurinnen und Akteure vor kirchlichen Gerichten zum Lebenswandel einzelner Mitglieder der Nachbarschaft offenbarten zudem wichtige Einsichten in das Ineinandergreifen und Abgrenzen von häuslicher und nachbarschaftlicher Sphäre in den Praktiken des Alltags.10 Von besonderem Interesse ist hier die Frage der Alterität, Distinktion und Integration im nachbarschaftlichen Zusammenleben verschiedener Konfessionen und Religionen, wobei gerade der Aspekt der Sichtbarkeit und Hörbarkeit häuslicher Frömmigkeitspraktiken zur Debatte stand.11 Alle Studien zeichnen sich dadurch aus, dass sie Nachbarschaft als ein komplexes soziales Gefüge beschreiben, das Integration auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig herstellte, wobei im Konfliktfall diese verschiedenen Ebenen zusammenwirkten. Interessanterweise befasst sich der zahlenmäßig
8 Karl-Sigismund Kramer, Nachbarschaft als bäuerliche Gemeinschaft. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde unter besonderer Berücksichtigung Bayerns. München 1954; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1980, 215–218. 9 Martin Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; Carl A. Hoffmann, Social Control and the Neighborhood in European Cities, in: Herman Roodenburg (Hrsg.), Social Control in Europe. Columbus, Ohio 2004, 309–327; Christine Schedensack, Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007; Eric Piltz, Vergemeinschaftung durch Anwesenheit. Sozialräumliche Grenzen der Nachbarschaft in Andernach und Coesfeld, in: Christine Roll (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln 2010, 385–398; Stefan Kroll, Nachbarschaft und soziale Vernetzung in norddeutschen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ebd., 399–411. 10 Paul Münch, Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur sozialen Problematik des calvinistischen Seniorats um 1600, in: Ernst Walter Zeeden (Hrsg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. Stuttgart 1984, 216–248; Heinrich-Richard Schmidt, Die Pazifizierung des Dorfes. Struktur und Wandel von Nachbarschaftskonflikten vor Berner Sittengerichten 1570–1800, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Berlin 1994, 91–128; Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800. Paderborn 2000. 11 Claudia Ulbricht, Shulamith und Margarethe. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Köln 1999; Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999; Anton Schindling, Andersgläubige Nachbarn. Mehrkonfessionalität und Parität in Territorien und Städten des Reichs, in: Klaus Bußmann (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. Münster 1998, 465–473; Thomas Kaufmann, Religions- und konfessionskulturelle Konflikte in der Nachbarschaft. Einige Beobachtungen zum 16. und 17. Jahrhundert, in: Georg Pfleiderer (Hrsg.), Religion und Respekt. Beiträge zu einem spannungsreichen Verhältnis. Zürich 2006, 139–172.
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umfangreichste Teil der internationalen Forschung, die im Titel auf Nachbar(schaft) verweist, mit dem Verhältnis von Staaten bzw. politischen Organisationen zueinander. Hierin ist nicht nur ein Ausdruck politolinguistischer Liebe zur Metapher zu sehen, vielmehr liegen die Wurzeln solcher Zuschreibungen im Verständnis von Nachbarschaft in der vorstaatlichen Organisation von Gesellschaft und Herrschaft, darüber hinaus als Regulierungsprinzip innerhalb heterarchischer Strukturen.
2 Haus, Nachbarschaft und Gemeinde Die Formierung von Nachbarschaften seit dem Mittelalter als eigener Handlungsraum mit spezifischen Normen und Praktiken war zum einen gekennzeichnet durch die sich aus der räumlichen Nähe des Wohnens und Arbeitens ergebenden Kontakte und stand zum anderen in einem engen Zusammenhang mit Prozessen der Gemeindebildung. Im hohen Mittelalter hatte sowohl in den entstehenden städtischen wie in den ländlichen Gemeinden die Notwendigkeit der Regelung und Organisation gemeinschaftlicher Aufgaben zur Einrichtung von festeren Versammlungsformen der Haushaltsvorstände geführt. In ländlichen Gemeinden umfassten diese meist die gesamte Anzahl der Haushalte, so dass Gemeinde und Nachbarschaft vielfach nicht unterschieden wurden. Gleichwohl rekurrierte die Rechtssprache auf diesen Zusammenhang, wenn die Rechte und Pflichten der Mitglieder in den Statuten als ‚Nachbarrechte‘ bezeichnet werden. Die Aufgabenbereiche dieser Nachbarschaftsversammlungen umfassten hier zumeist die Organisation der Allmendenutzung, der Grenzkontrollen sowie der Instandhaltung der Infrastruktur; je nach Grad der Gemeindeautonomie auch Funktionen in der Rechtsprechung.12 Im städtischen Raum formierten sich Nachbarschaften als untergeordnete, lokale Einheiten in ihren jeweiligen Stadtvierteln. Auch hier bedeutete die sog. Haushäbigkeit in der Regel Voraussetzung und Verpflichtung zur Mitgliedschaft. Charakteristische Aufgaben waren die Organisation von Wach- und Verteidigungsdiensten, Instandhaltung der Wehranlagen, Brandschutz, Steuererhebung und Regulierung kleinerer Konflikte. Obwohl in vielen Städten diese institutionalisierte Form der Nachbarschaft allmählich durch eine sich professionalisierende städtische Administration abgelöst wurde, blieb sie dennoch in einigen Städten bis ins 19. Jahrhundert hinein die Grundlage für politische Mitspracherechte und Entscheidungsbefugnisse. Wer ein Haus bewohnte und einen Haushalt führte, war also
12 Vgl. hierzu die Beiträge in Peter Blickle (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich. München 1991; Peter Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation and Community. The Origins of the Modern State in Europe 1300–1800. Oxford 1997; Gabriele von Olberg, Die Bezeichnung für soziale Gruppen, Stände und Schichten in den Leges Barbarorum. Berlin 1991, 141–161; dies., Vicinitas, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8. Stuttgart 2002, 1625 f.; Frauke Hildebrandt, Die Nachbarschaften in Angeln vom 17. bis 19. Jahrhundert. Neumünster 1985.
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in der Regel zugleich Teil eines nachbarschaftlichen Gefüges mit entsprechenden Rechten, Pflichten und Aufgaben, die in einigen niederländischen und norddeutschen Städten institutionell verfassten Charakter besaßen.13 Neben diesen formalen Kontexten waren nachbarschaftliche Beziehungen aber auch durch die Notwendigkeit zur Kooperation in Alltagsdingen geprägt. Die Nutzung der Straße, der Gasse, des Platzes, eines öffentlichen Brunnens für häusliche Tätigkeiten, von Materiallagern oder Misthaufen vor dem Haus, gemeinsame Zäune, Mauern oder Hecken zur Abgrenzung von Gärten und Grundstücken, gegenseitige Hilfe bei besonderen Ereignissen wie Schlachttagen, großer Wäsche oder Geburten prägten das Bild von Nachbarschaft als einer Form „zwischenhäuslicher Kooperation“, die auf Reziprozität und Konsens über grundlegende Normen ausgelegt war.14 Nachbarschaft war zudem geprägt von einem feinen Netz mikroökonomisch-monetärer Beziehungen, die vom Verkauf der Milch aus dem Fenster heraus, den Ausschank in der Wohnstube bis hin zu Mikrokrediten und der Vergabe von bezahlten Tagelohnarbeiten von vermögenderen an weniger vermögende Nachbarn reichte.15 Die Beziehungen waren nicht zu allen Nachbarn gleich, sie wurden aktiv gestaltet, überlagerten sich mit anderen Gruppenbindungen wie Zünften, Gilden, Kaufmannschaften oder der Kirchengemeinde; ebenso war der ökonomische Status eines Haushalts ausschlagge-
13 Gerhard Köbler, Bursprake, in: Lexikon (wie Anm. 12), Bd. 2, 1991, 1110 f.; Jörg Rogge, Viertel, Bauer- und Nachbarschafen. Bemerkungen zu Gliederung und Funktion des Stadtraumes im 15. Jahrhundert, in: Matthias Puhle (Hrsg.), Hanse – Städte – Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500. Magdeburg 1996, 231–241. Als Beispiel vgl. Abdruck der Artickel/ Wie sich ein ieder Nachbar/ eines Erbarn Raths der Stadt Leipzig Dorffschafften verhalten soll. o. O. 1650; zu den verfassten Nachbarschaften in den Niederlanden und Westdeutschland vgl. auch Piltz, Vergemeinschaftung (wie Anm. 9). 14 Jon Mathieu, ‚Ein Cousin an jeder Zaunlücke‘. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700–1900, in: Margareth Lanzinger/Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Wien 2007, 55–71, hier 61; Bernard Capp, When Gossips Meet. Women, Family and Neighbourhood in Early Modern England. Oxford 2003, 56; Martin Dinges, Stadtarmut in Bordeaux 1525–1675. Alltag, Politik, Mentalitäten. Bonn 1988; Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. 2. Aufl. Köln 2000; Jacques Gélis, L’arbre et le fruit. La naissance dans l’Occident moderne, XIVe–XIXe siècle. Paris 1984. 15 Maria Ågren, Emissaries, Allies, Accomplices and Enemies. Married Women’s Work in Eighteenthentury Urban Sweden, in: Urban Hist. 41, 2014, 394–414; Julie Hardwick, Family Business. Litigation and the Political Economy of Daily Life in Early Modern France. Oxford 2009; Richard Wall, Economic Collaboration of Family Members within and beyond Households in English Society, 1600–2000, in: Continuity and Change 25, 2010, 83–109; Montserrat Carbonell-Esteller, Using Microcredit and Restructuring Households. Two Complementary Survival Strategies in Late 18th Century Barcelona, in: IRSH 45, 2000, 71–92; Craig Muldrew, The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England. Basingstoke 1998; Heide Wunder, ‚Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond‘. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, 131–34; Beispiele auch in Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens. Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert. Berlin 2015, 219 f., 265, 296.
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bend dafür, ob und in welchen Bereichen nachbarschaftliche Gegenseitigkeit wichtig oder aber verzichtbar war.16 Immer wieder deuten sich in den vorliegenden Studien Formen von Patronage-Klientel-Beziehungen an, deren Bedeutung für die nachbarschaftlichen Netzwerke noch systematisch zu untersuchen wäre. Gestärkt wurde die nachbarschaftliche Bindung durch eine Vielzahl von Ritualen, seien sie religiöser, politischer oder sozialer Natur, wie etwa Gastungen der Nachbarn im Falle von Hochzeiten, Geburten und Todesfällen und andere Formen von Geselligkeit.17 Nachbarschaften waren keine statischen Gefüge, sondern unterlagen einem erheblichen Wandel durch Zuzug, Wegzug oder temporäre Quartiernahme. Auch war nicht jeder Nachbar Eigentümer. Mieten als Wohnform war bereits im späten Mittelalter gang und gäbe, als etwa in Zürich nur 16 % der Bewohner eines Stadtteils Hausbesitzer waren.18 Ähnliche Zahlen liegen bis in das 18. Jahrhundert hinein auch für andere Städte vor, so dass sowohl für europäische Metropolen als auch mittlere und Kleinstädte von einer erheblichen kleinräumigen Mobilität und Dynamik im Nachbarschaftsgefüge ausgegangen werden muss. Untersuchungen zu Immobilienverkäufen haben aber auch gezeigt, dass Nachbarschaft ein wichtiges Kriterium für die Käufer wie Verkäufer darstellte.19 Im Zusammenhang mit der sich ausdifferenzierenden Sozialstruktur und dem Anwachsen der unterständischen Schichten wurden Tagelöhner oder Heuerlinge zu neuen Nachbarn, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status nicht Teil der formalisierten Nachbarschaft waren. Da jeder Haushalt, abhängig vom sozioökonomischen Status, auf die eine oder andere Weise auf funktionierende nachbarschaftliche Beziehungen angewiesen war, mussten sich Nachbarn fortlaufend miteinander abstimmen und dabei mit verschiedensten Formen von Alterität umgehen – sei sie sozialer, religiöser oder kultureller Natur.20 Konflikte spielten
16 Kroll, Nachbarschaft (wie Anm. 9). 17 Vgl. den Beitrag von Gabriele Jancke in diesem Band. 18 Pascale Sutter, Von guten und bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich. Zürich 2002, 86. 19 Giovanni Levi, Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne. Berlin 1986; Karsten Labahn, Räumliche Mobilität in der vorindustriellen Stadt. Wohnungswechsel in Stralsund um 1700, Münster 2006; Tobias Busch, Wirtschaften und Repräsentieren. Zur Miete Wohnen in der Haupt- und Residenzstadt Kassel im frühen 18. Jahrhundert, in: Zs. des Vereins für Hessische Gesch. und Landeskunde 109, 2004, 141–158; Madeleine Jurgens/Pierre Couperie, Le logement à Paris aux XVIe et XVIIe siècles. Une source, les inventaires après décès, in: Annales 17, 1962, 488–500; Pierre Couperie/Emmanuel Le Roy Ladurie, Le mouvement des loyers parisiens de la fin du Moyen Âge au XVIIIe siècle, in: Annales 25, 1970, 1002–1023; Boulton, Neighbourhood (wie Anm. 7), 166–205. 20 Judith Rainhorn/Didier Terrier, Étranges voisins. Altérité et relations de proximité dans la ville depuis le XVIIIe siècle. Rennes 2010. Dass dies nicht erst seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten ist, zeigt Emily Fisher Gray, ‚Liebe deinen Nächsten‘. Konfessionelle Feindseligkeit und Zusammenarbeit während der Reformation in Augsburg, in: Sandra Evans/Schamma Schahadat (Hrsg.), Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform. Bielefeld 2012, 123–139 und die Literatur in Anm. 10; als Beispiel für kulturelle Differenz vgl. Dienke Honduis, Black
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im Umgang mit dieser Herausforderung eine zentrale Rolle. Sie dienten dem Abgleich mit und der Anpassung meist abstrakter Normen an spezifische Konstellationen; in ihrer situativen Bestätigung dienten sie der gemeinsamen Selbstvergewisserung. Ob dies auf konstruktive und sachliche Weise geschehen konnte, hing wesentlich von den beteiligten Personen, ihrer emotionalen wie sozialen Intelligenz und Konfliktfähigkeit ab. Wie man nachbarliche Beziehungen so gestaltete, dass sie der häuslichen Ökonomie nutzten bzw. welches Verhalten zu vermeiden war, um weder das eigene Haus noch die Beziehungen mit den Nachbarn zu schädigen, war in ein feines Netz sozialer Normen eingebettet, das um die sog. ‚gute Nachbarschaft‘ gesponnen war.
3 Normen Seit der griechischen Antike sind Verhaltensmaßregeln für die ‚gute Nachbarschaft‘ überliefert, deren Befolgung die fragile Stabilität des Gefüges und damit seine gesellschaftliche Integrationsfunktion gewährleisten sollte – Normen, die im Spannungsfeld zwischen Integration und Abgrenzung des Hauses in der Nachbarschaft angesiedelt waren.21 Mit der Durchsetzung des Christentums erfuhr auch die Nachbarschaft als unmittelbare Form der persönlichen Beziehungen eines Menschen eine umfassende sozialethische Fundierung. Denn eng angelehnt an die christliche Ethik der Nächstenliebe verbanden sich in der Spätantike Konzepte des Wohl- und Fehlverhaltens als Nachbar oder gegenüber den Nachbarn als den vom Schicksal zugeführten Nächsten in den Idealtypen des ‚guten Nachbarn‘ und des ‚bösen Nachbarn‘.22 Mit dem reformatorischen Fokus auf das Haus als Ort der innerweltlichen Bewährung erhielten auch die nachbarschaftlichen Beziehungen im Hinblick auf die unmittelbare soziale Umwelt stärkere Aufmerksamkeit. Die Nachbarschaft bot einen allen vertrauten Erfahrungshorizont, um alltagsweltliche Herausforderungen einer christlichen Lebensführung zu veranschaulichen. Martin Luther erörterte dies in einer Hochzeitspredigt folgendermaßen: „Des gleichen, das nachbarn freuntlich bey einander leben, das einer dem andern vertrawen that und sich des besten zu jm versehen […]. Wer solchs allein von aussen ansihet, der denckt: Je, ist denn das so grosse kunst, seinem nachbarn freundlich zu sein? […] So gehets auch offt unter nachbarn, das einer dem andern alle untrew und
Africans in Seventeenth-Century Amsterdam, in: Renaissance and Reformation 3, 2008, 87–105; Ullmann, Nachbarschaft (wie Anm. 11); Gabrielle Dorren, Communities within the Community. Aspects of Neighbourhood in 17th-Century Haarlem, in: Urban Hist. 25, 1998, 173–188. 21 Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland. Berlin 2004, 74–100, 148–161. 22 Hermann Ringeling, Nächster, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23. Berlin 1994, 521–532; Aurelius Augustinus, De trinitate, hrsg. von Johann Kreutzer. Hamburg 2001, 377.
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boese tueck beweiset umb eines geringen dings willen, das villeicht einer dem andern ein hun gescheucht &c.“23 In der häuslichen und nachbarschaftlichen Begegnung manifestierte sich ganz unmittelbar und täglich erfahrbar die im Glauben gefestigte (oder eben nicht gefestigte) Persönlichkeit. Ähnliche Positionen finden sich bis in das 19. Jahrhundert in vielen theologischen Schriften, Traktaten und Katechismen, die sich mit den Herausforderungen des Alltags befassen. Nachbarn gehören hier ebenso selbstverständlich zum Haus wie Kinder und Gesinde.24 Neben den theologischen Schriften wurden die mit Nachbarschaft verknüpften sozialen Normen aber auch zunehmend in Texten der weltlichen Prosa thematisiert. Vor dem Hintergrund wachsender politischer und konfessioneller Spannungen seit dem 16. Jahrhundert bot die Forderung nach Nachbarschaftlichkeit Anknüpfungspunkte für einen Umgang mit konfessioneller oder auch politischer Differenz – mitunter im Widerspruch zu obrigkeitlichen Vorgaben.25 Im 18. Jahrhundert sind die Journale und Zeitschriften gefüllt mit Artikeln, die von „Des Nachbar Haus“, den „Vorzüge[n] einer guten Nachbarschaft“, oder „Nachbargesprächen“ handeln.26 Auch in den breit rezipierten englischen Journalen erscheint die Figur des Nachbarn als Folie für die Herausforderungen gesellschaftlichen Wandels im häuslichen Alltag.27 Noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert stellte Nachbarschaft als soziales Netzwerk
23 Martin Luther, Hochzeitspredigt 1531, in: ders., Kritische Gesamtausgabe/Weimarer Ausgabe, Bd. 34/1. Weimar 1908, 61b. 24 O. A., Eyn sendbrieff wie sich ein fromer Christ mit seinem weib, kindt, gesindt un nachbarn halten soll. Wittenberg 1521; Georg Edelmann, Spiegel der Haußzucht […] wie sich Man und Weib gegen kinder, gesindt und nachbarn halten sollen. Wittenberg 1596; o. A., Catholische Ehe-Schull. In welcher Alle Ehebegirige und Ehehaffte Leuth/ Wie sie sich gegen Gott/ die H. Mutter Gottes/ die HH. Engeln und alle Heiligen/ Gegen sich selbst und ihre Kinder/ ihr Haußgesind unnd Nachbarn Christlich zu verhalten haben unterwiesen werden. Köln 1646; Augustinus Egger, Der christliche Biedermann. Einsiedeln 1895, 276: „Der christliche Mann muß nach Vermögen das öffentliche Wohl befördern durch freiwillige Beiträge für gute Zwecke, durch seine Beteiligung beim Vereinswesen, er soll auch unter seinen Nachbarn ein bereitwilliger Helfer, ein treuer Ratgeber, nötigenfalls ein kluger Friedensstifter sein.“ 25 Vgl. z. B. George Herbert, The Temple Sacred Poems and Private Ejaculations. Cambridge 1633, oder Georg Wickram, Von guten und bösen Nachbarn […]. Straßburg 1556; Angela Balla, Neighbourliness and Tolerance in the Works of George Herbert, in: Renaissance and Reformation 35, 2012, 113–141. 26 Julie, Des Nachbars Haus, in: Journal für deutsche Frauen 1, 1805, 57–59; o. A., Vorzüge einer guten Nachbarschaft, in: Hannoverisches Magazin 22, 1784, 1581–1584; K. A. Schmid, Nachbargespräch, in: Deutsches Museum 1, 1782, 541 f. 27 Da keine Untersuchungen zum Thema Nachbarn und Nachbarschaft in den Zeitschriften und Journalen der Aufklärung vorliegen, müssen dies vorerst Beobachtungen aus einem Blick in die Titel der Datenbanken EEBO und ECCO bleiben.
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einen wichtigen Anknüpfungspunkt für sozialreformerische Konzepte im Umgang mit den Folgen der Industrialisierung dar.28 So sehr gute nachbarschaftliche Beziehungen den häuslichen Ökonomien ‚zu Nutz und Frommen‘ waren, so sehr konnten schlechte Beziehungen dem Haus schaden. Folgerichtig widmen sich die meisten Texte der häuslichen Ratgeberliteratur in der Frühen Neuzeit der Frage, wie man sich trotz eigenen Wohlverhaltens vor den negativen Einflüssen eines schlechten Nachbarn schützen könne.29 Im Zentrum stand dabei vor allem das soziale Ansehen eines Hauses, das sich aus dem sozialen Ansehen all seiner Mitglieder zusammensetzte. Um keinen Anlass zu ehrschädigendem Gerede zu geben, oblag es jedem, sich entsprechend der mit seiner Funktion im Haus verbundenen Erwartungen zu verhalten. Nach den Vorstellungen der sog. Ökonomiken war der Hausherr für Gastlichkeit und übergeordnete Aspekte der Beziehungspflege zuständig, während die Hausfrau in der täglichen Interaktion darauf achten sollte, dass ein Gleichgewicht zwischen Kooperation und Abgrenzung gewahrt blieb, etwa, indem sie bedürftige Nachbarn mit Lebensmitteln oder Arbeitskraft unterstützte, zugleich jedoch nicht durch Tratsch und Geschwätz das Ansehen des eigenen Hauses beschädigte. Das Gesinde war wiederum gehalten, niemand ohne Zustimmung der Hausherrschaft ins Haus zu lassen und keine eigenständigen Kontakte in der Nachbarschaft zu unterhalten, sondern nur auf Geheiß der Hausherrschaft Hilfe und Unterstützung bei Nachbarn zu leisten.30 Nicht nur Theologen und Literaten waren sich der zentralen Bedeutung von Nachbarschaft für die soziale Organisation auf der Mikroebene bewusst. Auch Juristen diskutierten in Traktaten die Möglichkeiten, diese im Kern auf sozialen Normen basierenden Prozesse naturrechtlich einzubetten.31 Nur der kleinste Teil konnte mit Rechtsnormen reguliert werden, wie die im „Nachbarrecht“ zusammengefassten bauund eigentumsrechtlichen Bestimmungen oder die Regelungen zum Hausfrieden
28 Z. B. Samuel Smiles, Self Help with Illustrations of Conduct and Perseverance. London 1859, zit. nach: Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000, 106–108; Jens Wietschorke, Ist Nachbarschaft planbar? Zur Geschichte eines Schlüsselkonzepts in Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie, in: Evans/Schahadat (Hrsg.), Nachbarschaft (wie Anm. 20), 93–119. 29 Philip Hahn, Geliebter Nächster oder böser Nachbar? Die Bewertung der Außenwelt in der ‚Hausväterliteratur‘, in: Zeitsprünge 14, 2010, 456–476. Die Komplexität dieses Beziehungsgefüges spiegelt sich auch in den Lemmata der einschlägigen zeitgenössischen Lexika, so etwa in Zedlers Großes Universallexikon, Bd. 23. Leipzig 1739, 44–46: Neben dem Artikel „Nachbar“ finden sich auch „Nachbarn, böse“, „Nachbarn, gute“, „Nachbarschaft“, „Nachbars-Dienste“, „Wille, guter, nachbarlicher“, „Nachbarrecht“ etc.; Krünitz verweist innerhalb des Lemmas „Nachbar“ auf zahlreiche Einzelartikel, Grimms Wörterbuch listet über 30 Einträge zu „Nachbar-…“. 30 Ebd., 462 f. 31 Ernst-Friedrich Schröter, Disputatio juridica de jure vicinitatis. Jena 1664; Friedrich Gerdes, Collectanes inauguralia de iure vicinorum. Greifswald 1675 oder Georg Engelbrecht, Disputatio inauguralis de iure vicinitatis. Helmstedt 1687.
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zeigen.32 Auch die Umbrüche des 19. Jahrhunderts ließen Juristen über die Charakteristika von Nachbarschaft, deren Regulierung, Optimierung und Anpassung an die veränderten gesellschaftlichen wie rechtlichen Rahmenbedingungen nachdenken.33 Wie diese mehrdimensionalen Normsysteme in Konflikten wirksam wurden, lässt sich an den unterschiedlichen Konfliktkonstellationen zeigen, in denen Haus und Nachbarschaft als komplementär aufeinander bezogene soziale Räume eine Rolle spielten.
4 Integration durch Konflikt? Nachbarschaft und Haus vor Gericht Obwohl man oft nur anhand gerichtlicher Akten Einblicke in die alltäglichen Interaktionen in nachbarschaftlichen und häuslichen Beziehungen erhält – mit ihren besonderen methodischen Herausforderungen und Perspektiven34 –, lassen sich doch verschiedene Ebenen finden, in denen das Ineinandergreifen von Haus und Nachbarschaft zu Tage tritt. Zum einen konnten Haus und Haushalt Gegenstand von Konflikten sein, zum anderen besaß das Haus eine spezifische Funktion im Geschehen selbst – nämlich als Ort des Konfliktaustrags: im physischen Raum des Hauses wie auch im sozialen Raum, wenn Nachbarn und Hausbewohner eigene litigation communities35 bildeten, innerhalb derer Konflikte ausgehandelt wurden. Streit um das Haus als Gebäude in bau- oder eigentumsrechtlichen Angelegenheiten bildete einen zentralen Konflikttypus in nachbarlichen Beziehungsgefügen. Gemeinsam genutzte Gebäudeteile wie Mauern, Höfe, Dachrinnen oder Durchfahrten, An- und Umbauten im Haus, Verletzung sog. Legalservituten, Abfall- und Abwasserentsorgung – die Liste möglicher Konfliktursachen ist lang und schon seit dem Spätmittelalter belegt.36 Dabei ging es in der Regel um (zumindest so empfundene) Einschränkungen der Wohn- und Lebensqualität, die man durch das inkriminierte Verhalten oder Handeln des Nachbarn erfuhr. Tropfende Dachrinnen sorgten für feuchte Wände, neu eingebaute Fenster oder Gauben gewährten Einblicke, die als zu intim empfunden wurden, Schweinehaltung und -mist im Hof wurden als unhygienisch wahrgenommen. Konnte keine gütliche Einigung erreicht werden, wurden
32 Schedensack, Nachbarn (wie Anm. 9), 33–90; Schmidt-Voges, Mikropolitken (wie Anm. 15), 99–121. 33 Für Frankreich vgl. Jean-François Fournil, Traité du voisinage. Considéré dans l’ordre judiciaire et administratif. Paris 1834; Marie-France Poirier, Entre Privé et Public. L’expression du Voisinage dans la France du XVIIIe Siècle, à travers le ‚Traité du Voisinage‘ de Jean-François Fournel. Sherbrooke 2007. 34 Zur Quellenproblematik zusammenfassend und im Hinblick auf Strategien der Akteure in ihren kommunikativen Praktiken vor Gericht vgl. Schmidt-Voges, Mikropolitken (wie Anm. 15), 33–39. 35 Hardwick, Family Business (wie Anm. 15), 88. 36 Vgl. ausführlicher Sutter, Nachbarn (wie Anm. 18), 125–165; Schedensack, Nachbarn (wie Anm. 9).
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diese Konflikte vor Gericht getragen und ausgetragen. Die über Haus und Hof ausgetragenen Konflikte waren sicherlich nicht einer besonderen nachbarlichen Streitlust geschuldet, sondern tangierten in den meisten Fällen unmittelbar ökonomische Erfordernisse– und sei es der Platz für eine weitere Tonne, um Regenwasser für den Haushalt zu speichern.37 Es ist ferner jüngst darauf verwiesen worden, dass diese eigentumsrechtlichen Konflikte zugleich transformierte Beziehungskonflikte waren, die im Rahmen des Prozesses auf einer zweiten Ebene emotionalisierter Zuschreibungen ausgetragen wurden.38 Ein sehr großer Teil nachbarschaftlicher Konflikte betraf den Bereich des persönlichen Fehlverhaltens. Vielfach wurden sie als Ehrenhändel ausgetragen, diente doch das gezielte, im öffentlichen Raum vollzogene Verletzen der Ehre einer Person der Markierung einer Grenzüberschreitung.39 Ehre als soziales Kapital bemaß sich im Kontext von Nachbarschaft ganz wesentlich daran, inwiefern die betreffende Person die an sie gestellten moralischen Erwartungen im Hinblick auf ihre Rolle im Haushalt erfüllte: ein ‚guter Haushalter‘ konnte auch im Konfliktaustrag auf Ansehen, Kredit und Respekt zählen, während ein ‚Übelhauser‘ eher mit einer schärferen Gangart rechnen musste.40 In vielen Konflikten um ausgeborgte Dinge, um die Rückzahlung von Krediten oder verscheuchte Haustiere kamen hierbei das angesammelte Wissen der Nachbarn und daraus abgeleitete Bewertungen des Verhaltens zum Tragen. So klagte ein Osnabrücker Handwerker 1771 vor dem Stadtgericht über seinen Nachbarn: „Da der Blechen die kurtze Zeit, er hie gewohnet auf beyden Seiten, und auch gegen uns über, mit allen Nachbahren so viele Streit gesucht, auch mit uns zum dritten mahle um daß wir von die umgängers ein paar Leinenhosen gekaufft [statt in Blechens Kramladen, I. S. V.], gantz keinen frieden halten wolle […].“41 Der Kläger fuhr fort, indem er das ungebührliche nachbarliche Verhalten in direkten Zusammenhang mit der schwierigen ökonomischen Situation und der zerrütteten Ehe seines Nachbarn brachte. Als Nachbarn hatten sie nicht nur durch Augen- und Ohrenzeugenschaft Anteil, sondern waren allzu oft als Schutzgewährende selbst involviert. 1768
37 Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert. Paderborn 2003, 266–278, hier 274; Schedensack, Nachbarn (wie Anm. 9), 28–32. 38 Hendrikje Carius, Recht durch Eigentum. Eigentums- und Besitzrechtskonflikte am Jenaer Hofgericht (1648–1806). Jena 2010, 241 ff.; dies., Transformierte Eigentumskonflikte. Semantiken gerichtlicher Aushandlung nachbarlicher Grenzen, in: Roll (Hrsg.), Grenzen (wie Anm. 9), 429–450, hier 442 f. 39 Vgl. hierzu Dinges, Maurermeister (wie Anm. 9), insbes. 414–418; James Sharpe, ‚Such Disagreement betwyx Neighbours‘. Litigation and Human Relations in Early Modern England, in: John Bossy (Hrsg.), Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West. Cambridge 1983, 167–187. 40 Heinrich-Richard Schmidt, ‚Nothurfft vnd Hußbruch‘. Haus, Gemeinde und Sittenzucht im Reformiertentum, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung zwischen Religion und sozialer Lebenswelt. Paderborn 2008, 301–328; zur Rolle der „nachbarlichen fama“ in häuslichen Konflikten vgl. Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 15), 256–262. 41 Zit. nach Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 15), 262.
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rechtfertigte sich ebenfalls ein Osnabrücker Schlachtermeister für Schüsse auf seine Nachbarin, diese habe ihn wegen einer ausstehenden Rückzahlung eines Kredits „auf öffentlicher Straße“ einen „Schelm“ und „Betrüger“ genannt. Auch hier ist der Konfliktkontext zwischen Nachbarschaft und zwei häuslichen Ökonomien angesiedelt und verweist auf die beschädigte Ehre in eben der nachbarlichen Öffentlichkeit der Straße. Die enge Verzahnung beider Räume wird im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung von beiden genutzt, denn zum einen sei die Nachbarin unter weiteren Beleidigungen in sein Haus getreten, woraufhin er sie als „Injurantin und Hausfriedensstörerin“ aus dem Hause auf die Straße gestoßen habe. Da sie aber nicht aufhörte, ihn und seine Frau zu schmähen, habe er in die Luft geschossen und den gewünschten Effekt erzielt, nämlich, dass die Nachbarin schwieg und sich in ihr eigenes Haus zurückgezogen habe.42 In den genannten Fällen klingt bereits die Bedeutung der räumlichen Verortung der Konflikte in der Übergangszone zwischen Haus und Nachbarschaft an. Dass die räumliche Grenze dabei nicht per se an der Türschwelle verlief, zeigt sich bei näherer Betrachtung. Im zweiten Fall hatte der Kläger seine Nachbarin ins Haus gebeten (d. h. in den für seine Metzgertätigkeit genutzten Raum) zur Klärung der Angelegenheit. Diese missachtete jedoch die damit verbundene Friedenspflicht und beschimpfte ihn weiter. Als sie ihm gar schimpfend in die Wohnstube gefolgt sei, habe er sie in Notwehr aus dem Haus gestoßen und in die Luft geschossen. Der behauptete Hausfriedensbruch lag nicht im physischen Übertreten der Türschwelle, sondern darin, dass die Nachbarin ihr Verhalten nicht dem sozial-normativen Raum des Hauses anpasste.43 Bereits das unaufgeforderte Übertreten der Türschwelle oder gar das Aufstoßen der Tür durch die Nachbarn war eine unverzeihliche Grenzüberschreitung, selbst wenn diese durch die Fenster sahen und hörten, dass Hausbewohner in gewalttätigen Auseinandersetzungen ernsthaft in Gefahr waren.44 Das nachbarliche Wissen um innerhäusliche Vorgänge und familiäres Alltagsleben spielte nicht nur in Auseinandersetzungen zwischen den Nachbarn eine wichtige Rolle, sondern auch im Fall der Zeugen- oder Bürgenschaft in Prozessen von Nachbarn. Die Funktion von Nachbarn als Informationsträger wurde in der Forschung zunächst stark unter dem Fokus der Sozialdisziplinierung als soziale Kontrolle und Denunziationsregime untersucht.45 Neuere Arbeiten betonen jedoch, dass Nachbarschaften ganz eigene Akteursgruppen mit eigenen Interessen darstellten, die sich
42 Zit. nach ebd., 233. 43 Ebd., 233 f. 44 Vgl. hierzu Beispiele in Inken Schmidt-Voges, Nachbarn im Haus. Grenzüberschreitung und Friedewahrung in der ‚guten Nachbarschaft‘, in: Roll (Hrsg.), Grenzen (wie Anm. 9), 413–429; zur Hausschwelle als hochsymbolischer Grenze vgl. Ulrich Schütte, Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Markus Bauer/Thomas Rahn (Hrsg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997, 159–176. 45 Vgl. etwa den Sammelband von Roodenburg (Hrsg.), Social Control (wie Anm. 9).
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nicht automatisch in obrigkeitliche Dienste einbinden ließen.46 Im Hinblick auf häusliche Konflikte konnte für verschiedene Untersuchungsräume gezeigt werden, dass jedes Mitglied eines Haushalts vielfach eigene Unterstützernetzwerke in der Nachbarschaft unterhielt, die sich dann gegebenenfalls in der gerichtlichen Verhandlung gegenüberstanden. Sagten die einen für den Hausvater aus, bezogen andere mit ihrer Schilderung der Konfliktbiographie und der Schilderung des Ansehens der Konfliktparteien Stellung für die Hausfrau, für eine Magd oder ein erwachsenes, im Hause lebendes Kind. Solche litigation communities machen deutlich, dass Häuser bzw. Haushalte nicht als ‚Kollektivakteure‘ zu betrachten sind oder aufgrund familialer Bindungen quasi automatisch Interessenskonvergenz bestand. Vielmehr lässt der Blick auf die nachbarschaftlichen Verflechtungen deutlich werden, dass in der Praxis nicht die vermeintliche ‚Hausehre‘ als solche zur Disposition stand. Man sah offenbar genau hin, wer für welche Entwicklungen in den Haushalten verantwortlich war und gewährte oder versagte dementsprechend Unterstützung.47 Wenngleich diese Zusammenhänge zumeist mit Blick auf innerhäusliche Strukturen untersucht wurden, zeigt sich in ihnen aber auch, dass solche Formen nachbarlicher Interaktion in Konfliktsituationen wesentlich darauf ausgerichtet waren, das nachbarliche Gefüge zu stabilisieren und zu stärken. Die klare Markierung von Wohl- und Fehlverhalten, nicht entlang abstrakter Normen, sondern im ganz konkreten Handlungszusammenhang, diente der Stützung des fragilen sozialen Gefüges, dessen Funktionieren das Kerninteresse aller Beteiligten darstellte. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass des Öfteren Nachbarn von Gerichten eingesetzt wurden, die getroffenen Vereinbarungen für konflikthafte Haushalte zu beobachten, zu überprüfen und allfällige Widerhandlungen zu melden. Solche Regelungen sollten nicht voreilig vermeintlichen ‚Blockwartmentalitäten‘ zugeschlagen werden – vielmehr geht es hier um eine Stabilisierung des betreffenden Haushalts durch eine Stärkung seiner nachbarlichen Einbindung. Zu wenig wurde bisher untersucht, welche Folgen solche Konflikte nach sich zogen. Waren sie singulär oder Teil bzw. Beginn einer langen Konfliktbiographie? Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um nach einer Phase der Krise wieder konstruktive nachbarliche Beziehungen zu pflegen? Ein stärkerer Fokus auf diese Aspekte würde wichtige Erkenntnisse über die Integrationsfunktion von Nachbarschaften, ihren Häusern und Konflikten liefern.
46 Schmidt, Pazifizierung (wie Anm. 10); Hardwick, Family Business (wie Anm. 15). 47 Hardwick, Family Busniness (wie Anm. 15), 183–222; Manon van der Heijden, Women, Violence and Urban Justice in Holland c. 1600–1838, in: Crime, Hist. et Soc. 17, 2013, 71–100; Ågren, Emissaries (wie Anm. 15).
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5 Haus und Nachbarschaft: Abschließende Überlegungen Haus und Nachbarschaft waren zwei aufeinander bezogene, komplementäre Räume – im physisch-materiellen Sinne wie auch im sozialen. War Nachbarschaft für Haushalte als soziale Beziehungsform in den allermeisten Fällen unausweichlich, bestand gleichwohl viel Handlungsspielraum im Hinblick darauf, wie diese Beziehung gestaltet werden konnte. Abhängig von den Interessen der Mitglieder eines Haushalts, seinem sozioökonomischen Status und persönlicher Sympathie konnten diese variieren von einer Minimalvariante, die den gebotenen höflichen Umgang beinhaltete, wo Kontakte quasi unvermeidbar waren, bis hin zu freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen. In jedem Fall stellte Nachbarschaft die Basis für ein soziales Netzwerk dar, das in den vormodernen Gesellschaften Europas eine wichtige Funktion für soziale Integration besaß – gerade und vor allem im Hinblick auf den Umgang mit Pluralität. Charakteristisch war hierfür das Zusammenwirken verschiedener Ebenen: Die tägliche Interaktion, die Bedeutung von Patronage-Klientel-Beziehungen, die normative Verankerung des Wertekomplexes der ‚guten Nachbarschaft‘ in der religiös fundierten Gesellschaftsordnung, die formale Einbindung in die gemeindliche Verwaltung und insbesondere die spezifische Form der Justiznutzung bildeten einen Rahmen, durch den jedes Haus und jeder Haushalt in die Gesellschaft eingebunden war. Mit den sich vor allem seit dem 18. Jahrhundert deutlich beschleunigenden sozialen und ökonomischen Veränderungen wandelten sich auch die nachbarlichen Beziehungen und mit ihnen ihre sozialen Funktionen. Die soziale Ausdifferenzierung insbesondere in den wachsenden Städten und eine stärkere soziale Abgrenzung hatte ebenso Einfluss auf die Gestaltung nachbarlicher Beziehungen wie veränderte politische und rechtliche Rahmenbedingungen. Geht man also von einem Rückzug obrigkeitlicher Regulierung im Übergang zur modernen Gesellschaft aus, ist nach den sozialen Integrationskräften zu fragen und danach, wie sie sich unter den Bedingungen von Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten. Dabei sollte der Schwerpunkt nicht auf die allfällige Klage vom ‚Verlust der Nachbarschaftlichkeit‘ gelegt werden48 – eine auffällige Analogie zum Narrativ des Verlusts von Haus und Familien –, da hier zumeist von Nachbarschaft im Sinne des Wertesystems die Rede ist. Nachbarschaftliche Beziehungen blieben gleichwohl bestehen, es änderten sich aber die Praktiken und Sinnzusammenhänge.
48 Für eine kritische Diskussion der englischen Historiographie vgl. Wrightson, The Decline (wie Anm. 6); Cockayne, Cheek (wie Anm. 6).
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Einzelne historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen sehr deutlich die Relevanz und Dynamik nachbarschaftlicher Beziehungen – sei es in spezifischen sozialen Milieus, in totalitären Gesellschaften oder im Hinblick auf die Integration von Migranten.49 Auch auf die Bedeutung des Ideals von Nachbarschaft als soziale Beziehungsform der Anteilnahme und Unterstützung in den städtebaulichen Entwürfen des 20. Jahrhunderts ist hingewiesen worden.50 Mit Blick auf die Frage, was sich im Übergang zur modernen Gesellschaft wann, wie und in welchem sozialen Milieu veränderte, und welche Funktion Nachbarschaft für die soziale Integration von Haushalten und ihren Mitgliedern besaß, bilden vergleichende Untersuchungen zu unterschiedlichen sozialen Milieus in einer historischen Langzeitperspektive nach wie vor ein Desiderat.
49 Z. B. Eva Brücker, ‚Und ich bin heil da ’rauskommen.‘ Gewalt und Sexualität in einer Berliner Arbeiternachbarschaft 1916–1958, in: Thomas Lindenberger (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit. Frankfurt am Main 1995, 337–365; dies., Soziale Fragmentierung und kollektives Gedächtnis. Nachbarschaftsbeziehungen in einem Berliner Arbeiterviertel, in: Wolfgang Herrmann (Hrsg.), Wohnungspolitik und Städtebau 1900–1930. Berlin 1993, 285–306; Barbara Kowalzik, Wir waren eure Nachbarn. Die Juden im Leipziger Waldstraßenviertel. Leipzig 1996; Paul Betts, Nachbarschaft, Konflikte und Ehre. Alltagsjustiz in der DDR, in: ZeitRäume, 2007, 17–28; Donna Gabaccia, Global Geography of ‚Little Italy‘. Italian Neighbourhoods in Comparative Perspective, in: Modern Italy 11, 2006, 9–24. 50 Vgl. z. B. Konstanze Domhardt, Individuum und Stadtgemeinschaft. Die Nachbarschaftsidee in den amerikanischen Stadtentwürfen von Walter Gropius, in: IMS 2012, 108–127; Wietschorke, Nachbarschaft (wie Anm. 28).
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Das gerügte Haus: Rügerituale am Haus in der Ehrgesellschaft der Frühen Neuzeit 1 Einleitung und Forschungsstand Während sich heute Familienleben, Ehe und Paarbeziehungen in der westlichen Welt weitgehend hinter verschlossenen Haustüren abspielen und sich so den Augen der Öffentlichkeit entziehen, waren die Verhältnisse in der Frühen Neuzeit anders gelagert. Die heute binär codierte Grenze zwischen öffentlicher und Privatsphäre war in der face to face-Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in der Konflikte in der Regel unter ‚Anwesenden‘ ausgetragen wurden1, wesentlich weniger trennscharf. Das lässt sich exemplarisch an den Rügeritualen aufzeigen. Diese Konsensrituale, verstanden als Mittel zur Produktion von kulturellem Sinn, mit denen sich die jeweilige Gesellschaft ihrer sozialen Normen versicherte und sie durchsetzte2, sind seit dem Spätmittelalter in ganz Europa anzutreffen. Sie illustrieren den Raum in seiner Ambiguität zwischen außen und innen, augenscheinlich und verborgen, auf die zuletzt Joachim Eibach mit seinem Konzept des ‚offenen Hauses‘ explizit verwiesen hat.3 Gerade die uns heute weitgehend unvertraute Logik dieser Rituale und das uns unscharf erscheinende Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Sphäre dürften maßgeblich zum Interesse zahlreicher Volkskundler, Kulturhistoriker und historisch arbeitender Anthropologen beigetragen haben.4 Die klassische ältere Volkskunde war schon seit dem 19. Jahrhundert daran, die sog. ‚Volkskultur‘ zu inventarisieren und die in der Gegenwartskultur noch existierenden ‚Artefakte‘ der Rügebräuche detailreich zu beschreiben. Ein Beispiel für diesen deskriptiven Ansatz ist der Schweizer Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer, der das Brauchtum und Feste seiner Lands-
1 Zur Kommunikation und Konfliktaustragung unter Anwesenden Rudolf Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Paderborn 2014, 39–47; Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forsch. 42, 1992, 215–251; Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff, Verletzte Ehre – Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: dies. (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln 1995, 1–28. 2 Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens. Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert. Berlin 2015, 8 f. 3 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 4 Eibach schreibt mit Blick auf das Gegensatzpaar ‚öffentlich‘-‚privat‘ aus historischer Perspektive: „Die Mischungsverhältnisse sind variabel und das eigentlich Interessante.“: ebd., 623, 649.
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leute erforschte.5 Die Neugier der neueren Forschung im Hinblick auf Rügepraktiken erhielt in den 1970er Jahren aber vor allem durch die vorausgehende Entwicklung des Konzepts der Ehre in der Anthropologie frischen Wind. Ethnographische Untersuchungen zeigten, dass sich die Vorstellungen von Ehre in einer Vielzahl von sozialen und kulturellen Ritualen wiederfinden lassen. Das kulturtheoretische Konzept wurde in der Geschichtswissenschaft im Rahmen des cultural turns dahingehend rezipiert, dass sie den Begriff der Ehre als einen zentralen Komplex von Werten und Vorstellungen annahm, der in verschiedenen Kulturen eine ähnliche Funktion einnahm, wobei Ehre in all ihren Aspekten jedoch stets konkret in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur ausgehandelt wurde.6 Richtungweisend wurde es, sog. Ehrenhändel und Rügepraktiken nicht einfach als sich spontan entladende, ‚spasmodische‘ (E. P. Thompson) Gewaltausbrüche vormoderner Akteure zu erachten, sondern die ihnen innewohnende und ritualisierte Eigengesetzlichkeit zu erforschen.7 Ein für die Kulturgeschichte paradigmatischer Aufsatz, der sich unter diesen konzeptionellen Vorzeichen den Rügepraktiken zuwandte, stammt von Natalie Zemon Davis. Darin untersucht sie, durch deskriptive volkskundliche Literatur und anthropologische Ansätze informiert, in exemplarischer Weise ‚Charivari‘ genannte Rügerituale im Frankreich des 16. Jahrhunderts. Neben den Arbeiten von Davis dürfen vor allem die Forschungsanregungen von E. P. Thompson und Jacques Le Goff als richtungsweisend erachtet werden. Sie alle stimulierten die kulturhistorische Aufarbeitung der Rügerituale.8 Im deutschsprachigen Raum nahm Karl-Sigismund Kramer eine Vorreiterrolle in der konzeptionellen Aufarbeitung der Thematik ein. Ernst Hinrichs beklagte sich aber noch in den 1990er Jahren, dass die Erforschung der Rügerituale in Deutschland selbst nach zwanzig Jahren noch hinter jener Englands und Frankreichs hinterherhinke. Martin Scharfe kritisierte die unsystematische Aufarbeitung der Rügerituale schon anfangs der 1970er Jahre, als er die sog. Rechtliche Volkskunde bezichtigte, in Bezug auf diese soziale Praxis lediglich Beispiele aneinanderzureihen, ohne ihrer sozialen Funktion und Eigengesetzlichkeit gewahr zu werden. In der Tat wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz Rügebräuche weitaus weniger systematisch
5 Eduard Hoffmann-Krayer, Knabenschaften und Volksjustiz in der Schweiz, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 8, 1904/1905, 81–99; 161–178. 6 Elizabeth S. Cohen, Honor and Gender in the Streets of Early Modern Rome, in: JInterH 22, 1992, 597–625; Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre (wie Anm. 1), 3–8. 7 E. P. Thompson, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1980, 67; vgl. Martin Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, 270–327; Sibylle Backmann u. a. (Hrsg.), Ehrkonzepte in der frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Berlin 1998. 8 Natalie Zemon Davis, The Reasons of Misrule. Youth Groups and Charivaris in Sixteenth-Century France, in: P & P 50, 1971, 41–75; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 131–168; Jacques Le Goff/ Jean-Claude Schmitt, Le charivari. Actes de la Table ronde. Paris 1981.
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unter die Lupe genommen.9 Das Thema der symbolisch aufgeladenen öffentlichen Rüge in der Frühen Neuzeit erfuhr seither relativ große Beachtung, bevor es dann eher wieder in den Hintergrund treten sollte. In den letzten Jahren wurde kaum noch zu diesem Thema publiziert, implizit spielt es aber in den Arbeiten zu Streitkultur und ritualisiertem Konfliktaustrag immer eine Rolle.10
2 Haus, Ehe und Ehre Über die herausragende Bedeutung der Ehre für das Verständnis der Kultur der Frühen Neuzeit ist man sich in der Geschichtswissenschaft weitgehend einig. Ehre wird mit Blick auf die Arbeiten Pierre Bourdieus begrifflich als ‚symbolisches Kapital‘ gefasst.11 Davon konnte man in der frühneuzeitlichen Gesellschaft dazugewinnen, es aber auch schleichend oder auf einen Schlag verlieren. Gleichzeitig stand dieses Medium sozialen Auf- oder Abstiegs in der sog. agonalen Gesellschaft der Frühen Neuzeit unter anhaltender Aufsicht von Nachbarn und anderen AkteurInnen.12 Die symbolische Offenlegung verletzter Ehre und gebrochener sozialer Integrität im Sinne einer denouncing strategy (Harold Garfinkel) sowie die Bemühungen um deren Wiederherstellung waren integrale Bestandteile der frühneuzeitlichen Ehrgesellschaft. Die Erforschung von Rügeritualen als kollektive kommunikative Handlungen unter dem Blickwinkel von Ehrvorstellungen lenkt den Fokus nicht zuletzt auf das Habitat und konterkariert die in älteren Arbeiten noch präsente Hermetik des Brunner’schen Hauses.13 Um die Logik der frühneuzeitlichen Rügepraktiken verstehen zu können, müssen die Zusammenhänge zwischen dem Haus als materiellem
9 Karl-Sigismund Kramer, Grundriss einer rechtlichen Volkskunde. Göttingen 1974; Ernst Hinrichs, ‚Charivari‘ und Rügebrauchtum in Deutschland. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Martin Scharfe (Hrsg.), Brauchforschung. Darmstadt 1991, 430–463; Martin Scharfe, Zum Rügebrauch, in: Hessische Bll. für Volkskunde 61, 1970, 45–68. 10 Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert). Köln 2003. 11 Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre (wie Anm. 1), 2; Dinges, Maurermeister (wie Anm. 7), 144; Backmann, Ehrkonzepte (wie Anm. 7). 12 Rainer Walz versteht unter ‚agonaler Kultur‘ eine Gesellschaft, die sich durch die Art des Ringens um knappe Ressourcen auszeichnet, indem die Akteure ihre Kontrahenten in deren Reputation anzugreifen, d. h. konkret deren Ehre durch stereotype Beleidigungen und Herausforderungen zu verringern und damit die eigenen sozialen Ressourcen zu mehren versuchen; Walz, Agonale Kommunikation (wie Anm. 1), 221–229; vgl. Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 622, 626; Schreiner, Überlegungen (wie Anm. 1), 12 f. 13 Eibach hat in seinem Artikel zum Konzept des ‚offenen Hauses‘ darauf hingewiesen, dass der Fokus auf kommunikative Praktiken in Bezug auf das Geschehen im Haus Wechselbeziehungen von innen und außen aufzeigt; Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 621 f.; vgl. Hermann Heidrich, Grenzübergänge. Das Haus und die Volkskultur in der frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.),
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und sozialem Raum, konstitutiven Vorstellungen von der Ehe und der Sexualität sowie dem allgemeinen Ehrverständnis der Frühen Neuzeit reflektiert werden. Der häusliche Bereich besaß in der behandelten Epoche eine herausgehobene Stellung für die Mechanismen der Vergesellschaftung. Das Haus stellte den Nukleus des sozialen Zusammenlebens, aber auch den Sitz der Ehre des gesamten Hausstands dar. Die Unversehrtheit der inneren Ordnung dieses Kerns wurde als Notwendigkeit für das Funktionieren der gesamten Gemeinschaft erachtet, waren doch die frühneuzeitlichen Lebenszusammenhänge eng miteinander verzahnt. In verschiedenen Kontexten des alltäglichen Lebens war man auf „zwischenhäusliche Kooperation“14 und nachbarschaftliche Solidarität angewiesen – sei es bei der Geburt, der Erntearbeit oder im Rahmen anderer Arbeitsprozesse. Folglich besaß die Kontrolle und Aufsicht über das häusliche Zusammenleben im „sozialen Nahraum“ eine gewisse Notwendigkeit und Funktionalität, wollte man die soziale Kohäsion im Haus wie in der Gemeinde nicht gefährden.15 Seit der Reformation ist vor allem in Bezug auf die ehelichen Verhältnisse ein stärkeres Eingreifen der juristischen Institutionen in innerhäusliche Angelegenheiten festzustellen. Die Ehegerichte wurden dabei vom Hausvater, der Hausmutter oder den Nachbarn angerufen, die Klagen kamen folglich also „aus der Gesellschaft selber“.16 Auf die Schwierigkeit, von den zeitgenössischen Vorstellungen und der normativen Kodifizierung des ‚Hausfriedens‘, welcher eine relativ autonome Rechtsphäre suggeriert, auf die soziale Praxis zu schließen, wurde zuletzt von Inken Schmidt-Voges hingewiesen.17 Die Normen der AkteurInnen im sozialen Nahraum des Hauses und darum herum richteten sich selten exklusiv nach formalen Rechtsvorstellungen. Jenen kam nur so viel Bedeutung zu, wie ihnen in den sozialen Beziehungen an Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Grenzen waren nichts Sakrosanktes, sondern wurden durch ritualisierte und nicht selten konfliktreiche Interaktionen reproduziert.18
Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. München 1983, 17–41, 23. 14 Jon Mathieu, ‚Ein Cousin an jeder Zaunlücke‘. Überlegungen zum Wandel von Verwandtschaft und ländlicher Gemeinde, 1700–1900, in: Margareth Lanzinger/Edith Saurer (Hrsg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, 55–71, 61. 15 Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 626–628, hier 626. 16 Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1994, 376; vgl. Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit, Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der frühen Neuzeit. Paderborn 1999; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 435. 17 Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 2). 18 Diesen Umstand macht Heidrich anhand von Quellen deutlich, die den Umgang mit Zäunen und Umgrenzungen des Dorfes zeigen. Den quasi ritualisierten Grenzen der Frühen Neuzeit stellt er „eine objektivierte und rationalisierte Auffassung von Grenzen“ im bürgerlichen 19. Jahrhundert gegenüber; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 17 f., 20–24, 34, hier 21. Zum konfliktreichen frühneuzeitlichen Aushandeln von Grenzen auch Michaela Fenske, Der Kampf um die Grenze. Rationale Inter-
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Das Dargelegte verweist auf den besonderen rechtlichen Charakter des innerhäuslichen Bereichs, aber auch auf die Rolle der Nachbarschaft sowie den Status der obrigkeitlich beaufsichtigten christlichen Eheführung als Rahmen des häuslichen Zusammenlebens. Griff die Justiz in die Rechtssphäre des Hauses ein, wurde damit die faktisch fragile Autorität des Hausvaters und Ehemanns in seiner stellvertretenden Funktion als Landesvater unterminiert. In Bezug auf die Überwachung des Binnenbereichs des Hauses nahmen die Nachbarn eine zentrale Rolle ein, besonders wenn es um die Aufsicht über die Eheführung, aber auch das Haushalten insgesamt ging.19 Soziale Bezüge wurden in der ‚Anwesenheitsgesellschaft‘ der Frühen Neuzeit wesentlich durch räumliche Nähe definiert.20 Die anwohnenden Parteien besaßen eine gewisse Verantwortung, wenn es um „das Gelingen von ‚Haus‘“ ging. So kam es vor, dass die direkten Nachbarn dem ‚Charivari‘ stellvertretend voranschreiten oder darin eine hervorgehobene Rolle einnehmen mussten, weil sie ihre Verantwortung vernachlässigt hatten.21 Die göttlich angelegte Ordnung zwischen Mann und Frau, welche dem Abbild der Ordnung zwischen Fürst und Untertanen entsprechen sollte, musste in der Vorstellung der AkteurInnen in der alltäglichen Interaktion hergestellt werden.22 Ehe und Haus gingen durch diesen Zusammenhang eine unzertrennbare wechselseitige Verschränkung ein. Denn es war die Eheschließung, welche die Gründung eines Hausstands besiegelte; d. h. erst wer die ökonomischen Mittel besaß, um einen Hausstand zu gründen, konnte auf legitime Weise heiraten. Ehe und ‚Haus‘ begründeten zusammengenommen einen umfassenden sozioökonomischen und moralischen Zusammenhang.23 Laut Bourdieu stellte das Haus die „letzte Zufluchtsstätte der Ehre“ dar.24 Moralische, soziale und materielle Ökonomie waren untrennbar miteinander verwoben.25 Was Bourdieu für die Kabylen konstatierte, darf durchaus auf die frühneuzeitlichen Verhältnisse übertragen werden: Das Geschehen im Haus war ausschlaggebend
essendurchsetzung in Stadt und Land in der Frühen Neuzeit, in: Barbara Krug-Richter/Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hrsg.), Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit. Münster 2004, 157–168. 19 Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 632–635. 20 Schlögl, Anwesende (wie Anm. 1), 39–47, 115–117. 21 Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 627–640, hier 640; vgl. Martin Ingram, Charivari and Shame Punishments. Folk Justice and State Justice in Early Modern England, in: Herman Roodenburg (Hrsg.), Social Control in Europe. Columbus 2004, 288–308. 22 Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 305; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 444. 23 Richard van Dülmen, Gesellschaft der frühen Neuzeit. Kulturelles Handeln und sozialer Prozess – Beiträge zur historischen Kulturforschung. Wien 1993, 194. 24 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009, 19. 25 Zur Gemengelage zwischen ‚Ehrvermögen‘ und materieller Ökonomie in Ehrgesellschaften vgl. Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre (wie Anm. 1), 10 f.; Walz, Agonale Kommunikation (wie Anm. 1), 221.
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für das Ehrgefühl seiner Bewohner, wodurch ein Konnex zwischen innerer Ordnung des Hauses sowie der Familie und der öffentlichen Repräsentation entstand.26 Konnten Mann und Frau, die einen Hausstand begründeten, dessen moralische und ökonomische Ordnung nicht gewährleisten oder wurde das Paar oder einer der Ehepartner gar selbst zum Risiko für die Ehre der Hausstatt, so lag es in der Verantwortung und auch im sozioökonomischen Interesse der Nachbarschaft, diesen Missstand publik zu machen und zu korrigieren. Wer aus der Rolle fiel, war ein Risiko für die Ökonomie und Moral der Gemeinschaft und musste in die rechte Ordnung zurückgeführt werden. Es ging nicht darum, das Rügeopfer einer ausweglosen Schande auszusetzen und damit unwiderruflich zu exkludieren, sondern einen gewissen Spielraum für die Reintegration offen zu halten.27 Es sollte ‚Konformitätsdruck‘ auf die Angehörigen der Gemeinschaft ausgeübt werden. Soziale Kontrolle intendierte also, Integration zu erzeugen.28 Rügerituale waren das Instrument, um die ‚moralische Ökonomie‘ (Thompson) im Gleichgewicht zu halten, indem abstrakten Normen ein physischperformativer Ausdruck verliehen wurde. Entsprechend zur Verzahnung zwischen Haus, Ehe und Ehre fanden die sinnlich erfahrbaren Strafaktionen vorwiegend in Zusammenhang mit Normenverletzungen bezüglich des Geschlechterverhältnisses, sich anbahnenden Ehen, zerrütteten Eheverhältnissen, Wiederverheiratungen oder sexuell nicht akzeptiertem Verhalten innerhalb des Hauses statt.29 Hausmutter und -vater mussten folglich daran interessiert sein, die gesellschaftlich normierte und beaufsichtigte Ordnung des häuslichen Lebens zu wahren, war doch ihre Ehre konstitutiv damit verbunden. In der Kollektivgesellschaft der Frühen Neuzeit war das „Ehrgefühl […] das Fundament einer Moral“, in deren Rahmen sich
26 Bourdieu, Entwurf (wie Anm. 24), 54; Martin Dinges, Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Backmann (Hrsg.), Ehrkonzepte (wie Anm. 7), 123–147. 27 Eibach macht darauf aufmerksam, wie wichtig Konflikte und deren Lösung für die Integration und Stabilisierung der Kommunikation waren; Eibach, Haus (wie Anm. 3), 627–644; vgl. Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 291, 303 f.; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 24, 209 f. 28 Scharfe, Rügebrauch (wie Anm. 9), 186–190. 29 Thompson macht in seinem Aufsatz zur rough music eine systematische Auflistung der Vergehen, welche Rügeaktionen evozieren konnten; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 143 f. Sowohl Cohen als auch van Dülmen untersuchen Rügepraktiken vor allem im Zusammenhang mit in der Frühen Neuzeit nicht gebilligtem Verhalten bezüglich Eheanbahnung, -schließung und -führung sowie sexuellem Fehlverhalten; Cohen, Honor (wie Anm. 6); van Dülmen, Gesellschaft (wie Anm. 23), 194–235. Auch Natalie Zemon Davis findet auffällig viele Beispiele von Charivaris, die in engem Zusammenhang mit ehelichen oder sexuellen Verfehlungen stehen; Davis, Reasons (wie Anm. 8), 45, 50. Weiter sind diesbezüglich folgende Autoren zu beachten: Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 290; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 435; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 85, 97, 163 f., 176; Christiane Klapisch-Zuber, Women, Family, and Ritual in Renaissance Italy. 2. Aufl. Chicago 1987, 262. Norbert Schindler nennt die Aufsicht über den vorehelichen und ehelichen Sexualverkehr die „Elementarfunktion der Burschenschaften“; Norbert Schindler, Die Hüter der Unordnung. Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit, in: Giovanni Levi/Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Geschichte der Jugend, Bd. 1. Frankfurt am Main 1996, 319–382.
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der Einzelne stets der Überprüfung durch die Gemeinschaft ausgesetzt sah und gleichzeitig diese Gemeinschaft und die Reflexe der sozial und räumlich ‚nahen‘ AkteurInnen brauchte, um existieren zu können. Wurde der quasi sakrale Raum des ehelichen Lebens im Innern des Hauses verletzt, zeigte die Gemeinschaft die Verletzlichkeit des partiell gegen außen abgeschirmten Innenraums an und schritt nötigenfalls buchstäblich ein, um die rechte Ordnung wiederherzustellen. Der von Bourdieu benutzte Begriff ‚sakral‘ scheint in diesem Zusammenhang eine gute Eigenschaftszuweisung für den Charakter des häuslichen Innenraums zu sein, weil sie auf seine ambigue Verfügbarkeit verweist: partiell verborgen, partiell zugänglich und von Gerüchten umwoben.30
3 Akteure, Motive und Funktionen von Rügeritualen Doch wer genau beobachtete die Einhaltung der gesellschaftlichen Normen und machte auf deren Verletzungen aufmerksam? Aufgrund welcher Ereignisse und Motive wurden Rügerituale durchgeführt? Wer inszenierte sie? Diese Fragen sollen im Folgenden erörtert werden. Oft fanden Rügeaktionen in regelmäßigen Intervallen im Vorfeld religiöser Feste oder im Rahmen anderer Feiertage statt. Sie besaßen als besondere Form der ‚Beichte‘ im Offenlegen von gesellschaftlichen Problemen eine kathartische Wirkung. Sie konnten aber auch jederzeit abgehalten werden, wenn es die Umstände erforderten. Dadurch zeigt sich eine doppelte Funktion der Rituale: Sie waren zum einen Ventile zur Entladung allgemeiner gesellschaftlicher Spannungen; zum anderen dienten sie der sozialen Disziplinierung bzw. Reintegration derjenigen, welche aus den allgemein anerkannten Normvorstellungen ausscherten.31 Die in Burschenschaften, Knabenschaften, zünftischen Gesellenverbänden und Berufsgilden organisierten unverheirateten Männer nutzten die Rügebräuche als Medium zur Bekanntmachung und Markierung sozialer, ökonomischer, herrschaftlicher, aber eben vor allem innerhäuslicher sexueller und ehelicher Missstände.32 Frauen führten in der Regel zwar keine Rügeaktionen durch, konnten sie aber durch Gerüchte evozieren oder nahmen wichtige unterstützende Rollen ein. Insofern waren sie auch Akteurinnen.33 Schließlich waren vor allem sie es, die den häuslichen Raum
30 Bourdieu, Entwurf (wie Anm. 24), 28. 31 Davis, Reasons (wie Anm. 8), 41–43; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 290, 293; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 83, 175; Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 270. 32 Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 84; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 150; Scharfe, Rügebrauch (wie Anm. 9), 195; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 446. 33 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 603; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 299. Vgl. aber die Untersuchung eines ‚Weibergerichts‘ in Breitenbach von Christina Vanja, Das ‚Weibergericht‘ zu Breitenbach. Ver-
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bewirtschafteten und in der täglichen Arbeitskooperation mit den anderen Frauen Einblick in die Nachbarshäuser gewannen. Knabenschaften und Gesellenverbände fungierten als quasi sittenpolizeiliche Wächter über das Beziehungsleben im Dorf oder in der Stadt und konnten inoffizielle ehegerichtliche Funktionen übernehmen. Auf der öffentlichen Bühne stellten die Burschenschaften in den Rügebräuchen ihre erzieherische Funktion über die Gleichaltrigen, die Jugend im Dorf bzw. in der Stadt und die heiratsfähigen Mädchen zur Schau. Sie führten Aufsicht über den lokalen Heiratsmarkt, nicht zuletzt, weil das Potential an heiratsfähigen Menschen und die ökonomischen Ressourcen der Gemeinschaft begrenzt waren. So wurden Fremde, welche um die Bräute des Dorfs buhlten, verprügelt oder hatten eine Gebühr an die Burschen zu entrichten. Die Endogamie sollte gewahrt bleiben, was bedingte, dass Auswärtige ausgeschlossen wurden. Vor allem Zweitheiraten von Witwen und Witwern oder ein allzu großer Altersunterschied zwischen Braut und Bräutigam erregten die Aufmerksamkeit der jungen Männer und provozierten Fastnachtsspiele und sog. Katzenmusiken. Denn verwitwete Menschen, die bereits einen Hausstand gegründet hatten, trockneten durch Wiederheirat quasi den Markt an heiratsfähigen Junggesellen und Mädchen aus.34 Gleichzeitig nahmen die jungen unverheirateten Männer wichtige Rollen bei den Heiratsritualen ein: Sie erstellten Wegsperren, die erst gegen ein Pfand aufgelöst wurden, oder führten sog. Eselshochzeiten durch, wenn die Bräuche nicht der Tradition entsprechend eingehalten wurden. Verlobten wurde ein „Gassengeld“ abverlangt.35 Die verheirateten Paare waren in ihrer Eheführung ebenfalls der Wachsamkeit der Burschen wie auch der Nachbarn ausgesetzt: Bei frisch Verheirateten, die scheinbar keine Kinder kriegen konnten, unterlag der Mann dem Verdacht der Impotenz. Ehebrecher und unterdrückte Ehemänner wurden ebenso zu den Opfern von ‚Charivaris‘ der Junggesellen. Aber auch die Trunksucht eines Ehegatten konnte in einem Eselsritt zur Schau gestellt werden. Damit übernahmen die in Gruppen auftretenden unverheirateten Männer die Aufgabe, Deviante vor der Gemeinschaft mittels Rügebräuchen bekannt zu machen und deren Verhalten in der Öffentlichkeit zu sanktionieren. Sie tasteten damit das Ehrgefühl der Fehlbaren an und zwangen diese zur
kehrte Welt in einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hrsg.), Weiber, Menschen, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1550–1800. Göttingen 1996, 214–222. 34 Davis, Reasons (wie Anm. 8), 51–54; van Dülmen, Gesellschaft (wie Anm. 23), 202, 215 f., 223, 227; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 83, 87, 165 f.; Schindler, Hüter (wie Anm. 29), 329; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 290; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 447; Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 262; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 149–151. 35 Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 46–49, 84, 97, hier 84; vgl. Dieter Dünninger, Wegsperre und Lösung. Formen und Motive eines dörflichen Hochzeitsbrauches. Ein Beitrag zur rechtlich-volkskundlichen Brauchtumsforschung. Berlin 1967; Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 263; Bernward Deneke, Hochzeit. München 1971, 107–109; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 439, 441.
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sozialen Integration, indem sie kollektive Moralvorstellungen in Erinnerung riefen und auch durchsetzten.36 Wollten die ‚Schandbaren‘ des gesellschaftlich wertvollen Kapitals der Ehre nicht verlustig gehen, respektive ihre Ehre rehabilitieren, mussten sie sich der Rüge stellen. Dabei disziplinierten Nachbaren und Burschen in der Frühen Neuzeit laut Norbert Schindler effektiver als eine ortsferne, mit den lokalen Gepflogenheiten nicht vertraute obrigkeitliche Amtsperson, die ein System repräsentierte, das weit davon entfernt war, über das Gewaltmonopol zu verfügen. Nicht zuletzt wirkten die Rügebräuche in einer weitgehend oralen Gesellschaft disziplinierend auf diejenigen, welche sie durchführten: Durch die Kontrolle der Gleichaltrigen wie auch der Ausführenden, die den Übergang in einen anderen, ihnen selbst bevorstehenden Lebensabschnitt vor sich hatten, wurden die Adoleszenten und Unverheirateten mit den herrschenden Wertvorstellungen und der rechten Ordnung, die es später einzuhalten galt, konfrontiert. Sie führten sich selbst vor, wie es nicht sein sollte, welche Konsequenzen im Falle des Normbruchs drohten und wie die intakten sozialen Verhältnisse ausgestaltet sein sollten.37
4 Formen der Rügerituale Eine der heftigsten – und daher wohl auch von der Forschung am intensivsten untersuchten – Formen öffentlicher Rüge38 waren die bereits erwähnten ‚Charivaris‘: Lärmige, oft mit improvisierten Instrumenten ausgestattete, teilweise maskierte Prozessionen durch die Straßen vor das Haus eines Missetäters, um dessen ehrrühriges Verhalten im öffentlichen Raum zu denunzieren.39 Was in Frankreich ‚Charivari‘ genannt wurde, hieß in Großbritannien rough music oder riding skimmington.40 Im deutschsprachigen Raum sprach man unter anderem von ‚Katzenmusik‘ oder seltener von ‚Haberfeldtreiben‘ und ‚Tierjagen‘, wobei keine einheitlichen überregionalen Bezeichnungen existierten.41 In der Schweiz bestanden je nach Kanton unterschied-
36 Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 293; Davis, Reasons (wie Anm. 8), 54–59; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 441; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 85. 37 Scharfe, Rügebrauch (wie Anm. 9), 188–190, 204; Schindler, Hüter (wie Anm. 29), 322. 38 Bereits Heidrich bemerkt, dass es, obwohl vor allem die extremen Charivaris die Aufmerksamkeit der Forscher geweckt haben, weitaus feinere Formen der Rüge gab. In Bezug auf die Charivaris spricht er von der „Spitze eines Eisbergs“; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 210. Auch Hinrichs lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Rügepraktiken; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 437 f. 39 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 597 f.; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 290–294. 40 Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 131; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 290. 41 Hinrichs macht auf die regionalen Unterschiede in den Bräuchen und deren Bezeichnung aufmerksam; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 431 f. Zu den verschiedenen Bezeichnungen außerdem Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 131.
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lichste Begriffe für die Bräuche wie ‚hörnlen‘, ‚z’sämmeschälle‘, far cavals oder matineda.42 In Italien wurde von der mattinata43 oder scampanate44 gesprochen. Neben den Umzügen durch die Straßen wurden im Kontext von ‚Charivaris‘ Narrengerichte abgehalten45, um Missstände unter karnevalesken, verkehrt-hierarchischen Vorzeichen offen zur Schau zu stellen und über die pervertierten Verhältnisse durch öffentlichen Spott zu richten.46 In dieser Erscheinungsform stellten ‚Charivaris‘, Katzenmusiken, Narrengerichte, abgedeckte Dächer, verschmierte Hausmauern und Eselsritte etc. „formverfestigte Handlungen mit Entlastungsfunktion“ dar, die einerseits der sozialen Kontrolle unterlagen, also stark normiert waren, und anderseits gesellschaftlichen Konformitätsdruck erzeugten.47 Bei vielen Rügeritualen wurde das Geschehen im Hausinneren in symbolischen Handlungen auf die Straße getragen und theatralisch inszeniert – meistens direkt vor dem Haus der Betroffenen. Dieses – für die Verspotteten demütigende – Schauspiel, welches absichtlich innen und außen vertauschte, zeigt auf, wie mit der Offen- und Geschlossenheit des Hauses in der Frühen Neuzeit changiert werden und wie fiktional die Grenze zwischen innen und außen verlaufen konnte.48 Darauf wies auch bereits Thompson hin, als er der rough music die Funktion zusprach, Dinge aus dem häuslichen Innenraum in die Öffentlichkeit zu tragen, wenn diese nicht den kollektiven Normvorstellungen entsprachen. Die mit Disziplinierung, Ordnung und sozialer Integration in Verbindung stehenden Rituale am Haus und um dasselbe herum zielten, wie bereits erwähnt, als komplexe symbolische Handlungen, in denen zeitgenössische und lokale Vorstellungen, Wörter und Gesten zum Ausdruck kamen, auf die Wiederherstellung und Selbstvergewisserung der rechten Ordnung ab.49 In den Ritualen und deren diffamierenden Handlungen kam eine kollektiv geteilte Sprache zum Ausdruck. Diese stellte sicher, dass das herausgeforderte Gegenüber die intendierte Botschaft verstand. Das
42 Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 165. 43 Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 261 ff. 44 Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 131. 45 Der theatralisch inszenierte Prozess hieß im Kanton Graubünden in der Schweiz ‚Ausschellen‘ und beinhaltete Katzenmusik und das öffentliche Verlesen eines Sündenregisters. Hoffmann-Krayer beschreibt weitere solcher inszenierten Prozessabläufe ausgesprochen plastisch; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 85 f. 46 Davis, Reasons (wie Anm. 8). 47 Scharfe, Rügebrauch (wie Anm. 9), 194. 48 Thompson nennt die rough music „eine Art Straßentheater“; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 136. Ingram hebt hervor, dass die Verspotteten manchmal eine Szene aus dem zerrütteten innerhäuslichen Raum aufführen mussten, um diese zur Schau zu stellen; Ingram, Charivari (wie Anm. 21). Heidrich spricht von der Straße als Theaterbühne für das illegitime Treiben im Hausinnern; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 18; vgl. Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 165; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 27 f. 49 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 597 f.; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 24 f.
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bedingte auch, dass nur jemand Opfer einer Rügeaktion werden konnte, der als Teil der Gemeinschaft überhaupt empfänglich für die Schande war.50 Gleichzeitig war es wichtig, das entsprechende ‚Sanktionsmaß‘ zu treffen. Die Rüge musste also verhältnismäßig ausfallen. Es ist daher nachvollziehbar, dass es nicht ein beliebiges Repertoire an Handlungsoptionen gab, um verletzte Ehre oder ehrrühriges Verhalten anzuzeigen. Die angewandten Handlungen waren Bestandteil eines mehr oder weniger abgeschlossenen Fundus von möglichen Ritualen und Entsprechungen51: „For a person to respond to another’s claim or attack, there were, not an infinitude, but still a plurality of options which might, within the culture’s terms, make sense. Plausible reactions depended not only on the nature of the initial challenge, but also on the social rank, occupation, and gender of the parties.“52 Elizabeth S. Cohens Beobachtung macht aber auch deutlich, dass es sich bei den Ehrenritualen zwar nicht um unveränderliche Strukturen handelte, jedoch um Regelmäßigkeiten und Praktiken, die auf Erwartungswerten aufbauten. Modifikationen waren folglich je nach Konfliktkonstellation und Region möglich.53 Der verkehrte Ritt durch die Straßen auf einem Esel zeigte beispielsweise vielerorts weibliche Dominanz über den Mann im Haus an.54 In verschiedenen süddeutschen Regionen wurde die Unterdrückung des Hausherrn durch seine Frau mit dem Abdecken des Hausdachs zur Anzeige gebracht, oder man riss den ‚Hellhafen‘ – ein zentrales Stück des Ofens – des Haushalts heraus. Symbolisch und auch materiell war damit das Haus seines Herzstücks beraubt. In Bayern wurde zwischen zwei Häusern Stroh gelegt, um eine illegitime Verbindung zwischen zwei Personen, die unterschiedlichen Haushaltungen angehörten, anzuprangern.55 Es existierte also eine regionale Vielfalt verschiedener Rituale, die jedoch stets eine ähnliche Funktion erfüllen sollten.56 Rügerituale, die aufgrund ihrer Heftigkeit oder subjektiv empfundener Unverhältnismäßigkeit vor Gericht kamen, belegen ex negativo die stark ritualisierte Form des ‚Charivaris‘. Es konnte sein, dass der Herausgeforderte die Rüge nicht akzeptieren wollte, weil er sie für unverhältnismäßig hielt oder sein Fehlverhalten nicht einsah. In dem Fall bot die Justiz eine auf schriftlichem Recht und formalen Verfahren basierende Form der Restabilisierung der konfliktbehafteten Beziehungen. Der Rahmen des Rituals musste beim ‚Charivari‘ folglich gewahrt bleiben. Wer die Spielregeln ritualisierter Praxis notorisch missachtete oder nicht einsichtig war, musste damit
50 Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 139. 51 Scharfe, Rügebrauch (wie Anm. 9), 213; vgl. zum Gestaltungsspielraum auch Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 294; Kramer, Grundriss (wie Anm. 9), 78. 52 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 601. 53 Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 30. 54 Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 305; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 439; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 24; Davis, Reasons (wie Anm. 8), 45. 55 Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 17. 56 Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 133.
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rechnen, vor der Justiz angezeigt zu werden.57 Die Rügepraxis als Herausforderung setzte die Annahme der herausfordernden Partei voraus, dass der Herausgeforderte würdig und fähig zur Wiedereingliederung in die rechte Ordnung sei. Die Herausforderung stellte somit gleichzeitig die Möglichkeit der ‚Reinwaschung‘ beschmutzter Ehre dar. Wer aber nicht fähig war, „das Spiel der Ehre“ zu erwidern, weil er die Spielregeln nicht beherrschte oder seiner Ehre gänzlich verlustig gegangen war, lief seinerseits Gefahr, von der Gemeinschaft vor Gericht zitiert zu werden.58 Lieber versuchte man Deviante aber mit einer karnevalesk aufgeladenen Katzenmusik der Lächerlichkeit auszusetzen, um sie auf diesem Weg in die richtige Ordnung zurückzuführen. Gleichzeitig vermied man mit diesem Vorgehen als Nachbar oder Nächster das Risiko von gewichtigen sozialen und ökonomischen Folgen für die ganze Nachbarschaft, welche Gerichtsurteile nach sich ziehen konnten.59 Die Forschung betont die Chance auf Wiedereingliederung in die richtige Ordnung. So erwähnt Hermann Heidrich das Beispiel des gemeinsamen Weintrinkens nach der erfolgten Rüge, welches die Gruppenkohäsion herstellen sollte, und hebt in dieser Perspektive die Notwendigkeit des humoristischen und theatralischen Spielraums hervor. Aus diesem Grund wurden wohl oft auch improvisierte Instrumente wie Kochtöpfe usw. verwendet, um den komischen Gehalt zusätzlich hervorzuheben.60 Der quasi-phantastische Spielraum der Satire erlaubte es dem Opfer, in den Rahmen der rechten Ordnung zurückzukehren und seine Ehre rehabilitiert zu wissen.61 Totale Exklusion konnte in der Frühen Neuzeit aber nicht das Ziel sein, war man doch nachbarschaftlich im Guten wie im Schlechten stark aufeinander angewiesen. Vielmehr ging es um die „gemeinsame Ehrenarbeit“, in welcher die eigenen Ehransprüche und die Außenwahrnehmung miteinander verschränkt waren.62 Streit entstand erst, wenn das Opfer einer Rüge deren ‚Rechtmäßigkeit‘ bestritt und sie folglich
57 Klapisch-Zuber weist auf die Möglichkeit hin, dass Charivaris durchaus überborden und sich plötzlich außerhalb der gewohnten Spielregeln bewegen konnten; Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 271–273; vgl. Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 2), 31–38. 58 Bourdieu, Entwurf (wie Anm. 24), 15 f., hier 16. 59 Ingram verweist darauf, dass offizielle Strafen meist erst verhängt wurden, wenn informelle Schandstrafen in der zeitgenössischen Vorstellung nicht mehr genügten oder ihren integrativen Effekt verfehlten; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 305. In dieselbe Richtung weist Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 25. 60 Zu den verwendeten Instrumenten Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 262. 61 Kramer weist auf die Wichtigkeit der „Möglichkeit der Reintegration“ in den Rügebräuchen hin; Kramer, Grundriss (wie Anm. 9), 78. Vgl. Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 168; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 210. Auch Thompson stellt Querbezüge zwischen satirischen Charivaris und ernsthaften Verkehrsformen der Gesellschaft her; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 136. 62 Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 24 f., 30 f.
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zurückwies.63 Die Ebene der konkreten Erfahrung der Betroffenen stellt allerdings in methodischer Hinsicht ein Problem dar. So bleiben hier Unklarheiten und Desiderate.
5 Rüge am und ums Haus Rügerituale mit Bezug zum Haus stellen auch insofern einen interessanten Forschungsgegenstand dar, weil sie es ermöglichen, „die Geheimnisse des Sexualkodex einer Gemeinschaft“ aufzubrechen.64 Viele der Rügeaktionen betrafen, wie aufgezeigt, die Ehre eines fehlbaren Ehepartners oder Paares, was in direktem Zusammenhang mit dem Haus als sicht- und lokalisierbarem Sitz der Ehre zu verstehen ist. Das durch Mauerwerk gegen außen abgegrenzte physische Haus wurde in Bezug auf die Ehre zur Projektionsfläche gemeinschaftlicher Kommunikation, wobei die Grenzen zwischen Straße und innerhäuslichem Bereich, zwischen innen und außen eben durchlässig waren. Dadurch kam dem Haus eine das soziale Leben stabilisierende Wirkung zu.65 Fehlverhalten konnte unmittelbar am Haus oder um das Haus herum lautstark angezeigt werden.66 Bezüglich der Mauern als materielle Grenzen bemerkt schon Heidrich, wie fiktiv diese Abschließung gegen außen sein konnte, wenn die im Haus stattfindenden Normverletzungen in theatralischer Weise auf die Straße getragen oder an den Fassaden quasi dokumentiert wurden. Damit wurde die Autonomie des einzelnen Haushalts in offensichtlicher Weise angefochten und bestritten.67 Die ritualisierten Handlungen am Haus gegen deviantes Verhalten der Hausbewohner ereigneten sich in einer juristischen Grauzone und entsprachen Gewohnheitsrecht. Es gab dabei unterschiedliche Schweregrade der Rüge.68 So scheint die Rüge am Haus im Rahmen des Ensembles frühneuzeitlicher Rügerituale in der Nachbarschaft das letzte Medium gewesen zu sein, um HausbewohnerInnen, die von der Norm abwichen, zur Reintegration zu zwingen, bevor man sich an die obrigkeitliche Justiz wandte.69 Darauf weisen Beobachtungen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rom hin, wo ehrrühriges Verhalten unmittelbar vor dem Haus strenger bestraft wurde als anderswo, wenn ein Gericht in die nachbarschaftlichen Streitigkeiten einschreiten musste. Der Attacke auf oder am Haus waren meist kleinere Vorfälle und
63 Scharfe, Rügebrauch (wie Anm. 9), 213. Konzeptionell dazu Bourdieu, Entwurf (wie Anm. 24), 34. 64 Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7), 154. 65 Thomas F. Gieryn, What Buildings Do, in: Theory and Soc. 31, 2002, 35–73. 66 Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5); Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 267. 67 Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 25. 68 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 606; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 290. 69 Hoffmann-Krayer spricht von einer „Stufenleiter von Gerichtsformen“; Hoffmann-Krayer, Knabenschaften (wie Anm. 5), 167. Oft stand der Angriff auf die Unversehrtheit eines Hauses am Ende dieser Abfolge von Rügepraktiken. Vgl. auch Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 2), 280–309.
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Herausforderungen vorgelagert, die sich aufschaukeln konnten. Die daraus resultierende Steigerung konnte letztlich in der Tangierung oder effektiven Verletzung des Hausfriedens kulminieren, auch wenn das meistens nicht das ursprüngliche Ziel war. Rügeaktionen waren wohl nicht zuletzt das Resultat eskalierender Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Konkurrenzverhältnisse und hatten eine Vorgeschichte.70 Für die kulturhistorische Hausforschung stellt sich an dieser Stelle die Frage, welche Umstände das Haus zur letzten Zufluchtsstätte der Ehre machten und damit zu einem derart relevanten Medium symbolischer Kommunikation.71 Im Kontext der vormodernen face to face-Gesellschaft mit ihrer grundlegenden Vorstellung von Ehre als limitiertem Gut72 stellte das Haus des Konkurrenten im Ringen um die Ehre ein hervorgehobenes Objekt dar, um diesen vor den Augen der Nachbarschaft mit Schande zu beladen. Die als Akt der Retorsion am Haus inszenierten Rügerituale waren hochgradig performativ, d. h. optisch wie auch akustisch Aufmerksamkeit erheischend. Die jeweiligen Beleidigungen, oft sexuell entwürdigender Art, wurden laut geschrien. Die Unordnung wurde mit improvisierten Musikinstrumenten schrill intoniert. Gegenstände wurden gegen das Haus geworfen, Türen und Zäune mit Kot verschmiert, Türen eingetreten, Dächer abgedeckt, Phallussymbole an die Mauern gemalt.73 Laut Cohen war das Haus das Abbild des weiblichen Körpers, den es für seine Bewohner unversehrt zu bewahren galt: „By this parallel both bodies and houses are enclosures which honor decrees must be protected from illegitimate penetration by outsiders. The doors and windows of a dwelling symbolically correspond to the orifices of the body.“74 Durch die metaphorische Verschränkung vom Haus als Körper der Ehre der gesamten Hausstatt gerieten der familiale Haushalt und das verheiratete Ehepaar zur Norm sozialen Verhaltens und waren konstitutiv für die Ehre eines Hausherrn. Der häusliche Bereich war weiblich codiert und besaß auch durch diesen Aspekt eine moralische Qualität für die Gemeinschaft des ganzen Haushalts.75 Die sexuell aufgeladenen Anspielungen und Beleidigungen, die häufig im Zuge der Rügen um und am Haus zum Ausdruck kamen, legen diesen Schluss nahe. Dass dabei die Angriffe auf die Ehre der Hausbewohner oft an den Eingängen und Öffnungen des Hauses erfolgten, war also kein Zufall. Die Rüge wurde der Öffentlichkeit der Nachbarschaft an Türen und Fenstern bekannt gemacht. Diese Artefakte stellten zugleich die Einfallstore in den intimen Bereich des Hauses dar und waren
70 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 604; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 27 f.; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 453–455; Schmidt-Voges, Mikropolitiken (wie Anm. 2), 5–7. 71 Diese Frage stellt sich Cohen explizit; Cohen, Honor (wie Anm. 6), 616. 72 Walz, Agonale Kommunikation (wie Anm. 1), 221. 73 Klapisch-Zuber, Women (wie Anm. 29), 264; van Dülmen, Gesellschaft (wie Anm. 23), 215 f.; Cohen, Honor (wie Anm. 6), 602; Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 644 f.; Hinrichs, Charivari (wie Anm. 9), 438. 74 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 618. 75 Schindler, Hüter (wie Anm. 29), 339.
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somit symbolisch, nicht zuletzt sexuell, aufgeladen: „In such a world where ‚open house‘ connoted sexual availability, to demonstrate that a house could be penetrated proclaimed clearly that its female denizens might be too.“76 Im Hinblick auf agonale Alltagspraktiken in Gesellschaften der Vormoderne erscheint es daher auch sehr plausibel, wenn sich besonders junge Männer für zurückgewiesene sexuelle Ambitionen mit Angriffen auf Häuser und Hausöffnungen revanchierten. So erwähnt etwa Davis, junge Männer hätten in Frankreich Maibäume vor die Häuser keuscher, unverheirateter Frauen gepflanzt. Wo die Keuschheit einer Frau bezweifelt wurde, setzte man stinkende Büsche an dieselbe Stelle.77 Insofern war das Haus als Artefakt also nicht nur die Vergegenständlichung der hausständischen Ehre, sondern quasi auch der physische Körper des Haushalts. In dieser Funktion existierte es als „zweite Haut der Bewohner“78 und wurde analog zur gestörten sexuellen Ordnung, dem körperlichen Ausdruck der Paarbeziehung, physisch angetastet. In dieser Vorstellung sind Häuser nicht einfach nur Häuser, sondern befinden sich „somewhere between agency and structure.“79 Die materielle Hülle bzw. die immaterielle Ehre des Hauses wurde durch temperierte Grade der Zerstörung sichtbar angekratzt oder verletzt. Während sich gewisse Angriffe lediglich gegen die äußere Begrenzung des Hauses richteten – Zäune, Wände, Türen, Fenster und Läden – und daher als Verunstaltung taxiert wurden, gab es solche, die als Hausfriedensbruch bewertet werden mussten, weil sie die Schwelle zum Hausinneren überschritten.80 Ging ein Betroffener auf erste und eher spielerische Aktionen am Haus nicht ein, konnte die ‚Wüstung‘ des Hauses durchaus manifeste Formen annehmen. Allerdings ist es schwierig bzw. unmöglich, Hausfriedensbrüche in der vormodernen Gesellschaft zu quantifizieren. Frühneuzeitliche Gerichtsakten kennen verschiedene Vergehen am Haus, benennen diese aber nicht immer unter derselben Deliktart. Zweifellos kamen viele Angriffe auf die Ehre eines Hauses nie zur Anzeige. Durch kodifiziertes Recht und Gerichtsakten erfahren wir allerdings, dass Hausfriedensbrüche als Problem wahrgenommen wurden und unter zum Teil drakonischer Strafandrohung standen.81 Es sind Fälle bekannt, bei denen gar eine des Ehebruchs bezichtigte Frau aus dem Haus geholt und in den Gassen vorgeführt wurde.82 In der Mehrheit der Fälle ging es aber wohl darum, die Schwelle zum Innern durch Inszenierung anzutasten, ohne sie physisch zu überschreiten. Der Übertritt stellte ein gewisses juristisches Risiko für den Eindringling dar. In der Regel wollten sich die Akteure gerade nicht gewaltsam Zutritt
76 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 622. 77 Davis, Reasons (wie Anm. 8), 51. 78 Schreiner/Schwerhoff, Überlegungen (wie Anm. 1), 21. 79 Gieryn, Buildings (wie Anm. 65), 35. 80 Zur Verhandlung der häuslichen Sphäre Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 3), 632 f. Vgl. Cohen, Honor (wie Anm. 6), 606–608; Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 25–27. 81 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 606–609. 82 Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 297 f.
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zum Haus verschaffen, sondern lediglich an der prekären Hülle des Hauses kratzen und so deren Verletzlichkeit aufzeigen.83
6 Ausblick Nach wie vor gibt es ungeklärte Fragen. So ist beispielsweise, bis auf einige Ausnahmen84, die Rolle von Frauen in den Rügebräuchen noch wenig erforscht. Ein Desiderat stellen auch der Nachweis und die Interpretation des Wandels der Rügerituale nach 1800 dar, wobei diesbezüglich bereits Mutmaßungen aufgestellt wurden.85 Auch die Gründe für das Ende der Rügerituale scheinen bislang unklar. Veränderungen im juristischen Diskurs und der Bedeutungsverlust der Ehre als soziale Tatsache sind diesbezüglich noch wenig untersucht worden. In Zusammenhang mit der Hausforschung dürften vor allem kulturanthropologische und raumsoziologische Ansätze sowie Forschungen zur material culture kreative Anregungen für die Untersuchungen der Rügerituale am Haus und um dasselbe herum bieten. So könnte nicht zuletzt die Erforschung veränderter Wohnformen und neuer Modelle des Häuserbaus interessant werden, wenn es darum geht, den Wandel respektive das Ende der Rügerituale zu erklären. Es dürfte sich dabei lohnen, die erwähnte Doppeldeutigkeit der Häuser als Struktur und gesellschaftlich strukturierende Agenten intensiver ins Auge zu fassen.86 Aber auch Veränderungen im Diskurs um die herrschende Sexualmoral und die Intimisierung des Wohnens sollten mit Bezug auf das ‚Haus‘ erneut in Betracht gezogen werden. Der vorliegende Artikel hat außerdem das sinn- und identitätsstiftende Moment der Rügerituale für alle Involvierten ins Zentrum gerückt und sie damit als Konsensrituale akzentuiert. Dadurch tritt der strafende Charakter der Rügen als Sanktions- und Gewaltrituale, wie er als Forschungsobjekt bislang im Zentrum stand87, tendenziell in den Hintergrund. Insofern könnte eine veränderte Perspektive auf die Rügerituale zu neuen Forschungen anregen.
83 Heidrich, Grenzübergänge (wie Anm. 13), 27 f. 84 Cohen, Honor (wie Anm. 6), 603; Ingram, Charivari (wie Anm. 21), 299; Vanja, Weibergericht (wie Anm. 33). 85 So macht Thompson einige thesenhafte Mutmaßungen bezüglich des Wandels von Rügeritualen, die aber eingehender und auf der Grundlage handfester Quellen belegt werden müssten; Thompson, Plebeische Kultur (wie Anm. 7); vgl. Helga Ettenhuber, Das Miesbacher Haberfeldtreiben von 1893, in: van Dülmen (Hrsg.), Kultur (wie Anm. 13), 180–207; Louis Junod, Le charivari au pays de Vaud dans le premier tiers du XIXe siecle, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 47, 1951, 114–129. 86 Gieryn, Buildings (wie Anm. 65), 35–41. 87 Hering Torres/Max Sebastián, Charivari, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2. Stuttgart 2005, 649–651.
Gabriele Jancke
Gastfreundschaft in frühneuzeitlichen Haushaltsgesellschaften: Ökonomie und soziale Beziehungen Einen wichtigen Bestandteil der Ökonomie frühneuzeitlicher Haushalte stellte die Gastlichkeit dar.* Gastlichkeit oder ‚Gastfreundschaft‘ umfasste nach zeitgenössischem Verständnis alle Arten von gastlichen Situationen, die in allen Haushaltstypen ihren Ort hatten: eheliche oder zölibatäre Haushalte, Klöster, Wirtshäuser, Hospitäler, adlige Häuser oder Fürsten- und Bischofshöfe. Gastliche Situationen konnten sich auf einzelne oder mehrere Gäste oder auf ganze Gruppen beziehen, unabhängig davon, ob jemand als Bekannter, als Fremder oder als Vertriebener aufgenommen wurde, ausdrücklich eingeladen worden war oder nicht. Exilsituationen gehörten ebenso dazu wie herrscherliche Gastung und militärische Einquartierung. Im Rahmen von Gastfreundschaft fand in Haus und Haushalt demnach eine Vielzahl sozialer Begegnungen statt, die durch ein eigenes Normen- und Wertesystem gerahmt und fast immer mit einer Form von Austausch verbunden waren. Neben dem situativen Geschehen sind daher die längerfristigen Beziehungen und sozialen Zugehörigkeiten von Bedeutung, in deren Kontext solche Werte und Regeln praktiziert wurden und Geltung besaßen. Haushalte stellten für solche Begegnungen ein physisches Dach, aber auch eine soziale Infrastruktur und ein Stück des sozialen Gewebes auf der Mikroebene bereit. Neben den dafür benötigten Ressourcen spielte auch die Gabenkultur eine wichtige Rolle, von der die Haushalte langfristig profitierten. Praktiken der Gastlichkeit verbanden aber auch die soziale Organisation auf der Mikroebene des Haushalts auf das Engste mit den sozialen Strukturen auf der Mesound Makroebene. Der Zusammenhang von Haushalt und Gastfreundschaft soll hier mit einem historisch-anthropologischen Ansatz thematisiert werden, der historische AkteurInnen mit ihren Praktiken, Normen und Blickwinkeln in mikrohistorischer Perspektive in den Mittelpunkt stellt. Kernfragen sind dabei folgende: Wer waren die wichtigsten AkteurInnen bei der Gastlichkeit, und für wessen Wünsche und Interessen wurde Gastfreundschaft praktiziert? Welche Ressourcen waren im Spiel? Welchen Sinn machten gastliche Praktiken für die Beteiligten selbst und für andere Mitglieder ihrer Gesellschaft? Was leistete Gastfreundschaft für Haushalte? Welche Dimensionen besaß Gastfreundschaft außerhalb von Haushalten? Welche Einsichten lassen sich
* Für die Lektüre der ersten Fassung dieses Beitrags sowie wichtige Kommentare bedanke ich mich herzlich bei Sebastian Kühn und Martin Leutzsch, ferner bei Inken Schmidt-Voges und Joachim Eibach für wichtige Anregungen.
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anhand der Gastlichkeit für Haushalte und deren Stellenwert in einer frühneuzeitlichen Gesellschaft insgesamt gewinnen? Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer größeren Untersuchung über frühneuzeitliche Gastfreundschaft, die sich mit den Praktiken und Schriften von Gelehrten der christlichen Mehrheitsgesellschaft zum Thema Gastfreundschaft vorwiegend in deutschsprachigen Gebieten beschäftigte.1 Verschiedene deskriptive und normative Textsorten wurden ausgewertet, von autobiographischen Schriften – einschließlich Briefen und Reiseberichten – über Ökonomiken, religiöse Traktate und Predigten bis hin zu juristischen Abhandlungen. Diese Quellen liefern reiche und detaillierte Beschreibungen von Praktiken. Die normativen Schriften bieten darüber hinaus als eigene Form der zeitgenössischen Gesellschaftsbeschreibung die Diskussion und Einordnung der Handlungsfelder und -logiken häuslicher gastlicher Praktiken in die übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhänge. Der Blick auf den Haushalt als spezifischer sozialer Interaktionsrahmen anhand seiner Praktiken und Normen der Gastlichkeit eröffnet eine neue Perspektive auf die Funktion von Haushalten in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Im Folgenden soll dies nach einer Darstellung der bisherigen Forschungen (1) zunächst anhand der sozialen Praktiken von Gastlichkeit im Hinblick auf verschiedene soziale Gruppen und deren Verwurzelung im Haus diskutiert werden (2), bevor ein Blick auf die theoretischen Debatten der frühneuzeitlichen Literatur geworfen (3) und frühneuzeitliche Haushaltsgesellschaft im Zusammenhang mit den Metanarrativen der modernen Wissenschaft diskutiert wird (4). Abschließend soll nach den allgemeinen Konsequenzen dieser Befunde für eine Neukonzeptualisierung des Verhältnisses von Haushalt und Gesellschaft gefragt werden (5).
1 Forschung Die Forschung zu Gastfreundschaft bezieht sich vor allem auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, aber auch auf die Antike. Regionale Forschungen gibt es insbesondere zu Frankreich, England und zum deutschsprachigen Raum, die jedoch meist auf einzelne soziale Bereiche beschränkt sind. Weder in zeitlicher noch in geographischer Hinsicht liegen bislang Ergebnisse vor, die sich zu einer systematischen Darstellung zusammenführen lassen. Trotz der disparaten Forschungslage werden zeitlich und
1 Gabriele Jancke, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft – Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten. Göttingen 2013. Belege werden im Folgenden nur in Auswahl gegeben; für vollständige Darstellung und Literatur- und Quellenangaben wird auf diese Monographie verwiesen. Zu frühneuzeitlicher Gelehrtenkultur und ihrer Ökonomie sowie der Rolle von Haushalten darin vgl. auch Sebastian Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700. Göttingen 2011.
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räumlich übergreifende Überblickserzählungen geboten, die Gastfreundschaft innerhalb der großen gesellschaftlichen Entwicklungslinien verorten. Aus einer historischanthropologischen Sicht lassen sich viele qualitative Einblicke in Praktiken, Regeln und Strukturen frühneuzeitlicher Gastlichkeit gewinnen. Die historische Forschung hat sich bisher auf Fragen nach dem sozialen Ort von Gastfreundschaft (Oberschichten, Wirtshäuser) und der Zuordnung der handlungsleitenden Normbereiche (ständisch-soziale oder ökonomisch-kommerzielle Normen) konzentriert. Von sozialgeschichtlicher Seite ist Gastfreundschaft als ein Situationstyp gefasst worden, der durch gruppenspezifische soziale Mechanismen, etwa beim Adel oder bei Klöstern und Orden, und als gesellschaftsinternes Geschehen organisiert wurde, d. h. im näheren Umfeld und in den jeweiligen Netzwerken angesiedelt ist.2 Verbreitet ist auch ein weiterer Zugang, bei dem Fremdheit, Mobilität und Reisen in den Mittelpunkt gestellt werden. Dabei wird Gastfreundschaft bevorzugt als Kontakt- und Interaktionsfeld zwischen Ansässigen und Nicht-Ansässigen bzw. Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen einer ethnischen oder nationalen Großgruppe aufgefasst.3 Dieser Zugang ist eng mit den Narrativen von Nation und (National-)Staat, Ökonomisierung und Anonymisierung verknüpft. Beide Aspekte – gesellschaftsinterner Mechanismus oder Fremdheit – sind in der aktuellen historischen Forschung für frühneuzeitliche Gesellschaften in England, Frankreich und im deutschsprachigen Raum anzutreffen. Die Forschungen zeigen bislang unterschiedliche Zugänge und inhaltliche Fokussierungen, ohne jedoch damit eine ausreichende Grundlage für national, territorial oder kulturell generalisierbare Aussagen zu bieten. Gastlichkeit ist eine soziale Situation, die fast unweigerlich innerhalb von Haushalten stattfindet. Formen von Gastlichkeit sind bereits ansatzweise für mittelalterliche Klöster und für den frühneuzeitlichen Adel untersucht worden.4 Auch für die bislang in Bezug auf Gastlichkeit wenig erforschten Gelehrten liegen nun einige Ergebnisse vor.5 Eine große Rolle spielen kommerzielle Gast- und Wirtshäuser, deren
2 Felicity Heal, Hospitality in Early Modern England. Oxford 1990; dies., The Idea of Hospitality in Early Modern England, in: P & P 102, 1984, 66–93; ferner Ilana Krausman Ben-Amos, The Culture of Giving. Informal Support and Gift-Exchange in Early Modern England. Cambridge 2008. 3 Daniel Roche, Les circulations dans l’Europe moderne. XVIIe–XVIIIe siècle. Paris 2010 [2003]; aus literaturwissenschaftlicher Sicht und mit einem Fokus auf dem 18. Jh.: Alain Montandon (Hrsg.), L’hospitalité au XVIIIe siècle. Clermont-Ferrand 2000; v. a. systematisch ders. (Hrsg.), Le livre de l’hospitalité. Accueil de l’étranger dans l’histoire et les cultures. Paris 2004; aus soziologischer Sicht Anne Gotman, Le sens de l’hospitalité. Essai sur les fondements sociaux de l’accueil de l’autre. Paris 2001, sowie dies., Le système domestique à l’épreuve de l’hospitalité. Asymétrie des positions ou égalité?, in: Alain Montandon (Hrsg.), Espaces domestiques et privés de l’hospitalité. Clermond-Ferrand 2000, 335–349. 4 Z. B. Jutta Maria Berger, Die Geschichte der Gastfreundschaft im hochmittelalterlichen Mönchtum. Die Cistercienser. Berlin 1999; Heal, Hospitality (wie Anm. 2). 5 Kirsten Bernhardt/Barbara Krug-Richter/Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.), Gastlichkeit und Geselligkeit im akademischen Milieu in der Frühen Neuzeit. Münster 2013; Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1).
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Vorhandensein als Indikator für die Ablösung von Gastfreundschaft durch geldorientierte Tausch-Transaktionen und damit im Rahmen der Kommerzialisierung verstanden wurde.6 Die am Gast- bzw. Wirtshaus orientierte Metaerzählung geht zurück auf die sogenannte ‚Große Theorie‘ der Gastfreundschaft, die im 18. Jahrhundert als Schlüsselelement aufklärerischer Gesellschaftstheorien entwickelt wurde.7 Kulturtypen und ihre Anordnung in einer hierarchischen Kulturstufentheorie sowie in einer zeitlich organisierten progressiven Kulturphasentheorie spielten in diesen Debatten eine grundlegende Rolle und haben sich bis in heutige Geschichtserzählungen hinein gehalten.8 In solchen Theorien von in sich geschlossenen Kultur-Entitäten wurde auch ein Konzept entwickelt, das Gastfreundschaft als national, ethnisch und territorial definierbar ansah und sich ebenfalls bis in die heutige Forschung gehalten hat. Bekanntestes Beispiel ist das Büchlein „Von der Gastfreundschaft“, das der Philosoph und Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792) im Jahr 1777 publizierte.9 Hier, im Kontext aufklärerischer Theoriebildung, wurden normative Forderungen von Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit aufgestellt, die Fremdheit der Gäste als Nichtzugehörigkeit zur Nation der Gastgebenden verstanden und in diesem eindimensionalen Sinn zur absoluten Bedingung von Gastfreundschaft erklärt. Hirschfeld und andere Aufklärer formulierten ein neues, übergreifendes Konzept von Gastfreundschaft, das gesellschaftsinterne soziale Differenzen unsichtbar machte zugunsten einer holistischen Generalisierung auf der Ebene von Nation und Kultur. Haushalte spielten als zentrale sozioökonomische und soziokulturelle Einheiten in dieser Theorie keine Rolle mehr – es sei denn in negativer Weise, um sie als Orte der kritisierten, auf persönlichen Beziehungen und Gegenseitigkeit beruhenden Form von Gastfreundschaft ebenfalls negativ zu werten. Neben den genannten historischen Untersuchungen gibt es Arbeiten aus der Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft, die sich mit Gastfreundschaft befassen. Auch hier wird Gastfreundschaft häufig über die Fremdheit derer definiert, die
6 Hans Conrad Peyer, Gastfreundschaft und kommerzielle Gastlichkeit im Mittelalter, in: HZ 235, 1982, 265–288; ders. (Hrsg.), Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München 1983; ders., Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter. Hannover 1987; ders./Ewald Kisling, Gasthaus, in: Lexikon des Mittelalters, Bd 4. München 1989, 1132–1136; Roche, Circulations (wie. Anm. 3). Vgl. ferner B. Ann Tlusty, Bacchus and Civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany. Charlottesville 2001; Beat A. Kümin, Drinking Matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe. Houndmills 2007. 7 Jürgen Osterhammel, Gastrecht und Fremdenabwehr. Interkulturelle Ambivalenzen in der Frühen Neuzeit, in: Herfried Münkler (Hrsg.) Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1997, 379–427. 8 Thomas Nutz, ‚Varietäten des Menschengeschlechts‘. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln 2009. 9 [Christian Cay Lorenz Hirschfeld,] Von der Gastfreundschaft. Eine Apologie für die Menschheit. Leipzig 1777; dazu Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 440–474.
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als Gäste aufgenommen werden.10 Innergesellschaftliche Dimensionen von Gastlichkeit spielen in diesen Konzepten keine Rolle. Anders ist das in ethnologischen und politologischen Mikrostudien, die sich im Rahmen der Untersuchung von Haushalten auch mit dem Thema Gastfreundschaft beschäftigen.11 Sie zeigen verschiedene Möglichkeiten dafür, wie sich die Handlungslogiken der Gäste und Gastgebenden als AkteurInnen auf diese Mikrokontexte beziehen, und zugleich, wie sich haushaltsbezogenes Handeln auf die Strukturierung der Gesellschaft in den Makroaspekten auswirkt. Sie bieten also in der Verknüpfung von Mikro- und Makroebene wichtige Anregungen für die genannten Fragen.
2 Gastfreundschaft zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit: Nachbarschaft, Verwandtschaft, Gelehrte, Arme und Fremde Entgegen der angesprochenen Zuspitzung auf Fremdheit war Gastfreundschaft in ein weites Spektrum sozialer Beziehungen zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit eingebettet. Diese Beziehungen bestimmten die Codes für gastliche Praktiken, je nach dem, ob es sich um Nachbarn, Verwandte oder Angehörige einer Gruppenkultur handelte. Gastlichkeit und gegenseitige Besuche gehörten zum alltäglichen Umgang mit NachbarInnen. Diese sozialen Kontakte waren notwendig, um die Beziehungen zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Die von den beteiligten Haushalten regelmäßig gewährte Gastlichkeit gab diesem Unterfangen Nahrung – in einem materiellen ebenso wie einem symbolischen Sinn. Wie andere soziale Gruppen waren auch Gelehrtenhaushalte in diese Form der Interaktionen involviert. Als Felix Platter (1536– 1614) von seinen medizinischen Studien in Montpellier nach Basel zurückkehrte und das Haus seiner Eltern verschlossen und leer vorfand, musste er nicht lange suchen, um von den NachbarInnen Informationen über den Aufenthalt des Vaters und des Gesindes zu bekommen. Auch seine Mutter traf er rasch persönlich an. Sie hatte bei einer Nachbarin gesessen und lief ihm entgegen, als sie von seinem Eintreffen erfuhr.
10 Z. B. Julian A. Pitt-Rivers, The People of the Sierra. 2. Aufl. Chicago 1971 [1954], 14–33: 26 f.; Almut Loycke (Hrsg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Frankfurt am Main 1992; Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik. Leipzig 1994; Heidrun Friese, ‚The Limits of Hospitality‘, in: Paragraph 32, 2009, Special issue: Extending Hospitality. Giving Space, Taking Time, hrsg. von Mustafa Dikeç/Nigel H. Clark/Clive Barnett, 51–68; Evi Fountoulakis/ Boris Previšić (Hrsg.), Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in Literatur und Film. Bielefeld 2011. 11 Jenny B. White, Money Makes Us Relatives. Women’s Labor in Urban Turkey. 2. Aufl. New York 2004 [1994]; Diane Singerman, Avenues of Participation. Family, Politics, and Networks in Urban Quarters of Cairo. Princeton 1995; Anne Meneley, Tournaments of Value. Sociability and Hierarchy in a Yemeni Town. Toronto 1996.
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NachbarInnen zu besuchen war so selbstverständlich, dass die üblichen Kleidungsvorschriften für ‚außer Haus‘ zu diesem Zweck offiziell ausgesetzt werden konnten.12 NachbarInnen waren nicht notwendigerweise gleich an Status oder Vermögen, aber ihre Beziehungen erforderten es, dass sie sich miteinander einließen. Dieses Verhältnis musste in einem Gleichgewicht gehalten werden und war in der Regel auf Reziprozität gegründet. Es handelte sich um mittel- oder langfristige Beziehungen, die zumindest so lange dauerten, wie die Beteiligten in derselben Nachbarschaft zusammen lebten. Die Pflege nachbarschaftlicher Bindungen durch gastliche Kontakte war integraler Bestandteil der häuslichen ‚Ökonomie sozialer Beziehungen‘.13 Auch die Verwandten, die nah oder fern lebten, pflegten durch Besuche ihre Beziehungen, die damit nicht nur theoretisch existierten, sondern durch Praktiken auch zu einer sozialen, materiellen und emotionalen Wirklichkeit gemacht wurden. Verwandte konnten sich untereinander verschiedene Formen der Unterstützung zugänglich machen. Genau wie andere soziale Gruppen pflegten auch Gelehrte soziale Kontakte mit Verwandten. Gelegentlich rekrutierten sie einen jungen Gelehrten aus diesem sozialen Pool der Verwandtschaft, indem sie ihn zu sich einluden, um bei dem älteren Verwandten zu wohnen und zu studieren, oder indem sie dem jungen Mann Geld, Kontakte, Beratung und andere Formen von Unterstützung zum Studieren bei anderen zukommen ließen. Häufig wurden Onkel oder Großväter auf diese Weise für einen Neffen oder Enkel aktiv, wie es etwa der Tübinger Gräzist Martin Crusius (1526– 1607) notierte, der sich in dieser Weise um die Ausbildung seines Enkels kümmerte, oder bei dem Hebraisten Konrad Pellikan (1478–1556), der von seinem Onkel betreut worden war und auch selbst wieder seinen Neffen förderte. Wenn Verwandtenbesuch da war, konnten auch die NachbarInnen hinzukommen, Essen oder Getränke anlässlich dieser Situation als Geschenk mitbringen und möglicherweise für eine Weile an der Geselligkeit teilnehmen, so wie es Pellikan für einen Besuch bei seiner Schwester berichtet.14
12 Felix Platter, Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567, hrsg. von Valentin Lötscher. Basel 1976, 49–533, hier 294. Besuch der Hausfrau bei den NachbarInnen als Standardsituation in der Frühen Neuzeit, am Beispiel der Hamburger Sefarden vgl. Michael Studemund-Halévy, Die Hamburger Sefarden zur Zeit der Glikl, in: Monika Richarz (Hrsg.), Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit. Hamburg 2001, 195–222, hier 202 und dort Anm. 51 (Damen durften ohne Regenkleid das Haus nicht verlassen, es sei denn, um eine nebenan wohnende Nachbarin zu besuchen). 13 Vgl. Gabriele Jancke/Daniel Schläppi, Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Z. F. G. 22, 2011, 85–97; Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 215–315; Gabriele Jancke/Daniel Schläppi (Hrsg.), Die Ökonomie sozialer Beziehungen – Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden. Stuttgart 2015. 14 [Konrad Pellikan,] Das Chronikon des Konrad Pellikan. Zur vierten Säkularfeier der Universität Tübingen, hrsg. von Bernhard Riggenbach. Basel 1877, 163 (lat. Text); dt. Übersetzung (nicht immer ganz korrekt): [ders.,] Die Hauschronik Konrad Pellikans von Rufach. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit, hrsg. von Theodor Vulpinus. Straßburg 1892, 150.
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NachbarInnen und Verwandte waren für geraume Zeit in den jeweiligen Haushalten präsent. Ihre Beziehungen mussten performativ definiert und kontinuierlich betrieben werden, wobei Gastfreundschaft einen prominenten Platz einnahm. Wichtige Teile von Vergesellschaftung vollzogen sich so in gastlichen Alltagspraktiken. Sie waren in den haushaltsbasierten Strukturen frühneuzeitlicher Gesellschaften begründet. Anders gestaltete sich die Gastfreundschaft gegenüber Gästen, welche räumlich oder sozial nicht so nah oder gar gänzlich unbekannt waren, denn Gastfreundschaft wurde auch Fremden und Armen geboten. Zumindest hatten diese einen Bedarf daran, verschiedene Arten gastlicher Ressourcen gewährt zu bekommen: Essen, Trinken, Wärme, einen Platz zum Schlafen und möglicherweise Arbeit zu finden oder eine Gabe an Geld oder Brot beim Aufbruch zu erhalten. Mit diesen Armen und Bedürftigen hatten diejenigen, die sie in ihren Häusern aufnahmen, nicht notwendigerweise eine längerfristige Beziehung, und sie beabsichtigten auch nicht unbedingt, eine solche einzugehen. Für beide Seiten war es oft klar, dass es keine Gegengabe geben würde und dass daher Gastfreundschaft ohne jegliche Erwartungen auf einen Einstieg in eine reziproke Austauschbeziehung gewährt wurde. In diesem Fall hatten das Geben und Empfangen von Gastlichkeit also Voraussetzungen und Konsequenzen, die von denen vergleichbarer Praktiken unter NachbarInnen und Verwandten völlig verschieden waren. Eingebettet zu sein in Beziehungen oder nicht – das war eine zentrale Frage in Bezug auf Gastfreundschaft. Sie besaß einige Relevanz für die Entscheidungsfindung darüber, wie man mit den Ressourcen des Haushalts gegenüber potentiellen Gästen umgehen wollte.15 Gehörten die Armen und Fremden, die an die Tür klopften, einer gemeinsamen Gruppenkultur an – etwa der der Gelehrten –, machte dies einen entscheidenden Unterschied aus. Gleiches galt für Handwerker und andere. Gelehrte waren aus verschiedenen Gründen unterwegs, und war ihr potentieller Gastgeber ebenfalls ein Gelehrter, konnten sie als gelehrte Kollegen mit einem herzlichen Willkommen rechnen. Dies galt unabhängig davon, ob Gäste arm waren oder über Mittel verfügten, ob sie jung waren und erst noch versuchten, eine Ausbildung zu erhalten, oder älter und womöglich bereits auf irgendeine Weise etabliert; ganz gleich, ob sie persönlich bekannt oder gänzlich fremd waren. Ausschlaggebend für die Aufnahme und Behandlung als Gast war die Zugehörigkeit zur gelehrten Gruppenkultur. Die Gastlichkeit unter Gelehrten konnte verschiedene Formen annehmen: von der Gewährung eines Gesprächs über Einladungen zum Essen oder zur Übernachtung bis hin zur Aufnahme von Schülern, Studenten und Kollegen als Tischgänger mit Kost und Logis für Erziehung und Ausbildung; Letzteres gegen Bezahlung und wie bei Pellikan in einer Art ‚Gelehrtenpension‘.16
15 Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 160–214, hier 178 f., 209, 215 f. 16 Vgl. dazu jetzt auch Elizabeth Harding, Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden 2014.
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Für die Gelehrtenkultur war Gastfreundschaft in allen Formen entscheidend, um sich als Gruppenkultur überlokal zu vernetzen. Diese Vergesellschaftung durch Gastlichkeit hatte zunächst intrakulturelle Aspekte, die sich auf die eigene Gesellschaft bezogen. Haushaltsbasierte Strukturen sowie die entsprechenden Regeln und Handlungslogiken besaßen aber auch transkulturelle Gültigkeit, wie die Reisen des osmanischen jüdischen Gelehrten Ha’im Yoseph David Azulai (1724–1806) in osmanischen und europäischen Gebieten zeigen.17 Für christliche, jüdische und muslimische Gelehrte, gleich ob sie jeweils zur Mehrheitsgesellschaft oder zu einer Minderheit gehörten, hatte Gastfreundschaft den gleichen Stellenwert, und diese fand unter ähnlichen sozialen Prämissen statt. Diese Gastlichkeit bedeutete in aller Regel, dass der Haushalt zum zentralen Ort von Interaktionen zwischen gelehrten Männern wurde, während von der Hausfrau und den Mägden gastliche ‚Serviceleistungen‘ erbracht wurden – die aber von den AkteurInnen selbst in ihrer vergesellschaftenden Qualität möglicherweise viel umfassender verstanden wurden. Das Haus war also weder ein ‚weiblicher‘ noch ein ‚männlicher‘ Raum18, sondern ein Ort, an dem durch die jeweiligen Praktiken unterschiedliche Räume performativ gestaltet werden konnten und dies in die jeweiligen haushaltsinternen hierarchischen Geschlechter- und Dienstverhältnisse eingebettet war. Die Gewährung von Gastlichkeit für NachbarInnen und Arme hingegen wurde meist der Hausfrau zugeschrieben. Jedoch ist erst noch zu untersuchen, wie das gendering gastlicher Situationen genau aussah und in welchen Hinsichten und in welchen sozialen Gruppen (Handwerker, Kaufleute, Adlige, Geistliche etc.) welche unterschiedlichen Zuständigkeiten und welche Formen geschlechtergemischter oder geschlechtersegregierter Gastlichkeit praktiziert wurden. Fremdheit wurde nur dann zu einem relevanten Kriterium, wenn sich nicht über Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft oder eine spezifische Gruppenkultur eine gemeinsame Zugehörigkeit herstellen ließ, aus der sich Motivation und Verpflichtung zu einer gastlichen Aufnahme ergaben. Im Fall einer gemeinsamen Zugehörigkeit aber wurden Fremde als Mitglieder derselben sozialen Gruppe gesehen und behandelt, denen zumindest die Möglichkeit eines Gesprächs mit dem Gastgeber zustand und die danach in vielen Fällen Beratung, Geld, Empfehlungen und dadurch Zugang zu anderen gelehrten Gastgebern erhalten konnten, vielleicht auch Verpfle-
17 [Ha’im Yosef David Azulai,] Sefer Magal tov, hrsg. von Aron Freimann. Jerusalem 1934 (hebr.), engl. Übersetzung: [ders.,] The Diaries of Rabbi Ha’im Yosef David Azulai. (‚Ma’agal Tov‘ – the Good Journey), hrsg. von Benjamin Cymerman. Jerusalem 1997/5757; dazu Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 413–440. 18 Haus als ‚weiblicher‘ Raum: Sara Mendelson/Patricia Crawford, Women in Early Modern England, 1550–1720. Oxford 1998, 205–212, während in der zum irreführenden Begriff der sog. ‚Hausväterliteratur‘ (dazu Jancke, Gastfreundschaft [wie Anm. 1], 161) entstandenen Forschung mit Blick auf den Hausherrn eher umgekehrt in Richtung eines ausschließlich männlich dominierten Raums gedacht wird, was angesichts der in vielen Quellen angesprochenen Herrschaftsfunktion der Hausfrau keineswegs berechtigt ist.
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gung sowie eine Einladung, eine oder mehrere Nächte zu bleiben. Erasmus (1466/69– 1536) und viele andere brachten ein ganzes Spektrum solcher gastlicher Praktiken unter Gelehrten zu Papier, womit sie anderen demonstrierten und kommunizierten, wie hoch sie andere Gelehrte schätzten, insbesondere die Formen des Gesprächs, die unter Gelehrten möglich waren. Ihren eigenen Schriften zufolge waren Gelehrte die Art von Gästen, die sie bei weitem am meisten achteten und unter beinahe allen Umständen für wichtig hielten, so unbekannt sie ihnen bislang auch gewesen sein mochten. Im Blick auf Gäste ergab sich daraus ein ‚doppeltes Normensystem‘, das zunächst die nach den Regeln der Gegenseitigkeit funktionierende Gastlichkeit im Rahmen von Beziehungen und Zugehörigkeiten umfasste und sodann auch eine Gastlichkeit ohne solche Gegenseitigkeit, die für Arme, Bedürftige, Fremde, Reisende zu sorgen hatte. Die zweite Art der Gastlichkeit war oft nur als eine zusätzliche Form realisierbar, über die unabdingbar reziproke Gastfreundschaft in Beziehungen und Zugehörigkeiten hinaus und im Falle des Vorhandenseins zusätzlicher Ressourcen. Auch hier wurde aber mit dem Gedanken einer erwartbaren Gegengabe argumentiert: Was die mit solcher Gastlichkeit bedachten Menschen nicht selbst im Gegenzug zu bieten hatten, würde sicher und auf längere Sicht von Gott als einer letzten Garantieinstanz dieses Systems gegenseitiger Verpflichtungen gegeben werden.19 Aber selbst Pfarr-, Prälaten- und Klosterhaushalte konnten diese Form der ‚erwartungslosen‘ Gastlichkeit nur in dem Rahmen praktizieren, wie die Ressourcen dies zuließen, da sie, wie andere Haushalte auch, in ihre eigenen Netzwerke und Gruppenkulturen investieren mussten, um sich und ihre Haushalte zu verknüpfen und das Überleben sichern zu können. Gastfreundschaft war weit entfernt von einem bloß gelegentlichen Akt der Freundlichkeit gegenüber Reisenden oder völlig Fremden. Gastliche Praktiken waren Teil der regulären internen Mechanismen der Gesellschaft. Sie boten die Gelegenheit, andere zu treffen, die der gleichen sozialen Gruppe zugehörten. Auf diese Weise wurden Zugehörigkeiten organisiert und aufrechterhalten, in diesem Rahmen wurden Beziehungen gepflegt und Ressourcen verteilt. Entsprechend wichtig war ein ausgedehntes Beziehungswissen, das sich in solchen Kontexten einsetzen ließ. Einen Aufbewahrungsort fand solches Wissen in Selbstzeugnissen, wo es für die eigenen Zwecke der VerfasserInnen und zur Weitergabe an die nächste Generation notiert wurde.
19 Vgl. Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 140 f., 168–198, 359 f., 472 f.
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3 Interne und externe Verflechtungen: Gastfreundschaft in der normativen Literatur Haushalte boten für diese Form der sozialen Vernetzung mehr als lediglich den physischen Ort, an dem all dies verortet war. Gastliche Praktiken setzten Häuser als einen unabdingbaren materiellen, sozialen und ökonomischen Rahmen voraus: ein Dach als Schutz, einen Tisch um zusammenzusitzen, Mahlzeiten zu teilen und Worte zu wechseln, Betten oder andere Schlafplätze um auszuruhen, Essen und Trinken als Nahrung, Menschen um sich auszutauschen und um nach Informationen oder Rat zu fragen. All diese Ressourcen mussten zunächst haushaltsintern organisiert werden, wobei als Gastgebende stets die männlichen und weiblichen Haushaltsvorstände vorausgesetzt wurden. Kinder, das Gesinde, einfache Nonnen und Mönche konnten nicht offiziell als Gastgebende agieren, da dies aus der Perspektive der Haushaltsvorstände als Entfremdung von Ressourcen des Haushalts interpretiert wurde.20 Folglich bildete die Gastfreundschaft in den normativen Texten der frühneuzeitlichen Ökonomik-Literatur einen selbstverständlichen Teil der sozialen Aspekte der Haushaltsökonomie. Im Kontext der Ratschläge zur sparsamen Bewirtschaftung von Ressourcen wurde Gastfreundschaft – was vielleicht zunächst überrascht – dringend befürwortet. Zugrunde lag der Gedanke, dass Gastfreundschaft notwendig sei für das materielle und soziale Überleben des Haushalts und nicht unabhängig davon betrachtet werden könne. Die wichtigsten Beziehungen waren diejenigen mit NachbarInnen und Verwandten. Für die Haushalte von Gelehrten wurden außerdem das Studieren und das Gespräch mit anderen Gelehrten explizit als Teil der Ökonomie des Haushalts erwähnt.21 Alle diese Beziehungen, die einen solchen im wahrsten Sinne des Wortes offenen Haushalt mit der Welt außerhalb verbanden, wurden unter dem allgemeinen Begriff von ‚Freundschaft‘ subsumiert, die durch Gastlichkeit gepflegt werden sollte. Diese ‚Freundschaft‘ stand für eine Vernetzung der einzelnen Haushalte untereinander. Eine Ökonomie der Freundschaft auf der Basis von Vertrauen sowie der Teilung und gegenseitigen Zugänglichmachung von Ressourcen ging damit einher. Aus den sozialen Beziehungen ergaben sich die Ökonomie und ihre Grundprinzipien. Der Gegenbegriff war ‚Feindschaft‘, aus dem eine Ökonomie des Misstrauens und der Schädigung folgte. Fremdheit stellte in dieser Dichotomie einen noch undefinierten, beziehungs-
20 Die Frage, inwieweit andere dennoch gastliches Handeln auszuüben vermochten und wie sie das taten, ist ein Forschungsdesiderat. 21 Johann Jakob Beurer, Oeconomia Sophoclea. Sive De Re Familiari Eruditi Viri … Hannover 1598, c. X, 126. Beurer definiert die „Oeconomia Sophoclea“ als „viri docti & literati […] rei domesticae & familiaris administratio“ (109).
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losen Zustand dar und gab als solche noch zu keinen bestimmten Praktiken und Einordnungen Anlass.22 In allen bisher erwähnten Quellen wurde Gastfreundschaft in Bezug auf individuelle Haushalte diskutiert. Bemerkenswerterweise nahmen sogar die Werke der Ökonomik-Literatur niemals an, dass sie geschlossene und feste Entitäten seien.23 Sie wurden ins Auge gefasst als offen für Menschen und Ressourcen, die hineinkamen und wieder hinausgingen, die miteinander interagierten und den Haushalt mit anderen Haushalten verbanden. Dabei nahm mal der eine und mal der andere die Last auf sich, gastliche Orte, Ressourcen und Menschen zur Verfügung zu stellen und all dies in der Balance zu halten, damit die notwendige Stabilität der häuslichen Ökonomie gewährleistet werden konnte.24 Dazu musste eine komplexe interne Dynamik zwischen Haushaltsvorständen, Kindern und Gesinde aufrechterhalten und mit anderen ähnlich offenen Haushalten verknüpft werden, die gleichermaßen auf diese Verbindungen angewiesen waren, um ihr soziales und materielles Überleben zu sichern. Gastlichkeit wurde auch in der zeitgenössischen theoretischen Literatur als eine zentrale Vergesellschaftungsleistung auf der Ebene von Haushalten angesehen. Diese Zusammenhänge wurden in erster Linie für die Haushaltsvorstände thematisiert, aber gelegentlich auch für die Ebene von Kindern und Gesinde, die ebenfalls an außer- und zwischenhäuslichen Vernetzungen beteiligt waren. Jedoch wurden Haushalte von frühneuzeitlichen AkteurInnen nicht nur unter dem Aspekt gesehen, dass sie Mittel für Gastfreundschaft bereitstellten, sondern auch, dass sie zur Gastlichkeit verpflichtet waren.25 Dabei unterschied man sorgfältig zwischen verschiedenen Haushaltstypen und erörterte deren jeweilige, aufeinander abgestimmte gastliche Aufgaben als Teil der Gesamtgesellschaft.26 Drei Ebenen spielten hier eine Rolle: erstens die einzelnen Haushalte auf der Mikroebene; zweitens die Mesoebene etwa von Ordensverbänden, Nachbarschaft und Verwandtschaft oder gelehrten und anderen (z. B. adligen) Gruppenkulturen; schließlich drittens auch die Makroebene von geistlichen Personen und Institutionen oder von Gasthäusern im Rahmen der Gesamtgesellschaft. Einige dieser Haushaltstypen waren von vornherein auf die Gewährung von Gastlichkeit spezialisiert: Klöster, Hospitäler, Gast- und Wirtshäuser. Für andere war Gastlichkeit mit mehr Entscheidungsspielraum verbunden, aber doch von größter
22 Vgl. Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 290–302. 23 Vgl. zu negativen Äußerungen über NachbarInnen Philip Hahn, Geliebter Nächster oder böser Nachbar? Die Bewertung der Außenwelt in der ‚Hausväterliteratur‘, in: Zeitsprünge 14, 2010, 456–476. 24 Vgl. Giovanni Levi, Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle der Moderne. Berlin 1986 [1985], 106, 125. 25 Von einer „éthique de la maison“ spricht auch Roche, Circulations (wie Anm. 3), 495. 26 Vgl. Johann Friedrich Rhetius/Georg Lorenz Blesendorff, Disputatio Inauguralis. De Hospitatura, Von Gastgeberey und Herbergirung … Frankfurt an der Oder 1666, u. a. fol. A2v-A3r.
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Bedeutung für das soziale und ökonomische Überleben. So wurden Haushalte von Gelehrten vielfach gegen Entgelt als ‚Gelehrtenpension‘ betrieben und nahmen dadurch eine auch von Juristen als normal und legitim angesehene Zwischenstellung zu kommerziellen Gasthäusern ein.27 Wenig Entscheidungsspielräume für GastgeberInnen ließen die obrigkeitlich dominierten Formen von Gastlichkeit bei der herrschaftlichen Gastung und bei der militärischen Einquartierung; hier ging es für Gastgebende meist um die Vermeidung von negativen Folgen, die sich aus einer Weigerung ergeben hätten. Religiöse VerfasserInnen beschäftigten sich mit Gastfreundschaft als einer besonders bedeutsamen Verpflichtung geistlicher Personen und der Haushaltstypen, die von ihnen bewohnt wurden. In gewissem Sinn gab es sowohl bei römischkatholischen als auch bei protestantischen VerfasserInnen die Vorstellung, dass bei religiösen Personen auch deren Haushalte darauf spezialisiert sein sollten, Gastfreundschaft zu bieten. Diese Art von Gastlichkeit war gedacht für Fremde, Arme und Bedürftige. Das führte im Alltag zwar nicht notwendigerweise zu Praktiken, die sich im Einklang mit diesen normativen Vorstellungen befanden, aber zu Diskussionen darüber, ob und unter welchen Umständen diese Normen in einer Gesellschaft, die sich seit der Antike stark verändert hatte, immer noch relevant waren. So diskutierten Benediktiner im 16. Jahrhundert, ob die städtischen Klöster ihres Ordens ebenso wie die ländlichen unbedingt zu dieser Gastlichkeit verpflichtet seien; als Begründung für die vorgebrachten Zweifel an der ungebrochenen Geltung der Ordensregel in Bezug auf Gastfreundschaft wurde die Existenz von Gasthäusern angeführt. Auch Geistliche der neuen protestantischen Kirchen argumentierten mit einer Veränderung der Gesellschaftsstrukturen und der Entstehung von Gasthäusern.28 Für diese Argumentation spielte es keine Rolle, dass die Gäste in den kommerziellen Gasthäusern mit Geld bezahlen mussten, so dass damit gerade keine Aufnahme der Bedürftigen, Armen und Fremden, die ohne Beziehungen und Zugehörigkeiten ankamen, garantiert war. Lutherische TheologInnen entwickelten ihre Praktiken und Vorstellungen von Gastlichkeit in Bezug auf eine ‚Haushaltskirche‘. Sie wurde beschrieben als eine Kirche von hierarchisch ineinander geschachtelten Haushalten, die von Haushaltsvorständen sowohl auf der Ebene der Mitglieder und der geistlichen Leitungsebene als auch auf der Ebene des obersten, göttlichen Hausherrn organisiert wurde. Diese Haushaltskirche konnte verschieden gedacht werden. Der Pfarrhaushalt wurde dabei zwischen Gott als oberster Instanz und der Gemeinde mit den Einzelhaushalten der Gemeindemitglieder unterschiedlich verankert: Die Straßburger Reformatorin Katha-
27 Vgl. Rhetius/Blesendorff, Disputatio Inauguralis (wie Anm. 26), fol. B2r. 28 [Petrus a Sancto Audomaro/Audemaro bzw. Pierre de Wallon Cappelle,] Institutionum monasticarum secundum sacrosancti Concilij Tridentini decreta libri 3 … Lovanii 1572, fol. 203v-204r; für protestantische Autoren vgl. etwa Lucas Osiander, Die Christliche Haußtafel … Tübingen 1601, 16.
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rina Zell (1498–1562), verheiratet mit einem Pfarrer, sah die Geistlichen als bloße Verwalter. Damit relativierte sie die Rolle der Pfarrer in Bezug auf Herrschaftsansprüche, so dass sie gegenüber Gott als dem obersten Hausherrn und der Gemeinde verantwortlich und damit auch kritisierbar wurden. Von ihnen verlangte sie ein gastlich offenes Haus für Flüchtlinge und Bedürftige sowie insbesondere für Mitglieder protestantischer Minderheiten wie TäuferInnen oder SchwenckfelderInnen. Demgegenüber verstanden sich männliche Theologen zunächst als (alleinige) Vorstände ihres eigenen Haushalts und leiteten davon dann im Sinne des klassischen protestantischen Pfarrhaushalts ihre Rolle im geistlichen Amt als ungebrochene Leitung ab, mit Gastlichkeit als einem zentralen Teil. Sie bezogen sich dabei vor allem auf Glaubensverfolgte der eigenen religiösen Gruppe und darunter insbesondere die Pfarrer; gleichzeitig mahnten sie zu Misstrauen gegenüber Fremden und verwiesen stattdessen auf Gasthäuser.29 Schließlich war Gastlichkeit ein wesentliches Moment auch der Organisation als kirchliche Gemeinde; die Pfarrer verlangten Gastlichkeit von den einzelnen Haushalten, die durch eine Ehe konstituiert wurden und für die der Pfarrer mit seinem eigenen Haushalt das Vorbild abgeben sollte.30 Juristen schließlich hatten ihre eigene Agenda, wenn sie Gastfreundschaft in Bezug auf unterschiedliche Haushaltstypen diskutierten. Sie differenzierten mit systematisierender Absicht in Bezug auf mögliche gesetzgeberische Handlungsfelder zwischen verschiedenen Haushaltstypen. Im Einzelnen führten sie Hospitäler, Klöster, öffentliche Gast- und Wirtshäuser mit ihren kommerziellen Transaktionen, Oberschicht-Haushalte von Adligen oder Geistlichen sowie die individuellen Haushalte anderer Menschen an. Der durch eine Ehe konstituierte Familienhaushalt bildete in ihren Traktaten lediglich einen dieser Haushaltstypen, die beschrieben, aufgelistet oder kommentiert wurden. Die Juristen stellten sich Gesellschaft als eine Landschaft individueller Haushalte vor, organisiert in unterschiedlichen Typen nach unterschiedlichen Prinzipien und mit unterschiedlichen Arten von Mitgliedschaft und ihren spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Alle diese Haushaltstypen hatten spezifische Aufgaben betreffend der Gewährung von Gastfreundschaft, die je nach Haushaltstyp und oft wie bei den TheologInnen als hochrangige, religiöse Verpflichtung erörtert wurden. Bei Diskussionen darüber, wie diese Verpflichtung
29 Katharina Zell, Ein Brieff an die gantze Burgerschafft der Statt Straszburg … Anno M. D.LVII [Straßburg], in: dies., The Writings. A Critical Edition, Bd. 2, hrsg. von Elsie Anne McKee. Leiden 1999, 167– 303; Gabriele Jancke, Die Kirche als Haushalt und die Leitungsrolle der Kirchenmutter. Katharina Zells reformatorisches Kirchenkonzept, in: Heide Wunder/Gisela Engel (Hrsg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Königstein 1998, 145–155; Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 147–214. 30 Es handelt sich hier zwar um den klassischen protestantischen Pfarrhaushalt, der aber in diesen Diskursen in ein kirchliches Haushaltsgefüge hineingestellt wird. Neben der Gemeinde spielt auch Gott als oberster Hausherr eine Rolle, wobei die Position der Pfarrer als dessen Verwalter unterschiedlich gewichtet wurde.
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genau zu erfüllen sei, wurden auch in diesem Kontext vielfach Gast- und Wirtshäuser als zentrale Argumente verwendet: Wenn und wo immer Gast- und Wirtshäuser existierten, wurde betont, dass die Gesellschaft das Notwendige bereitgestellt habe.31 Damit eröffneten die Juristen den Verwaltungen die Möglichkeit, dieser Bandbreite von Haushalten mittels Gesetzgebung eine Suprastruktur aufzulegen, die in verschiedene obrigkeitliche Handlungsfelder hineinspielte: nämlich durch gesetzliche Regelungen im Hinblick auf Fremde, denen das Betreten des Territoriums und eine gastliche Aufnahme zugestanden wurde (1), Verbote der Aufnahme von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen – z. B. TäuferInnen, JüdInnen, Armen – in individuelle Haushalte (2) sowie Verordnungen über öffentliche Gast- und Wirtshäuser oder über militärische Einquartierungen (3). Dabei investierten sie viel Mühe in die Systematisierung von Haushaltstypen und deren Bezüge zu gesellschaftlichen Aufgaben. Sie konzipierten Gastlichkeit in allen ihren Varianten, auch die in eigener Verantwortung und zum eigenen Nutzen betriebenen, ausdrücklich im Hinblick auf das Gemeinwohl und die für das Gemeinwesen zuständige Verwaltung.
4 Frühneuzeitliche Haushaltsgesellschaft als Herausforderung für moderne Metanarrative Der Blick auf Gastfreundschaft als Interaktionsrahmen deckt elementare interne Mechanismen der frühneuzeitlichen Gesellschaft auf. Allerdings haben sich in der Forschung deutliche Probleme gezeigt, diese Befunde über Gastlichkeit in die größeren Zusammenhänge einer Geschichtsdarstellung zu integrieren. Frühneuzeitliche Haushalte haben in der Geschichtswissenschaft eine lange und konfliktreiche Forschungsgeschichte. Daraus ergibt sich eine ambivalente Botschaft. Einerseits werden Häuser oder Haushalte zu den wichtigsten Elementen frühneuzeitlicher Gesellschaften gerechnet. Der Haushalt hat seinen Platz neben gleichermaßen hochrangigen Gegenständen der frühneuzeitlichen Geschichte wie dem Territorialstaat, bürokratischen und rechtlichen Institutionen sowie Märkten und Mobilität. Andererseits spielen Haushalte aber meist keine Rolle in den Metaerzählungen über jene langfristigen Prozesse der Staatsbildung oder entstehenden Marktwirtschaft, denen eine fundamentale Bedeutung für die Gegenwart zugemessen wird. Während sich (National-)Staat und Markt aus kleinen Anfängen zu überragender Bedeutung und Dominanz entwickelten, wird beim Haushalt ein gegenläufiger Prozess angenommen: Die gesellschaftsprägende Kraft, die er in sozialer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller und religiöser Hinsicht in frühneuzeitlichen Gesellschaften besaß, scheint
31 Friedrich Tobias Möbius, […] De Jure Hospitii Mercenarii … Hahn 1672, §§ 5, 6. Vgl. dazu Jancke, Gastfreundschaft (wie Anm. 1), 198–212.
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er während des Transformationsprozesses zu modernen Gesellschaften verloren zu haben.32 Vielfach wird er sogar als Faktor gesehen, der solche Prozesse eher behinderte. Die vielen wichtigen Arbeiten zur Bedeutung von Haushalten sollen hier aufgegriffen werden, um aus ihnen Folgerungen auf einer generelleren Ebene zu ziehen. Wie bereits Jan de Vries feststellte, liegt das Problem letztlich auf einer konzeptuellen Ebene. Metanarrative speisen sich nicht nur aus empirischen Befunden, sondern wesentlich aus modernen Gesellschafts- und Geschichtskonzepten mit ihren vielfach modernistischen Vorannahmen: Als makrohistorisch wirkmächtige Faktoren werden Staat und Markt aufgefasst, während Haushalte lediglich als passive Größen angesetzt werden. Das skizzierte Problem zeigt sich etwa in Niklas Luhmanns Ausführungen zu Haushalten in stratifizierten Gesellschaften, wo er bei aller den Haushalten grundsätzlich zugeschriebenen zentralen Bedeutung doch den Haushalt zum Nicht-Modell der Gesamtgesellschaft erklärt, wofür er bezeichnender-, wenn auch historisch unzutreffenderweise auf eine scharfe Trennung von Ökonomie und Politik sowie auf eine fehlende Rolle des Haushalts als Religionsgemeinschaft verweist. Die gleiche Problematik findet sich auch noch in den Forschungen zur Protoindustrialisierung und den daran anschließenden Debatten, in denen der Haushalt ein zentrales Thema ist, ohne aber als ein eigener, makrohistorisch relevanter Faktor bewertet zu werden.33 In modernen Gesellschafts- und Geschichtsentwürfen wird Haushalten die Potenz der Gesellschaftsorganisation über die unmittelbare Mikroebene alltäglicher Praktiken hinaus nicht mehr zugetraut – ungeachtet feministischer Interventionen zugunsten einer Änderung dieser Ortlosigkeit.34 Haushalte werden in solchen Konzepten auf der Mikroebene der Alltagshandlungen und transgenerationellen Transfers verortet, während sie auf den Meso- und Makroebenen gesellschaftlicher Organisation und
32 Z. B. Keith Wrightson, Earthly Necessities. Economic Lives in Early Modern Britain, 1470–1750. London 2002. Der 1. Teil heißt „Households in a Landscape, c. 1470–c. 1550“ (27–112), dann aber orientieren sich die anderen Teile nicht mehr an der Kategorie Haushalt: 2. Teil: „Transitions“ (113–268), 3. Teil: „Living With the Market“, c. 1660–c. 1750 (269–330). 33 Vgl. Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008, v. a. ix–xii und 1–39; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2. Frankfurt am Main 1997, 678–706, hier 698 f.; zur Protoindustrialisierung vgl. etwa Sheilagh Ogilvie/Markus Cerman (Hrsg.), European Proto-Industrialization. Cambridge 1996, insbes. explizit im Beitrag von Sheilagh Ogilvie, Social Institutions and Proto-Industrialization, in: ebd. 23–37, hier 23 f. 34 Vgl. Alice H. Amsden, Frauenarbeit und die tautologische Struktur nationalökonomischer Theoriemodelle, in: Barbara Schaeffer-Hegel/Barbara Watson-Franke (Hrsg.), Männer Mythos Wissenschaft. Grundlagentexte zur feministischen Wissenschaftskritik. Pfaffenweiler 1989, 141–164; Rosemarie v. Schweitzer, Einführung in die Wirtschaftslehre des privaten Haushalts. Stuttgart 1991; Ulrike Wagener u. a., Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik. Rüsselsheim 1999, 32–38. Vgl. auch die Bemerkungen dazu bei de Vries, Industrious Revolution (wie Anm. 33), 14.
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ihrer historischen Veränderungsprozesse nicht präsent sind. Dies gilt erst recht, wenn für moderne Gesellschaften statt von Haushalten von ‚Familie‘ gesprochen wird: Die wirksamen Kräfte in historischen Makro-Prozessen und die theoretische Sprache zur Beschreibung gesellschaftlich relevanter Institutionen und Strukturen werden weitgehend ohne Haushalte konzipiert. Stattdessen werden Metanarrative, die sich maßgeblich an Kategorien wie Staat, Markt, anonymen Institutionen und formalisierten Verfahren orientieren, auf historische Gesellschaften angewandt, in denen diese Größen (noch) keinen hohen Stellenwert besaßen. Als Resultat fehlt für Phänomene wie Patronage oder haushaltsgebundene Logiken von Politik und Wirtschaft ein adäquater gesellschaftstheoretischer Rahmen, so dass sie in der skizzierten modernistischen Sichtweise oft als dysfunktional oder ethisch problematisch erscheinen.35 Aus wirtschaftshistorischer Perspektive hat Jan de Vries den Vorschlag gemacht, zum Markt und den Staatsbildungsprozessen den Haushalt als dritten makrohistorisch wirkmächtigen Faktor auch für die Moderne hinzuzufügen.36 Das bedeutet: Eine Konzeptualisierung von Gesellschaft auf der Basis von Haushalten und sozialen Beziehungen muss weitgehend erst noch geleistet werden. Am leichtesten ist die Aufgabe anzugehen in Bezug auf eine Gesellschaft, für die Haushalte eine große Rolle spielen und einschlägige Forschungsergebnisse bereits vorliegen.
5 Resümee und Ausblick Für eine solche Konzeptualisierung ergeben sich zur frühneuzeitlichen Gesellschaft folgende Überlegungen: Die Analyse von Gastfreundschaft gewährt wichtige Einsichten in die Funktionsweise von Haushalten sowie in ihre Rolle in der Gestaltung des gesellschaftlichen Gefüges. Haushalte stellten zentrale Orte der Vergesellschaftung dar und bildeten somit Knotenpunkte gesellschaftlicher Strukturen. Der mikrohistorische Befund macht deutlich, wie viele AkteurInnen, Praktiken, Handlungsfelder und gesellschaftliche Funktionsbereiche durch Gastfreundschaft in komplexen
35 Persönliche soziale Beziehungen als ein Grundprinzip frühneuzeitlicher Gesellschaften für alle Handlungsfelder, die sich in modernen Gesellschaften als selbstständige, getrennte Funktionsbereiche (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur) ausdifferenziert haben, sind der Frühneuzeitforschung geläufig, werden aber ähnlich wie haushaltsbezogene Handlungslogiken schnell pauschal mit Korruption in Verbindung gebracht (vgl. etwa Peter Burke, History and Social Theory. Cambridge 1992, 71–75: „Patronage and Corruption“). Für Patronage sind die zugrunde liegenden Logiken und Funktionsweisen gut untersucht (eine Literaturauswahl etwa bei Gabriele Jancke, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln 2002, 75–164), dennoch spielen die Kategorien moderner Gesellschaften und die daraus resultierenden Wertungen auch in historischen Untersuchungen weiterhin eine große Rolle. 36 Vgl. de Vries, Industrious Revolution (wie Anm. 33), 9.
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Zusammenhängen wirksam wurden, um Stabilität und Kontinuität der einzelnen Haushalte mitsamt ihren Verflechtungen in einer auf Haushalten basierenden Gesellschaft erreichen zu können. Politische, religiöse und kulturelle Grenzen waren auf dieser strukturellen Grundlage relativ, so dass Reisende sich im Osmanischen Reich ebenso wie in den verschiedenen christlich dominierten europäischen Territorien im Rahmen einer solchen strukturell vertrauten Haushaltsgesellschaft bewegten. Historischer Wandel lässt sich vor diesem Hintergrund nur als ein ebenso verflochtenes Geschehen konzipieren, das unter Einbeziehung von Haushalten als offenen und verflochtenen gesellschaftlichen Knotenpunkten und strukturellen Basiseinheiten der Gesellschaft in den Blick zu nehmen ist. Eine einlinige Erzählung würde Erklärungen behaupten, aber nicht liefern können. Bezieht man Gastlichkeit in die Forschungsperspektive mit ein, können Haushalte als soziale Basiseinheiten konzeptualisiert werden, die sich in einem erheblichen Ausmaß in offener und fluider Weise durch gesellige Praktiken konstituierten. Damit die hier angesprochenen Prozesse stattfinden konnten, bedurften frühneuzeitliche Haushalte besonders für ihr ökonomisches Gedeihen der Gastfreundschaft, durch die gleichzeitig ihre innere und äußere soziale Integration hergestellt wurde. Zugleich war Gastlichkeit ein grundlegendes Mittel, um größere soziale Strukturen aufzubauen und zu unterhalten. Diese reichten von eng gestrickten Netzwerken unter NachbarInnen, Verwandten, FreundInnen und Mitgliedern der verschiedenen Gruppenkulturen bis zu sozialen Bindungen, die Fürsorge für ansässige und nicht-ansässige Arme boten, von lokalen Zünften und anderen Korporationen bis hin zu größeren politischen und religiösen Gemeinschaften, die alle Ebenen der Gesellschaft zu organisieren versuchten. Gastfreundschaft war von grundlegender Bedeutung. Sie zeigt wesentliche Prozesse gesellschaftlicher Integration und Strukturbildung, die in Haushalten abliefen und damit weitgehend von den jeweiligen Haushaltsvorständen organisiert wurden. Frühneuzeitliche AkteurInnen dachten über die grundlegenden Prozesse und Strukturen ihrer Gesellschaft ganz besonders in Kategorien von Haushalten nach. Diese Insider-Kategorien könnten auch einigen theoretischen Wert dafür haben, um unser eigenes Denken über grundlegende Elemente frühneuzeitlicher Gesellschaften neu zu konzeptualisieren. Auf einer Mikro-Ebene können Haushalte beschrieben und analysiert werden als konstituiert durch gesellige Praktiken, die Innen und Außen auf alltäglicher Basis verknüpfen, wobei soziale Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen. Auf einer Meso-Ebene können Haushalte re-konzeptualisiert werden als mit anderen Haushalten interagierend und als differenziert in eine Reihe verschiedener Haushaltstypen. Und auf einer Makro-Ebene können Haushalte im Rahmen frühneuzeitlicher Gesellschaften betrachtet werden als wirkmächtige Basiseinheiten größerer sozialer Strukturen, die ihrerseits in Haushalts-Kategorien gedacht wurden. Analytisch lässt sich für eine solche Gesellschaft aus Haushalten der Begriff der ‚Haushaltsgesellschaft‘ oder ‚Hausgesellschaft‘ verwenden, wie er in der Ethnologie
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bzw. Anthropologie bereits länger diskutiert wird.37 Damit wird auch Gesellschaft in ihren Makrostrukturen und -prozessen wieder denkbar unter Einbeziehung von Haushalt als einer grundlegenden Kategorie der Vergesellschaftung und der Organisation von Gemeinwesen. Im Anschluss an de Vries wären moderne Gesellschaften mit einzubeziehen. Es wird zu prüfen sein, inwieweit dabei das Konzept der ‚Hausgesellschaft‘ anschlussfähig ist, wie es Claude Lévi-Strauss und Marshall Sahlins mit unterschiedlichen Akzentuierungen vorgelegt haben.38 Aber der Gedanke von Haus(halts) gesellschaften ist attraktiv genug, um frühneuzeitliche Gesellschaften neu denken zu können und Alternativen zu den auf (National-)Staat und Markt fixierten Narrativen zu entwickeln.
37 Vgl. Janet Carsten, After Kinship. Cambridge 2004, 31–56, insbes. 41 f. (u. a. zu Claude Lévi-Strauss, Marshall Sahlins); Janet Carsten/Stephen Hugh-Jones (Hrsg.), About the House. Lévi-Strauss and Beyond. Cambridge 1995, darin dies., Introduction. About the House – Lévi-Strauss and Beyond, 1–46 (nur auf Lévi-Strauss aufbauend, damit v. a. auf Verwandtschaft bezogen); Charles Macdonald (Hrsg.), De la Hutte au Palais. Sociétés ‚à Maison‘ en Asie du Sud-Est Insulaire. Paris 1987; Rosemary A. Joyce/ Susan D. Gillespie, Beyond Kinship. Material and Social Reproduction in House Societies. Philadelphia 2000; Philip Thomas, House, in: Alan Barnard/Jonathan Spencer (Hrsg.), Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, London 1996, 281–285, hier 282 f. (zu Lévi-Strauss). Vgl. auch den Beitrag von Elie Haddad in diesem Band sowie ders., Qu’est-ce qu’une ‚maison‘? De Lévi-Strauss aux recherches anthropologiques et historiques récentes, in: L’Homme 212, 2014, 109–138. 38 Während Lévi-Strauss Verwandtschafts- und intergenerationelle Verbindungen zugrunde legt, befasst Sahlins sich mit einer Ökonomie, die in soziale Beziehungen eingebettet ist. Claude Lévi-Strauss, Der Weg der Masken. Frankfurt am Main 1977 [1975], sowie ders., Eingelöste Versprechen. Wortmeldungen aus dreißig Jahren. München 1985 [1984]; Marshall Sahlins, Stone Age Economics. Chicago 1972, 41–99, 101–148. Lévi-Strauss und die an ihn anschließende Forschung operieren mit maison bzw. ‚Haus‘, während ein anderer Teil der Forschung mit dem Begriff household arbeitet. Im Deutschen wären also beide Versionen möglich. Vgl. dazu auch Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664, der im Sinne eines doing house einen auf soziale Nahbeziehungen, relationale Raumkonzepte und Performativität gegründeten Ansatz zur Neukonzeptualisierung von ‚Haus‘ für die frühneuzeitliche Gesellschaft vorlegt.
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Das Fenster als Ort sozialer Interaktion: Zu einer Alltagsgeschichte des Hauses im vormodernen Europa Zu den charakteristischen Merkmalen des Hauses im europäischen Kulturkreis zählt die Orientierung der Fenster hin zur Straße. Diese Feststellung mag zunächst wenig überraschen, ja sogar trivial anmuten. Ein Blick über den europäischen Horizont hinaus führt allerdings schnell vor Augen, dass es sich keineswegs um eine Selbstverständlichkeit handelt. Ein nahe liegendes Beispiel ist die traditionelle Architektur in Teilen der islamischen Welt: Dort war – und ist mitunter bis heute – das Hofhaus ein besonders häufiger Haustypus, dessen Hauptfenster oftmals zum Hof hin orientiert sind. Teilweise wird auf Fenster zur Straßenseite sogar ganz verzichtet.1 Im vormodernen Europa stellte sich die Situation anders dar, nicht zuletzt weil die klimatischen Bedingungen andere waren als beispielsweise in der arabischen Welt. In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten kam zudem angesichts der hohen Konzentration von Handwerkern sowie der häufigen Simultannutzung von Häusern als Wohn- und Arbeitsstätten überhaupt der Maximierung von Lichteinfall und Luftzufuhr eine besondere Rolle zu.2 Das Ergebnis dieser Faktoren ist bis heute vielerorts in Europa bei einem Gang durch die engen Gassen erhaltener mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Altstädte zu besichtigen: Fenster wurden in dichter Reihung in die Hausfassaden eingefügt, oftmals auch im Laufe der Zeit erweitert. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem daraus resultierenden Phänomen des Fensters als Ort sozialer Interaktion im vormodernen Europa. In der damaligen Zeit fungierten Fenster – von ihrer praktischen Bedeutung einmal ganz abgesehen – auch in sozialer Hinsicht als wichtige Schnittstellen zwischen Straße und Haus, mithin also zwischen urbanem und privatem Raum. Stadtbewohner verbrachten bemerkenswert viel Zeit an den Fenstern ihrer Häusern, nicht zuletzt weil im Zeitalter vor dem Aufkommen moderner Massenmedien das Fenster zur Straße in vielerlei Hinsicht einer der ‚aussichts‘-reichsten Orte des Hauses war: Das Fenster bot Aussicht auf das Treiben in den Straßen, aber auch – im übertragenen Wortsinne – Aussicht
1 Stefano Bianca, Hofhaus und Paradiesgarten. Architektur und Lebensformen in der islamischen Welt. München 1991, insbes. 207; Nikita Elisséeff, Physical Layout, in: R. B. Serjeant (Hrsg.), The Islamic City. Paris 1980, 90–103; Aharon Ron Fuchs/Michael Meyer-Brodnitz, The Emergence of the Central Hall House-Type in the Context of Nineteenth Century Palestine, in: Jean-Paul Bourdier/Nezar AlSayyad (Hrsg.), Dwellings, Settlements, and Tradition. Cross-Cultural Perspectives. Lanham 1989, 403–424. 2 Vgl. hierzu z. B. Christine Schedensack, Nachbarn im Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster. Münster 2007.
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darauf, Neuigkeiten zu erfahren und sich mit Nachbarn auszutauschen.3 Nicht von ungefähr ermahnte der italienische Humanist Leon Battista Alberti die Hausmütter, „nicht den ganzen Tag müßig dazusitzen mit den Ellbogen auf dem Fenster, wie es manche bequeme Damen tun, die zu ihrer Entschuldigung eine Näherei in der Hand haben, die nie weniger wird.“4 Wie dieses Zitat bereits andeutet, wurde das Fenster als sozialer Ort nicht selten auch mit Argwohn betrachtet und bildete daher einen ambivalenten Teil des Hauses. Einerseits war es ein Ort, an dem der häusliche in den öffentlichen Raum überging, an dem also Öffentlichkeit ebenso wie Nachbarschaft hergestellt wurde – und dies mitunter auf geradezu aufdringlich anmutende Weise, wenn etwa das Fenster als Teil eines Erkers regelrecht in die engen Gassen der Stadt hineinragte. Andererseits – und schon allein aus juristischer Sicht – gehörte das Fenster unzweifelhaft zur Sphäre des Hauses. Bezeichnenderweise galt jede mutwillige Beschädigung des Fensters – und diese waren nicht selten – zugleich als Verletzung der pax domestica, des Hausfriedens. In diesem Sinne reicht das Spektrum der im Folgenden untersuchten Interaktionsformen von erwünschter Kommunikation bis hin zu offenem Konflikt. An unterschiedlichen Beispielen aus städtischen Lebenswelten werden ausgehend von (bau-) rechtlichen Regulierungen vor allem einige charakteristische soziale Praktiken vorgestellt. Schwerpunktmäßig und beispielhaft soll dabei die Bedeutung von Fenstern in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern dargestellt werden – eine Geschichte, die an subtilen Gesten ebenso reich ist wie an Missverständnissen. Es soll zugleich deutlich werden, dass eine Alltagsgeschichte des Fensters – obzwar sie hier nur skizziert werden kann – weit mehr als nur eine kulturhistorische Fußnote zur allgemeinen Geschichte des Hauses darstellt. Vielmehr lässt eine solche Untersuchung die Frage konkret greifbar werden, wie im Laufe der Geschichte das Verhältnis von Haus und städtischem Raum, ebenso wie zwischen Hausbewohnern und Nachbarn, in der Praxis stets von neuem ausgehandelt wurde.
1 Das Fenster als Gegenstand obrigkeitlicher Regulierung Niemand war sich der Ambivalenz des Fensters mehr bewusst als vormoderne Obrigkeiten: Neben zahlreichen baurechtlichen Regulierungen (auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann) hat sich eine Fülle von Dekreten
3 Daniel Jütte, Living Stones. The House as Actor in Early Modern Europe, in: Journ. of Urban Hist. 41, 2015, 1–22. 4 Leon Battista Alberti, Vom Hauswesen. München 1986, 305.
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und Verordnungen erhalten, in denen Herrscher und Stadtobere zu reglementieren versuchten, unter welchen Umständen das Stehen am Fenster statthaft und unter welchen es unzulässig war. Solche Regulierungsbemühungen hatten zum einen mit Sicherheitsbedenken zu tun. Denn das Herabfallen von Gegenständen aus dem Fenster stellte eine beträchtliche Gefahr für Passanten und Hausbewohner dar. Aufgrund der beengten Lebensbedingungen und des Bedarfs an Tageslicht wurde eine Reihe von häuslichen Tätigkeiten am oder vor dem Fenster verrichtet, und ein von Fenster zu Fenster geführtes Gespräch mit Nachbarn sorgte für Kurzweil bei der Hausarbeit. Die chronischen Probleme im sanitären Bereich bei der weit verbreiteten Entsorgung der Nachttöpfe durch Ausschütten aus dem Fenster kamen erschwerend hinzu. Recht anschaulich fasste Johann Georg Krünitz im 18. Jahrhundert die Problematik zusammen: „Diese Fahrläßigkeit und dieses unbedachtsame Verfahren, welches man noch an vielen Orten, sonderlich in Universitätsstädten, duldet, und wodurch die Gassen und Straßen mit Nachttöpfen und Unflat angefüllet werden, verursachet viele Verletzung und Beschädigung der Vorbeygehenden, die sich sonderlich des Nachts nicht wohl dafur vorsehen können, zumahl noch dazu die wilde Unbedachtsamkeit derer, so solche heraus werfen oder ausschütten, die sonst noch gewöhnlichen Verwarnungen mit Rufen öfters unterläßt.“5 Rechtlich gesehen haftete im Schadensfall der Verursacher – also der Hauseigentümer oder Mieter – und er/sie musste zudem, da es sich um ein „Policeyvergehen“ handelte, auch mit zivilrechtlichen Konsequenzen rechnen.6 Zum anderen war es aus Sicht der Obrigkeiten ein Problem, wenn Gegenstände absichtlich aus dem Fenster geworfen wurden, wie dies regelmäßig im Zusammenhang mit städtischen Aufständen vorkam. In Antwerpen machte die Obrigkeit noch im späten 18. Jahrhundert unmissverständlich klar, dass solche Angriffe nicht geduldet würden: Warf jemand aus dem Fenster eines Hauses mit Steinen auf Soldaten, sollte dessen Haus mit Kanonenbeschuss dem Erdboden gleichgemacht werden.7 Allerdings waren solche Strafen leichter anzudrohen als umzusetzen, nicht zuletzt da angrenzende Gebäude unweigerlich Schaden genommen hätten. Auch ließ sich rückblickend der Ausgangspunkt des Wurfs bei weitem nicht immer mit Sicherheit bestimmen, zumal angesichts der engen Bebauung kein Mangel an Fenstern – und damit potentiellen Tatorten – war. Das Aufkommen von Erkern und Balkonen, wie sie vor allem seit dem Spätmittelalter immer beliebter wurden, verschärfte dieses Problem noch zusätzlich.8 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Äuße-
5 Art. Fenster, in: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, Bd. 12. Berlin 1777, 607. 6 Ebd. In Italien verhielt es sich ähnlich, vgl. John Brackett, Criminal Justice and Crime in Late Renaissance Florence, 1537–1609. Cambridge 1992, 107. 7 Index der Gebodboeken der Stad Antwerpen (1489–1794), in: Antwerpsch Archievenblad 9, 1934, hier 299. 8 Zu Balkonen vgl. Attilio Schiaparelli, La casa fiorentina e i suoi arredi nei secoli XIV e XV. Florenz 1908, 34–35, 51–53.
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rungen, die König Ferrante von Neapel 1475 bei einem Besuch in Rom gegenüber Papst Sixtus IV. machte. Der königliche Besucher aus Neapel gab kritisch zu bedenken, der Papst sei angesichts der engen Straßen und der hölzernen Hausvorsprünge „gar nicht Herr dieses Landes und vermöge nicht zu herrschen.“ Denn wenn ein Krieg oder Aufstand die Entsendung von Soldaten in die Stadt erfordere, „so könnten schon die Frauen von diesen Vorsprüngen [mignani] aus mit Wurfgeschossen sie vertreiben, und nur sehr schwer vermöge das Heer sich in der Stadt zu verschanzen.“ Wenn wir dem papstkritischen Chronisten, der uns diese Episode überliefert hat, Glauben schenken können, ließ sich Sixtus IV. von den Bedenken des Königs überzeugen und folgte dessen Rat, alle Hausvorsprünge abreißen und die Straßen erweitern zu lassen. In der Tat wurden diese Maßnahmen bereits kurz Zeit später durchgeführt, „unter dem Vorwand, man wolle den Straßenboden pflastern und die Stadt verschönern.“9 Ferrante selbst unternahm in jenen Jahren ähnliche Versuche in seiner notorisch aufsässigen Residenzstadt Neapel und begründete dies offiziell mit dem Bestreben, „die sauberste Stadt in Europa“ (‚la più necta e polita città di tutta Europa‘) zu schaffen. Zwar erlebte Ferrante die Umsetzung nicht mehr, aber seine Pläne fanden in Neapel einige Jahrzehnte später – nun unter spanischer Herrschaft – mit dem Abriss nahezu aller Hausvorsprünge im Stadtzentrum ihren Abschluss.10 Solche Eingriffe in den urbanen Raum aus machtpolitischem Kalkül sollten uns jedoch nicht zu der pauschalen Annahme verleiten, dass das angeführte Motiv der Stadtverschönerung in damaliger Zeit stets nur Vorwand gewesen sei. Vielmehr fehlt es nicht an Belegen dafür, dass bereits mittelalterliche Obrigkeiten der Frage des publicum decus – also des Schmucks des öffentlichen Raums – beträchtliches Interesse entgegenbrachten. In diesem Zusammenhang kam der Gestaltung und dem Schmuck von Fenstern häufig eine besondere Rolle zu, die sich mit baurechtlichen Erwägungen allein nicht erklären lässt. Ein frühes und bemerkenswertes Beispiel ist die Verordnung der Stadt Siena aus dem Jahre 1297, wonach alle Fenster rings um den Campo die gleichen, säulengeschmückten Fenster wie der Stadtpalast erhalten sollten.11
9 Stefano Infessura, Diario della città di Roma di Stefano Infessura scribasenato, hrsg. von Oreste Tommasini. Rom 1890, 79 f. Die Übersetzung übernehme ich in leicht abgewandelter Form der dt. Ausgabe von Hermann Hefele (Jena 1913). 10 Vgl. dazu Marco Vencato, ‚Gittare li porticali et allargare le vie.’ Raumpolitik und Sozialtopographie im aragonesischen Neapel, in: Susanne Ehrich/Jörg Oberste (Hrsg.), Städtische Räume im Mittelalter. Regensburg 2009, 195–210, hier 196, 200. 11 In der entsprechenden Verordnung heißt es wörtlich: „Che in ciascuna case, la quale si facesse di nuovo d’intorno al Campo del mercato, tutte le finestre si facciano a colonnelli.“ Abgedruckt bei Wolfgang Braunfels, Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. Berlin 1953, Dok. 1. Zur Frage des publicum decus vgl. allgemein auch ebd., 110–116, 176.
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2 Fenster und die ambivalente Herstellung von Öffentlichkeit Die Frage des publicum decus der Fenster war eng verbunden mit den Erfordernissen von Zeremoniell und Repräsentation, einer zentralen Form städtischer Öffentlichkeit. Politische Ereignisse und Zeremonien verlangten stets nach einer Schmückung der Häuser und insbesondere der Fenster, etwa durch ausgehängte Teppiche oder speziell für den Anlass aufgestellte Fackeln und Kerzen. Doch solche Schmückungen allein reichten in der Regel nicht aus. Die städtische Gesellschaft der Frühen Neuzeit war eine ‚Anwesenheitsgesellschaft‘: Große Ereignisse erforderten große oder sogar größtmögliche Öffentlichkeit, sowohl zur Beglaubigung ihrer Bedeutung wie auch zur Ehrbezeugung.12 Regelmäßig wurden die Einwohner der Stadt daher anlässlich städtischer Umzüge oder der Besuche hoher Würdenträger dazu aufgerufen bzw. verpflichtet, an den Eingängen oder an den Fenstern ihrer Häuser zu stehen.13 Ein besonders eindrückliches Beispiel waren die Kaiserkrönungen in Frankfurt am Main. Seit dem 16. Jahrhundert hatte es sich eingebürgert, dass der deutsche König in Frankfurt nicht nur gewählt, sondern anschließend auch zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde. Und jedes Mal wurde dieses in hohem Maße ritualisierte Ereignis von tausenden in- und auswärtigen Schaulustigen begleitet. Aus zeitgenössischen Beschreibungen wissen wir, dass nicht nur die Plätze und Straßen Frankfurts mit Zuschauern gefüllt waren, sondern dass es auch zu einem regen Treiben an all jenen Fenstern kam, die eine Aussicht auf das Spektakel boten. Einige Hauseigentümer und Mieter verdienten sich sogar ein Zubrot damit, solche Fensterplätze für stolze Summen zu ‚vermieten‘. Gegen solche Formen der Anwesenheit am Fenster hatten die städtischen Behörden nichts einzuwenden – ganz im Gegenteil: Sie nahmen sogar stillschweigend in Kauf, dass einige Bürger bei solchen Anlässen neue Fenster in die Wände oder Dächer ihrer Häuser brachen. Diese Nachsicht der Obrigkeit hatte auch damit zu tun, dass die große öffentliche Anteilnahme die Bedeutung des Anlasses unterstrich und gleichzeitig der Stadt zur Ehre gereichte. Pragmatische Überlegungen spielten ebenfalls hinein: Im Unterschied zu jenen
12 Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence. New York 1980, insbes. 43. Eine Bestandsaufnahme zum Konzept der ‚Anwesenheitsgesellschaft‘ bei Maria Selig, Anwesenheitskommunikation und Anwesenheitsgesellschaft. Einige Anmerkungen zu einem geschichtswissenschaftlichen Konzept aus sprachwissenschaftlicher Perspektive, in: Ehrich/Oberste (Hrsg.), Städtische Räume (wie Anm. 10), 18–33. 13 Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: dies. (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 2004, 11–52, hier 43; Dana E. Katz, ‚Clamber Not You Up To the Casements‘. On Ghetto Views and Viewing, in: Jewish Hist. 24, 2010, 127– 153, hier 129; Edward Muir, The Eye of the Procession. Ritual Ways of Seeing in the Renaissance, in: Nicolas Howe (Hrsg.), Ceremonial Culture in Pre-modern Europe. Notre Dame 2007, 129–153, hier 143 f.
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Zuschauern, die sich in den Straßen und auf den Plätzen versammelten, war es für Beobachter am Fenster schwerer, Unruhe zu stiften – wie überhaupt die Gefahr einer Massenpanik reduziert wurde.14 Vormoderne Obrigkeiten wurden von ähnlichen Überlegungen geleitet, wenn es um die Organisation und Durchführung von öffentlichen Hinrichtungen ging. Auch hier waren Zuschauer in aller Regel ausdrücklich erwünscht, zumal Obrigkeiten fest von der abschreckenden und moralisch heilsamen Wirkung dieses ‚Theaters des Schreckens‘ überzeugt waren.15 Stadtbewohner aus allen Schichten – darunter oft auch Kinder und Frauen – waren eingeladen, ja teilweise sogar dazu angehalten, dem blutigen Ereignis beizuwohnen. Doch auch hier bestand die Gefahr, dass solche Massenaufläufe außer Kontrolle gerieten, weshalb viele Hinrichtungen im Beisein von eigens hierfür abgestellten und rings um das Schafott postierten Wachen stattfanden. Aus diesem Grund hatten die Behörden nichts dagegen einzuwenden, wenn die Zuschauer es vorzogen, der Hinrichtung von den Fenstern angrenzender Häuser aus beizuwohnen. Für die Zuschauer wiederum hatte eine solche Warte den Vorteil, einen sehr viel besseren Blick auf das grausame Spektakel erhaschen zu können. In der Tat waren zahlreiche Menschen in der damaligen Zeit bereit, geradezu „unglaubliche Summen“ – so ein Beobachter im 17. Jahrhundert – für Fensterplätze zu bezahlen, die einen besonders guten Blick auf das Geschehen boten.16 Daran, dass auch bei diesen Anlässen zahlreiche Frauen unter den Zuschauern waren, nahm die Obrigkeit keinen Anstoß. Hingegen empörte sich so mancher Moralist über derlei Zustände, so etwa der Franzose Charles Collé im 18. Jahrhundert, der in Paris mit eigenen Augen bei einer Hinrichtung erlebte, dass „keine der Frauen, die anwesend waren […], sich vom Fenster zurückgezogen [hat, D. J.], während die meisten Männer dieses Schauspiel nicht ertragen konnten.“17
3 Prozessionen und die theologische Problematisierung der Präsenz am Fenster Solche Einlassungen gegen am Fenster stehende Frauen, wie sie üblicherweise von Männern vorgetragen wurden, verdeutlichen, dass die weibliche Präsenz am Fenster als ambivalent, ja sogar als moralisch und sittlich bedenklich empfunden werden
14 Siegfried Sieber, Volksbelustigungen bei deutschen Kaiserkrönungen, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 11, 1913, 1–116. 15 Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1985. 16 Antoni Mączak, Travel in Early Modern Europe. Cambridge 1995, 180. 17 Arlette Farge, Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts. Berlin 1989, 215.
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konnte. Und in der Tat gab es Anlässe, bei denen auch die Obrigkeit weitaus weniger geneigt war, die Präsenz von Frauen am Fenster zu dulden. Dies gilt insbesondere für religiöse Prozessionen, wie sie namentlich in katholischen Gegenden einen festen Bestandteil des Alltags und Jahreslaufs bildeten.18 Wie der amerikanische Historiker Richard Trexler gezeigt hat, waren viele dieser Umzüge zugleich ‚Krisenprozessionen‘ – also Versuche, an eine krisenhafte Situation aus der Vergangenheit zu erinnern oder himmlischen Beistand für die Bewältigung einer gegenwärtigen Krise (etwa den Ausbruch einer Seuche) zu erbitten. Solche Krisen- oder Bußprozessionen richteten sich nicht in erster Linie an menschliche Zuschauer, sondern direkt an Gott – ja mitunter waren menschliche Zuschauer bei dieser Demonstration von Buße und Ergebenheit gänzlich unerwünscht, zumal die Befürchtung bestand, dass die Zuschauer von reiner Neugier und nicht etwa aufrichtigem religiösen Gefühl geleitet sein könnten.19 Es war vor diesem Hintergrund nur konsequent, dass Prediger und Obrigkeiten allen nicht unmittelbar an der Prozession beteiligten Personen – einerlei ob Männer, Frauen oder Kinder – untersagten, dem Umzug zuzusehen, und sie stattdessen vor die Wahl stellten, sich entweder der Prozession anzuschließen oder bei verschlossenen Türen und Fenstern im Haus zu bleiben. Freilich zielten solche Verbote auch darauf ab, die eigentlichen Teilnehmer der Prozession buchstäblich nicht aus dem Takt zu bringen: Sie sollten ihre ganze Aufmerksamkeit und Inbrunst auf das religiöse Ritual richten, anstatt vom Blick auf Schaulustige abgelenkt zu werden – und weibliche Zuschauer galten mehr als irgendeine andere Gruppe als potentielle Ablenkung. Es ging also, anders ausgedrückt, bei der obrigkeitlichen Regelung des Prozessionsablaufs stets nicht nur darum, wem das Privileg des Zuschauens zuteil wurde, sondern auch um die Frage, welche Wirkung die Zuschauer auf die Teilnehmer der Prozession ausüben würden.20 Erst vor diesem Hintergrund wird klar, weshalb der radikale Sittenprediger Savonarola, der im Florenz des späten 15. Jahrhunderts eine Theokratie zu errichten versuchte, nicht gewillt war, weibliche Zuschauer bei Prozessionen zu dulden und sogar nicht davor zurückscheute, sie pauschal als Prostituierte zu verdammen.21 Gewiss sollte man von solchen Brandreden nicht voreilig auf die Alltagspraxis schließen. Immerhin fehlt es nicht an Belegen dafür, dass Frauen sehr wohl bei bestimmten religiösen Prozessionen als Zuschauer anwesend waren, darunter auch vom Fenster aus.22 Umgekehrt aber kann nicht übersehen werden, dass auch männliche Zeitgenossen, die weniger radikal gesinnt waren als Savonarola, dieses Zuschauen vom Fenster kritisierten oder zumindest als problematisch empfanden. Ein anschau-
18 Peter Burke, Cities, Spaces and Rituals in the Early Modern World, in: Heidi de Mare/Anna Vos (Hrsg.), Urban Rituals in Italy and the Netherlands. Historical Contrasts in the Use of Public Space, Architecture and the Urban Environment. Assen 1993, 29–38, hier 34. 19 Hier und im weiteren nach Trexler, Public Life (wie Anm. 12), insbes. 358. 20 Muir, The Eye (wie Anm. 13), 141. 21 Trexler, Public Life (wie Anm. 12), 358. 22 Vgl. z. B. Giulio Bistort, Il magistrato alle pompe nella republica di Venezia. Venedig 1912, 86.
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liches Beispiel hierfür bietet Giovanni Mansuetis Gemälde „Wunder der Kreuzreliquie am Campo S. Lio“ aus dem Jahre 1494, das sich heute in der Accademia zu Venedig befindet. Mansuetis Monumentalgemälde zeigt eine Beerdigungsprozession für ein venezianisches Scuolenmitglied, bei der eine Kreuzreliquie den Leichenzug für den gar nicht so frommen Mann plötzlich zu Halt gebracht haben soll. Der Vordergrund zeigt das wundersame Geschehen am Campo, der Bildhintergrund hingegen wird von der Darstellung der angrenzenden Gebäude dominiert – und hierbei fällt auf, dass Mansueti in nahezu jedem Fenster weibliche Zuschauer platziert. Dabei sind Mansuetis Frauen am Fenster auffallend aufwändig gekleidet. Bedenkt man, dass im Italien dieser Zeit das Tragen von teurer Kleidung und Schmuck vielerorts durch Luxusgesetze streng geregelt war, wird die moralisierende Botschaft von Mansuetis Gemälde offenbar: Diese Frauen erscheinen als Symptom einer Gesellschaft, in der Eitelkeit und Neugier die Oberhand über Frömmigkeit und Andacht gewonnen haben.23 An diesem Beispiel wird die Funktion des Fensters als Grenzraum zwischen Haus und Stadtraum deutlich: Die Kleidervorschriften regelten das Auftreten im städtischen Raum, nicht jedoch in den eigenen vier Wänden – mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Am Fenster des Hauses galten oftmals dieselben Vorschriften wie im öffentlichen Raum. Wer dies missachtete, dem drohte eine Anzeige und im Ergebnis oft auch eine (Geld-)Strafe.24 Dem einflussreichen Franziskanermönch Bernardino da Siena dürfte im 15. Jahrhundert allerdings selbst dies noch nicht genug gewesen sein. Bernardino war für seine scharfe Kritik an sittlichen Missständen und materialistischer Gesinnung bekannt. Bezeichnenderweise lehnte er in seinen Predigten jede Form der Zurschaustellung von Luxus am Fenster ab, selbst wenn sich die Person, der die Luxusgegenstände gehörten, selbst gar nicht im Fenster zeigte. „Neulich“, so berichte der erzürnte Bernardino bei einer seiner Predigten in Siena, „sah ich am Fenster eines Hauses drei Gewänder, die von einer Frau dort aufgehängt worden waren, und ich schätzte, dass deren Wert denjenigen aller anderen Gegenstände in diesem Haus überstieg.“25
23 Charles de La Roncière, Tuscan Notables on the Eve of the Renaissance, in: Philippe Ariès/Georges Duby (Hrsg.), A History of Private Life, Bd. 2. Cambridge, Mass. 1988, 157–309, hier 290. Zum historischen Geschehen vgl. auch Günter Brucher, Geschichte der venezianischen Malerei, Bd. 2. Wien 2010, insbes. 314 24 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 622–664, hier 632. 25 Bernardino da Siena, Le prediche volgari, hrsg. von Luciano Banchi, Bd. 3. Siena 1888, 191.
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4 Das Fenster als Kontaktzone in den Geschlechterbeziehungen Die hier angeführten Beispiele verdeutlichen die potentielle Brisanz der weiblichen Präsenz am Fenster, und so mag die Behauptung zunächst paradox erscheinen, dass sich das Fenster im Alltag zugleich auch als ein Ort erwies, der in besonderer Weise Interaktion zwischen den Geschlechtern ermöglichte und beförderte. Als Vorzug des Fensters erwies sich hierbei genau seine räumliche Uneindeutigkeit: Wie wir gesehen haben, war das Fenster – wenngleich nicht im juristischen Sinne, so doch in der Alltagspraxis – Teil des öffentlichen ebenso wie des häuslichen Raumes; es gehörte beiden Sphären an und ließ sich dabei keiner von beiden allein zuordnen. Das Fenster bildete gewissermaßen eine Heterotopie, also einen jener Orte, „die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“ Das Merkmal solcher Heterotopien ist, Michel Foucault zufolge, dass in ihnen das normative Raumverständnis „zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt“ wird.26 Anders ausgedrückt: Das Fenster bildete eine räumliche Grauzone, die Formen sozialer Interaktion zwischen den Geschlechtern ermöglichte, wie sie so weder auf der Straße noch im Haus selbst denkbar oder statthaft gewesen wären. Man bedenke, dass einem fremden Mann das Betreten des Hauses – zumal wenn er von Begehrlichkeiten für eine weibliche Bewohnerin geleitet war – als Hausfriedensbruch ausgelegt und mit drakonischen Strafen geahndet werden konnte. Umgekehrt war auch im öffentlichen Raum, also etwa auf der Straße, die Interaktion zwischen den Geschlechtern von zahlreichen Konventionen bestimmt (und teilweise eingeschränkt). So wurde mancherorts in Europa sogar die Meinung vertreten, es sei für Männer unschicklich, Frauen im öffentlichen Raum anzusprechen, zu grüßen oder gar zu berühren.27 In diesem Zusammenhang erwies sich die architektonische Beschaffenheit des Fensters als vorteilhaft, da es Männern und Frauen Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme und zum Gespräch bot, dabei aber zugleich eine physische Distanz herstellte.28 In der Tat herrscht kein Mangel an Quellen, aus denen hervorgeht, dass es unter jungen Mädchen ebenso wie unter Witwen (und sogar unter verheirateten Frauen) nicht unüblich war, sich im Fenster in Szene zu setzen, um die Aufmerksamkeit von
26 Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: ders., Schriften in vier Bänden, hrsg. von Daniel Defert/François Ewald, Bd. 4. Frankfurt am Main 2005, 931–942, hier 935. 27 Erasmus von Rotterdam, Vertraute Gespräche, hrsg. von Hubert Schiel. Köln 1947, 506. 28 Die Bedeutung von Fenstern als Orten romantischer Begegnungen hat z. B. bei Boccaccio reichlichen literarischen Niederschlag gefunden. Vgl. Giovanni Boccaccio, Das Dekameron. Frankfurt am Main 2009, II.7, III.3, III.5, V.6, IX.5, X.7; Silvana Seidel Menchi, Cause matrimoniali e iconografia nuziale. Annotazioni in margine a una ricerca d’archivio, in: dies./Diego Quaglioni (Hrsg.), I tribunali del matrimonio, secoli XV–XVIII. Bologna 2006, 663–703, hier 671.
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Männern zu wecken und ein Gespräch mit ihnen zu beginnen.29 Die Kehrseite solcher wohlkalkulierter Auftritte am Fenster war eine beständige Sorge auf Seiten von Ehemännern, dass – in den Worten eines englischen Autors des 17. Jahrhunderts – „[their, D. J.] witty Wives, who with their gadding abroad, or staring out of Windows and Balconies at home, will draw all the fool-flyes in the Town Buzzing about ‚em, till they are blown, and their reputations tainted.“30 Ähnliche Befürchtungen waren bereits im Spätmittelalter von Predigern und anderen ‚Moralwächtern‘ geäußert worden, so auch von dem erwähnten Bernardino da Siena, der insbesondere junge Mädchen eindringlich davor warnte, ans Fenster zu treten oder sich dort in Szene zu setzen: „Zeig Dich nicht den Männern; begib Dich nicht zum Fenster um denjenigen beim Ballspiel zuzusehen, die einen nur bis Bauchnabel reichenden Wams tragen, und lausche weder dem Musizieren noch dem Singen, [selbst, D. J.] wenn es sich tagsüber zuträgt. Überhaupt, gehe nie ans Fenster, weder bei Tag noch bei Nacht.“31 Aber gerade die Häufigkeit solcher Ermahnungen lässt vermuten, dass sich im Alltag nicht jede daran hielt. Es lässt sich sogar sagen, dass im vormodernen Europa das Fenster bzw. die Stelle unterhalb des Fensters zu den bevorzugten Orten von Liebeswerben und erotischen Anbahnungsversuchen zählte. Bereits im Mittelalter zieht sich dieser Topos wie ein roter Faden durch die Minnedichtung. Selbst wenn man hier ein gewisses Maß an Stilisierung in Rechnung stellt, scheinen solche Beschreibungen doch auch ein Stück Alltagserfahrung widerzuspiegeln. Freilich handelt es sich bei der mittelalterlichen Minnedichtung noch primär um eine Beschreibung der höfischen Lebenswelt, und verglichen damit stehen uns für die Frühe Neuzeit weitaus mehr Quellen zur Verfügung. Sie legen zudem nahe, dass spätestens zu dieser Zeit das Werben am Fenster zu einer Praxis geworden war, die sich auch in anderen, nicht-höfischen Schichten der Gesellschaft großer Beliebtheit erfreute. Gerade in den Städten scheint es unter Fenstern zu regelrechten Wettbewerben von Verehrern gekommen zu sein.32 Baldassare Castiglione berichtet von jungen Mädchen, die sogar ganz aufgehört haben sollen, sich am Fenster zu zeigen, da sie sich dort von Verehrern belagert und zudem von den obligaten Ständchen nachhaltig in ihrer Ruhe gestört sahen.33 Auch sein Zeitgenosse Pietro Aretino scheint sich auf konkrete Anschauung gestützt
29 Trexler, Public Life (wie Anm. 12), 231; Chiara Frugoni, A Day in a Medieval City. Chicago 2005, 51. 30 Edward Ravenscroft, The London Cuckolds. A Comedy; as it is Acted at the Duke’s Theatre. London 1682, IV.2. Eine ähnliche Befürchtung äußert der männliche Protagonist in John Donnes um 1600 entstandenen (und im englischen Sprachraum kanonischen) Gedicht „A Valediction of My Name in the Window“; John Donne, The Elegies, and the Songs and Sonnets, hg. von Helen Gardner Donne, Oxford 1965, 64–66, hier: Strophe 8. 31 Bernardino da Siena, Prediche volgari (wie Anm. 25), Bd. 2, 436–437. 32 Dies gilt insbes. für Universitätsstädte, in denen junge Männer in überproportionaler Zahl vertreten waren. Vgl. hierzu Kim Siebenhüner, Zechen, Zücken, Lärmen. Studenten vor dem Freiburger Universitätsgericht, 1561–1577. Freiburg im Breisgau 1999, 77 f. 33 Baldesar Castiglione, Il libro del Cortegiano, hrsg. von Walter Barberis. Turin 1998, 321 f.
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zu haben, als er das Schicksal einer viel umworbenen Frau beschrieb, unter deren Fenster man „die ganze Nacht […] nichts als Serenaden [hörte, D.J], und den ganzen Tag machten die jungen Herrchen Fensterparaden zu Roß und Fuß.“34 Es erübrigt sich anzumerken, dass die lautstarken Liebeserklärungen unterhalb des Fensters auch auf empfindliche Weise die Ruhe der Nachbarn stören konnten, insbesondere des Nachts. Vielleicht lagen solche konkreten Erfahrungen der scharfen Kritik zugrunde, die Sebastian Brant in seinem vielgelesenen „Narrenschiff“ dem „nächtlichen Hofieren“ zuteil werden ließ. Mit Häme beschrieb Brant dort auch, welche missliche Antwort so manchem nicht erhörten Verehrer drohte: „Die durch die Nacht nicht ruhen können, Wenn sie nicht auf der Gasse rennen Und schlagen Laute vor der Thür, Ob nicht das Mädchen schau‘ herfür. Nichts Andres von der Straß‘ sie bringt, Bis man mit Kammerlaug‘ sie zwingt Oder sie grüßt mit einem Stein.“35
Dem Verehrer war mehr Glück beschieden, wenn seine Gefühle erwidert wurden. In diesem Fall konnte sie ihn sogar dazu ermutigen, zum Fenster hinaufzusteigen. Bezeichnenderweise existierte im Frühneuhochdeutschen das (heute weitgehend vergessene) Verb „zu fenstern“, mit dem nicht nur das Liebeswerben unter dem Fenster bezeichnet wurde, sondern auch das Küssen der Geliebten am Fenster oder gar der Einstieg hierdurch ins Haus.36 Dass die vielleicht berühmteste frühneuzeitliche Beschreibung einer solchen akrobatischen Liebesszene – nämlich in Shakespeares „Romeo und Julia“ – traditionell mit einem Balkon in Verbindung gebracht wird, widerlegt das bisher Gesagte keineswegs. Im Gegenteil: Der Usus, diese Szene an einem Balkon spielen zu lassen, geht nicht auf Shakespeare selbst zurück, der seinerseits im Text lediglich von einem ‚window‘ spricht. Aber selbst wenn ihm hier ein Balkon vor Augen stand, so ist jedenfalls unübersehbar, dass in anderen seiner Stücke ähnliche, wenngleich weniger bekannte Szenen des Liebeswerbens explizit an und unter Fenstern stattfinden.37 Ob es am Fenster auch zu sexuellen Handlungen kam (wie in der damaligen Literatur mitunter genüsslich beschrieben), lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.38 Allemal aber ermöglichte das Fenster erotische Kontakte zwischen gesellschaftlichen
34 Pietro Aretino, Die Gespräche des göttlichen Pietro Aretino. Frankfurt am Main 1999, 98. 35 Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Quedlinburg 1839, Kap. 62. Die neuhochdeutsche Übersetzung nach der Ausgabe von H. A. Junghans (Leipzig 1877). 36 Alfred Götze, Frühneuhochdeutsches Glossar. Berlin 1967, 75. 37 Vgl. etwa William Shakespeare, The Two Gentlemen of Verona, 4.2 sowie The Merchant of Venice, 2.6. New York 2008. 38 Eine solche Schilderung zum Beispiel bei Aretino, Gespräche (wie Anm. 34), 70 f.
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Gruppen, die sich nach dem Verständnis der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten unter keinen Umständen hätten ereignen dürfen. Dies gilt speziell für Kontakte zwischen Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen. Der streng lutherisch erzogene Ulmer Kaufmann Hans Ulrich Krafft berichtet uns in seinen Memoiren von seinem Besuch der Fronleichnamsprozession während eines Aufenthalts in Aix-en-Provence im Jahre 1578: Bei diesem Anlass sah er „am für Ibergehn ein Jungfraw (Irs Zaichen) vnder einem offnen fenster, thett gar lieblich vff der lautten spillen vnd so Zierlich darein singen, so Ich nitt bald wöder Zuuor noch hernach von einem frawen bild gehörtt hab.“39 Ob Krafft während seines Besuchs nähere Bekanntschaft mit der Dame machte, bleibt offen. In jedem Fall aber ist seine Beschreibung ein weiteres Indiz dafür, dass Frauen während bestimmter religiöser Prozessionen sehr wohl am Fenster standen und von dort aus sogar musikalische Begleitung beisteuerten. Aus der italienischen Stadt Modena ist uns für das Jahr 1602 ein noch anschaulicherer Fall einer solchen Annäherung über religiös-konfessionelle Grenzen hinweg überliefert. Dort hatte sich ein christlicher Bürger namens Ludovico Mirandola in die Jüdin Miriana Sanguinetti verliebt. Eine solche Beziehung war in damaliger Zeit weder mit den obrigkeitlichen Normen noch mit den bestehenden sozialen Konventionen zu vereinbaren – sie war daher auf Heimlichkeit angewiesen. Als die Beziehung schließlich doch der Inquisition zu Ohren kam, gestanden die beiden Liebenden, dass sie sich regelmäßig am Fenster von Miriams Haus getroffen hatten.40 Freilich konnten auch Liebesbeziehungen zwischen Angehörigen derselben Religion bzw. Konfession unerwünscht sein, insbesondere wenn die Liebenden sich dabei über Standesgrenzen hinwegsetzten. In der Praxis war es für die Angehörigen zwar möglich, solche Beziehungen zu erschweren, rechtlich verhindern ließen sie sich allerdings nicht. In der Tat war das von Eltern ebenso wie Obrigkeiten mit Abstand am meisten gefürchtete Szenario die spontane Heirat am Fenster.41 Es gilt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass im christlichen Europa über Jahrhunderte hinweg das Eingehen einer Ehe weder der Beglaubigung durch Zeugen noch einer kirchlichen Trauzeremonie bedurfte: Es genügte das gegenseitige Einverständnis der Ehepartner, selbst wenn dieses heimlich gegeben worden war. Erst im Gefolge der Reformation kam es zu einem Wandel in der (kirchen-)rechtlichen Auffassung und damit zu einer stärkeren Formalisierung der Eheschließung, zunächst unter Protestanten, dann – im Anschluss an das Konzil von Trient – auch unter Katholiken. Bis dahin freilich war die Eheschließung am Fenster – besiegelt per verba de presenti — keineswegs eine Seltenheit; ja oftmals war es sogar die einzige Möglichkeit für zwei Liebende, deren Familien einer Heirat nie zugestimmt hätten, den Ehebund zu schließen, zumal wenn
39 Reisen und Gefangenschaft Hans Ulrich Kraffts, hrsg. von K. D. Hassler. Stuttgart 1861, 337. 40 Katherine Aron-Beller, Jews on Trial. The Papal Inquisition in Modena, 1598–1638. Manchester 2011, 168–183. Ein ähnlicher Fall aus Venedig (1589): ebd., 182. 41 Vgl. hierzu auch den Artikel von Cecilia Cristellon in diesem Band.
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die Angehörigen versuchten, die beiden Liebenden räumlich voneinander abzuschirmen.42
5 Das prekäre Fenster: Der Sonderfall Prostitution Die Brisanz der weiblichen Präsenz am Fenster wurde in besonderem Maße dadurch verschärft, dass es sich beim Fenster zugleich um jenen Teil des Hauses handelte, an dem sich Prostituierte zu zeigen pflegten. Bereits in mittelalterlichen Sprichwörtern gelten Frauen am Fenster entweder als Verliebte oder aber als Prostituierte, und vormoderne Bildquellen weisen in dieselbe Richtung.43 Dieses Phänomen lässt sich für ganz Europa nachweisen, aber es gilt in besonderem Maße für jene beiden Städte, die damals als Hochburgen der Prostitution in Europa galten: Rom und Venedig. Diese zweifelhafte Reputation war nicht unbegründet. In Rom war es die überproportionale Anzahl von (vorgeblich) zölibatär lebenden Männern, die dieses Gewerbe beförderte, wohingegen in Venedig – über Jahrhunderte hinweg als Handelszentrum und Umschlagplatz von unangefochtener Bedeutung – die Nachfrage nach käuflicher Liebe von durchreisenden Kauf- und Seeleuten beflügelt wurde. Das Ergebnis war in beiden Städten dasselbe: Die Bedeutung dieses Gewerbes war beim Gang durch die Straßen nicht zu übersehen, und gerade Reiseberichte aus jener Zeit vermitteln uns ein besonders anschauliches Bild davon. So machte sich Michel de Montaigne bei seiner Italienreise in den 1580er Jahren seine Gedanken zu der beträchtlichen Zahl von römischen und venezianischen Prostituieren, die sich „ans Fenster stellen, [um, D. J.] ihre Reize feil zu bieten.“44 Seine Eindrücke liegen, was Rom betrifft, auf einer Linie mit der Beschreibung, die Aretino einige Jahrzehnte zuvor in seinen berüchtigten „Ragionamenti“ gegeben hatte. Gewiss, diese von Aretino in derber Prosa verfassten ‚Hurengespräche‘ waren fiktiv, dennoch kommen sie als historische Quelle sehr wohl in Frage. In der Tat haben neuere Studien gezeigt, dass es sich bei Aretinos Beschreibungen im Großen und Ganzen um eine realitätsnahe Darstellung des Sexgewerbes im frühneuzeitlichen Rom handelt.45 Die auffallende Häufigkeit, mit der Aretino Fenster als Schauplätze der Anbahnung erwähnt,
42 Seidel Menchi, Cause matrimoniali (wie Anm. 28), insbes. 670–672. 43 Thesaurus proverbiorum medii aevi, hg. vom Kuratorium Singer, 13 Bde. Berlin 1995–2002, 214; für die Renaissance: Diane Wolfthal, The Woman in the Window. Licit and Illicit Sexual Desire in Renaissance Italy, in: Allison Levy (Hrsg.), Sex Acts in Early Modern Italy. Practice, Performance, Perversion, Punishment. Farnham 2010, 57–75. 44 Michel de Montaigne, Reisen durch die Schweiz, Deutschland und Italien in den Jahren 1580 und 1581. Halle 1777, 154. 45 Thomas V. Cohen/Elizabeth S. Cohen, Words and Deeds in Renaissance Rome. Trials before the Papal Magistrates. Toronto 1993, insbes. Kap. 2.
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ist jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen. In einem der Dialoge gibt die Protagonistin Nanna, die sich – in Abgrenzung von ‚gewöhnlichen‘ Prostituierten – als Kurtisane stilisiert, einer jungen Berufseinsteigerin mit ähnlichen Ambitionen den Rat, das Auftreten am Fenster besonders kunstvoll in Szene zu setzen: Wer es in diesem Gewerbe weit bringen wolle, solle am Fenster singen und sich dort mitunter auch beim Lesen der Werke von Petrarca, Boccaccio und Ariost zeigen.46 Nanna ihrerseits hatte ihre Karriere als Kurtisane damit begonnen, dass sie sich eine elegant eingerichtete Wohnung gemietet hatte, in der sie begann, „hinter einem Fensterladen [zu stehen, D. J.], den ich nur ab und zu mal ein bißchen in die Höhe hob und gleich wieder niederließ, nachdem ich kaum das halbe Gesicht herausgestreckt hatte.“ Schon am nächsten Tage erschienen Männer, die „gleich spatlahmen Pferden, vor unserem Hause auf und ab promenierten und sich beklagten, daß ich mich nicht nach Herzenslust von ihnen begaffen ließ.“ Als schließlich „ein recht voller Strom von Kavalieren am Hause vorbeizog, mußte ich ans offene Fenster treten. Mein Anblick wirkte auf sie wie der Stern von Bethlehem auf die Weisen aus dem Morgenland. Sie wurden alle ganz fröhlich, legten die Zügel auf die Hälse ihrer Pferde und sahen mich so voll Genuß an.“47 Trotz aller Ausschmückung decken sich Aretinos Ausführungen auch hier im Kern mit den Beschreibungen frühneuzeitlicher Rom-Reisender, die uns unter anderem überliefern, dass beim römischen Karneval die vornehmsten Herren der Stadt den Brauch pflegten, an den Fenstern angesehener Kurtisanen vorbeizureiten und ihnen dabei Handküsse zuzuwerfen.48 Gewiss, es gab auch andere Örtlichkeiten, an denen Prostituierte und Kurtisanen um die Aufmerksamkeit von Freiern buhlten – darunter beispielsweise Hauseingänge. Aber Fenster blieben gleichwohl ein besonders häufiger Schauplatz für die Anbahnung, erlaubten sie Prostituierten doch, ihre körperlichen Reize auf gut sichtbare und raffinierte Weise zur Schau zu stellen und dabei gleichzeitig eine räumliche Distanz, mithin auch einen Sicherheitsabstand, zu den Freiern zu wahren. Wie wir gesehen haben, prägte dieses raffinierte Spiel mit dem Auftritt am Fenster – und dem Verbergen (also dem, was man in Italien als ritiratezza bezeichnete) – jedoch nicht nur das Geschäft mit der käuflichen Liebe, sondern auch jene Kontakte und Interaktionen zwischen den Geschlechtern, bei denen es um emotionale Liebe oder jedenfalls deren Bekundung ging.49 Allemal waren die Techniken und technischen Hilfsmittel, die zum Einsatz kamen, in beiden Situation dieselben und die entsprechenden Begrifflichkeiten verweisen auf semantischer Ebene bis heute auf diese erotische Aufladung des Fensters, ja sie gehen teilweise sogar unmittelbar darauf
46 Aretino, Gespräche (wie Anm. 34), 411. 47 Ebd., 150–152. 48 Mączak, Travel (wie Anm. 16), 248. 49 Zur ritiratezza vgl. Alexander Cowan, Seeing is Believing. Urban Gossip and the Balcony in Early Modern Venice, in: Gender & Hist. 23, 2011, 721–738, hier 727.
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zurück: So leitet sich etwa der Begriff ‚Jalousie‘, der sich für jene flexibel handhabbaren Sichtblenden eingebürgerte, mittels derer sich begehrliche Blicke von außen abwehren lassen, nicht von ungefähr vom französischen Wort jalousie (Eifersucht) ab. Ganz in diesem Sinne merkte im 18. Jahrhundert Krünitz – der den Prototyp der Jalousie übrigens in den hölzernen Fenstergittern (mašrabīya) der arabischen Welt sah – an: „Man nennet dergleichen Gitter oder vergitterte Fenster, im Fr. ‚Jalousie‘, d. i. Eifersuchtsfenster.“50 Ob den meisten Zeitgenossen tatsächlich zu allererst diese Assoziation mit dem Orient in den Sinn kam, sei dahingestellt. Die zu jener Zeit im Englischen sich einbürgernde Bezeichnung für aufziehbare und in verschiedene Durchlässigkeitsgrade einstellbare Sichtblenden (Venetian Blinds) stellt jedenfalls einen eindeutigen Bezug zu jener Stadt, Venedig, her, in der das erotische Auftreten am Fenster in besonderer Weise zur Perfektion gebracht wurde. Es ist bezeichnend, dass selbst einfache Fenstervorhänge – wie sie an Außenfenstern offenbar zuerst im Italien der Renaissance an Popularität gewannen – ähnliche Assoziationen wecken und damit auch entsprechenden Verdächtigungen schüren konnten: Im puritanischen Neuengland setzten sich Fenstervorhänge nicht vor dem 18. Jahrhundert durch, und noch im Jahre 1782 veranlasste der Anblick eines im Nachbarhaus bei Tage zugezogenen Vorhangs einen Kolonisten dazu, von ‚Hurenvorhängen‘ (whore curtains) zu sprechen.51 Dies führt uns schließlich auch zu den Kehrseiten der erotischen Aufladung des Fensters: In Konflikten zwischen den Geschlechtern, speziell aber zwischen Freiern und Prostituierten, konnte das Fenster leicht zur bevorzugten Zielscheibe werden – und dies ist ganz wörtlich zu verstehen. Im deutschsprachigen Raum war das Zerschlagen der Fenster von Bordellen – mitunter im Verein mit der Zerstörung von Tür und Ofen – als „Form ritualisierter Konfliktausübung“ bereits im Spätmittelalter etabliert.52 Ähnlich verhielt es sich in Italien: Aretino lässt in seinen „Ragionamenti“ die erfahrene Kurtisane Nanna im Gespräch mit einer Kollegin über herrische Freier klagen und über „die Pechtöpfe, die sie dir unter die Fenster stellen und anzünden oder zerschmeißen.“53 Solche literarischen Schilderungen waren eng an der Realität orientiert, wie ein Blick in römische Prozessakten aus dieser Zeit deutlich vor Augen führt. So sagt 1559 eine römische Kurtisane namens Camilla vor den Behörden in ganz ähnlicher Weise gegen ihren ehemaligen Freier Paolo di Grassi aus: Nach einem Zerwürfnis zwischen den beiden sei Paolo gemeinsam mit einigen Kumpanen mitten
50 Krünitz, Fenster (wie Anm. 5), 588. 51 A. Roger Ekirch, At Day’s Close. Night in Times Past. New York 2006, 150. Zum Aufkommen von Vorhängen im Italien der Renaissance vgl. Schiaparelli, La casa (wie Anm. 8), 129–133. 52 Ulrich Schütte, Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der frühen Neuzeit, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. Sigmaringen 1997, 305–324, hier 315; Lotte van de Pol, The Burgher and the Whore. Prostitution in Early Modern Amsterdam. Oxford 2011, 59, 66, 198. 53 Aretino, Gespräche (wie Anm. 34), 411, ähnlich auch 257.
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in der Nacht an ihrem Haus erschienen, wo er die Fensterläden abgerissen und ein ehrenrühriges Pasquill an ihrer Tür angebracht habe.54 Die Annahme liegt nahe, dass es sich bei solchen Gewaltakten um eine bewusste Umkehrung, ja Pervertierung, ritualisierten Liebeswerbens handelt. Es ist zudem nicht abwegig, solche Gewaltakte mit der Tatsache in Verbindung zu bringen, dass Fenster und Tür die beiden sichtbarsten Öffnungen des Hauses bilden – ein Zusammenhang, der besonders dort zutage tritt, wo diese Gewaltakte mit dem Eindringen in das Haus, gleichsam einer Penetration des Hauses, einhergingen. In der Tat war die anthropomorphe Auffassung des Hauses, aber auch die Analogie zwischen dem Hauskörper und dem Körper seiner Bewohner, in der damaligen Zeit weit verbreitet.55 Es fügt sich in dieses Bild, dass das Zerschlagen von Fenster und Tür vielerorts auch ein ritualisierter Teil des Charivari war – also jenes Rügebrauchs, mit dem insbesondere Hausväter, deren häusliches Durchsetzungsvermögen oder Virilität in Zweifel stand, verspottet wurden.56
6 Ausblick: Fenster und Haus In solchen Zusammenhängen wird besonders deutlich, dass das Fenster nicht einfach ein beliebiger Teil des Hauses war, sondern vielmehr als pars pro toto des Hauses fungierte. Dies hatte nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Fenster, soweit sie verglast waren, ein beträchtliches Statussymbol waren. Glas hatte sich als Fensterverschluss in der Profanarchitektur Mittel- und Nordeuropas erst seit dem Spätmittelalter allmählich durchgesetzt und blieb durch die ganze Frühe Neuzeit hindurch eine kostspielige Investition. In Südeuropa und im Mittelmeerraum wich man – auch da die klimatischen Bedingungen dies in solchen Breiten eher zuließen – noch bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht selten auf andere Materialien aus, die sich über Jahrhunderte hinweg bewährt hatten, so etwa aufgespanntes Pergament, Tierblasen und gewachste Leinentücher. Unzweifelhaft ist, dass die Wahl des Materials stets auch etwas über den Wohlstand der Bewohner aussagte. Aber ganz unabhängig von der Frage des verwendeten Materials blieben Fenster eben auch Statussymbole in einem anderen Sinne, waren sie doch auf enge Weise mit der Ehre des Hauses verknüpft: Ein als unschicklich betrachtetes Auftreten am Fenster, ja selbst eine falsche oder zweideutige Geste am
54 Cohen/Cohen, Words and Deeds (wie Anm. 44), 99. Weitere Fälle ebd., 90. 55 Daniel Jütte, Living Stones (wie Anm. 3). Vgl. auch Cohen/Cohen, Words and Deeds (wie Anm. 45), 100; vgl. auch dies., Open and Shut. The Social Meanings of the Cinquecento Roman House, in: Studies in the Decorative Arts 9, 2001/2002, 61–84. 56 Daniel Fabre, Families. Privacy versus Custom, in: Ariès/Duby (Hrsg.), History of Private Life (wie Anm. 23), Bd. 3, 531–569, hier 560.
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Fenster konnten die Ehre des ‚Hauses‘ und damit der ‚Familie‘ nachhaltig in Frage stellen – man bedenke, dass beide Begriffe in der damaligen Zeit oftmals synonym verwendet wurden (vgl. etwa ital. casa). Entsprechend konnte Gewalt gegen Fenster als Angriff gegen die Ehre von Haus und Bewohnern verstanden werden. Es ist kein Zufall, dass die mutwillige Beschädigung von Fenstern (wie auch von Türen, auf die sich manches des hier Gesagten ausdehnen ließe)57 in der damaligen Rechtsliteratur explizit als schweres Delikt aufgefasst wurde, das rein juristisch auf einer Ebene mit Vergehen wie Mord, Ketzerei und Hochverrat stand und infolgedessen in die Zuständigkeit der Hochgerichtsbarkeit fiel.58 Dass dieses eng geknüpfte symbolische wie auch juristische Band zwischen Fenster und Haus heute gekappt ist, mag man vorderhand als ein Indiz für eine Rationalisierung des Verhältnisses zwischen Mensch und seiner gebauten Umwelt auffassen. In der Tat erscheinen Fenster uns heute primär als funktionale Gebrauchsobjekte, die wir im Alltag routiniert benutzen, ohne ihnen dabei übermäßige Beachtung zu schenken. Ein solches funktionales Verständnis kann uns aber – bildlich gesprochen – leicht die Sicht dafür verstellen, dass Fenster in ihrer heutigen Erscheinungsform das Ergebnis eines langen (und keineswegs universalen) historischen Entwicklungsprozesses sind, ja dass ihre Geschichte dem Historiker Einsichten in die spezifische Ausformung des Verhältnisses von Haus und städtischem Raum, wie überhaupt der Kategorien von Innen und Außen, zu eröffnen vermag.
57 Daniel Jütte, The Strait Gate. Thresholds and Power in Western History. New Haven 2015. 58 Benedikt Carpzov, Practica nova Saxonica rerum criminalium. Wittenberg 1635, III.109.
James R. Palmitessa
Das Bürgerhaus zwischen nachbarschaftlicher Interaktion und städtischer Verwaltung: Prag im 16. Jahrhundert Ein Besucher der Stadt Prag näherte sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts den Außenbezirken über eine von flachen Hügeln eingefasste Ebene, durch welche die Moldau von Norden nach Süden fließt.1 Wo die Moldau in einer kurzen Biegung ostwärts schwenkt, um sich dann wieder Richtung Norden zur Elbe hin ihr Bett zu bahnen, vermittelte die Stadt das Bild einer dichten baulichen Ansammlung unterschiedlichster Häuser beiderseits des Flusslaufes, über den eine steinerne Brücke führte. Links erhob sich der Veitsdom, am rechten Ufer erfasste die Teynkirche den Blick, beide Türme überragten mehrere Dutzend andere Kirchen und Klöster. Je nachdem, aus welcher Richtung man Prag erreichte, kam man entweder durch tschechisch geprägte Nachbarschaften, wie diejenige der Fischer und Bootsbesitzer in Podskalí, die der Gärtner am Poříčská-Tor, oder man begegnete deutsch sprechenden Adligen oder aber Händlern aus der wachsenden italienischen Gemeinde. Die soziale und kulturelle Vielfalt Prags war charakteristisch für die Struktur frühneuzeitlicher Städte in Europa und spiegelte sich wie überall in der stadträumlichen Gliederung in Teilstädte, Quartiere und Viertel wider. Fragt man nach dem Ort der sozialen Interaktionen und Alltagspraktiken, in denen sich soziale und kulturelle Heterogenität manifestierte und entfaltete, rücken die Nachbarschaften als häusliche Ensembles und kleinformatige Nahräume städtischen Lebens in den Blick. Am Beispiel Prags zwischen dem 15. und dem frühen 17. Jahrhundert soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern dabei die Bürgerhäuser als Bühnen nachbarschaftlicher Interaktion fungierten und wie sie in dieser Funktion auf den städtischen Strukturwandel reagierten. Die Ebene der Nachbarschaft bietet die Möglichkeit, die wechselseitige Durchdringung städtisch-administrativer und religiös-kultischer Rahmenbedingungen mit den sozialen Alltagspraktiken der Stadtbewohner im häuslichen Raum zu beleuchten. Prag stellt für das lange 16. Jahrhundert ein besonderes Untersuchungsfeld dar, da die Stadt mit der hussitischen Revolution im 15. Jahrhundert und der Hofnahme der Habsburger im 16. Jahrhundert baulich, sozialstrukturell und administrativ zwei tiefgreifende Umwälzungen erfuhr, die auch deutlichen Einfluss auf die häuslichen Ensembles und die in ihnen verorteten Interaktionen mit der sozialen Umwelt hatten.
1 Ich danke Inken Schmidt-Voges, Joachim Eibach und Dietmar Leibfried für Kritik und Änderungsvorschläge zu früheren Fassungen.
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Die Rolle der Nachbarschaft und ihrer Häuser spielt in der Forschung zur frühneuzeitlichen Stadt eine eher untergeordnete Rolle, wenngleich die binnendifferenzierende Organisation der Stadt durchaus ein wichtiges Forschungsfeld darstellt. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei den Vierteln, den Distrikten und den Wohnquartieren zuteil, die im Hinblick auf ihre formalen Funktionen in der städtischen Verwaltung und Verteidigung beleuchtet wurden. Auch die Integrationsfunktionen von Kirchspielen und Berufskorporationen wie Innungen und Zünften wurden vielschichtig untersucht. Ein besonderes Augenmerk galt hierbei immer wieder jenen berufsgruppenspezifischen und religiösen Ansiedlungen, die aufgrund eines spezifischen Rechtsstatus mit der Zeit als distinkte Viertel (z. B. Judenviertel) begriffen wurden oder als Bezirke kirchlicher Immunitäten Geltung erlangten (z. B. Domsfreiheit).2 Während diese Organisationsebenen der Binnengliederung aufgrund ihrer im städtischen Rechtsgefüge festgelegten administrativen Funktionen klar voneinander abgegrenzt waren, lassen sie sich im alltagsweltlichen Zusammenhang nicht so klar von Nachbarschaften unterscheiden. Diese waren nicht rechtlich verfasst, sondern wurden verstanden als soziale Gruppe jener, die nahe beieinander wohnten und aufgrund dieser Wohnsituation in unterschiedlichster Weise miteinander interagierten und in Beziehungen standen. Die Frage nach dem Einfluss des städtischen Strukturwandels auf das Bürgerhaus als Raum sozialer Interaktion lässt sich aufgrund der Quellenlage vor allem im Hinblick auf die baulichen Strukturen und die materielle Kultur – also die Raumaufteilung und -nutzung innerhalb der Prager Bürgerhäuser – herausarbeiten. Quartierbücher, Nachlassinventare und Gerichtsakten ermöglichen Einblicke in die Veränderungen der einzelnen Quartiere in Prag, den Wandel der materiellen Ausstattung der Häuser und der Raumnutzung; Gerichtsakten dokumentieren Nachbarschaftskonflikte über bauliche und räumliche Grenzen sowie Grenzüberschreitungen, die ihrerseits Hinweise zur gegenseitigen Durchdringung von nachbarschaftlicher Interaktion und häuslichem Raum bieten. Stärker qualitativ ausgerichtete Quellenbestände wie Selbstzeugnisse oder Briefe sind für diese Zeit nicht vorhanden oder ausgewertet worden, jedoch bieten auch literarische Quellen Hinweise auf die sozialen Interaktionsformen in Prager Bürgerhäusern.3
2 Christopher R. Friedrichs, The Early Modern City 1450–1750. London 1995, 269 f.; Robert Jütte, Das Stadtviertel als Problem und Gegenstand der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung, in: BlldtLG 127, 1991, 235–269; Alfred Haverkamp, The Jewish Quarter in German Towns During the Late Middle Ages, in: R. Po-chia Hsia/Hartmut Lehmann (Hrsg.), In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Cambridge 1995, 13–28. 3 Für Quellensammlungen und Untersuchungen notarieller Quellen des frühneuzeitlichen Prag (wie etwa Testamente, Nachlässe und Baustreitigkeiten) vgl. Jiří Pešek, Pražské knihy kšaftů a inventářů. Příspěvek k jejich struktuře a vývoji v době předbělohorské, in: Pražský sborník historický 15, 1982, 63–92; ders., Měšťanská vzdělanost a kultura v předbělohorských Čechách 1547–1620. Prag 1993; Miloš Kratochvíl, Šestipanské úřady na Starém a Novém městě pražském v letech 1547–1628, in: Sborník
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Der quellenbedingte Fokus auf die Sachkultur bietet zugleich eine neue Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Stadt, Nachbarschaft und Haus, der bisher im Wesentlichen aus der Perspektive der weltlichen wie kirchlichen Prägung im Kontext der Sozialdisziplinierung betrachtet worden ist.4 Um den Einfluss der politischen, religiösen und kulturellen Umbrüche in Prag auf die soziale Interaktion in den häuslichen Ensembles der Nachbarschaften deutlich machen zu können, wird im Folgenden zunächst ein makrostruktureller Blick auf die räumliche Gliederung der Prager Städte geworfen werden. Die Gestaltung der städtischen Räume strukturierte auch die Möglichkeiten des sozialen Austauschs in den Wohnvierteln, Straßen und häuslichen Ensembles. Sie prägte aber auch deren administrative und kirchliche Organisation und Durchdringung der nachbarschaftlichen Gefüge (1). Vor diesem Hintergrund lassen sich die massiven Veränderungen der Nachbarschaften aufzeigen, die zwei stadthistorisch prägende Ereignisse bewirkten: zum einen die hussitische Revolution im 15. Jahrhundert (2) sowie zum anderen die beginnende Präsenz der Habsburger im 16. Jahrhundert (3). Auf der Grundlage dieser übergeordneten Einflussfaktoren können auf der Mikroebene eine Rekonstruktion der materiellen und räumlichen Eigenheiten des Prager Bürgerhauses um 1600 sowie ein Blick auf soziale Interaktionsformen zwischen Geselligkeit und Konflikt anschließen (4).5
1 Haus und Nachbarschaft in der räumlichen und administrativen Gliederung Die räumliche, soziale und rechtliche Heterogenität Prags im 16. Jahrhundert wurzelte in der mittelalterlichen Entstehung der Siedlung und erhielt ihr entscheidendes Gepräge durch das umfassende Stadtentwicklungsprogramm Karls IV. Das Prag der Frühen Neuzeit bestand aus drei bzw. ab 1592 vier rechtlich und politisch unabhän-
příspěvků k dějinám hlavního města Prahy 6, 1930, 51–154; Miroslava Urbanová, Šestipanské úrady na Starém a Novém městě pražském v letech 1547–1648. Diplomová práce, Filozofické fakulty Univerzity Karlovy, Katedra pomocných věd historických a archivních studia. Prag 1979. Auch literarische Quellen liefern eine Vielzahl von Perspektiven, die jedoch noch nicht im Hinblick auf Haus und Nachbarschaft ausgewertet wurden. Als Beispiel vgl. Anm. 15 und 38. 4 R. Po-chia Hsia, Social Discipline in the Reformation. Central Europe, 1550–1750. London 1989; Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 1999; Gerhard Jaritz (Hrsg.), Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 1999. 5 Vgl. Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2001, 621–664; Gerhard Jaritz (Hrsg.), Die Strasse. Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im späten Mittelalter. Wien 2001.
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gigen Städten, die gleichwohl sozial, wirtschaftlich und räumlich mannigfach miteinander verbunden waren.6 Der ‚Hradschin‘, der als letzter Siedlungsbereich erst 1592 das Stadtrecht erhielt, war als königliche Residenz und religiöses Zentrum der Kernbereich der Macht und umfasste die Metropolitankirche, den St. Veitsdom und die zentralen Ämter der städtischen und kirchlichen Verwaltung. Die Kleinseite, an den Hängen unterhalb des ‚Hradschin‘ gelegen, entwickelte sich im Mittelalter zum Marktplatz der Bewohner des Schlossbergs. Mit der Gründung der Altstadt auf dem gegenüberliegenden Ufer der Moldau im 13. Jahrhundert und der Gründung der Neustadt im Jahre 1346 durch Karl IV. erweiterte sich Prag zur Drei(fach)-Stadt (trojměsto).7 Bei der Planung und Gestaltung der Neustadt wurde besonderes Augenmerk auf die soziale und wirtschaftliche Integration der einzelnen Teilstädte gelegt, um eine Konkurrenz zu vermeiden. Die nun innerstädtischen Befestigungsanlagen wurden abgerissen und der Neustädter Pferdemarkt in engem räumlichem Bezug zum HavelMarkt in der Altstadt angelegt, so dass in diesem erweiterten städtischen Raum den sozialen Integrationsfaktoren auf der Ebene der Nachbarschaft verstärkte Bedeutung zukam.8 Eine wichtige Funktion übernahmen in diesem Zusammenhang die ebenfalls von Karl IV. ins Werk gesetzten Neugründung und der (Wieder-)Aufbau von kirchlichen Institutionen. Zwei neue Pfarrkirchen, St. Stephan sowie St. Heinrich und Kunigunde, sollten die neuen Sprengel der Neustadt betreuen. Daneben übernahmen noch acht weitere Klöster und Abteien in der Neustadt Aufgaben im administrativen und seelsorgerischen Bereich. Abgesehen von der herrscherlichen Repräsentationsfunktion von Karls Bauprogramm wirkten die kirchlichen Einrichtungen unmittelbar auf der Ebene der Nachbarschaften in vielfältiger Weise. Zum einen waren die Kleriker eng in die untere Ebene der städtischen Verwaltung eingebunden und übernahmen Aufgaben in der Steuererhebung, Matrikelführung und im Gerichtswesen – nicht zuletzt aufgrund ihrer Literalität und vielfach vorhandenen juristischen Kenntnisse.9 Zum anderen spielten diese Kirchen für die Formierung der neu entstandenen Wohnzusammenhänge im Hinblick auf die seelsorgerischen Bereiche, das Armenwesen, das Bildungswesen und nicht zuletzt die soziale Kohäsion stiftenden religiösen Praktiken eine wichtige Rolle. Wie in anderen mitteleuropäischen Städten zeigte sich die enge
6 Zur räumlichen Gliederung anderer Städte Europas vgl. David Nicholas, Urban Europe 1100–1700. Houndhills 1999, 62–91. 7 Jan Vlk, Dějiny Prahy I. Prag 1997, 52–200; Paul Crossley/Zoë Opačić, Prague as a New Capital, in: Barbara Drake Boehm/Jiří Fajt (Hrsg.), Prague. The Crown of Bohemia 1347–1437. New York 2005, 59–74. 8 Josef Janáček, Hranice mezi Pražaný, in: Kniha o Praze 8, 1965, 247–250. 9 Eva Doležalová/Zdenka Hledíková, Die Erforschung der Entstehung und Ausprägung des Pfarreinetzes bis zum Beginn der hussitischen Revolution in der tschechischen Geschichtswissenschaft, in: Nathalie Kruppa (Hrsg.), Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich. Göttingen 2008, 83–99, hier 90–97.
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Verflechtung der verschiedenen Ebenen sozialer Organisation in der intensiven religiösen Praxis der Gilden und Zünfte.10 Religiöse Praktiken stellten zugleich eine Form symbolischer politischer Kommunikation dar, in der sich Menschen auf nachbarschaftlicher Ebene zu Protestgruppen zusammenfinden konnten.11 So bewegte sich am 5. Mai 1419 eine von dem ‚Armenprediger‘ Jan Želivský angeführte Prozession, die sich in einem Quartier der Prager Neustadt formiert hatte, von der Klosterkirche Maria Schnee zum Neustädter Rathaus. Der darauffolgende erste Prager Fenstersturz löste die hussitische Revolution aus, die die politische, soziale und religiöse Ordnung Prags in ihren Grundfesten erschütterte und zu einer grundlegenden Neuordnung auf verschiedenen Ebenen führte.
2 Die Folgen der hussitischen Revolution für Nachbarschaft und Haus Kurze Zeit nach dem Fenstersturz entluden sich die sozialen und politischen Spannungen in Plünderungen und Zerstörung zahlreicher Kirchen, Klöster und Pfarrhäuser. Im Ergebnis verringerte sich die Zahl der Kirchengemeinden und Pfarreien von 44 auf 32. Ein erheblicher Teil der baulichen Substanz auch säkularer Gebäude wurde zerstört, wie auch ganze Kirchengemeinden und Nachbarschaften ihre Mitglieder und Bewohner durch die Verfolgungen verloren.12 Die tiefgreifende konfessionelle Spaltung der böhmischen Gesellschaft in der Folge der Revolution führte zur Auflösung der einheitlichen Verwaltungsorganisation, die eng mit den Pfarreien verknüpft gewesen war. Mit der Vertreibung der Mehrzahl der altkirchlichen Geistlichen und dem Überlaufen des Erzbischofs zum hussitischen Lager wurde die Verwaltung von Gemeindepfarreien durch Personen aus dem Laienstand zur gängigen Praxis (auf tschechisch záduší genannt).13 Ähnlich,
10 Jiří Mikulec, Barokní náboženská bratrstva v Čechách. Prag 2000; Václav Vladivoj Tomek, Dějepis města Prahy, Bd. 8. Prag 1891. 11 Karl Bosl, Böhmen als Paradefeld ständischer Repräsentation vom 14. bis 17. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Aktuelle Forschungsprobleme um die Erste Tschechoslowakische Republik. München 1969, 9–21; Susanne Rau/Gerd Schwerhof (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 1995. 12 Vgl. die Beiträge in Husitský Tábor 8, 1995; James Palmitessa, Wer besaß die Kirchen und Klöster in Prag vor dem Dreißigjährigen Krieg?, in: Joachim Bahlcke/Karen Lambrecht/Hans-Christian Maner (Hrsg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Leipzig 2006, 431–458, hier 441 f. 13 Tomek, Dějepis (wie Anm. 10), Bd. 3, 25–29; Palmitessa, Kirchen (wie Anm. 12), 439–441; Pavel Kůrka, Kostel starožitný v smrdutých místech a blatech ležící. Kostel farnost a záduší svatého Valentina na Starém Městě pražském v raném novověku. Prag 2002, 19–22.
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wie es Vanessa Harding für das frühneuzeitliche London dargelegt hat, behielten die Sprengel der Pfarrkirchen durch die institutionellen Aufgaben zwar eine wichtige Integrationsfunktion. Gleichzeitig intensivierten sich die auf die Wohnsituation bezogenen nachbarschaftlichen Beziehungsgeflechte, in denen man nun trotz des konfessionellen Dissenses Möglichkeiten sozialer Interaktion finden musste.14 Die Fragilität solcher notwendigen Arrangements zeigte sich – wie auch in den folgenden Jahrhunderten häufig in anderen bikonfessionellen Städten Mitteleuropas – in der öffentlichen Religionspraxis. So kam es im Jahr 1480 in den engen Gassen der Altstadt zu einem Zusammenstoß einer katholischen mit einer utraquistischen Fronleichnamsprozession, der nur knapp der gewalttätigen Eskalation entging.15 Die Rolle nachbarschaftlichen und häuslichen Zusammenlebens verschiedener Kulturen unter dem Dach des christlichen Glaubens prägte das Werk der „Praga mistica“ des utraquistischen Geistlichen Jan Bechyňka, das Anfang des 16. Jahrhunderts erschien. Hierin beschreibt er Prag als Beispiel für das nachbarschaftliche Zusammenleben zweier Konfessionen und Kulturen (Tschechen und Deutsche) unter dem Dach des christlichen Glaubens. Alt- und Neustadt bilden auf der Basis ihrer nachbarschaftlichen Strukturen ein Gemeinwesen, das er jedoch durch das neuerliche Erstarken des katholischen Klosterlebens und gegenreformatorischer Aktivitäten in Gefahr sieht.16 Sehr weitreichende Folgen für die einzelnen Haushalte und Nachbarschaften hatte die administrative Neuordnung. Die öffentliche Ordnung war im Zuge der hussitischen Auseinandersetzungen exklusiv in die Hände der jeweiligen Stadtmagistrate gelegt worden und umfasste in dieser Zeit der politischen Destabilisierung in erster Linie die Wahrung der öffentlichen Sicherheit. So hatten nun nächtliche Patrouillen von Stadtdienern die Aufgabe, Aufruhr und Unruhe zu unterbinden. In einer von König Georg von Podebrad unterstützten Übereinkunft zwischen allen drei Städten von 1499 wurde es zudem jedem Haushaltsvorstand, den Hausangehörigen und sogar den Gästen auferlegt, darauf zu achten, dass keine streitsuchenden, liederlichen oder arbeitslosen Subjekte in der Nachbarschaft geduldet und diese gegebenenfalls gemeldet wurden. 1506 wurde zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit eine neue, säkulare Verwaltungsstruktur entworfen, die in der Alt- und der Neustadt bis 1523 umgesetzt wurde. Die Stadtgebiete wurden in Bezirke, Zehntel, Fünfzigstel und Hundertstel untergliedert und jeweils einem ‚Hejtmann‘ unterstellt. Jeder Bedienstete eines Zehntels sollte alle Haushaltsvorstände, deren Ehefrauen und Haushaltsangehörigen kennen. Im Falle von Streitigkeiten oder Konflikten hatte der ‚Hejtmann‘
14 Vanessa Harding, The Dead and the Living in Paris and London, 1500–1670. Cambridge 2002. 15 František Šmahel, Pražské povstání 1483, in: Pražský sborník historický 19, 1983, 35–102, hier 48; František Palacký, Dějiny národnu českého. V. Prag 1939, 129. 16 Jan Bechyňka, Praga mistica, in: Amedeo Molnár (Hrsg.), Praga Mystica. Z dějiny české reformace. Acta Reformationem Bohemicam Illustrantia III. Prag 1984, 11–15.
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seinen Bürgermeister um Weisungen zu ersuchen.17 Dies setzte weitreichenden Zugang zu Informationen über das häusliche Leben der Zehntelbewohner voraus. Zugang zu den Häusern hatten die ‚Hejtmänner‘ von Amts wegen, da eine weitere Aufgabe in der Brandschutzaufsicht bestand. Die Verfügungen von 1523 machten es dem ‚Hejtmann‘ und seinen Untergebenen zur Aufgabe, vier Mal pro Jahr die Schornsteine zu inspizieren und die ausreichende Ausstattung ausgewählter Häuser mit Feuerschutzinstrumenten wie Haken und Äxte zu überprüfen.18 Da die Kontrolle über die Kirchen(verwaltung) im Zuge der hussitischen Revolution von den adligen Patronen und Bischöfen auf die jeweilige Kirchengemeinde überging und gleichzeitig die städtische Verwaltung auf kleinere, lokal organisierte Einheiten der Hundertstel umgestellt wurde, veränderten sich die Rahmenbedingungen für nachbarschaftliche Bindungen, die nun weitaus intensiver in Bereiche der öffentlichen Verwaltung eingebunden waren und somit neue Spielräume für soziale Kontrolle boten.
3 Der Einfluss des Habsburger Hofs auf das Leben in den Nachbarschaften Mit der Wahl Ferdinands von Habsburg zum böhmischen König 1526 setzte ein ähnlich grundlegender, wenn auch nicht so abrupter Umbruch im kommunalen Leben Prags ein – und zwar in religiös-konfessioneller, machtpolitischer, sozialstruktureller wie alltagskultureller Hinsicht. Mit der dauerhaften Residenz seines Sohns Erzherzog Ferdinand von Tirol als Statthalter nahmen die Konflikte zwischen Herrscher und Stadtmagistraten zu, so dass Ferdinand 1547, nach der Weigerung der Städte, ihn mit Truppen im Schmalkaldischen Krieg zu unterstützen, die Magistrate, Verwaltungen und Gerichte unter die Aufsicht eines königlichen ‚Hejtmanns‘ und Anwalts stellte. Ferdinand initiierte auch einige wichtige Schritte zur Reform des Katholizismus, was einen neuerlichen Eingriff in die bis dato konfessionell geprägte nachbarschaftliche Interaktion bedeutete. Allein der Neubau des jesuitischen Kollegs auf einem symbolträchtigen Gelände an der Karlsbrücke ab 1556 war ein wichtiger Schritt zum innerstädtischen Wiederaufbau und basierte auf dem Aufkauf und der Zusammenfassung kleinerer Parzellen in diesem Gebiet. Dies bedeutete vermutlich die Zerstörung älterer baulicher Nachbarschaftsgefüge, die durch Neubauten eine neue räumliche und damit auch soziale Struktur erhielten. Mit der Rückkehr des Erzbischofs zur römischen Kirche konnten weitere gegenreformatorische Maßnahmen allmählich greifen und auf das Alltagsleben einwirken.
17 Tomek, Dějepis (wie Anm. 10), 326–329. 18 Ebd., 330–331.
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Den nachhaltigsten Einfluss hatte aber die starke Zuwanderung von böhmischen Adligen, die die Nähe zum Hof suchten. Sie errichteten großformatige Renaissancepaläste am oder nahe am Hradschinplatz und der Kleinseite. Beide Teilstädte wurden mehr und mehr zum Quartier des Adels, dessen Domizile einen neuen, repräsentativen Lebensstil zur Schau stellten. In italienischer Manier prägten eine zum Hof gelegene Loggia und mit Freskomalereien gestaltete Fassaden die Außenansicht. Die Innenausstattung bot dem Auge des Besuchers neuartige Galerien mit einer reichen Auswahl an Gemälden, Drucken und Zeichnungen. Es gab Bibliotheken, ausgestattet mit Möbeln, wertvollen Intarsien- und Glasarbeiten, Tischbesteck in Gold und Silber bis hin zu Exotika aus Übersee. Mit der Hofnahme Rudolfs II. von 1583 kam auch eine große Zahl ausländischer Hofbediensteter nach Prag.19 Aus den Quartierbüchern lässt sich sehen, dass ungefähr 30 % der Hofangehörigen auf dem ‚Hradschin‘ oder der Kleinseite wohnten, während eine beachtliche Zahl von Künstlern, Kunsthandwerkern und Gelehrten in der Alt- und Neustadt ihren Wohnsitz und vielfach auch ihre Arbeitsstätte hatten. Das starke Anwachsen des ausländischen Bevölkerungsanteils in relativ kurzer Zeit hatte nachhaltigen Einfluss auf die Sozialstruktur in den einzelnen Nachbarschaften.20 Wenngleich nicht hinreichend Quellen für eine quantitative Untersuchung für diese Zeit vorliegen, so zeigt doch der Blick in die Überlieferung von drei Kirchengemeinden und Strafprozessakten eine deutliche Veränderung im sozialen Beziehungsgefüge. Alltägliche Formen der Begegnung und Geselligkeit besaßen in diesem Zusammenhang ebenso wie Konflikte ums und im Haus eine wichtige Funktion im Hinblick auf Integrationsprozesse. Gesellige Treffen wie Konflikte können als Aushandlungsprozesse begriffen werden, in denen spezifische Formen des Umgangs sowie häusliche Grenzen und Interessen festgelegt wurden.21 Für Prag sind hier ähnliche Prozesse anzunehmen, wie sie für andere Städte anhand einer breiteren, wenngleich heterogenen Quellenbasis beobachtet wurden. So konnte für Florenz im 15. Jahrhundert gezeigt werden, dass sich innerhalb bestimmter, geographisch klar umrissener Stadtgebiete nachbarschaftliche Beziehungen im Rahmen sozialer Hierarchien mit ausgeprägten Patronage-Klientel-Charakter etablierten, die vor allem in Konflikten zum Tragen kamen.22 Mit Blick auf Venedig wurde festgestellt, dass nachbarschaftliche Integration durch ritualisierten Konfliktaustrag
19 Eliška Fučíkova (Hrsg.), Rudolf II and Prague. The Imperial Court and Residential City as the Cultural and Spiritual Heart of Europe. Prague 1996. 20 Zdeněk Hojda, Der Hofstaat Rudolfs II., in: Christian Beaufort (Hrsg.), Prag um 1600. Beiträge zur Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II. Freren 1988, 118–123. 21 Susanne Rau, Das Wirtshaus. Zur Konstitution eines öffentlichen Raumes in der Frühen Neuzeit, in: Caroline Emmelius (Hrsg.), Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2004, 211–229, hier 227. 22 Dale V. Kent/Frances W. Kent, Neighbours and Neighbourhood in Renaissance Florence. The District of the Red Lion in the Fifteenth Century. Locust Valley 1992.
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vollzogen wurde und in enger Wechselbeziehung zum häuslichen Raum der Akteure stand.23 Mit deutlich umfangreicheren Quellenbeständen, die auch qualitative Aussagen über den Zusammenhang von nachbarschaftlichen und häuslichen Beziehungen erlauben, zeigte Jeremy Boulton, wie zu Beginn des 17. Jahrhunderts in dem Londoner Stadtteil Southwark die einzelnen Haushalte durch ein Netzwerk nachbarschaftlicher Verpflichtungen und Austauschbeziehungen miteinander verbunden waren und dynamisch auf Veränderungen reagierten.24 Für das Prag dieser Zeit existieren, wie erwähnt, wenige Quellen für sozialstrukturelle Untersuchungen. Umfangreiche Nachlassinventare ermöglichen jedoch eine detaillierte Rekonstruktion des Bürgerhauses als Ort der sozialen Begegnung und des Konflikts. Anhand der baulichen Gestaltung und der materiellen Kultur lassen sich Wandel und Einfluss der sozialen und politischen Faktoren auf dieser Ebene sozialer Interaktion nachvollziehen. Dabei zeigt sich die immense Bedeutung des Hauses als Raum sozialer Interaktion und, damit eng verbunden, als Bühne sozialer Repräsentation von Ansehen und Ehre im Kontext der Nachbarschaft.25 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Etablierung der habsburgischen Herrschaft auf zwei Ebenen auf die Nachbarschaften wirkte. Zum einen zielten die zentralisierenden Verwaltungs- und Kirchenreformen auf ein Zurückdrängen der starken, durch die hussitische Revolution etablierten Einflüsse der Nachbarschaften: stärkere Kontrolle der Kirchengemeinden durch einen katholischen Erzbischof und der niederen Gerichtsbarkeit durch königliche Bediente. Zum anderen bedeutete der starke Zuzug von mehrheitlich katholischen Adligen, Handwerkern und Kaufleuten einen deutlichen Wandel der nachbarschaftlichen Sozialstruktur, was sowohl in neuen Modellen der Organisation und Gestaltung der Wohnräume sichtbar wurde, als auch in den die Nachbarschaft formenden Konflikten sich spiegelte.
23 Robert Davis, The War of the Fists. Popular Culture and Public Violence in Late Renaissance Venice. New York 1994. 24 Jeremy Boulton, Neighbourhood and Society. A London Suburb in the Seventeenth Century. Cambridge 1987, insbes. 206–228. 25 Für vergleichende Betrachtungen zu anderen europäischen Städten vgl. Raffaela Sarti, Europe at Home. Family and Material Culture 1500–1800. New Haven 2002; Leif Jerram, Space. A Useless Category of Historical Analysis?, in: Beat Kümin/Cornelie Usborne (Hrsg.), Forum: At Home and in the Workplace. Domestic and Occupational Space in Western European from the Middle Ages. Hoboken 2013, 400–419; Eibach, Das offene Haus (wie Anm. 5).
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4 Das Haus als Ort sozialer Begegnung: Offenheit, Geselligkeit und Konflikt Die Materialität des Hauses als Indikator für Formen und Wandel sozialer Beziehungen ist für unterschiedliche Bereiche untersucht worden, die hier am Beispiel Prager Bürgerhäuser des 16. Jahrhunderts zusammengeführt und im Hinblick auf die Nachbarschaft als Integrations- und Konfliktgemeinschaft erörtert werden sollen. Die Prager Bürgerhäuser des 16. Jahrhunderts waren zumeist Steinhäuser oder Fachwerkgebäude. Einige davon wiesen Fundamente aus gotischer Zeit auf, der größere Teil jedoch, vor allem in der Neustadt, stammte aus der expansiven Phase Prags im 14. Jahrhundert. Teile dieser alten Bausubstanz sowie die ursprünglichen Raumaufteilungen und -proportionen wurden im Laufe der Zeit durch Umbauten angepasst und verändert.26 Für das Jahr 1562 sind 2653 Häuser in den Prager Städten gelistet worden, von denen 2423 in der Alt- bzw. Neustadt und 230 auf dem ‚Hradschin‘ und der Kleinseite standen. Wie sehr die Zuwanderung sich allein auf die Bau- und Wohnsituation ausgewirkt haben muss, zeigt der Zuwachs an Gebäuden von 64,5 % in vierzig Jahren, da der Baubestand für 1605 mit einer Gesamtzahl von 4112 Häusern angegeben wird.27 Ein verbreiteter Typus des Bürgerhauses im Prag des 16. Jahrhunderts war das sog. ‚Markt-Haus‘. Er stammte aus der Zeit der Gründung der Neustadt um die Mitte des 14. Jahrhunderts und wies üblicherweise zwei Stockwerke auf, nämlich das Erdgeschoss und die darüber liegende Etage. Vielfach wurden diese Häuser dann während der beiden nachfolgenden Jahrhunderte aufgestockt, mit einer oder zwei weiteren Etagen. Darüber hinaus waren viele Häuser mit hölzernen Balkonen auf bestimmen Stockwerken ausgestattet, die auf die Hofseite ausgerichtet waren. Kennzeichnend für diesen Haustyp war eine breite Fassade mit einer großen Toreinfahrt im Zentrum, die zum weiträumigen Innenhof führte. ‚Markt-Häuser‘ in Ecklagen hatten zwei breite Toröffnungen, eine zur Hauptstraße hin und eine zweite als Zugang zur Seitengasse. Diese Bauweise war vorteilhaft für die Haushalte von Handwerkern, welche einen weiten Kundenkreis belieferten.28 Anhand von Nachlassinventaren kann ein genaues Bild der funktionalen Gebrauchsmuster für die Räumlichkeiten in diesen Häusern gezeichnet werden.29 Für die Bezeichnung der Räume stand etwa ein Dutzend Begriffe zur Verfügung. Unter den gebräuchlichsten waren die recht allgemeinen Begriffe komora (Kammer), sklep
26 Jaroslava Staňková/Jiří Štursa/Svatopulk Voděra, Pražská architectura. Významné stavby jedenáctí století. Prag 1991, 96–114. 27 František Dvorský, O počtu domů v Praze a v královských městech Čechách, in: Časopis českého musea 55, 1881, 478–494 und 57, 1882, 57–73. 28 Vilém Lorenc, Nové město pražské. Prag 1973, 104 f. 29 Jiří Pešek, Měsťanské vzdělanost a kultura v předbělohorských Čechách 1547–1620. Prag 1993.
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(Keller), svietnice (Stube) und mazhaus (Saal oder Lustgemach) sowie pokoj (Zimmer); daneben gab es auch spezifischere, funktionsbezogene Begriffe wie kuchyń (Küche) und dvůr (Hof). Obwohl man aus einigen dieser Bezeichnungen auf einen bestimmten Ort und die Nutzung schließen kann, bleiben die Unterscheidungen eher ungenau. Sie lassen keine Rückschlüsse auf die je individuelle Nutzung zu, weswegen Quellen zu den Gegenständen und deren Verteilung im jeweiligen Raum hinzugezogen werden müssen. Nachlassinventare aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert unterscheiden etwa vier Typen von Betten: einige einfachere Konstruktionen (lože, lůžko sowie postýlka) und demgegenüber das postel, das meistens hochbeinig aufgestellt wurde. Drei Viertel der Schlafstätten befanden sich in Räumlichkeiten wie Kammern, Kellern und Sälen, ferner eine kleinere Zahl in Stuben und Werkstätten. Aber auch andere Räume scheinen zum Nächtigen benutzt worden zu sein, da sie mit Bett, Waschschüssel und Abort ausgestattet waren. Bemerkenswert ist, dass nur in einem einzigen von 56 der untersuchten Haushalte im Zentrum der Neustadt der Begriff Schlafzimmer verwendet wurde – man kann also noch nicht von einer funktionalen Raumdifferenzierung sprechen und muss davon ausgehen, dass die Räumlichkeiten mehreren Zwecken dienten und auf sehr vielfältige Weise genutzt wurden.30 Eine Vielzahl von Nutzungen kann auch in Bezug auf andere Objekte und Gruppen von Wertsachen nachgewiesen werden. Wie der Adel in seinen Palästen auf dem ‚Hradschin‘ und der Kleinseite, so sammelten vermögende Bürger der Alt- und Neustadt in ihren Häusern etwa Gemälde, kostspielige Juwelen, Gold- und Silbergeschirr, edle Möbel und umfangreiche Buchbestände. Im Gegensatz zu den Bildergalerien, Bibliotheken und Silberkammern des Adels wurden diese Kunstgegenstände und kunsthandwerklichen Stücke in den Wohnhäusern der Bürger aber nicht in speziell dafür vorgesehenen und eingerichteten Räumen aufbewahrt und zur Schau gestellt, sondern befanden sich in Räumlichkeiten, die im Alltag zugleich anderweitig genutzt wurden. Im Haus des Martin Masopust etwa waren die Bilder- und Büchersammlungen an drei Orten aufgeteilt, von denen keiner als Galerie oder Bibliothek angesehen werden kann. Vielmehr wurden in diesen Räumen verschiedene Artefakte von hohem Prestige zusammen mit eher alltags- und gebrauchsbezogenen Dingen wie Arbeitsgeräten und Bettwäsche verwahrt.31 Nur eine kleine Anzahl vermögender Bürgerhäuser war mit Räumen ausgestattet, denen eine spezifische Funktion zukam, wenngleich auch hier vielfach von einer multifunktionellen Nutzung ausgegangen werden kann.32 Václav Kamaryt von Rovin
30 James Palmitessa, Material Culture and Daily Life in the New City of Prague in the Age of Rudolf II. Krems 1997, 45–77. Vgl. hierzu die Artikel von Raffaella Sarti, Christiane Holm und Julia Schmidt-Funke in diesem Band. 31 Palmitessa, Material Culture (wie Anm. 30), 78–109. 32 Václav Ledvinka/Jiři Pešek, The Public and Private Lives of Prague Burghers, in: Fučíkova (Hrsg.): Rudolf II (wie Anm. 21), 287–309.
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war ein Weinmeister, gehörte zu den angesehensten Bürgern der Neustadt und lebte im Strabachovsky-Haus am Pferdemarkt. Unter den 22 anlässlich seines Todes im Jahr 1595 inventarisierten Räumen befand sich eine Stube, für die ein überdachtes Bett, ein Kleidergestell, ein Ofen, ein Glastisch, ein kleinerer Tisch, noch ein kleiner Tisch und eine gepolsterte Sitzbank, fünfundzwanzig Portraits und Bilder, zwei alte Tapestrien, ein Spiegel und eine glasgefasste Leuchte aufgelistet wurden. Bücher wurden in einem Kabinett zusammen mit Unterlagen, Münzen und anderen Kunstgegenständen verwahrt. In einem weiteren Tisch wurden Kleider, Dokumente und Kunstobjekte deponiert, eine kleine Truhe war gefüllt mit Kunst und Waffen.33 Dieser Raum wies einerseits durch die Ansammlung kostbarer Objekte eine Repräsentationsfunktion auf. Zugleich deuten aber die aufgelisteten Möbel nicht auf eine exklusive Nutzung als Empfangsraum hin, was besonders durch die Anzahl der Betten offensichtlich wird. Mit Blick auf die Erkenntnisse der neueren Forschung, die sich mit den Zugangsmöglichkeiten und Abgrenzungspraktiken in häuslichen Ensembles befasst, ist das räumliche Arrangement von Václav Kamaryt von Rovin durchaus als Teil seines Repräsentationsrepertoires einzuordnen. Im Kontext alltäglicher Begegnungen stellte dieser Raum den Besuchern seinen Status, Rang und Anspruch auf soziales Ansehen bzw. Ehre dar. An Rovins Inventar kann man zugleich den Einfluss der zugezogenen Handwerker und Gelehrten erkennen, durch die der Zugang zu Kunstobjekten sehr erleichtert wurde. Denn ältere Nachlassinventare aus einem vergleichbaren sozialen Milieu weisen zwar auch Prestigeobjekte auf, die jedoch weit weniger klar als solche inszeniert wurden. So besaß etwa Jiljí Perger z Častalovic in seinem Haus am Pferdemarkt zwar eine umfangreiche Bildersammlung, die aber auf viele Räume verteilt war.34 Der Einfluss der veränderten Nachbarschaften und städtischen Märkte ist dabei aber nicht im Sinne einer Aneignung kultureller Praktiken des Adels und des Hofes durch niederere soziale Schichten und Stände zu verstehen. Die Art und Weise, wie die bürgerlichen Hausbewohner Kunst in ihren Häusern zusammenstellten, verorteten, im Sozialgefüge des Haushalts organisierten und ihr damit eine Funktion im alltäglichen Umgang zuordneten, zeigt deutlich, dass sich hier eine aneignende Integration neuer Möglichkeiten in etablierte soziale Konstellationen beobachten lässt, die nur äußerlich als schlichte Imitation adliger Praktiken missverstanden werden könnte. Das Arrangement von alltäglichen wie besonderen Dingen im häuslichen Gefüge speiste sich bei den Prager Bürgern mindestens ebenso stark aus den Eigen logiken der jeweiligen Nachbarschaftskontexte wie aus adligen oder höfischen Vorbildern. Die eigene Hausehre visuell zur Geltung zu bringen, konnte nur funktionieren, wenn die Präsentation und Integration prestigeträchtiger Artefakte auf die alltägliche Nutzung der Räume eines Hauses abgestimmt war – und zwar auf die Multifunktionalität der Räume und ihrer Bedeutung in nachbarschaftlichen Interaktionen. Hierin
33 Hausnummer 846-II. 34 Archiv der Hauptstadt Prag, AMP 1212.83a.
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konnten Hof und Adel mit deutlich anderen Formen der sozialen Begegnung und des Zeremoniells sicherlich kein Vorbild sein.35 Die partielle Repräsentationsfunktion einzelner Räume unterstreicht die in der Forschung thematisierte Stufung der räumlichen Nutzung als Teil einer nachbarschaftlichen und sozialen Öffentlichkeit, die ganz bewusst als solche inszeniert wurde. Neben Räumen, die offenkundig auch der Repräsentation dienten, lassen sich in den Häusern der Bürger aber auch Räumlichkeiten finden, die offenbar dem ‚privaten Besuch‘ vorbehalten waren. Eine etwas anders gelagerte Form der Durchdringung von nachbarschaftlichem und häuslichem Gefüge bietet sich in jenen Häusern, die zugleich als Wirtshäuser genutzt wurden. Der Ausschank von Bier oder Wein war stark reglementiert und zumeist den Produzenten vorbehalten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war die Bierbrauerei aber ein boomender Wirtschaftszweig, der nicht zünftig organisiert, indes durch Privilegien reguliert war.36 Der Weinanbau war Mitte des 14. Jahrhunderts von Karl IV. eingerichtet worden und wurde vom städtischen Weinmeister überwacht. Dass die Produktion und der Ausschank dabei nicht in vom restlichen Haus getrennten Räumen stattfanden, zeigt das Inventar des 1592 verstorbenen Martin Masopust, der an der Nordostecke des Pferdemarkts (heute Wenzelsplatz) Bier braute und ausschenkte. In insgesamt drei der elf katalogisierten Räumlichkeiten wurde Bier hergestellt, in zweien ausgeschenkt. Das Anwesen umfasste einen Schankraum im Obergeschoss, in dem acht Tische und drei Stühle aufgestellt waren, und einen in der Stube eine Etage tiefer, wo neben vier Tischen auch ein Ofen stand.37 Von den insgesamt 22 inventarisierten Räumen des Strabachovsky-Hauses des bereits oben vorgestellten Václav Kamaryt von Rovin waren sechs für die Lagerung von bzw. die Verköstigung mit Wein reserviert. Dieser konnte sowohl in der „Stube“ im Erdgeschoss, „in der grossen Stube dasselbst“, in der „Stube des Verstorbenen“, im „großen Saal“ oder in „der großen Kammer nebst dem Saal“ serviert werden, wobei jede dieser Räumlichkeiten mit einer Reihe von Stühlen, Tischen und Bänken versehen war.38 Interessanterweise ist dabei aus den Inventarlisten nicht zu ersehen, inwieweit bei der Nutzung der Räumlichkeiten Unterschiede zwischen dem erwerbsmäßigen Ausschank des Weins und einem unentgeltlichen, im Kontext von Gastfreundschaft gewährten Glas gemacht wurden. Inwieweit die begriffliche Kennzeichnung als „Stube des Verstorbenen“ (tscheschich svietnice nebožtíka) hier auf einen Funktionsunterschied hinweist (und inwiefern wir in der „Stube des Verstorbenen“ jenen reich an Kunstobjekten ausgestatteten Raum sehen können), kann anhand der für das 16. Jahrhundert vor-
35 James Palmitessa, The Diffusion or Social Disciplining of Material Culture? The Case of the New City of Prague in the Age of Rudolf II, in: Jaritz (Hrsg.), Disziplinierung (wie Anm. 4), 121–138. 36 Beat Kümin, Drinking Matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe. New York 2007; ders./B. Ann Tlusty (Hrsg.), The World of the Tavern. Public Houses in Early Modern Europe. Burlington 2002. 37 Hausnummer 832-II; AMP 1210.95b; AMP 2146.248a. 38 AMP 1210.140B.
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liegenden Quellen nicht eruiert werden. Mittels der Inventarlisten kann nicht zwischen Weinschenken als gewerblichen Betrieben zur Einkommenserzielung und rein privatem Weinausschank unterschieden werden. Diese Beobachtung bestätigt die Befunde für andere europäische Regionen im Hinblick auf die öffentliche Natur des vormodernen Wirtshauses wie auch dessen Verflechtung mit dem familiären Bereich: „Öffentliche Räume sind nicht nur dort vorzufinden, wo Menschen in Austauschbeziehungen miteinander treten, sondern [auch, J. P.] dort, wo viele Menschen teils unterschiedlicher Herkunft die Nutzung, Gestaltung, Begrenzung und nicht zuletzt die symbolische Besetzung dieser Räume aushandeln.“39 Auch wenn die notariellen Quellen aus Prag es unmöglich machen, solche Austauschbeziehungen näher zu analysieren, so zeigen doch exemplarische, auf Alltagstauglichkeit ausgerichtete Dialogszenen eines deutsch-böhmischen Sprachführers, dass diese in nachbarschaftliche Kontexte eingebundenen Wirtshäuser und Schankstuben Begegnungsorte waren, an denen Menschen verschiedener Schichten, Sprachen, Konfessionen und Geschlechter zusammentrafen und miteinander interagierten.40 Die häuslichen Ensembles der Nachbarschaften besaßen aber nicht nur als Orte der Begegnung und Geselligkeit Integrationsfunktionen. Die zahlreichen und schon sprichwörtlichen Nachbarschaftskonflikte dienten der Auseinandersetzung und Abstimmung von individuellen und gemeinsamen Interessen, Grenzen und Zugänglichkeiten vor allem im Hinblick auf bauräumliche Probleme. Die Akten des Sechs-Männer-Rats, eines unteren Amtes in der Verwaltung der Alt- und Neustadt41, gestatten in dieser Hinsicht Einblick in den räumlichen Nahbereich und die sozialen Austauschbeziehungen zwischen Nachbarn. Der eigentliche Klagegegenstand war auf das Haus als Baukörper bezogen und thematisierte Abgrenzungsvorgänge in vielfacher Weise. Ein Drittel bis die Hälfte aller sich auf den Gebäudebestand beziehenden Fälle betraf Wände (außen und innen), Dächer, Dachrinnen, Aborte und Fenster – mit anderen Worten: materielle Grenzen. Der Großteil der übrigen Fälle bezog sich auf Innenhöfe, Gärten, Durchgänge und anderes gemeinschaftlich genutztes Eigen-
39 Rau, Wirtshaus (wie Anm. 21), 227. 40 Ondřej Klatovský Dalmanhorstu, Knižka v českém a německému jazyku složena, kterakby Čech německy a němec český čísti, psáti i mluvití učiti se měl. Ein Büchlein in behmischer und deutscher Sprach, wie ein Behem Deutsch und deßgleichen ein Deutscher behmisch lesen, schreiben und reden lernen soll. Olmütz 1564. 41 Dieser Rat entsprach ähnlichen Institutionen wie den ‚Baumeistern‘ in Augsburg, den ‚London Assize of Nuissane‘ oder den ‚Commisaires au Châtelet‘ in Paris. Vgl. James Palmitessa, Arbitration of Neighborhood Ties and Honor. Building and Property Disputes before the Six-Man Councils of Prague, 1547–1611, in: The Sixteenth Century Journ. 34, 2003, 123–133. Vgl. auch Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalendarstreit und Parität. Göttingen 1989; Diane Shaw, The Construction of the Private in Medieval London, in: Journ. of Med. and Early Modern Stud. 26, 1996, 447–466; David Garrioch, Neighbourhood and Community in Paris, 1740–1790. Cambridge 1986.
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tum. Der verbleibende Teil der Prozesse wurde über bauliche Einrichtungen zwischen Häusern, namentlich Brunnen und Außenhöfe, geführt. Insgesamt spiegelt sich in den Prozessakten die alltägliche Praxis beim Aushandeln von Grenzen und Grenzüberschreitungen. Diese Streitigkeiten waren also mehr als nur eine Auseinandersetzung um den Gegenstand selbst. Die Streitkonstellationen belegen auch die Interaktion zwischen unmittelbaren Nachbarn aus verschiedenen sozialen Schichten und unterschiedlicher Herkunft. Darin zeigt sich ein Aspekt der alltäglichen Lebens, der in anderen Quellen nur selten zu finden ist. Aus ihrem sozialen Kontext heraus kann man diesbezügliche Streitigkeiten im Grunde als Interessenausgleich und Verständigung über und anhand materieller Baustrukturen verstehen. Diese Streitigkeiten verweisen auf häusliche Ensembles als zentrale Orte für die Konstruktion und Regulierung von Nachbarschaft. Zwei Beispiele, die sich in den Kontext der geschilderten Umbrüche und des politisch-sozialen Strukturwandels Prags einordnen lassen, seien hier zur Illustration angeführt. Brikcí Zvonař von Cimperg war ein tschechisch-sprachiger GlockengießerMeister aus der Neustadt, der der utraquistischen Gemeinde angehörte und zugleich als Stadtrat sowohl für den kaiserlichen Hof wie für die protestantische Kirchengemeinde tätig wurde. 1569 stritt er mit seinem Nachbarn Tomáš Krumlovský, über den wir nicht mehr wissen, über eine steinerne Dachrinne.42 Diese „verlief entlang der Küche zur linken Seite des Hauses von Brikcí hin und verursachte durch die Art ihrer Bauweise durch Krumlovsky, dass Wasser auf das Haus von Brikcí tropfte.“43 Während für den konkreten Konfliktgegenstand eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung gefunden wurde, mahnte das Gericht gleichwohl beide Parteien, sich fürderhin gütlich zu begegnen. Mit Blick auf den entstandenen Schaden im Verhältnis zueinander sollten sie für die Zukunft alles Übel vergessen und sich gegeneinander in einer freundlichen, nachbarlichen, christlichen Art betragen. Dass dies auch tatsächlich eingehalten wurde, dafür sorgten die Mitglieder des Gerichts, die teilweise selbst Nachbarn der Streitparteien waren. Im Jahr 1580 kam es zum Streit zwischen Řehoř Pátek, einem Notar am Appellationsgericht auf dem Schlossberg, der gegenüber von Brikcí und Tomáš auf der anderen Straßenseite wohnte, mit seiner Nachbarin namens Anna Mlynařka und deren Sohn Mikuláš, die sich als Bierbrauer betätigten. Streitgegenstand war das zum Brauen benötigte Holz, dass die beiden gegen die Mauer des Nachbarn lehnten und diese beschädigten. Eine klarere bauliche Trennung wurde vereinbart.44 Andere Konflikte betrafen Umbauten, insbesondere das Vergrößern von Fenstern oder das Einfügen von Fensterrahmen und Glasscheiben – eine Entwicklung, die klar auf den neuen
42 Zikmund Winter, Zvonařové z Cimperku, in: Památky archaeologické a místopísné 17, 1896/1897, 444–449. 43 AMP 2150.137b. 44 AMP 2149.165a.
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Einfluss von Renaissance-Applikationen an den Hausarchitekturen zurückzuführen ist.45 Auch wenn nicht alle Konflikte auf modischen Einfluss zurückzuführen sind, so belegen die Baustreitigkeiten einerseits, dass Räume und Grenzen zwischen Häusern nicht so klar markiert werden konnten, wie die Linien der Katasterpläne aus späteren Zeiten es nahelegen, sondern komplexe, durch Interaktion geformte Räume waren. Anderseits zeigen die Prozesse deutlich, wie sich der Wandel der Nachbarschaft durch Zuzug und dadurch verursachte Neu-, An- und Umbauten an der Vielfalt der auf die jeweiligen Häuser bezogenen Interaktionen und Aushandlungsprozesse ablesen lässt, seien sie geselliger oder konflikthafter Natur.
5 Abschließende Bemerkungen Anhand des Wandels der Raumnutzung und der materiellen Kultur in Prager Bürgerhäusern des späten 16. Jahrhunderts ist deutlich geworden, in welchem Maße die Häuser städtischer Nachbarschaften als Bühne verschiedener Formen sozialer Interaktion dienten und wie sehr sie gleichzeitig auf die übergeordneten städtischen Entwicklungen reagierten. Der Blick auf die Raumaufteilung und -nutzung bildet die Grundlage, um anhand der Innenausstattung das Eindringen neuer Formen sozialer Repräsentation aufzuzeigen. Dabei wird die weitreichende Einbindung häuslicher Räume in unterschiedliche Formen der sozialen Begegnung deutlich. Die konfessionelle Spaltung erforderte neue Strategien, um die notwendigen nachbarschaftlichen Beziehungen weiterhin zu pflegen bzw. neu aufzubauen. Verstärkter administrativer Zugriff auf die einzelnen Häuser und das häusliche Leben transferierte das nachbarschaftliche Wissen übereinander in den stadtpolitischen Raum. Die Fragen des eigenen Ansehens, der Hausehre, des sozialen Rangs innerhalb der Nachbarschaft wie auch der städtischen Gesellschaft insgesamt wurden immer wieder neu herausgefordert und bedurften einer sorgfältigen Visualisierung. Hier eröffneten wiederum die neu zugezogenen Hofbediensteten und Handwerker ein weites Praxisfeld, das aber – wie gezeigt – mit den Eigenlogiken der jeweiligen Nachbarschaft in Einklang gebracht und nicht als simple Imitation des Hofes gelesen werden darf. Die fundamentalen Umbrüche der Prager Nachbarschaften im langen 16. Jahrhundert sollten jedoch abermals ergänzt werden: Nach der Niederlage der böhmischen Protestanten in der Schlacht am Weißen Berg 1620 griff Ferdinand II. hart durch: 21 Anführer des Aufstandes wurden öffentlich auf dem Marktplatz der Altstadt enthauptet, ihre Köpfe aufgespießt und zur Schau gestellt. Mit diesem Akt königlichen Herrschaftsanspruchs drang Ferdinand in einen wichtigen lokalen Raum ein,
45 AMP 2149.284b, AMP 2149.265.b, AMP 2149.259a-260b, AMP 2149.158a-159r, AMP 2149.212b-213b, AMP 2149.98b.
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der gezielt auf den Zusammenhang der Nachbarschaften gerichtet war und in der Folge durch die Konfiskation protestantischen Vermögens und die Vertreibung der nicht konversionsbereiten Protestanten noch erheblich gesteigert wurde. Sie bewirkten zusammen mit einer straffen administrativen Rekatholisierung eine umfassende Umwälzung des städtischen Lebens bis in die nachbarschaftlichen Strukturen hinein. Prag ist – wie jede Stadt und jedes Gemeinwesen in der Frühen Neuzeit – ein Sonderfall. Aber Prag ist auch ein hervorragendes Beispiel, um die enge wechselseitige Verflechtung zwischen städtischer Struktur und Strukturveränderung, nachbarschaftlichen Interaktionen und häuslichem Raum herauszuarbeiten. Gerade der Blick auf die materielle Kultur macht deutlich, dass Fragen der dinglichen Innenausstattung keineswegs nur als Dekor aufzufassen, sondern unmittelbares Ergebnis der politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Stadt, der Nachbarschaft und der einzelnen Haushalte sind.
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Die private Öffentlichkeit des Hauses im deutschen und englischen Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts Geht man die Regalmeter durch, die die Bürgertumsforschung vor allem in den 1980er und 1990er Jahren gefüllt hat, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Aufstieg des Bürgertums dem „offenen Haus“1 ein Ende bereitet, dass Französische und Industrielle Revolution dem Haus in seiner ‚vormodernen‘ Komplexität den Garaus gemacht hätten. Das markanteste Merkmal sei dabei die Reduktion des Haushalts auf die Kernfamilie. Die Emotionalisierung der innerfamilialen Beziehungen sowie die Trennung von Wohnen und Arbeiten hätten den Weg dahin geebnet. Das Heim habe sich zum privaten Refugium entwickelt, zum Rückzugsraum des aus seinen öffentlichen Lebensbezügen heimkehrenden Mannes und zum alleinigen Wirkungskreis der Frau, deren Aufgaben darauf eingeengt worden seien, die Kinder großzuziehen und für die Codes bürgerlicher Wohlanständigkeit in materieller, ästhetischer und sittlicher Hinsicht Sorge zu tragen.2 Einer ‚Kultur der Sichtbarkeit‘ scheint das Bürgertum eine abgeschirmte Privatheit entgegengesetzt zu haben; die Nachbarschaft spielte demzufolge weder für die soziale Kontrolle noch für die soziale Integration eine Rolle, ebenso wie die Geselligkeit aus dem Haus in Vereine und Clubs ausgelagert worden sei. In ganz ähnlicher Weise hat die ältere Forschung die Häuslichkeit der englischen middle class charakterisiert, die dabei dem deutschen Bürgertum lediglich in der Entwicklung um ein halbes Jahrhundert voraus war. Dieses Narrativ verdient, im Lichte neuerer Forschungen einer kritischen Revision unterzogen zu werden. Denn zum einen blendet die Fixierung auf die bürgerliche Familie aus, dass Selbständigkeit und Hausbesitz über weite Strecken des 19. Jahrhunderts zumindest in den Wertvorstellungen des Bürgertums die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe begründeten oder gar eine rechtliche Vorausset-
1 Grundlegend dazu Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664. 2 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393; Ingeborg Weber-Kellermann, Die Familie. Frankfurt am Main 1974, 94–241; Edward Shorter, Die Geburt der modernen Familie. Reinbek 1977; Lawrence Stone, Family, Sex and Marriage in England 1500–1800. London 1977; Hans Erich Bödeker, Die ‚gebildeten Stände‘ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Zugehörigkeit und Abgrenzungen, Mentalitäten und Handlungspotentiale, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 4. Stuttgart 1989, 21–52; zusammenfassend auch Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. München 1990, 230–240.
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zung für politische Partizipation darstellten.3 Zum zweiten scheint die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts bislang gleichsam wie Athene dem Haupte des Zeus entsprungen zu sein. Denn die Bürgertumsforschung tendiert dazu, die ‚Sattelzeit‘ als unmittelbare Vorgeschichte der Moderne zuzuschlagen und dabei Kontinuitäten unterzubewerten sowie abweichende Befunde zu übersehen. Wenn aber die Familie des 19. Jahrhunderts das Ergebnis eines Transformationsprozesses war4, stellt sich die Frage: Wieviel frühneuzeitliches ‚Haus‘ steckt im ‚Heim‘ des bürgerlichen Zeitalters? Hinter die lange behauptete Trennung der Sphären des Privaten und des Öffentlichen sowie der männlichen und der weiblichen Lebens- und Arbeitsbereiche sind mittlerweile von der Geschlechtergeschichte gewichtige Fragezeichen gesetzt worden.5 Das differenzierte Bild der innerfamilialen und innerhäuslichen Verhältnisse, das sich dabei aus Selbstzeugnissen gewinnen lässt, deutet darauf hin, dass das Haus zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen zentralen gesellschaftlichen Interaktionsraum darstellte und als solcher weit ‚offener‘ war, als bisher angenommen.6 Wie sich Haus und Häuslichkeit als integrale Bestandteile in die Kultur und den Lebensstil einer Gesellschaftsformation einfügten, die sich selbst als „gebildete
3 Adelheid von Saldern, Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, 145–332, hier 221 f.; Manfred Hettling, Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung, in: ders./Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000, 57–78; Andreas Schulz, Liberalismus in Hamburg und Bremen zwischen Restauration und Reichsgründung (1830–1870), in: Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert. München 1995, 135–160, hier 141; ders., Weltbürger und Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im 19. Jahrhundert, in: HZ 259, 1994, 637–670, hier 654 f.; Anne G. Kosfeld, Politische Zukunft und historischer Meinungsstreit. Die Stadt des Mittelalters als Leitbild des Frankfurter Bürgertums in der Verfassungsdiskussion der Restaurationszeit, in: Reinhart Koselleck/ Klaus Schreiner (Hrsg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, 375–454. 4 Vgl. in diesem Sinne Andreas Gestrich, Neuzeit, in: ders./Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, 367–652. 5 Grundlegend Leonore Davidoff/Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780–1850. London 1987; Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. Göttingen 1996; Amanda Vickery, The Gentleman’s Daughter. Women’s Lives in Georgian England. New Haven 1999; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Göttingen 2000; vgl. auch Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. Köln 2005. 6 Vgl. auch Gisela Mettele, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996, 155–169.
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Stände“ bzw. „the genteel“ oder „the polite“ klassifizierte7, soll im Folgenden paradigmatisch anhand der Tagebuchaufzeichnungen des Hamburger Juristen Ferdinand Beneke (1774–1848) nachvollzogen werden.8 Mit Blick auf die These der separate spheres steht dabei die Verschränkung des baulichen mit dem sozialen Raum des Hauses im Zentrum. Diese lässt sich auf unterschiedlichen, gleichwohl eng miteinander verflochtenen Ebenen zeigen: der Integration von Dienstboten und Mitbewohnern, der Art der nachbarschaftlichen Beziehungspflege sowie der unterschiedlichen Formen von Geselligkeit, die für diese Schichten so charakteristisch war. Mit leicht unterschiedlichen Akzentuierungen diesseits und jenseits des Ärmelkanals pflegten die ‚gebildeten Stände‘ kommunikationsfreudige Umgangsformen, deren Höflichkeit Anspruch auf Aufrichtigkeit erhob und deren Regelwerk in eine kultivierte Natürlichkeit gekleidet wurde. Sie definierte sich durch ein umfassendes Bildungsideal, demzufolge sich das Individuum ganzheitlich zu einer vielseitigen Persönlichkeit ausbilden sollte.9 Dass es sich hierbei aber keineswegs um transnational oder überregional gleiche Praktiken handelte, die sich zeitlich versetzt von England in Europa verbreiteten, sondern dass durchaus kulturelle Unterschiede zu gewahren sind, zeigt der vergleichende Blick auf Haus und Häuslichkeit bei den englischen genteel. Unverkennbar erhoben die ‚gebildeten Stände‘ Anspruch auf Privatheit in ihren Häusern – als Individuum wie als Familie. Die gesellschaftliche Praxis indes sah anders aus. Denn Angestellte und domestic servants, die mit im Haushalt lebten, und die vielfältigen Formen der Geselligkeit bedeuteten eine Einfallspforte der Wahrnehmung und Anteilnahme an häuslichen Vorgängen für eine Öffentlichkeit, die gegebenenfalls auch über die lokalen Grenzen hinausreichte. Dabei hilft ein Vergleich zwischen England und
7 Grundlegend zu Deutschland Bödecker, Gebildete Stände (wie Anm. 2); Wolfgang Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3. München 1988, 9–44; vgl. auch Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996; Hein/Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur (wie Anm. 6); Hettling/Hoffmann (Hrsg.), Wertehimmel (wie Anm. 3); Hahn/Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte (wie Anm. 5). Zu England vgl. u. a. Paul Langford, A Polite and Commercial People. England 1727–1783. Oxford 1989; Penelope J. Corfield, Concepts of the Urban Middle Class in Theory and Practice. England 1750–1850, in: Brigitte Meier/Helga Schultz (Hrsg.), Die Wiederkehr des Stadtbürgers. Städtereformen im europäischen Vergleich 1750 bis 1850. Berlin 1994, 237–269; Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 13–37, 196 f., 202. 8 Ferdinand Beneke, Die Tagebücher. Erste Abteilung: 1792–1801, 4 Bde. Göttingen 2012; Dritte Abteilung: 1811–1816, 6 Bde. Göttingen 2016 (nachfolgend: Beneke, Tagebücher [wie Anm. 8]). Die Tagebuchjahrgänge 1802–1810 und 1817–1848, deren Edition in Vorbereitung ist, werden nachfolgend zitiert als Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8) plus Datum des Eintrags. 9 Vgl. z. B. Arnold Gerhard Deneken, Ueber die Vereinigung der Philosophie, der schönen Künste und Wissenschaften mit den Berufs-Geschäften, in: Der Genius der Zeit, 1796, 387–406.
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Deutschland, einen relativen Gradmesser für die Offenheit des Hauses zwischen ca. 1750 und 1850 zu gewinnen.
1 Verwandte, Angestellte und Dienstboten – Öffentlichkeit im häuslichen Binnenraum Das georgianische Haus ist als die in Architektur übersetzte Absicht der middle classes interpretiert worden, die Privatsphäre der Kernfamilie von der Außenwelt abzuschirmen und innerhalb des Hauses Bereiche individualisierter Privatheit zu schaffen.10 Tatsächlich aber war dies – abgesehen vom Sonderfall London – bis ins 19. Jahrhundert selten der Fall. Solange nämlich Wohnen und Arbeiten unter einem Dach vereint waren, war das Haus auch mehr oder minder zugänglich für Fremde, für eine Öffentlichkeit aus Kunden, Klienten, Nachbarn usw. Zugleich gab es einen ständigen Austausch zwischen den Geschäfts- und Wohnräumen. Der Hausherr nahm genauso Anteil am häuslichen Leben wie Ehefrau und Kinder sich im Laden, Kontor oder in der Werkstatt aufhielten, da sie vielfach mitarbeiteten. Lehrlinge, oft auch unverheiratete Angestellte, wohnten nach wie vor im Haus des Dienstherrn und wurden als Teil der Familie angesehen. Dies galt erst recht für unverheiratete Verwandte des Ehepaars, die in das Haus aufgenommen wurden, weil sie entweder im Geschäft tätig waren oder im Haushalt mithalfen. Selbst da, wo der Hausherr seinem Beruf außerhalb des Hauses nachging, war es üblich, dass Tanten, Mütter, Cousinen oder Nichten mit im Haus wohnten, um die Hausfrau bei der Hausarbeit und der Kindererziehung zu entlasten.11 Unter diesen Umständen war das georgianische Haus in der Realität nach außen hin weit offener und bot im Inneren weit weniger individuelle Rückzugsmöglichkeiten, als es die Raumarrangements und die conduct books nahelegen. Auch in Deutschland hatte man im 17. Jahrhundert begonnen, Raumfunktionen auszudifferenzieren, Bereiche der Nicht-Arbeit von denen der Arbeit zu scheiden, die backstage functions (Wohnen, Schlafen, Kochen, Essen usw.) auszugliedern und der Geselligkeit eigene Räume zuzuweisen.12 Wie in England war es üblich, dass das Ehepaar nach Möglichkeit über getrennte Schlafzimmer verfügte, anders als im georgianischen Haus erhielten auch alle anderen erwachsenen Familienmitglieder ein
10 Christoph Heyl, A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London, 1660–1800. München 2004, 169–197; vgl. Rachel Stewart, The Town House in Georgian London. New Haven 2009; John Summerson, Georgian London. London 1962. 11 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 223, 225, 281 f., 329 f., 336–338, 353–356. 12 Jens Friedhoff, ‚Magnificence‘ und ‚Utilité‘. Bauen und Wohnen 1600–1800, in: Ulf Dirlmeier (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 2: 500–1800: Hausen, Wohnen, Residieren. Stuttgart 1998, 503–788, hier 621–632; in diesem Sinne bereits Johann Georg Büsch, Praktische Darstellung der Bauwissenschaft, Bd. 1. Hamburg 1793, 209, 229–246.
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eigenes Zimmer, was in den norddeutschen Städten durch An-, Um- und Einbauten in den alten Typus des Kaufmannshauses und ein dementsprechend geradezu labyrinthisches Gewirr von Räumen, Treppen und Fluren erreicht wurde.13 Die Ausdifferenzierung der häuslichen Räume ist zu Recht mit der vom 18. zum 19. Jahrhundert hin zunehmenden Wertschätzung des Individuums bei den ‚gebildeten Ständen‘ wie bei den genteel in Verbindung gebracht worden. Auch wenn das unter anderem vom Sensualismus und der Empfindsamkeit in philosophischen Werken, Moralischen Wochenschriften und Romanen in den Mittelpunkt gerückte Individuum stets ein Individuum in Gemeinschaft ist, braucht es doch seinen eigenen Raum, um sich auszubilden, sich lesend, schreibend, in religiöser Andacht und im vertrauten Gespräch mit Freunden selbst zu reflektieren, und zwar in einem Raum, in dessen Gestaltung das Individuum in der Lage ist, sich wiederzufinden. Doch entsprach die Wirklichkeit diesem Ideal in deutschen Haushalten nur in eingeschränktem Maße. Denn zum einen wohnten auch hier zusätzlich zur Kernfamilie weitere Verwandte im Haus. Im Falle des keineswegs wohlhabenden Advokaten Ferdinand Beneke waren dies nach dem Tod seines Vaters die Mutter, seine Schwester Regine, zeitweilig sein Bruder Johann Friedrich, nach der Eheschließung dann auch Benekes Ehefrau Caroline, die nach der Geburt des ersten Kindes tatkräftig von ihrer Schwägerin unterstützt wurde. Auf diese Weise kam die Familie mit nur zwei bis drei Dienstboten aus.14 Zum anderen bildeten Wohnen und Arbeiten im deutschen Bürgertum bis weit ins 19. Jahrhundert eine Einheit. Die Folge waren vielfach deutlich stattlichere Haushalte als der Akademikerhaushalt der Benekes. Dazu kamen oft weitere Personen, die zumindest ihr Mittagessen am Tisch des Hauses erhielten.15 Ein anschauliches Beispiel bietet die 1807 am eleganten Hamburger Neuen Wall eröffnete Apotheke Georg Eimbckes. In den 1820er Jahren beschäftigte er einen Geschäftsführer, zwei Apothekergehilfen, zwei Lehrlinge, einen Hausknecht, einen Kutscher und vier ‚Burschen‘, dazu drei Dienstmädchen im Haushalt, dem Eimbckes Ehefrau Friederike Henriette vorstand. Zu diesem Haushalt gehörte auch der renommierte Arzt Jean Henri de Chaufepié samt seinen beiden Töchtern, der als Witwer zu seiner Schwester und seinem Schwager gezogen war. Chaufepié bewohnte mit seinen Töchtern das zweite Obergeschoss, während Madame Eimbcke ihr Schlafzimmer im ersten neben dem großen Saal und zwei Wohnzimmern hatte und der Hausherr seine Zimmer (Bibliothek, Arbeitszimmer und Schreibkabinett) auf der linken Hälfte des
13 Anschauliche Beispiele in Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 1/4, 45–48; Berend Goos, Erinnerungen aus meiner Jugendzeit, Bd. 1. Hamburg 1896, 9–19, 70–74, 199–203. Vgl. Karl Priester, Bremische Wohnhäuser um 1800. Beiträge zur Baugeschichte der Stadt Bremen. Bremen 1912; Friedrich Winkelmann, Wohnhaus und Bude in Alt-Hamburg. Die Entwicklung der Wohnverhältnisse von 1250 bis 1830. Berlin 1937; von Saldern, Im Hause (wie Anm. 3), 155; Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 195 f. 14 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), Unser Haus [1807], lose beigefügtes Blatt, undat. und unpag. 15 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 185–187; Habermas, Frauen (wie Anm. 5), 39 f., 74.
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Erdgeschosses. Die rechte Hälfte nahmen die von der Straße her zugängliche Apotheke und ein dahinter liegendes Esszimmer ein, während verschiedene zur Apotheke gehörige Lagerräume und die Küche samt Vorrats- und Weinkeller im Souterrain lagen. Der Geschäftsführer, die beiden Gehilfen und die beiden Lehrlinge hatten ihre Zimmer im Dachgeschoss, wobei immer einer der Gehilfen in der Apotheke auf einem Klappbett schlief, um den Nachtdienst zu versehen. Während das Frühstück um zwölf Uhr bei laufendem Betrieb eingenommen wurde und die Apothekenangestellten ihren Morgen- und Nachmittagskaffee für sich erhielten, fand das Mittagessen um 16 Uhr am „Familientisch“ im Esszimmer hinter der Apotheke statt, um den sich alle Hausbewohner plus Chaufepiés Sohn Hermann, der ebenfalls Arzt und Witwer war, sowie sämtliche Angestellten versammelten – mit Ausnahme der Burschen, die von ihren Eltern verköstigt wurden. Während der lebhaften Unterhaltungen bei Tisch wurden durchaus auch Differenzen der Eheleute ausgetragen, wie das Personal überhaupt über das Privatleben des Patrons Bescheid wusste, das damit eben nicht mehr wirklich privat war. Zudem gab Hermann de Chaufepié beim Mittagessen den Klatsch und Tratsch aus den feineren Hamburger Kreisen zum Besten. In den Abendstunden zogen sich Eimbckes in ihre Räume im ersten Obergeschoß zurück, während die Angestellten Dienst taten, bis die Apotheke um 22.30 Uhr geschlossen wurde.16 In solchen Geschäftshaushalten war die Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit, die Separierung von Dienstpersonal und Herrschaft letztlich nur auf wenige Abendstunden reduziert. Wirklich ganz für sich konnte das bürgerliche Ehepaar aber auch dann nur sein, wenn es keine Gäste empfing und wenn es auf die Dienste ihrer häuslichen Dienstboten verzichten konnte. Dienstboten bzw. domestic servants waren für den Haushalt der ‚gebildeten Stände‘ wie auch der englischen genteel ein Dilemma.17 Einerseits konnte man auf ihre Arbeit im Hause nicht verzichten, weil die Hausfrau von häuslichen Arbeiten entlastet werden musste, um freie Hand für ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen zu haben – ganz abgesehen davon, dass Dienstboten zu beschäftigen zu den Statussymbolen des Bürgertums gehörte.18 Sie lebten im Hause und wurden von der Außenwelt als dem Hause zugehörig betrachtet, weswegen unangemessenes Ver-
16 Goos, Erinnerungen (wie Anm. 13), Bd. 2, 1897, 112–157. 17 Der Forschungsstand ist insbes. zur Sattelzeit unbefriedigend. Vgl. aber Timothy Meldrum, Domestic Service and Gender 1660–1750. Life and Work in the London Household. Harlow 2000; Jessica Gerard, Country House Life. Family and Servants 1815–1914. Oxford 1994; Dagmar Müller-Staats, Klagen über Dienstboten. Eine Untersuchung über Dienstboten und ihre Herrschaften. Frankfurt am Main 1987; Heidi Müller, Dienstbare Geister. Lebens- und Arbeitswelt städtischer Dienstboten. Berlin 1985. 18 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 391 f.; Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 157 f.; Moira Donald, Tranquil Havens? Critiquing the Idea of Home as the Middle-Class Sanctuary, in: Inga Bryden/Janet Floyd (Hrsg.), Domestic Space. Reading the Nineteenth-Century Interior. Manchester 1999, 103–120.
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halten der gesellschaftlichen Reputation, unter Umständen sogar der Kreditwürdigkeit des Hauses schaden konnte.19 Andererseits gehörten sie nicht zur eigentlichen Familie und verfügten aufgrund ihrer Herkunft, Bildung und Erziehung nicht über dieselben Verhaltensmuster und kulturellen Repertoires wie ihre Herrschaft. Sie wussten, was im Hause vorging, hatten Kontakte außer Haus und verließen es früher oder später, ohne dass letztlich kalkulierbar war, wie sie mit ihrem Wissen umgehen würden.20 Dienstboten waren eine permanent präsente Öffentlichkeit in den eigenen vier Wänden. Auf dieses Dilemma scheint man in Deutschland und England ähnlich, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen reagiert zu haben. In beiden Ländern wurde die Sphäre, in der sich die Dienstboten hauptsächlich aufhielten, zunehmend aus dem Zentrum des Hauses an die Peripherie verlegt. Die englischen genteel tendierten dazu, die Distanz zu den Dienstboten noch zu vergrößern, indem sie sich an aristokratischen Arrangements orientierten, die darauf abzielten, dass Dienstboten und Herrschaft für einander weitgehend unsichtbar blieben.21 Die Trennung der Sphären ließ sich indes in der weit überwiegenden Zahl der städtischen middle class-Haushalte und selbst auf den Landsitzen der genteel kaum in der gewünschten Form realisieren. Denn diese Haushalte verfügten selten über mehr als fünf domestic servants, die überdies meist aus der näheren Umgebung stammten. Infolgedessen lebten und arbeiteten sie alltags in enger Kommunikation mit der Familie ihrer Dienstherrschaft und hatten Gelegenheit, mit ihren eigenen Verwandten und Bekannten zu kommunizieren – oder womöglich mit fremden Herrschaften.22 In den um 1800 allenthalben präsenten Diskursen über das Gesindewesen wurde immer wieder die mangelnde Bindung zum Haus beklagt. Der Bremer Senator Deneken empfahl in einem Aufsatz, zum einen über sorgfältig austarierte Lohnerhöhungen Anreize für ein langjähriges Verbleiben im Dienst zu schaffen.23 Zum anderen riet er dazu, die Dienstboten durch paternalistische Fürsorge an die Familie zu binden, indem die Herrschaft sich um Pflege und Versorgung im Krankheitsfalle kümmert und „mit älterlicher Gewissenhaftigkeit dafür sorgt, daß sie [die Dienstbo-
19 Habermas, Frauen (wie Anm. 5), 74–77. 20 Jenny Davidson, Hypocrisy and the Politics of Politeness. Manners and Morals from Locke to Austen. Cambridge 2004, 15–45; Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 391. 21 Donald, Tranquil Havens (wie Anm. 18), 117; Heyl, Passion (wie Anm. 10), 203–205. 22 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 388 f.; Heyl, Passion (wie Anm. 10), 213–223; Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 134 f. 23 [Arnold Gerhard Deneken], Ueber den Gebrauch, dem Gesinde Trinkgeld zu geben, in: Hanseatisches Magazin 3, 1800, 193–222; Rolf Engelsing, Der Arbeitsmarkt der Dienstboten im 17., 18. und 19. Jahrhundert, in: Hermann Kellenbenz (Hrsg.), Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt. Wien 1974, 159–237; ders., Einkommen der Dienstboten in Deutschland zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, in: Jb. des Inst. für Deutsche Gesch. 2, 1973, 11–65; Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 135– 141; Donald, Tranquil Havens (wie Anm. 18), 112.
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ten, F. H.] glücklich verheirathet werden“, sowie sie bei der Etablierung ihres Hausstands und beim Erlangen eines auskömmlichen Broterwerbs unterstützt.24 Realitätsfern waren die Vorschläge nicht. Als Maria, das Dienstmädchen von Benekes Hauswirt Möller, einen Zimmergesellen heiratete, fand die Trauung im Möller’schen Hause statt, und als Brautführer fungierten nicht nur der Dienstherr und sein Schwiegersohn, sondern auch Beneke und dessen Freund, ein Senatorensohn.25 Auch Ferdinand und Caroline Beneke pflegten ein teils fürsorgliches, teils familiäres, teils pädagogisches Verhältnis zu ihren Hausangestellten.26 Erstaunlich lange Dienstzeiten im Hause Beneke waren die eine Folge, regelmäßige Kontakte über das Ende der Dienstzeit hinaus zumindest in einigen Fällen eine andere.27 Auch darin waren die Benekes und ihre Dienstboten kein Einzelfall – trotz der vielfältigen Klagen im deutschen und mehr noch im englischen Bürgertum über häufig wechselnde Dienstboten.28 Insgesamt lässt sich die These vertreten, dass die genteel eher dazu tendierten, die Bresche, die die Beschäftigung von Dienstboten in ihre Privatheit schlug, dadurch zu schließen, dass sie gleichsam häusliche Demarkationslinien zwischen sich und ihren Hausangestellten errichteten, während die ‚gebildeten Stände‘ in Deutschland versuchten, Bindungen familiärer Hausgenossenschaft herzustellen.29
2 Ausgewählte Nachbarschaften Als ambivalent kann man auch das Verhältnis der ‚gebildeten Stände‘ zu ihrer Nachbarschaft bezeichnen. Der überkommene städtebauliche Bestand bedingte noch bis weit ins 19. Jahrhundert eine sozioökonomisch gemischte Wohnweise innerhalb der Städte, ungeachtet gewisser sozialer Ungleichgewichte zwischen einzelnen Stadtvierteln.30 Die Erschließung von Vorstädten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts ließ langsam Wohngegenden entstehen, in denen die Oberschicht der ‚gebildeten Stände‘ eine Nachbarschaft für sich bildete – eine Entwicklung, die in England etwa zur selben Zeit, allerdings in größerem Umfang stattfand und in London bereits zu Beginn des Jahrhunderts eingesetzt hatte.31
24 Deneken, Gebrauch (wie Anm. 23), 219. 25 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 1/2, 244. 26 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 24. 12. 1804; 18. 9. 1805; 14. 3. 1819; 14. 3. 1828. 27 Ebd., 2. 5. 1818; 19. 11. 1830; 8. 6. 1832. 28 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 191; Goos, Erinnerungen (wie Anm. 13), 70 f., 73 f., 121 f. 29 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 3/2, 293. 30 Friedhoff, Magnificence (wie Anm. 12), 610 f.; Winkelmann, Wohnhaus (wie Anm. 13). 31 Adolph von Knigge, Briefe auf einer Reise aus Lothringen nach Niedersachsen geschrieben. Hannover 1793, 148 f.; Rolf Zerback, Die Verbürgerlichung des städtischen Raumes. Zur baulichen Entwicklung der Haupt- und Residenzstadt im 19. Jahrhundert, in: Hein/Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur (wie Anm. 6), 215–233; Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-
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Im Kontext der engen innerstädtischen Bebauung spielte die Nachbarschaft schon wegen der gegenseitigen Wahrnehmbarkeit noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus eine Rolle.32 So notierte Ferdinand Beneke 1804: „Zwischen 8 – 9. machte ich noch ein paar NachbarVisiten, deren Unterlaßung beym Einziehen in eine neue Wohnung ich für höchst inhuman halte. Es ist so natürlich, daß man die Bekannts. der Leute macht, denen man alle Tage in die Fenster sieht, und deren tägl. LebensWandel man vor Augen hat. Es giebt ja auch Pflichten, und Beziehungen unter Nachbaren, u. es kann von Folge seyn, ob man gut, oder schlimm mit ihnen steht. Wer mir gegen über sich ansiedelt, mir alle Tage das Weiße im Auge siehet, ohne mich eines freundl. Besuchs zu würdigen, den muß ich für hochmütig, oder unfreundlich halten.“33 Es sind jedoch nicht unterschiedslos alle Nachbarn, zu denen Beneke Kontakt sucht. Diejenigen, die an dieser Stelle wie auch später im Tagebuch Erwähnung finden, sind ein Kaufmann, der mit seiner Ehefrau, seiner geschiedenen Schwiegermutter und seiner 15-jährigen Schwägerin im gegenüberliegenden Haus wohnt, ferner die Familie eines Maklers, die Witwe eines graduierten Juristen sowie Benekes im Nachbarhaus wohnender Vermieter, über dessen Bildungsdefizite sich Beneke zwar oft genug mokiert, der aber als Vermieter Anspruch auf gutnachbarschaftliche Aufmerksamkeit hat.34 Der Begriff ‚Nachbarschaft‘ erscheint in Benekes Tagebüchern signifikant häufiger, nachdem er 1812 an den Holländischen Brook gezogen war. Seine dortigen Nachbarn können ganz überwiegend zu den ‚gebildeten Ständen‘ gerechnet werden – so etwa Benekes unmittelbarer Nachbar, der englische Kaufmann William Alexander Burrowes, dessen Schwiegermutter den Benekes das Haus am Holländischen Brook vermietete. Nicht nur, dass Benekes schon vor ihrem Einzug von der Familie Burrowes-Hermann eingeladen wurden, zu den ‚nachbarlichen‘ Gepflogenheiten gehörte auch, dass Burrowes „oft morgens auf seinem ComtoirWege“ bei Beneke vorbeischaute.35 Wer dagegen als Nachbar in Benekes Tagebüchern nicht vorkommt, obwohl dieser den unteren bürgerlichen Schichten wegen seiner von den Idealen der Französischen Revolution geprägten Grundhaltung mit Sympathie begegnete, waren die Bewohner der engen Behausungen der Gassen und Höfe, deren Leben sich, wie auch sonst in Deutschland, oft im Freien, im Hof, auf der Straße und im Quartier abspiel-
Jahren 1830–1910. Reinbek 1990, 81–114; Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 363 f.; Summerson, Georgian London (wie Anm. 10). 32 Goos, Erinnerungen (wie Anm. 13), 30, 207 f., 218. Vgl. Elise Averdieck, Lebenserinnerungen. Aus ihren eignen Aufzeichnungen, Bd. 1. Hamburg 1908, 9–11. 33 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 30. 5. 1804. 34 Ebd., 30./31.5., 7. 6. 1804; Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 3/1, 237. 35 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 3/1, 227, 251, 255, 304; 3/2, 152.
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te.36 Nachbar ist, wer in der Nähe wohnt und Zugang zum Haus erhält, und dies war aus Sicht der ‚gebildeten Stände‘ nur derjenige, der einen gewissen bürgerlichen Lebensstil pflegte. Dies galt auch für die Kinder, die miteinander spielten oder zu Geburtstagen eingeladen wurden.37 In einer ‚gehobeneren‘ Wohngegend zu logieren, war indes schon um 1800 von einer so signifikanten Bedeutung, dass Beneke noch als mittelloser Junggeselle 1796 trotz der damit verbundenen Mehrkosten aus einer unbedeutenden Nebenstraße in die Nähe von Rathaus und Börse und in die Nachbarschaft der gefragtesten Kaffeeund Handelshäuser Hamburgs umzog. In ähnlicher Situation rechnete James Boswell 1762 die Qualität der Wohnlage gegen die Kosten auf, als er das zweite Obergeschoß im Hause eines Regierungsbeamten in der Londoner Downing Street bezog mit dem Angebot, den parlour vormittags benutzen zu dürfen und für einen Schilling pro Mahlzeit mit dem kinderlosen Ehepaar zu essen, da Boswell „extremely agreeable to the family“ sei.38 Zur Miete bewohnte Räume bildeten selten abgeschlossene Wohnungen, so dass der Mieter räumlich und sozial in das Gesamtensemble des Hauses integriert war. Auch Benekes Zimmer waren Teil des Hauses, das sein Hauswirt, ein verwitweter Zuckermakler, mit einem Dienstmädchen bewohnte. Beneke wurde regelmäßig zum Mittagessen eingeladen, wodurch er nach und nach die nähere Verwandtschaft und etliche Bekannte seines Hauswirts kennenlernte, mit denen er – wie mit seinem Hauswirt selbst – in Kontakt blieb, auch nachdem er schon lange eine andere Wohnung bezogen hatte.39 Bei einer solchen Einladung besichtigte die gesamte Gesellschaft Benekes Zimmer. Beneke berichtet davon mit größter Selbstverständlichkeit und betrachtet es offenkundig nicht als ein Eindringen in seine Privatsphäre, obgleich diese „ehrbare[n] Zuckerbäckerfamilien“ ihm bis dahin völlig unbekannt waren.40 Ein gutes halbes Jahr später verteilten sich die Gäste dann ganz zwanglos über das Haus: „Die Herren spielten unten bey M[öller, F.H]. Die Damen brachten den ganzen Abend auf meinem Zimmer zu, welches ich [mir, F.H] bey Musik, u. muntern Gesprächen recht wohl gefallen ließ.“41 Der Mieter Beneke war insoweit ‚Fremder‘ im Hause Möller, als er nur auf Einladung mit seinem Hauswirt speiste, aber doch so sehr Teil des Haushalts, dass seine Stube in die Raumarrangements häuslicher Geselligkeit einbezogen wurde und er das von Möller beschäftigte Dienstmädchen ohne jede Geste der Rela-
36 Ausführlichen Niederschlag findet eine solche Nachbarschaft nur ein einziges Mal: Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 31. 5. 1803. Vgl. von Saldern, Im Hause (wie Anm. 3), 200–204; Philippe Ariès/Roger Chartier (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens. 4. Aufl. Bd. 3. Frankfurt am Main 1991, 576–580. 37 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 3/1, 329; 3/2, 143; Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 193. 38 James Boswell, London Journal 1762–1763, hrsg. von Frederick A. Pottle. Yale 1950, 50–59. 39 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 1/2, 331. 40 Ebd., 147 f. 41 Ebd., 245.
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tivierung als „unser […] Dienstmädchen“ bezeichnete.42 Folgerichtig waren die Türen zu Benekes Räumen auch nicht abgeschlossen, wenn er das Haus verließ.43 In seinem (Wohn-)Zimmer erhielt er täglich Besuch von Freunden, Bekannten und Verwandten einschließlich verheirateter und unverheirateter Frauen; hier empfing er seine Mandanten als Anwalt, gleichgültig wie wohlhabend und bedeutsam sie sein mochten, und erledigte Schreibarbeiten und Aktenstudium. Nicht zuletzt war es aber auch der private Ort, an dem er sein Tagebuch schrieb und sich ganz für sich allein den wiederholten Anfällen von Hypochondrie und Melancholie hingab.
3 Geselligkeit im ‚offenen Haus‘ des norddeutschen Bürgertums Offen war das Haus in besonderer Weise für Gäste. Nicht von ungefähr hatte Adolph von Knigge 1793 das Bewirten großer Gesellschaften zum integralen Bestandteil der „Lebensweise der jetzigen Zeit“ erhoben.44 Auch die Generation derer, die auf ihre Kindheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückblickten, hob in ihren Memoiren regelmäßig hervor, dass durch ihre Elternhäuser ein ständiger Besucherstrom wogte.45 Dabei handelte es sich mitnichten nur um Familie und Freunde, oder – in der Diktion der Zeit – um Hausgenossen und Hausfreunde, sondern gerade auch um entfernte Bekannte und Fremde, auch wenn Erstere gleichsam den Kern der häuslichen Geselligkeit ausmachten, um den sich Letztere scharten.46 Der Besucherstrom wurde zwar durch die Einladungspraxis kanalisiert, aber nur tendenziell. Denn es gab unterschiedliche Typen von Einladungen. Man konnte zu einem bestimmten Ereignis – einem Ball, einer Soiree, einem Diner – gezielt einen Personenkreis „invitiren“ und damit seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen.47 Weitaus häufiger waren offen ausgesprochene Einladungen zu regelmäßig, oft wöchentlich stattfindenden Gesellschaften, die keineswegs als Beleg für eine engere, womöglich freundschaftliche Verbindung dienen können. Auf Gesellschaften wie diesen kamen neben Verwandten und engen Freunden Bekannte aus dem
42 Ebd., 238. 43 Ebd., 60. 44 Knigge, Briefe (wie Ann. 31), 173 f. 45 Vgl. u. a. Otto Beneke, Ein Auszug. Ein Liederkranz zum Andenken an das alte Beneke’sche Haus […]. Hamburg 1849; Paul Hertz, Unser Elternhaus. Hamburg 1895, insbes. 47 f.; Frank Wogawa, Die bürgerliche Familie. Aspekte bürgerlicher Werterezeption am Beispiel der Jenaer Buchhändler- und Verlegerfamilie Frommann, in: Hahn/Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte (wie Anm. 5), 305–336, hier 325–334. 46 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 370–398; Habermas, Frauen (wie Anm. 5), 182–184, 257 f. 47 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 25. 4. 1808.
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weiteren Umfeld, ja sogar Auswärtige, die der Einladende erst vor kurzem kennengelernt hatte, sowie Firmenangestellte, soweit sie sich durch Bildung und Umgangsformen dafür qualifizierten, zusammen.48 Unverkennbar fungierte diese Geselligkeit auch als Kontaktbörse und Netzwerkagentur, mit deren Hilfe junge Talente gefördert, Geschäftsverbindungen oder Heiraten angebahnt wurden. Dies erklärt, warum etwa der Präsident des Kölner Appellationsgerichtshofs ‚seine‘ Assessoren in die einflussreichsten Familien der Stadt auf diese Weise einführte und ihnen damit zudem den Weg in für ihr gesellschaftliches Fortkommen nützliche Vereine öffnete.49 Häufiger noch kam es vor, dass man einen Menschen, dessen Bekanntschaft man womöglich auf einer solchen Gesellschaft gemacht hatte, ganz generell aufforderte, zu Besuch zu kommen, so oft und wann immer er wollte. Die Beneke-Tagebücher sind voll von Begegnungen dieser Art, Besuchen, die auf eine halbe Stunde abgestattet wurden oder sich über Stunden erstreckten, ja bisweilen ging der ganze Tag mit einer Vielzahl von derartigen Visiten dahin. In den ersten drei Monaten des Jahres 1799 vermerkte Beneke rund tausend Begegnungen mit über dreihundert Personen. Seine außergewöhnliche Buchführung legt überdies nahe, dass er nicht der einzige war, der ein solches Geselligkeitspensum absolvierte. Zu den hervorstechendsten Merkmalen der die alten Standesschranken überschreitenden Geselligkeit der ‚gebildeten Stände‘ gehörte eine großzügige, geradezu zwanglos erscheinende Zivilität. In Hamburg, Berlin oder Köln konnte man zwischen 1780 und 1850 gleichermaßen jenen leichten Konversationston und jenen ‚Takt der Ebenbürtigkeit‘ antreffen, der jedes gelehrte oder geschäftliche Spezialistentum ebenso vermied wie ein zeremonielles Eingehen auf Rang, Stand, Amt oder Vermögen.50 Zudem konterkarierte die Geselligkeit der ‚gebildeten Stände‘ – jedenfalls in den größeren Städten – das, was man sich unter privater Häuslichkeit vorstellen würde. In den elf Tagen, die Johann Heinrich und Ernestine Voß 1801 auf dem Landsitz des Kaufmanns Georg Heinrich Sieveking und seiner Ehefrau Johanna Margarethe vor den Toren Hamburgs zubrachten, waren Gäste und Gastgeber nur ein einziges Mal beim Mittagessen unter sich. Ansonsten speiste man in Gesellschaft von mehr als fünfzig Personen an einer Tafel, die sich durch zwei oder drei aneinander grenzende Zimmer erstreckte, oder in „kleiner Gesellschaft“ zu zwanzig bis dreißig.51
48 Frank Hatje/Ariane Smith, Beziehungen, Netzwerke, Geselligkeiten in Hamburg und Altona. Caspar Voght in den Tagebüchern des Ferdinand Beneke und den Briefen der Sophie Reimarus, in: HansJörg Czech/Kerstin Petermann/Nicole Tiedemann-Bischop (Hrsg.), Caspar Voght (1752–1839). Weltbürger vor den Toren Hamburgs. Petersberg 2014, 49–63. 49 Mettele, Raum (wie Anm. 6), 159 f. 50 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 370–398; Mettele, Raum (wie Anm. 6), 159 f., 164. 51 Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (Kiel) Cb 4.34. Ich danke Henry A. Smith (Hamburg) sehr herzlich dafür, mich auf diese Briefe der Ernestine Voß aufmerksam gemacht und mir seine Transkription zur Verfügung gestellt zu haben.
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Was es bedeutete, ein in dieser Weise ‚offenes Haus‘ zu führen und Gäste für ein paar Tage, manchmal auch für länger aufzunehmen, wird unter den materiell wie räumlich beschränkteren Verhältnissen der Familie Beneke deutlich. Minna Heineken beispielsweise, Bremer Senatorentochter und Witwe eines Bremer Arztes, blieb mehr als fünf Monate im Hause Beneke.52 Für den Gast wurden nicht nur die Raumarrangements geändert, er wurde auch – wiewohl nicht zur Familie gehörend – Teil jener intimen innerfamilialen Kommunikation, von der man erwarten sollte, dass sie eigentlich nach außen abgeschirmt würde, und dies umso mehr, als auswärtige Gäste wie Minna Heineken selbstverständlich in Briefen nach Bremen von den Vorgängen im Hause berichteten. Solche Briefe kursierten dem Usus der Zeit folgend im Freundes- und Bekanntenkreis, wurden vorgelesen oder zu Gesprächsgegenständen. Wirkliche Privatheit war unter diesen Umständen selten gegeben.53 Nicht von ungefähr empfand Ferdinand Beneke die „SonnAbendAbende als koncentrirte Bilder glücklicher Häuslichkeit. Jedes Mitglied der Familie ist dann auf seinem Zimmer, lesend, schreibend, kramend, nachdenkend. Kein Fremder stört das stille, geschloßene, sichere Haus. Endlich findet sich beym frohen AbendEßen alles im freundlichen Parterre zusammen, und teilt mit, was es hat.“54 Dass Beneke hier auf das „stille, geschloßene, sichere Haus“ abhebt, war nicht einem Ideal geschuldet, sich vom öffentlichen Leben abzuschirmen und eine „eigene Welt bürgerlicher Privatheit“ im „Hausinneren“ aufzubauen55, sondern der Tatsache, dass es zu keinem Zeitpunkt sonst im Hause „still“ und das Haus die ganze übrige Woche für die verschiedensten Menschen zugänglich war. Bezeichnenderweise führte Beneke 1805 Sprechzeiten ein, um nicht fortwährend durch Klientenbesuche vom Mittagstisch weggerufen zu werden – ganz abgesehen von den Menschen der Armenquartiere, die er als Armenpfleger betreute und die oft genug hilfesuchend bei Beneke zuhause vorsprachen.56 Die Offenheit der zahlreichen Gesellschaften mit zahllosen Gästen brachte daneben aber auch Formen einer intimeren Geselligkeit hervor. Glich der ‚Teetisch‘ um 1780 noch einer bescheideneren Variante des ‚Salons‘, so bestand die spätabendliche „Theestazion“, wie sie im Hause Beneke von 1815/16 an bis 1848 praktiziert wurde, meist aus einem halben Dutzend Freunden, die sich zur Familie gesellten,
52 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 29. 11. 1809. 53 Ebd., 13. 2. 1810. 54 Ebd., 24. 10. 1807. Dass Häuslichkeit gerade nicht als biedermeierliche, abgeschirmte Privatheit verstanden werden muss, zeigt Benekes Warnung vor einer allzu selbstgenügsamen, ungeselligen, „sich absondernde[n], einseitigmachende[n], den freyen Umblick des Geistes zubauende[n] Häuslichkeit“. Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), Ferdinand Beneke an Caroline von Axen, Hamburg, 26. September 1806. Vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 180–183. 55 So Habermas, Frauen (wie Anm. 5), 315 f. über die „Generation“ Friedrich Roths. Ob Roth wirklich der verallgemeinerbare Typus des Bürgers dieser Generation war, wäre noch auf einer breiteren Grundlage zu erweisen, die es erlaubt, Kontingenzen und Individualismen auszusondern. 56 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 4. 7. 1805, 27. 4. 1806.
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wobei auch hier kein fester Kreis eingeladen war, sondern sich einstellte, wer Zeit und Lust zu kommen hatte.57 Die häusliche Geselligkeit der ‚gebildeten Stände‘ erschöpfte sich nicht in Tafel oder Teetisch, Konversation oder Kartenspiel. Ihre Grenzen zum Assoziationswesen der Aufklärung und dem Vereinswesen des Vormärz waren, was vielfach in der Forschung übersehen wird, fließend, zumal auch nicht jede ‚Vereinigung‘, die sich Statuten gab, ipso facto als Verein gelten kann. Die hamburgische ‚Patriotische Gesellschaft‘ begann als informeller Zirkel im Hause von Hermann Samuel Reimarus, bevor ihr öffentlicher Status 1765 mit Bestätigung des Rats begründet wurde und sie eigene Räumlichkeiten mit Versammlungszimmern, Bibliothek usw. bezog58, während ihre kleine Schwester, die ‚Gesellschaft zur Vermehrung der Vaterlandsliebe‘, sich ausschließlich in den Häusern ihrer Mitglieder versammelte.59 1809 dagegen wurde eine ‚Winter-Gesellschaft‘ gegründet, die sich ausführliche Statuten gab, vor allem aber der „Zerstreuung“ von Benekes Mutter dienen sollte, da sie nicht über einen großen Bekanntenkreis verfügte.60 Auch dieser „Klubb“ kam reihum in den fünf Häusern der 14 Mitglieder zusammen, wobei auswärtige oder einheimische Bekannte dazu gebeten werden durften, sofern zu erwarten stand, dass sie „den vertraulichen Ton nicht verstimmen“.61 Die berüchtigte Lesewut des späten 18. Jahrhunderts brachte bekanntlich eine Vielzahl von Lesegesellschaften hervor. Doch dürfen elaborierte Statuten und eine rühmende Erwähnung in überregionalen Periodika nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie oft deutlich weniger als zwei Dutzend Mitglieder hatten, die sich ausschließlich in ihren Privathäusern trafen.62 Obzwar die Gesellschaft bei den regelmäßig donnerstags stattfindenden Leseabenden im Sieveking-Reimarus-Kreis deutlich zahlreicher ausfiel63, waren Teilnehmerkreis und Regularien dieser Abende dort genauso wenig schriftlich fixiert wie bei den Leseabenden, die Benekes Ehefrau Caroline in den 1840er Jahren in sehr viel kleinerem Rahmen veranstaltete.64
57 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 375, 379. 58 Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2. Aufl. Hamburg 1990, 331–344, 540–565. 59 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 1/2 und 1/3. 60 Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 5. 11. 1809. 61 Ebd., Gesetze der Winter-Gesellschaft (1809). 62 Kopitzsch, Grundzüge (wie Anm. 58), 404–413; Peter Albrecht/Hans Erich Bödeker/Ernst Hinrichs (Hrsg.), Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820. Tübingen 2003; Otto Beneke, Die literarische Lesegesellschaft von 1790. Hamburg 1866. 63 Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 1/3, 212. Vgl. Heinrich Sieveking, Georg Heinrich Sieveking. Lebensbild eines Hamburgischen Kaufmanns aus dem Zeitalter der Französischen Revolution. Berlin 1913. 64 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 383 f.
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Das Assoziationswesen der Aufklärung und das Vereinswesen des Vormärz bauten auf einer breiten Basis häuslicher Geselligkeit auf.65 Die ‚Annäherung der Stände‘, wie sie in Statuten als Zweck der geselligen Vereinigungen und Clubs formuliert wurde, und das Ideal der ‚klassenlosen Bürgergesellschaft‘ (Lothar Gall) gründeten in der Praxis häuslicher Geselligkeit der ‚gebildeten Stände‘. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Sphären der Geselligkeit bestand jedoch darin, dass Frauen in den meisten Vereinen und Clubs keine Mitglieder werden konnten, sondern allenfalls als Gattin oder Tochter bei gesellschaftlichen Anlässen mitwirkten, während sie in der häuslichen Geselligkeit an den politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Diskursen teilhatten und hier nicht selten im Mittelpunkt standen.66 Wie offen das Haus der ‚gebildeten Stände‘ war, zeigt sich besonders mit Blick auf das Dilettantentum im Bereich Theater und Musik. Zwar gab es in Städten wie Hamburg, Frankfurt oder Leipzig frühzeitig stehende Bühnen, an deren Finanzierung und teilweise auch an deren Leitung sich bürgerliche Enthusiasten beteiligten.67 Aber dies hinderte die ‚gebildeten Stände‘ nicht daran, bis in die 1840er Jahre in ihren Häusern Liebhaberaufführungen darzubieten.68 Fließend waren auch die Grenzen zwischen Hausmusik und Konzertwesen. In Oldenburg beispielsweise begannen die ersten Versuche, Abonnementskonzerte einzurichten, 1783/84 mit einem um Militärmusiker verstärkten Laienorchester, das gelegentlich im Ratssaal, häufiger jedoch im Haus eines Weinhändlers konzertierte, wobei das Publikumsverhalten einen in durchaus jovialem Sinn ‚geselligen‘ Charakter hatte.69 Die gesellige Vereinigung von ausübenden und rezipierenden Angehörigen derselben gesellschaftlichen Formation im Kunstgenuss wurzelte in der Überzeugung, dass sich der Bürger zum Menschen bilden müsse. Ohne seine Seelenvermögen an Philosophie, Poesie, Musik harmonisch auszubilden, bleibe der Mensch in der
65 Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914. Göttingen 2003 (mit umfangreicher Bibliographie); Franklin Kopitzsch, ‚Freie Associationen‘, ‚thätiger Gemeingeist‘ und Aufklärung, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 4. Weimar 1997, 661–678. 66 Die Möglichkeiten der Frauen zur Partizipation sind unzureichend erforscht, zumal in zahlreichen Assoziationen Frauen auch formal integriert waren. Beneke, Tagebücher (wie Anm. 8), 1/1, insbes. 104; Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 5), 265–280; Habermas, Frauen (wie Anm. 5), 145, 184, 214–221; Dirk Alexander Reder, Frauenbewegung und Nation. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813–1830). Köln 1998. 67 Frank Möller, Zwischen Kunst und Kommerz. Bürgertheater im 19. Jahrhundert, in: Hein/Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur (wie Anm. 6), 19–33. 68 Andreas Schulz, Der Künstler im Bürger. Dilettanten im 19. Jahrhundert, in: Hein/Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur (wie Anm. 6), 34–52, hier 45; Mettele, Raum (wie Anm. 6), 158 f.; Beneke, Tagebuch (wie Anm. 8), 29. 5. 1805. 69 Ernst Hinrichs, ‚Öffentliche Concerte‘ in einer norddeutschen Residenzstadt im späteren 18. Jahrhundert. Das Beispiel Oldenburg, in: Albrecht/Bödeker/ders. (Hrsg.), Formen der Geselligkeit (wie Anm. 62), 59–80; Schulz, Künstler (wie Anm. 68), 39.
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Mechanik seines Berufsmenschentums eingeschlossen.70 Doch schon in den 1830er und 1840er Jahren fand diese Hochblüte des positiv konnotierten Dilettantentums mit dem Einzug des Leistungsgedankens und der bürgerlichen Identifikation über die Arbeit ihr allmähliches Ende. Die übergreifende gesellige Praxis trat in den Hintergrund, die häusliche Geselligkeit verlor ihre Offenheit und Zwanglosigkeit. Zeiten und Zugang wurden exklusiver, Zivilität in ein neues Zeremoniell überführt. Das eher ungesellige Pianoforte avancierte zum Statussymbol des bürgerlichen Haushalts.71
4 ‚Ungesellige Geselligkeit‘ in den Häusern der englischen genteel Wer mit den Vorstellungen der deutschen ‚gebildeten Stände‘ von Gastfreundschaft und Geselligkeit im Gepäck nach England reiste, sah sich – vor allem in London – irritierenden Erfahrungen ausgesetzt. „Die Engländer pflegen ihre Hospitalität zu rühmen, und nennen ihr Land das gastfreieste in der Welt. Ausländer hingegen beklagen sich, daß, wenn sie zu Hause den durchreisenden Engländern alle erdenkliche Höflichkeit erwiesen haben, diese, wenn man sie in England besucht, den Fremden zu einem Mittagsessen im Wirthshause bitten, und ihn alsdann seine Zeche […] bezahlen lassen.“72 Mehr noch als Georg Forster, von dem diese Zeilen stammen, war der in London ansässige Gebhard Friedrich August Wendeborn mit den englischen Verhältnissen vertraut. Er machte die deutsche Leseöffentlichkeit 1779 darauf aufmerksam, dass man üblicherweise abgewiesen werde, wenn man sich – wie in Deutschland – einfach nur bei einem Menschen, den man kennenzulernen wünsche, anmelden lasse. Ohne eine mündliche oder schriftliche Empfehlung sei gar nichts zu machen. Wer aber erst einmal ein paar Bekanntschaften gemacht habe, erhalte leicht weitere Empfehlungen. Gleichwohl werde es ein Fremder „in London sehr schwer finden, in guten Privatfamilien sich das Vergnügen eines vertraulichen Umganges zu verschaffen.“73
70 Gisela Mettele, ‚Geeint durch das Band der Harmonie‛. Bürgerliches Musikleben in Köln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hans Erich Bödeker/Patrice Veit/Michael Werner (Hrsg.), Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre). Paris 2002, 177–205. 71 Schulz, Künstler (wie Anm. 68), 50 f.; Möller, Kunst (wie Anm. 67), 29–33; Gunilla-Friederike Budde, Musik in Bürgerhäusern, in: Bödeker/Veit/Werner (Hrsg.), Le concert (wie Anm. 70), 427–455. 72 Georg Forster, Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790, Dritter Theil. Berlin 1794, 59 f. 73 [Gebhard Friedrich August Wendeborn], Beyträge zur Kentniß Grosbritanniens vom Jahr 1779. Lemgo 1780, 339–341.
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Aber auch unter miteinander bekannten Engländern galt es im London des 18. Jahrhunderts als low, unangemeldet zu Besuch zu kommen, mindestens aber hatte man das ungeschriebene Gesetz der Besuchszeiten – vormittags beim Hausherrn, nachmittags zur Teezeit bei der Frau des Hauses, bisweilen auch noch auf bestimmte Besuchstage eingeschränkt – einzuhalten.74 Die herkömmlichen Visiten, wie sie auch in Deutschland zu den gängigen gesellschaftlichen Verpflichtungen gehörten, wurden in London ebenso wie die Pflicht zum Gegenbesuch durch das Abgeben von Visitenkarten abgemacht – ein für deutsche Reisende erstaunlicher Usus, da in Deutschland Visitenkarten nur Verwendung fanden, wenn man denjenigen, den man zu besuchen beabsichtigte, nicht angetroffen hatte.75 Dass sich die genteel in London „zum nähern Umgange auf wenige Häuser“ einschränkten, war für die Hamburgerin Johanna Schopenhauer durchaus nichts Ungewöhnliches, sondern ein Charakteristikum aller großen Städte76, während der Nationalökonom Johann Georg Büsch etwa zwei Jahrzehnte zuvor vor allem registriert hatte, wie sehr die Londoner genteel auf eine Distanz bedacht waren, die vor dem Hintergrund der deutschen Kommunikationspraxis nicht recht nachvollziehbar war. Demgegenüber boten die Häuser der genteel in den kleineren Städten und auf dem Land im späten 18. Jahrhundert eine Bühne mit sehr verschiedenen settings, die es erlaubten, alle möglichen Arten von Sozialbeziehungen in Szene zu setzen – von der Elitengeselligkeit bis zum Zusammensein mit Untergebenen. „Common people“ lud man in die Küche oder die servants‘ hall, „polite guests“ empfing man im dining room und parlour, „favoured female guests“ wurden auch ins Schlafzimmer der Hausherrin vorgelassen.77 Wenn das Begriffspaar private–public in Selbstzeugnissen gebraucht wurde, dann in diesem Zusammenhang. Denn es kennzeichnete in der sozialen Praxis den Gegensatz zwischen exklusiven gesellschaftlichen Zusammenkünften und der ‚allen‘ zugänglichen Geselligkeit.78 Dabei ist mit Blick auf das ländliche und kleinstädtische England zu berücksichtigen, dass Geselligkeit nicht nur die Aufgabe hatte, die Beziehungen zu anderen genteel zu unterhalten und die Zugehörigkeit zu dieser Statusgruppe zu bekräftigen, sondern auch die Patronagebeziehungen zu Untergebenen, örtlichen Geschäftsleuten, Pächtern usw. in Szene zu setzen.79 Die Veranstaltung regelmäßiger dinners setzte sich erst allmählich durch und kanali-
74 Ebd., 340; Heyl, Passion (wie Anm. 10), 238. 75 Heyl, Passion (wie Anm. 10), 235–237; Johanna Schopenhauer, Reise durch England und Schottland. 2. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1818, 159; Johann Georg Büsch, Bemerkungen auf einer Reise durch einen Teil der Vereinigten Niederlande und Englands. Hamburg 1786, 111 f. 76 Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 159. 77 Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 206. Zur größeren Aufgeschlossenheit auf dem Lande gegenüber Fremden Büsch, Bemerkungen (wie Anm. 75), 105, 114; Forster, Ansichten (wie Anm. 72), 60. 78 Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 202–208. 79 Ebd., 208.
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sierte nach und nach den Besucherstrom, der sonst formlos und unangemeldet Zutritt zum Haus gehabt hatte.80 Im Gegensatz zu den ‚gebildeten Ständen‘ in Hamburg oder Berlin war die häusliche Geselligkeit der genteel in London weitestgehend auf Verwandte und ausgesuchte Freunde reduziert und an Anlässen deutlich ärmer. Darüber hinaus war sie in einem Grade formalisiert, der deutsche Besucher, die daran teilnahmen, nachgerade verstörte.81 Die Tischsitten, Ess- und Trinkrituale kamen den deutschen Gästen eines englischen dinners archaisch bis bizarr vor.82 Einig waren sie sich vor allem in ihrer Klage über die Tischgespräche, bei denen man peinlich genau alles vermeide, was irgend Anstoß erregen könnte. Das Decorum nämlich begrenzte die Zahl der Themen, die in Anwesenheit von Damen berührt werden konnten, auf ein Minimum.83 Ganz besonders aber kritisierten die Deutschen in London, dass sich die Damen nach geendigter Mahlzeit zurückzogen und den Männern die Weinflaschen und die interessanten Gespräche überließen. Nach etwa einer Stunde würden die Männer zum Tee gerufen, den man bei den Frauen im drawing room nehme, freilich ohne dass eine nach den Maßstäben der ‚gebildeten Stände‘ interessante Unterhaltung aufkomme.84 Auch Johann Georg Büsch fühlte sich auf dem Lande wohler, wo „die Frauenzimmer sich nicht entfernten, und die Unterhaltung um so viel lebhafter und vollkommen anständig blieb.“85 Die Abschirmung des Hauses im Alltag, die hochgradige Selektivität des Zugangs und die zeremonielle Geselligkeit sind nicht die einzigen Aspekte, die sich von London ausgehend zunächst unter den genteel und dann auch in der gesamten middle class ausbreiteten. Die Tendenz zur abgeschirmten Privatheit in den eigenen vier Wänden wurde nicht zuletzt auch dadurch ermöglicht und befestigt, dass Formen der Geselligkeit, die in Deutschland noch in das offene Haus integriert waren, konsequent aus dem Haus der genteel ausgelagert wurden. Coffeehouse und tavern gehörten in London zu den Institutionen, deren Funktion aus Sicht deutscher Reisender am erklärungsbedürftigsten erschien. Geschäftsmänner hielten sich regelmäßig im Kaffee- oder Wirtshaus auf, bisweilen den ganzen Tag, wickelten dort ihre Geschäfte ab, lasen die Zeitungen, trafen sich dort mit Bekannten und Geschäftspartnern. Da sie üblicherweise stets dasselbe Lokal aufsuchten, war es nicht ungewöhnlich, dass sie das coffeehouse oder die tavern als
80 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 385. 81 Forster, Ansichten (wie Anm. 72), 58; Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 166. 82 Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 169, 171–173; Forster, Ansichten (wie Anm. 72), 58 f.; Davidoff/ Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 385. 83 Heyl, Passion (wie Anm. 10), 290–298. 84 Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 177–179. 85 Büsch, Bemerkungen (wie Anm. 75), 103 f.; vgl. Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 207; Heyl, Passion (wie Anm. 10), 255.
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ihre Adresse angaben und dort ihre Post erhielten.86 Das Kaffeehaus war also nicht allein ein Aufenthaltsort, an dem man vorübergehend verweilte, sondern ein vollgültiger Ersatz für eine respektable Privatadresse.87 Daraus erklärt sich auch, dass man Bekannte dort zum Essen einlud: Im Wirtshaus war man von den Zwängen und Ritualen häuslicher Geselligkeit befreit.88 Kaffeehäuser waren zwar auch in Deutschland, insbesondere in den Handelsmetropolen, eine gängige Erscheinung, doch von geringerer sozialer Exklusivität. Coffeehouses und mehr noch taverns waren die entscheidenden Orte männlicher Geselligkeit, mit denen auch das Assoziations- und Vereinswesen eng verbunden war, das in London schon im frühen 18. Jahrhundert, im übrigen England etwa zur selben Zeit wie in Deutschland zu blühen begann.89 Fließende Grenzen zwischen häuslicher und Vereinsgeselligkeit gab es allenfalls in Ansätzen da, wo es um weibliche Lesegesellschaften oder karitative Frauenvereine ging.90 Dies wird durch die eleganten assembly halls unterstrichen, die schon im frühen 18. Jahrhundert allenthalben in England errichtet wurden und einer zahlreichen abendlichen Geselligkeit mit Tanz, Kartenspiel, Tee und Gesprächen Raum boten und meist unter dem Präsidat einer Dame von untadeligem Ruf stand.91 Während also Assoziationen, Vereine und Clubs in Deutschland eine Erweiterung des Repertoires an bürgerlicher Geselligkeit darstellten, entlasteten sie in England das Haus der middle classes nach und nach von der Aufgabe, Räume und Ressourcen für eine Geselligkeit bereitzuhalten, die wesentlich über das Zusammensein von family and friends hinausging. Sie erlaubten, einen Begriff von Häuslichkeit zu leben, der zur selben Zeit im deutschen Bürgertum eher als literarisches und diskursives Idealbild existierte denn als gesellschaftliche Praxis.
5 Schlussbemerkungen Wieviel offenes Haus steckt also im bürgerlichen Heim? Für die Epoche von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Frage nicht leicht zu beantworten,
86 Büsch, Bemerkungen (wie Anm. 75), 103, 108 f.; Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 157; Wendeborn, Beyträge, 238 f. 87 Boswell, London Journal (wie Anm. 38), 305; vgl. Wendeborn, Beyträge (wie Anm. 73), 240. 88 Forster, Ansichten (wie Anm. 72), 60 f.; Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 165 f. 89 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 416–449; vgl. auch die Bibliographie zu Großbritannien bei Hoffmann, Geselligkeit (wie Anm. 65). 90 Vickery, Gentleman’s Daughter (wie Anm. 5), 255–260. 91 Ebd., 239–244; Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 181. Zum Konzertleben und zur Musizierpraxis in England siehe Simon McVeigh, The Musician as Concert-Promoter in London 1780–1850, in: Bödeker/Veit/Werner (Hrsg.), Le concert (wie Anm. 70), 71–92; Peter Borsay, Music, Urban Renaissance and Space in Eighteenth-Century England, in: ebd., 253–272.
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gleicht die Zeit doch einem Fluidum, in dem unterschiedliche Normensysteme, Wertvorstellungen und Verhaltensmodelle nebeneinander existierten, in Konkurrenz zueinander oder im Austausch miteinander standen, in der experimentiert, verworfen oder bestätigt wurde. In diesem Rahmen breiteten sich die kulturellen Codes der ‚gebildeten Stände‘ und der genteel im Bürgertum bzw. den middle classes regional und sozial phasenverschoben aus. Im Zuge dieses Adaptionsprozesses verloren die tonangebenden soziokulturellen Praktiken viel von ihrer Luftigkeit und nahmen eine eher gravitätische, sozial distinktive Gesetzlichkeit an. Die Unterschiede zwischen den häuslichen Interieurs des ‚Biedermeier‘ und der Gründerzeit – oder des regency und der spätviktorianischen Ära – sind zu sprechend, als dass man widerstehen könnte, sie als sinnbildhaft zu bezeichnen. Was im georgianischen England allen Kanalisierungsversuchen zum Trotz dem Haus immer noch einen gewissen ‚offenen‘ Charakter gegeben hatte, entfiel mit der Entstehung der middle-class suburbs in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und vor allem mit der Trennung von männlicher und weiblicher Lebens- und Arbeitssphäre.92 Ganz offensichtlich beschleunigten die sozioökonomischen Veränderungen vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution die Abschottung des Haushalts gegenüber den Fährnissen des Lebens und damit dessen Umgestaltung zum home. Es waren deshalb gerade die middle classes, die die striktesten Grenzen zwischen privat und öffentlich errichteten.93 Damit korrespondierte eine weitgehende Auslagerung der Geselligkeit aus dem Haus in Kaffee- und Wirtshäuser, Clubs oder pleasure gardens und die Reglementierung häuslicher Geselligkeit durch eine elaborierte Etikette. Da London weit früher als andere Städte Englands als gefahrvoller Großstadtdschungel empfunden wurde94, entwickelte sich hier die abgeschirmte ‚Häuslichkeit‘ (domesticity) schon um die Wende zum 18. Jahrhundert zur Gegenwelt des städtischen Molochs. Ihre Ausgestaltung wurde zur Domäne der Ehefrauen.95 Bei den deutschen ‚gebildeten Ständen‘ hatte das Haus bis in die 1840er Jahre mehr mit einem ‚offenen Haus‘ gemein als mit dem ‚Heim‘ des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder des georgianischen London – selbst in Hamburg, der ‚allerenglischsten Stadt des Kontinents‘, und in Bremen, dessen bürgerliche Bauweise sich auffallend an der englischen orientierte. Sehr viel später als in England wurde die Trennung von Erwerbsarbeit und Wohnen zum bürgerlichen Allgemeingut. So waren noch in den Häusern der in den 1830er Jahren neu angelegten Esplanade in Hamburg fast durchgängig Wohnung und Geschäftsadresse unter
92 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 363 f.; C. W. Chalkin, The Provincial Towns of Georgian England. A Study of the Building Process 1740–1820. London 1974; Joyce M. Ellis, The Georgian Town 1680–1840. Basingstoke 2001. 93 Davidoff/Hall, Family Fortunes (wie Anm. 5), 359. 94 Heyl, Passion (wie Anm. 10), 266–286. 95 Schopenhauer, Reise (wie Anm. 75), 151.
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einem Dach vereint. Vor allem aber blieben die Grenzen zwischen häuslicher und aushäusiger Geselligkeit lange Zeit in einer Weise fließend, die eine Unterscheidung in privat und öffentlich kaum zulässt, zumal die Geselligkeit der ‚gebildeten Stände‘ gerade durch ihre Offenheit geprägt war. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die ‚gebildeten Stände‘ die ‚Offenheit‘ ihres Hauses einzudämmen bestrebt waren. Dienstboten und Angestellte versuchte man durch paternalistische Fürsorge an die Familie zu binden; nur Nachbarn, die ebenfalls zu den ‚gebildeten Ständen‘ gehörten, hatten freien Zugang zum Haus, und auch die Geselligkeit war an ein Mindestmaß der Beherrschung der kulturellen Praktiken der ‚gebildeten Stände‘ gebunden. Vor allem aber waren nicht alle Räume des Hauses für alle diese Personen gleichermaßen zugänglich. Die unterschiedlichen sozialen Beziehungsräume spiegelten sich in den zwischen Öffentlichkeit und Privatheit abgestuften Raumnutzungen. Entlang dieser Linien entwickelte das Bürgertum dann ab der Jahrhundertmitte seine neuen, strikteren Grenzziehungen in Bezug auf das Haus und die Häuslichkeit, die Familie und die Geselligkeit.
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Teil V: Haus und Zugehörigkeit
Simone Derix
Einführung Das ‚Haus‘ ist eine zentrale Arena, in der Zugehörigkeiten erworben, praktiziert und ausgehandelt werden. Als Gebäude wie als Konzept ist es zugleich Ort und Medium dieser Prozesse, wie die Artikel dieser Sektion facettenreich analysieren. Die Frage, wie sich Menschen in Vergangenheit und Gegenwart in der sozialen Welt verorten, zählt zu den zentralen Forschungsfeldern der Kultur- und Sozialwissenschaften. Wissenschaftlich umstritten ist, mit welchen Kategorien dies adäquat beschrieben werden kann. Galt lange Zeit – vor allem für die Untersuchung der Moderne – der Identitätsbegriff als wertvolle Schlüsselkategorie, steht dieses Konzept seit dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert beständig in der Kritik. Nicht nur mit Blick auf den vormodernen Menschen erscheint der Identitätsbegriff konzeptionell unbefriedigend, da er der Bedeutung ‚sozialer Kontexte‘ und ‚performativer Akte‘ nicht hinreichend Rechnung trägt.1 Auch für das 19. und 20. Jahrhundert werden verstärkt seit den 1990er Jahren vor allem SoziologInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen und AnthropologInnen nicht müde zu betonen, dass das menschliche Selbst situativ, positional und relational entstehe und damit wandelbar und hybrid sei.2 Der Soziologe Rogers Brubaker und der Historiker Frederick Cooper bündelten im Jahr 2000 in einem viel beachteten Artikel ihre Zweifel, ob das Identitätskonzept dieser Komplexität gerecht werden könne. Der Begriff ‚Identität‘ sei aufgrund seiner Omnipräsenz kaum mehr zu konturieren, leiste dabei zugleich einer Homogenisierung und Simplifizierung menschlicher Verortungsprozesse Vorschub und könne so deren tatsächliche Vielfalt nicht fassen.3 Angemessener erscheinen heute Konzepte von belonging oder ‚Zugehörigkeit‘. Gegen die dichotomische Starrheit der ‚Identität‘ akzentuiert ‚Zugehörigkeit‘ die „Multidimensionalität der sozialen Verortung“ samt ihres performativen Charakters und ermöglicht so eher, den „Komplexitäten, Dynamiken und Feinheiten der menschlichen Beziehungen, ihrem situativen und prozesshaften Charakter, ihren Ambivalenzen und Paradoxien auf die Spur zu kommen“.4 Zugehörigkeit ist vielgestaltig und bleibt stets veränderlich. Zugehörigkeiten entstehen über das Zusammen- oder Wechselspiel unterschiedlicher Aspekte der Einbindung. In einer synchronen Perspektive überlagern und verschachteln sich die unter-
1 Claudia Jarzebowski, Identität, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5. Stuttgart 2007, 769–775. 2 Edward Said, Orientalism. New York 1979; Homi K. Bhabha, The Location of Culture. New York 1994; Akhil Gupta/James Ferguson (Hrsg.), Culture, Power, Place. Explorations in Critical Anthropology. Durham 1997. 3 Rogers Brubaker/Frederick Cooper, Beyond ‚Identity‘, in: Theory and Soc. 29, 2000, 1–47. 4 Joanna Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung. Göttingen 2012, 10 f., vgl. auch 24–29.
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schiedlichen Ebenen der Einbindung. So ist ein Mensch erstens stets gleichzeitig in unterschiedliche „Typen von An-/Einbindung“ involviert, etwa Familie, Verwandtschaft, Haushalt, Nachbarschaft, Kirchengemeinde, Herrschaft, Kommune, Region, Nation.5 Diese Zugehörigkeiten zeichnen sich zweitens durch „unterschiedliche[] Reichweite[n]“ aus, vom Nahbereich im Haushalt bis hin zur gesamten Welt. Drittens sind die unterschiedlichen Typen jeweils nicht per se eindeutig besetzt. Ein Mensch kann sich mehreren Nationen, mehreren Haushalten etc. zuordnen bzw. ihnen zugeordnet werden. Viertens wechseln diese Zugehörigkeiten im Laufe eines Lebens mit dem fortschreitenden Alter und durch Veränderungen des sozialen Status. Damit sind die Einbindungen auch diachron wandelbar. Aus historischer Perspektive ist dabei nicht nur interessant, welche Konstellationen von Einbindungen grundsätzlich möglich waren und sind, sondern wie sich die Zugehörigkeitsmarker in der longue durée verändert haben. Es stellt sich die Frage, ob und wie sich zu welcher Zeit das Verhältnis unterschiedlicher Dimensionen der Verortung verschob, wann welcher Marker an Bedeutung verlor oder ein neuer hinzutreten und reüssieren konnte. Die Konjunkturen der unterschiedlichen Zugehörigkeitsmarker sind impliziter Gegenstand zahlreicher geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsdebatten. So gilt die konfessionelle Bindung unstrittig als bedeutende Dimension der Zugehörigkeit in der Vormoderne, während ihr Gewicht in der Moderne umstritten ist, wie nicht zuletzt die Debatten über die Säkularisierungsthese demonstrieren.6 Die Sattelzeit um 1800 lässt sich hier als Umbruchphase begreifen, auch mit Blick auf Rahmungen sozialer Zugehörigkeit. Im menschlichen Nahbereich erfuhr das Verhältnis von Haus, Haushalt und Familie grundlegende Umdeutungen, auch wenn die gelebte Praxis nur bedingt den Normvorstellungen und Idealisierungen entsprach.7 In gesamtgesellschaftlicher Perspektive versucht das Schlagwort ‚Vom Stand zur Klasse‘ den Wandel der sozialen Hierarchien und Zugehörigkeitskonzepte um 1800 konzeptionell zu fassen.8 Gender, eine weitere bedeutende Zugehörigkeitsdimension, fiel zu allen Zeiten ins Gewicht, doch wandelten sich im 19. Jahrhundert die sozialen Kontexte und gesellschaftlichen Konzepte von Geschlecht gravierend.9 Das 19. Jahrhundert fügte den Dimensionen der Zugehörigkeit zudem neue Facetten hinzu. Bis
5 Auch für das Folgezitat ebd., 54. 6 Vgl. José Casanova, Public Religions in the Modern World. Chicago 1994; Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003. 7 Andreas Gestrich, Neuzeit, in: ders./Jens Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, 364–652, hier 375–383. 8 Dazu kritisch Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, 1060–1064. 9 Karin Hausen, Die Polarisierung der ‚Geschlechtercharaktere‘ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393; Ute Frevert, ‚Mann und Weib, und Weib und Mann‘. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995.
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zum Jahrhundertende konnten sich ‚Nation‘, ‚Ethnizität‘ und ‚Rasse‘ als Bezugsgrößen der Selbst- und Fremdbeschreibung etablieren und sich im 20. Jahrhundert als Differenzkategorien dauerhaft in den Köpfen der Menschen verankern.10 Diese und andere Konjunkturen gilt es – auch mit Blick auf das Haus –, genau zu beobachten und zueinander in Relation zu setzen. Im Zuge einer Hinwendung zu Fragen der Materialität und der Wirkmächtigkeit von Dingen, die in den letzten Jahren – nicht nur in Auseinandersetzung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie Latour’scher Prägung – zu verzeichnen ist11, lässt sich heute ein stetig wachsendes Interesse an der Frage beobachten, inwiefern das Materielle in Zugehörigkeitsfragen hineinspielt. Denn auch Dinge und Besitz entfalten gegenüber Menschen bindende Kräfte, die es in vielerlei Hinsicht erst noch zu erforschen gilt. Dieses Adhäsionspotenzial wird besonders in Notsituationen beobachtbar, wenn Menschen trotz akuter Lebensgefahr nicht bereit sind, sich von ihren Habseligkeiten zu trennen, zum Beispiel eine Ortschaft oder ein konkretes Haus zu verlassen, die sie als ihr Zuhause wahrnehmen.12 Dieser Umstand deutet darauf hin, dass jede Form der Selbstverortung ein materiell-räumliches Moment impliziert: „Identity is understood to be intrinsically tied to place.“13 Dabei lassen sich sowohl der Ort allgemein als auch das ‚Haus‘ als Schnittstelle zwischen Materiellem und Sozialem verstehen. Wenn wir Orte und Räume heute als soziale Konstrukte begreifen, negiert das keineswegs ihre physische Dimension, betont aber, dass physische Gegebenheiten für den Menschen nicht ohne soziale Deutung erfassbar sind.14 Auch im ‚Haus‘ verschränkt sich die materielle Dimension des gebauten Hauses, des durch Wände, Türen und Fenster definierten Raums mit Vorstellungen vom sozialen Leben darin und in seiner unmittelbaren Umgebung. Als Gebäude platziert das Haus eine Gruppe von Menschen in einer Nachbarschaft, einem Viertel, einer Gemeinde, einer Herrschaft, einer Landschaft, einer Region, einer Nation. Es signalisiert nach außen und innen, dass seine BewohnerInnen als Familie und Verwandtschaft, als Haushalt – inklusive möglicher nicht-familialer Mitglieder – zusammengehören. Die Lage, die Gestaltung und die räumliche Einteilung des Gebäudes sind aussagekräftig für die soziale Herkunft und Verortung seiner BewohnerInnen. Hier finden sich Spuren ganz unterschiedlicher Dimensionen von Zugehörigkeit. Zugleich ist es ein zentraler Ort, an dem Zughörigkeit ausgehandelt
10 Osterhammel, Verwandlung (wie Anm. 8), 1214–1238. 11 Arjun Appadurai, The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986; Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie. Frankfurt am Main 2007; Daniel Miller (Hrsg.), Materiality. Durham 2005. 12 Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit (wie Anm. 4), 34 f. 13 Hazel Easthope, Fixed Identities in a Mobile World? The Relationship between Mobility, Place, and Identity, in: Robin Cohn/Gunvór Jónsson (Hrsg.), Migration and Culture. Cheltenham 2011, 49–70, hier 59. 14 Ebd., 54; Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001.
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und über diverse Praktiken immer wieder neu hergestellt wird. Damit ist das Haus per se eng mit der Gesellschaft verwoben. Türen und Wände sind durchlässig für soziale Ordnungsvorstellungen, und zugleich ist das Haus deren zentrale Reproduktionsstätte. Es ist auf diese Weise ein maßgebliches Medium zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Der Blick auf und in die Häuser ermöglicht neue Einsichten und Perspektivierungen ganz unterschiedlicher Zugehörigkeitsmarker, von Konfession und Frömmigkeit über die Stellung in gesellschaftlichen Hierarchien von Macht und Herrschaft sowie die Situierung in Kommune, Region, Staat und Nation bis hin zur Einbindung in eine Familie und eine Verwandtschaft. Konfessionelle Zugehörigkeit und religiöse Frömmigkeit hatten ihren festen Platz im häuslichen Leben.15 In der Vormoderne zählte es zu den Aufgaben des Hausvaters, für die tägliche religiöse Praxis der Hausgemeinschaft Sorge zu tragen. Die alltäglichen Praktiken der Frömmigkeit reichten von individuellen Formen des Gebets und der Einkehr bis zu kollektiven Formen der Morgen- und Abendandacht, der gemeinsamen Bibellektüre oder des Gebets vor den Mahlzeiten, in denen sich die HausbewohnerInnen als soziale und als religiöse Gemeinschaft erfuhren. Zugleich fügten sie sich über diese Praktiken, die je nach Konfession variierten, in eine größere Heilsgemeinschaft ein. Besondere Bedeutung erlangte das Haus als geschützter Raum für religiöse Gemeinschaften, die ihren Glauben nicht öffentlich praktizieren durften. Auch bei besonderen Anlässen stellte das Haus einen zentralen Knotenpunkt in der Beziehung zwischen Mensch und Religion dar: Bei Erkrankungen und Todesfällen wurde im Haus gebetet. Bis in die Gegenwart ist das Haus zudem in viele religiöse Feste involviert. Es ist zentraler Schauplatz des jüdischen Chanukka-Festes, auch christliche Feste wie Weihnachten und Ostern oder das islamische Opferfest werden teilweise im und um das Haus herum gefeiert. Im Vorfeld vieler Feste wird das Haus gereinigt und geschmückt. Neben den Praktiken bezeugen auch die Dinge im Haus die Religiosität seiner BewohnerInnen: die Hausbibel, das Kreuz an der Wand oder religiöse Losungen auf Hausbibeln. Ebenso wie der Mensch sich im und über das Haus in religiöse Ordnungen einbindet, handelt er mit Bezug darauf auch seine Stellung in weltlichen Hierarchien von Macht und Herrschaft aus.16 In vielen Gesellschaften repräsentierten die Häuser den sozialen Stand bzw. Rang ihrer BewohnerInnen. Große, hohe und aufwändig gestaltete Gebäude bezeugten vor der Welt die herausgehobene soziale und politische Stellung ihrer EigentümerInnen – in mehrfacher Weise. Sie repräsentierten nicht nur einen bereits erworbenen Status, sondern halfen, diesen weiter zu verfestigen, wenn sozial Aufstiegswillige ihre repräsentativen Bemühungen an ihnen orientierten. Die äußere Gestalt und Lage eines Gebäudes konnte Exklusivität und Distanz oder aber Offenheit und Nahbarkeit signalisieren. Es positionierte seine Herrschaft
15 Vgl. dazu den Beitrag von Kaspar von Greyerz in diesem Band. 16 Vgl. dazu die Beiträge von Daniel Menning und Suraiya Faroqhi in diesem Band.
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zum Rest der Gesellschaft. Die auf Anhöhen gelegenen Burgen, die mit räumlichem Abstand zu Ortschaften gebauten Schlösser des Adels wie auch die vorstädtischen Villen vermögender BürgerInnen rückten diese Bevölkerungsgruppen in exponierte Lagen. In besonderem Maße aufschlussreich sind in dieser Hinsicht herrschaftliche Häuser, in denen die politischen Entscheidungsträger residierten und die Schauplatz und Medium der Herrschaftspraxis waren. Ihre Geschichte dokumentiert den Wandel von Herrschaftskonzeptionen. Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise und in welchem Maße die Zugänglichkeit der herrschenden Eliten mit der Zugänglichkeit ihrer Residenzen korrelierte. Diese räumliche Gestaltung von Herrschaft brachte in den verschiedenen Regionen Europas – die Beispiele reichen vom Baltikum bis zum Osmanischen Reich – sehr unterschiedliche Konstellationen von Menschen und Häusern hervor. Aufschlussreich sind nicht nur die Durchlässigkeiten des Gebäudes nach außen, sondern ebenso die innere Raumeinteilung sowie die Hierarchien und Zugangsregime innerhalb der Hausmauern. Welche Teile des Hauses wurden für welche Funktionen genutzt? Welche Funktionen kamen neu hinzu oder wechselten das Gebäude? Wem waren Zutritt und Teilhabe gestattet? Welche Mechanismen regulierten die innerhäuslichen Grenzübertritte? Durch den Fokus auf herrschaftliche Häuser werden die Komplexität der hausinternen Hierarchien und die soziale Dimension materieller Ensembles beobachtbar. In diesen Häusern kreuzten sich unterschiedliche Dimensionen von Zugehörigkeit. Männer trafen auf Frauen, Herrschende auf Beherrschte, Hausangehörige auf Gäste, Hausherren auf Bedienstete – Zugehörigkeiten, die je nach Person in ganz unterschiedlichen Kombinationen auftraten. Machtbeziehungen kennzeichneten nicht nur das Innere des Hauses. Vor allem in der Moderne regulierte das Haus als Gebäude, dem über die Hausnummerierung seit dem 18. Jahrhundert eine feste Identität zugewiesen wurde, maßgeblich den Zugriff des Staates auf seine BürgerInnen.17 Über das eindeutig identifizierbare Haus sollten auch seine BewohnerInnen für den Staat stets auffindbar sein. Bis in die Gegenwart ist eine Meldeadresse die Voraussetzung dafür, dass BürgerInnen einen Pass erhalten. Aus staatlicher Sicht setzt Identität also voraus, dass ein Mensch sich räumlich fest verorten lässt. Über die Adresse machte der moderne Staat Menschen zu verwaltbaren Staatsbürgern und löste damit das Haus als gesonderten Machtbereich auf, in dem, so die normative Vorstellung, die Hausherren das Sagen haben sollten. In der Frühneuzeit prägte der britische Jurist Edward Coke den Satz „My home is my castle“, um das Recht des Hausherren zu unterstreichen, bei Gefahr sein Haus und dessen BewohnerInnen mit der Waffe verteidigen zu dürfen. Zwar wird die Maxime auch heute häufig zitiert, um den Schutz der Privatsphäre zu verteidigen, doch lässt
17 Vgl. dazu den Beitrag von Anton Tantner in diesem Band.
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sich gerade für die Moderne eine verstärkte staatliche Durchdringung des Hauses konstatieren.18 Häuser überleben baulich wie symbolisch ihre BewohnerInnen. Sie stellen ein materielles Bindeglied zur Vergangenheit dar. Vor allem für den europäischen Adel und andere auf Dynastiebildung bedachte Familien materialisiert sich in Haus- und Grundbesitz die familiale Tradition und damit Alter und Beständigkeit eines Familienverbunds. Anciennität bestimmte bereits in der Vormoderne mit über den sozialen Rang einer Familie; in der Moderne, als der Adel politische Macht einbüßte, wurde seine Historizität umso mehr zur zentralen Ressource für sein Fortbestehen. Burgen, Schlösser, Herrenhäuser gerieten zu steinernen Zeugen familialer Kontinuität. Zugleich ermöglichten sie ihren EigentümerInnen, sich in gewandelte Verhältnisse einzupassen. Ebenso wie der Adel über Häuser und Besitzungen in unterschiedlichen Territorien in der Vormoderne seine Translokalität betonen konnte, erwiesen sich die Besitzungen und Gebäude im 19. Jahrhundert auch als kompatibel mit dem Trend zur Nationalisierung und reüssierten zu nationalen Vorzeigeobjekten. Häuser suggerierten, dem Wandel der Zeit zu trotzen und blieben zugleich deutungsoffen. Sie schlugen den Bogen in die Vergangenheit und bildeten eine Brücke in die Zukunft über den Tod ihrer jeweiligen EigentümerInnen hinaus. In ihnen materialisierte sich die Weitergabe eines Erbes von Generation zu Generation. Sie bildeten das Korsett für Konstrukte familialer Tradition und Kontinuität. Die symbolische Dimension des Hauses ist kaum zu überschätzen.19 Menschen sehnten und sehnen sich nach der Rückkehr in Häuser, die sie hatten verlassen müssen, auch – oder gerade – wenn diese längst zerstört und damit unwiederbringlich verloren waren. Häuser lebten und leben in Erinnerungsbildern fort.20 Auch Häuser, die noch gar nicht gebaut waren, konnten bindende Kräfte zwischen sich und den Menschen ebenso wie unter den Menschen entfalten. Gigantomanische Bauprojekte vom Turm zu Babel bis zu Hitlers Reichskanzlei sollten gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen architektonisch Ausdruck verleihen. Das Bausparen, das bereits seit der Antike nachweisbar ist und vor allem seit dem 18. Jahrhundert in Europa weite Verbreitung fand, versprach die Realisierbarkeit einer zukünftigen Verortung. Das gebaute Haus wurde zum Medium, über das sich die Zukunft planen und in ihrer Kontingenz einhegen ließ. Zugleich verbanden sich mit Häusern Hoffnungen und Wünsche, die sie als gebaute Realität nicht einlösen konnten.21 Auch ideologisch avancierte das ‚Haus‘ im 19. Jahrhundert zum symbolischen Ankerpunkt einer verloren geglaubten Ordnung. Wilhelm Heinrich Riehl und Frédéric Le Play sind, ebenso wie Otto Brunner, ihr Epigone im 20. Jahrhundert, im Kern Nostalgiker,
18 Vgl. Gestrich, Neuzeit (wie Anm. 7), 383–386. 19 Vgl. dazu den Beitrag von Simone Derix in diesem Band. 20 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Frankfurt am Main 1987 [1957]. 21 Marjorie Garber, Sex and Real Estate. Why We Love Houses. New York 2001.
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wenn sie den Verlust des ‚ganzen Hauses‘ betrauern, eines Ordnungsmodells, dessen gesellschaftliche Reichweite HistorikerInnen in der Vergangenheit begründet angezweifelt haben.22 Gleichwohl haben diese sentimentalen Klagen über den Niedergang einer als organisch imaginierten häuslichen Ordnung der Vormoderne eine große Wirkmächtigkeit entfalten können, die bis heute den wissenschaftlichen und öffentlichen Blick auf das Leben in und um das Haus erschwert. Das Haus machte nicht nur gesellschaftstheoretisch Karriere; auch in Literatur, etwa in den so genannten Häuserromanen23, Film und bildender Kunst werden die sozialen Zugehörigkeiten von Menschen über ihre Stellung in Häusern sowie im Zustand der Bauten lesbar.24 Diese wissenschaftlichen und künstlerischen Haus-Imaginarien gestalten Wirklichkeit mit.
22 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 3: Die Familie. Stuttgart 1855; Frédéric Le Play, Ouvriers européens. Études sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvrières de l’Europe, précédée d’un exposé de la méthode d’observations. Paris 1855; Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127. 23 Vgl. dazu die Beiträge von Nacim Ghanbari und Christian von Zimmermann in diesem Band. 24 Monika Neuhofer/Kathrin Ackermann (Hrsg.), Von Häusern und Menschen. Literarische und filmische Diskurse über das Haus im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 2011; Monika Shafi, Housebound. Selfhood and Domestic Space in Contemporary German Fiction. Rochester 2012.
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Das Haus als Ort der Andacht 1 Einleitung: Haus und Haushalt in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen Unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Wien Ende November 1676 beschreibt Johanna Theresia von Harrach (1639–1716) ihrem als kaiserlichem Gesandten in Spanien zurückgebliebenen Ehemann detailliert, wie sie die Zimmer im neuen Wohnhaus der Familie aufzuteilen gedenkt.1 Das Kommunikationsmedium sind sogenannte Tagzettel. Die hier angesprochenen Mitteilungen stellen in zweifacher Hinsicht einen Spezialfall dar: zum einen, weil die Harrachs zum österreichisch-böhmischen Hochadel gehörten, d. h. zu einer gesamtgesellschaftlich gesehen sehr kleinen Minderheit, zum andern, weil die Tagzettel eine höchst außergewöhnliche Textsorte darstellen, eine wohl nur innerhalb und im Umfeld der Familie Harrach gebräuchliche, hybride Textform, ein Amalgam von Tagebuch und Brief.2 Natürlich sind Tagzettel dennoch Selbstzeugnisse. In Inhalt und Form sind frühneuzeitliche Selbstzeugnisse (u. a. Autobiographien, Lebensläufe, Tagebücher, Familienchroniken, Briefe) jedoch sehr heterogene Texte, die sich − mit Ausnahme des Briefs − einer strengen gattungsspezifischen Kategorisierung entziehen.3 So kommt es, dass die räumliche Aufteilung eines Hauses in solchen Texten nur in Ausnahmefällen beschrieben wird. Zu diesen Ausnahmen gehören die ausführlichen Aufzeichnungen des Kölner Aristokraten Hermann von Weinsberg (1518–1597), der im Rahmen seiner Gedenkbücher im „Liber Senectutis“ nicht nur die Häuser beschreibt, die ihm und seiner Familie gehören, sondern auch seine Wohnung im Haus zu Cronenberg, das er zusammen mit seinem Bruder und dessen Frau bewohnt.4
1 Susanne Claudine Pils, Schreiben über Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach, 1639–1716. Wien 2002, 104. 2 Vgl. dazu meine Rezension der Edition der Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667), in: MIÖG 120, 2012, 171 f. 3 Dass Selbstzeugnisse (Autobiographien, Tagebücher, Familienchroniken und vergleichbare Schriften) aus geschichtswissenschaftlicher Sicht wertvolle Quellen darstellen, bedarf heutzutage keiner besonderen Rechtfertigung mehr. Nach wie vor ist jedoch das Missverständnis verbreitet, es handle sich in dem Sinne um serielle Quellen, dass ihre wissenschaftliche Befragung nur dann legitim sei, wenn von einem möglichst umfangreichen Textkorpus ausgegangen werde. Es wird in diesem Beitrag kein Versuch unternommen, dieser falschen Erwartung zu entsprechen. Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit sind in formaler Hinsicht, wie erwähnt, unendlich vielseitige Texte, die sich (noch) keiner gattungsspezifischen Logik unterwerfen. Es handelt sich um keine seriellen Quellen, sondern um Texte, die in ihrer je spezifischen Logik verstanden und interpretiert werden müssen. 4 Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinbergs. Digitale Gesamtausgabe, URL: www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Senectutis.htm, 72 f. (Zugriff: 05. 06. 2012).
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In den meisten anderen frühneuzeitlichen, deutschsprachigen Selbstzeugnissen wird die innerhäusliche Raumaufteilung nicht systematisch, sondern hier und dort zufällig angesprochen, etwa, wenn die Tagebücher des fränkischen evangelischen Pfarrers Thomas Wirsing (1626/27–1601) erkennen lassen, dass das Pfarrhaus zu Sinbronn eine untere Stube im Erdgeschoss aufwies und ein oberes Stüblein, das der Autor „museo“ (seine Schreibstube) nennt5, oder wenn im „Lebenslauff“ des Ulmer Architekten Joseph Furttenbach (1591–1667) zwar öfters der Räume gedacht wird, in denen seine und die Kunstkammer seines Sohnes Joseph d. J. (gest. 1655) untergebracht sind, die übrigen Räume des Hauses jedoch nur an vereinzelten Stellen per Zufall angesprochen werden.6 Dasselbe gilt auch für die allermeisten frühneuzeitlichen Selbstzeugnisse jüngeren Datums, wie zum Beispiel für die Aufzeichnungen der Regula von Orelli-Escher (1757–1829) aus Zürich.7 In frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen stehen nicht ‚Dinge‘ im Vordergrund, sondern vor allem Beziehungen. Über Haushalt und Familie als Personenverbände ist in diesem Texten sehr viel mehr zu erfahren als über das Haus in materieller Perspektive.8 Zu den zahlreichen Praktiken im Alltag gehörte die häusliche oder persönliche Andacht als wichtiger Ausdruck kollektiver oder individueller Frömmigkeit. Über die Räume, in denen häusliche oder persönliche Andachten stattgefunden haben, geben uns die nachstehend untersuchten Selbstzeugnisse kaum Auskunft, gleichwohl aber über die vielfältigen Formen, zu denen hier auch das persönliche Gebet und die religiöse Lektüre gezählt werden. Abgesehen von einem kurzen Ausblick am Schluss gliedert sich das Folgende in zwei Teile. Der erste gilt der Untersuchung deutschsprachiger Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit. Eine systematische Analyse anhand protestantischer und katholischer Texte zum Thema hinsichtlich dieser Quellen fehlt bislang.9 Der zweite Teil ist
5 August Gabler, Altfränkisches Dorf- und Pfarrhausleben, 1559–1601. Nürnberg 1952, 29. 6 Joseph Furttenbach, Lebenslauff 1652–1664, hrsg. von Kaspar von Greyerz/Kim Siebenhüner/Roberto Zaugg. Köln 2013. 7 Regula von Orelli-Escher, 1757–1829. Selbstzeugnisse aus dem Umfeld von J. C. Lavater, hrsg. von Gustav W. von Schulthess. Stäfa 2001. 8 Eine Ausnahme stellt die Hauschronik der Familie Holl dar, die eine detaillierte Beschreibung seiner Augsburger Bauten durch den Architekten Elias Holl (1573–1646) enthält. Aber es handelt sich dabei um rein äußerliche Beschreibung der verschiedenen Bauobjekte. Deren innere Raumaufteilung wird an keiner Stelle angesprochen. Vgl. Die Hauschronik der Familie Holl (1487–1646), insbesondere die Lebensaufzeichnungen des Elias Holl. Baumeisters der Stadt Augsburg, hrsg. von Christian Meyer. München 1910, 38–89. Aus den soeben erwähnten autobiographischen Aufzeichnungen des Ulmer Architekten Joseph Furttenbach ist jedoch (mit Ausnahme der Festungsbauten) kaum etwas über seine Tätigkeit als Baumeister zu erfahren. Vgl. Furttenbach, Lebenslauff (wie Anm. 6). 9 Der Einbezug einer größeren Zahl jüdischer Selbstzeugnisse würde Hebräischkenntnisse voraussetzen. Vgl. dazu u. a. Gabriele Jancke, Die ( זכרונותsichronot, Memoiren) der jüdischen Kauffrau Glückel von Hameln zwischen Autobiographie, Geschichtsschreibung und religiösem Lehrtext, Geschlecht, Religion und Ich in der Frühen Neuzeit, in: Magdalene Heuser (Hrsg.), Autobiographien von Frauen.
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dem Blick auf englische Selbstzeugnisse des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gewidmet. Die Forschungslage ist hier eine andere, weil verschiedene Selbstzeugnisse durch die Erforschung des Puritanismus und des religiösen Dissidententums eine genauere Untersuchung auch zum hier behandelten Thema erfahren haben.
2 Der deutschsprachige Raum In der Vormoderne gehörte die Andacht in ihrer kollektiven Form zum geistlichen Auftrag der Hausväter und im Puritanismus und Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts zu den Aufgaben der Leiter entsprechender häuslicher Versammlungen und Konventikel.10 Im protestantischen Haus – so Lucian Hölscher in Bezug auf das 16. und 17. Jahrhundert aus allerdings eher idealtypischer Perspektive11 – „versammelte sich die Hausgemeinde zur täglichen Morgen- und Abendandacht. […] An der Hausandacht nahm über die Kernfamilie der Eltern und Kinder sowie der im Hause lebenden Verwandten hinaus auch das Gesinde teil. Das gab ihr einen formellen, herrschaftlichen und erzieherischen Charakter […].“12 Der Jesuit Friedrich Spee verfasste unter anderem ein „Güldenes Tugendbuch“, das 1649 im Druck erschienen ist. Darin ist von der „andacht des Volckes“ die Rede. Damit gemeint sind in erster Linie „Prozessionen und Gottesdienst mit Musik, Glockenklang und Orgelbrausen, Pomp und Pracht.“13 Auch wenn die katholische Frömmigkeit der Frühen Neuzeit neben ihrer Praxis in der Kirche und im öffentlichen Raum auch durch häusliche religiöse Lektüre und Devotionaliengebrauch mit geprägt war, so ist die Andacht in der soeben skizzierten Form wenig ausgeprägt. Häusliche Fröm-
Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996, 93–134; Natalie Zemon Davis, Leone Modenas ‚Leben Jehudas‘ als frühneuzeitliche Autobiographie, in: dies., Lebensgänge. Berlin 1998, 41–56; dies., Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian. Berlin 1996, 11–79 (zu Glickl). Vgl. auch Avriel Bar-Levav, Ausdrucksformen jüdischer Religiosität in Deutschland zu Beginn der Neuzeit, in: Kaspar von Greyerz/Anna Conrad (Hrsg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 4: 1650–1750. Paderborn 2012, 413–464. 10 Zum Begriff des ‚Konventikels‘ vgl. unten Anm. 23. 11 In deutschsprachigen Selbstzeugnissen des angesprochenen Zeitraums wird, wenn überhaupt, häufig nur eine Andacht pro Tag erwähnt. 12 Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005, 73. Vgl. dazu ergänzend Patrice Veit, Die Hausandacht im deutschen Luthertum. Anweisungen und Praktiken, in: Ferdinand van Ingen/Cornelia Niekus Moore (Hrsg.), Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden. Wiesbaden 2001, 193–206. 13 Anne Conrad, Der Katholizismus, in: von Greyerz/dies. (Hrsg.), Handbuch der Religionsgeschichte (wie Anm. 9), 15–142, hier 74.
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migkeitsformen blieben bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eng mit dem gemeinschaftlichen und öffentlichen Charakter des barocken Katholizismus verbunden.14 Katholische Autoren empfahlen zwar das persönliche Rosenkranz-Gebet, blieben jedoch gegenüber einer potenziell protestantisch eingefärbten häuslichen Frömmigkeit auf Distanz, und die von den Jesuiten geförderte Marienfrömmigkeit war unter anderem über Bruderschaften, Beichte und Katechisierung in den kirchlichen Einflussbereich mit eingebunden.15 Die Entwicklung der durch die Exerzitien des Ignatius von Loyola inspirierten, jesuitisch geprägten individuellen Gebetsfrömmigkeit war zwar auf lange Sicht durchaus erfolgreich, musste sich jedoch auch gegen deutliche Widerstände durchsetzen.16 In einem Abschnitt seiner bekannten Gedenkbücher, den er mit „Von der religion“ überschreibt, geht der altgläubige Kölner Hermann von Weinsberg (1518–1597) im Jahre 1578 auf die durch die Reformation bewirkten Veränderungen der konfessionellen Landschaft Europas ein und bemerkt am Ende: „In unserm haus Weinsberch haben wir eiz, die den Jesuiten anhengisch sint, und gar widder die andern alle sint mit mehe eifer catholigschs. Ich wil bei dem alten pliben.“17 Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass in katholischen deutschsprachigen Selbstzeugnissen zwar individuelle Gebete und die gemeinsame Andacht am Sterbebett thematisiert werden, nicht aber andere Formen der häuslichen Andacht, die sich aus heutiger Sicht als vorrangig protestantisch konnotieren lassen. Im Verständnis der Frühen Neuzeit war die protestantische häusliche Andacht Teil der Hauszucht. So berichtet etwa der Basler Kaufmann Andreas Ryff (1550–1603) im Rückblick auf seine Lehrjahre der frühen 1560er Jahre beim Gewürzkrämer Jean du Mollart in Genf, dieser habe ihn sehr hart gehalten und ihn selbst bei geringer Ursache mit Ruten geschlagen. Doch habe er (Ryff) sich über diese Härte nie wirklich beklagt18, „dan ich gern bei ime gwesen bin […], dan er ein herliche Haußzucht und guotte polecey gehalten: dann alle morgen, wie auch alle obent, ist er, sein wyb, schwiger und gantzes haußgesinde im saal nider gekneiwet, do hat die frauw überlouth gebætet, dem herren Got flissig gedancket umb seine gnaden und guotthaten, auch in [=ihn] ernstlich gebäthen umb seinen geist, schutz, schirm und barmhertzig-
14 Marc R. Forster, Domestic Devotions and Family Piety in German Catholicism, in: ders./Benjamin J. Kaplan (Hrsg.), Piety and Family in Early Modern Europe. Essays in Honour of Steven Ozment. Aldershot 2005, 97–114, hier 99. 15 Ebd., 105. 16 Zum Erfolg vgl. Louis Châtellier, L’Europe des Dévots. Paris 1987. 17 Autobiographische Aufzeichnungen (wie Anm. 4), 65. Wie Gérald Chaix gezeigt hat, sind es im Hause Weinsberg in erster Linie die Frauen, die sich für jesuitisch geprägte Frömmigkeitsformen einsetzen: Gérald Chaix, De la piété à la dévotion. Le conseiller de Cologne Hermann Weinsberg entre mère et belle-soeur (1518–1597), in: Jean Delumeau (Hrsg.), La religion de ma mère. Le rôle des femmes dans la transmission de la foi. Paris 1992, 157–172. 18 Zum frühneuzeitlichen Begriff der ‚Policey‘ vgl. Andrea Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der frühen Neuzeit. Stuttgart 2009.
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keit, zuo wellichem ampt er mich, nachdem ich ein wenig angefiert, promofiert hat, durch welliches mitel ich worlich inbrinstikeit der religion erlangt hab.“19 Ähnlich äußert sich der lutherische Pastor Wolfgang Ammon (1572–1634) im Lebenslauf seiner zweiten Ehefrau Regina Theodoricus, den er in seine Haus- und Familienchronik aufnimmt: „Ist von Kindsbeinen an und in der zarten Jugend nach Pauli Vermahnung zur christlichen Schul gehalten […]. Die Hauszucht ist auch gut gewesen […], darum sie dann nicht nur das gedruckte, sondern auch geschriebenes fertig lesen und wohl schreiben gelernet, auch der Gottesfurcht sich vor allen Dingen geflissen und viel schöner Psalmen sampt den Feyer- und Sonntäglichen Evangelien, auch schöne Gebet allerhand auswendig recitiren können, und ist dannoch darneben zur Haussarbeit, neen, stricken und andern weiblichen Verrichtungenuffs Beste von ihren Eltern […] angewiesen, auch fleißig im Haus behalten und wenig ausgelassen.“20 Hauszucht – und mit ihr auch die Hausandacht – ist nicht ausschließlich, aber durchaus auch ein Instrument der Disziplinierung in der Hand des Hausvaters. Neben den bereits erwähnten Beobachtungen des Andreas Ryff machen dies auch die Aufzeichnungen des elsässischen Kannengießers Augustin Güntzer (1596–1656?) – auch er ein Calvinist – hinsichtlich seiner Jugend deutlich: Der Vater habe ihn zwecks Meidung schlechter Gesellschaft zur Feldarbeit angehalten. Zu Hause „muß ich tœglichen 2 Mall die Stuben und daz Hauß kœren, daz Hauß mit Weckolt[e]nholtz bereichen [=beräuchern], Holtz undt Waßer in die Kuchen tragen, zu Zeitten auch daz Feiher in Offen machen, im Sampstdag ale die Schu im Hauße waschen, sondtdagmorgens salben, dem Vich [=Vieh] sein Fudter geben, Stall misten, Gaßen kehren. Ist es schœn Wetter, so muß ich im Felte arbeidten, ist es Unwetter, so muße ich zu Hauß auff dem Kandtgießerhandtwerck arbeidten. Tœglichen muß ich des Morges undt Abens mine Gebett im Haberman verrichten, sondtdagmorgens daz Evanieliom sampt der Außlegung allen in dem Hauß fohrleßen, dieweil die Evanielischen [im mehrheitlich katholischen Obernai, K. v. G.] dazumall kein offentliche Kirch undt Versamlung hatten […]. Dises ales muß ich verichten, biß daß ich 19 Jahr alt wahr undt in die Wanderschafft zog.“21 Die häusliche Andacht hat in frühneuzeitlichen, deutschsprachigen Selbstzeugnissen einen ganz unterschiedlichen Stellenwert. Das liegt zum einen an deren Heterogenität, insbesondere auch an den thematischen Schwerpunkten eines spezifischen Texts. Letztere veränderten sich deutlich mit dem Aufkommen der Erneuerungsbewegung des Pietismus von den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts an.
19 Selbstbiographie des Andreas Ryff (bis 1574), hrsg. von W. Vischer, in: Beitr. zur vaterländischen Gesch. 9, 1870, 37–121, hier 53. 20 Selbstbiographie des Stadtpfarrers Wolfgang Ammon von Marktbreit († 1634), hrsg. von Franz Hüttner, in: Archiv für Kulturgesch. 1, 1903, 50–98, 214–239, 284–325, hier 98. 21 Augustin Güntzer, Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert, hrsg. von Fabian Brändle/Dominik Sieber. Köln 2002, 100 f.
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Das Konventikel, d. h. die Versammlung der Frommen im häuslichen Rahmen, bildete dabei den wesentlichen organisatorischen Kontext. Solche Versammlungen galten dem Gespräch, der gemeinsamen Andacht, dem Gebet, der kollektiven Lektüre.22 Wie entsprechende Selbstzeugnisse zeigen, ist dabei von einer großen Vielfalt auszugehen.23 Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeugen spätpietistisch-erweckte Tagebücher von dieser gruppenspezifischen Tradition der Andacht.24 Sehr verbreitet, unabhängig vom konfessionellen Kontext, sind in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen die Hinweise auf und Erinnerungen an Andachten am Sterbebett eines Familienangehörigen. Ich beschränke mich auf wenige Zeugnisse sowohl protestantischer wie katholischer Provenienz. Der St. Galler Tuchhändler Johannes Rütiner (1501–1556) war beim Tod seines Vaters 1513 nicht anwesend. Er gibt jedoch einen Bericht seiner Schwester Elisabeth wieder, die u. a. darauf hinweist, der sterbende Vater habe drei Tage vor dem Tod die Türe öffnen lassen, damit die Nachbarn bei seinem Abschied von der Welt mit dabei sein könnten. Am Todestag habe er alle anwesenden Kinder um sein Bett versammelt, habe sie gesegnet und mit jedem von ihnen gesprochen. Als Elisabeth bemerkte, dass er verändert war, wurden die Nachbarn herbeigeholt. „Aber er kam noch einmal auf, sprach jedoch von da an nie mehr etwas. Die Nachbarn gingen wieder weg. Dann, zwischen zwölf und ein Uhr, entschlief er in Christus.“25 Während hier zweimal auf die Rolle der Nachbarn hingewiesen wird, dominiert in der Erzählung des reformierten Pfarrers Josua Maler (1529–1599) vor allem die Beschreibung des ‚guten‘ Todes seines Vaters Ende Oktober 1585 in Zürich.26 Ein ‚guter‘ Tod im zeitgenössischen Verständnis war ein Tod bei gutem Verstande und im unangefochtenen Glauben und kein plötzliches, jähes Lebensende.27 Diese
22 Vgl. dazu u. a. Hartmut Lehmann, ‚Absonderung‘ und ‚Gemeinschaft‘ im frühen Pietismus. Allgemeinhistorische und sozialpsychologische Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 4, 1979, 54–82. 23 Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg, 17.–19. Jahrhundert. Göttingen 2005, 111 f. 24 Zum Beispiel im Kontext des Basler Herrnhutertums die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger (1806–1838) und Ursula Bruckner-Eglinger (1797–1876): ‚O Herr, erbarme dich mein‘. Die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger im Kontext des Basler Pietismus, hrsg. von einer studentischen Arbeitsgruppe des Historischen Seminars der Universität Basel. Basel 2010; ‚Heute war ich bey Lisette in der Visite‘. Die Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula Bruckner-Eglinger, 1816–1833, hrsg. von Bernadette Hagenbuch. Basel 2014. 25 Johannes Rütiner, Diarium 1529–1539, Teilbd. 1/2. Lateinisch mit deutscher Übersetzung, hrsg. von Ernst Gerhard Rüsch. St. Gallen 1996, 545. 26 [Josua Maler], Selbstbiographie eines Zürcherischen Pfarrers aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1885, 123–214 [Teil I]; Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1886, 125–203 [Teil II], hier Teil II, 161 f. 27 Sebastian Leutert, Geschichten vom Tod. Tod und Sterben in Deutschschweizer und oberdeutschen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts. Basel 2007.
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Ansicht hatte überkonfessionelle Bedeutung. Derartige Vorstellungen, so die Herausgeber des Gedächtnisbuchs der österreichischen Adligen Esther von Gera (um 1565–1611), wollten in der Form einer autobiographischen meditatio mortis „keine individuelle Todesbewältigung vermitteln, sondern den Gleichklang mit dem religiösen Weg der ‚ars moriendi‘, die durch eine nahezu unüberschaubare Zahl erbaulicher Sterbebüchlein vermittelt und auch im Protestantismus weitgehend unverändert übernommen wurde […].“28 Auch im Rückblick auf den Tod von Kindern wird hin und wieder hervorgehoben, dass sie bei gutem Verstand gestorben seien. Zum Tod ihres 6½-jährigen Sohnes Karl Sigmund im Februar 1683 betont die steiermärkische Autorin Maria Elisabeth Stampferin (1638–1700), es sei gar nicht zu beschreiben, „wie verständig er gestorben […]/ hat Gott alleweil angerieft/ hatt auch bettet/ weil er hatt rötten [=reden] khinen/ hatt auch ein Döstement gemacht […].“29 In Erinnerung an den Tod seines fünfeinhalbjährigen Sohnes Matheus unterscheidet der Vater Matheus Miller (1625–1685), ein Augsburger Kaufmann, das Gebet der Umstehenden von der Andacht des Sterbenden. ‚Andacht‘ wird hier als persönliche Einkehr verstanden, auch wenn sie sich auf ein sterbendes Kind bezieht: „Anno 1657 a die 22. aprill newen callender, sontags, morgens vmb halben 19 vhr, nach der morgen predig, hat es dem lieben Got gefallen, mein liebes söhnlin Matheus auß disem zeitlichen Jamertall zue seinen götlichen gnaden inn dz ewige leben abzuefordern, so gar sannft vnnd still vnder dem gebet der vmbstehenden, auch mit seiner selbs erzeigten andacht, erfolget, jnn seinem alters 5 ½jaar.“30 „Mit weinenden Augen“ nimmt der katholische Handwerker Balthasar Joseph Tschudi im Jahre 1800 Abschied von seiner Frau. In Form und Sprache unterscheiden sich seine Aufzeichnungen deutlich von solchen des 16. und 17. Jahrhunderts. An der Andacht am Sterbebett nehmen − im Zeichen einer gewissen ‚Privatisierung‘ derselben − nur noch Geistliche und Verwandte teil, jedoch keine Nachbarn mehr. Als die sterbende Frau ihrem Ehemann den Wunsch auf ein frohes Wiedersehen „in jener Welt“ auf den Weg gab, hat ihn „Angst und Traurigkeit überschwemmt. Ich wagte nicht mehr, meine Frau anzusehen und ich übergab sie lebend und sterbend gänzlich der Geistlichkeit und den Verwandten.“31
28 Trauer und Gedächtnis. Zwei österreichische Frauentagebücher des konfessionellen Zeitalters (1597–1611, 1647–1653), hrsg. von Martin Scheutz/Harald Tersch. Wien 2003, 96 (Kommentar der Herausgeber. Der Text des Gedächtnisbuchs wird ebd., 122–179, wiedergegeben). Unmittelbarer Anlass sind der Tod der Schwester und − wenig später − des Ehemanns. Zur Rolle der ars moriendi-Tradition im Protestantismus vgl. Leutert, Geschichten vom Tod (wie Anm. 27, 61–68). 29 Der Frau Maria Elisabeth Stampfer aus Vordernberg Hausbuch, hrsg. von Joseph von Zahn. Wien 1887, 26. 30 Die Aufzeichnungen des Matheus Miller. Das Leben eines Augsburger Kaufmanns im 17. Jahrhundert, hrsg. von Thomas Max Safely. Augsburg 2003, 107. 31 Chronik der Familie Balthasar Joseph Tschudi von Ennenda und seiner Frau Maria Magdalena Stählin von Netstal. (Begonnen am 20. Christmonat 1790, beendet nach 1802), hrsg. von German Stud-
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Stille persönliche Gebete gab es in allen Konfessionen. Sie werden jedoch in Selbstzeugnissen protestantischer Provenienz häufiger erwähnt als in katholischen. Eine nicht-spekulative Erklärung für diesen Unterschied gibt es bis dato nicht.32 Auf das ritualisierte (im Gegensatz zum stillen, persönlichen) Gebet stößt man freilich auch in Texten katholischer Autoren und Verfasserinnen. In Wernher Schodolers (1547−1587) Tagebuch folgt auf den Bericht über den Tod von Angehörigen regelmäßig der Wunsch, Gott möge dem Verstorbenen gegenüber gnädig sein und ihm ein seliges Ende bereiten.33 Als ein Nachbarort 1683 von einer schlimmen Feuersbrunst heimgesucht wird, notiert Maria Elisabeth Stampferin in ihrer Hauschronik: „Vnßer lieber Herr gott wolle unßgenettig vor sollichn Vngliekh behietten vnd bewaren. Ist ein iberauß winttige Zeit/ fiercht [=fürchte] mich schier zu khranckh auch vor dem Feyer […]/ wan ein Vngliekh solt außkhemben [=auskommen]/ eß khinets khein Mensch erwörn [=erwehren].“ Deshalb verlässt sie sich allein auf Gott.34 Sie dankt ihm für den eigenen sowie den Kindersegen ihrer erwachsenen Kinder.35 In ihre Gebete schließt sie auch die Hoffnung auf den wirtschaftlichen Erfolg von Haus und Familie ein, namentlich hinsichtlich des Bergwerks, das ihr Ehemann 1666 erworben hat.36 Der Bauer Caspar Preis beendet den ersten, von 1636 bis 1650 reichenden Teil seiner Chronik mit den Worten: „Ich sage unverhollen, es ist am Weltende. Es ist doch wetter [=weder] Ehr, Lieb, Trauw noch Glauben mehr in dieser bösen betrugliche Welt. O lieber Herr Gott, komme nur balt und verhelfe uns alle zu deiner Glory und ewiger Seeligkeit. Amen.“37 In protestantischen Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit sind die Hinweise auf das individuelle Gebet besonders ausgeprägt im Tagebuch des jungen böhmischen Adligen und späteren Hofpredigers Hieronymus des Älteren Schlick aus den Jahren 1580 bis 1582,38 in der Autobiographie des calvinistischen Handwerkers Augustin
ler-Freuler, in: Jb. des Hist. Ver. des Kantons Glarus 76, 1996, 11–146, hier 120. 32 Eine gewisse Ausnahme stellen in dieser Hinsicht autobiographische Aufzeichnungen von süddeutschen Ordensleuten aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs dar, die hier jedoch nicht weiter in Betracht gezogen werden, da in ihnen der Bezug zum Haus im hier postulierten Sinne fehlt. 33 Wernher Schodolers des jüngern Tagebuch, hrsg. von Walther Merz, in: Taschenbuch der hist. Ges. des Kantons Aargau für das Jahr 1904, 77–164, hier 83, 97, 115. 34 Frau Elisabeth Stampfer (wie Anm. 30), 31. 35 Ebd., z. B. 39, 41. 36 Ebd., 8, 23, 60. 37 Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis, 1636–1667, hrsg. von Wilhelm A. Eckhardt und Helmut Klingelhöfer. Marburg a. d. Lahn 1998, 72. 38 Hieronymus (der Ältere) Schlick, Das Tagebuch. Eine Selbstdarstellung aus den Jahren 1580−1582, hrsg. von Miroslava Durajová/Rotislav Smišek. Budweis 2008. Das am 1. Januar 1580 einsetzende Tagebuch verweist in seinen kurzen Tageseinträgen häufig auf den Beginn des Tages mit einem individuellen Gebet.
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Güntzer39 sowie in den Tagebüchern des Toggenburger Kleinbauern und Garnhändlers Ulrich Bräker (1735–1798) der frühen 1770er Jahre.40 Manchmal nähert sich das Gebet formal dem Gedicht, wie etwa verschiedentlich in den Aufzeichnungen des Kannengießers Augustin Güntzer und in den Kalendernotizen der Calwer Pietistin Susanna Mayer des Jahres 1692: „Ach Gott deiner Wohltat ist so vill, Sie hat weder Maß noch Züll, Ja da hast uns auch währender Zichtigung so gefihret, Daß kein Unfal Unß berihret […].“41 Die Lektüre der Bibel und von Erbauungsliteratur findet nahezu ausschließlich in protestantischen Selbstzeugnissen Erwähnung. Jedenfalls legt dies eine vergleichende Untersuchung von Selbstzeugnissen katholischer Provenienz nahe. Keine Angaben zu Büchern oder zur Lektüre enthalten aus vorrangig gattungsgeschichtlichen Gründen solche Tagebücher, die sich in knappen Eintragungen vor allem mit Hochzeiten, Taufen, Verbrechen, außergewöhnlichen Himmelserscheinungen und mit lokalgeschichtlichen Ereignissen beschäftigen, wie dasjenige des Würzburger bischöflichen Beamten Adam Kahl für die Jahre 1559 bis 1574.42 Die vergleichsweise ausführlicheren Aufzeichnungen des Fuldaer Ratsherren und zeitweiligen Bürgermeisters Gangolf Hartung aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stehen dagegen vollkommen im Bann der Ereignisse des Dreißigjährigen Kriegs und ihrer Auswirkungen in und um Fulda.43 Desgleichen steht auch die aus Nordhessen stammende Stausebacher Chronik des katholischen Bauern Caspar Preis über die Jahre 1636 bis 1667 vorwiegend unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Kriegs.44 Religiöse Lektüre wird hier nicht thematisiert. Wie sieht es mit Selbstzeugnissen katholischer Provenienz aus, die nicht dem Kontext des Dreißigjährigen Kriegs zuzuordnen sind? Der Befund ist ebenfalls negativ, wenn wir uns das Tagebuch des Stadtschreibers von Bremgarten im schweizerischen Aargau, Werner Schodolers d. J., über die Jahre 1566 bis 1577 anschauen45 oder das Hausbuch aus dem späteren 17. Jahrhundert der Maria Elisabeth Stampferin.46 Überraschenderweise fällt der Befund für die Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst
39 Güntzer, Kleines Biechlin (wie Anm. 21). Vor allem die später verfassten Teile dieser Aufzeichnungen enthalten zum Teil längere Gebete (z. B. 226, 261, 267 f., zum Westfälischen Frieden von 1648: 296) und außerdem ein ausführliches Glaubensbekenntnis (246–261). 40 Einen Überblick bietet die Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770−1798, hrsg. von Christian Holliger u. a. Bern 1985. 41 Erlebnisse einer Calwer Familie auf der Flucht, hrsg. von N. Weizsäcker, in: Württembergische Vierteljahreshefte für LG, NF 16, 1907, 59–65, hier 60. Vgl. auch Güntzer, Kleines Biechlin (wie Anm. 21). 42 Heinrich Endres/Wilhelm Engel (Hrsg.), Der Würzburger Adam Kahl (1539−1594) und sein Tagebuch (1559–1574). Würzburg 1952. 43 Die chronikalischen Aufzeichnungen des Fuldaer Bürgers Gangolf Hartung (1607−1666), in: Fuldaer Geschichtsblätter 9, 1910, 49–126, 129–171. 44 Bauernleben (wie Anm. 37). 45 Wernher Schodolers Tagebuch (wie Anm. 33). 46 Frau Elisabeth Stampfer (wie Anm. 30).
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Adalbert von Harrach (1598−1667) nicht grundsätzlich anders aus.47 Konkreten Hinweisen auf religiöse Lektüre begegnet man in diesem Textkorpus kaum.48 Bemerkenswert im Hinblick auf religiöse Lektüre ist auch die bereits erwähnte Haus-, Ehe- und Familienchronik aus der Feder eines katholischen Schreinermeisters von Ennenda im schweizerischen Kanton Glarus, des 1807 verstorbenen Balthasar Joseph Tschudi. Unter den acht diesem Abschnitt zugrunde gelegten Texten katholischer Autoren stellt er die einzige Ausnahme dar, denn im Anschluss an den Tod seiner Ehefrau geht Tschudi ausführlich auf die biblischen Bücher Sirach und Tobias und auch auf die Genesis ein.49 Wie kann man die hier angesprochene konfessionelle Differenz erklären? Es lassen sich vier mit einander verwobene Erklärungen dafür ins Feld führen. Erstens fügte sich die religiöse Lektüre auf protestantischer Seite in Vorstellungen von häuslicher Andacht ein, die − wie gezeigt − auf katholischer Seite vergleichsweise unbedeutend waren. Zweitens wurde die Bibellektüre in der Muttersprache durch die Gegenreformation keineswegs ermutigt, sondern eher erschwert.50 Drittens nimmt die Alphabetisierungsrate im Europa nördlich der Alpen im Laufe des 18. Jahrhunderts zwar deutlich zu51, der katholische Buchbesitz bleibt jedoch bis zu diesem Aufschwung vergleichsweise gering.52 Die einzige Ausnahme stellt hier Frankreich dar, wo die Bibellektüre verbreitet war und auch sonstige kirchlich-religiöse Literatur in hohen Auflagen gedruckt wurde.53 Viertens lässt sich hinsichtlich des ländlichen Katholizismus im west- und süddeutschen Raum die Zunahme der religiösen Lektüre im Laufe des 18. Jahrhunderts vor allem im Zusammenhang mit den damaligen jesuitischen Binnenmissionen in Verbindung bringen.54 Vor diesem Hintergrund erklärt sich zumindest teilweise der Unterschied zwischen den Aufzeichnungen Balthasar Joseph Tschudis und früheren katholischen Selbstzeugnissen.
47 Die Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598−1667), hrsg. von Katrin Keller/Alessandro Catalano. Wien 2010. Vgl. meine Rezension in: MIÖG 120, 2012, 173 f. 48 Der Fokus liegt im Folgenden auf den sog. Tagzetteln. Unter den in der erwähnten Edition ebenfalls enthaltenen, italienisch verfassten Diarien sind vergleichsweise förmlichere Aufzeichnungen zu verstehen, die sich in Form und Inhalt dem ‚Diensttagebuch‘ annähern. 49 Chronik Familie Tschudi (wie Anm. 31), 130–135. 50 Jean Delumeau/Monique Cottret, Le catholicisme entre Luther et Voltaire. 6. Aufl. Paris 1996, 74. 51 Roger Chartier, Les pratiques de l’écrit, in: ders. (Hrsg.), Histoire de la vie privée, Bd. 3: De la Renaissance aux Lumières. Paris 1999, 109–157, hier 117 f. 52 Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Teilbd. 2. Freiburg im Breisgau 2006, 857. 53 Ebd., 860. Vgl. auch Philippe Martin, Une religion des livres (1640–1850). Paris 2003. 54 Louis Châtellier, Livres et missions rurales au XVIIIe siècle. L’exemple des missions jésuites dans les pays germaniques, in: Hans-Erich Bödeker/Gérald Chaix/Patrice Veit (Hrsg.), Le livre religieux et ses pratiques. Études sur l’histoire du livre religieux en Allemagne et en France à l’époque moderne − Der Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. Göttingen 1991, 183–193, hier 184.
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In protestantischen Texten der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lässt sich die Wirkung der Reformation in Bezug auf die häusliche Bibellektüre feststellen, so z. B. in der durch den Nürnberger Hieronymus Koeler d. Ä. (geb. 1507) verfassten Familienchronik. Nach dem frühen Tod seiner Frau Barbara Münsterer notiert er: „Item adi 14. Febr. ao36 von meiner hochzeit an bis auf den 6. Meyo ao 39, meiner lieben hausfrauen seligen absterben, sein 1176 tag. Haben alle tag einem den andern zu hilf ein capittel aus der bibel gelesen, ist gepliben am 14. des Ewangelii Sanct Johannes.“55 Der Basler Arzt Felix Platter (1536−1614) erinnert sich: „Mein vatter laß uns doheiman [=zu Hause] vor der predig aus der heiligen schrift und prediget uns. […] Weis auch wol, das do mein vatter uns laß, wie Gott dem Pharao sein hertz verstockt hab, das er das volck nit aus Aegipten hatt laßen ziechen, das ich mich glich doran sties und nach sinnet, wan auch domolen botschaft kam, wie man im Niderlandt wegen des glůbens die Christen verfolgt, […] gieng es mir mechtig zů hertzen, also daß ich oft hernoch gedocht, ich were in meiner kindtheit frömer gwesen, dan do ich die welt anfangen brauchen.“56 Andere Autoren beschreiben den Nutzen der häuslichen Bibel für das Lesen- und Auswendiglernen, so u. a. der Toggenburger Pfarrer Alexander Bösch (1618−1693), der als Kind den Leuten, die zu Besuch kamen, die auswendig gelernten Bibelsprüche und Psalmen zum Besten geben musste.57 Auch sein Landsmann Ulrich Bräker (1735−1798) konnte als Kind viele zu Hause gelernte, in der Bibel „enthaltene Geschichten aus dem Stegreif erzählen.“58 Heinrich Bosshard (1748−1815) berichtet, dass sein Vater „an den Sonntagen sehr viel und überlaut in der Bibel las“, während er selbst „den Worten nach[sann, K. v. G.] und […] jedes Mal sein Gelesenes [wiederholte, K.v.G.]. So lernte ich lesen, ohne buchstabieren zu können.“59 Die Bibel konnte auch Anlass zur persönlichen Andacht bieten dadurch, dass man aus ihr exzerpierte. Dies tat der Ulmer Bauherr und Architekt Joseph Furttenbach (1591−1667), als sein einziger Sohn Joseph d. J. auf den Tod erkrankt war und nach monatelanger Krankheit im März 1655 als Zweiundzwanzigjähriger starb. Der Vater
55 Hannah S. M. Amburger, Die Familiengeschichte der Koeler. Ein Beitrag zur Autobiographie des 16. Jahrhunderts, in: Mitt. des Ver. für Gesch. der Stadt Nürnberg 30, 1931, 153–288, hier 259. 56 Felix Platter, Tagebuch (Lebensbeschreibung, 1536−1567), hrsg. von Valentin Lötscher. Basel 1976, 79. 57 Alexander Bösch, Liber familiarium personalium, das ist, Verzeichnus wass sich mit mir, und der meinigen in meiner hausshaltung, sonderliches begeben und zugetragen hat. Lebensbericht und Familiengeschichte des Toggenburger Pfarrers Alexander Bösch (1618–1693), hrsg. von Lorenz Heiligensetzer. Basel 2001, 73 f. 58 Ulrich Bräker, Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg, in: ders., Lebensgeschichte und vermischte Schriften, hrsg. von Claudia Holliger-Wiesmann u. a. München 2000, 391. 59 Heinrich Bosshard von Rümikon, Eines schweizerischen Landmannes Lebensgeschichte, hrsg. von Daniel Schmid. Elsau 2005, 53.
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las dem Sohn während dieser Zeit die ganze Bibel vor und notierte sich jeweils daraus die Kernsprüche.60 Eine zweite Möglichkeit, schreibend Andacht zu halten, war das fromme Tagebuch bzw. die vorrangig religiös konnotierte Autobiographie. Abgesehen von den pietistischen Selbstzeugnissen der letzten Jahrzehnte des 17. und des 18. Jahrhunderts gilt dies aufs Ganze gesehen weniger für die deutschsprachigen Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit als für die englischen, die im Folgenden zu betrachten sind.
3 England im 17. und 18. Jahrhundert Die englische Selbstzeugnis-Tradition setzt (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein. Von Anfang an steht ein Teil derselben unter dem Einfluss des Puritanismus.61 Als die Puritanerin Lady Margaret Hoby sich selbst im April 1605 die Vernachlässigung ihres Tagebuchs vorwirft, hält sie grundsätzlich fest: „They are vnworthye of godes benefittes and especiall favours that Can find no time to make a thankfull record of them.“62 1656 erschien in London die Aufforderung des Geistlichen John Beadle zur Führung eines spirituellen Tagebuchs als Ort religiöser Andacht und Selbstdisziplinierung.63 Sie scheint erhebliche Verbreitung erlangt zu haben und wurde noch im frühen 18. Jahrhundert im Rahmen einer Familienandacht im Haus des Ralph Thoresby in Leeds gelesen.64 Diese Lesungen aus der Bibel oder einer Erbauungsschrift waren die sog. lectures, die im Haushalt der Margaret Hoby jeweils nach dem Abendessen stattfanden.65 Sie endeten mit einem Gebet.66 Wie oft im selben Gentry-Haushalt zur gleichen Tageszeit ein Katechismus-Unterricht (wohl für das Gesinde) stattfand, ist nicht klar.67 Als der Presbyterianer Adam Martindale 1671 Kaplan im Haushalt von Lord Delamer wurde, gehörte zu seinen Aufgaben „family duty twice a day; which,
60 Joseph Furttenbach, Lebenslauff (wie Anm. 6), 175, 186. 61 Zum englischen Puritanismus vgl. u. a. Paul S. Seaver, Wallington’s World. A Puritan Artisan in Seventeenth-Century London. London 1985; Kaspar von Greyerz, Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert. Zur religiös-konfessionellen Identität der englischen Puritaner, in: Pietismus und Neuzeit 16, 1990, 9–28. 62 Diary of Lady Margaret Hoby, 1599−1605, hrsg. von Dorothy M. Meads. London 1930, 216. 63 [John Beadle], The Journal or Diary of a Thankful Christian. Presented in some Meditations upon Numb. 33.2. London 1656. 64 The Diary of Ralph Thoresby, F. R. S., Author of the Topography of Leeds (1677−1724), Bd. 1., hrsg. von Joseph Hunter. London 1830, 351 (Eintrag zum 15. Februar 1702): „Evening, finished in family Bedel’s Diary of a Thankful Christian, a serious and useful piece […].” 65 Vgl. Diary of Lady Margaret Hoby (wie Anm. 62.), 70 (6. September 1599), 91 (22. Dezember 1599), 91 (24. Dezember 1599). 66 Vgl. ebd., 131 (Eintrag zum 9. Juli 1600). 67 Margaret Hoby erwähnt ihn nur einmal, in Bezug auf den 13. August 1599. Vgl. ebd., 63.
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before dinner, was a short prayer, a chapter [der Bibel, K. v. G.], and a more solemn prayer; and, before supper, the like, only a psalme, a part of one, after the chapter.“68 Der englische Puritanismus des späten 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war im Wesentlichen eine Erneuerungsbewegung innerhalb der Staatskirche. Dies änderte sich nach der Restauration der Stuarts im Jahre 1660, weil das neu gewählte Parlament eine Reihe von Diskriminierungsgesetzen erließ, die die Puritaner (Independenten und Presbyterianer), und auch Freikirchen und Sekten wie die Baptisten und Quäker aus den öffentlichen Kirchen verdrängte, zu dissenters werden ließ und zeitweiliger Verfolgung aussetzte.69 So berichtet der baptistische Kaufmann William Kiffin (1616−1701) über verschiedene Gerichtsfälle, in die er in dieser Zeit hineingezogen wurde, und über Gefangenschaften, die ihm auferlegt wurden.70 Und der Presbyterianer William Jeake (1623−1690) hielt es für geraten, 1683 der Verfolgung dadurch zu entkommen, dass er sich vorübergehend aus seiner Stadt Rye (Sussex) entfernte, ebenso nochmals im Juni/Juli 1685, als der Aufstandsversuch des Duke of Monmouth eine neue Verfolgungswelle gegen dissenters auslöste.71 Die häuslichen Konventikel als Versammlungen der Frommen galten in solchen Krisenlagen als potenziell konspirativ und gefährlich. Das Haus wurde somit spätestens ab 1662 für alle die soeben erwähnten religiösen Gruppen, die zwar eine Minderheit, aber keine bloß marginale Erscheinung innerhalb der englischen Gesellschaft darstellten, zum hauptsächlichen Ort ihrer Zusammenkünfte. Wenn der jugendliche Roger Lowe, ein Presbyterianer, vom 12. September 1665 berichtet, er sei bei einem ‚privaten‘ Gottesdienst gewesen72, oder wenn wir aus den Aufzeichnungen von William Stout erfahren, er sei als Lehrling in einer Versammlung im Haus seines Lehrmeisters im November 1685 durch die Predigt von „one William King, a plain country farmer of Craven in Yorkshire“ zum Quäkertum bekehrt worden73, so ließen sich solche Hinweise auf das Haus als Versammlungsort leicht vermehren, allein schon durch einen Blick in die mannigfaltigen autobiogra-
68 The Life of Adam Martindale written by himself, hrsg. von Richard Parkinson. Manchester 1845, 197. 69 Michael Watts, The Dissenters. From the Reformation to the French Revolution. Oxford 1978, 221– 262; vgl. auch Tim Harris, Restoration. Charles II and his Kingdoms, 1660−1685. London 2005, insbes. 52–56; Gary S. De Krey, Restoration and Revolution in Britain. A Political History of the Era of Charles II and the Glorious Revolution. Houndmills 2007, 1–52. 70 Remarkable Passages in the Life of William Kiffin. Written by himself and edited from the original manuscript, with notes and additions, hrsg. von William Orme. London 1823, 37–47. 71 An Astrological Diary of the Seventeenth Century. Samuel Jeake of Rye, 1652−1699, hrsg. von Michael Hunter/Annabel Gregory. Oxford 1988, 163, 165, 169 f., 173 f. 72 The Diary of Roger Lowe of Ashton-in-Makerfield, Lancashire, 1663−74, hrsg. von William L. Sachse. London 1938, 90 f. 73 The Autobiography of William Stout of Lancaster, 1665−1752, hrsg. von John Duncan Marshall. Manchester 1967, 83.
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phischen Aufzeichnungen des presbyterianischen Geistlichen Oliver Heywood, der häufig im eigenen Haus predigte.74 In allen unterschiedlichen religiösen Gruppen begleitete die Gruppenandacht das Sterben von Familienmitgliedern und Freunden. Wie auf dem Kontinent galt es auch hier, in den entsprechenden Berichten den ‚guten Tod‘ zu dokumentieren, wie dies auf geradezu klassische Weise in der Erinnerung der Royalistin und Anglikanerin Alice Thornton (1627−1707) an den Tod ihrer Mutter geschieht: „Surely she was a great example and patorne [=pattern] of pietie, faith patience, of fortitud and resolution, to with stand all the fiery darts of Satan, which he, in her weaknesse, cast to affright and hinder her journey to heaven.“75 Ähnlich äußert sich der Quäker John Burn yeat im Rückblick auf seine Missionarstätigkeit auf den Barbados-Inseln (1670/71), wo sein Weggefährte William Simpson starb.76 Burnyeat verweist dabei auch auf ein Buch über den Tod des William Simpson. Es handelt sich um „A Short relation concerning the life and death of that man of God, and faithful minister of Jesus Christ, William Simpson, who laid down his body in the island of Barbadoes the eight day of the twelfth month, MDCLXX.“77 Im 17. Jahrhundert waren ‚Die letzten Worte der Sterbenden‘ (‚The last words of the dying‘) in England ein eng mit häuslicher Andacht verbundener, fest etablierter Typus der Erbauungsschrift. Ich muss darauf verzichten, im Einzelnen auf das individuelle häusliche Gebet einzugehen, in den untersuchten Texten manchmal „private prayer“ genannt, wie es u. a. im Tagebuch der Margaret Hoby (1571−1633), in der Autobiographie von Oliver Heywood (1630−1702), im „Diary“ des Jünglings Roger Lowe (gest. 1679) oder in den „Meditations“ der Anglikanerin Lady Elizabeth Delaval der Jahre 1662−1671 angesprochen wird.78 Interessant ist dabei, dass presbyterianische Autoren nicht zögerten, auf geradezu mechanische Art und Weise von der unmittelbaren Wirkung von Gebeten auszugehen. Samuel Jeake trägt sich nach dem 7. Juni 1673 mit nicht näher erläuterten Sorgen, bis ihn am 16. Juni um 3 Uhr nachmittags ein spontanes Gebet auf der Stelle
74 The Rev. Oliver Heywood, B. A., 1630−1702. His Autobiography, Diaries, Anecdote and Event Books; Illustrating the General and Family History of Yorkshire and Lancashire (1881), hrsg. von J. Horsfall Turner. 4 Bde. Brighouse/Bingley 1881–1885, hier Bd. 1, 260, 264, 268, sowie Bd. 2 , 76. Vgl. auch Wallace Notestein, Four Worthies. London 1956, 211–243 (‚Oliver Heywood‘). 75 The Autobiography of Mrs. Alice Thornton of East Newton, C. York, hrsg. von Charles Jackson. London 1875, 107 f. 76 John Burnyeat, An Account of John Burnyeat’s Convincement. Together with a Journal of his Travels, in: The Truth Exalted in the Writings of that Eminent and Faithful Servant of Christ John Burn yeat. Collected into this ensuing volume as a memorial to his faithful labours in and for the truth. London 1691, 39. 77 [London] 1671. 78 Diary of Lady Margaret Hoby (wie Anm. 62), 62–67; The Rev. Oliver (wie Anm. 74), Bd. 1, 190; Diary of Roger Lowe (wie Anm. 72), 15; The Meditations of Lady Elisabeth Delaval, written between 1662 and 1671, hrsg. von Douglas G. Greene. Gateshead 1978.
Das Haus als Ort der Andacht
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von seinen Sorgen befreit.79 Oliver Heywood berichtet, dass die schwierige erste Geburt der Ehefrau eines Freunds am 12. November 1682 genau in dem Moment (10:45 Uhr) glücklich überstanden war, als er (Heywood) dafür betete.80 Richard Baxter schluckte aus gesundheitlichen Gründen eine Goldkugel, die er danach nicht mehr ausscheiden konnte. Er wurde endlich, nach manchen erfolglosen Klistieren und Darmreinigungen davon befreit, als sich seine Nachbarn im Rahmen eines Fastentags (fast) zum gemeinsamen Gebet für ihn zusammenfanden.81 Während das Vorlesen aus der Bibel mit zur häuslichen Andacht gehörte, bezeugen die meisten bis hierher erwähnten Autorinnen und Autoren auch die individuelle Lektüre der Bibel und religiöser Erbauungsschriften. Der Kaufmann Ralph Thoresby, ein Presbyterianer, hält 1706 fest: „I had now read over the entire Bible, with notes, eight times since our marriage [1685], and have in some measure made it the rule of my life, and humbly beg divine assistance to improve ordinances and providences.“82 Der presbyterianische Geistliche Richard Baxter, ein Kronzeuge Max Webers für die (bis heute nicht unumstrittene) Affinität zwischen Calvinismus und Kapitalismus wurde durch „Bunny’s Resolution“, eine Erbauungsschrift, zum frommen Leben bekehrt.83
4 Schluss und Ausblick Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit − zumindest die in diesem Beitrag privilegierten deutschsprachigen und englischen – eignen sich nur sehr eingeschränkt als Quellen für die historische Erforschung ‚materieller‘ Aspekte des Hauses. Diese Einschränkung mag nicht für die spezifische Gattung der ‚livres de raison/libri di ragione‘ des romanischen Sprachraums gelten, die sich ursprünglich aus dem häuslichen Rechnungswesen heraus entwickelt haben.84 Diese Quellen waren hier nicht Gegenstand der Erörterungen. Die Untersuchung von deutschsprachigen Selbstzeugnissen, auf die sich diese Schlussbemerkungen beschränken, kann jedoch im Rahmen der Hausforschung zusätzliches Licht werfen auf die verschiedenen Akteure und ihre Kommu-
79 Astrological Diary (wie Anm. 71), 125. 80 The Rev. Oliver (wie Anm. 74), Bd. 4, Kap. „Returns of Prayer“, 81 f. 81 Richard Baxter, Reliquiae Baxterianae or, Mr. Richard Baxters Narrative of the Most Remarkable Passages of his Life and Times, hrsg. von Matthew Sylvester. London 1696, 80 f. 82 The Diary of Ralph Thoresby, F. R. S., Author of the Topography of Leeds (1677–1724), Bd. 1. London 1830, 464. Zum Begriff providences vgl. Kaspar von Greyerz, Vorsehungsglaube und Kosmologie. Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1990, insbes. 23–25; Alexandra Walsham, Providence in Early Modern England. Oxford 1999. 83 Baxter, Reliquiae Baxterianae (wie Anm. 81), 3. Baxter war sich bewusst, dass es sich dabei um einen ursprünglich jesuitischen Traktat handelte, „corrected by Edm. Bunny“ (ebd.). 84 Sylvie Mouysset, Papiers de famille. Introduction à l’étude des livres de raison (France, XVe–XIXe siècle). Rennes 2007.
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nikationsformen in- und außerhalb des Hauses sowie auf kollektives wie individuelles, religiös motiviertes Handeln und Verhalten unter dem Dach des Hauses wie auch auf Veränderungen und Kontinuitäten, die sich in diesen Kontexten im Verlauf der Zeit feststellen lassen. Unter dem Aspekt der Veränderungen verdient die seinerzeit durch die literaturgeschichtliche Pietismus-Forschung propagierte These von den inhärenten Säkularisierungstendenzen des Pietismus Erwähnung, wie sie in bekannten pietistischen Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts (u. a. von Adam Bernd und Karl Philipp Moritz) deutlich werden.85 Die seitherige Analyse literarisch weniger prominenter, spätpietistischer autobiographischer Texte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat jedoch gezeigt, dass sich auf der Ebene des Glaubensalltags pietistischer und erweckter Kreise des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts weniger die Jahrhundertwende und eher die Mitte des 19. Jahrhunderts als ein gewisser Wendepunkt erweist.86 Wie für Württemberg gezeigt worden ist, lassen sich in sozio-kultureller Hinsicht für dieselben Gruppen jedoch durchaus Veränderungen im Übergang zum 19. Jahrhundert feststellen, die auf eine neue Form der Pflege der familialen Memoria hinauslief.87 Darin deutet sich eine Verschiebung von einem häuslichen zu einem familial-bürgerlichen Deutungsmuster an. Für den zuletzt angesprochenen Zeitraum lässt sich hinsichtlich der protestantischen Frömmigkeit in den entsprechenden Texten auch eine gewisse geschlechterspezifische Differenzierung feststellen.88 Für frühere Jahrzehnte sind entsprechende Beobachtungen nur ansatzweise möglich, zumal im deutschsprachigen Raum Selbstzeugnisse von Frauen erst seit dem 18. Jahrhundert in größerer Zahl existieren.89
85 Vgl. dazu Fabian Brändle u. a., Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz/Hans Medick/Patrice Veit (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). Köln 2001, 3–31, insbes. 20–24. 86 Vgl. zum Aspekt der Kontinuität über die Jahrhundertwende hinaus u. a. die oben in Anm. 24 erwähnten Basler Tagebücher des frühen 19. Jahrhunderts sowie Silvia Leonhard, Guaritrici nel Pietismo? Dialoghi di conversione e racconti di guarigione nel diario di Sophie von Wurstemberger (1809– 1878), in: Quad. Stor. 112, 2003, 165–194. 87 Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum (wie Anm. 23) und weitere Publikationen derselben Autorin. 88 Vgl. u. a. Ulrike Gleixner, Familie, Traditionsstiftung und Geschichte im Schreiben von pietistischen Frauen, in: Daniela Hacke (Hrsg.), Frauen in der Stadt. Selbstzeugnisse des 16.–18. Jahrhunderts. Ostfildern 2004, 131–163. 89 Zu den wenigen bekannten Zeugnissen von Frauen des 17. Jahrhunderts siehe Eva Kormann, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln 2004.
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Haus und Herrschaft in der osmanischen Welt Dieser Artikel untersucht die Häuser und Haushalte politisch einflussreicher und sozial hochrangiger Familien im osmanischen Anatolien und auf dem Balkan seit dem 15. Jahrhundert mit einem besonderen Augenmerk auf die Jahre um 1850, die sich als markante Zäsur erweisen. Im Vordergrund steht die Frage, auf welche Weise Haus und Herrschaft miteinander korrelierten. Zum einen verkörperten Häuser durch die interne Einteilung, Gestaltung und Wegführung räumliche Ordnungen, die mit sozialen Hierarchien verknüpft werden konnten. Zum anderen repräsentierten sie den sozialen Status, Macht und Herrschaft nach außen. Der Wandel von Herrschaftsverhältnissen ging oft mit baulichen Veränderungen einher. Dabei wird deutlich, wie eng die soziale und politische Stellung und Selbstverortung in einer Gesellschaft an Häuser geknüpft war und über diese repräsentiert wurde. Besonders aufschlussreich sind Häuser zudem für das Verhältnis von Gender und Herrschaft. Das sozial etablierte Machtgefälle zwischen den Geschlechtern konnte außer Kraft gesetzt werden, wenn Frauen aus herrschaftlichen Familien stammten. Über den Fokus auf das Haus werden die Vielgestaltigkeit, Heterogenität und Wandelbarkeit von Herrschaftsverhältnissen in der Region erkennbar. Obwohl die osmanischen Archive für die behandelte Epoche, nach türkischem Verständnis die Moderne (von ca. 1450 bis ca. 1850), relativ reichhaltig sind, lassen sich Fragen, die mit Haus und Herrschaft zusammenhängen, nur mit großen Einschränkungen beantworten. Denn nur ein verschwindend geringer Teil der Quellen geht auf die Beziehungen und das Leben innerhalb der Häuser und Haushalte ein. Zudem sind in den osmanischen Kernlanden, d. h. im östlichen Teil der Balkanhalbinsel sowie in West- und Zentralanatolien, nur wenige Wohnbauten erhalten. Immerhin sind der berühmte Palast der Sultane (‚Topkapı Sarayı‘, Istanbul), der gleichfalls vielbesuchte Palastkomplex der Tatarenkhane in Bağçasaray auf der Krim, die Palastruine des İshak Paşa in Doğubeyazit nahe der iranischen Grenze sowie einige Wohnhäuser prominenter Familien in der zentralanatolischen Stadt Kayseri erhalten. Im Unterschied zu diesen ganz oder zum Teil aus Stein erbauten Palästen war ein Großteil der Wohnbauten in den osmanischen Kernlanden und ganz besonders in Istanbul aus Holz gefertigt. Selbst die sicherlich palastartigen Häuser von Wesiren und Prinzessinnen bestanden – von einer Ausnahme abgesehen – aus Holz. Neben der natürlichen Alterung waren Holzbauten vor allem durch zerstörerische Brände bedroht, die in Istanbul wegen des dort vorherrschenden Windregimes und der durchgehenden Benutzung von offenen Herdfeuern und Kohlenbecken überaus
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häufig auftraten.1 In Krisenzeiten kam es zudem wohl zu willentlicher Brandlegung. Es gibt deswegen in dieser Region sehr wenige Wohnbauten, deren Entstehung vor 1850 datiert. Historische Studien, soweit sie von Architekten bzw. Stadtplanern unternommen werden, konzentrieren sich deshalb auf die letzten 75 Jahre des Osmanischen Reiches.2 Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien können sich dagegen auf die in den Kadiamts- und anderen Registern relativ häufig anzutreffenden Dokumente stützen, die Verkäufe und Erbschaftsangelegenheiten behandeln.3 Da nämlich Häuser im Gegensatz zu landwirtschaftlich genutzten Flächen Privateigentum waren, sind besonders für die Zeit nach etwa 1570 entsprechende Geschäftsdokumente vorhanden. In diesen Archivquellen werden die betroffenen Häuser samt heizbaren und nicht heizbaren Zimmern, Küchen und eventuell vorhandenen Brunnen oder Speichern relativ ausführlich beschrieben. Zu ihren Bewohnern finden sich dagegen nur wenige Hinweise, von den wenig aussagekräftigen Namen und Vatersnamen einmal abgesehen. Eine Ausnahme betrifft die Häuser Kairos: Da diese aus Stein gebaut wurden, sind nicht wenige Residenzen wohlhabender Leute noch erhalten; und die ebenfalls reichhaltigen Kadiamtsregister haben es z. B. ermöglicht, das Haus eines bestimmten Kaufmanns aus dem frühen 17. Jahrhundert zu identifizieren.4 Auch in Aleppo und Damaskus waren bis vor Beginn des Bürgerkriegs die Wohnbauten begüterter Familien aus osmanischer Zeit relativ gut erhalten.
1 Die Paläste von Sultanen, Prinzen und Prinzessinnen Der Sultanspalast in Istanbul bildete das große Vorbild für alle anderen Haushalte hochrangiger osmanischer Würdenträger; solche Haushalte besaßen auch politische Bedeutung, da sich die Herrschaftselite seit dem 17. Jahrhundert zum großen Teil aus ihren Mitgliedern rekrutierte. Auf der Spitze der Halbinsel gelegen, auf der die Altstadt von Istanbul enstanden ist, besteht der heute als ‚Topkapı‘-Palast (Kanonentor-
1 Für eine Serie von Karten, die die größten Brände abdeckt, vgl. Nurhan Atasoy/Julian Raby, Iznik, the Pottery of Ottoman Turkey. Istanbul 1989, 14–18. 2 Für einen Forschungsbericht vgl. Suraiya Faroqhi, Controversies and Contradictions. The Turkish (or Ottoman) House, in: Turcica 45, 2014, 321–354. 3 Grundlegend ist die leider ungedruckte Dissertation von Tülay Artan, Architecture as a Theatre of Life. Profile of the Eighteenth-Century Bosporus, Diss. Massachusetts Institute of Technology. Cambridge, Mass. 1988. Für Kairo vgl. Nelly Hanna, La maison moyenne et ses habitants aux XVIIe et XVIIIe siècles. Kairo 1991. 4 Nelly Hanna, Making Big Money in 1600, the Life and Times of Isma’il Abu Taqiyya, Egyptian Merchant. Syracuse 1998.
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Palast) bekannte Komplex aus vier aneinander gereihten und jeweils von Gebäuden umstandenen Höfen.5 Alternativ lässt sich die Anlage auch als Ensemble von drei Höfen sowie einem Garten, der mit Pavillons ausgestattet war, beschreiben. Die Anordnung von Wohnräumen um einen Innenhof, vorzugsweise mit zwischen Zimmern und Hof gelegener Galerie, entspricht weitgehend dem spätrömischen Peristylhaus. Diese Bauweise ist im Osmanenreich kaum bei den Häusern gewöhnlicher Stadtbewohner anzutreffen, sondern nur bei einigen großen Palästen und Einrichtungen, die vorwiegend von Personen bewohnt waren, die wegen Handelsreisen oder Studienaufenthalten auf längere Zeit von ihren Familien getrennt lebten. Insbesondere für die als medrese bekannten Schulen für islamische Theologie und das zugehörige Recht, deren Gebäude oft aus Stein errichtet und von großen Stiftungen finanziert wurden, war der Peristylbau üblich sowie für die als han/kervansaray bekannten Unterkünfte für Handwerker und Kaufleute. Für die osmanischen Kernlande, aber nicht unbedingt für die arabischen Provinzen, erscheint diese Bauweise deshalb als ein Symbol von Wohlhabenheit, Macht und gesteigerter Monumentalität.6 Durch einen ursprünglich zweigeschossigen Torbau zu erreichen, war der erste Hof des ‚Topkapı Sarayı‘ unter normalen Umständen allgemein zugänglich. Hier lagen einige Werkstätten, die für den Sultan arbeiteten, und seit dem 18. Jahrhundert zudem eine Münzwerkstatt. Außerdem hielt hier eine größere Anzahl von Janitscharen Wache, und ein Krankenhaus nahm erkrankte Bewohner des Palasts auf, die gewöhnlich schnell aus dem inneren Bereich entfernt wurden.7 Zum zweiten Hof gelangte man durch einen weiteren monumentalen Eingang, als Ortakapu oder Mitteltor bekannt. Hier mussten selbst prominente Persönlichkeiten, die den ersten Hof zu Pferde durchquert hatten, absteigen. In einem Gebäude, das vom sog. Turm der Gerechtigkeit (‚Adalet Kulesi‘) überragt wurde, tagte der Rat des Sultans. Letzterer konnte durch ein Fenster ungesehen die Beratungen beobachten. In einer Ecke lag der Zugang zum Harem des Herrschers, wo dieser seit dem späten 16. Jahrhundert auch residierte. Zu diesem Bereich hatten nur weibliche Bedienstete sowie einige Eunuchen afrikanischer Herkunft Zugang. Seit dem späten 16. Jahrhundert lag die ‚Dienstwohnung‘ des Obersten Afrikanischen Eunuchen (kızlar ağası) im Eingangsbereich des Harems. Damit hatte dieser, schon rein topographisch, eine
5 Die grundlegende Studie ist: Gülru Necipoğlu, Architecture, Ceremonial and Power, The Topkapı Palace in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. Cambridge, Mass. 1991. 6 André Raymond, Grandes villes arabes à l’époque ottomane. Paris 1985, 323–324 hat gezeigt, dass es in Syrien wie in Nordafrika üblich war, dass sehr arme Leute ihre Behausungen um einen gemeinsam genutzten Innenhof errichteten. In solchen Komplexen dürfte es schwer gewesen sein, die sonst energisch angestrebte Privatsphäre der einzelnen Familien aufrecht zu erhalten. 7 Für einen Stich aus dem späten XVIII. Jahrhundert, der diesen Bereich abbildet, vgl. Antoine Ignace Melling, Voyage pittoresque de Constantinople et des rives du Bosphore, d’après les dessins de M. Melling. Nachdruck Istanbul 1969: „Vue de la Première cour du Sérail“ (unpag.).
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Vermittlerrolle zwischen dem Harem und dem von männlichen Funktionsträgern bewohnten Palastteil inne.8 Für die Wesire und andere hohe Funktionsträger war der Sultan seit dem Ende des 16. Jahrhunderts nur dann zu sprechen, wenn er sich außerhalb des Harems und sozusagen im Randbereich des dritten Hofes aufhielt. Gleich hinter dessen Eingang befand sich das Thronzimmer, Raum der Petitionen (arz odası) genannt, in dem der Herrscher auch fremde Gesandte empfing. Dies war der äußerste Punkt des Palastbereichs, bis zu welchem einige privilegierte Außenstehende vorgelassen werden konnten. Daneben gestattete der dritte Hof den Zugang zu jenen Räumen, die vor dem Umzug in den Harem den Sultanen als Residenz gedient hatten und danach – bis heute – für die Aufbewahrung islamischer Reliquien genutzt wurden und werden. Vom dritten Hof aus konnte man in den Palastgarten gelangen, über den seit dem frühen 17. Jahrhundert eine Terrasse samt Pavillons einen schönen Ausblick bot. In diesem Garten stand ein turmartiges Gebäude, das der Tradition nach als Amtssitz für den Arzt des Sultans diente. Wie diese Beschreibung zeigt, waren die Höfe, zumindest vom ersten bis zum dritten Hof, progredierend gestaffelt: von einem allgemein zugänglichen bis zu einem Bereich, der nur für eine kleine Gruppe von Sultansdienern geöffnet war. Denn auch der den männlichen Palastdienern zugeordnete dritte Hof, zu dem selbst der Großwesir keinen Zutritt besaß, war scharf von der Außenwelt abgesondert.9 Im Übergang vom zweiten zum dritten Hof lag auch der Eingang zum Harem, der geradezu durch seine Unzugänglichkeit definiert war. Es ist nicht leicht zu sagen, ob und in welchem Ausmaß die Töchter, Schwestern und Sklavinnen des Sultans bereits seit der Erbauung des ‚Topkapı‘-Palasts in diesem Areal lebten.10 Denn die Osmanenherrscher besaßen noch einen zweiten, den sog. Alten Palast (‚Eski Saray‘), der allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zusammenschrumpfte und von dem bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr viel übrig war. Bis zur Zeit Sultan Süleymans I. (r. 1520–1566) war es ohnehin üblich, eine Konkubine, die einen Sohn geboren hatte, zusammen mit diesem Prinzen in eine anatolische Provinzstadt zu schicken. Dort sollte sie mithelfen, den Knaben auf den allfälligen Kampf um die Thronfolge vorzubereiten.11 Wahrscheinlich erklären sich die relativ unauffälligen Anfänge des Sultansharems auch aus den kurzen Aufenthalten der jeweiligen Prinzenmütter, denen im Harem durchaus ein gehobener Status zukam.
8 Tülün Değirmenci, İktidar Oyunları ve Resimli Kitaplar: II. Osman Devrinde Değişen Güç Simgeleri. Istanbul 2012, 38–39. 9 Ebru Turan, The Marriage of İbrahim Pasha (ca. 1495–1536), in: Turcica 41, 2009, 3–36. 10 Seit dem 16. Jahrhundert heirateten nur wenige Sultane, und ihre Kinder wurden fast immer von Sklavinnen geboren. 11 Leslie Peirce, The Imperial Harem. Women and Sovereignty in the Ottoman Empire. Oxford 1993, 44–50.
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Der Sultan konnte seine Söhne sowie deren Mütter, Lehrer und Berater in ganz verschiedene Städte Anatoliens entsenden: So wuchs etwa Süleyman I., der Prächtige, in Trabzon (Trapezunt) auf, während Selim II. (r. 1566–1574) vor seiner Thronbesteigung im westanatolischen Kütahya residierte. Amasya war ebenfalls oft Residenz für künftige Sultane.12 Den höchsten Bekanntsheitsgrad hat der Palast von Manisa, zum großen Teil im 15. Jahrhundert errichtet, weil er in einer oft reproduzierten Miniatur des Malers Nakkaş Osman aus dem späten 16. Jahrhundert detailreich abgebildet ist. Zudem ist ein Register der diesem Palast angeschlossenen Küche erhalten, das ein Jahr aus der Zeit abdeckt, da Prinz Mehmed (später Mehmed III., r. 1595–1603) dort residierte.13 Zwar wurde der Palast seit dem Wegzug dieses Sultans nicht mehr genutzt, weil von nun an die Prinzen in einem Bereich des ‚Topkapı Sarayı‘ heranwuchsen. Aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war der Komplex noch immer für seinen Garten berühmt, wie eine kurze Beschreibung des Reiseschriftstellers Evliya Çelebi aus diesen Jahren deutlich macht.14 Osmans Miniatur zeigt den Prinzenpalast samt Eingangshof mit großem Tor; ein zweites Tor führte zu einem gesonderten Platz, wo vielleicht die Stallungen lagen. Auf der anderen Seite des Komplexes befanden sich, wiederum in einem eigenen Hof, zwei turmförmige Pavillons, von denen einer, wenn auch in kaum wiederzuerkennenden Rudimenten, wahrscheinlich erhalten ist. Ob einer dieser Türme, als ‚Turm der Gerechtigkeit‘ bekannt, über einem Saal für Beratungen gelegen war, wie er auch in den Palästen von Edirne und Istanbul zu finden ist, lässt sich heute nicht mehr bestimmen. Der Garten, von dem Evliya Çelebi sprach, nahm auch auf der Miniatur einen zentralen Platz ein. Leider gibt es keine Hinweise darauf, für welche Funktionen des Prinzenhaushalts die einzelnen Räumen und Höfen genutzt wurden. Aus der – bislang einzigen – erhaltenen Abrechnung ersieht man, dass der Palast in Manisa, obwohl viel kleiner als der Sultanspalast, am Ende des 16. Jahrhunderts im Durchschnitt jeden Tag etwa 2000 Personen verköstigte. Diese recht hohe Zahl erklärt sich daraus, dass zu den religiösen Festen große Speisungen veranstaltet wurden und der Prinz auch bei anderen Anlässen zu Gastmählern einlud. Außerdem musste die Küche ungefähr 400 Gefäße mit verschiedenen Speisen für die lokal stationierten Sol-
12 Petra Kappert, Die osmanischen Prinzen und ihre Residenz Amasya im 15. und 16. Jahrhundert. Istanbul 1976. 13 Überdies plant die heutige Stadtverwaltung, diesen bis auf einen kleinen Rest verschwundenen Komplex wenigstens zum Teil wieder zu errichten. Vgl. Hürriyet Daily News, Project to Shed Light on Manisa Palace, URL: www.hurriyetdailynews.com/project-to-shed-light-on-manisa-palace.aspx?pag eID=238&nID=39551&NewsCatID=375 (Zugriff: 19. 10. 2014). Feridun M. Emecen, The Şehzade’s Kitchen and its Expenditures. An Account from Şehzade Mehmed’s Palace in Manisa, 1594–1595, in: Suraiya Faroqhi/Christoph Neumann (Hrsg.), The Illuminated Table, the Prosperous House, Food and Shelter in Ottoman Material Culture. Istanbul 2003, 89–126. 14 Hakkı Acun, Manisa’da Türk Devri Yapıları. Ankara 1999, 444 f.
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daten sowie vielleicht auch für einige Stadtbewohner zubereiten.15 Leider gibt das Register keine Auskunft über die Amtsträger, die aufgrund ihres Ranges Anspruch auf regelmäßige Speisezuteilungen hatten. Da der Prinz zudem ein größeres Gefolge besessen haben dürfte, war die Zahl der PalastdienerInnen wahrscheinlich beträchtlich. Hinzu kamen – hier fehlen die Quellen – die Kinder, die einige Prinzen des 16. Jahrhunderts wohl mit Sklavinnen gezeugt hatten. Die Umzüge von Prinzenmüttern in die Provinz hatten ein Ende, als Sultan Süleyman seine Sklavin Hurrem (in europäischen Quellen: Roxelane) freiließ und ehelichte. Mehrere seiner Söhne hatten nun die gleiche Mutter und von einem Umzug der Sultansgemahlin in die Provinz konnte nun keine Rede mehr sein.16 Diese Situation bildete wohl den Hintergrund für den Ausbau des Harems im ‚Topkapı‘-Palast; auch der Umzug späterer Sultane in den Harem erklärt sich wohl teilweise aus diesem Präzedenzfall. Doch weil verheiratete Sultane die Ausnahme blieben, wurde der Harem zahlenmäßig von Sklavinnen und Eunuchen dominiert. Nur die Töchter und Schwestern des jeweiligen Herrschers waren frei geborene Musliminnen; sie wurden aber, vielleicht weil für Personen ihres Standes im Sultansharem nur schwer Platz zu schaffen war, bereits in jungen Jahren verheiratet, wenn nötig auch mehrere Male im Lauf ihres Lebens.17 Im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Unzugänglichkeit des Sultans immer stärker betont. Seit etwa 1600 kam es häufig vor, dass ein Sultan den Bestand des Osmanischen Reichs lediglich symbolisierte, die eigentlichen Regierungsgeschäfte aber den Wesiren und Palastangehörigen überließ. Das Gebot der Ehrfurcht für den Sultan entrückte den Herrscher so sehr, dass er kaum mehr Einfluss auf das politische Geschehen nahm. Palastangehörige durften ihn nur schweigend bedienen, umgekehrt schwieg auch der Sultan selbst bei offiziellen Anlässen.18 Zu dieser Zeit verfügten die Wesire und andere höhere Amtsträger gewiss über einen größeren politischen Spielraum als unter der Regentschaft charismatischer Herrscherfiguren wie Mehmed II., dem Eroberer (r. 1451–1481), oder Süleyman I. Mit der Verlagerung des politischen Gewichts verbanden sich auch räumliche Veränderungen. Im 17. Jahrhundert begannen die Großwesire, ihre Kanzlei nicht mehr im Sultanspalast, sondern in ihren eigenen – häufig wechselnden – Palais einzurichten, in denen sie mitsamt ihren Ehefrauen lebten, oftmals Prinzessinnen aus der nahen Verwandtschaft des Sultans.19 Sicherlich war dieser Umzug der Kanzlei in den Wohn-
15 Emecen, Şehzade’s Kitchen (wie Anm. 13), 99–101. 16 Peirce, Imperial Harem (wie Anm. 11.), 88–112. 17 Tülay Artan, Noble Women who Changed the Face of the Bosphorus and the Palaces of the Sultanas, in: Biannual Istanbul 1, Jan. 1993, 87–97. 18 Baki Tezcan, The Second Ottoman Empire. Political and Social Transformation in the Early Modern World. New York 2010. 19 Tülay Artan, The Making of the Sublime Porte Near the Alay Köşkü and a Tour of a Grand Vizierial Palace at Süleymaniye, in: Turcica 43, 2011, 145–206.
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sitz des Großwesirs ein bedeutender Schritt im Prozess der Verselbstständigung der osmanischen Bürokratie, der gewiss nicht ohne Zwischenstadien ablief. Doch diese Schritte und damit die Institutionalisierung der Bürokratie in ihren verschiedenen Dimensionen zu verfolgen, fällt schwer, da die Paläste der osmanischen Großwesire fast alle zerstört wurden. Doch längst nicht alle osmanischen Sultane des 17. und 18. Jahrhunderts waren gewillt, sich mit einer rein zeremoniellen Rolle zu begnügen. Im 17. Jahrhundert unternahmen einige Sultane mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, im alten Stil Feldzüge zu leiten. Im nachfolgenden Jahrhundert versuchten Herrscher, dem einengenden Palastzeremoniell möglichst zu entkommen. Oft hielten sie sich in ihren Sommerpalais am Bosporus auf oder besuchten für längere Zeit ihre Töchter und Schwestern, die, früh verheiratet, ebenfalls am Bosporus gelegene Villen bewohnten.20 Während die Ehemänner dieser Prinzessinnen oftmals entfernte Provinzen verwalteten und/oder an den Grenzen Krieg führten, blieben die weiblichen Mitglieder der Herrscherfamilie ihr Leben lang in und um Istanbul wohnen und gaben manchen Bosporusdörfern das Gepräge einer Fürstenresidenz. Im 18. Jahrhundert wurde es, nach einer etwa ein Jahrhundert währenden Pause, wieder üblich, die Töchter und Schwestern eines Sultans in prunkvollen Festen mit hochrangigen Mitgliedern der Elite zu verheiraten, um diese so an den Sultan zu binden. Die Prinzessinnen konnten die palastähnlichen, aus Holz gebauten Villen, die ihnen schon bei der Geburt, spätestens aber nach der Hochzeit zugewiesen wurden, nach Gutdünken umbauen oder auch durch Neubauten ersetzen. So ließ sich Prinzessin Hatice, Schwester Sultan Selims III. (r. 1789–1807) von Antoine Ignace Melling (1763–1831) eine Ufervilla im neoklassischen Stil errichten, die der französische Architekt sehr geschickt in die vorhandene Bebauung am Bosporus einpasste.21 Nach dem Tod der jeweiligen Besitzerin wurde ihre Villa für den Sultansschatz eingezogen und an eine andere Prinzessin vergeben. Diese Komplexe bestanden durchweg aus zwei Hauptbauten. Im selamlık genannten Teil des Hauses empfing der Hausherr seine Gäste und versuchte, durch Allianzen mit anderen mächtigen Männern seine Position zu stärken und auszubauen. Im Harem dagegen residierte die Prinzessin und bildete zuweilen ihren eigenen Kreis von Frauen aus der Elite. In anderen Häusern war das selamlık oft auffallend und prächtig ausgestattet; doch wenn es sich um die Villa einer Prinzessin handelte, bildete der Haremsteil den Blickfang. Denn während die Ehefrau ein Mitglied der Sultansfamilie war, konnte der Ehemann eine solche Ehre nicht für sich in Anspruch nehmen. In solchen Fällen war es also die Herkunft aus der höchsten Familie des Reiches,
20 Tülay Artan, From Charismatic Leadership to Collective Rule. Introducing Materials on the Wealth and Power of Ottoman Princesses in the Eighteenth Century, in: Toplum ve Ekonomi 4, 1993, 53–94; ders., Noble Women (wie Anm. 17). 21 Melling, Voyage pittoresque (wie Anm. 7), „Palais de la Sultane Hadidji“ (unpag.).
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nämlich der Sultansfamilie, die die Prinzessin aus der Unterordnung heraushob, die nach religösem Recht Ehefrauen ihren Ehemännern schuldeten. Diese Form des ‚dualen Wohnens‘ in selamlık und Harem war charakteristisch für Istanbul und die Kernlande des Reiches. In Kairo war es dagegen während des 17. und 18. Jahrhunderts üblich, dass die Residenz einer wohlhabenden Familie mehrere Wohneinheiten umfasste, die voneinander abgeschlossen werden konnten. Daher wurde es auch bei rigoroser Trennung der Geschlechter nicht für nötig gehalten, für die Familie des Besitzers ein eigenes Gebäude zu errichten. Als jedoch die ägyptische Elite des 19. Jahrhunderts begann, sich trotz politischer Gegensätze zum Sultan in Istanbul betont als osmanische Notabilität zu gerieren, wurde auch in Kairo die Übernahme Istanbuler Bauformen und damit die bauliche Trennung von selamlık und Harem zur Norm.22 Osmanische Prinzessinnen des 18. Jahrhunderts besaßen zumeist zwei, manchmal auch mehrere Residenzen.23 Denn in der osmanischen – und der frührepublikanischen – Elite war es üblich, den Sommer am Meeresufer und den Winter in der Stadt zu verbringen. Zugleich zog es im 18. Jahrhundert die nun permanent in Istanbul lebenden Sultane immer stärker in heute nicht mehr erhaltene hölzerne Paläste am Bosporus. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts zog Sultan Abdülmecid (r. 1839–1861) die Konsequenz aus diesem Trend und ließ am Bosporusufer den ‚Dolmabahçe‘-Palast errichten. Aus Stein erbaut, diente dieser das ganze Jahr über als Residenz. Den historischen ‚Topkapı‘-Palast besuchten die Sultane seitdem nur noch in Ausnahmefällen.
2 Die Haushalte von Eunuchen, Wesiren und anderen Würdenträgern Zeigen die bisherigen Ausführungen eindeutig, dass die sozialen und politischen Veränderungen im osmanischen Herrschaftsgefüge in einer engen Wechselbeziehung zur Baugeschichte der von Mitgliedern der Dynastie bewohnten Paläste und Villen standen, erweisen sich verlässliche Aussagen über die nun zu diskutierenden Haushalte hoher Würdenträger als schwieriger. Ihre Palais sind heute bestenfalls fragmentarisch erhalten. Nur in ausgewählten Fällen ist eine quellengestützte Rekonstruktion ihrer Haushalte möglich.24 In der osmanischen Welt bildeten die Haushalte hoher Amtsträger spätestens seit dem späten 16. Jahrhundert die Basis für die Ausübung von Macht. Normalerweise sammelte ein Würdenträger, in der Hauptstadt wie in der Provinz, junge Männer um
22 Hanna, Maison moyenne (wie Anm. 3), 40–44, 157–160. 23 Herzlichen Dank an Tülay Artan für diese Auskunft. 24 Tülay Artan, The Kadırga Palace Shrouded by the Mists of Time, in: Turcica 21, 1994, 55–124.
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sich, die entweder seine Freigelassenen waren oder als Freigeborene zu seiner Klientel gehörten. Sehr häufig band ein solcher Machthaber einige dieser jungen Leute an sich, indem er sie mit seinen Töchtern und Nichten verheiratete. Diese Praxis ist besonders für Ägypten und den Irak im 18. Jahrhundert belegt. Auf diesem Wege gelangten einige Frauen der Elite sowohl zu Besitz als auch zu politischem Einfluss.25 Selbst Eunuchen benötigten einen eigenen Haushalt als Basis für den Aufbau und die Ausweitung ihrer Macht. Dies ist wahrscheinlich der Grund, weshalb mehrere Eunuchen afrikanischer Herkunft, die seit dem späten 16. Jahrhundert dem Sultansharem vorstanden (kızlar ağası), zusätzlich zu ihren im Saray gelegenen ‚Dienstwohnungen‘ Unterkünfte in der Stadt unterhielten. Deren Ausstattung lässt sich zuweilen aus Listen rekonstruieren, welche die Hinterlassenschaften der Eunuchen aufzählen.26 Da Eunuchen keine Nachkommen zeugen konnten, rekrutierten einige nicht-afrikanische Eunuchen am Sultanshof Verwandte aus der alten Heimat – eine Praxis, die auch andere prominente Personen pflegten, die durch die Knabenlese (devşirme) in den Dienst des Sultans gekommen waren. Der bekannteste Fall dieser Art ist der des Obersten der nicht-afrikanischen Eunuchen Gazanfer Ağa, der aus Venedig stammte und dessen Netzwerke vergleichsweise gut belegt sind.27 Ursprünglich war Gazanfer gemeinsam mit seinem Bruder als Page in den Palast gekommen. Als die beiden Männer dem Alter für Pagen entwuchsen, legte ihnen Sultan Selim II. (r. 1566–1574) nahe, sich kastrieren zu lassen, um in seiner nächsten Umgebung verbleiben zu können. Beide Brüder folgten diesem Rat, doch wahrscheinlich überlebte nur Gazanfer den für Erwachsene besonders gefährlichen Eingriff und wurde schließlich zu einer einflussreichen Figur am Hof, wo er sich auch als Stifter einer theologischen Hochschule und als Auftraggeber aufwändig illustrierter Manuskripte hervortat, bis er 1603 einer Intrige zum Opfer fiel und hingerichtet wurde. Gazanfer holte zur Verstärkung seines Haushalts seine Mutter und Schwester nach Istanbul. Während die Mutter nach einiger Zeit wieder nach Venedig zurückkehrte, blieb seine Schwester Beatrice und konvertierte zum Islam.28 Durch den Religionswechsel konnte sie ihrer drohenden Verarmung entgehen, die sie bei der Verschwendungssucht ihres venezianischen Ehemanns sonst kaum hätte abwenden können. Gazanfer ließ auch den jungen Sohn seiner Schwester aus Venedig regelrecht entführen, um ihn ebenfalls seinem Haushalt einzugliedern.29 Demnach konnte der kulturelle Graben zwischen Venedig und Istanbul in manchen Fällen durchaus
25 Thomas Lier, Haushalte und Haushaltspolitik in Bagdad 1704–1831. Würzburg 2004, 73–88. 26 Yıldız Yılmaz Karakoç arbeitet an einer Dissertation zu diesem Thema. 27 Maria Pia Pedani Fabris, Safiye‘s Household and Venetian Diplomacy, in: Turcica 32, 2000, 9–32; Eric Dursteler, Renegade Women. Gender, Identity, and Boundaries in the Early Modern Mediterranean. Baltimore 2011. 28 Der Terminus hatun bezeichnete damals hochgestellte Frauen. 29 Değirmenci, İktidar Oyunları (wie Anm. 8), 150 f.
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überbrückt werden. Die ehemalige Venezianerin Beatrice reüssierte in Istanbul unter ihrem neuen Namen Fatma Hatun zu einer ‚begehrten Partie‘ und ging eine zweite Ehe ein. Ihr neuer Ehemann wurde durch die Vermittlung des mächtigen Palasteunuchen bald zum Kommandanten der Janitscharen befördert. Das Palais eines Wesirs ist nur in einem einzigen Fall, wenn auch sehr fragmentarisch, erhalten. Es handelt sich um die Residenz İbrahim Paşas, den sein enger Freund Süleyman der Prächtige sogar zu seinem Großwesir ernannte, was ihn nicht davon abhielt, İbrahim 1536 ermorden zu lassen.30 Auch nach İbrahims Tod war der Komplex bis ins 17. Jahrhundert die Residenz anderer Wesire gewesen. Wie es bei dem Alter Ego des Herrschers zu erwarten war, wies der am Festplatz ‚Atmeydanı‘, dem ehemaligen byzantinischen Hippodrom, gelegene Palast gewisse ‚königliche‘ Züge auf, möglicherweise mit Anleihen an den Palast der Prinzen in Manisa oder den sekundären Sultanspalast in Edirne.31 Es lassen sich vier ineinander verschachtelte Höfe rekonstruieren; es soll noch einen fünften Hof gegeben haben, der jedoch nicht erhalten ist. Trotz der Verschachtelung gab es einen erkennbaren Weg von ‚außen‘ nach ‚innen‘, dem der Besucher notwendigerweise folgen musste. Eines der beiden Eingangstore war mit einer Treppe versehen, deren schwache Neigung es dem Sultan oder einem Prinzen gestattete, hoch zu Ross einzureiten. Im zweiten und wichtigsten Hof befanden sich die Empfangsgebäude und eine wiederholt abgebildete Aussichtsveranda. Diese gestattete Hausherren und Besuchern einen guten Blick auf die festlichen Darbietungen, wie sie etwa bei den Beschneidungen von Prinzen auf dem ‚Atmeydanı‘ zu sehen waren. Leider lässt sich nicht mehr bestimmen, welchem Zweck die weiteren Palasthöfe dienten; doch ist die Existenz eines Turms und einer Schatzkammer belegt.32 Wir wissen, dass İbrahim Paşa über einen ausgedehnten Haushalt verfügte. Darauf deutet eine Miniatur hin, die den Wesir bei einem Umzug in Begleitung von Musikanten zeigt, die wohl zu seinem Umfeld gehörten.33 Im spätmittelalterlichen Anatolien waren Derwischkonvente in großer Zahl anzutreffen – schon vor der osmanischen Eroberung. Viele von ihnen wurden, nachdem die relevanten Territorien osmanisch geworden waren, von den neuen Herren in ihren meist durch fromme Stiftungen gesicherten Rechten und Einkünften bestätigt. Die frühen osmanischen Sultane erhofften sich, dass die ihnen zugeneigten Derwische sie dabei unterstützen würden, die Islamisierung der neueroberten Gebiete ihres Reichs voranzutreiben. Generell waren die osmanischen Herrscher seit der Zeit Sultan Bayezids II. (r. 1481–1512) bestrebt, die zuweilen heterodoxen Derwische näher an den
30 Turan, The Marriage (wie Anm. 9); Nurhan Atasoy, İbrahim Paşa Sarayı. 2. Aufl. Ankara 2012. 31 Zu Edirne vgl. neuerdings Mustafa Özer, The Ottoman Imperial Palace in Edirne (Saray-ı Cedid-i Âmire). A Brief Introduction. Istanbul 2014. Allerdings sind die meisten Bauten nur noch archäologisch erschließbar. 32 Atasoy, İbrahim Paşa (wie Anm. 30), 181. 33 Ebd., 22 f.
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sunnitischen Islam heranzuführen. Auch vor diesem Hintergrund erklärt sich die oft großzügige Unterstützung, die ausgewählte Derwisch-Scheiche erfuhren.34 Überdies förderten einige an der Balkangrenze des Reichs aktive Familien, die, ursprünglich in lockerer Unterordnung unter den Sultan, an der Ausbreitung des Reichs aktiv beteiligt gewesen waren, während des 16. Jahrhunderts bestimmte Derwischkonvente durch aufwändige Stiftungen. Möglicherweise wollten sie damit in den zentralen Provinzen Präsenz zeigen und demonstrieren, dass sie nicht in den Grenzbereich ‚Abgeschobene‘ waren. In einem der erhaltenen Gebäude des Derwischkonvents von Hacı Bektaş, an der Straße zwischen Ankara und Kayseri gelegen, berichtet eine Inschrift noch heute von der Patronage der ‚Malkoç-oğulları‘, die auf dem Balkan eine Rolle als ‚Herren der Grenze‘ innehatten.35 Wie Zeynep Yürekli deutlich gemacht hat, entspricht die Anlage des Derwischkonvents von Hacı Bektaş in auffallendem Maße derjenigen des Sultanspalastes.36 Sie verfügte ebenfalls über einen Vorhof für die Besucher und deren Reittiere. Im zweiten Hof wurde den Gästen Speise und Trank gereicht, weshalb dort auch die Küche und der Backofen lagen, die sich auf den zweiten Hof hin öffneten. Zumindest im 19. Jahrhundert – vielleicht auch schon früher – lebte auch der Vorsteher (şeyh) des Konvents mitsamt seiner Familie in einem Bau, dessen Fenster auf den zweiten Hof hinaus gingen. In einem anderen Raum hielten die Derwische ihre Zeremonien ab. Falls diese räumliche Verteilung der Aktivitäten schon im 17. Jahrhundert existierte, kann man den zweiten Hof als Sphäre eines alltäglich ausgeübten Gottesdiensts wie auch weltlicher Tätigkeiten betrachten. Der dritte Hof dagegen war den Grabmälern vorbehalten. Der Tradition entsprechend, befand sich hier die Gruft des Heiligen mitsamt einem Kultraum, der seinerzeit wohl reichlich mit Weihgeschenken ausgestattet war: eine mit Silber opulent verzierte Tür, gestiftet von einem Provinzgouverneur des 17. Jahrhunderts, befindet sich noch immer an Ort und Stelle. Ein zweites Mausoleum enthält der Überlieferung nach die Gebeine des Balım Sultan, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts, also unter Bayezid II., gewirkt haben soll und als der eigentliche Gründer des Ordens der Bektaschi-Derwische gilt. Unter diesen Vorzeichen erscheint der dritte Hof als die vom Alltagsbetrieb abgeschirmte Sphäre der Heiligen und entspricht damit dem dritten Hof des Sultanspalastes, der dem Herrscher und den Palastdienern vorbehalten war. In Seyyid Gazi nahe bei Eskişehir, dem anderen von Yürekli bearbeiteten Derwischkonvent, ist die Lage komplizierter. Zum einen schlossen sich dessen Derwische
34 Irène Mélikoff, Le problème ‚kızılbaş‘, in: Turcica 6, 1975, 49–67. 35 Franz Babinger, Beiträge zur Geschichte der Malqoç-Oghlus, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen zur Geschichte Südosteuropas und der Levante, Bd. 1. München 1962, 355–369; Zeynep Yürekli, Architecture and Hagiography in the Ottoman Empire. The Politics of Bektashi Shrines in the Classical Age. Farnham 2012, 126–132. 36 Yürekli, Architecture and Hagiography (wie Anm. 35), 143–146.
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wahrscheinlich erst um 1600 dem Bektaschiorden an, zum anderen wurde dort im Zuge der offiziellen Durchsetzung sunnitischer Rechtgläubigkeit im 16. Jahrhundert eine theologische Hochschule eingerichtet, deren Studenten nicht selten mit den Derwischen in Konflikt gerieten.37 Demnach war der große Hof, den man durch einen Torbau betritt, seinerzeit oftmals eine Sphäre des Konflikts, für deren Nutzung gewiss heute nicht mehr erhaltene Regeln bestanden. Wie im Derwischkonvent von Hacı Bektaş gab es auch hier einen vom Alltagsleben abgeschirmten Bezirk, in dem Gräber gelegen waren.
3 ‚Ableger‘ an der Grenze des Reiches: Die Paläste des Tatarenkhans und eines Provinzmagnaten In Bağçasaray, einer Stadt auf der Krim, hat sich der Palast der Tatarenkhane (Hansaray) erhalten und kann heute als Museum besichtigt werden. Da der Komplex 1736 in einem russisch-tatarischen Krieg abgebrannt ist und mit osmanischer Hilfe wieder aufgebaut wurde, sieht der heutige Bau wahrscheinlich ‚osmanischer‘ aus als die Anlage, die ursprünglich an dieser Stelle stand.38 Denn nach tatarischer Tradition residierten die Khane ursprünglich in Zelten inmitten eines großen Gartens. Allerdings begannen die Khane schon während des 16. Jahrhunderts, allmählich in feste Gebäude überzusiedeln, doch waren sie oft auf der Jagd oder im Krieg und verbrachten deshalb nur wenig Zeit in Bağçasaray. Wahrscheinlich erklärt sich daraus die nach Istanbuler Maßstäben eher bescheidene Ausstattung des Palastes. Die Anlage von Bağçasaray weist zahlreiche Ähnlichkeiten besonders mit dem Palast von Edirne auf, gleichwohl sind einige Besonderheiten festzustellen. So trug sie dem Protokoll am tartarischen Hof Rechnung, das verlangte, sich dem Herrscher nicht in gerader Linie zu nähern, sondern ihn erst zu Gesicht zu bekommen, nachdem man um einige Ecken gebogen war. In den osmanischen Palästen war diese Überlegung weitgehend in den Hintergrund getreten, obwohl das ‚Topkapı Sarayı‘ immerhin eine leicht gekrümmte Verbindung zwischen dem zweiten (‚Ortakapı‘) und dem dritten Tor (‚Babüsse’ade‘) aufweist.39 Erbaut wurde der Palast im Auftrag von Mengli Geray I., der mit einigen Unterbrechungen zwischen 1467 und 1514 den Thron des Khans innehatte.40 Sein Nachfolger
37 Suraiya Faroqhi, Seyyid Gazi Revisited. The Foundation as Seen Through Sixteenth and Seventeenth-Century Documents, in: Turcica 13, 1981, 90–122. 38 Dieser Abschnitt basiert auf: Nicole Kançal Ferrari, Kırım‘dan Kalan Miras. Hansaray. Istanbul 2005. 39 Ebd., 118–121. 40 Vorher war es offenbar strittig, ob dies wirklich zutrifft, aber Kançal Ferrari hat erklärt, dass diese Frage jetzt positiv zu entscheiden ist: ebd., 267.
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Sahib Geray ergänzte nach 1532 eine Palastmoschee, zunächst wohl mit nur einem Minarett.41 Unklar ist, wann das zweite hinzukam. Die Frage ist deswegen interessant, weil im osmanischen Bereich nur der Sultan und seine Mutter das Recht besaßen, Moscheen mit zwei Minaretten zu errichten. Es lässt sich begründet vermuten, dass die Khane, als sie von der osmanischen Praxis erfuhren, ihren fürstlichen Status auf diese Weise hervorheben wollten. Im späten 17. Jahrhundert setzte im osmanischen Reich ein Prozess der Dezentralisierung ein, der erst seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Sultan Mahmud II. weitgehend rückgängig gemacht wurde. In dieser Zeitspanne entstanden in der anatolischen Provinz mehr oder weniger stark befestigte Häuser, die jedoch nur vereinzelt erhalten sind. In der Nähe der Ägäisküste gehörten zu diesen Residenzen oft Türme, die wohl auf vorosmanische Bautraditionen zurückgingen. Leider wissen wir nur sehr wenig über das Leben, das sich in diesen oft in einem osmanisch-italienischen eklektischen Stil dekorierten Baulichkeiten abgespielt hat.42 Was die schriftliche Dokumentation der Jahre zwischen dem 17. und dem frühen 19. Jahrhundert anbelangt, so fällt auf, dass wir über die weiblichen Mitglieder dieser Provinzdynastien kaum etwas wissen, zumindest was den osmanischen Balkan und Anatolien angeht. Für diesen Quellenmangel gibt es keine befriedigende Erklärung; denn für den gleichen Zeitraum ist zur Geschichte von Frauen der syrischen, ägyptischen und irakischen Eliten durchaus Material vorhanden.43 Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass politisch motivierte Eheverbindungen halfen, Patronageverbindungen zwischen Magnatenfamilien gleich welcher Region zu etablieren. In einigen Fällen gibt es jedoch gut erhaltene Residenzen, die aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive aussagekräftig sind. Denn bei diesen Bauten lassen sich der Bereich, in dem der Magnat seine Bittsteller und Gäste empfing, sowie der von der Familie bewohnte Haremsteil klar unterscheiden. Ein besonders monumentales Beispiel ist der weitgehend aus Stein errichtete ‚İshak Paşa Sarayı‘ in Doğu Beyazit (Provinz Ağrı) in unmittelbarer Nähe der türkisch-iranischen Grenze, der laut Bauinschrift 1784 abgeschlossen wurde.44 Sein/e Erbauer stammte/n aus der Familie Çıldıroğulları, einer örtlichen Dynastie, die in diesem Grenzgebiet auch politische Funktionen wahrnahm.
41 Ebd., 70 f., 128–130. 42 Unter den zahlreichen Aufsätzen der Autorin zu diesem Thema vgl. Ayda Arel, Cincin Köyünde Cihanoğullarına Ait Yapılar, in: V Araştırma Sonuçları Toplantısı 1. Ankara 1987, 43–76. 43 Neben Lier, Haushalte (wie Anm. 35), vgl. auch Margaret Meriwether, The Kin who Count. Family and Society in Ottoman Aleppo, 1770–1840. Austin 1999; Afaf Lutfi al-Sayyid Marsot, Women and Men in Late Eighteenth-Century Egypt. Austin 1995. 44 Für eine kurze Beschreibung vgl. Kültür Varlıkları ve Müzeler Genel Müdürlüğü‘ne Bağlı Müzeler, Ağrı İshak Paşa Sarayı, URL: www.kulturvarliklari.gov.tr/TR,43858/agri-ishak-pasa-sarayi.html (Zugriff: 31.10.2014). Eine ausführliche Monographie ist: Yüksel Bingöl, İshak Paşa Sarayı. Istanbul 1998; für den Gefängnistrakt vgl. 88 f., für den Festsaal 154–158.
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Sehr ungewöhnlich für einen osmanischen Bau ist die zentrale Beheizung, eine Überlebenshilfe in den für die Region typischen bitterkalten Wintern. Ungewöhnlich ist ebenfalls die Verbindung eines – nur minimal befestigten – Palasts mit einer Moschee, einer medrese und einem Mausoleum für die verstorbenen Familienmitglieder.45 Normalerweise trennte man fromme Stiftungen und Wohnbereiche. Allerdings besaß der Palast der Tatarenkhane ebenfalls Moschee, Mausoleen und medrese. Die sehr aufwändige Dekoration des ‚İshak Paşa Sarayı‘ – besonders auffallend sind die reich verzierten Eingangstore – kombiniert Elemente, die an die schon weit zurückliegende seldschukische Baukunst erinnern, mit osmanischen und europäischen Motiven, ein Zusammenspiel, dessen Zustandekommen bislang nicht erklärt werden kann. Der Palast bestand aus drei Höfen. Im ersten befanden sich die Wachen, Stallungen und Kerker. Im zweiten Hof lagen, wie auch sonst üblich, die Empfangsräume, die der Amtsführung des Paşas gedient haben müssen. Dagegen ist der Haremsteil wiederum sehr ungewöhnlich, befand sich in der Mitte der Anlage doch anstelle des zu erwartenden Innenhofes ein großer Raum. Yüksel Bingöl interpretiert diesen als Salon, in dem Glückwünsche zu religiösen Festen ausgetauscht wurden (muayede salonu), aber der Lage des Raums nach zu urteilen, können eigentlich nur die Frauen der Familie hier ihre Gäste empfangen haben. Möglicherweise war der Harem zur Zeit großer Feste auf die umliegenden kleineren Zimmer beschränkt.
4 Reiche Leute in Istanbul und in der anatolischen Provinz des frühen 19. Jahrhunderts Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schlug sich Demetrius Cantemir, prominenter Intellektueller sowie zeitweilig Woiwode der Moldau im heutigen Rumänien und damit dem Sultan als Vasall unterstellt, in einem russisch-osmanischen Krieg auf die Seite von Peter dem Großen. Um eine Wiederholung solcher Ereignisse zu verhindern, setzte die osmanische Zentralmacht bis zum griechischen Aufstand von 1821 nicht mehr einheimische Adlige als Fürsten ein, sondern wohlhabende orthodoxe Herren, die Griechisch sprachen, auch wenn sie nicht unbedingt Griechen im ethnischen Sinne waren. Die Familien dieser Herren lebten in Istanbul in steinernen Häusern, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert erbaut und in der Region um das orthodoxe Patriarchiat gelegen sind. In diesem als ‚Phanar‘ (türkisch ‚Fener‘) bekannten Stadtteil sind zahl-
45 Der Palast lag früher mitten in dem Städtchen Doğubeyazit, wegen Verschiebung der Siedlung ist er heute jedoch auf offenem Gelände gelegen.
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reiche Beispiele erhalten, freilich oft nur als Ruinen, deren besondere Architektur es erst noch genauer zu untersuchen gilt. Für die Haushalte und Patronagebeziehungen, die in diesem Milieu gang und gäbe waren, ist dagegen die Arbeit von Christine Philliou aufschlussreich. Am Beispiel von Stephanos Vogorides (um 1770–1859) untersucht Philliou die Strategien und Wege sozialen Aufstiegs. Vogorides, welcher der Herkunft nach bulgarisch, aber griechisch erzogen war, konnte sich dauerhaft im Milieu des ‚Phanar‘ etablieren. So vertrat er die Interessen der Fürsten der Moldau in Istanbul und hatte jahrzehntelang, wenn auch nur nominell, die Würde eines Fürsten von Samos inne.46 Neben seiner eigenen Einheirat in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie stellten die Ehen, die Vogorides für seine zahlreichen Kinder arrangierte, wichtige Faktoren für seinen Aufstieg dar. Einer seiner Schwiegersöhne, Konstantin Musurus, machte dank Vogorides‘ Förderung Karriere als Botschafter in europäischen Hauptstädten und erlangte später, nach dem Tod des Schwiegervaters, unter Abdulhamid II (r. 1876–1909), die Würde eines Paşas. Mitte des 19. Jahrhunderts baute sich Vogorides am Bosporus in einem damals von vielen Christen bewohnten Dorf eine aufwändige Villa, die nicht mehr erhalten zu sein scheint.47 Dagegen bietet eine Arbeit zur Orts- und Familiengeschichte der kleinen anatolischen Stadt Divriği, in der Nähe von Sivas gelegen, den Lesern alte Photographien von Häusern lokal prominenter Dynastien, zumeist aus dem 19. Jahrhundert.48 Eine von diesen Residenzen ist im Jahre 1838 im Fachwerkstil erbaut worden und insofern einmalig, als sonst keine Beispiele dieses Bautyps aus so früher Zeit erhalten sind. Bei diesem und anderen Häusern derselben Art fehlt jegliche Befestigung. Das Obergeschoss, welches das selamlık enthält, sitzt zwar auf einem fensterlosen Sockel, enthält jedoch zahlreiche Fenster, die seinerzeit dem Hausherrn und seinen Gästen den Ausblick auf einen nahegelegenen Poloplatz gestatteten. Im Unterschied zum Leben in der Kleinstadt Divriği wissen wir nur sehr wenig über die – zweifellos sehr verschiedenen – Besitzer des ‚Güpgüpoğulları Konağı‘ (Stadtpalais der Familie Güpgüp), das heute das ethnographische Museum der zen tralanatolischen Stadt Kayseri beherbergt.49 Der Kern des Gebäudes soll auf die vorosmanische Zeit zurückgehen, als Kayseri zum Fürstentum der Dulkadıroğulları gehörte,
46 Christine M. Philliou, Biography of an Empire. Governing Ottomans in an Age of Revolution. Berkeley 2011. 47 Ebd., 154, erwähnt die Baukosten, aber sagt nichts über den heutigen Zustand. 48 Necdet Sakaoğlu, Anadolu Derebeyı Ocaklarından Köse Paşa Hanedanı, 2. Aufl. Istanbul 1998, 348. Necdet Sakaoğlu hat versucht, den sozialen Kontext zu rekonstruieren, in dem dieses und vergleichbare Gebäude entstanden sind – u. a. über Interviews mit alten Menschen, deren Erinnerungen zur Zeit seiner Recherchen noch ins späte 19. Jahrhundert zurückreichten. 49 Sehr instruktiv zur Baugeschichte: Necibe Çakıroğlu, Kayseri Evleri. Istanbul 1952. Für neuere Photographien vgl. Güpgüpoğlu Konağı, URL: www.turkcebilgi.com/güpgüpoğlu_konağı (Zugriff: 10.03.2015). Vgl. auch Kayseri il Kültür ve Turizm Müdürlüğü, Etnoğrafya Müzesi (Güpgüpoğlu
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die den Mamlukensultan von Ägypten und Syrien als ihren Oberherrn anerkannten. Auf diese Verbindung führt man die Fassadendekoration in schwarz-weißem Marmor zurück, während andere Elemente nach Südostanatolien weisen. Eine Inschrift soll berichten, dass der ‚Emir‘, also wohl Gouverneur, von Kayseri namens Mustafa bin Abdullah, der aus Bursa stammte, den Bau 1492 errichten ließ, doch einige Teile sind angeblich älter.50 Über die Jahrhunderte ist sehr viel verändert worden, sodass der heute vorhandene Zustand wohl eher auf das 18. und 19. Jahrhundert zurückgeht, als es im Unterschied zu früheren Zeiten offenbar unnötig war, das Gebäude für eine eventuelle Verteidigung auszustatten. Die Residenz besteht aus zwei Gebäuden, von denen der auf Abbildungen zur linken Hand befindliche Block als selamlık diente. In dessen Untergeschoss lagen Stallungen, in denen auch die Tiere der Besucher Platz fanden. Eine Küche ermöglichte es, Kaffee zu kredenzen und vielleicht auch kleine Mahlzeiten zuzubereiten. Der Haremsteil ist relativ luxuriös ausgestattet, mit eigenem türkischem Bad (hamam). Den Kern bildet, wie in dieser Region üblich, eine große Diele, um die sich Zimmer, Küche und Speicher gruppieren. Ein Empfangsraum für weibliche Gäste ist später hinzugefügt worden. Das Haus muss seinerzeit von einem Hof umgeben gewesen sein, von dem jedoch nichts erhalten ist. Mit zwei Höfen entsprach das Güpgüpoğulları-Areal dem baulichen Standard der Anwesen anderer wohlhabender Familien in Kayseri. Unbekannt ist, wie seine Bewohner sich eingerichtet hatten, ob mehr als eine Kernfamilie in diesem Komplex lebte und ob der Hausherr mehr als eine Ehefrau besaß. Unter gewöhnlichen Stadtbewohnern war die Einehe üblich, doch in diesem Bau wohnten offensichtlich Mitglieder der städtischen Elite.51 Zudem ist anzunehmen, dass für den Unterhalt des Gebäudes zahlreiche Bedienstete nötig waren, für deren Unterbringung sowohl im selamlık wie im Haremsteil jeweils ein Raum vorgesehen war. Die generelle Beobachtung, dass städtische Häuser zumeist Privateigentum (mülk) der Bewohner waren, dürfte auch für diese Residenz zugetroffen haben, zumindest solange Familien aus dem Untertanenstand dort lebten. Wenn es sich aber um einen Diener des Sultans handelte, wie seinerzeit der Emir von Kayseri, könnte der Komplex sehr wohl nach dem Tode des Inhabers für den Staatsschatz beschlagnahmt und später verkauft worden sein. Doch leider sind die Besitzverhältnisse, die über die Jahrhunderte hinweg öfters gewechselt haben müssen, ziemlich unklar.
Konağı), www.kayserikulturturizm.gov.tr/TR,55030/etnografya-muzesi-gupgupoglu-konagi.html (Zugriff: 10.03.2015). 50 Im Internet gibt es zwar zahlreiche Photographien des Komplexes, eine Abbildung der Inschrift habe ich aber nicht finden können. 51 Suraiya Faroqhi, Men of Modest Substance, House Owners and House Property in Seventeenth Century Ankara and Kayseri. Cambridge 1987.
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5 Zum Abschluss Während die Behausungen gewöhnlicher Stadtbewohner in einem Hof, oder im Höchstfall in zwei Höfen, zusammengefasst waren, kann man bei Palästen mit drei bis vier Höfen rechnen, in Einzelfällen vielleicht mit noch mehr. Wahrscheinlich geht man nicht fehl, wenn man die Zahl der Höfe als ein Anzeichen von Reichtum und sozio-politischem Rang interpretiert. Familien, die in den osmanischen Zentralprovinzen lebten und sich ein aufwändigeres Haus leisten konnten, bauten zwei getrennte Sektionen, die eine für den Mann und seine Gäste, die andere für das Familienleben. Allerdings waren viele Häuser so klein, dass eine solche Anordnung kaum möglich war. Die Trennung von selamlık und Harem kann deswegen auch als ein Anzeichen von Wohlhabenheit und Sozialprestige gelten. Zumindest seit dem 18. Jahrhundert war es beliebt, die Räume, in die man Gäste lud, durch Wandmalereien zu dekorieren. Auch solche Dekorationen waren prestigeträchtig, selbst wenn wir nur sehr wenig über die Kriterien wissen, nach welchen solcher Schmuck zeitgenössisch bewertet wurde. Für die Stadtkultur um 1850 lassen sich bedeutende regionale Unterschiede konstatieren. Wahrscheinlich hat sich in Divriği oder Kayseri um diese Zeit noch recht wenig verändert. Aber in Istanbul kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine kommerzielle Versorgung mit Leitungswasser auf, selbst wenn die Zahl der Haushalte, die sich diesen ‚Luxus‘ leisten konnten, vorerst noch begrenzt war.52 In der Hauptstadt wurden zu dieser Zeit auch Straßen erweitert und begradigt sowie eine Berufsfeuerwehr eingeführt. Angesichts dieser Entwicklungen und der sukzessiven Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt bereits seit 1850 ist Şükrü Hanioğlu nur mit ziemlichen Einschränkungen zuzustimmen, der die großen Veränderungen in Infrastruktur und Konsum erst für das Ende des 19. Jahrhunderts ansetzt.53 Andere HistorikerInnen haben dagegen auf die Veränderungen des 18. Jahrhunderts hingewiesen, eine Zeit, in der z. B. die Gartenkultur zu hoher Blüte gelangte und zumindest die bessergestellte Bevölkerung der osmanischen Hauptstadt Freude an Mode, Festen, Blumen und Wasserspielen zeigte.54 Ein wichtiges Problem in der Rekonstruktion und Bewertung dieser historischen Entwicklungen ergibt sich daraus, dass die Kriege des frühen 20. Jahrhunderts (1912–1923) mit ihren Massentötungen und Vertreibungen einen Großteil der materiellen Kultur aus älterer Zeit zerstört haben. Die enge Verknüpfung zwischen Haus und Herrschaft, ihre historische Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit kann auch vor diesem Hintergrund leicht übergangen oder übersehen werden. Es bedarf intensiver
52 Noyan Dinçkal, Istanbul und das Wasser. Zur Geschichte der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1966. München 2004. 53 Şükrü Hanioğlu, A Brief History of the Late Ottoman Empire. Princeton 2010, 27. 54 Shirine Hamadeh, The City’s Pleasures. Istanbul in the Eighteenth Century. Seattle 2007.
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Forschung, um sie sichtbar werden zu lassen. Nicht zuletzt erschweren die in der heutigen Türkei fast universelle ‚Nostalgiekultur‘ und die damit verbundene Identitätssuche in der osmanischen Vergangenheit, die als ‚eine‘, homogene und bessere Vergangenheit konzipiert wird, merklich eine differenzierte Betrachtung der sich wandelnden Lebensstile in ihrer Heterogenität. Als Reaktion auf die Veränderungen der letzten Jahrzehnte, die eine völlig andere Wohnkultur mit sich gebracht haben, lässt sich eine unkritische Idealisierung der Vergangenheit beobachten, die gänzlich außer Acht lässt, dass sich die Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten der Menschen, vor allem der Frauen und Kinder, seither deutlich verbessert haben.55
55 Dieser Widerspruch ist besonders deutlich in Sakaoğlu, Anadolu Derebeyı (wie Anm. 48), wo das Vorwort eine Laudatio temporis acti ist. In den Bildunterschriften zu Photos von Einwohnern Divriğis weist der Autor hingegen auf die unglaublich schwierigen Bedingungen hin, unter denen diese Männer und Frauen leben mussten (343).
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Adel und Haus: Deutungshorizonte im 19. und 20. Jahrhundert 1 Kontinuitätsfiktionen in der Adelsforschung Das Land, der Grundbesitz und die darauf stehende Burg, das Gutshaus oder das Schloss sind seit dem Mittelalter untrennbar mit der Geschichte des Adels verbunden.1 Sie scheinen auf den ersten Blick Grundphänomene der adligen Identität mit ‚langer Dauer‘ zu sein. Otto Gerhard Oexle schrieb 1990 dazu: „Instrument adliger Herrschaft ist das ‚Haus‘ mit seinen dinglichen und personalen Elementen, das ‚ganze Haus‘ […]. Wichtigstes Moment des adligen Hauses ist der eigene Grund und Boden, die ‚terra‘ mit der ‚festen Behausung‘.“ Dieses Haus und der Besitz seien mit Rechten verbunden. Sie schlössen bis ins 19. Jahrhundert hinein, modern gesprochen, staatliche Hoheits- und Verwaltungsaufgaben ein. Zudem „bedeutete die Verfügung über Grund und Boden zugleich die Herrschaft über jene Menschen, die in dem mittelalterlichen Begriff der ‚familia‘ zusammengefasst wurden“ – namentlich die Herrschaft des Adels über seine Grundholden. Dieses Haus, diese familia sollte, so Oexle, ein im Mittelalter und der Frühen Neuzeit häufig am königlichen Hof orientiertes Idealbild der Gesellschaft abgeben.2 „Die Herrschaft über Land und Leute“, so Gerhard Dilcher zeitgleich, „erweist sich daher als weit mehr denn eine bloße Absicherung von Abkömmlichkeit, sie war vielmehr Teil der spezifischen Lebensform“ des Adels. „Die Verbindung zur Natursphäre, die diesem Lebensstil zugrunde liegt, zeigt sich in Spätformen in der Beschäftigung mit Tierzucht, Landwirtschaft und vor allem der Jagd.“3 Das adlige ‚Haus‘ und der mit ihm einhergehende Lebensstil sowie die damit verbundenen Rechte scheinen somit die Jahrhunderte weitgehend unverändert überdauert und einen stabilen Kern der adligen Existenz gebildet zu haben. Dieses von Dilcher und Oexle präsentierte Bild entspricht der adligen Selbstdeutung.4
1 Ich danke Ewald Frie und Alexa von Winning für die kritische Lektüre einer ersten Version dieses Artikels. 2 Otto Gerhard Oexle, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950. Göttingen 1990, 19–56, hier 31–34. 3 Gerhard Dilcher, Der alteuropäische Adel – ein verfassungsgeschichtlicher Typus? in: Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel (wie Anm. 2), 58–86, hier 69 f. 4 Vgl. dazu auch die Auswertung von Autobiographien deutscher Adliger bei Marcus Funck/Stephan Malinowski, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: HA 7, 1999, 236–270; dies., ‚Charakter ist alles!‘ Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 6, 2000, 71–91.
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Freilich muss man vorsichtig sein, diesen Kontinuitätsgeschichten und -fiktionen nicht aufzusitzen.5 Denn der Adel erweist sich bei genauerer Untersuchung als Meister der invention of tradition (Eric Hobsbawm/Terence Ranger). Um seine Identität zu stabilisieren und um seinem Besitz-, Herrschafts- und Führungsanspruch Legitimität zu verleihen, ist er stets darum bemüht, sein Verhalten mit einer historischen Aura, dem Anschein des ‚schon immer so Gewesenen‘, zu umgeben. Das Historische stellt im 19. und 20. Jahrhundert im Kampf um die gesellschaftliche Stellung des Adels eine seiner wichtigsten Ressourcen gegenüber Aufsteigergruppen dar.6 An der Familie, am Gutshaus, dem ländlichen Leben, der Verbindung zur ländlichen Bevölkerung wurde daher vom Adel immer wieder die historische Tiefendimension betont. Tatsächlich erweist sich das adlige ‚Haus‘ jedoch in seinen personalen und dinglichen Dimensionen als eine Hülle, die in den jeweiligen Situationen immer neu mit spezifischen Bedeutungen gefüllt und aufgeladen werden konnte. Was dabei überlieferte, durchaus auch bauliche, Struktur, historische Kontinuität und was Neuinterpretation war, ist daher immer im Einzelfall zu überprüfen. Überlieferte Strukturen konnten umgedeutet, bekannte Verhaltensmuster im alltäglichen Leben oder in Konflikten ideologisch neu gedeutet werden. Denn die Aufladung des ‚Hauses‘ erfolgte stets in Relation zu einem spezifischen historischen Umfeld. Das heißt, sie muss vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung interpretiert werden. Aus einer solchen Perspektive zeigt sich: Das adlige ‚Haus‘ war kein langfristig stabiles und gleich gedeutetes Phänomen.7 So gefasst, bietet sich das adlige ‚Haus‘ als Möglichkeit für einen internationalen Vergleich des Adels an. Zwar wird in der Adelsforschung gern die Spezifik einzelner Adelsregionen und Adelspopulationen hervorgehoben. Und zu viel Spezifik scheint dann oftmals den Vergleich zu verbieten. So erscheint es auf den ersten Blick fraglich, ob man beispielsweise den russischen und preußischen Adel und die südwestdeutschen Reichsritter im Verhältnis zu ihrem Grundbesitz um 1800 überhaupt vergleichen kann. Denn der Status der Reichsritter beruhte auf ihrem reichsunmittelbaren, also nur dem Kaiser unterstehenden Grundbesitz. Da dieser die Familien aber nur selten allein ernähren konnte, waren Reichsritter häufig von ihrem Besitz abwesend –
5 Vgl. für das englische Landhaus Peter Mandler, The Fall and Rise of the Stately Home. New Haven 1997. Für den preußischen und südwestdeutschen Adel allgemein Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840– 1945. München 2014. 6 Vgl. dazu die Überlegungen von Silke Marburg/Josef Matzerath, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel 1763–1918. Köln 2001, 5–16. 7 Vgl. dazu Charlotte Tacke, ‚Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.‘ ‚Adel‘ und ‚Adeligkeit‘ in der modernen Gesellschaft, in: NPL 52, 2007, 91–123. An den Beispielen Familie, Ehre und Grundbesitz zeigt dies Menning, Standesgemäße Ordnung (wie Anm. 5), 109–165.
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manche besaßen nicht einmal ein Haus in dem Dorf, das ihren Rechtsstatus garantierte. In Preußen besaßen viele Adlige gar keinen Grundbesitz und damit auch kein Haus, sondern waren für ihr Auskommen allein auf den Staatsdienst angewiesen.8 In Russland besaßen Teile des Adels zwar viel Land und vor allem viele Leibeigene, an denen Reichtum eigentlich gemessen wurde. Allerdings hatte Peter der Große den Adelstitel vom Dienst für den Staat abhängig gemacht. Daher bestand für den Adel etwa zwei Generationen lang gar keine Möglichkeit einer dauerhaften ländlichen Lebensweise. Erst 1762 wurde die Dienstpflicht für den Adel abgeschafft. Die Idee war hierbei, dass der Adel in Zukunft mehr Zeit auf dem Land verbringen würde und dass er dort den Ausbau staatlicher Institutionen personell absichern und als Kulturträger die Erschließung der ländlichen Ressourcen vorantreiben würde.9 Aber trotz aller Unterschiede gab es zwischen 1750 und 1950 in Europa auch historische Prozesse, die sich in allen Untersuchungsregionen auswirkten. Neben je eigenem Herkommen und eigenen Erfahrungen waren der europäische Adel und sein ‚Haus‘ diesen Prozessen ausgesetzt bzw. setzte sich ihnen aus. Das ‚Haus‘ war eine Entität, die im Zuge dieser Entwicklungen neu interpretiert werden konnte oder musste, um adlige Identität zu festigen und Herrschaft bzw. Führung neu zu rechtfertigen. Blickt man auf diese Prozesse, so lässt sich eine vergleichende Perspektive einnehmen.10 Dies soll im Folgenden an drei Beispielen gezeigt werden: Zuerst an Reaktionen auf den Nationsdiskurs als neuer Gemeinschaftsideologie des 19. Jahrhunderts, dann an der adligen Stellung auf dem Land, die durch Bemühungen um die rechtliche Egalisierung der Gesellschaft verändert wurde, und schließlich am Beispiel der Urbanisierung, die das Stadt-Land-Verhältnis beeinflusste. Alle drei Prozesse hatten zwar in der Frühen Neuzeit Vorläufer, sie gewannen aber nach 1800 eine ganz neue Dynamik und Reichweite. Sie sind für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wesentlich und konnten vom Adel nicht ignoriert werden. Eine solche thematische Beschränkung bringt es mit sich, dass nicht alle Aspekte des adligen ‚Hauses‘ in den jeweiligen Untersuchungsregionen betrachtet werden können. Vielmehr steht die ideologische Deutung im Vordergrund – die Praxis konnte davon erheblich abweichen. Doch es waren gerade diese ideologischen Deutungen, die adlige Selbstdeutungen durchziehen und als Richtschnur für korrektes
8 Überblicke zum deutschen Adel bieten Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999; Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne. Göttingen 2006. 9 Prescilla Roosevelt, Life on the Russian Country Estate. A Social and Cultural History. Yale 1995, 2–33; John Randolph, The House in the Garden. The Bakunin Family and the Romance of Russian Idealism. Ithaca 2007. 10 Als Beispiel einer an Prozessen orientierten Herangehensweise an die globale Adelsgeschichte vgl. die Beiträge in Heft 4 des Journal of Modern European History 11, 2013, mit dem Titel „Noble Ways and Democratic Means“.
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Verhalten gelten sollten.11 Auch steht das ‚Haus‘ als Gebäude stärker im Fokus als in seiner personalen Deutung. Denn in der personellen Deutung stand der Begriff beim hier betrachteten Niederadel neben anderen Termini und war im deutschen Fall in seiner Bedeutung unscharf. Familie oder Geschlecht waren hier wichtiger, wenn es um Verwandtschaft ging. Das ‚Haus‘ als Gebäude rückt hingegen das Bezugsfeld der Dorfgemeinschaft stärker in den Blick. Zudem öffnet die Beschränkung das Thema einem überregionalen Vergleich. Geographisch werden hierbei im Folgenden mit Deutschland, dem Baltikum und Russland Blicke in ganz unterschiedliche Adelsregionen geworfen. Diese Untersuchungsregionen erlauben es, grundherrschaftliche und gutsherrschaftliche Gesellschaften sowie solche mit einheimischer und zugewanderter Adelsschicht zu vergleichen. Dabei handelt es sich um Problemkonstellationen, die sich auch in anderen Regionen Europas beobachten lassen.
2 Der Nationsdiskurs Der Nationsdiskurs durchdrang im 19. Jahrhundert in vielfältiger Weise sämtliche Lebensbereiche. Der Adel war von dieser Entwicklung in besonderer Weise betroffen. Denn neben regionalen und dynastischen Loyalitäten besaß für ihn die europäische Adelswelt als Bezugsrahmen in der Frühen Neuzeit eine große Bedeutung. In weiten Teilen des niederen Adels verschwand diese europäische Dimension seit der Wende zum 19. Jahrhundert. Für die Reichsritterschaft hat William D. Godsey von einer „geocultural landscape“ gesprochen, die in der Frühen Neuzeit von Wien bis Paris und von Norddeutschland bis Norditalien reichte und durch den modernen Nationalismus am Anfang des 19. Jahrhunderts zerstört wurde.12 Baustile wie der Barock, der Rokoko oder der Klassizismus, die den Bau von Schlössern und Gutshäusern prägten, waren ebenso wie barocke oder englische Landschaftsgärten europäische Erscheinungen.13 Im 19. Jahrhundert wurde die adlige Identität dann dem Nationsdiskurs unterworfen, was nicht ohne Auswirkung auf die ländlichen Behausungen des Adels blieb. Für das adlige Gutshaus im 19. und 20. Jahrhundert erscheinen zwei Elemente des „Ideenfun-
11 Vgl. zum Spannungsverhältnis von Ideologie und Praxis im Adel Menning, Standesgemäße Ordnung (wie Anm. 5), 229–404. 12 William D. Godsey, Nobles and Nation in Central Europe. Free Imperial Knights in the Age of Revolution, 1750–1850. Cambridge 2004, 72–105. 13 Es erscheint mindestens zweifelhaft, ob mit der Auswahl eines Baustils auch immer ein so schlichtes ‚politisches‘ Programm verfolgt wurde, wie es Hans Ottomeyer, Alter Adel, neues Geld – Europä ischer Schlossbau als Legitimationsstrategie, in: Peter Wolf (Hrsg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Darmstadt 2011, 163–170, behauptet. Zur Vielfalt der europäischen Baustile in Russland vgl. Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 32–50.
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dus“ des Nationalismus besonders interessant.14 Erstens erlaubte der Nationsdiskurs die Vergemeinschaftung der als ‚Nationsangehörige‘ Erkannten und schloss zugleich die Ab- bzw. Ausgrenzung von Menschen anderer Nationalitäten ein. Zweitens gehört zum ‚Ideenfundus‘ ein nationales Sendungsbewusstsein, die Vorstellung von einer historischen Mission der eigenen Nation. Was die Vergemeinschaftung und Abgrenzung anbelangt, so konnte im 19. Jahrhundert praktisch alles zum Ausdruck des nationalen oder eines fremden Charakters werden. Das traf auch auf das Gutshaus zu. Für den deutschen Adel ging es im 19. Jahrhundert darum, sich in die Nation einzureihen. Zu diesem Zweck wurden Gutshäuser zur Verkörperung des nationalen Charakters erklärt. Den Endpunkt dieser Entwicklung und zugleich die rassistische Verformung des Nationsbegriffs seit dem Ende des 19. Jahrhunderts spiegeln die Bände der Reihe „Die deutschen Herrenhäuser“ wider. Diese wurden seit 1933 von Carl von Lorck herausgegeben – allerdings erschienen vor 1945 nur die Bände für Ostpreußen und Württemberg. Carl von Lorck war fasziniert von den „unlöslichen Zusammenhängen dieser Welt [der Herrenhäuser] mit der deutschen Gesamtkultur“. Er stellte fest: „Es handelt sich um die Aufdeckung eines brachliegenden Wissenschaftszweiges. Ein einzigartiger deutscher Gebäudetyp ist fast unerforscht und noch unerkannt in seiner Struktur als unmittelbarer Ausdruck eines ebenso einzigartigen Menschentypus [des Adels], der nicht im Gegensatz, sondern am Stamm der Nation erwuchs.“15 „Denn es ist doch ein nicht wegzudenkender Bestandteil der deutschen Volksstämme, vielleicht die Summe und edelste Blüte, der die Gutshäuser hinterlassen hat.“ „Architekturforschung als Menschenkunde“ hieß sein Programm.16 Es brachte ihn zu dem Ergebnis, dass die Herrenhäuser Ostpreußens die besten preußisch-deutschen Eigenschaften aufwiesen, die nicht zufällig mit auf den Nationalsozialismus verwiesen und an diesen Erwartungen formulierten: „Preußische Struktur ist reine Klarheit und Disziplin der Haltung, Herrschaft eines zentralen Mittelpunktes, und preußische Lebensform bedeutet Ehrfurcht vor den Vorfahren und Verantwortung vor den Nachkommen, Gefolgstreue zum Ganzen und selbstverständliches Herrentum, Wille zum Eigentum, Kraft des Erhaltens und ein unlösliches Verbundensein mit dem Heimatboden.“17 Wenn auch Wilhelm Freiherr König von und zu Warthausen für Württemberg etwas andere Akzente setzte, so stimmte er diesem Bild von Lorcks doch im Großen und Ganzen zu. Er wollte mit seinem Buch „die ideelle Bedeutung […] [der] tief in Volk und Landschaft wurzelnden Bauten zur Geltung bringen“.18 Teilweise Jahrhunderte alte Gebäude in verschiedens-
14 Vgl. zum ‚Ideenfundus‘ Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 3. Aufl. München 2007, 27–35. 15 Carl von Lorck, Herrenhäuser Ostpreußens. Bauart und Kulturgehalt. Königsberg 1933, 5 f. 16 Ebd., 9. 17 Ebd., 40. Hervorhebungen im Original. 18 Wilhelm Freiherr König von und zu Warthausen, Burgen, Schlösser und Herrenhäuser in Württemberg. Königsberg 1940, 12.
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ten europäischen Baustilen wurden so zusammen mit ihren Erbauern und Bewohnern nationalisiert. Dies konnte, musste aber nicht mit Renovierungen oder Neubauten in einem ‚nationalen Stil‘ einhergehen. In Russland zählten im Gegensatz zu Deutschland Adlige zu den ersten Anhängern des Nationalismus, der als westlicher Import verstanden und mit Rationalismus, Konstitutionalismus und Individualismus verbunden wurde. Adlige zählten aber auch zu den ersten Verbreitern des Slavophilismus, der als Gegenkonzept zum Nationalismus entstand.19 Die Slavophilen machten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach dem ursprünglichen Russland, weil sie davon ausgingen, dass die Verwestlichung des Landes seit Peter dem Großen diese Traditionen verschüttet hatte. Sie träumten von der Wiedererschaffung einer imaginierten vor-petrinischen Welt, die auf religiöser Tradition und sozialer Harmonie aufbaute.20 In der Landbevölkerung sahen sie die ursprüngliche Nation (narod), während sich die Eliten durch Verwestlichung von der wahren Nation entfernt hätten. Das Leben auf dem Landgut wurde für slavophile Adlige zu einem zentralen Bestandteil ihres Lebensrhythmus, weil sie von hier aus die ‚ursprünglichen‘ russischen Bauern beobachten konnten. Gleichzeitig bemühten sie sich darum, die westlichen Importe in der Gutshausarchitektur zurückzudrängen. So lässt sich seit der Mitte der 1820er Jahre die Suche nach ‚ursprünglichen‘ russischen Gestaltungselementen feststellen, ein Trend, der sich zum Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte.21 Allerdings war das alte Russland, waren die Vorfahren, an denen die Slavophilen ihr Verhalten auszurichten meinten, nur ihre eigenen Imaginationen. Sie hatten zur Identitätsstiftung ihre eigenen Traditionen erfunden.22 Ähnlich wie die Reihe zu den deutschen Herrenhäusern der 1930er Jahre begann auch in Russland ab 1910 die ‚wissenschaftlich-nostalgische‘ Erforschung des Gutshauses als angeblich einzigartigem russischen Phänomen, das im Gegensatz zum deutschen Gutshaus vor dem Ersten Weltkrieg aber schon dem Untergang geweiht zu sein schien.23
19 Zu Nationalismus und Slavophilismus vgl. Vera Tolz, Inventing the Nation. Russia. London 2001, 76–94. 20 Michael Hughes, The Russian Nobility and the Russian Countryside. Ambivalences and Orientations, in: Journ. of European Stud. 36, 2006, 115–137, hier 128. Für einen Forschungsüberblick zum russischen Gutshaus vgl. John Randolph, The Old Mansion. Revisiting the History of the Russian Country Estate, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian Hist. 1, 2000, 729–749. 21 Priscilla Roosevelt, Russian Estate Architecture and Noble Identity, in: James Cracraft/Daniel Rowland (Hrsg.), Architectures of Russian Identity. 1500 to Present. Ithaca 2003, 66–79, hier 76 f.; dies., Life (wie Anm. 9), 50 f., 292. 22 Irina Mikhailovna Pushkareva, The Rural Noble Country House in Postreform Russia, in: Russian Stud. in Hist. 42, 2003, 52–86, hier 52, 54 f.; Hughes, Russian Nobility (wie Anm. 20), 131. Überblickend Tolz, Inventing (wie Anm. 19). 23 Roosevelt, Russian Estate (wie Anm. 21), 79.
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Der Adel im Baltikum setzte sich vielfach aus ‚deutschen‘ Familien zusammen, die seit dem Mittelalter ins Baltikum gekommen waren. Für diese Adelsgruppe konnte es im Gegensatz zum deutschen und russischen Adel nicht um die Einschreibung in die Nation gehen. Nachdem sich Überlegungen zu einer Germanisierung der lokalen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht durchsetzten, verbreiteten sich getrennte nationale Identitäten im Adel und in der Landbevölkerung. Der Adel sah sich hierdurch mit einer doppelten Gefahr konfrontiert. Denn auf der einen Seite stand der russische Staat, der seit den 1860er Jahren verstärkt mit Russifizierungskampagnen versuchte, die baltischen Territorien enger an den Staat zu binden. Auch wenn diese Kampagnen nur begrenzt erfolgreich waren, fühlte sich der Adel doch in seiner ‚deutschen‘ Identität angegriffen. Die Zurückdrängung der deutschen Sprache in den Schulen der Oberschicht und den Universitäten, Bemühungen um die Übertragung der russischen Verwaltungsordnung auf die baltischen Provinzen und der damit einhergehende Abbau der adligen Herrschaftsposition auf dem Land wurden als Bedrohungen angesehen. Zugleich bot aber auch das lokale Umfeld aus Sicht des Adels keine Unterstützung gegen die Russifizierung. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begriff sich auch die ländliche Bevölkerung zunehmend als Esten oder Litauer. Der Zensus 1897 offenbarte, dass von knapp 2,4 Millionen Einwohnern in Livland, Kurland und Estland sich nur etwa 166 000 als Deutsche verstanden. Der Anteil der ländlichen deutschen Bevölkerung war zwischen 1881 und 1897 von 38 450 auf 23 379 zurückgegangen. Der deutsche Adel war also auf dem Land eine verschwindende ethnische Minderheit. Da er aber an örtlichen Herrschaftsrechten festhielt bzw. versuchte, diese zurückzuerlangen, versperrte er sich selbst die Möglichkeit zur Kooperation mit der estnischen und litauischen Landbevölkerung und vertiefte den Graben zu dieser eher noch weiter. Die Angriffe durch die Russifizierungskampagnen und die Revolution 1905, die auch in vielen Orten des Baltikums zu Aufständen der Landbevölkerung gegen den Adel führte, sorgten dafür, dass sich der Adel in seine Schlösser zurückzog, sich von der als feindlich wahrgenommenen Außenwelt abkapselte und die Gutshäuser zu ‚Inseln des Deutschtums‘ verklärte.24 Auf die Bedrohung als nationale Minderheit reagierte der Adel im Baltikum jedoch nicht nur, indem er sich auf sich selbst zurückzog, sondern er interpretierte auch seine Rolle in der Welt(geschichte) neu. Er ‚entdeckte‘ und formulierte um 1900 seine nationale Mission. Im Mittelalter, so der geschaffene Mythos, hatte der Adel als Ordensritter die christliche Religion und die deutsche Kultur in den Osten Europas gebracht. Während im Osten die Unordnung der Slawen herrschte, hätten die deutschen Adligen Ordnung gebracht – sie seien Kulturvermittler gewesen. In
24 Heide Whelan, Adapting to Modernity. Family, Caste and Capitalism among the Baltic German Nobility. Köln 1999, 209–243; Ulrike Plath, Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten und Kolonialphantasien 1750–1850. Wiesbaden 2011, 155–163.
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der Gegenwart verändere sich aber die Aufgabe. Statt als Kulturvermittler verstand sich der deutsche Adel immer mehr als Bollwerk, das der slawischen Expansion über 700 Jahre Grenzen gesetzt habe.25 Die Gutshäuser waren insofern nicht nur ‚Inseln des Deutschtums‘, sondern auch Vorposten im Kampf. Der deutsch-baltische Adel schrieb sich damit in den „frontier myth“ ein, der zeitgleich auch in Deutschland populär war und an dem der preußische Adel rege partizipierte. Denn auch der preußische Adel sah sich als Eroberer des Mittelalters an und verklärte sich an der Wende zum 20. Jahrhundert als ‚Kämpfer‘ gegen die ‚slawischen Fluten‘. Der Rückgang der ländlichen Bevölkerung durch Urbanisierung und Industrialisierung in den preußischen Ostprovinzen drohte aus Sicht der deutschen Nationalisten einen ‚Raum ohne Volk‘ zu hinterlassen, in den die ‚slawischen Massen‘ nachdringen würden. Die mit Hilfe des Adels im Mittelalter erreichte Ordnung des Ostens drohte damit auch in Preußen unterzugehen.26 Die Nationalisierung des Gutshauses in Deutschland ermöglichte somit die Einbindung des Adels in die Nation, während es im Baltikum zum Gegenstand nationaler Konfrontation wurde. Die Slavophilen, die sich gegen den ‚westlichen‘ Nationalismus wandten, suchten ebenfalls nach dem Anschluss an die bäuerliche Nation, sahen aber in den überlieferten Gutshäusern des 18. Jahrhunderts eher Zeichen der Entfremdung von der Nation. Mit all diesen Interpretationen wurden unter Umständen alte Konfrontationsmuster neu grundiert. Denn das Verhältnis von Adel und Landbevölkerung, schon in pränationaler Zeit immer wieder problematisch, konnte durch den Nationsdiskurs neu gedeutet werden.
3 Die adlige Stellung auf dem Land Der Adel nahm über Jahrhunderte eine Herrschaftsstellung auf dem Land ein. Die Bauern des Dorfes waren je nach Rechtsstatus seine Leibeigenen, seine Gutsuntertanen oder Grundholden. Das Gutshaus war somit stets auch ein Herrschaftszentrum. In dieser Funktion befand es sich in einem Spannungsverhältnis zum Dorf und damit der bäuerlichen Gemeinschaft. Die Positionierung des Guthauses, besonders aber auch der Platz für einen Neubau, verrät daher etwas über das Beziehungsverhältnis zur bäuerlichen Gemeinschaft. „Die Einsamkeit“, schreibt Ewald Frie über Friedersdorf in Brandenburg „war, das zeigt der Ortsplan, […] auch eine lokal-soziale. Das Schloß war innerhalb des dörflichen Gefüges deutlich herausgehoben. Der von Seelow kommende Weg führte direkt auf das zentrale Gebäude [das Gutshaus] zu,
25 Whelan, Adapting to Modernity (wie Anm. 24), 237. Den langen Vorlauf dieses Kolonialdiskurses bei Plath, Esten und Deutsche (wie Anm. 24), 262–284. 26 Menning, Standesgemäße Ordnung (wie Anm. 5), 262 f. Zum Ostmythos vgl. Verjas G. Liulevicius, The Myth of the German East. 1800 to the Present. Oxford 2009.
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teilte sich dann aber, um dem Dorfteich Platz zu machen. Die Außenseiten des so entstehenden Dreiecks wurden von den Bauernhäusern gesäumt. Ihnen gegenüber an den Innenseiten der beiden den Dorfteich umfassenden Straßen befanden sich meist kleinere Anwesen, in denen die Nichtbäuerlichen lebten. Auf sie alle sah der Schloßherr herunter. Sein Anwesen beherrschte, durch den Dorfteich distanziert, die Grundseite des Dreiecks. Zu seiner Linken lagen mit Kirche, Amt, Schule und Pfarre die quasiöffentlichen, vom Gutsherrn kontrollierten Gebäude auf einer Achse. Das Schloß war auch unvergleichlich viel größer als die bäuerlichen Anwesen. […] Nähe und Distanz gleichzeitig kennzeichneten die Stellung des Friedersdorfer Gutsherrn zu seinen Untertanen.“27 Dieses Spiel aus Nähe und Distanz ist auf Karten, Gemälden und in Ortsbeschreibungen immer wieder zu beobachten. Umfassende Auswertungen gibt es bislang nicht, so dass nur einige Beobachtungen möglich sind. Wo auf historische Vorläufer aufgebaut wurde, war die Positionierung des Gutshauses freilich schon wesentlich früher erfolgt – zuweilen im Dorf, wie in den Reichsritterdörfern am Neckar, zuweilen in Distanz, wie im Fall von Friedersdorf.28 Für das späte 18. und das 19. Jahrhundert lässt sich jedoch beobachten, dass zuweilen bewusst eine größere Distanz des Gutshauses vom Dorf gesucht wurde. So wurden in Russland offenbar viele, aber bei weitem nicht alle Gutshäuser von den Dörfern separiert errichtet. Zusätzlich schotteten sie sich durch Mauern, aufgestaute Flüsse oder Seen von der sozialen Umwelt ab. Adlige Gutshaus- und Schlossbauten in dieser Zeit können, so Priscilla Roosevelt, als Zentren kleiner Königreiche verstanden werden.29 Dabei schloss der Adel in seinem Baustil häufig an die von den Zaren gerade favorisierten Bauformen an und brachte damit seine Anhänglichkeit an die Monarchie zum Ausdruck. Auch im Baltikum ist eine zunehmende Distanzierung der neu errichteten Gutshäuser vom Dorf attestiert worden.30 In Mecklenburg konnten im 19. Jahrhundert noch ganze Dörfer um Gutshäuser herum neu errichtet werden.31 Das in der Anlage des Gutshauses zum Ausdruck kommende Spiel aus Nähe und Distanz erfährt aber erst in der alltäglichen und außeralltäglichen Begegnung von Bauern und Adligen seine praktische Bedeutung. Denn das Gutshaus als Herr-
27 Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777–1837. Biographien eines Preußen. Paderborn 2001, 107–109. Für das Beispiel Neuhardenbergs Daniel Menning u. a., Ist Adel verschwunden?, in: Siegfried Grillmeyer/Peter Wirtz (Hrsg.), Ortstermine. Politisches Lernen an historischen Orten, Bd. 2. Schwalbach 2008, 181–194. 28 Warthausen, Burgen (wie Anm. 18). 29 Roosevelt, Russian Estate (wie Anm. 21), 66; Mary W. Cavender, Nests of the Gentry. Family, Estate, and Local Loyalties in Provincial Russia. Newark 2007, 95 f.; Pushkareva, Rural (wie Anm. 22), 53 f., 63–65. Vgl. außerdem die unzähligen Abbildungen in Roosevelt, Life (wie Anm. 9). 30 Vgl. beispielhaft Whelan, Adapting (wie Anm. 24), 50, 304. 31 Vgl. das Beispiel Bredenfeldes, in: Landeshauptarchiv Schwerin, 2.21–2 Lehnkammer und 3.2–4 459 Ritterschaftliche Brandversicherung, jeweils Bredenfelde.
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schaftszentrum prägte das adlige Selbstverständnis nicht nur durch seine geographische Lage, sondern auch durch die alltägliche Interaktion. Diese Interaktion war zunächst geprägt durch das Bild, das sich der Adel von den Dorfbewohnern machte. In Russland und im Baltikum herrschte weitgehend das Bild des unzivilisierten kindlichen Bauern vor, der durch Adlige erzogen und kontrolliert werden musste. Die Entlassung des russischen Adels aus der Dienstpflicht 1762 hatte genau dies zum Ziel gehabt. Adlige sollten neben der administrativ-staatlichen Durchdringung des Landes auch Leuchttürme der Aufklärung auf dem Land werden und der Vermittlung von Zivilisation und wirtschaftlichem Fortschritt dienen. Das Landleben konnte so auch als eine andere Form des Diensts für den Staat verstanden werden – der Adel auf Zivilisierungsmission.32 Das Bild, das der brandenburgische Adlige Friedrich August Ludwig von der Marwitz von seinen Gutsuntertanen hatte, war kaum besser als jenes des russischen und baltischen Adels.33 Der Adel sollte nach seinem Selbstverständnis im 19. Jahrhundert in allen Regionen treusorgender Vater seiner Untertanen sein, ihnen in der Not helfen und sie zurechtweisen, wenn sie sich falsch verhielten. Die Gemeinschaft wurde also paternalistisch gedeutet, wobei dem Gutsherrn die Rolle des Vaters zukam – diese Stellung als Vater konnte die rechtliche Unterordnung durch Leibeigenschaft in Russland auch rechtfertigen.34 Dabei konnte die Zurechtweisung durchaus auch durch körperliche Züchtigung erfolgen, sollte aber dem Anspruch nach gerecht und nicht tyrannisch sein. Jedoch waren der Züchtigung in Russland kaum Grenzen gesetzt. Schwere Körperstrafen, Zerreißung von Familien und Verbannung nach Sibirien gehörten hier ins Repertoire der Strafen.35 Auch in Preußen galt bis 1918 ein archaisches Gesinderecht, das dem Gutsbesitzer die körperliche Züchtigung des Gesindes erlaubte.36 Das Gutshaus und sein Hof bildeten das Zentrum, in und an dem die Interaktionen zwischen Adel und Dorfbewohnern in der Frühen Neuzeit und nach 1800 immer wieder erlebt und inszeniert wurden. Die Ansprache des Gutsherrn von der Veranda an die im Hof versammelten Untertanen nutzte die baulichen Gegebenheiten ebenso zur Inszenierung von Überordnung wie der Entscheid einer Bestrafung oder die Überreichung von Präsenten aus der gleichen räumlichen Position. Bei den rituellen
32 Randolph, The House (wie Anm. 9); Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 27 f.,228; Cavender, Nests (wie Anm. 29), 19, 22, 140–143; Whelan, Adapting (wie Anm. 24), 46–55; Plath, Esten und Deutsche (wie Anm. 24), 148–149, 181. 33 Frie, Friedrich August (wie Anm. 27), 122–126. 34 Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 158–193, insbes. 173–180; Cavender, Nests (wie Anm. 29), 19, 59–63, 94–107, 133–140; Roosevelt, Russian Estate (wie Anm. 21), 73–75; Whelan, Adapting (wie Anm. 24), 46–55; Plath, Esten und Deutsche (wie Anm. 24), 148–155. Vgl. zu Analogien der Herrschaft des Hausvaters mit jener des Fürsten die Beiträge von Inken Schmidt-Voges und Anna Becker in diesem Band. 35 Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 183–191, 222–231; Cavender, Nests (wie Anm. 29), 60. 36 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, 841.
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Oster-, Ernte- oder Mittsommerfesten im Hof des Gutshauses konnte die Adelsfamilie Großzügigkeit demonstrieren und sich situativ unter die Dorfbevölkerung mischen und damit die innige Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Schließlich konnten auch zu Weihnachten Dorfkinder in das Gutshaus gelassen werden, um Geschenke zu erhalten. All diese Interaktionen bestätigten die Bedeutung des Gutshauses für die dörfliche Lebenswelt.37 Das Gutshaus war nicht nur räumlicher Ausdruck von Herrschaft, sondern es war auch ein Element, in dem Herrschaft und Gemeinschaft durch den Vollzug immer wieder reproduziert wurden. Das prägte den Adel und sein Verhältnis zu seinem Haus. Doch zugleich blieb dieses soziale Interaktionsverhältnis im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unverändert. Die Bauernbefreiung sorgte dafür, dass die rechtliche Unterordnung der Landbevölkerung unter den Adel verschwand. Das Schloss verlor damit seine Rolle als Ort staatlich delegierter Herrschaft. Es konnte nur noch Raum wirtschaftlicher Vormacht im Ort sein. Freilich waren damit noch genug Interaktionen, aber auch ausreichend Konfliktpotenzial vorhanden. Die unterschiedlichen Adelsgruppen haben auf diesen Bedeutungsverlust bzw. -wandel des Schlosses unterschiedlich reagiert. Ein Teil des russischen Adels kehrte nach 1863 den ländlichen Regionen wieder den Rücken.38 Die teils üppigen Gutshäuser ließen sich ohne die billige Arbeitskraft der Leibeigenen und ohne ökonomische Modernisierung der Landwirtschaft nicht erhalten. Zahlreiche Gutshäuser verfielen. Andere ignorierten die neuen Bedingungen so gut es ging, versuchten ihre Herrschaft fortzuführen, bis die Revolution 1905 für einen ‚Exodus‘ des Adels vom Land in die Stadt sorgte.39 Der preußische und südwestdeutsche Adel bemühte sich hingegen, das Verhältnis zwischen Adel und Bauern neu zu interpretieren. Beschreibungen um 1900 und dann erst recht nach 1918 produzierten immer mehr Bilder, in denen die Gutsgemeinschaft als Abbild der nationalistisch aufgeladenen ‚Volksgemeinschaft‘ gedeutet wurde – einer ‚Gemeinschaft‘, in der aus Sicht des Adels alle Menschen im Prinzip gleich seien, die Unterordnung der Landbevölkerung unter den Adel aber aus Anerkenntnis der adligen Führungsqualitäten erfolge. Diese ‚Volksgemeinschaft‘ sei eine harmonische Gemeinschaft, in der soziale Konflikte nicht existieren. In seiner Erweiterung konnte dieses Konstrukt auch rassisch unterfüttert werden. Das adlige Gutshaus wurde so zum Heim des ‚natürlichen‘ Anführers der ‚Volksgemeinschaft‘. Der Nationsdiskurs
37 Whelan, Adapting (wie Anm. 24) , 54 f.; Plath, Esten und Deutsche (wie Anm. 24), 174–185; Cavender, Nests (wie Anm. 29), 97, 180–185; Funck/Malinowski, Geschichte von oben (wie Anm. 4), 253–260; Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2000, 368–373; Pushkareva, Rural (wie Anm. 22), 71 f.; Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 220–222, 279–289. 38 Inwiefern die vielfach geäußerte nostalgische Sicht des Endes eines ‚goldenen Zeitalters‘ des Landhauses mit der Aufhebung der Leibeigenschaft tatsächlich zutrifft, müsste allerdings noch weiter erforscht werden. Die derzeitigen Forschungen für die Zeit nach 1863 sind eher impressionistisch. 39 Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 320–329, hier 327. Für weitere Hinweise zum ambivalenten Verhältnis des Adels zur Landbevölkerung vgl. Pushkareva, Rural (wie Anm. 22), 73.
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ermöglichte es insofern nicht nur, das Gutshaus als Ausdruck nationalen Charakters zu interpretieren, sondern er sollte auch zwischen Adel und Dorfbevölkerung Verbundenheit stiften.40 Weder die Reaktion des russischen Adels noch jene des preußischen oder südwestdeutschen stand jedoch dem baltischen Adel offen. Eine Flucht in die Städte, zumal des russischen Imperiums, war aus nationalistischer Sicht ebenso ausgeschlossen wie eine Volksgemeinschaft mit der estnischen oder lettischen Dorfbevölkerung. Die Fortschreibung des traditionellen Paternalismus vermochte es immer weniger, den Graben zur Dorfbevölkerung zu überbrücken. Verbindende Aktivitäten wie Erntefeste fielen der Kapitalisierung der Landwirtschaft zum Opfer, nationale Antagonismen verschärften die Lage. Dass das Band zur Dorfbevölkerung zerrissen war, wurde schließlich 1905 deutlich. Das Baltikum war durch die russische Revolution besonders betroffen. 184 Gutshäuser wurden als Symbole der Adelsstellung und der nationalen Fremdherrschaft niedergebrannt.41 Doch nicht nur im Baltikum am Anfang des 20. Jahrhunderts war das Verhältnis zur Dorfbevölkerung gestört. Die idyllischen Bilder einer paternalistischen Dorfoder nationalistischen ‚Volksgemeinschaft‘, die der Adel produzierte, erwiesen sich auch in Russland und Deutschland immer wieder als brüchig bzw. unrealistisch. Unruhen der ländlichen Bevölkerung gehören bis ins 20. Jahrhundert zu den regelmäßigen Ereignissen. Neben lokalen Unruhen waren es besonders jene der Jahre 1848 und 1918 in Südwest- und Nordostdeutschland, die den Adel aufschrecken ließen. Allein in Württemberg gab es 1848 in 50 Adelsdörfern Unruhen.42 Im Baltikum hatte es schon in den 1860er-Jahren Unruhen gegeben, 1905 und 1917 flammten sie wieder auf.43 In Russland kam das prekäre Verhältnis von Gutsherrschaft und Leibeigenschaft immer wieder in lokalen Unruhen zum Ausdruck. Besonders verunsicherten den Adel aber die großen Unruhen – 1773–1774 im Pugačev-Aufstand und 1812 beim Einmarsch der französischen Truppen. Und auch die Aufhebung der Leibeigenschaft beendete die Spannungen nicht, weil rechtliche Ungleichheiten und sozioökonomische Abhängigkeiten bestehen blieben. Die russischen Revolutionen 1905, die sich auf dem Land noch bis ins Jahr 1907 hinzog, und 1917 machten dies deutlich.44 Immer wieder waren die Schlösser und ihre Bewohner Angriffsziele. Dabei wurden entweder nur bestimmte Inhalte der Schlösser zerstört – so 1848 in Südwestdeutschland die Archive, die die Abgabenverpflichtungen der Landbevölkerung belegten – oder
40 Tacke, Kurzschluss (wie Anm. 7), 108; Menning, Standesgemäße Ordnung (wie Anm. 5), 91–95. Zahlreiche autobiographische Beispiele bei Funck/Malinowski, Geschichte von oben (wie Anm. 4), 253–260. 41 Whelan, Adapting (wie Anm. 24), 1 f., 55, 219, 232. 42 Nikolaus Back, Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg. Ostfildern 2010, 37–68, 341–346. 43 Whelan, Adapting (wie Anm. 24), 218 f. 44 Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 207–217, 326–333, 329–333.
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es wurden direkt die Schlösser als Gebäude angegriffen bzw. zerstört.45 Die Dorfbevölkerung brachte in lange bekannten Protestformen ihre Unzufriedenheit mit dem Adel und seiner rechtlichen und ökonomischen Stellung zum Ausdruck. Diese Unzufriedenheit hatte sich nicht durch die traditionellen paternalistischen Verfahren überwinden lassen. In Deutschland versuchte der Adel daher, den Paternalismus mit der neuen Ideologie der ‚Volksgemeinschaft‘ zu unterfüttern. In Russland und im Baltikum erprobte der Adel keine neuen Wege zur Überwindung der Unzufriedenheit, sondern ging in der zweiten Jahrhunderthälfte auf räumliche Distanz zum Dorf.
4 Stadt-Land-Beziehung Das adlige ‚Haus‘ als Zentrum eines Landbesitzes wird vom 18. bis zum 20. Jahrhundert immer wieder in einen Gegensatz zur Stadt gebracht.46 Beim Vergleich konnten der Landsitz und seine Bewohner je nach Perspektive positiv oder negativ abschneiden. Zunächst dominiert um 1800 die Gegenüberstellung von Residenz- und Hauptstädten gegenüber Gutshäusern. Aus der Perspektive der Ersteren konnte das Landleben als rückständig, hinterwäldlerisch und kulturlos angesehen werden. In Russland war das Land mitunter auch ein Ort der Verbannung, wenn Adlige beim Zaren in Ungnade gefallen waren.47 Es konnte aber auch als pastorale Idylle überhöht werden. Aus der Sicht des Gutshauses konnte die Stadt als Ort des Einflusses und der Macht geschätzt oder als Stätte des höfischen Zwangs, der Intrige, der Zensur, der Überwachung, der fremdländischen Sitten abgewertet, die Stadt als Ort der Unübersichtlichkeit und der optischen sozialen Nivellierung kritisiert werden.48 Joseph von Eichendorff teilte in seinen Erinnerungen den preußischen Adel vor der französischen Revolution in drei Gruppen auf: jene, die auf ihren Gütern wohnten und noch „Naturprodukte“ seien; jene, die am Hof lebten und „sich und andere mit übermäßigem Anstand langweil-
45 Vgl. exemplarisch Meinrad Freiherr von Ow-Wachendorf, Hans Otto Reichsfreiherr von Ow-Wachendorf (1843–1921). Skizzen aus einem Leben zwischen zwei Revolutionen, in: Franz Quarthal/Gerhard Faix (Hrsg.), Adel am oberen Neckar. Beiträge zum 900jährigen Jubiläum der Familie von Ow. Tübingen 1995, 481–511, hier 510. 46 Vgl. dazu auch den Beitrag von Élie Haddad in diesem Band. 47 Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 96 f. 48 Die Gegenüberstellung von Gutshaus bzw. Dorf und Hof bzw. Stadt ist eingebettet in die agrarromantischen Strömungen des 18. bis 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu allgemein Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim 1970; Thorsten Sadowsky, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, in: Anne Conrad (Hrsg.), Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Hamburg 1998, 103–120. Als Beispiele aus dem Adel: Iris Carstensen, Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729–1806). Zur Selbstthematisierung eines holsteinischen Adligen in seinen Tagebüchern. Münster 2006, 139–207; Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 75, 291.
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ten“ – beide hätten wechselseitig aufeinander herabgesehen – und schließlich jene, die ihm als „gedankenlose […] Verschwender“ galten.49 Die Industrialisierung und Urbanisierung in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Landes zurückgehen. Der gegenüber dem Dorf sozial unübersichtliche städtische Raum wuchs an. Mit der Arbeiterschaft entstand eine neue Gesellschaftsgruppe, deren revolutionäres Potenzial von Großstadtkritikern misstrauisch beäugt wurde – die übersichtlichen Zustände des Dorfes mit seinen ‚natürlichen‘ und bekannten Hierarchien waren ihnen lieber. Moralischem Niedergang und Entchristlichung in der Stadt wurden die Vaterlandsliebe, der Familiensinn und die Heimatverbundenheit des Landbewohners gegenübergestellt. Je später desto mehr griff der großstadtkritische Diskurs auch antisemitische Parolen und rassische Theoreme auf. Der deutsche Adel stellt in diesem Zusammenhang die ländliche Gesellschaft, das Dorf mit seinem Gutshaus als geordnete ‚Volksgemeinschaft‘ der Stadt gegenüber. Großstadtkritik, später auch Großstadthass wurden mit der Idyllisierung des Landes verbunden.50 Der Erhalt des eigenen Hauses und Besitzes, möglichst durch beschränkte Vererbung als Fideikommiss abgesichert, und damit die Verwurzelung auf dem Land wurden zum ideologischen Mantra. Die badische Familie Roeder von Diersburg, die in ihrem Dorf über kein Haus verfügte, plante um 1900 eines zu bauen. Denn es ist, so Freiherr Karl Roeder von Diersburg, „kein Zweifel, daß es ein nicht normales Verhältniß ist, daß eine Familie am alten, traditionellen Besitz keinen Wohnsitz hat […] Wenn nun heutzutage, wo die Zeitströmung die alten Traditionen zu verwischen strebt, und uns die Erhaltung und Pflege derselben immer mehr erschwert wird, ja Gesetzgebung, Regierung und Staat uns Preis geben, wenn in solcher Zeit in der Familie der Gedanke aufflammt, demgegenüber Tradition, Familiensinn und Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, so sollte man diesen Augenblick nicht versäumen, dafür einzutreten, wenn irgend die materielle Möglichkeit vorliegt.“51 Die Familie stellte allerdings fest, dass die materielle Grundlage für den Hausbau fehlte, was aber am Ziel der Rückbindung der Familie ans Land, am besten baulich manifestiert, nichts änderte. In Russland war die Situation anders. Zwar wird die Umsiedlung von Teilen des russischen Adels auf das Land nach der Befreiung vom Zwangsdienst mittlerweile in der Forschung nicht mehr als Flucht vor dem Monarchen und der Regierung interpre-
49 Joseph von Eichendorff, Erlebtes. Der Adel und die Revolution, in: ders., Tagebücher, Autobiographische Dichtungen, historische und politische Schriften, hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt am Main 1993, 391–416, hier 393, 396, 398, 402. Ähnliche Kategorisierungen für den baltischen Adel bei Plath, Esten und Deutsche (wie Anm. 24), 148–152. 50 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2004, 59–72; Menning, Standesgemäße Ordnung (wie Anm. 5), 124–142, zu den Problemen in der Praxis ebd., 269–285. 51 Rundschreiben des Seniors der Freiherr Roeder von Diersburg, Freiburg 25. 4. 1903, in: Generallandesarchiv Karlsruhe, 69 Roeder v. Diersburg, Karton 42, Fasz. I, Nr. 10, unpag., 1 f.
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tiert.52 Was sich daraus jedoch mit der Zeit ergab, war eine Ambivalenz, die adliges Denken und Handeln durchzog. Einerseits genossen viele Adlige das luxuriöse Leben in St. Petersburg. Andererseits hatten nicht alle hinreichende Mittel, sich diesen Luxus leisten zu können. Aus der Distanz des Landguts konnte das streng reglementierte Luxusleben in der Hauptstadt und an dessen Hof neu beurteilt werden. St. Petersburg erschien als „whirlpool in which people perished amidst an atmosphere of ‚dandyism and luxury‘“.53 Der Pastoralismus, aus Frankreich kommend, wertete auch in Russland das ‚einfache‘ Landleben gegenüber dem ‚unnatürlichen‘ Stadtleben auf. Die Slavophilen, die in der bäuerlichen Bevölkerung die ursprüngliche Nation entdeckt hatten, überhöhten das Landleben zusätzlich. Literaten formten daraus Geschichten, in denen das Land als Sehnsuchtsort des Adels erscheint: „young men […] [returned] to their ancestral estates in the search for a sense of personal integrity and meaning that eluded them abroad in the cities“.54 Das Land erschien als Ort der Natürlichkeit und Intimität.55 Regierungskritische Adlige blickten zudem ablehnend auf die in der Stadt beheimatete Regierung. So entstand ein Stadt-Land-Gegensatz, der in slavophile Stereotype gekleidet werden und aus dem heraus das imperiale Russland vom Land aus neu entworfen werden konnte.56 Für den aufwachsenden russischen Adel, so Mary W. Cavender, wurde das Land zum „imagined repository of true Russianness, with the pure and unspoiled peasantry and natural world.“57 St. Petersburg erschien dann als unrussisch, allenfalls Moskau konnte noch „as the authentic national capital of Russia“ gelten.58 Jedoch erforderten all diese Idyllisierungen eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber den ländlichen Realitäten, die in der Abgeschiedenheit der Güter und der Konfrontation mit der Leibeigenschaft präsent waren. Das Unbehagen hinsichtlich dieser ländlichen Diskrepanz wurde ab den 1830er Jahren zum Thema und gehört in die Vorgeschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft 1863.59 In der Ausformulierung des Stadt-Land-Gegensatzes bestand also erstens die Möglichkeit, die Bedeutung des traditionellen Lebens gegenüber der Moderne in Wirtschaft und Verwaltung hervorzuheben. Zweitens konnte dieses traditionelle Leben als Grundlage für eine Regeneration oder Neuformung der Gesellschaft angeboten werden. Die Aufwertung des Landlebens spielte insofern dem grundbesitzenden Adel in die Hände. Er war auf dem Land in seinen Häusern scheinbar seit Jahrhunderten verwurzelt. Und er stellte der industriellen Modernisierung mit den Nebeneffekten
52 Vgl. dazu ausführlich Randolph, The House (wie Anm. 9), 19–47. 53 Hughes, Russian Nobility (wie Anm. 20), 124. 54 Ebd. 117 f.; Randolph, The House (wie Anm. 9), 40–46. 55 Cavender, Nests (wie Anm. 29), 26–58, 197; Pushkareva, Rural (wie Anm. 22), 52; Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 295–298. 56 Randolph, The House (wie Anm. 9). 57 Cavender, Nests (wie Anm. 29), 55. Ähnlich Roosevelt, Life (wie Anm. 9), XIV. 58 Hughes, Russian Nobility (wie Anm. 20), 123; Roosevelt, Life (wie Anm. 9), 307. 59 Hughes, Russian Nobility (wie Anm. 20), 119–121; Cavender, Nests (wie Anm. 29), 14.
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der Urbanisierung und der Klassenspannungen die scheinbar heile traditionelle Welt gegenüber, in der er eine führende Stellung einnahm.
5 Fazit Das Verhältnis des preußischen, baltischen und russischen Adels zum Gutshaus erfuhr im weiteren 20. Jahrhundert eine Reihe Brüche. Durch Vertreibung und Enteignung verlor der Adel seine Gutshäuser in allen drei Regionen. Die neuen Staaten waren gegenüber den überkommenen Monumenten der Adelsgeschichte wenig rücksichtsvoll. Gutshäuser galten den sozialistischen Regierungen als Manifestationen der Unterdrückung der Bevölkerung durch den Adel. Sie wurden dem Verfall überlassen, gesprengt oder in andere Nutzung überführt – zum Beispiel als Gemeinschaftshäuser, Sanatorien, Schulen. Die mangelnde Erhaltung der Bausubstanz hat, wenn nicht wie phasenweise in der Sowjetunion Maßnahmen zum Erhalt bzw. Wiederaufbau ergriffen wurden, auch an den nicht abgerissenen Gutshäusern über die Jahrzehnte den Verfall begünstigt.60 Vorrangig in der Erinnerung konnte der Adel nach der Vertreibung die Anhänglichkeit an sein Gutshaus pflegen. Manche deutsche Adelsfamilie, die in die Bundesrepublik geflohen war, versuchte über Rundschreiben an ehemalige Dorfbewohner, persönliche Besuche und die Abhaltung größerer Treffen den Kontakt zu ihren ‚Leuten‘ bzw. der Dorfgemeinschaft auch ohne Gutshaus als Zentrum aufrechtzuerhalten.61 Erst nach 1990 wurde es möglich, in die Häuser zurückzukehren, sie mit neuen Deutungen aufzufüllen.62 Diese Chance haben freilich viele Adlige nicht ergreifen können, da ihnen das nötige Geld fehlte. Für sie bilden zuweilen einzelne auf der Flucht mitgenommene Gegenstände die Verbindung zum verlorenen Eigentum. Auch diese werden wiederum ideologisch aufgeladen, ihren ursprünglichen Entstehungskontexten enthoben und umgedeutet. Es legen sich neue Deutungs- und Erinnerungsschichten auf die vorhandenen.63 Die jahrhundertlange Anwesenheit des Adels auf dem Land, die traditionelle historische Zäsuren überdauerte, darf nicht unproblematisiert als Kontinuität gedeutet werden. Historische Entwicklungen veränderten das Verhältnis und die ideologischen Deutungen, mit denen der Adel seine ländlichen ‚Häuser‘ beschrieb aber auch ganz im Wortsinne ausstattete. Artefakte vergangener Generationen (Gemälde,
60 Roosevelt, Life (wie Anm. 9), XIV, 329–333. 61 Michael Seelig, ‚Alltagsadel‘. Der ehemalige ostelbische Adel in der Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis ca. 1975. Diss. phil. Marburg 2013, 410–412. (Druckfassung in Vorbereitung, für die Überlassung des Manuskripts danke ich Michael Seelig). 62 Berlin-Brandenburgische Geschichtswerkstatt e. V. (Hrsg.), Adelige Rückkehrer im Land Brandenburg. Ihr heutiges Engagement und das Wirken ihrer Vorfahren 1806–2000. Berlin 2001. 63 Frie, Friedrich August (wie Anm. 27), 9–27, 333–342.
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Waffen, Kleidung etc.) konnten, so sie denn noch vorhanden waren, hervorgeholt oder verschlossen werden, mit Bedeutung aufgeladen, umgedeutet oder dem (temporären) Vergessen überantwortet werden. Diese Prozesse der selektiven Aneignung und Re-Interpretation waren kein Spezifikum des 19. und 20. Jahrhunderts. Spezifisch waren vielmehr die Herausforderungen (die großen historischen Transformationsprozesse) dieser beiden Jahrhunderte, die sie von der Zeit vor 1800 unterschieden. Vor dem Hintergrund der sich verändernden Welt veränderte sich daher die Deutung des ‚Hauses‘ – auch weil traditionelle Deutungen in der veränderten Umwelt dysfunktional geworden wären. Dem Adel selbst, der die Neudeutung vorantrieb, blieb diese freilich oft verborgen. Denn weil das ‚Haus‘ das gleiche blieb, schien alles schon immer so gewesen zu sein.
Simone Derix
Haus und Translokalität: Orte der Macht – Orte der Sehnsucht Als Immobilie ist das gebaute Haus der Inbegriff lokaler Verortung und Sesshaftigkeit und bildet vordergründig einen Kontrapunkt zu Migration und mobilen Lebensformen. Doch ebenso wie räumliche Mobilität zu den anthropologischen Grundkonstanten zählt1, waren Menschen immer bestrebt, in Gehäusen aller Art Schutz zu suchen und sich an einem Ort einzurichten. Mobilität und Immobilien stehen also in einer komplexen Beziehung zueinander. Denn auch Menschen, die ihre Aufenthaltsorte im Laufe des Lebens dauerhaft oder zyklisch wechseln, bilden intensive Beziehungen zu räumlichen Fixpunkten der Behausung und den damit verbundenen sozialen Gefügen aus. Umgekehrt prägen Ortswechsel und die Erfahrung von Mobilität und Migration maßgeblich das Verhältnis zu Häusern bzw. Behausungen. Auf diesen Umstand verweist der Begriff der Translokalität, der in der Forschung sowohl konkrete „Phänomene“ fasst, deren „konstitutiver Bestandteil“ eine räumliche „Grenzüberschreitung“ ist, als auch generell „die Interaktion und Verbindung zwischen Orten, Institutionen, Akteuren und Konzepten über reale und gedachte Grenzen hinweg hervorhebt“.2 Translokalität verknüpft begrifflich den Bezug zu einem Ort (Lokalität) mit der Überschreitung, der Bewegung über den Ort hinaus (trans). Das vordergründige Gegensatzpaar von Mobilität und Immobilität lässt sich demnach auch als Wechselbeziehung denken, wie die folgenden Ausführungen unterstreichen. Dieses Zusammenspiel haben historische, anthropologische, ethnologische und soziologische Studien zwar angesprochen, aber bislang nicht systematisch als eigenen Themenkomplex erschlossen.3 Forschungen zu Migration und Transnationalität fragen zwar, wie sich das Globale, das Nationale, das Regionale und das Lokale zueinander verhalten, analysieren dieses Verhältnis aber vor allem über Beziehungen und Kommunikation zwischen Menschen und ihren Ideen (und weniger über materielle Dinge oder Ensembles). Die materielle Dimension grenzüberschreitender Lebensweisen wird dabei häufig in ihrer Vielgestaltigkeit marginalisiert. Nicht zuletzt das Plädoyer von Wissenschafts- und TechnikhistorikerInnen, über die Handlungsmächtigkeit von
1 Vgl. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000. 2 Vgl. Ulrike Freitag, Translokalität als ein Zugang zur Geschichte globaler Verflechtungen, in: H-SozKult, 10. 06. 2005, URL: www.hsozkult.de/article/id/artikel-632 (Zugriff: 29. 12. 2014). 3 Auf zentrale Titel bezieht sich der Text passim, vgl. zur neueren soziologischen Diskussion Hazel Easthope, Fixed Identities in a Mobile World? The Relationship Between Mobility, Place, and Identity (2009), in: Robin Cohn/Gunvór Jónsson (Hrsg.), Migration and Culture. Cheltenham 2011, 49–70.
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Dingen nachzudenken4, legt es nahe, zu untersuchen, welche Bedeutung Dinge bzw. materielle Ensembles wie Häuser für translokale und mobile AkteurInnen hatten. Der Artikel analysiert das Verhältnis von Mobilität und Immobilien in zwei Schritten. Der erste Abschnitt beleuchtet den Zusammenhang zwischen Häusern, der räumlichen Ausdehnung von Familiennetzwerken und familial-politischer Macht in Europa seit dem Mittelalter. Häuser erscheinen dabei als lokale Knoten und damit als Stützpunkte translokaler Mobilität. Es sind die lokalen Verankerungen, die translokales Handeln ermöglichen und absichern. Im zweiten Abschnitt nimmt der Artikel Spannungen zwischen mobilen Lebensformen und lokaler Verortung in den Blick. Er analysiert, welche Bedeutung Häuser für jene Menschen hatten, die ihre Herkunftsorte und -häuser verließen und sich temporär, zyklisch oder dauerhaft andernorts niederließen. Der Fokus liegt dabei auf dem 19. und 20. Jahrhundert, die durch eine deutliche Steigerung der Wanderungsbewegungen im Vergleich zu vorangegangenen Jahrhunderten charakterisiert sind.
1 Dynastische und gebaute Häuser – Orte der Macht Nähert man sich dem Haus begriffsgeschichtlich, wird schnell deutlich, dass Familie und Verwandtschaft einerseits und Gebäude andererseits historisch in einer engen Beziehung zueinander stehen. Sie finden im Deutschen wie im Englischen unter einem mehrdeutigen begrifflichen Dach zusammen. Denn ‚Haus‘ meint zum einen ein gebautes Ensemble, zum anderen den Familienverbund bzw. die Verwandtschaft, wie die bis in die Gegenwart gebräuchlichen Begriffe ‚Adels-‘ oder ‚Königshaus‘, und – bezogen auf einzelne Geschlechter – etwa die Rede vom ‚Haus Habsburg‘ oder vom ‚House of Windsor‘ dokumentieren. Bereits Johann Georg Krünitzs „Oeconomische Encyclopädie“ unterschied 1781 drei verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffs ‚Haus‘. Neben der Behausung im Allgemeinen und dem konkreten gebauten Haus bezeichnete ‚Haus‘ figürlich auch „die in einem Hause wohnenden Personen“. Schon der Abt und Erzbischof Rabanus Maurus habe im 9. Jahrhundert eine Familie oder ein Geschlecht als „Huscha“ bezeichnet. Krünitz konstatierte, dass ‚Haus‘ als Bezeichnung für einen Familienverband oder Verwandtschaftskreis Ende des 18. Jahrhunderts „nur von angesehenen Familien und Geschlechtern“ gebraucht werde. Der Adel ziehe den Haus-Begriff heran, um Geschlechter „nach Häusern einzutheilen“. Haus meine dann den „Zweig eines Geschlechtes“.5 Nur wenige Jahrzehnte später findet sich diese Kategorisierung in teils identischem Wortlaut in Johann Christoph Adelungs
4 Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main 2010. 5 Art. Haus, in: Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 22. Berlin 1781, 284–364, hier 288–290.
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„Grammatisch-kritischem Wörterbuch“.6 Ähnlich differenziert auch das Grimm’sche Wörterbuch mit zahlreichen literarischen Belegen, so für Haus im Sinne des „edle[n] fürstliche[n] geschlecht[s]“ etwa „‚der Howard und der Percy edle häuser,/ ob ihre häupter gleich gestürzt, sind noch/ an helden reich‘“ aus Schillers „Maria Stuart“. Diese semantische Dimension erklärten die Brüder Grimm damit, dass ein adliges Schloss oder eine Burg bereits im Mittelhochdeutschen und noch im 17. Jahrhundert auch als Haus bezeichnet wurde, und präzisierten damit zeitlich eine Beobachtung, die sich schon bei Krünitz findet.7 Auch Samuel Johnson notiert im „Dictionary of the English Language“, dem ersten Belegwörterbuch in englischer Sprache, dass „house“ nicht nur diverse „place[s]“ bezeichnete, sondern auch die „Family of ancestors; descendants and kindred; race“.8 Diese Bedeutungsfacette reflektiert auch der Eintrag zu „house“ im gegenwärtigen „Oxford English Dictionary“.9 Dass Familie bzw. Verwandtschaft und bauliche Ensembles mit demselben Wort bezeichnet wurden, ist kein Zufall. Vielmehr scheint die Begriffsgeschichte konkrete historische Zusammenhänge zu reflektieren, die leicht in Vergessenheit geraten, wenn man Begriffe vor allem als Abstrakta begreift. Das Haus stellt mit seinen räumlichen Begrenzungen den materiellen Rahmen für die Ausbildung eines familialen Zugehörigkeitsgefühls. Familiale Identität entsteht nicht nur über die Selbstverortung der einzelnen Familienmitglieder in einem verwandtschaftlichen Geflecht, sondern auch über die Identifizierung mit einer Immobilie als familialem Eigentum. Darüber erlangt die identitäre Funktion von Häusern auch eine kollektive Dimension: Familien wurden und werden auch über die gemeinsame Identifizierung mit einem oder mehreren Gebäuden zu einer Familie. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung als Familie, sondern prägt nachdrücklich deren Fremdwahrnehmung. Häuser schaffen einen Unterschied zwischen BewohnerInnen und Nicht-Bewohner Innen. Sie suggerieren den Menschen, die nicht in ihnen wohnen – mit unterschiedlichen Akzenten in der Vormoderne und Moderne –, eine häusliche Ordnung, die Einheit eines Haushalts, die Zusammengehörigkeit eines Verwandtschaftsgeflechts. Die Nähe zwischen den Menschen, so die Suggestion, scheint sich in ihrer räumlichen Nähe zu spiegeln. Kraft ihrer Materialität verleihen Häuser einer Gruppe Menschen eine gebaute Hülle und damit Sichtbarkeit als soziale Gruppe. Vor diesem Hintergrund konnten Gebäude machtpolitisch für einzelne Verwandtschaftskreise von kaum zu überschätzendem Wert sein. Sie waren Medien einer sichtbaren familialen räumlichen Ausdehnung. Am Beispiel des europäischen Adels lässt
6 Art. Das Haus, in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 2. Wien 1811, 1021–1024. 7 Art. Haus, in: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10. Leipzig 1877, 640–651, hier 643, 650, vgl. Krünitz, Oeconomisches Wörterbuch (wie Anm 5.), 286. 8 Samuel Johnson, Dictionary of the English language, Bd. 1. London 1799, unpag. 9 Vgl. Art. house, n.1 and int., in: Oxford English Dictionary. Oxford 2014, URL: www.oed.com/view/ Entry/88886?rskey=DLKKzF&result=1 (Zugriff: 03. 12. 2014).
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sich sehr gut beobachten, dass das gebaute Haus dazu diente, den Machtanspruch einer Familie über ein bestimmtes Territorium zu befestigen oder ihren Anspruch auf Macht in einer Stadt sichtbar zu machen. Adlige Familiennetzwerke fanden ihre Entsprechung in einem translokalen Netzwerk von Häusern. Oft handelte es sich um Burgen und Schlösser, die den Namen einer Familie mit einem bestimmten Ortsnamen verknüpften, so dass territoriale und familiale Ausdehnung eng aneinander gekoppelt waren. Das lässt sich für viele Familien des europäischen Hochadels beobachten. So haben sich die Hohenlohes topographisch in den gesamten süddeutschen Raum eingeschrieben. Dabei entspricht den einzelnen Linien ihres Hauses je ein eigener Sitz. Die Hohenlohe-Langenburgs etwa residieren seit dem 13. Jahrhundert auf Schloss Langenburg. Ähnliches gilt für die Hohenlohe-Schlösser Waldenburg, Bartenstein, Kirchberg, Oehringen, Schillingsfürst und Weikersheim, die als Kompositum mit dem Geschlechtsnamen den Namen einer Linie konstituieren und damit eine soziale Konstellation materiell und territorial rückbinden.10 Ein Beispiel für den norddeutschen Raum stellen die seit 1174 nachweisbaren Grafen und Freiherren von Hardenberg dar, deren gleichnamiger Stammsitz sich bei Göttingen befindet.11 Dieses Muster lässt sich ebenso für andere europäische Adelsfamilien beobachten: Die ungarische Magnatenfamilie Esterházy führte unter ihrem Namen u. a. ein Schloss im burgenländischen Eisenstadt, eines im westungarischen Fertöd sowie drei Palais in Wien und eines im heutigen Bratislava.12 Politische und gesellschaftliche Macht fußte auf Grundbesitz und damit verbundenen Herrschaftsrechten, die sich für alle sichtbar in einem beeindruckenden Gebäude verkörperten. Richtet man den Blick nach Italien, finden sich auch hier vergleichbare räumliche Häusernetzwerke. Die gesellschaftlichen Eliten brachten erstens ihren Machtanspruch und die Konkurrenz um die lokale Vormachtstellung in den Stadtgesellschaften vertikal über den Bau von Geschlechtertürmen zum Ausdruck, von denen noch heute etwa die Silhouette des toskanischen San Gimignano zeugt. Sie wirkten zweitens translokal. So beschränkte sich das Palazzi-Netzwerk der im Ursprung römischen Familie Orsini nicht auf die Stadt Rom,
10 Zu den Hohenlohes liegen bislang vor allem einzelne biographische Studien vor, vgl. Alma Hannig/Martina Winkelhofer-Thyri (Hrsg.), Die Familie Hohenlohe. Eine europäische Dynastie des 19. und 20. Jahrhunderts. Köln 2013. 11 Hans Joachim Mähl, Hardenberg, von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7. Berlin 1966, 651 f. Online: www.deutsche-biographie.de/pnd118701517.html (Zugriff: 25. 08. 2014); vgl. zu einem Häusernetzwerk der von Hardenbergs Bernd Adam, Die Häuser und Gärten des hannoverschen Oberhofbaudirektors Friedrich Karl von Hardenberg, in: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.), Güter, Pachthöfe und Sommersitze. Wohnen, Produktion und Freizeit zwischen Stadt und Land. Quedlinburg 2014, 210–223. 12 Vgl. Das Schloss Esterházy in Eisenstadt. Architektur – Geschichte – Restaurierung. Wien 2009; Jakob Perschy (Hrsg.), Die Fürsten Esterházy. Magnaten, Diplomaten & Mäzene. Eisenstadt 1995; Richard Perger, Das Palais Esterházy in der Wallnerstraße zu Wien. Wien 1994; vgl. als belletristische Perspektive auf die eigene Verwandtschaft Peter Esterházy, Harmonia caelestis. Wien 2001.
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sondern reichte von Mailand über die Toskana und die Provinz Rom bis nach Neapel und durchquerte damit viele Herrschaftszonen.13 Der Machtgewinn durch räumliche Ausdehnung macht nur eine Dimension des komplexen Beziehungsgeflechts zwischen dem Adel und seinen Bauten aus. Lenkt man den Blick auf die sich wandelnden Formen und Funktionen der Gebäude, lässt sich darüber eine eigene Geschichte vom Nexus zwischen territorialer Verankerung, Haus- bzw. Grundbesitz und gesellschaftlicher Stellung entwickeln, eine Geschichte des Machtgewinns und -erhalts im Modus des Bauens und Umbauens. Im Mittelalter institutionalisierte die Burg als wehrhaftes Gebäude die enge Verzahnung von Herrschaft und der Verfügungsgewalt über Land. Mächtig war, wer sich dem Zugriff anderer erwehren konnte. In den folgenden Jahrhunderten gewann Repräsentation als Machtfaktor immer mehr an Gewicht. Die Gebäude wurden als Zeichen der sozialen Stellung und der gesellschaftlichen Aufgaben gedeutet, die eine Familie übernommen hatte. Baulich brachten das Schlösser und die zu Rittergütern gehörigen Herrenhäuser zum Ausdruck, wenngleich der Adel neben solchen repräsentativen Bauten auf dem Land teils auch weniger prunkvolle Gebäude besaß, die im Vergleich zu Burg, Schloss und Herrenhaus wissenschaftlich bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren haben.14 In der Stadt konkurrierten die Häuser unterschiedlicher Adelsgeschlechter miteinander über ihren Prunk und ihre architektonische Finesse. Zudem bestimmte sich der symbolische Wert eines Adelshauses in hohem Maße über seine räumliche Nähe zum Hof, der als Zentrum des politischen und sozialen Geschehens galt. Innerhalb dieser Logik war es nur folgerichtig, dass die Hofburg bei der Hausnummerierung Wiens im 18. Jahrhundert die Nummer eins erhielt.15 Signalisierte bereits die Größe des Gebäudekomplexes ebenso wie seine zentrale Lage im Zentrum der Stadt die Vorrangstellung der Habsburger in Staat und Gesellschaft, bestätigte die Hausnummerierung diese gesellschaftliche Ordnung und verlieh ihr eine nummerische Chiffre. Der Hof war die Nummer eins im Staat. Die jeweilige Hofkultur war es auch, die translokale Lebensformen auferlegte. Sie verlangte zumindest vom Hochadel, zwischen Stadt und Land und je nach Saison die Residenz variieren zu können. Generell verfügte eine hochadlige Familie oder Verwandtschaft über mehrere Häuser oder Wohnungen, die sie als „Haupt- oder Neben-
13 Claudio Rendina, Le grandi famiglie di Roma. La saga della nobilità tra contee, marchesati, ducati e principati, sotto l’insegna di papi e cardinali, imperatori e re nello scenario di splendidi palazzi, sontuose ville e cappelle gentilizie. Rom 2004, 471–480. 14 Vgl. Heinrich Stiewe, Hallenhäuser als Herrenhäuser – Adeliges Wohnen auf dem Lande. Beispiele des 16. bis 18. Jahrhunderts aus Ostwestfalen und Lippe, in: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.), Güter (wie Anm. 11), 140–160. 15 Vgl. dazu den Beitrag von Anton Tantner in diesem Band.
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wohnung, Stadtwohnung, Sommerwohnung, Witwensitz oder als Wohnung für unverheiratete Mitglieder oder für einen anderen Zweig der Familie“ unterhielten.16 Vor diesem Hintergrund erweisen sich Häuser als historische Quellen von Gewicht. Die Chronologie und die Umstände eines Gebäudeerwerbs erzählen ebenso wie Aus- und Umbauten und die Aufgaben eines Hauses eine eigene Version von Macht und Einfluss einer Familie, weit über das Faktum einer Erweiterung bzw. Begrenzung des Herrschaftsbereichs hinaus. Häuser dokumentieren zudem die Bedingungen und Modi von Herrschaft. So erhielten die Habsburger etwa das Schloss Gödöllό 1867 anlässlich der Krönung Franz Josephs und Elisabeths von Österreich zum König und zur Königin von Ungarn als Geschenk des ‚ungarischen Volks‘. Ein Haus als Geschenk zu erhalten, sollte signalisieren, dass sie – zumindest einer offiziellen Lesart nach – nach langjährigen Konflikten mit Ungarn nunmehr dort willkommen waren und räumlich einen Platz im Königreich Ungarn wie in der kollektiv imaginierten ungarischen Nation erhalten hatten. Die Kopplung von Macht an räumliche Expansion ist nicht auf die politische Sphäre beschränkt, sondern gilt insbesondere auch für die wirtschaftliche Sphäre, wie sie die Kaufmannsfamilien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit ihren zahlreichen Kontoren und Faktoreien rund um die Welt demonstrierten, oder Indus triellenfamilien im 19. und 20. Jahrhundert. Deutlich wird das etwa darin, dass noch in der Gegenwart das Netz der Standorte eines Unternehmens in Metaphern des Familialen gekleidet wird, wenn dort von Stammhäusern und Filialen gesprochen wird. Auch hier gelten die Stammhäuser als gemauerter Ursprung einer Erfolgsgeschichte und wurden im 20. Jahrhundert entsprechend gepflegt, wie etwa das Krupp’sche Stammhaus in Essen oder das Stammhaus der Siemens in Goslar.17 Auch schon vor den Zeiten von Globalisierung und Protoglobalisierung lassen sich translokale Häusernetzwerke jenseits des Adels beobachten. Bereits in der Antike zog es vermögende städtische Oberschichten im Sommer aufs Land, wo wohlhabende Familien eigene Landhäuser unterhielten und so mit den städtischen Wohnungen über mindestens zwei Domizile verfügten. Diese Praxis setzte sich auch in späteren Jahrhunderten fort.18 Größere räumliche Distanzen und damit eine transnationale
16 Fred Kaspar, Einleitung. Güter, Pachthöfe und Sommersitze. Wohnen, Produktion und Freizeit zwischen Stadt und Land, in: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.), Güter (wie Anm. 11), 9–41, hier 15. 17 Vgl. zur Traditionspflege der Familie Siemens David W. Sabean, German International Families in the Nineteenth Century. The Siemens Family as a Thought Experiment, in: Christopher H. Johnson u. a. (Hrsg.), Transregional and Transnational Families in Europe and beyond. Experiences since the Middle Ages. New York 2011, 229–252. 18 Vgl. für die Zeit seit dem Spätmittelalter exemplarisch für Augsburg Christoph Metzger/Ulrich Heiß/Anette Kranz, Landsitze Augsburger Patrizier. München 2005; Gabriele von Trauchburg, Häuser und Gärten Augsburger Patrizier. München 2001; vgl. exemplarisch für das Münsterland Axel Bröcker/ Peter Barthold/Fred Kaspar, Ein Sommerhaus für Münsteraner Hofbeamte von 1594. Haus Westerhaus
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Dimension erreichten in der Neuzeit vor allem begüterte Familien des Wirtschaftsbürgertums, die ihre ökonomischen Aktivitäten eng mit ihren privaten Lebensformen verknüpften. Edmund de Waal hat in „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ das residentielle Netzwerk seiner Vorfahren, der Bankiersfamilie Ephrussi, im 19. und 20. Jahrhundert mit Standorten in Odessa, Paris, London, Wien und Tokyo rekonstruiert.19 Ein ähnliches, räumlich weit gespanntes Häusernetz lässt sich für die Rothschilds konstatieren, deren transnationales Familiengeflecht sich ebenfalls in ihren Wohnsitzen materialisierte. Neben dem Stammhaus in Frankfurt finden sich zahlreiche ‚Palais Rothschild‘ an anderen Orten, so in Hensbach, Baden-Württemberg, in Hutterfeld und Königstein im Taunus in Hessen sowie gleich in fünf Versionen in Wien. Auch in England und Frankreich ist der Name der Familie nachdrücklich mit den Häusern verknüpft, die Familienmitglieder bewohnten. In den hier aufgeführten Beispielen sind Häuser so eng mit der Nutzung durch namentlich bekannte Familien assoziiert, dass das Vorhandensein des Hauses allein mit der Präsenz der Familie vor Ort gleichgesetzt wurde. So sichern bis in die Gegenwart das mit der Industriellenfamilie Thyssen verknüpfte Schloss Landsberg bei Kettwig oder die Villa Hügel der Familie Krupp in Essen beiden Familien ihre symbolische Verankerung im Ruhrgebiet, auch wenn die Gebäude nicht oder nicht mehr familial genutzt wurden bzw. werden. Häuser bieten einen aufschlussreichen analytischen Zugang zur Translokalität von Macht. Zugleich verweisen sie auf deren transtemporale Dimension. Schlösser und Burgen verliehen einer adligen Familie eine in Stein gebaute Geschichte und damit neben der räumlichen auch eine zeitliche Dimension. Sie suggerierten Kontinuität und lenkten davon ab, dass der Adel gezwungen war, sich als soziale Elite und eine damit verbundene traditionsreiche Geschichte immer wieder neu zu erfinden.20 Ausgehend von einem Stammhaus, im Falle der Habsburger etwa die namensgebende Habsburg im schweizerischen Kanton Aargau, breitete sich ein Geschlecht im wörtlichen Sinne auch häuslich aus. Die Residenzen können damit in historischer Perspektive als steinerne Zeuginnen für den Nexus zwischen Familie, räumlicher Ausdehnung und Macht gelten und wurden vom Adel aktiv als solche genutzt. Diese Verbindung fand ihre normative Entsprechung in diversen rechtlichen Formen, Haus und Grund als familiales Sondervermögen zu deklarieren und so über Generationen einer Auftei-
bei Drensteinfurt-Rinkerode (Kreis Warendorf), in: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.), Güter (wie Anm. 11), 305–328. 19 Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi. Wien 2011. 20 Vgl. dazu den Beitrag von Daniel Menning in diesem Band sowie grundsätzlich Silke Marburg/ Josef Matzerath, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel 1763–1918. Köln 2001, 5–16; David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual. The British Monarchy and the ‚Invention of Tradition‘, 1820–1977, in: Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition. Cambridge 1983, 101–164.
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lung oder gar einem Verkauf außerhalb der Familie zu entziehen. So ermöglichte das seit dem Mittelalter etablierte autonome Satzungsrecht den Familien des Hochadels auch in der Moderne, ein ‚Hausgut‘ einzurichten. Ferner konnte ein Haus als ‚Stammgut‘ über eine Familienstiftung oder als Fideikommiss als unveräußerliches, familiales Eigentum gesichert werden.21 Solche Praktiken, Gebäude intergenerationell als Familiengut zu sichern, finden sich in der Neuzeit in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten in ganz Europa. Zwar zeigte sich der Adel dabei besonders engagiert, doch war der Erhalt von Haus und Grund innerhalb einer Verwandtschaft nicht exklusiv adlig. Ihn forcierten im Europa der Moderne auch bürgerliche Schichten, die als Besitzende ebenfalls eine Familienstiftung oder einen Fideikommiss, der „kein Adelsvorrecht“ war, errichten konnten.22 Den transtemporalen Charakter von Familie sicherten auch Familiengruften, die sich als Perpetuierung des häuslichen Beisammenseins – sowohl in seiner dynastischen wie auch in seiner materiellen Dimension – im Tod verstehen lassen und damit Familien über den Tod ihrer einzelnen Mitglieder hinaus Sichtbarkeit verliehen. Auch diese Form der familialen Machtdemonstration war ursprünglich den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, Adligen und Klerikern, vorbehalten. Neben den Wohnhäusern bilden solche Grabstätten eine eigene häusliche Kategorie, die eine familiale Ordnung baulich repräsentiert. Zahlreiche Fürstenhäuser tendieren dazu, ihre Toten an einem Ort zu konzentrieren. Zu den namhaftesten Grablegen Europas zählt die in der Wiener Kapuzinerkirche gelegene Gruft, welche seit 1633 die Gebeine der Habsburger konserviert. Die Herzen der Habsburger fanden dagegen seit dem Tod Ferdinand IV. 1654 separat in der Loretokapelle der Wiener Augustinerkirche zusammen. Ähnliche Teilbestattungen praktizierten die französischen Könige seit dem Mittelalter. Die Leichname der Verstorbenen ruhen seither in der Kathedrale von Saint-Denis, während ihre Herzen jeweils in einem Kloster bestattet wurden, welches der Verstorbene bestimmt hatte. Mit solchen Bestattungstraditionen entwarfen Königshäuser und Adelsgeschlechter ihre intergenerationelle familiale Ordnung als Teil einer ewig währenden göttlichen Ordnung. Zugleich befestigte die Zusammenlegung an einem Ort die Unkündbarkeit familialer Bande und hatte damit erzieherische Qualitäten für die lebenden und nachfolgenden Generationen. Ferner hatten solche Grablegen auch innerhalb einer Familie einen exklusiven Charakter. Denn sie gewährten nicht per se allen Mitgliedern eines Geschlechts Zugang. Einigen wurde die Beisetzung an dieser heiligen Stätte verwehrt, andere weigerten sich, dort bestattet zu werden.23
21 Jörn Eckert, Der Kampf um die Familienfideikommisse in Deutschland. Studien zum Absterben eines Rechtsinstitutes. Frankfurt am Main 1992, 24, 123–130. 22 Ebd., 93. 23 Vgl. zur Sepulkralkultur der Frühen Neuzeit Mark Hengerer (Hrsg.), Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit. Köln 2005; zu den Grablegen der Habsburger Magdalena Hawlik-van de Water, Die Kapuzinergruft. Begräbnisstätte der Habsburger in Wien.
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Neben den Häusern für die Lebenden und jenen für die Toten verbanden sich Familien mit einer dritten Kategorie von Gebäuden, ihren baulichen Stiftungen. Über wohltätige Stiftungen, etwa Kranken-, Armen- und Waisenhäuser oder Altersheime, oder auch Kunstmuseen, die den Familiennamen der jeweiligen Stifter trugen, entwarfen wohlhabende Familien ein translokales bauliches Netzwerk, das ihnen Sichtbarkeit verlieh und ihre gesellschaftliche Macht zum Ausdruck brachte und zugleich potenzierte.24 Deutlich wird das etwa beim Blick auf die Stadt Essen. Dort hat sich die Familie Krupp seit dem 19. Jahrhundert mit zahlreichen Stiftungen in das Stadtbild eingeschrieben: von Siedlungen für Werksangehörige inklusive wohltätiger Einrichtungen für bedürftige ehemalige MitarbeiterInnen über die Gartenstadtsiedlung Margarethenhöhe, die Bertha Krupp 1906 anlässlich der Hochzeit ihrer Tochter Margarethe der Stadt stiftete, bis hin zum in den 1870er Jahren einsetzenden Engagement des Unternehmens in der medizinischen Versorgung auf kommunaler Ebene.25
2 Häuser und Migration – Orte der Sehnsucht Der erste Abschnitt hat beleuchtet, auf welche Weise Häuser familiale Macht stützen und mehren konnten. Sie erwiesen sich dabei als Medien der Ausdehnung und Translokalisierung von Herrschaftsbereichen. Haus und räumliche Mobilität standen nicht im Widerspruch zueinander, sondern konnten sich ergänzen. Der nun folgende Abschnitt lenkt den Blick auf die Spannungen zwischen translokaler Mobilität und häuslicher Immobilität, auf Konstellationen, in denen Menschen Häuser zurückließen, verloren, verkauften oder Häuser als feste Bleiben zwar imaginierten, aber nicht realisieren konnten. Diese Aspekte des Verhältnisses zwischen mobilen Menschen und Häusern lässt sich besonders facettenreich in Phasen erhöhter räumlicher Mobilität untersuchen. Wanderungsbewegungen und nomadische Lebensweisen gehören zu den anthropologischen Grundkonstanten. Allerdings änderten sich im Laufe der Jahrhunderte der Blick darauf und der Umgang damit. Der moderne Verwaltungsstaat favorisierte sesshafte Lebensformen und formulierte diese als Norm. Zugleich verließen im Europa des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen, insbesondere aus ökonomischen Gründen, ihre Herkunftsorte, um sich Arbeit und Bleibe an einem neuen Ort zu suchen. Sie wechselten vom Land in die Stadt, zogen von einer Region in eine
Freiburg im Breisgau 1993; Brigitta Lauro, Die Grabstätten der Habsburger. Kunstdenkmäler einer europäischen Dynastie. Wien 2007. 24 Vgl. grundsätzlich zum Zusammenhang von Stiftung und Memorialkultur Michael Borgolte, Stiftung und Memoria. Berlin 2012. 25 Franz-Josef Brüggemeier, Die Krupp’schen Krankenanstalten (1870–1914). Herzogenrath 1990; Andreas Helfrich, Die Margarethenhöhe Essen. Architekt und Auftraggeber vor dem Hintergrund der Kommunalpolitik Essen und der Firmenpolitik Krupp zwischen 1886 und 1914. Weimar 2000.
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andere um oder ließen sich auf einem anderen Kontinent nieder. Für Jürgen Osterhammel war „[k]eine andere Epoche der Geschichte […] in einem ähnlichen Maße wie das 19. Jahrhundert ein Zeitalter massenhafter Fernmigration.“ Gerade ein quantifizierender Blick macht diesen Befund plastisch: „Zwischen 1815 und 1914 waren mindestens 82 Millionen Menschen freiwillig grenzüberschreitend unterwegs. Das waren jährlich pro eine Million der Weltbevölkerung 660 Migranten. Im Vergleich dazu waren in der Zeit zwischen 1945 und 1980 nur 215 Menschen pro eine Million mobil.“26 Auch wenn damit zahlreiche Menschen ein mobiles Leben führten, hingen viele von ihnen gleichwohl dem zeitgenössisch verbreiteten Ideal der Sesshaftigkeit an. Sie beklagten ihre Mobilität und träumten vom Leben an einem Ort – idealiter in den eigenen vier Wänden. Das lässt sich für politische wie ArbeitsmigrantInnen gleichermaßen beobachten. Zu den zahlreichen politisch motivierten Auswanderern des 19. Jahrhunderts zählen die Mitstreiter Giuseppe Mazzinis, der zu den Wegbereitern des demokratischen Denkens in Italien zählt. Seine Anhänger folgten Mazzini zur Jahrhundertmitte in die englische Emigration, gingen dort teils transnationale Ehen ein, führten aber weiterhin ein politisch aktives Leben zwischen Italien und England. Die Belastungen eines solchen Lebens illustrieren Aurelio Saffi und Giorgina Craufurd. Beide hatten sich als Adepten Mazzinis in England kennen und lieben gelernt, waren indes Italien verbunden – auch die Britin Craufurd hatte ihre Kindheit und Jugend dort verbracht. Nach der Eheschließung blieb Craufurd mit den gemeinsamen Kindern in England, während Saffi oft in Italien weilte. Beide Ehepartner nahmen die räumliche Trennung als große Belastung wahr und entwickelten den Traum eines gemeinsamen Hauses in Italien als entlastende Utopie, den sie tatsächlich realisieren konnten. Diese lebensweltliche Praxis hatte eine theoretische Entsprechung. Saffi begriff die Familie selbst als heiligen Ort und Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Erneuerung.27 Die Belastungen transnationaler Lebensformen hat auch Elizabeth Buettner am Beispiel der indo-britischen empire families des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herausgearbeitet. Ihre Tätigkeit in den Kolonien hatte für britische Kolonialbeamte, ihre Ehefrauen und Kinder gravierende Konsequenzen. Ihr Zusammenleben beschränkte sich in der Regel auf die ersten Lebensjahre der Kinder. Sobald diese schulfähig waren, schifften ihre Eltern sie zum Schulbesuch nach England ein. Die räumliche Trennung von Eltern und Kindern provozierte eine doppelte Nostalgie, verstanden als die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Ort. Aus Sicht der Eltern reisten ihre Kinder in das Land, das sie als ihre und ihrer Nachkommen Heimat begriffen. Doch für ihre Kinder
26 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, 235. 27 Ros Pesman, The Marriage of Giorgina Craufurd and Aurelio Saffi. Mazzinian Nationalism and the Italian Home, in: Loretta Baldassar/Donna R. Gabaccia (Hrsg.), Intimacy and Italian Migration. Gender and Domestic Lives in a Mobile World. New York 2011, 25–35, hier 33.
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war es keineswegs selbstverständlich, England auch als ihre Heimat anzunehmen. Viele von ihnen konservierten eine dauerhafte Nostalgie nach Indien. Anders als ihre Eltern bewerteten sie ihre Kindheit in der britischen Kolonie nicht als Exil, vielmehr widerstrebte ihnen ihre von den Eltern auferlegte Reise bzw. Rückkehr nach England. Ihre Nostalgie verband sich mit einer eigenen, geschlechterspezifischen Metaphorik. Vor allem in den Erinnerungen der Frauen erlangten die besonderen Qualitäten des häuslichen Raums in Indien einen hohen Stellenwert. Viele britische Familien lebten in den für Indien typischen niedrigen Bungalows, die von einem Garten umschlossen wurden. An dieses spezifische räumliche Setting, das in England seinesgleichen suchte, knüpften sich retrospektiv die Sehnsüchte der Indo-Britinnen. Vor allem die Gärten galten ihnen als „a symbolic physical and social space for children“, den sie mit einer glücklichen Kindheit, liebevollen Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Hausangestellten sowie einem ausgeprägten Zugehörigkeitsgefühl assoziierten.28 Diese Kindheitserinnerungen wurden flankiert von einer Eltern und Kinder einenden Sehnsucht, ihre räumliche Trennung dauerhaft zu überwinden. Die Familien britischer Kolonialbeamter trösteten sich mit Plänen für eine gemeinsame glückliche Zukunft in England, wo sie ein Zusammenleben als Familie in einem Haus imaginierten. Die Eltern würden, so die Utopie, ihren Lebensabend mit ihren Kindern unter einem Dach verbringen. Für die meisten Eltern, Mitglieder der middle class, hätte das nicht nur bedeutet, erstmals eine Immobilie zu erwerben, sondern auch zum ersten Mal eigene Möbel und Einrichtungsgegenstände anzuschaffen. Das „Haus in England“ hatte damit den Charakter eines Großprojekts, das die Familie nicht nur über den Ort, sondern auch über dessen gemeinsame Gestaltung wieder zusammengeführt hätte. Todesfälle und andere Widrigkeiten verhinderten allerdings oft, dass dieser Traum jemals in Erfüllung gehen konnte. Gleichwohl entfaltete das imaginierte Haus eine hohe familiale Kohäsionskraft.29 Solche Hausträume trugen viele MigrantInnen mit an ihre neuen Wohnorte oder entwickelten sie dort. Ob sie ihr Haus dabei am Herkunftsort oder in ihrer neuen Heimat imaginierten, hing maßgeblich davon ab, wie sie ihre Migration wahrnahmen und ob sie grundsätzlich eine Rückkehr planten oder nicht. Eine eigene Immobilie am Ort der Ankunft zu erwerben oder selbst zu errichten, signalisierte für alle sichtbar den Wunsch danach, sich dauerhaft eine neue Heimat aufzubauen. Das bedeutete jedoch nicht, dass die alte Heimat nicht in diesem neuen Zuhause repräsentiert sein konnte. Ein fiktionales Beispiel dafür findet sich in dem Roman „Gone with the Wind“ von Margaret Mitchell.30 Die darin verhandelte Biographie der irischen Einwanderfamilie O’Hara kann als Paradebeispiel einer erfolgreichen Migrationsgeschichte gelten. Ihr war es gelungen, im Süden der USA eine Baumwollplantage aufzubauen
28 Elizabeth Buettner, Empire Families. Britons and Late Imperial India. Oxford 2004, 64–66, hier 65. 29 Ebd., 193 f. 30 Margaret Mitchell, Gone with the Wind. New York 1936 [dt.: Vom Winde verweht. Hamburg 1937].
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und dazu eine herrschaftliche Villa zu errichten. Dieses Anwesen steht im Zentrum des Romans. Seinem Erhalt räumt Scarlett O’Hara, Protagonistin des Romans und Haupterbin von Haus und Plantage, oberste Priorität ein. Das Anwesen figuriert dabei als sichtbarer Beleg dafür, dass sich die O’Haras erfolgreich in die US-amerikanische Geschichte und Gesellschaft eingeschrieben haben. Es stellt zugleich ein Band zu den irischen Ursprüngen der Familie dar, indem es den irischen Namen ‚Tara‘ trägt. Es verkörpert ein Hybrid, das den Stolz auf die eigene Herkunft demonstriert wie auch den Willen zur Ankunft zementiert. Auch unter realen Migrationsgeschichten lassen sich zahlreiche Beispiele finden, in denen Einwanderer Wege fanden, verschiedene Aspekte von Herkunfts- und Ankunftsort miteinander zu amalgamieren. Loretta Baldassar etwa notiert, dass italienische EmigrantInnen in Australien ihre dortigen Häuser nach ihrem europäischen Geburtsort benannten oder im Stil ihrer Herkunftsregion erbauen ließen.31 Ein solches Verhalten setzte voraus, dass die MigrantInnen sich zumindest zeitweilig an einem neuen Ort niederlassen wollten. Viele der ItalienerInnen, die im 19. und 20. Jahrhundert in die USA auswanderten, betrachteten ihre Zeit jenseits des Atlantiks jedoch als begrenzten Zeitraum, der ihnen ermöglichen sollte, Geld für ein besseres Leben in Italien zu verdienen. Diese ItalienerInnen verstanden sich selbst schon bei ihrer Abfahrt als RückkehrerInnen. Für ihr Leben in den USA bedeutete dies, dass sie sich in hohem Maße Einschränkungen auferlegten – beim Essen, bei der Kleidung und anderen Konsumgütern sowie bei der Wohnsituation. Sie wohnten oft zu vielen auf sehr engem Raum und nahmen zahlreiche Umzüge in Kauf, wenn sich neue Gelegenheiten ergaben, günstiger zu wohnen. Die Enge der Behausung in den USA stand in Korrelation zu den idealisierten Vorstellungen eines mit räumlicher Weite und Größe assoziierten Hauses, das man in Italien zu bauen oder zu erwerben gedachte. Dieser Haustraum stärkte das Band zum Herkunftsland. Die Gegenwart wurde ganz in den Dienst einer besseren Zukunft gestellt.32 Viele italienische USA-AuswanderInnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts realisierten tatsächlich ihre Rückkehr. Um 1900 remigrierten rund 50 % wieder aus den USA nach Italien. Oftmals waren nur die jungen Männer in die USA gegangen und hatten die Bindung zu ihrer Herkunftsfamilie und -verwandtschaft in Europa aufrechterhalten. Auswanderung vollzog sich de facto als transnationales Unternehmen zwischen zwei Kontinenten, in das Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks involviert waren, die denselben Traum hegten. Migration und Rückkehr zeitigten aber nicht nur die Erfüllung dieses Traums, sondern unvorhergesehene nachhaltige Veränderungen in den Herkunftsorten der RückkehrerInnen, wie Donna Gabaccia gezeigt hat. Nur wenigen RückkehrerInnen gelang es, in Italien umfänglich Grund zu erwerben und
31 Loretta Baldassar, Visits Home. Migration Experiences between Italy and Australia. Melbourne 2001, 85. 32 Donna Gabaccia, Italy’s Many Diasporas. Seattle 2000, 102 f.
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sich dort als wohlhabende Landbesitzer zu etablieren. Dagegen realisierten viele den Traum vom eigenen Haus. Im Unterschied zu der armen Dorfbevölkerung, die teils von Almosen und in einfachsten Behausungen lebte, konnten sich die AmerikarückkehrerInnen einen besseren Lebensstandard leisten. Sie investierten in Häuser. Damit demonstrierten sie ihre Verbundenheit mit ihrem paese sowie mit ihrer dort ansässigen Verwandtschaft, trugen zugleich aber auch ihren verbesserten sozialen Status nach außen. Ihr Haus war idealerweise freistehend, verfügte über zwei Geschosse, verputzte Wände, verglaste Fenster, eine separate Küche, Innentreppen und Dachgeschossräume. Einige Gebäude besaßen zudem einen Balkon. Rückkehrer drängten auch auf die Versorgung mit Elektrizität und forcierten so die Modernisierung ihrer Dörfer. Die Ausstattung ihrer Häuser beeindruckte auch bürgerliche Beobachter. Zumindest für die Zeit des Hausbaus oder Umbaus hatte ihre Rückkehr sichtbare ökonomische Effekte, da sie die Nachfrage nach handwerklichen Arbeiten steigerte. Dass einige DorfbewohnerInnen nach Jahren der Abwesenheit mit großen Vermögen in ihre Heimat zurückkehrten, hatte auch langfristige Auswirkungen im Dorf. Die Rückkehr hinterließ ihre Spuren in der Esskultur und im Kleidungsstil der Dorfbevölkerung. Zudem behielten die RemigrantInnen stets einen besonderen Status. Diesen markierten nicht zuletzt ihre Häuser, die oftmals auch namentlich aus dem Gros der Gebäude herausgehoben wurden. Die Immobilien der USA-Heimkehrer wurden etwa als „case americane“ (amerikanische Häuser) tituliert.33 Ein eindrucksvolles Beispiel für die soziale Distinktion der Rückkehrer findet sich im Puschlav, an der heutigen Grenze zwischen der Schweiz und Italien. In dem Ort Poschiavo, der gegenwärtig rund 3 500 EinwohnerInnen zählt, sticht ein Straßenzug aus dem Gros der alpinen Architektur hervor, die Via dei Palazzi. Der Name ist Programm. Die Straße säumen großzügige, farblich unterschiedlich gefasste, mehrgeschossige Giebelhäuser, die zwischen 1857 und 1891 errichtet wurden. Die Initiative für dieses umfangreiche Bauprojekt ergriff Mitte des 19. Jahrhunderts der ortsansässige Lehrer und spätere Ortsvorstand Tommaso Lardelli, der als Investoren vermögende Migrantenfamilien aus Poschiavo gewinnen konnte, die „in diesen vornehmen Residenzen ihren Lebensabend“ verbringen wollten.34 Die Häuser sind in mehrfacher Hinsicht ein Kind ihrer Zeit. Wie in vielen anderen Alpenregionen hat saisonale oder temporäre Arbeitswanderung auch im Puschlav eine lange Tradition. Richtete sich diese Migration lange Zeit vor allem auf die umliegende Region, bis nach Venedig, so nahmen die Puschlaver seit dem 18. Jahrhundert größere Distanzen auf sich, um sich ihre besonderen Fertigkeiten als Konditoren und Cafetiers ‚vergolden‘ zu lassen. Ihr Wanderungsradius reichte von Spanien und Portugal im Südwesten, Großbritannien im Westen bis nach Dänemark, Polen und Russland im Norden und Nordosten Europas. Die Wanderungen, die den Puschlavern
33 Ebd., 94–99, hier 99; John Davis, Land and Family in Pisticci. New York 1973. 34 Ludmila Seifert-Uherkovich, Eintrag 17, in: dies., Architekturrundgang Poschiavo Borgo. Chur 2003.
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zuvor ein auskömmliches Einkommen ermöglicht hatten, legten nun im 19. Jahrhundert den Grundstein für ansehnliche Vermögen, welche die Zuckerbäcker und Kaffeehausbetreiber auch in ihrer Heimat sichtbar werden lassen wollten. Die Palazzi dokumentieren sowohl ihren Erfolg in der Fremde als auch ihre dauerhafte Verbundenheit mit ihrem Herkunftsort. Allein schon durch ihr städtisch anmutendes und prunkvolles Erscheinungsbild veränderten diese Häuser das Weichbild Poschiavos nachhaltig. Auch ihr Stil und ihre Namen materialisieren, dass ihre Entstehungsgeschichte eng mit den Migrations- bzw. Auslandserfahrungen ihrer BesitzerInnen verknüpft ist. So findet sich unter den Gebäuden das in den 1860er Jahren errichtete ‚Devon House‘, das sein späterer Besitzer Domenico Semadeni um die Jahrhundertwende erwarb und nach der Region Englands benannte, in der er sein Vermögen erworben hatte.35 Die Häuser verkörpern nicht nur den materiellen Aufstieg der Puschlaver MigrantInnen im 19. Jahrhundert, sondern auch eine für ihre Entstehungszeit typische Verbürgerlichung. Die Palazzi greifen die „zentralen Anliegen“ bürgerlicher Wohnkultur, „Sauberkeit und Gesundheit, Wasser, Luft und Sonne“ auf:36 Die Wohnräume waren nach Süden ausgerichtet. Durch große Fenster traten Luft und Licht ein, ermöglichten so eine behagliche, helle Wärme. Ihre Ausrichtung gen Norden unterstreicht dagegen die Funktionalität der Wirtschaftsräume, in denen Lebensmittel aufbewahrt und zubereitet wurden. Die Ausstattung mit Wasserversorgung und Kanalisation reflektiert zudem die hygienischen Ansprüche, wie sie den bürgerlichen Gesundheitsdiskurs des 19. Jahrhunderts und dessen materielle Manifestation kennzeichnen. Den Traum von Rückkehr und eigenem Haus pflegen auch in der Gegenwart viele MigrantInnen. Die Forschung zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat aber gezeigt, dass die fest eingeplante Rückkehr oftmals verschoben oder nie realisiert wurde und wird, da die ökonomischen Vorzüge des Ankunftslands häufig überwiegen und die dort geborenen Kinder sich vielfach nicht gewillt zeigen, mit den Eltern in das Herkunftsland zurückzukehren. Gleichwohl wird die Rückkehr zumindest temporär realisiert, über Ferienaufenthalte bei Verwandten oder im eigenen Haus. Denn seine Bedeutung als gebautes Symbol für den ‚Traum zurückzukehren‘ hat das Haus keineswegs verloren. Auch wenn es de facto nur wenige Wochen im Jahr genutzt wird, demonstriert es, wie Susanne Wessendorf gezeigt hat, die Jahre harter Arbeit, der Entbehrungen und des Verzichts, die es den ArbeitsmigrantInnen ermöglichten, sich ein solides finanzielles Fundament zu erarbeiten. Das Haus ist damit zugleich „Status-
35 Vgl. Stefania Bordo, Evoluzione dell’emigrazione poschiavina dal 1850 al 1980, in: Quad. grigionitaliani 52, 1983, 341–356; Dolf Kaiser, Fast ein Volk von Zuckerbäckern? Bündner Konditoren, Cafetiers und Hoteliers in europäischen Landen bis zum Ersten Weltkrieg. Ein wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag. Zürich 1988; Francesca Nussio, L’emigrazione nel Grigioni italiano. Un’analisi delle pubblicazioni sulla Val Poschiavo e la Val Bregaglia, in: Quad. grigionitaliani 76, 2007, 179–191; dies., Val Poschiavo terra d’emigranti, in: Quad. grigionitaliani 78, 2009, 435–442. 36 Seifert-Uherkovich, Eintrag 17 (wie Anm. 34).
Haus und Translokalität: Orte der Macht – Orte der Sehnsucht
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symbol“ und „Objekt von Dauer“, das stets die Möglichkeit der Rückkehr suggeriert und auch „zukünftige Generationen an das Herkunftsland“ bindet.37 Eine besondere Gruppe der Sehnsuchtsorte stellen Häuser samt Umgebung dar, die ihre früheren BewohnerInnen etwa unter den Bedingungen von Krieg und Vertreibung auf lange Sicht verlassen mussten und oftmals dauerhaft verloren. Die Nostalgie, die sich an diese Häuser und ihre Umgebung knüpfte, zeichnet sich durch große Beharrungskraft aus. Sie intensivierte sich im 19. und 20. Jahrhundert in dem Maße, in dem eine Wiederzusammenführung von Mensch und Haus, die als erlösendes Moment konzipiert wurde, unwahrscheinlich oder durch Zerstörung der Gebäude unmöglich wurde. Gerade zu den auf immer verlorenen Häusern pflegten Menschen oftmals ein besonders starkes Band, das sie auch nach außen sichtbar zu machen suchten. In der Volkskunde gilt diese „Ästhetisierung des Verlusts“, wie sie sich etwa bei den ostdeutschen Heimatvertriebenen nach Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten lässt, als Kennzeichen „unsere[r] Moderne“.38 Indem sie versuchten, ihrer Verlusterfahrung Sichtbarkeit zu verleihen, warben Flüchtlinge und Vertriebene in ihrer neuen lokalen Umgebung und in der entstehenden Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland um Verständnis für ihre Situation. Dabei bedurfte der an sich „für andere unsichtbare Verlust“ „einer Materialität, die mit Bedeutung befrachtet wird und so aus dem Gewöhnlichen heraussticht“.39 Häuser bzw. das Häusliche spielen dabei eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Egerländer hat Elisabeth Fendl gezeigt, dass zu ihren bedeutendsten Symbolen der ‚verlorenen Heimat‘ der „Egerländer Vierseithof mit dem zur volkskundlichen Ikone gewordenen Sonnentor“ gehört, also eine spezifische Hofarchitektur, die aufgrund ihrer Besonderheit als Erkennungsmerkmal einer spezifischen Region herangezogen werden kann.40 Während Darstellungen und Fotografien die Architektur der verlorenen Häuser visualisieren, (re-)konstruieren sog. Heimatstuben, die nach dem Zweiten Weltkrieg an vielen Orten entstanden, das Innere der Häuser – von der Königsberger Sammlung in Duisburg bis zur Riesengebirgsbauernstube in Hohenlimburg.41 Gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Verlust des
37 Susanne Wessendorf, State-Imposed Translocalism and the Dream of Returning, in: Baldassar/Gabaccia (Hrsg.), Intimacy (wie Anm. 27), 157–169, hier 163. Wessendorf untersucht ItalienerInnen in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; vgl. Elke Korte, Die Rückkehrorientierung im Eingliederungsprozess von Migrantenfamilien, in: Hartmut Esser/Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Generation und Identität. Opladen 1990, 207–259; Leonardo La Rosa, La Casa – der opferreiche Traum vom eigenen Haus, in: Ernst Halter (Hrsg.), Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz. Zürich 2003, 293–300. 38 Konrad Köstlin, Eine Ästhetik des Verlusts, in: Elisabeth Fendl (Hrsg.), Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung. Münster 2010, 8–23, hier 8. 39 Ebd., 9. 40 Elisabeth Fendl, In Szene gesetzt. Populäre Darstellungen von Flucht und Vertreibung, in: dies. (Hrsg.), Ästhetik (wie Anm. 38), 45–69, hier 63. 41 Vgl. Cornelia Eisler, Die ‚verlorene Heimat im Osten‘ in den Heimatstuben der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, in: Fendl (Hrsg.), Ästhetik (wie Anm. 38), 125–139, hier 125.
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Familiensitzes auch ein prägendes Moment für ostdeutsche Adlige, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung zu MigrantInnen wurden. Auch eine jahrzehntelange Trennung vermochte das Band vieler adliger Familien zu ihrem ehemaligen Herrenhaus oder Schloss und dem dazugehörigen Grund nicht zu schwächen. Nach dem Ende der DDR kehrten viele – auch nachfolgende Generationen – an jene Orte zurück, die in der Familie als eigentliche Heimat verhandelt worden waren.42
3 Fazit: Mobilität und häusliche Verortung Immobilien und Mobilität konstituieren im Zusammenspiel ein facettenreiches Bezugssystem. Häuser fungierten als Medien und Stützpunkte der räumlichen Ausdehnung von Herrschaft. Diese Funktion lässt sich in der Vormoderne wie in der Moderne beobachten und kann so als Sonde dienen, die epochalen Spezifika von Herrschaft und die soziale Zusammensetzung gesellschaftlicher Eliten im Wandel zu analysieren. Das einzelne Haus vermochte dabei sowohl in der Horizontalen im Verbund mit anderen Häusern als auch in der Vertikalen als Geschlechterturm Machtentfaltung zu symbolisieren bzw. zu propagieren. Einige Hochhausprojekte, zum Beispiel das in den 1930er Jahren errichtete Rockefeller Center in New York, lassen sich insofern als moderne Nachkommen der mittelalterlichen Geschlechtertürme verstehen. Gerade die Immobilität des Hauses bot einerseits räumlich flexiblen BesitzerInnen die Möglichkeit, ihre eigene Mobilität zu verdecken und ihre Präsenz zu suggerieren – im Falle von Grablegen und Stiftungen auch über den Tod hinaus. Andererseits erlaubte ein räumlich ausgedehntes Häusernetz etwa im Fall von Unternehmen, gezielt Transnationalität nach außen zu demonstrieren. Neben dieser repräsentativen Funktion gewannen Häuser auch Bedeutung als imaginäre Sehnsuchtsorte mobiler Menschen. Besondere Relevanz erlangte diese Perspektive auf Häuser unter den Bedingungen einer erhöhten Mobilität, wie sie die Moderne kennzeichnet. Häuser konnten die Verbundenheit von MigrantInnen mit ihren Herkunftsorten signalisieren, waren Medien der Verortung in einer neuen Umgebung und stellten imaginäre Ankerpunkte für eine erhoffte Rückkehr und für eine projektierte Wiederzusammenführung räumlich getrennter Familienteile dar. Als Rekonstruktionen zerstörter oder verlorener Häuser wurden sie zudem zu Monumenten des Verlusts sowie (oftmals zeitgleich) der Erinnerung. Damit bilden Häuser nicht nur wichtige Untersuchungsgegenstände der europäischen Gesellschaftsgeschichte insgesamt, sondern insbesondere – was bislang zu wenig zur Kenntnis genommen wurde – auch der Migrationsgeschichte.
42 Oliver Mark/Martina Schellhorn, Heimat verpflichtet. Märkische Adelige – eine Bilanz nach 20 Jahren. Potsdam 2012; Berlin-Brandenburgische Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Adelige Rückkehrer im Land Brandenburg. Ihr heutiges Engagement und das Wirken ihrer Vorfahren 1806–2000. Berlin 2001.
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Vom Hausnamen zur Hausnummer: Die Adressierung des Hauses 1 Mozarts Adressen Als sich Wolfgang Amadeus Mozart 1781 in Wien niederließ, verwendete er in seinen Briefen zur Bezeichnung seiner ersten Aufenthaltsorte folgende Adressangaben: Zum einen „im teutschen Hauß, in der Singerstrass“, zum anderen „auf dem Peter im Aug-gottes im 2.ten stock“. Bei seiner dritten Angabe lässt sich ein wesentlicher Unterschied feststellen, „auf dem graben N:°1175 im 3:ten stock“ lautete nun die von Mozart im September 1781 verwendete Formulierung: Statt eines Hausnamens nannte der Komponist eine Hausnummer, im speziellen Fall eine sog. ‚Konskriptionsnummer‘ (Abb. 1). Diese Adressierungstechnik war in der habsburgischen Residenzstadt erstmals 1770/71 eingeführt worden und stand im Zusammenhang mit der ‚Seelenkonskription‘, einer Volkszählung, die unter anderem ein neues Rekrutierungssystem vorbereiten sollte.
Abb 1: Konskriptionsnummer in Wien.
Mozart teilte auch nach den folgenden, oftmaligen Wohnungswechseln seinen Adressatinnen und Adressaten die neue Hausnummer mit: So residierte er 1782 „auf der hohen brücke im […] Groshaubtische[n] haus N:° 387“, im folgenden Jahr „im kleinen Herbersteinischen hause, n: 412 im 3:t Stock; bey H: v: Wezlar“ sowie bald darauf „auf
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dem Juden Plaz im burgischen hause, N:° 244 im ersten Stock“. Schon 1784 übersiedelte Mozart wieder, wobei er diesmal in seinem Brief keine Hausnummer anführte: „[I]m trattnerischem Hause; 2:te Stiege. im 3:t Stock“ wohnte er nun. Das genannte Haus, der Trattnerhof, war wohl so stadtbekannt, dass sich die Hausnummernangabe erübrigte; nur kurz darauf lebte er „in der Schullerstrasse N:° 846, im ersten Stock“, wie Mozarts Vater berichtete. Auch die nächste Adresse Mozarts erfahren wir dank eines Briefs seines Vaters: Er „wohnt itzt auf der Landstrasse No. 224“ – bedingt durch Geldmangel war der Komponist in eine Vorstadt übersiedelt. Die Quartiere wechselten in rascher Abfolge: Mozart wohnte „unter den Tuchlauben“ und dann im Alsergrund, „in der waringergasse, bey den 3 Sternen N:° 135“, von wo er schließlich zum letzten Mal übersiedelte, in die „Rauhensteingasse im Kayserhaus N° 970 Ersten Stock“.1 – Mozart war fürwahr ein ruheloses Subjekt; in seinen zehn Wien-Jahren bewohnte er nicht weniger als zwölf Adressen. Bei deren Angabe ging er auf Nummer und Namen sicher. Er verwendete nicht nur die Hausnummer, sondern auch die alternative, ältere Adressierung mittels des Hausnamens. Beide Techniken wurden demnach parallel eingesetzt. Es sollte einige Jahrzehnte dauern, bis die Verwendung des Hausnamens dem Vergessen anheimfiel.2 Das Jahrhundert Mozarts und insbesondere dessen zweite Hälfte erlebte den Siegeszug einer unscheinbaren Adressierungstechnik, die im Zentrum dieses Beitrags steht: der Hausnummerierung. Diese brachte an den Häusern Zahlen an, um sie eindeutig identifizierbar zu machen, eine Praxis, die im 18. Jahrhundert weite Verbreitung fand und auch für viele weitere Objekte und Subjekte angewandt wurde, seien es Fiaker, Spitalsbetten, Genfer Holzhacker, französische Lastenträger oder Wiener Polizeisoldaten. Im Folgenden wird dargestellt, welche Vorteile die Hausnummern im Gegensatz zu den zuvor verwendeten Hausnamen hatten und wie sie dazu beitrugen, die Rede vom ‚ganzen Haus‘ entstehen zu lassen. Nach einem Rückblick auf
1 Wilhelm A. Bauer/Otto Erich Deutsch, Mozart. Briefe und Aufzeichnungen, 7. Bde. Kassel 1963–1975, hier Bd. 3, 95, 112, 154, 225, 251 f., 269 f., 300 f., 370; Bd. 4, 44, 66, 133; Bd. 6, 364. 2 Mein Beitrag stützt sich u. a. auf meine bisherigen Veröffentlichungen zum Thema: Anton Tantner, Die Hausnummer. Eine Geschichte von Ordnung und Unordnung. Marburg 2007; ders., Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie. Innsbruck 2007, URL: http://othes.univie.ac.at/28/ (Zugriff: 30. 01. 2015); ders., Addressing the Houses. The Introduction of House Numbering in Europe, in: Hist. & Mesure 24, 2009, 7–30, vgl. auch Reuben S. Rose-Redwood, Indexing the Great Ledger of the Community. Urban House Numbering, City Directories, and the Production of Spatial Legibility, in: Journ. of Hist. Geography 34, 2008, 286–310; Bernhard Wittstock, Ziffer Zahl Ordnung. Die Berliner Hausnummer von den Anfängen Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart im deutschen und europäischen Kontext. Diss. phil. Berlin 2010; Reuben Rose-Redwood/Anton Tantner, Introduction. Governmentality, House Numbering and the Spatial History of the Modern City, in: Urban Hist. 39, 2012, 607–613. Vgl. auch die ‚Galerie der Hausnummern‘ mit Fotos von historischen Hausnummern: URL: http://hausnummern.tantner.net (Zugriff: 30. 01. 2015), sowie zum allgemeinen Thema der Adressierung: Anton Tantner, Adressieren, in: Heiko Christians (Hrsg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Wien 2014.
Vom Hausnamen zur Hausnummer: Die Adressierung des Hauses
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die Anfänge der Hausnummerierung zu Beginn der Frühen Neuzeit wird anschließend deren Durchsetzung im Laufe des 18. Jahrhunderts behandelt. Darauf stelle ich die verschiedenen Methoden vor, die bei der Nummerierung der Häuser zum Einsatz kamen und stelle am Schluss Überlegungen an, warum es trotz der immer wieder auftauchenden Widerstände gegen die Hausnummerierung zur Akzeptanz dieser Adressierungstechnik kam.
2 Hausnamen und Hausnummern Die spärlichen Belege, die sich für die Adressierung von Häusern in der Antike finden lassen, legen nahe, dass diese, wenn überhaupt, dann nach dem Namen ihrer Besitzer benannt waren.3 Die Inschriften von stadtrömischen Sklavenhalsbändern, die angeben, wo ein eventuell entlaufener Sklave wieder abzuliefern sei, nennen manchmal den Namen eines Gebäudes. Oft genug scheint aber der Name des Besitzers und eine ungefähre Angabe der Region der Stadt Rom als ausreichend erachtet worden zu sein, um den flüchtigen Sklaven an die richtige Adresse zu bringen.4 Noch bis ins Spätmittelalter hinein gab es nur wenig Bedarf an exakten Adressangaben für Häuser, da in Gesellschaften, in denen die meisten Beziehungen auf persönlicher Bekanntschaft beruhten, für das Auffinden einer Person deren Name und eine ungefähre Ortsangabe als ausreichend betrachtet wurden. Noch im Marseille des 14. Jahrhunderts ließen Gläubiger nur rudimentäre Adressen – zum Beispiel den Straßennamen – ihrer SchuldnerInnen notieren, da ihnen dies genügte, um ihrer im Bedarfsfall habhaft zu werden.5 Vor Einführung der Hausnummern war der oft vom Namen des Hausbesitzers abweichende Hausname das gebräuchliche Mittel zur Identifizierung eines Hauses.6 Mit Herausbildung obrigkeitlicher Zentralisierung und den damit einhergehenden Begehrlichkeiten staatlicher Behörden, auf die Ressourcen einzelner Häuser zuzugreifen, zeigten sich jedoch die Nachteile der Adressierung durch den Hausnamen: Zum einen war dieser nicht immer sichtbar, da nicht jedes Haus ein Schild trug, welches ihn signalisierte, womit das Wissen um die Adresse im lokalen Bereich, bei
3 Roger Ling, A Stranger in Town. Finding the Way in an Ancient City, in: G & R 37, 1990, 204–214; Paavo Castrén, Vici and insulae. The Homes and Addresses of the Romans, in: Arctos. Acta Philologica Fennica 34, 2000, 7–21. 4 Julia Hillner, Die Berufsangaben und Adressen auf den stadtrömischen Sklavenhalsbändern, in: Historia 50, 2001, 193–216. 5 Daniel Lord Smail, Imaginary Cartographies. Possession and Identity in Late Medieval Marseille. Ithaca 2000, 220 f. 6 David Garrioch, House Names, Shop Signs and Social Organization in Western European Cities, 1500–1900, in: Urban Hist. 21, 1994, 20–48; Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main 1992, 711–715.
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der Nachbarschaft oder bei der Grundherrschaft verblieb. Die staatlichen Beamten waren somit abhängig von diesem lokalen Wissen und mussten die Hilfe grundherrschaftlicher Beamter in Anspruch nehmen, deren Interessen jedoch zuweilen denen der Ersteren entgegenliefen. Doch auch dann, wenn die Hausnamen sichtbar waren und ein Verzeichnis dieser Hausnamen vorhanden war, stieß die Adressierung mittels Hausnamen auf ein Problem. Denn obwohl bei deren Schaffung manchmal viel Kreativität im Spiel war, stieß der Erfindungsreichtum bei der Benennung von Häusern doch an Grenzen, weswegen es viele gleichlautende Hausnamen gab, die verwechselt werden konnten. In Wien gab es etwa Ende des 18. Jahrhunderts in der Innenstadt sechs Häuser, die den Namen ‚zum goldenen Adler‘ trugen, in den Vorstädten 23, womit 29 Häuser miteinander verwechselt werden konnten.7 Dazu kam noch, dass die Hausnamen nicht stabil waren, sondern sich mit dem Wechsel des Besitzers oder der Besitzerin zuweilen änderten; das (Um-)Benennen eines Hauses war eine Machtdemonstration und symbolisierte die Inbesitznahme durch die neuen Eigentümer.8 Die staatlich vergebene Hausnummer hatte im Gegensatz dazu den Vorteil, diskrete, klar voneinander unterscheidbare und stabile Einheiten zu schaffen. War sie einmal an der Wand des Hauses mittels Schild oder Farbe angebracht und durch Aufnageln oder Trocknung möglichst unauflöslich mit dem Haus verbunden, machte sie die Wände durchlässig und ermöglichte somit Rekrutierungsoffizieren, Steuereintreibern und Gerichtsbehörden den Zugriff auf das Innere des Hauses. Dieses war bislang aus Perspektive der Beamten des sich in der Frühen Neuzeit formierenden Staates als von der Außenwelt abgeschottet erschienen. Aus Sicht der im Haus lebenden Menschen und der NachbarInnen mögen die Wände ein „offenes Haus“9 umschlossen haben, für staatliche Begehrlichkeiten aber waren sie nur schwer unüberwindbare Hindernisse. Solange es kein staatliches Adressierungssystem gab, blieb das Haus ein monolithischer Block, der Reichtümer und Ressourcen in sich barg, deren systematische Erschließung für Steuer- und Militärbehörden ohne genaue Lokalkenntnisse mühsam war. Aus sozialhistorischer Perspektive wurde die Hausnummerierung als Begleiterscheinung „der Auflösung des ‚ganzen Hauses‘“ beschrieben: Die Ablösung der Hausnamen durch die abstrakten Hausnummern wäre demnach „Ausdruck“ eines Denkens, das das Haus als von den in ihm wohnenden Menschen getrennt betrach-
7 Wiener Schildregister, oder Anweisung, wie man sich auf der Stelle helfen kann, wenn man in Wien den Schild eines Hauses oder eines Kaufmannsgewölbes in und vor der Stadt suchen, und ihn finden will. Wien o. J. [1795], 4 f. 8 Garrioch, House Names (wie Anm. 6), 34 f. 9 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664.
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tet.10 Die Hausnummer würde das Ende des ‚ganzen Hauses‘ einleiten und die Ära der Familie als neuem sozialhistorischen Gegenstand beginnen lassen. Historiographiegeschichtlich und unter Bezugnahme auf die Debatte des von Otto Brunner aktualisierten Begriffs des ‚ganzen Hauses‘11 muss dieser Befund ergänzt, wenn nicht in seiner zeitlichen Abfolge umgekehrt werden: Demnach ist die Hausnummerierung als eine Vorbedingung für die im 19. Jahrhundert aufkommende Rede vom ‚ganzen Haus‘ zu betrachten. Gemäß dieser wirkungsmächtigen Fiktion bestand vom Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Sozialgebilde, das auf der lohnlosen Arbeit seiner Mitglieder beruhte und das durch ein herrschaftliches Moment, nämlich das Züchtigungsrecht des Hausherrn über die Hausangehörigen, gekennzeichnet gewesen sein soll. Der Urheber der Rede vom ‚ganzen‘, vom ‚organischen Haus‘ – Wilhelm Heinrich Riehl – formulierte folgendermaßen: „Das organische Haus hatte einen Namen; das symmetrische hat eine Nummer. So hatten auch die alten gewachsenen Straßen ihre historisch ‚gewordenen‘ Namen; die neuen gemachten Straßen tauft man willkürlich, und in der am meisten symmetrischen Stadt Deutschlands, in Mannheim, konnte man sich nicht einmal bis zu einem gemachten Namen der schnurgeraden Straßen aufschwingen, sondern ist bei dem bloßen Buchstaben stehen geblieben, und hat solchergestalt gleichsam die ganze Stadt zu einem ABC-Buch in Großfolio gemacht.“12 Doch dieses ‚ganze Haus‘, das sich in der Frühen Neuzeit allenfalls in den Traktaten feudaler Adliger oder in theologischen Schriften finden lässt und an dem sich seit dem 19. Jahrhundert die Phantasien melancholischer Historiker und rückwärtsgewandter Philosophen entzündet haben13, wird erst möglich, nachdem die Verwaltungspraxis des so genannten aufgeklärten ‚Absolutismus‘ die ohnehin verletzlichen Häuser aufbricht, indem sie ihnen eine Nummer verpasst.14 Denn die Hausnummer macht das Haus sichtbar als Gegenstand einer im Namen des Staates ausgeübten Regierung. Aus der Perspektive der AdeptInnen des ‚ganzen Hauses‘ beraubt sie damit die Hausväter ihrer uneingeschränkten Autorität. Der Verlust des ‚ganzen Hauses‘ kann nunmehr beklagt werden. Kurz: Ohne Hausnummer gibt es kein ‚ganzes Haus‘.
10 Michael Mitterauer, Die Familie als historische Sozialform, in: ders./Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991, 21–45, hier 31 f. 11 Vgl. dazu unter anderem Otto Brunner, Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127; Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20, 1994, 88–98; Valentin Groebner, Außer Haus. Otto Brunner und die ‚alteuropäische Ökonomik‘, in: GWU 46, 1995, 69–80; Hans Derks, Über die Faszination des ‚Ganzen Hauses‘, in: GG 22, 1996, 221–242. 12 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. 2. Aufl. Stuttgart 1855, 184. 13 Der melancholische Blick von Jean-François Lyotard auf die domus scheint nicht fern von Brunners Elegie auf das ‚ganze Haus‘ zu sein: Jean François Lyotard, Domus und die Megalopole, in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien 1989, 319–340. 14 Zur Verletzlichkeit des Hauses vgl. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen, 16.–18. Jahrhundert. München 1990, 12.
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3 Die Einführung der Hausnummern Erste Hinweise auf nummerierte Häuser tauchen in Städten wie Paris oder Augsburg zu Beginn der Neuzeit auf. So waren seit dem 15. Jahrhundert die 68 auf der Pariser Pont Notre Dame befindlichen Häuser durchgehend nummeriert; spätestens im 16. Jahrhundert trugen sie goldene Ziffern auf rotem Grund. Allerdings verneinte die Hausnummernhistorikerin Jeanne Pronteau, dass diese Nummerierung als Vorläuferin der späteren Hausnummerierung anzusehen sei, obwohl die Nummern durchaus in Akten zur Identifizierung der Häuser verwendet wurden. Zweck der Nummerierung sei nicht so sehr die Ausstattung der Häuser mit einer Adresse gewesen, sondern vielmehr das Abzählen eines städtischen Besitzstandes.15 In Augsburg wiederum waren bereits im Jahr 1519 die Gebäude der Fuggerei mit gotischen Zahlen nummeriert, was ein sehr frühes Auftauchen dieser Adressierungstechnik bedeuten würde, sollten die Nummern in erster Linie zur Identifizierung der Häuser verwendet worden sein.16 Ebenfalls spätestens im 16. Jahrhundert tauchen Häuserverzeichnisse auf, in denen die Häuser in Form von Listen oder Tabellen mit Nummern versehen verzeichnet wurden. Als Beispiel dafür kann das 1567 in Wien erstellte Hofquartiersbuch genannt werden. Dieses hatte den Zweck, den mit der Unterbringung des Hofgesindes beauftragten Hofquartiermeister bei seiner Arbeit zu unterstützen. Die Räumlichkeiten der Hofburg reichten keineswegs dazu aus, den Hofstaat aufzunehmen, weswegen anderweitige Quartiere gesucht werden mussten. An den Häusern selbst wurden die Nummern jedoch nicht angebracht17, und sie wurden auch nicht für andere Zwecke der Verwaltung, wie zum Beispiel für die Identifizierung der Häuser in den Grundbüchern, herangezogen.18 Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass solche nummerierten Häuserverzeichnisse der physischen Nummerierung der Häuser vorausgingen, sie bleibt allerdings noch zu belegen. Auch in frühneuzeitlichen Städteutopien konnte die Hausnummerierung zuweilen vorgeschlagen werden, so in einen posthum veröffentlichten Werk des im 17. Jahrhunderts wirkenden Architekturtheoretikers Nikolaus Goldmann; er hatte in seiner ‚Civil-Baukunst‘ eine Idealstadt skizziert und postulierte dabei: „In jedem Hause solte eine Zahl der Thür gestellet seyn / daß man nach den Zahlen die
15 Jeanne Pronteau, Les Numérotages des Maisons de Paris du XVe Siècle à nos Jours. Paris 1966, 61–69. 16 Otto Nübel, Die Fuggerei. 11. Aufl. Augsburg 2000, 16; Wilfried Matzke, Geheimnis der Hausnummern. Weltweit erste Bezifferung in Augsburg, in: Umrisse 1, 2010, 46 f. 17 Ernst Birk, Materialien zur Topographie der Stadt Wien in den Jahren 1563 bis 1587, in: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Verein zu Wien 10, 1869, 79–164, hier 86. 18 Karl Fajkmajer, Verfassung und Verwaltung, in: Alterthumsverein zu Wien (Hrsg.), Geschichte der Stadt Wien, Bd. 5. Wien 1914, 100–159, hier 155. Zuletzt zum Hofquartierwesen Maximilian Maurer, Das Hofquartierwesen am Wiener Hof in der Frühen Neuzeit. Diplomarbeit an der Universität Wien. Wien 2013, URL: http://othes.univie.ac.at/25538/ (Zugriff: 30. 01. 2015).
Vom Hausnamen zur Hausnummer: Die Adressierung des Hauses
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Häuser erfragen könnte; bey der Zahl solte ein Feld seyn / darauff des Hauß-Herrn Nahme mit grossen Buchstaben gestellet würde.“19 Es war dann das 18. Jahrhundert, in dem sich das große Unternehmen der Hausnummerierung durchsetzen sollte. Ohne Ironie kann die Hausnummer als eine der wichtigsten Innovationen des Jahrhunderts der Aufklärung bezeichnet werden, jenes Jahrhunderts, das von Ordnung und Klassifikation geradezu besessen war20, ein Jahrhundert, in dem, so der romantische Schriftsteller Friedrich Schlegel, die „mathematische Staatsansicht“ vorherrschte.21 Das Diktum von Marx, dass „[e]ine kritische Geschichte der Technologie […] nachweisen [würde], wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört“22, scheint jedenfalls auch für die Hausnummern Gültigkeit zu besitzen. Es mag sich dabei um eine kollektive Erfindung gehandelt haben, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten eingeführt wurde. Die Motivation für diese Einführung lag dabei so gut wie nie darin, besonders zuvorkommend gegenüber fremden Reisenden zu sein oder der einheimischen Bevölkerung die Orientierung zu erleichtern. Zumeist wurden Hausnummern angebracht, um staatliche Ziele durchzusetzen, sei es die Militäreinquartierung, die Rekrutierung, die Besteuerung, die Vertreibung unerwünschter BettlerInnen oder die Brandschutzversicherung. Nur selten und recht spät – als Beispiel sei hier Lissabon um 1800 genannt – wurde die Hausnummerierung im Zusammenhang mit der Stadtpost eingeführt, um eine leichtere Zustellung der Briefe sicherzustellen.23 Es mag sein, dass die Hausnummerierung zunächst in preußischen Kleinstädten einsetzte. 1737 wurde dort angeordnet, dass in „kleinen Staedten“ am „Tag vor dem Einmarsch […] die Numern an die Häuser angeschlagen“ werden mussten, die Hausnummern dienten hier also zur Erleichterung der Militäreinquartierung.24 Nach der Annexion Schlesiens und der Grafschaft Glatz wurde 1743 die Nummerierung auf diese Gebiete ausgedehnt25; 1752 wurde die Einführung von Hausnummerntafeln verordnet: „[I]n jedweder Stadt [muessen] durch den Magistrat, wie bereits in Schlesien
19 Nicolaus Goldmann, Vollständige Anweisung zu der Civil Bau-Kunst […], hrsg. von Leonhard Christoph Sturm. Wolffenbüttel 1696, 111–114, hier 113. 20 Arlette Farge, Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts. Berlin 1989, 162. 21 Friedrich Schlegel, Über die neuere Geschichte, in: ders., Studien zur Geschichte und Politik. München 1966, 125–407, hier 400. 22 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 34. Aufl. Bd. 1. Berlin 1993, 392. 23 Alexandra Fraga/Fundação Portuguesa das Comunicações (Hrsg.), Vencer a Distância – Cinco Séculos de Comunicações em Portugal. Lissabon 2005, 33 f. 24 Corporis Constitutionum Marchicarum continuatio prima, […] von 1737. bis 1740. […] von Christian Otto Mylius. Berlin 1744, 37–38. 25 March-Reglement Vor Das Herzogthum Schlesien Und Die Grafschafft Glatz. De Dato Potsdam den 1. Martii 1743. Breßlau 1743. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Signatur: 2“ Gu 12102. Nr. 5.
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geschiehet, blecherne kleine Tafeln mit Nummern angefertiget und an die Haeuser angeschlagen werden.“26 Berlin war von dieser Verordnung allerdings noch nicht betroffen. Eine europaweite Verbreitung der Hausnummern lässt sich dann ab Mitte des 18. Jahrhunderts feststellen, zu einem Zeitpunkt, zu dem auch Polizeibedienstete wie Jean-François Guillauté in ihren Kontrolldystopien die Nummerierung der Häuser zwecks Überwachung der Bevölkerung vorschlugen.27 1750 (oder 1751) wurden die Häuser Madrids mit Nummern versehen28, was sich auch durchgesetzt zu haben scheint. Als ein britischer Reisender 1772 Madrid besuchte, stellte er unter anderem fest, dass alle Häuser Nummern trugen.29 1754 war Triest an der Reihe, wo anlässlich einer Volkszählung die Häuser nummeriert wurden und dies mit „der besseren Pollicey-Einrichtung“ begründet wurde.30 Im selben Jahr wurde die Einführung der Hausnummerierung in Wien diskutiert, aber letzten Endes nicht durchgeführt. Der skeptischen Bevölkerung wollte man die neue Kontrolltechnik mit dem Argument verkaufen, dass damit „liederlich[e] und gefährl[iche] Leu[te]“ besser ausfindig gemacht werden könnten, doch dann zögerten die Behörden, vielleicht, weil sie zu viel Widerstand befürchteten.31 Aus 1762 und 1765 datieren Anordnungen, die in London die Hausnummerierung einführten. Im 1768 erschienenen Adressbuch, dem ‚Complete Guide‘, trugen bereits drei Viertel aller genannten Häuser Nummern.32 1766 wurden in der Grafschaft Lippe die Häuser nummeriert, um bei der Adressierung der Liegenschaften nicht einzig auf den veränderbaren Hausnamen angewiesen zu sein.33 Ab 1767 wurde die Nummerierung im habsburgischen Tirol durchgeführt, wobei die Nummer in roter Farbe auf die Häuser aufgemalt wurde.34 Gleichzeitig wurde in Vorder
26 Königlich Preußisches neu revidiertes March-Reglement vor Seiner Königlichen Majestät sämtliche Provintzien und Lande: De dato Berlin den 5ten Januarii 1752. Berlin 1752. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Signatur: 2“ Gu 12102. Nr. 70. 27 Jean-François Guillauté, Mémoire sur la Réformation de la Police en France. Soumis au Roy en 1749, hrsg. von Jean Seznec. Paris 1974. 28 Charles E. Kany, Life and Manners in Madrid 1750–1800. Berkeley 1932, 44. 29 Richard Twiss, Travels Through Portugal and Spain, in 1772 and 1773. London 1775, 140. 30 Minuta di rapporto, 6. 4. 1754, zit. bei Pietro Montanelli, Il movimento storico della popolazione di Trieste. Triest 1905, 105. 31 Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖStA): Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Hofkanzlei, III A 4 Niederösterreich, Kt. 375, 56 ex Mai 1753: Instruktion für die niederösterreichische Repräsentation und Kammer, 10. 5. 1753; IV M 1 Niederösterreich, Kt. 1326, 23 ex März 1754: Hofdekret an niederösterreichische Repräsentation und Kammer, 2. 3. 1754, f. 30v. 32 Ambrose Heal, The Numbering of Houses in London Streets, in: Notes and Queries 183, 1942, 100 f., hier 100. 33 Lars Behrisch, ‚Politische Zahlen‘. Statistik und Rationalisierung der Herrschaft im späten Ancien Régime, in: ZHF 31, 2004, 551–577, hier 566. 34 Michael Hochedlinger, Ein militärischer Bericht über die soziale und wirtschaftliche Lage Tirols im Jahr 1786. Zum Versuch der ‚militärischen Gleichschaltung‘ Tirols unter Joseph II (1784–1790), in: Tiroler Heimat 67, 2003, 221–259, hier 235.
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österreich die Hausnummerierung angeordnet.35 Kurz danach waren es 1768 die französischen Provinzstädte, in denen die Hausnummerierung zur Erleichterung der Militäreinquartierung eingeführt wurde. Paris war davon nicht betroffen, da dort Kasernen existierten, nur in den neuen Straßen rund um die ab 1762 errichtete Getreidemarkthalle fanden sich die Häuser nummeriert.36 1770 wurde die Hausnummerierung in den böhmischen und österreichischen Ländern der Habsburgermonarchie angeordnet, um ein neues Rekrutierungssystem vorzubereiten.37 Im selben Jahr erhielt in München der Maler Franz Gaulrapp den Auftrag, die vier Viertel der Stadt jeweils durchzunummerieren, eine Polizeimaßnahme, die gegen BettlerInnen und VagantInnen gerichtet war. Die Nummer wurde mit weißer Farbe auf die Haustür gemalt.38 Ein Jahr später folgte Mainz (alternatives Datum 1769): Den sechs Vierteln der Stadt wurden die Buchstaben A–F zugeordnet, die Häuser der Viertel durchnummeriert; der Sektionsbuchstabe sowie die Hausnummer (z. B.: Lit A 3) wurden über oder neben dem Eingang angebracht.39 In Paris wurden erstmals 1779 die Häuser (oder genauer: die Türen) nummeriert. Die Initiative dazu ging nicht von einer Behörde, sondern von einem Privatmann aus, nämlich Marin Kreenfelt de Storcks, Redakteur des „Almanach de Paris“. Um sein Adressbuch effizienter gestalten zu können, brauchte Kreenfelt die Adressierung mittels der Nummer. Nahm er zunächst die Nummern der Laternen zu Hilfe, verfiel er schließlich auf die Idee, selbst Hand anzulegen und malte die Nummern neben den Türen auf.40 Nachdem er seine Arbeit eingestellt hatte41, schickte 1787 der Autor der „Liaisons dangereuses“, Choderlos de Laclos, an das „Journal de Paris“ einen Vorschlag, wie denn in Paris die Häuser nummeriert werden könnten42, hatte damit jedoch keinen Erfolg.
35 ÖStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Kabinettsarchiv: Staatsratsprotokolle (StRP), Bd. 32 (1769/III), Nr. 2477: Ah. Resolution zu Vortrag der Hofkanzlei vom 30. 6. 1769, 20. 7. 1769; diese Resolution auch in ÖStA, Kriegsarchiv (KA), Hofkriegsrat Akten (HKR) 1769/89/398; 1770/74/161 N°4 sowie Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Hofkanzlei, VII A 4 Böhmen, Kt. 1964, 211 ex Oktober 1769, f. 70r–72r. 36 Pronteau, Numérotages (wie Anm. 15), 81 f.; Alfred Morin, Le Numérotage des Maisons de Troyes (intra-muros), de 1769 à nos Jours. Troyes 1983, 10 f. 37 Tantner, Ordnung der Häuser (wie Anm. 2). 38 Michael Schattenhofer, Bettler, Vaganten und Hausnummern, in: Oberbayerisches Archiv 109, 1984, 173–175, hier 173. 39 Friedrich Schütz, Rot und Blau – Die Einführung neuer Straßenschilder und Hausnummern 1849– 1858 in Mainz, in: Mainzer Zs. 94/95, 1999/2000, 301–315, hier 301; Karl Anton Schaab, Geschichte der Stadt Mainz, Bd. 2. Mainz 1844, 3, 347 f. 40 Pronteau, Numérotages (wie Anm. 15), 82–86; zu den Adressbüchern vgl. Bibliographie „Adresscomptoir. Nummern mit Mehrwert“, URL: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/4626957/ (Zugriff: 30. 01. 2015). 41 Louis-Sebastien Mercier, Tableau de Paris, Bd. 1. Paris 1994, 403. 42 Pierre-Ambroise-François Choderlos De Laclos, Projet de numérotage des rues de Paris, in: ders. Oeuvres complètes. Paris 1979, 597–600.
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In Augsburg erfolgte die Einführung der Hausnummerierung 1781 anlässlich der Sammlung für die Neue Armenanstalt, damit die Spendensammler klare Sammeldistrikte hatten. Den acht Stadtvierteln wurden die Buchstaben A–H zugeordnet und die Häuser viertelweise durchnummeriert. Die 52 im Bezirk G gelegenen Häuser der Fuggerei wurden extra nummeriert.43 Genf erlebte die Nummerierung 178244, das österreichisch beherrschte Mailand 178645, während die gleichzeitig in Ungarn geplante Einführung dieser Adressierungstechnik zunächst am Widerstand des Adels scheiterte. Schließlich war es dann die Französische Revolution, die einen weiteren Schub bei der Durchsetzung der Hausnummern mit sich brachte und ihre europaweite Bedeutung auch in dieser Hinsicht beweisen sollte: Im Zuge der Revolutionskriege wurde die Hausnummerierung in vielen Städten Deutschlands, der Schweiz46 und der Niederlande47 eingeführt. Erwähnt werden können u. a. Aachen 179448 und Nürnberg 1796. Bekannt ist auch die Anekdote aus Köln, die oft zitiert wird, um den Markennamen 4711 für das Kölnisch Wasser zu erklären. Gemäß dieser Anekdote wurde 1794 anlässlich der französischen Besetzung das spätere Haus des Duftwasserproduzenten Mülhens mit der Hausnummer 4 711 bedacht (Abb. 2); tatsächlich war in Köln die Nummerierung bereits wenige Tage vor dem Einmarsch der französischen Truppen beschlossen worden, Letztere führten sie dann durch.49 Auch in Paris war – wie in anderen französischen Städten – nach der Revolution in Zusammenhang mit der Einhebung einer Grundsteuer 1790 ein neues System der Hausnummerierung eingeführt worden, das allerdings nicht so wie Kreenfelts Methode straßenweise vorging, sondern stadtteilweise.50
43 Franz Häußler, Acht Stadtviertel durchnummeriert. Litera-Zahlen galten bis 1938. Straßennamen zweitrangig, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 12. 9. 2000, 29; Paul von Stetten, Beschreibung der Reichs-Stadt Augsburg, nach ihrer Lage jetzigen Verfassung, Handlung und den zu solcher gehörenden Künsten und Gewerben auch ihren anderen Merkwürdigkeiten. Augsburg 1788, 8 f., 13, 91 f. 44 Marco Cicchini, A New ‚Inquisition‘? Police Reform, Urban Transparency and House Numbering in Eighteenth-Century Geneva, in: Urban Hist. 39, 2012, 614–623. 45 Olivier Faron/Alain Pillepich, Rue, îlot, quartier. Sur l’identification des espaces citadins à Milan au début du XIXe siècle, in: Mélanges de l’École Française de Rome. Italie et Méditerranée 105, 1993, 333–348, hier 338–341. 46 Basel z. B. 1798: Schattenhofer, Bettler (wie Anm. 38), 174. 47 Hier wurde, nachdem bereits 1794 einige Orte nummeriert worden waren, die Nummerierung 1807 verpflichtend eingeführt, vgl. R. Wartena/G. Velthorst, De Huisnummering in de Gemeente Wisch 1794–1952, in: Nederlands Archievenblad 85, 1981, 333–348; Gerard Otten, De Huisnummering in de huidige Gemeente Breda, in: Jaarboek de Oranjeboom 65, 2012, 110–167. 48 Carl Ganser, Die Wirkungen der französischen Herrschaft, Gesetzgebung und Verwaltung auf das Aachener Wirtschaftsleben. Diss. phil. Tübingen 1922, 27, URL: http://sylvester.bth.rwth-aachen.de/ dokumente/2002/002/02_002.pdf (Zugriff: 30. 01. 2015). 49 Benedikt Goebel, 4711. Kurze Geschichte der Hausnummerierung, in: Daniel Tyradellis/Michal S. Friedlander (Hrsg.), 10+5=Gott. Die Macht der Zeichen. Köln 2004, 198; Die Nummerierung von 1794: URL: http://history.eau-de-cologne.com/?p=295 (Zugriff: 30. 01. 2015). 50 Pronteau, Numérotages (wie Anm. 15), 87–92, 229–231.
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Abb 2: 4711, die Hausnummer der Kölnisch Wasser.
Relativ spät führte Berlin die Hausnummerierung ein. Hier wurde – nach einer Initiative des Polizeipräsidenten Johann Philipp Eisenberg – 1799 angeordnet, die Häuser straßenweise zu nummerieren.51 In Venedig wiederum wurden im Jahr 1801, während der ersten habsburgischen Herrschaft (1797–1805), die Häuser viertel- bzw. „sestiere“-weise nummeriert.52 Es zeigt sich demnach deutlich, dass die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts einen europaweiten Triumph der Hausnummer mit sich bringt, womit auch Kosellecks Annahme einer ‚Sattelzeit‘ eine klare Bestätigung findet. Der Erosion feudaler Abhängigkeitsverhältnisse, der von Marx beschriebenen „Expropriation des Landvolks von Grund und Boden“53 mit ihrer Freisetzung einer Masse von vagabundierenden Subjekten versuchen die Behörden mit neuen Methoden der Adressierungstechnik zu antworten. In diesen Zusammenhang zählt nicht nur die Schaffung eines staatlichen Systems des Zugriffs auf die Häuser, sondern auch die Durchsetzung eines einheitlichen Systems von Familiennamen, die nur mehr in gesetzlich geregelten Fällen geändert werden dürfen.
51 Umfassend zur Geschichte der Hausnummerierung in Berlin: Wittstock, Ziffer (wie Anm. 2). 52 Giulio Zorzanello, Il centocinquantesimo anniversario della numerazione delle case di Venezia. Note sulla toponomastica veneziana, in: Ateneo Veneto 29, 1991, 307–337, hier 307–310. 53 Marx, Kapital (wie Anm. 22), 744.
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4 Methoden der Nummerierung Folgende Methoden der Hausnummerierung können voneinander unterschieden werden:54 1. Ortschaftsweise: Diese wurde zum Beispiel in der Habsburgermonarchie angewandt. Ausgehend von einem Haus beim Ortseingang oder einem Herrschaftssitz (zum Beispiel die Hofburg in Wien) wurde von eins an durchnummeriert, bis das zuletzt nummerierte Haus die höchste Nummer bekam, was in Städten zu recht hohen, manchmal vierstelligen Nummern führte, deren Auffinden nur dann einigermaßen gewährleistet war, wenn dazu der Straßenname angegeben wurde. 2. Viertelweise: In Städten wie Mainz, Augsburg oder Nürnberg wurde den einzelnen Stadtvierteln jeweils ein Buchstabe zugewiesen und innerhalb der Stadtviertel die Häuser durchnummeriert. Zusätzlich zur Nummer wurde oft der Buchstabe des Viertels an die Häuser angebracht. So erhielten zum Beispiel in Nürnberg, wo die Nummerierung 1796 auf Druck der französischen Besatzungsmacht zur Erleichterung der Militäreinquartierung durchgeführt wurde, die Häuser der beiden Stadtteile Sebalder und Lorenzer Stadtseite die Hausnummern S1–S1706 bzw. L1–L1578 auf die Fassade aufgemalt.55 3. Blockweise: Seltener als die beiden bislang genannten Methoden fand diese Nummerierung Anwendung, das heißt die Vergabe einer Zahlen/Buchstabenkombination an einen Häuserblock und die darauf folgende Nummerierung der Häuser dieses Blocks. In Madrid zum Beispiel wurde 1750/1751 jedem von Straßen umgebenen Häuserblock (‚Manzana‘ genannt, Abb. 3) eine eigene Nummer zugeordnet, worauf die Häuser innerhalb des Blocks durchnummeriert wurden. Zum Auffinden einer Adresse mussten demnach Straßenname, Nummer des Blocks sowie Nummer des Hauses im Block bekannt sein.56 In der Innenstadt von Mannheim ist ein ähnliches System, bei dem jedem Häuserblock ein Buchstabe und eine Zahl zugewiesen wird (zum Beispiel: A1 oder U6) bis heute in Gebrauch. 4. Straßenweise ‚Hufeisennummerierung‘: Eine durchgehende jeweils mit eins beginnende Nummernreihe wird pro Straße vergeben. Sie führt auf der einen Straßenseite hinauf und auf der anderen Straßenseite hinunter, bis das Haus mit der höchsten Nummer innerhalb einer Straße dem mit der niedrigsten gegenüber stand. Diese Methode verwendete Kreenfelt de Storcks in den 1770er Jahren in
54 Vgl. auch folgende Auflistungen der Methoden: Ch. Merruau, Rapport sur la nomenclature des rues et le numérotage des maisons de Paris. Paris [1860], 47–51; Catherine Farvacque-Vitkovic u. a., Street Addressing and the Management of Cities. Washington 2005, 146–162; Wittstock, Ziffer (wie Anm. 2), 84–148. 55 [Wiltrud] Fischer-Pache, Hausnumerierung, in: Stadtlexikon Nürnberg (Deutschland), zugänglich über www.nuernberg.de/internet/stadtarchiv/ (Zugriff: 30. 01. 2015). 56 Kany, Life and Manners (wie Anm. 28), 44.
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Abb. 3: Beispiel für Manzana-Nummerierung in Madrid.
Paris. In Berlin wurde sie 1799/1801 übernommen und ist dort in vielen Straßen bis heute in Verwendung. 5. Die wechselseitige oder ‚Zick-Zack‘-Nummerierung: Bei diesem System werden die Nummern auch straßenweise vergeben, jedoch werden die Häuser der einen Straßenseite nur mit geraden, die der anderen Seite nur mit ungeraden Zahlen nummeriert. Vermutlich wurde dieses System erstmals im Jahr 1790 in der damaligen Hauptstadt der USA, Philadelphia, durch den US Marshal Clement Biddle im Rahmen einer Volkszählung verwendet.57 In den darauffolgenden Jahren verbreitete sich dieses System in weiteren US-Städten. 1805 wurde es in Paris und daraufhin in vielen Städten Europas eingeführt. In Wien geschah dies erst 1862, dort wurde diese Methode ‚Orientierungsnummerierung‘ genannt. 6. Das block decimal system: Auch dieses wurde erstmals in Philadelphia angewandt; ab 1856 wurden hier für die Häuser jedes Häuserblocks einer Straße 100 Nummern reserviert, ab der nächsten Querstraße begann die Nummerierung mit der nächsten Hunderterstelle, weswegen auch vier- bzw. fünfstellige Hausnummern vorkommen. Dieses System wurde als Philadelphia-System bekannt.58 7. Das ‚metrische‘ System: Bei diesem wird die einem Haus zu vergebende Nummer nach der Entfernung des Hauses von einem festgelegten Nullpunkt aus bestimmt. Die bereits um 1800 konzipierte Numérotation métrique wird heute in manchen französischen Gemeinden verwendet. Ein ähnliches System ist auch in Lateinamerika zu finden.59
57 Rose-Redwood, Indexing (wie Anm. 2), 292. 58 Ebd., 300. 59 Farvacque-Vitkovic, Street Addressing (wie Anm. 55), 148.
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5 Widerstand, Diskriminierung und Aneignung Es wundert nicht, dass die zunächst vorwiegend militärische und fiskalische Verwendung der Hausnummern zu Misstrauen gegenüber dieser Kulturtechnik führte.60 Menschen, die mit Hausnummern nicht vertraut waren, konnten mit Entsetzen reagieren, wie zum Beispiel aus den Lebenserinnerungen des Schweizers Ludwig Meyer von Knonau ersichtlich ist. Dieser reiste im April 1789 mit seinem Freund Salomon Wyß zur Universität Halle und musste dabei berichten: „Als wir […] das österreichische Gebiet betraten, […] befiel uns eine Art von Schauer bei dem Anblicke der Nummern an den Häusern, die uns ein Symbol der unentweglich über die Besitzung des Privatmannes sich ausdehnenden Hand des Herrschers schienen.“61 Folgerichtig rief die Hausnummerierung mancherorts Widerstand hervor: Das „Volck“ betrachtete die neuen Nummern als Symbole des Staats und wehrte sich gegen diese. So wurden in Litomyšl in Böhmen vermutlich in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1770 die eben erst an den Wänden von 14 Häusern angebrachten Nummern „theils mit Koth verschmehret, theils aber mit einem Eysernen zeig ausgekratzet“.62 Die Nummerierung erscheint als brutaler Akt angesichts des Umstands, dass es doch Aufgabe des Hauses ist, vor der Welt zu schützen, indem es eine Trennung von ebendieser herstellt. Das Haus ist nach der Bekleidung eine Art von dritter Haut des Menschen, eine „kollektive Bekleidung“.63 Etymologisch gesehen hat Haus „den allgemeinsten sinn eines mittels zum bergen, eines unterschlupfs“.64 Die am Haus angebrachte Nummer beeinträchtigt genau diese Schutzfunktion, da sie nicht zuletzt ein Hilfsmittel dafür war, auf die im Haus wohnenden wehrfähigen Männer zuzugreifen und diese zum Militär zu rekrutieren, ohne dass die staatlichen Behörden auf die Lokalkenntnisse zum Beispiel grundherrschaftlicher Beamter angewiesen waren. Die Nummer macht das Haus in den Verzeichnissen der Militärverwaltung sichtbar; das Auskratzen der Nummer versucht die Sichtbarmachung des Hauses rückgängig zu machen. Diese Verstümmelung des Hauses als erweiterter Hülle des Subjekts kann verglichen werden mit der noch drastischeren Selbstverstümmelung,
60 Vgl. Anton Tantner, Nummerierung. Auf den Spuren einer ambivalenten Kulturtechnik, in: Merkur 785, 2014, 939–945. 61 Ludwig Meyer von Knonau, Selbstbiographie Ludwig Meyer’s von Knonau In den Jahren 1789–1797, in: Zürcher Taschenbuch 2, 1859, 1–71, hier 3 f. 62 Národní Archiv, Prag (NA), České Gubernium (ČG)-Militare (Mil), 1763–1783, Q 7, Kt. 273: Chrudimer Kreisamt an böhmische Konskriptionskommission, 15. 12. 1770. 63 Hubert Wank, Flüchtige Behausung, in: Wilhelm Berger/Klaus Ratschiller/ders., Flucht und Kontrolle. Beiträge zu einer politischen Philosophie der Bewegung. Berlin 1996, 95–120, hier 107 f. 64 Art. Haus, in: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10: H-Juzen. München 1991 [1877], 640–651, hier 640.
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einer Maßnahme, die Burschen im wehrfähigen Alter anwandten, um sich dem Dienst beim Militär zu entziehen. Sie verstümmelten sich das Daumengelenk, um für den Gebrauch der Waffe untauglich zu werden oder brachen sich ihre Zähne aus, um nicht mehr dazu fähig zu sein, die Papierpatronen abzubeißen. Zähne und Finger, die den Subjekten durch deren militärische Indienstnahme gleichsam enteignet wurden, sollten somit den Behörden wieder entzogen werden. Auf ähnliche Weise wurde die Schutzfunktion der Wand des Hauses als Ausweitung des Körpers wiederhergestellt, indem die Nummer gewaltsam entfernt wurde. Gewalt gegen den eigenen Körper, Gewalt gegen das Haus – gegen die neue Adressierungsmacht im Dienste des Staates erscheinen nur noch Praktiken der Autoaggression möglich. Von Widerstand gegen die Hausnummerierung wird auch aus Genf berichtet: Nachdem dort zwei Maler die stadtteilweise vergebenen Nummern auf die Häuser aufgemalt hatten, wurden vom 21. auf den 22. Oktober 1782 trotz nächtlicher Militärpatrouillen beinahe 150 Nummern ausgelöscht; eine Verdächtige namens Françoise Jouard gab in ihrem Verhör an, sie habe die Nummer als „inquisition“ wahrgenommen.65 Besonders stark war der Unmut in Ungarn. Als dort wie bereits zuvor 1770 in den westlichen Provinzen der Habsburgermonarchie die Nummerierung zusammen mit dem Konskriptionssystem 1784 eingeführt werden sollte, war der habsburgische Herrscher Joseph II. zunächst noch zuversichtlich, dass der ungarische Adel sich kooperationsbereit zeigen würde: „Es versteht sich, dass alle Honoratiores, Nobiles auch Magnaten, wer es immer ist, keine Scheu tragen müssen, dass sie mit ihrer Familie aufgezeichnet und ihre Schlösser numerotirt werden, da es selbst die Kaiserliche Burg ist.“66 Es kam jedoch anders. Die Stände traten offen gegen die Volkszählung und ihre Kommissare auf. Einige der Beamten wurden aus den Dörfern hinausgeprügelt. Im Veszprémer Komitat wurde ein Offizier ermordet, ein anderer mit Wasser angespritzt. Letzterer musste versprechen, nie mehr wieder den Bezirk zu betreten. Zwar konnte die Konskription dann unter Einsatz von Militär 1786 beendet werden, doch führten insbesondere die während des Kriegs gegen das Osmanische Reich 1788 gestellten hohen Rekrutenforderungen zu vermehrtem Widerstand, so dass Joseph II. im Januar 1790 das neue Rekrutierungssystem zurücknehmen musste. Auch die Hausnummern waren davon betroffen. Bei gleichzeitigem Spielen der Militärmusik und Abfeuern von Geschützen wurden sie von den Häusern entfernt.67 Es sollte mehr als zehn Jahre dauern, bis 1802 die Nummern samt einer Konskription in Ungarn wieder eingeführt werden konnten.68
65 Cicchini, Inquisition (wie Anm. 44), 620. 66 Gusztáv Thirring, Magyarország Népessége II. József korában. [Die Bevölkerung Ungarns zur Zeit Josefs II.]. Budapest 1938, 145 (ah. Handbillet Brief Josephs II. an Ferenz Esterhazy, 1. 5. 1784). 67 Paul von Mitrofanov, Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit, Bd. 1. Wien 1910, 385–389; Gustave Thirring, Les recensements de la population en Hongrie sous Joseph II (1784–1787), in: Journ. de la Soc. Hongroise de Statistique 9, 1931, 201–247, hier 207–214. 68 Hedviga Hudáková, Bratislava, mapa z roku 1820. 2. A. Bratislava 1989, Begleittext, 13.
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Noch im 21. Jahrhundert lässt sich derlei Widerstand feststellen, zum Beispiel im US-Bundesstaat West Virginia: Dort waren bis 2001 in ländlichen Regionen zumeist nur die Briefkästen nummeriert, die oft genug weit weg von den eigentlichen Häusern standen und keinerlei Auskunft über deren Lage gaben. Das in diesem Jahr neu beschlossene Hausnummernsystem wurde mit dem Argument der Sicherheit propagiert und nach der Notrufnummer 911 auch als 911 addressing system bezeichnet. Manche HauseigentümerInnen waren keineswegs glücklich über den Erhalt einer neuen Nummer und bedrohten die mit der Nummerierung betrauten BeamtInnen mit Schrotflinten und Macheten. Die HausbesitzerInnen betrachteten den Erhalt einer neuen Nummer als Eingriff in ihr Eigentum und Angriff auf ihre Identität und sahen – wie Ida Starks, Einwohnerin von Marion County, in einem 2007 verfassten Leser innenbrief – ob der neuen Nummer die Ankunft des Kommunismus dräuen: „What about our history? This house number means something to me and my family. It means stability, history of both family and community. It means that my work through the years has established my family. Have we become so communist that ownership means nothing? What will they dictate to us next?“69 Hausnummern als Indiz für das Herannahen einer Gesellschaft der Freien und Gleichen? Auch der Unwillen der ungarischen Adligen scheint diese Tendenz zu bestätigen. Doch muss betont werden, dass Hausnummern auch als Mittel der Diskriminierung verwendet werden konnten, wie auf besonders perfide Weise die Beamten in der Habsburgermonarchie bewiesen. Dort bekamen bei der Nummerierung von 1770 die sog. ‚Juden Häuser‘ – Häuser, deren Eigentümer Juden waren, was im Wesentlichen nur in den böhmischen Ländern möglich war – an Stelle der sonst verwendeten „teutschen“, also arabischen Ziffern „römische“, lateinische Zahlenzeichen verpasst70, womit die scharfe Trennlinie, die zwischen den christlichen und jüdischen ‚Seelen‘ gezogen war, noch einmal unterstrichen wurde. Auch nach der josephinischen Toleranzgesetzgebung und der damit verbundenen Abschaffung der Judenkennzeichen71 blieben bis ins 19. Jahrhundert hinein die Hausnummern mit römischen Zahlenzeichen in Verwendung, um ‚jüdische Häuser‘ zu markieren.72
69 Reuben Rose-Redwood, With Numbers in Place. Security, Territory, and the Production of Calculable Space, in: Annals of the Association of American Geographers 102, 2012, 295–319, hier 311. 70 Vgl. z. B. ÖStA, KA, HKR 1770/74/861: Nota des Hofkriegsrats an die Hofkanzlei, 5. 11. 1770. 71 Tobias Jakobovits, Die Judenabzeichen in Böhmen, in: Jb. der Ges. für Gesch. der Juden in der Čechoslovakischen Republik 3, 1931, 145–184, hier 170 ff. 72 ÖStA, KA, Militärhofkommission Nostitz-Rieneck, Kt. 11, Fasz. VII/15: Entwurf, 1792, f. 67r; Adolf Ficker, Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich. Gehalten in dem vierten und sechsten Turnus der statistischadministrativen Vorlesungen, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17, 1870, 1–142, hier 11, Anm. 2 (Patent 25. 10. 1804); vgl. auch folgende Autobiographie: Ignaz Briess, Schilderungen aus dem Prerauer Ghettoleben vom Jahre 1838–1848 mit Streiflichtern bis an die Gegenwart und Jugenderinnerungen eines 78jährigen. 2. Aufl. Brünn 1912, 9.
Vom Hausnamen zur Hausnummer: Die Adressierung des Hauses
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Der Erfolg der Hausnummern zeigt sich unter anderem daran, dass die Verbreitung dieser Adressierungstechnik auch in der Gegenwart immer mehr zunimmt. In den letzten Jahren wurden sie zum Beispiel in Seoul und in Addis Abeba eingeführt. So selbstverständlich erscheinen sie, dass ihr Fehlen Unglauben auslöst und die Bedenken, die diese bei ihrer Einführung begleiteten, heute auf den ersten Blick kaum mehr nachvollziehbar erscheinen. Der Grund für diese Akzeptanz liegt wohl darin, dass die Bevölkerung es verstand, sich die ursprünglich rein staatliche Adressierungstechnik für ihre eigenen Zwecke anzueignen. Etwa für die Angabe von Adressen in Briefen, bei Annoncen in Zeitungen oder für die private Orientierung in unbekannten Gegenden, die nun ohne das Fragen von Auskunftspersonen und somit in größerer Anonymität erfolgen konnte.
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Häuserromane In seiner Schrift „Der Familienroman der Neurotiker“ von 1909 skizziert Sigmund Freud, wie der Ablösungsprozess des Kindes von seinen Eltern von einer Fülle von Tagträumen und Phantasien begleitet wird: „Um die angegebene Zeit beschäftigt sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe, die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) ausgenützt.“1 In Freuds Wortwahl ‚Familienroman‘ klingt die literarische Qualität der Wünsche an, erinnern sie doch an den Aschenputtelmythos mit seiner Enthüllung der königlichen Abkunft der verachteten Magd. Aufschlussreich an der knappen Charakterisierung der Phantasien sind die Beispiele, mit denen Freud die ‚wirklichen Erlebnisse‘ spezifiziert, denn die ‚Bekanntschaft des Schlossherrn oder Gutbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt‘ ist ein Topos der europäischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Inszenierung dieser Annäherung zwischen Ungleichen ist wiederum eng mit der Imaginationsgeschichte des Hauses verbunden, insofern die Einlass begehrenden HeldInnen zunächst die Grenzen des Hauses überwinden müssen, um ‚der Fürstlichkeit‘ zu begegnen. Im Folgenden wird anhand des literarischen Genres ‚Häuserroman‘ die Frage verfolgt, wie sich die für das 19. Jahrhundert beschriebene Verdichtung und Verflechtung von Verwandtschaftsstrukturen (David Sabean) in der Romanliteratur darstellt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Häuser bei Autoren wie Stendhal, Gustav Freytag, Theodor Fontane und Franz Kafka vielfach aus der Außenperspektive beschrieben werden, führt der erste Abschnitt vor, dass die Bewegung ins Haus und die räumliche Positionierung der Figuren eine dynastische Dimension haben. Die historische Semantik des Hauses zeigt also, dass obwohl die Wortbedeutung des Hauses im 19. Jahrhundert um die semantische Komponente der Dynastie verkürzt und auf das ‚Wohnhaus‘ verknappt wird2, in der Literatur eine vielschichtige Semantik erhalten bleibt. Das literarische Haus ist Gebäude und dynastische Fügung in einem. Der zweite Abschnitt stellt mit ‚Hausbuch‘ und ‚Familienroman‘ zwei Genrebezeichnun-
1 Sigmund Freud, Der Familienroman der Neurotiker, in: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. 7. Aufl. Bd. 4. Frankfurt am Main 1970 [1909], 223–226, hier 224. Einige Textpassagen des vorliegenden Beitrags sind identisch mit Nacim Ghanbari, Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. Berlin 2011 und dies., Dynastisches Spiel. Theodor Fontanes ‚Vor dem Sturm‘, in: Deutsche Vjschr. für Literaturwissenschaft und Geistesgesch. 85, 2011, 186–207. 2 Vgl. Saskia Haag, Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 2012, 11–13.
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gen vor, die in der Literaturwissenschaft verwendet werden, um ‚familienbezogene‘ Texte zu klassifizieren. Die Bezeichnung ‚Häuserroman‘ wird als benachbarter Begriff definiert, der – wie im ersten und dritten Abschnitt ausgeführt – aufschlussreiche Textbeobachtungen zur Semiotik sozialer Reproduktion sowie zum Verhältnis von Architektur und Anthropologie ermöglicht.3 Der dritte Abschnitt stellt die Bedeutung des Hauses als genealogische und ökonomische Einheit in den Vordergrund. Zahlreiche Autoren sind mit der Geschichte von Familienunternehmen befasst, um auf diese Weise moderne Dynastien in Szene zu setzen. Als beispielhaft gilt hierbei Otto Stoessls Roman „Das Haus Erath“, der sich Thomas Manns „Buddenbrooks“ als Vorlage bedient. Anhand des Motivs der ehelosen Schwester lässt sich nachverfolgen, wie die ‚endogame‘ Form der Kontinuitätssicherung feminisiert, die ‚exogame‘ hingegen an die Figur des aufgrund seiner Verdienste ausgewählten Schwiegersohns geknüpft wird. Hier zeigen sich Parallelen zwischen deutschsprachigen Häuserromanen und englischen gothic novels, die ebenfalls – man denke an Horace Walpoles „The Castle of Otranto“ – die Schwestern und Töchter ‚im Haus‘ einschließen und gleichzeitig als Wächterinnen positionieren. Am Schluss verbindet ein kurzer Ausblick Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, indem der Zusammenhang von Häuserromanen und Sozialanthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgezeigt wird.
1 Vor dem Haus Der europäische Romanheld steht und wartet buchstäblich und metaphorisch vor dem Haus. Die Urszene dieser Situation findet sich in Stendhals „Le Rouge et le Noir“, in dem das Haus des Bourgeois Rênal vom jugendlichen Julien Sorel als Festung vorgestellt wird, die es durch strategische Raffinesse einzunehmen gilt.4 In der deutschen Literatur, auf der im Folgenden der Schwerpunkt der Darstellung liegen wird, wird das Motiv aufgegriffen, variiert und verwandelt: Gustav Freytags „Soll und Haben“ erzählt die Geschichte der beiden Waisenknaben Anton Wohlfart und Veitel Itzig anhand einer gemeinsamen Reise, die vor dem Haus ihrer jeweiligen Herren zum vorläufigen Ende kommt. Die Geschichte ist antisemitisch grundiert, wird doch die Ankunft des jüdischen Knaben Veitel Itzig als Persiflage der Ankunft Anton Wohlfarts erzählt: Anton kommt noch am hellen Tag an – Veitel
3 Vgl. hierzu auch Susan Bernstein, Housing Problems. Writing and Architecture in Goethe, Walpole, Freud, and Heidegger. Stanford 2008. 4 „– Serais-je un lâche? se dit-il, aux armes! Ce mot, si souvent répété dans les récits de batailles du vieux chirurgien, était héroïque pour Julien. Il se leva et marcha rapidement vers la maison de M. de Rênal. Malgré ses belles résolutions, dès qu’il l’aperçut à vingt pas de lui, il fut saisi d’une invincible timidité. La grille de fer était ouverte, elle lui semblait magnifique, il fallait entrer là-dedans.“ (Stendhal, Le rouge et le noir. Œuvres complètes, Bd. 1/1. Genf 1986 [1830], 45)
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fast schon bei Nacht; Anton biegt in eine prunkvolle Hauptstraße ein – Veitel in eine schmutzige Gasse; Anton tritt durch ein Tor und muss sich durch die Betriebsamkeit des Geschäfts durchwühlen – Veitel nimmt die unsauberen Treppen, muss jedoch vor der Haustür auf den Treppen warten und widmet sich seinen Tagträumen.5 Freytags „Soll und Haben“ exponiert mit den beiden Ankunftsszenen die kontrastreiche Ausgangslage der beiden Helden und die Unterschiede der Milieus, in denen sie sich bewegen werden. Als zweites Beispiel sei Theodor Fontanes „Vor dem Sturm“ genannt. Das erste Kapitel des Romans beginnt mit einer Kutschenfahrt und endet mit der Ankunft des Helden Lewin von Vitzewitz in der märkischen Heimat und seinem Eintreten „in die Halle seines väterlichen Hauses“.6 Das daran anschließende Kapitel beginnt mit der Geschichte des Schlosses Hohen Vietz, auf das der Name und die Gründung des Hauses zurückgehen: „Hohen Vietz war ursprünglich ein altes, aus den Tagen der letzten Askanier stammendes Schloß mit Wall und Graben und freiem Blick ostwärts auf die Oder.“7 Die Aufeinanderfolge der ersten beiden Kapitel suggeriert, dass Lewin in das Schloss seiner Vorväter tritt. Damit stellt der Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel eine Verbindung zwischen Dynastie und Stammschloss her, die – wie im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels deutlich wird – schon lange nicht mehr gegeben ist. Denn das Schloss Hohen Vietz wird im Dreißigjährigen Krieg zerstört und zwingt die Vitzewitzes, „am Nordrande des sich hier hinziehenden alten Wendendorfes, ein einfaches Herrenhaus herzurichten. Dies war 1634“.8 Bei diesem einfachen Herrenhaus handelt es sich um ein „Fachwerkhaus, lang, niedrig, mit hohem Dach“.9 Die stolze Halle, in die Lewin tritt, ist erst nachträglich als Anbau an das ursprüngliche Herrenhaus angegliedert worden: „Dieser Anbau, eine einzige mit Emporen, Wappen und Hirschgeweihen geschmückte Halle, richtete das Gemüt des alten Rochus [von Vitzewitz, N. G.], der eine hohe Vorstellung von den Repräsentationspflichten seines Hauses hatte, wieder auf und gemahnte ihn an alte gastliche Zeiten.“10 Der Ausbauprozess wird durch Rochus’ Sohn, Matthias von Vitzewitz, fortgesetzt, der wiederum „zur Aufführung eines schloßartigen, mit breiter Treppe und hohen Stuckzimmern
5 „Veitel setzte sich auf die Treppe und sah mit starrem Blick auf das Messingschild und die weiße Tür, bewunderte die abgeschrägten Ecken der Messingplatte und versuchte sich vorzustellen, wie der Name Itzig auf einer ebensolchen Platte an einer ähnlichen weißen Tür aussehen würde.“ (Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. München 1977 [1855], 46) Einen guten Forschungsüberblick über die Motivgeschichte des Hauses in der Literatur bietet Monika Shafi, Housebound. Selfhood and Domestic Space in Contemporary German Fiction. Rochester 2012, 8–17. 6 Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, in: ders., Werke, Schriften und Briefe, hrsg. von Helmuth Nürnberger. 3. Aufl. Bd. 1/3. München 1990 [1878], 14. 7 Ebd., 15. 8 Ebd., 16. 9 Ebd. 10 Ebd., 17.
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reichausgestatteten Renaissanceneubaues [schreitet], der, mit dem ärmlichen Fachwerkhaus parallel laufend, einen hufeisenförmigen Gebäudekomplex herstellte, in dem die ‚Banketthalle‘, der mehrgenannte Saalanbau des alten Rochus, die verbindende Linie war“.11 Entworfen wird weniger das Bild eines majestätischen denn grotesken Bauwerks, in dem sich Fachwerkhaus und Renaissancebau gegenüberstehen: dort das niedrige Gebäude, das sich in die Länge zieht, hier ein Gebäude mit hohen ‚Stuckzimmern‘. Deplatziert wirkt im Gesamtkomplex auch der repräsentative Raum, der die Wappen des Hauses ausstellt. Weit davon entfernt, ein Ort der Andacht zu sein, von dem die übrigen Zimmer wie von einem Zentrum aus abgehen, erweist sich der vermeintliche ‚Saal‘ als Korridor, der lediglich die beiden ungleichen Bauwerke als Mittelglied verbindet. Als das Anwesen, Produkt eines mehrfachen Aus- und Umbaus, einem Feuer zum Opfer fällt, ist es der Saalanbau, der vollständig abbrennt, während als Rest das ursprüngliche Fachwerkhaus übrig bleibt. Der synkretistische, fragile Charakter des Hohen Vietz’schen Herrenhauses ist vergleichbar mit den architektonischen Entwürfen Wilhelm Heinrich Riehls, dessen Bauwerk der Zukunft eine Mischung aus Bauernhaus und städtischem Patrizierhaus darstellt, in dem die offene Galerie als das Kennzeichen des letzteren an das Bauernhaus angebaut wird. Wie Saskia Haag in ihrer einschlägigen Studie über Haus und Literatur im 19. Jahrhundert ausführt, lassen die literarischen architektonischen Entwürfe einen Prozess der Fragmentierung, des Umbaus, der ‚Inversion‘ der als repräsentativ gedachten Hausfassade ins Innere und der damit einhergehenden Feminisierung des Interieurs erkennen.12 Es ist ein wichtiges Kennzeichen dieses Prozesses, dass einzelne Bauelemente des Hauses aus dem symbolischen Gefüge herausgelöst und als ‚flüssige‘ und ‚durchlässige‘ Größen vorgestellt werden. Da das Haus von Grund auf erodiert13 und seine äußeren Grenzen gefallen sind, werden idyllische Enklaven innerhalb des Hauses imaginiert: Riehl knüpft seine Hoffnung eines ideellen Wiederaufbaus des ‚ganzen Hauses‘ an die bauliche Restauration des Erkers: Als eine offene räumliche Ausbuchtung des Saals erlaubt er den Einzelnen, gleichzeitig ab- und zugewandt zu sein.14 Außerhalb des Hauses und dennoch darauf bezogen
11 Ebd., 20 f. 12 Haag, Auf wandelbarem Grund (wie Anm. 2). 13 Vgl. hierzu insbes. die Abschnitte „Flüssige Fundamente“ und „In die Horizontale“, ebd. 14 „Das architektonische Symbol für die Stellung des Einzelnen zur Familie war im alten Hause der Erker. Im Erker, der eigentlich zum Familienzimmer, zur Wohnhalle gehört, findet der Einzelne wohl seinen Arbeits-, Spiel- und Schmollwinkel, er kann sich dorthin zurückziehen: aber er kann sich nicht abschließen, denn der Erker ist gegen das Zimmer offen. So soll auch der Einzelne zur Familie stehen, und nach diesem Grundgedanken des Erkers müßte von Rechts wegen das ganze Haus konstruiert sein.“ (Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik. 11. Aufl. Bd. 3. Stuttgart 1897 [1855], 187).
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existieren wiederum Miniaturhäuser in Form von Gartenlauben. Die grün überdachte Laube scheint der Idee einer ‚Urhütte‘ am nächsten zu kommen.15 Der zentrifugalen Architektur der Häuser entspricht die buchstäbliche Marginalisierung des Hausvaters, wenn er seinen Sitz im Herrenzimmer verlässt, sich vor die Haustür begibt und kaum mehr von einem Pförtner unterscheiden lässt.16 Diese ‚Conciergification‘ (Heimito von Doderer) der Hausbewohner ist an der Vielzahl der literarischen Figuren abzulesen, die sich auf der Schwelle zum Haus aufhalten – als um Aufnahme Bangende und ängstliche Wächter.17 Mitunter scheint die gesamte literarische Handlung vor der Haustür stattzufinden. In Franz Kafkas „Das Schloß“ folgt einer solchen Exposition die Bewegung ins Innere, die mit einer finalen Grenzverletzung im Haus endet.18 Die Versetzung der Hausangehörigen vor die Tür begünstigt schließlich die semantische Verbindung von ‚Haus‘ und ‚Weib‘, wie Haag anhand von Riehls „Die Familie“ und Jacob von Falkes „Die Kunst im Hause“ belegen kann: Von allen verlassen und ihrer öffentlichen sowie repräsentativen Funktionen beraubt, fallen die Zimmer durch ‚Leerheit‘ auf, die es zu füllen oder zumindest zu verdecken gilt; die verödeten Räume harren der Wiederbelebung. Diese Aufgabe wird wiederum ‚dem Weibe‘ zugesprochen: „Häuslichkeit erscheint so als Derivat des verlorenen Hauses. […] Wo die verbindlichen Bezüge zu einer männlich definierten Außenwelt wegfallen, soll die Frau von innen her den Raum beleben.“19 Aus dem bisher Gesagten folgt, dass die zahlreichen Handelshäuser, Schlösser, Bauruinen und Wohnungen keineswegs nur als Kulissen für die Romanhandlung anzusehen sind. Jan-Dirk Müllers bekanntes und auf „Melusine“ gemünztes Diktum „Held ist das Haus“20 ist auch für die deutschen Romane des 19. Jahrhunderts gültig: Ricarda Huchs „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“, Theodor Fontanes „Der Stechlin“ und Eugenie Marlitts „Im Hause des Kommerzienrates“ erzählen von genealogischer Kontinuität – es sind stets dynastische Konstellationen, deren Fragilität und Persistenz das narrative Spiel vorantreibt. Neben dem unverkennbaren
15 Vgl. Joseph Rykwert, Adams Haus im Paradies. Die Urhütte von der Antike bis Le Corbusier. Berlin 2005; Haag, Auf wandelbarem Grund (wie Anm. 2), 191 f. 16 Saskia Haag, Zentrifugale Architekturen – Adalbert Stifters Häuser, in: Deutsche Vjschr. für Literaturwissenschaft und Geistesgesch. 85, 2011, 208–232. 17 Vgl. Haag, Auf wandelbarem Grund (wie Anm. 2), 71, dort auch der Hinweis auf die „Conciergification“; vgl. auch Rüdiger Campe, Kafkas Institutionenroman. ‚Der Proceß‘, ‚Das Schloß‘, in: ders./ Michael Niehaus (Hrsg.), Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg 2004, 197–208; ders., Robert Walsers Institutionenroman. ‚Jakob von Gunten‘, in: Rudolf Behrens/Jörn Steigerwald (Hrsg.), Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2005, 235–250. 18 Nacim Ghanbari, Kafka. Die Hausordnung, in: Arne Höcker/Oliver Simons (Hrsg.), Kafkas Institutionen. Bielefeld 2007, 17–31. 19 Haag, Auf wandelbarem Grund (wie Anm. 2), 132 f. 20 Jan-Dirk Müller, Melusine in Bern. Zum Problem der ‚Verbürgerlichung‘ höfischer Epik im 15. Jahrhundert, in: Gert Kaiser (Hrsg.), Literatur – Publikum – historischer Kontext. Bern 1977, 29–77, hier 49.
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Interesse für die bauliche und ideelle Restitution verfallener Häuser als Gebäude gilt die Aufmerksamkeit dieser Romane den Modi der Weitergabe der häuslichen Güter über den Tod der einzelnen Hausvorstände hinaus. Zu diesem Zweck werden Lehrlinge aus der Fremde angeworben, wachen Prinzipalinnen über das Wohl ihrer Schützlinge, werden Heiraten arrangiert und Vermögenstransaktionen vorgenommen. Die Art und Weise, wie das Motiv vor dem Haus eingesetzt wird, kommentiert die dynastische Konstellation, die im weiteren Verlauf der Romanhandlung entwickelt wird. In „Soll und Haben“ werden beide Figuren, die angesichts des Hauses in ehrfürchtige Wartehaltung verfallen, am Ende als Söhne adoptiert, indem sie mit den Haustöchtern eine eheliche Verbindung eingehen. In „Buddenbrooks“ dagegen wird die Perspektive des Initianden, der sich vor dem Haus postiert, in das er aufgenommen zu werden begehrt, durch die Innenperspektive des Hauses ersetzt. Der Roman setzt mit der Zusammenkunft von einigen Angehörigen des Hauses ein, die auf die Gäste eines bevorstehenden Festessens warten.21 Der erste Teil des Romans schließt mit dem Ende dieses Festessens und dem Abschied von den Gästen, die der Hausherr nach draußen begleitet. Erst an dieser Stelle gibt es die erste und zugleich letzte Beschreibung des Hauses von außen: „Der Konsul aber geleitete die Gäste die Treppe hinunter über die Diele und bis vor die Hausthür auf die Straße hinaus. […] [Er] stand, die Hände in den Taschen seines hellen Beinkleides vergraben, in seinem Tuchrock ein wenig fröstelnd, ein paar Schritte vor der Hausthür und lauschte den Schritten, die in den menschenleeren, nassen und matt beleuchteten Straßen verhallten. Dann wandte er sich und blickte an der grauen Giebelfaçade des Hauses empor.“22 Der für den Initianden vorgesehene Ort vor dem Haus wird in „Buddenbrooks“ vom Hausherrn usurpiert. Das Missglücken intergenerationellen Besitztransfers, wovon der Roman bekanntlich handelt, wird erzählerisch dadurch vorweggenommen, dass der Hausherr die für die genealogische Sukzession wichtige Position symbolisch selbst besetzt
21 Er zitiert damit die Dramen des frühen 18. Jahrhunderts, welche die Handlung – man denke an Luise Gottscheds „Die ungleiche Heirath“ und „Das Testament“ oder Denis Diderots „Le Père de famille“ – in einem Saal im Haus des Patriziers oder im Schloss beginnen lassen. Für die Untersuchung der Dramenanfänge ist das Konzept des ‚offenen Hauses‘ (Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38, 2011, 621–664) aufschlussreich, sind doch die Häuser bei Gottsched und Diderot mitunter durchlässig für Gäste und Dienstboten und damit Knotenpunkte für verschiedene soziale Beziehungen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – prototypisch ist hier Lessings „Miß Sara Sampson“ – verdrängt das Wirtshaus den Saal. Die Epochenschwelle ‚um 1800‘ gibt sich in der dramaturgischen Wertschätzung des Gast- und Wirtshauses und der ‚Versetzung‘ der Figuren außer Haus zu erkennen. Vgl. hierzu auch Juliane Vogel, Raptus. Eröffnungsfiguren von Drama und Oper des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vjschr. für Literaturwissenschaft und Geistesgesch. 83, 2009, 507–520, hier 508–510. 22 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Bd. 1. Frankfurt am Main 2002 [1901], 46 f.
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und damit tilgt. Es verwundert daher nicht, dass in „Buddenbrooks“ die künftigen Söhne ohne Ankündigung und Aufwartung wie aus dem Nichts heraus eintreffen. Ihr Erscheinen ist ‚deplatziert‘ von Anfang an und verkündet Unheil.
2 Häuserroman: Zwischen Hausbuch und Familienroman Bereits Freud prägt für jene Geschichten und Phantasien, die von der Aufnahme des jugendlichen Helden in ein Haus handeln, den Begriff des Familienromans, ohne ihn jedoch näher zu bestimmen. Noch heute kann der Familienroman als eine prekäre literarische Gattung bezeichnet werden, wird er doch in den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken nicht immer verzeichnet. Die terminologische Unterbestimmtheit scheint seiner Anschlussfähigkeit bei AutorInnen und beim Publikum keinen Abbruch zu tun, wenn man berücksichtigt, dass gerade in den letzten Jahren zahlreiche Romane die Gattungsbezeichnung ‚Familienroman‘ im Untertitel mitführen.23 Neben rein inhaltlich bestimmten Definitionen, wonach der Familienroman von den Beziehungen innerhalb einer Familie oder von Familienneugründungen handelt, stehen rezeptionsästhetische und literatursoziologische Überlegungen, wonach es sich bei Familienromanen um Romane handelt, die für Familien – insbesondere für Frauen – produziert werden. Skizziert wird ausgehend davon „eine knappe Gattungsgeschichte, die mit den Briefromanen Richardsons beginnt, und in der die Eheromane Tolstois, Flauberts und Fontanes zusammen mit anderen trivialliterarischen Beispielen in eine Reihe gestellt werden“.24 Die Suche nach Gattungsbestimmungen, die formale Kriterien und Erzählmuster erarbeiten, hat zu zwei narratologischen Untersuchungen geführt25, in denen als das Kriterium des Familienromans „the homologous congruity between timeline, familyline, and storyline“26 ins Spiel gebracht wird. Gefragt wird somit nach der den gesamten Erzählverlauf rhythmisierenden Zeit der Familie. Erst dieses Kriterium erlaubt es, von einem spezifischen Erzählmuster zu sprechen, das sich vom Erzählmuster eines Bildungs- oder Briefromans abhebt.
23 Vgl. Walter Erhart, Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, 101 f.; Matteo Galli/Simone Costagli, Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman, in: dies. (Hrsg.), Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München 2010, 7–20; Hajnalka Nagy/Werner Wintersteiner (Hrsg.), Immer wieder Familie. Familien und Generationenromane in der neueren Literatur. Innsbruck 2012. 24 Galli/Costagli, Chronotopoi (wie Anm. 23), 7. 25 Yi-ling Ru, The Family Novel. Toward a Generic Definition. New York 1992; Patricia Drechsel Tobin, Time and Novel. The Genealogical Imperative. Princeton 1978. 26 Tobin, Time and Novel (wie Anm. 25), ix.
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Die Zeit der Familie wird in vielen Fällen auch auf der Ebene der histoire der Häuserromane thematisiert. Auffällig häufig ist darin von Familienchroniken und Erinnerungen von Familienangehörigen die Rede: Fontanes „Vor dem Sturm“ endet ‚im Namen‘ der unverheirateten Renate von Vitzewitz, die sich als Chronistin des Hauses betätigt. In Ricarda Huchs „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ und Adalbert Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters“ prägen die losen Blätter und Aufzeichnungen, welche die bedeutenden Ereignisse in der Geschichte eines Hauses festhalten, den Titel des Romans. Die Häuserromane beziehen sich auf Textsorten, die es unter der Gattungsbezeichnung Hausbuch zu befragen gilt. Im Vergleich zum Familienroman ist das Hausbuch eine nicht minder marginalisierte Gattung. Das „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“ von 1958 verzeichnet lediglich das Lemma „Hausväterliteratur“. Erst in der überarbeiteten Neuauflage aus dem Jahr 2000 erscheint vor dem Eintrag „Hausväterliteratur“ der Eintrag „Hausbuch“. Hier wird Hausbuch als ein besonderer „Typus spätmittelalterlicher Textsammlungen“ definiert, der häufig an die folgenden Textsorten angrenzt: 1) die Hausväterliteratur, 2) die „[v]orreformatorische Andachts- und protestantische Erbauungsliteratur, welche geistliche Gebrauchstexte für die häusliche Andacht zusammenstellt“ und schließlich 3) „[a]uf die individuelle Biographie und diese betreffende historische Ereignisse bezogenes Schrifttum“.27 In der literaturwissenschaftlichen Diskussion wird diese Begriffsbestimmung kritisch gesehen: Wenn der Eintrag eine Sammelhandschrift aus dem späten 15. Jahrhundert „zum (vermeintlichen) Exempel der Gattung“ erklärt, wird „die prägende Rolle der Editionswissenschaft des 19. Jahrhunderts sowie […] [deren] eigene Produktivität unter dem Titel ‚Hausbuch‘“ außer Acht gelassen.28 Genau genommen ist die Anwendung der Bezeichnung ‚Hausbuch‘ auf eine Vielzahl divergenter Texte eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.29 Der Eintrag im „Reallexikon“ ist trotz aller Kritik aufschlussreich. Denn wenn er als drittes Bedeutungsfeld das „[a]uf die individuelle Biographie und diese betreffende historische Ereignisse bezogene(s) Schrifttum“ angibt, erweisen sich Autobiographien, Memoiren und selbst Tagebücher als dem Hausbuch benachbarte Text
27 Dieter H. Meyer, Hausbuch, in: Klaus Weimar (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3. Aufl. Bd. 2. Berlin 2000, 12–14, hier 13; vgl. hierzu auch Barbara Schmid, Das Hausbuch als literarische Gattung. Die Aufzeichnungen Johann Heinrich Wasers (1600–1669) und die Zürcher Hausbuchüberlieferung, in: Daphnis 34, 2005, 603–656. 28 Haag, Auf wandelbarem Grund (wie Anm. 2), 218. 29 Saskia Haag bestimmt das „Deutsche Wörterbuch“, das die Brüder Grimm für jeden deutschen Haushalt empfehlen, als eines der ersten Hausbücher. Dem „Deutschen Wörterbuch“ folgt eine lange Reihe weiterer enzyklopädischer Bücher, die mit ihrem Anspruch, das ‚ganze Wissen‘ ihrer Epoche zu versammeln und für den ‚Hausgebrauch‘ aufzubereiten, offensichtlich an die Tradition der Hausväterliteratur anschließen. Mit ihren prachtvollen Einbänden und ihrem schieren Volumen erinnern die neuen Hausbücher des 19. Jahrhunderts an die Hausbibel früherer Jahrhunderte. Vgl. Haag, Auf wandelbarem Grund (wie Anm. 2), 213–232.
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sorten. Wenn Autobiographien die innere Entwicklung des Verfassers und Memoiren dessen Verortung in einem übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhang darstellen, dann sind beide Genres unter dem Zeichen des Hausbuchs mit der Stellung des Individuums in einer selbst gezeichneten genealogischen Reihe befasst. Während sich die genrespezifische Unterscheidung von Autobiographie und Memoiren implizit dem geschichtsphilosophischen Paradigma der Individualisierung verdankt30, lenkt die vordergründig randständige Kategorie des Hausbuchs den Blick auf die zahlreichen Schriften, die als ‚Erinnerungen‘ und ‚Aufzeichnungen‘ präsentiert werden, für ein Haus geschrieben wurden und dafür sorgen sollen, eine dynastische Genealogie sichtbar zu machen.31 Wenn es über Memoiren heißt, dass darin der Verfasser über seine Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten berichtet32, dann wird verschwiegen, dass die genannten historischen Persönlichkeiten häufig nur als Teil eines erweiterten Kreises von Verwandten und Bekannten auftauchen. Es ist die Verwandtschaft des Verfassers, die von Interesse ist und deren weitläufige Verästelungen und Schicksale in den Erinnerungen rekonstruiert werden. Indem die Literaturgeschichte Memoiren und Autobiographien von ihren hauspolitischen Absichten reinigt, partizipiert sie an jenem geschichtswissenschaftlichen Unternehmen, das sehr erfolgreich die Kategorie der Verwandtschaft invisibilisiert hat.33 Der Status des Hausbuchs als unsicherer literaturwissenschaftlicher Gegenstand ist darüber hinaus darauf zurückzuführen, dass die Bücher für das Haus nur selten veröffentlicht werden. Der Grad ihrer Publizität ist schwer einzuschätzen. Zumindest stößt man nicht selten auf die Existenz solch unveröffentlichter Texte – so etwa in der jüngst veröffentlichten Studie Hilde Schramms, in der die Publizistin und Erziehungswissenschaftlerin das bewegte Leben ihrer ehemaligen Lehrerin Dora Lux rekonstruiert.34 Für die Untersuchung der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist eine systematische Sichtung des Materials noch zu leisten. Wichtige Hinweise finden sich in
30 Vgl. Claudia Ulbrich, Europäische Selbstzeugnisse in historischer Perspektive – Neue Zugänge, URL: www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/arbeitsbereiche/ab_ulbrich/media/UlbrichEurop__ische_Selbst zeugnisse.pdf?1350899276 (Zugriff: 21. 05. 2014), 3–8. 31 Vgl. z. B. die Publikationsgeschichte von Hermine Wittgensteins Aufzeichnungen über ihren berühmten Bruder Ludwig: Mathias Iven (Hrsg.), ‚Ludwig sagt …‘. Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein. Berlin 2006; Nicole L. Immler, Das Familiengedächtnis der Wittgensteins. Zu verführerischen Lesarten von (auto-)biographischen Texten. Bielefeld 2011. 32 Jürgen Lehmann, Autobiographie, in: Weimar (Hrsg.), Reallexikon (wie Anm. 27), Bd. 1, 169–173, hier 169. 33 Vgl. Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: HZ 283, 2006, 31–77. 34 Hilde Schramm, Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux 1882–1959. Nachforschungen. Reinbek bei Hamburg 2012. Schramm zitiert mehrfach aus den teils mündlichen, teils aber auch schriftlichen Berichten der Töchter der Dora Lux. Eine der zitierten Quellen ist der Text „My Father“ der ältesten Tochter, Gerda Voss, die auf das Jahr 1897 datiert ist. Daneben finden sich Belege aus einem ebenfalls unveröffentlichten Manuskript, den „Memoiren“ von Heinrich Lux, datiert auf das Jahr 1944.
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Studien aus den Bereichen der kulturhistorischen Geschlechterforschung, der Jewish Studies und der Selbstzeugnisforschung.35 Die in der Kulturgeschichte selbstverständliche Annahme, dass auch „Tagebücher […] manchmal für Freunde, Verwandte oder die Öffentlichkeit geschrieben“36 sind, könnte die LiteraturwissenschaftlerInnen dazu bewegen, sich auf ein Feld zu begeben, auf dem sich moderne Autorschaft und das Schreiben für die ‚kleine Öffentlichkeit‘ des Hauses überschneiden – finden doch beispielsweise die Aufzeichnungen von Julia Mann Eingang in „Buddenbrooks“37 und wird der Entstehungsprozess von Ricarda Huchs „Ludolf Ursleu“ und Fontanes Häuserromanen von unzähligen Briefen begleitet, die ‚im Haus‘ und ‚für das Haus‘ zirkulieren.
3 Die österreichischen Buddenbrooks: Otto Stoessls „Das Haus Erath“ Die deutschen Häuserromane des 19. Jahrhunderts entwickeln eine mitunter verdeckte dynastische Grammatik, indem sie mit der (ehelosen) Schwester, die über die Geschicke ihres Hauses wacht, eine zentrale Figur der europäischen Literaturgeschichte reaktivieren: Sie versetzen die aus der antiken Tragödie bekannte Figur der Antigone als rächende Tochter und Schwester in ihre Gegenwart.38 Ein wichtiges Kennzeichen der Häuserromane besteht somit darin, dass es hier die Schwestern sind, welche die Vorstellung eines dynastischen Hauses aufrechterhalten. Ein aufschlussreiches Beispiel für eine solche Dramatisierung der Schwester findet man in Otto Stoessls „Das Haus Erath oder Der Niedergang des Bürgertums“. Der im Jahr 1920 in Leipzig erschienene Roman kann aufgrund zahlreicher motivischer Parallelen als die österreichische Variante der „Buddenbrooks“ gelesen werden.
35 Vgl. Ulbrich, Europäische Selbstzeugnisse (wie Anm. 30); Bärbel Kuhn, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914). Köln 2000; Miriam Gebhardt, Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932. Stuttgart 1999. Vgl. zum Thema Selbstzeugnisforschung ebenfalls die Programme der großen Forschungsverbünde ‚Les écrits du for privé‘, URL: www.ecritsduforprive.fr (Zugriff: 21. 05. 2014), und ‚First Person Writings in European Context‘, URL: www.firstpersonwritings.eu (Zugriff: 21. 05. 2014). Für diesen Hinweis danke ich herzlich Anton Tantner. 36 Ulbrich, Europäische Selbstzeugnisse (wie Anm. 30), 18. 37 Julia Mann, Tante Elisabeth. Briefe an Thomas Mann, in: Sinn und Form 15, 1963, 482–496; Ulrich Dietzel, Tony Buddenbrook – Elisabeth Mann. Ein Beitrag zur Werkgeschichte der ‚Buddenbrooks‘, in: Sinn und Form 15, 1963, 497–502. 38 Die in der deutschen und österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Dramatisierung der Schwester lässt sich ebenfalls in der englischen Literatur nachweisen. Vgl. z. B. Eve Kosofsky Sedgwick, Tales of the Avunculate. Queer Tutelage in ‚The Importance of Being Earnest‘, in: dies., Tendencies. London 1994, 52–72.
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„Das Haus Erath“ überbietet „Buddenbrooks“ darin, dass hier Fortgang und Verfall des Hauses fast ausschließlich über die Töchter verhandelt werden. Das Erath’sche Haus verfügt über vier Töchter und einen Sohn, über den der Leser lediglich erfährt, er sei Student „an der Technik“.39 Ähnlich wie dieser bleiben auch die Enkel im Hintergrund. Im Gegensatz zu den leiblichen Söhnen, die kaum erwähnt werden, finden die Schwiegersöhne größte Beachtung. Ihre jeweiligen Lebensläufe werden in novellistischer Form in den Roman integriert. Am deutlichsten ist dies vielleicht im Fall Hermann Leys, eines verhinderten Schwiegersohns, der, abgewiesen von der jüngsten Tochter des Hauses, sein Glück woanders versucht. Der Roman widmet ihm eine umfangreiche Episode, in der er (eine Rache an der höheren Tochter, die ihn verschmähte) ein adliges Fräulein ehelicht.40 Diese Episode erinnert durch die Enthüllung des wahren Namens der Braut und der darauf folgenden Bekenntnisse der Brautmutter nicht zuletzt an Goethes „Wilhelm Meister“. Der Roman setzt ein mit einem Ereignis, welches das ganze Haus in Bewegung versetzt: „Antonie, die älteste Tochter des verwitweten Herrn Erath, feierte heute Hochzeit. Man wunderte sich insgemein über die mäßige Partie, die sie machte, und erkannte doch wieder gerade daran die Bescheidenheit und Klugheit des Vaters, der in seinem Anspruch auch hier Maß hielt und wahrscheinlich die Tüchtigkeit und den guten Leumund des Eidams gewählt und auch die Tochter so hatte wählen und gewählt werden lassen […]. Die Arbeiterinnen, die müßig und eifrig durcheinanderschwirrten und zusammentraten, die Spulerinnen und Weberinnen wußten vom Bräutigam, von Herrn Amersin aus Lichtenau, nur, daß er der Leiter einer Leinenweberei im oberösterreichischen Mühlviertel und ein Kind armer Leute sei, wie Herr Erath selbst. Er werde kaum in das Geschäft des Schwiegervaters eintreten; denn gleich nach der Hochzeit sollten die Vermählten nach Oberösterreich reisen, der ganze Hausrat war schon vorausbefördert. […] Untereinander fragten sie freilich: Wer ist denn dieser Amersin, und woher hat sich ihn Erath verschrieben?“41 Die Lebensphase mit einem eigenen Haushalt fern des (schwieger)väterlichen Hauses bleibt für das junge Brautpaar eine kurze Episode. Bereits nach wenigen Ehejahren muss Familie Amersin in das Haus Erath übersiedeln, da der Schwiegersohn seinen Posten verloren hat. Erst mit dem verzögerten Einzug ins Haus steigt Amersin zum Mitgesellschafter der Firma auf.42 Nach dem frühen Tod seiner Ehefrau hält er um die Hand der nächstältesten unverheirateten Tochter des Hauses, Charlotte Erath, an und wird abgewiesen.43 Seine Wohnung verfällt immer mehr, so dass er schließlich
39 Otto Stoessl, Das Haus Erath oder Der Niedergang des Bürgertums. Graz 1983 [1920], 11. 40 Vgl. ebd., 114–167. 41 Ebd., 5 f. 42 Ebd., 31. 43 Ebd., 214. Solche „Reparaturehen“ (Margareth Lanzinger, Tanten, Schwägerinnen und Nichten. Beziehungsgefüge, Vermögenskonflikte und ‚Reparaturehen‘ oder: Linie und Paar in Konkurrenz, in: WerkstattGeschichte 46, 2007, 41–54) sind in literarischen und außerliterarischen Texten häufig zu be-
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das Haus zusammen mit seinen Kindern verlässt. Der Auszug motiviert im Roman zwei Erzählungen: zum einen die von der höheren Tochter, Thea Amersin, deren sozialer Abstieg an den Lebenslauf Agnes Heidlings in Gabriele Reuters „Aus guter Familie“ erinnert44; zum anderen die Erzählung des ungeliebten Schwiegersohns, der auszieht, um ein eigenes Haus zu gründen und sich als Stadtrat wiederfindet. Mit Amersins Wahl zum Mitgesellschafter der Firma Erath wird das für die deutschen Häuserromane zentrale Motiv ‚Wahl des Schwiegersohns‘ variiert.45 Während in „Soll und Haben“ die Laufbahn des Anton Wohlfart rückblickend als Abfolge von Bewährungsproben erzählt werden kann, die schließlich seine Wahl in das Haus des Schwagers motivieren, entscheidet sich der Erzähler in „Das Haus Erath“ an keiner einzigen Stelle für eine syntaktische Form, die das Subjekt des Wahlvorgangs eindeutig bestimmt. Es heißt in der oben zitierten Passage über Amersin, den neuen Sohn des Hauses, der Hausherr habe „wahrscheinlich die Tüchtigkeit und den guten Leumund des Eidams gewählt und auch die Tochter so […] wählen und gewählt werden lassen“. Subjekt der Wahl sind demnach Brautvater, Braut und Bräutigam zugleich. Die Emphase der freien Wahl taucht lediglich in einer Figurenrede auf: „Du hast in dieses Haus geheiratet und deinen Mann frei gewählt, du hast ihm deine Kinder geboren, doch nicht mir.“46 Es spricht die einzig unverheiratet gebliebene Tochter des Hauses, die Schwester, in deren Worten sich die freie Wahl in einen Vorwurf verwandelt. Allein sie verortet das Subjekt der Wahl in der Tochter, die zwischen dem Haus des Ehemanns und dem Haus des Vaters frei wählen kann: „Ich bin meines Vaters Tochter. Dies hier, diese vier Wände sind unser Haus, das Haus Erath. Du und Antonie, ihr beide habt es verlassen, ihr seid euern Männern gefolgt, ihr habt euer Schicksal gewählt, ihr müßt es tragen. Ihr steht draußen, dort, wo ihr euch hingestellt habt. Das Erathsche Haus und Wesen habt ihr aufgegeben. Es lag euch nichts daran. Ich bin eine Erath geblieben. Das ist alles.“47 Die Schwester, „die allgegenwärtige Charlotte“48, „die Führerin der Ehefeinde“49, redet einem alten Hausgesetz das Wort, wonach die Mitgift als „Erbverzicht der ausheiratenden, ‚verzichtenden‘ Tochter“ zu
obachten. Vgl. hierzu auch den Fall des ‚Frl. Elisabeth v. R …‘ in Josef Breuer/Sigmund Freud, Studien über Hysterie. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1997 [1895], 175 f. 44 Vgl. Katja Mellmann, Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters ‚Aus guter Familie‘, in: IASL 33, 2008, 1–25; Linda Kraus Worley, Girls from Good Families. Tony Buddenbrook and Agathe Heidling, in: The German Quart. 76, 2003, 195–211. 45 Vgl. hierzu auch die Beispiele in der Geschichte von Familienunternehmen: Harold James, Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck. München 2005, 93 f. 46 Stoessl, Das Haus Erath (wie Anm. 39), 378. 47 Ebd. 48 Ebd., 182. 49 Ebd., 25.
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sehen ist.50 Sie hingegen, die Tochter, die bleibt, ist „der starke Geist im Hause“.51 Während sich noch am Anfang das Kennzeichen ihrer Stärke auf Szenen beschränkt, in denen sie ihren Willen gegen andere Hausmitglieder durchsetzt, überantwortet ihr der Erzähler im Laufe des Romans die ‚Handlung‘ im Doppelsinn von Firma und Plot. Sie wird zum einen zur Herrin der Firma dank einer Intrige. Der Plot des Romans zehrt zum anderen von dieser Intrige52, die ausgehend vom Zeitpunkt ihrer Planung bis zur Ausführung den weiteren Erzählverlauf rhythmisiert. Die „unerbittliche Notwendigkeit“53, die in „Buddenbrooks“ als Ursache des Verfalls eines Hauses angegeben wird und namenlos bleibt, wird hier von der Schwester verkörpert. Die Schwester formuliert das Gesetz der Wahrung des Hauses. Es besteht darin, die Töchter zurückzuhalten, um die Söhne mit dem größtmöglichen Vermögen auszustatten.54 Die bevorzugte dynastische Kopplung ist das Geschwisterpaar: „Sie [die Schwester, N. G.] wollte das Erath’sche Haus und Gut und Erbe den einzigen erhalten, die noch wahre und wirkliche Eraths waren: sich und ihrem Bruder August. […] Ihr galten beide Schwestern, jede in anderer Weise, aus der Art geschlagen, seit sie geheiratet und die angestammte Familie gegen eine fremde vertauscht hatten.“55 Die Wahrung des Hauses mithilfe des ‚Geschwister-Archipels‘ (Christopher H. Johnson) konkurriert mit einer dynastischen Strategie, die auf die Aufnahme ‚neuer Söhne‘ setzt. Daher richten sich die Reden der Schwester gegen ihren Schwager Amersin, der zum Mitgesellschafter der Firma Erath aufsteigt.56 Die Reden der Schwester gegen den ‚Eindringling‘ müssen sich letztlich gegen alle Gründer eines Hauses richten, insofern der Ursprung einer Firma meist im namenlosen Bauerntum ‚armer Leute‘ vermutet wird. Am Ende attackiert „die Schwester, de[r] Dämon“57, den Vater als einen ebensolchen Gründer, „über dessen groben Bauerngeruch die Schwestern immer die feinen Nasen rümpften“.58 Charlotte Eraths Wille steht gegen „Vaters Wille“, Vaters letzten Willen, deshalb erfolgt ihre Selbstermächtigung über die Manipulation seines Testaments.59 Sie initiiert eine Schreibszene, in der sie den Vater zwingt, die von ihr aufgesetzte Schrift, welche die verheirateten Schwestern
50 Wilhelm Brauneder, Mitgift, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. Berlin 1984, 610–612, hier 610. 51 Stoessl, Das Haus Erath (wie Anm. 39), 18. 52 Vgl. ebd., 378. 53 Mann, Buddenbrooks (wie Anm. 22), 26. 54 Die kleinbürgerliche Variante besteht darin, die Mitgift der Töchter für die Ausbildung der Söhne zu verbrauchen. Vgl. Kuhn, Familienstand (wie Anm. 35), 44. 55 Stoessl, Das Haus Erath (wie Anm. 39), 318. 56 Ebd., 85 f. 57 Ebd., 379. 58 Ebd., 29. 59 Zum literarischen Motiv des (manipulierten) Testaments vgl. Ulrike Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2010.
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auf den Pflichtteil setzt, abzuschreiben. Der mühsame Akt des Abschreibens kostet ihn das Leben: „[E]r schrieb zuletzt nur mehr mechanisch ab, er kümmerte sich um den Sinn nicht mehr. Nur fertig werden! Als er endlich zu den Worten gelangt war ‚urkund dessen meine eigenhändige Unterschrift‘ und seinen Namenszug nach dem vorgeschriebenen Datum hingesetzt hatte, fiel er bewußtlos seitab.“60
4 Ausblick Das Wissen um dynastische Kombinatorik wechselt um 1900 das Feld und wandert von der Literatur in die Sozialanthropologie bzw. die sich neu konstituierende Ethnologie. Der Mythos vom Aufstieg der Kleinfamilie nimmt hier seinen Anfang. Mit der Gründung der Sozialanthropologie als Disziplin wird es möglich sein, das Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen in fernen Gegenden außerhalb Europas zu verorten und diese von der europäischen Kernfamilie abzugrenzen.61 Die Untersuchung der europäischen Häuserromane zeigt jedoch, dass die in latinisierte Fachbegriffe gehüllten verwandtschaftlichen Axiome dem Romanpublikum vertraute Phänomene sind: Die in Fontanes „Graf Petöfy“ vorgebrachte Verhaltensmaxime, dass Adam Petöfy „eben ein ‚Erbonkel‘ war“ und „darauf hin um so vorsichtiger behandelt werden“62 musste, taucht in der Ethnologie als das Gesetz des „Avunkulats“ auf63, ähnlich verhält es sich mit dem „Amitat“ und der aus ethnologischen Berichten von Übergangsriten kaum wegzudenkenden Vaterschwester64, die in Mary Wollstonecraft Shelleys „Mathilda“ eine mächtige literarische Vorfahrin hat.65
60 Stoessl, Das Haus Erath (wie Anm. 39), 322. 61 Vgl. Albrecht Koschorke u. a., Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution. Konstanz 2010, 213–241. Von ethnologischem Interesse sind insbesondere privilegierte Beziehungen und solche, die von extremer Meidung geprägt sind. Aus der Position des Kindes betrachtet besetzen Vaters Schwestern und Mutters Brüder die wichtigsten Positionen innerhalb des verwandtschaftlichen Gefüges, weil sie es sind, die als kundige Wächter und Zeremonienmeister den Weg in die Zukunft weisen. Die vom Zufall der Geburt geprägte Beziehung zwischen Mutter, Vater und Kind ist in einer Vielzahl von freiwillig eingegangenen Beziehungen zwischen dem Kind und favorisierten Onkel und Tanten eingebettet. 62 Theodor Fontane, Graf Petöfy. Berlin 1999 [1883], 12. 63 Vgl. z. B. Alfred R. Radcliffe-Brown, The Mother’s Brother in South Africa, in: ders., Structure and Function in Primitive Society. Essays and Addresses. London 1965, 15–31. 64 Vgl. Robert H. Lowie [Review], Truman Michelson (Hrsg.), The Narrative of a Southern Cheyenne Woman, in: American Anthropologist 34, 1932, 534; William Halse Rivers, The Father’s Sister in Oceania, in: Folklore 21, 1910, 42–59. 65 Mary Wollstonecraft Shelley, Mathilda. Chapel Hill 1959.
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Mit der Rückkehr der Ethnologie aus der Fremde in die europäische Heimat66 wird ein neuer Blick auf das Thema Haus und Identität möglich. Waren diese Themen in der Literaturgeschichte lange Zeit in den Genres des französischen roman expérimental eines Émile Zola67 oder der englischen gothic novel68 verortet, erlaubt das Analyseinstrument des Häuserromans eine bessere Vergleichbarkeit der dynastischen Motive und Konstellationen. Das Motiv der Schwester als ‚Gesetzgeberin des Hauses‘ und – in den Worten Claude Lévi-Strauss’ – „Garnknäuel“, „das, entrollt, die Straße erschafft, die zu fernen Gegenden führt“69, führt dies besonders gut vor Augen. Verfolgt man die Spur der Schwester, wird das Schloss in Kafkas gleichnamigem Romanfragment als jenes abweisende Haus lesbar, das „K.“ auf dieselbe Weise warten und Bitten vorbringen lässt wie schon seine ‚realistischen‘ Brüder Anton Wohlfart und Veitel Itzig und die Angestellte Agnes Jung aus Felix Holländers „Salomons Schwiegertochter“.70 Die fernen Gegenden der Literaturgeschichte sind jene Textkorpora, die sich quer zu den etablierten ästhetischen und nationalphilologischen Prinzipien, aber auch quer zur Unterscheidung von Kanon und Trivialliteratur beschreiben lassen.
66 Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin 1995 [1991]. 67 In einer neueren Untersuchung wird das Haus bei Balzac und Zola als charakterologische Ausdehnung der Figur gesehen: Annette Keilhauer: ‚C’était un déménagement complet.‘ Umzüge im naturalistischen Roman Émile Zolas, in: Monika Neuhofer/Kathrin Ackermann (Hrsg.), Von Häusern und Menschen. Literarische und filmische Diskurse über das Haus im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 2011, 37–51. 68 Vgl. Alison Milbank, Daughters of the House. Modes of the Gothic in Victorian Fiction. Basingstoke 1992. 69 Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main 1993 [1949], 366. 70 Bereits eine der ersten semiotischen Untersuchungen des Hauses in der Literatur unterläuft die gängigen literaturwissenschaftlichen Ordnungsmuster, indem sie die Texte von Eugenie Marlitt, Theodor Fontane und Franz Kafka vergleichend behandelt: Michael Andermatt, Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka. Bern 1987.
Ausgewählte Literatur Artan, Tülay: The Making of the Sublime Porte near the Alay Köşkü and a Tour of a Grand Vizierial Palace at Süleymaniye, in: Turcica 43, 2011, 145–206. Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Frankfurt am Main 1987. Baldassar, Loretta: Visits Home. Migration Experiences between Italy and Australia. Melbourne 2001. Bernstein, Susan: Housing Problems. Writing and Architecture in Goethe, Walpole, Freud, and Heidegger. Stanford 2008. Buettner, Elizabeth: Empire Families. Britons and Late Imperial India. Oxford 2004. Derix, Simone: Transnationale Familien, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.), Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 335–352. Easthope, Hazel: Fixed Identities in a Mobile World? The Relationship between Mobility, Place, and Identity, in: Robin Cohn/Gunvór Jónsson (Hrsg.), Migration and Culture. Cheltenham 2011, 49–70. Faroqhi, Suraiya: Controversies and Contradictions. The Turkish (or Ottoman) House, in: Turcica 45, 2014, 321–354. Forster, Marc R./Benjamin J. Kaplan (Hrsg.): Piety and Family in Early Modern Europe. Essays in Honour of Steven Ozmen. Aldershot 2005. Gabaccia, Donna: Italy’s Many Diasporas. Seattle 2000. Garber, Marjorie: Sex and Real Estate. Why We Love Houses. New York 2001. Garrioch, David: House Names, Shop Signs and Social Organization in Western European Cities, 1500–1900, in: Urban Hist. 21, 1994, 20–48. Ghanbari, Nacim: Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. Berlin 2011. Gleixner, Ulrike: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg, 17.–19. Jahrhundert. Göttingen 2005. Greyerz, Kaspar von: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000. Gupta, Akhil/James Ferguson (Hrsg.): Culture, Power, Place. Explorations in Critical Anthropology. Durham 1997. Haag, Saskia: Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 2012. Hanna, Nelly: La maison moyenne et ses habitants aux XVIIe et XVIIIe siècles. Kairo 1991. Hölscher, Lucian: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005. La Rosa, Leonardo: La Casa – der opferreiche Traum vom eigenen Haus, in: Ernst Halter (Hrsg.), Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz. Zürich 2003, 293–300. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. Mandler, Peter: The Fall and Rise of the Stately Home. New Haven 1997. Menning, Daniel: Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945. München 2014. Necipoğlu, Gülru: Architecture, Ceremonial and Power. The Topkapı Palace in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. Cambridge, Mass. 1991. Neuhofer, Monika/Kathrin Ackermann (Hrsg.): Von Häusern und Menschen. Literarische und filmische Diskurse über das Haus im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 2011. Peirce, Leslie: The Imperial Harem. Women and Sovereignty in the Ottoman Empire. Oxford 1993. Pfaff-Czarnecka, Joanna: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung. Göttingen 2012. Pronteau, Jeanne: Les numérotages des maisons de Paris du XVe siècle à nos jours. Paris 1966. Randolph, John: The House in the Garden. The Bakunin Family and the Romance of Russian Idealism. Ithaca 2007.
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Ausgewählte Literatur
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Teil VI: Wissensordnung und Ordnungswissen
Philip Hahn
Einführung Das ‚Haus‘ – eine Wissensordnung der europäischen Vormoderne? In den von der Wissenssoziologie angeregten Forschungen der letzten Jahre zur Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit sucht man vergeblich nach dem Haus. Zwar hatte noch der antike Rhetoriker Quintilian im 1. Jahrhundert empfohlen, man solle sich beim Auswendiglernen einer Rede ein großes Haus vorstellen, in dem man die einzelnen Gedanken der Reihe nach seinen Räumen zuordnen kann.1 Quintilian ging offenbar davon aus, dass sich jeder Leser vorstellen kann, wie ein Haus aufgebaut ist, und genau das machte es in seinen Augen zu einem geeigneten Ordnungsmodell für jede Art von in einer Rede benötigtem Wissen. Doch trotz der Wiederentdeckung von Quintilians „Institutio oratorica“ im Jahr 1416 und der intensiven Rezeption dieses Werks bis ins 18. Jahrhundert war dem Haus in der ars memorativa der Neuzeit keine Zukunft beschert.2 Das Theater sollte das Haus nicht nur in der Mnemotechnik ersetzen; auch war es das Theater, das ab dem 16. Jahrhundert europaweit zum Sinnbild für die Ordnung des Wissens schlechthin avancierte, wie allein schon an den Buchtiteln von frühneuzeitlichen Wissenskompendien ablesbar ist.3 Spielte das Haus also schon im frühneuzeitlichen Europa als eine Wissensordnung keine Rolle mehr? Peter Blickle hat dahingegen betont, dass das Haus in der Vormoderne beinahe so viel „intellektuelle Aufmerksamkeit“ beansprucht habe wie die Religion. Er spricht wahlweise vom „Strukturprinzip“, „Organisationsprinzip“ oder „Ordnungsprinzip Haus“, dessen prägender Einfluss auf Normen, Mentalität und generatives Verhalten kaum zu überschätzen sei. Kurz, wer das Haus nicht kenne, wisse nicht, was das „Alte Europa“ ausgemacht habe.4 Zwar spricht Blickle nicht explizit von Wissensordnungen, doch deckt sich das, was er über das Haus als „Ordnungsprinzip“ schreibt, durchaus mit dem, was in der Wissensgeschichte unter „sozialen Wissensvorräten“ subsumiert wird: Gemeint sind damit vor allem solche Konzepte, die – wie beispielsweise die Ordnung der drei Stände – soziale Verhältnisse umschreiben und für die
1 Quintilian, Institutio oratorica, XI.ii., 18–21. 2 Frances A. Yates, The Art of Memory. London 1992 [1966], 135–174. 3 Udo Friedrich, Weltmetaphorik und Wissensordnung in der Frühen Neuzeit, in: Martin Schierbaum (Hrsg.), Enzyklopädistik 1550–1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. Münster 2009, 193–248, hier 199, 206–210. Vgl. ders., Ordnungen des Wissens. Ältere deutsche Literatur, in: Claudia Benthien/Claus Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek 2002, 83–102, sowie zuletzt HansJoachim Jakob, Vom Umgang mit Wissen im Wissenstheater. Aspekte von Wissenskonstituierung und Wissensetablierung in der Theatrum-Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Thorsten Burkard (Hrsg.), Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2013, 285–304. 4 Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne. München 2008, 23, 27.
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Zeitgenossen als quasi ‚natürlich‘ erscheinen lassen, die jedoch „nichts anderes als kontingente Ergebnisse von Wissensproduktionsvorgängen“ sind.5 Der Begriff der ‚Wissensordnung‘ verweist also insbesondere auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ordnung und der Produktion von Wissen und in diesem Sinne auf die stabilisierende Wirkung, die Metaphern des Wissens auf die Auffassung einer Epoche von der Welt ausüben.6 Genau diese Wirkmächtigkeit attestiert Blickle dem Haus. Der Unterschied zwischen beiden Positionen hängt unter anderem damit zusammen, dass die jeweils herangezogenen Wissensbestände nicht deckungsgleich sind. Während in der Wissensgeschichte nach wie vor der Fokus auf ‚gelehrtem‘ Wissen liegt, für das eher Metaphern wie Buch, Spiegel, Maschine oder eben Theater geläufig waren7, bezieht Blickle in seinen Ausführungen über „Haustheorien“ neben diesem auch Alltagswissen mit ein, wie es von der – ihm zufolge – von Otto Brunner für die Forschung wieder entdeckten ‚Hausväterliteratur‘ aufbereitet wurde.8 Manche der Autoren dieses Genres waren tatsächlich darum bemüht, das Haus ebenfalls zu einem Sinnbild für die Ordnung des Wissens zu erheben. In Johann Colers ab 1591 erschienenem Hausbuch etwa wird die oeconomia (im Sinne der Hauswirtschaft) als „scientia scientiarum“ bezeichnet.9 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erachtete Wolf Helmhard von Hohberg die „geschickliche Wissenschafft/ recht Haus zu halten“ als nur der Theologie untergeordnet, denn die oeconomia sei „das Centrum“, aus dem alle „Künste und Wissenschafften ihren Ursprung“ nähmen und in welches sie wieder „einfließen“. In seiner Widmung an die Stände Unter- und Oberösterreichs ging Hohberg aber noch einen Schritt weiter: Gott war für ihn der „himmlische HausHerr“, der die „grosse Welt-Oeconomiam“ in „schönster und richtigster Ordnung“ bestellte. Die Ordnungen der Welt und des Hauses standen somit in Analogie zueinander.10 Zumindest für diese Autoren war das Haus also nicht nur ein Sinnbild für Wissensordnung, sondern sogar eine Weltmetapher.
5 Achim Landwehr, Wissensgeschichte, in: Rainer Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, 801–813, hier 804. 6 Martin Huber, Wissensordnung, in: Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie (wie Anm. 5), 797–800, hier 799. 7 Helmut Zedelmaier, Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, in: Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie (wie Anm. 5), 835–845; ders., Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln 1992; Friedrich, Weltmetaphorik (wie Anm. 3). 8 Blickle, Das Alte Europa (wie Anm. 4), 30–38. 9 Johann Coler, Calendarium oeconomicum et perpetuum. Faksimile der Ausgabe Wittenberg 1591, hrsg. von Gotthardt Frühsorge. Leipzig 1988, Fol. A 2 v. Zu Colers Vorstellungen von Wissenschaft vgl. Philip Hahn, Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der ‚Oeconomia‘ Johann Colers. Epfendorf 2013, 73–103. 10 Wolf Helmhard von Hohberg, Georgica curiosa aucta, Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben. Nürnberg 1701, Bd. 2, 854; Bd. 1, Fol. a ij r-v. Zu Hohbergs Weltbild nach wie vor Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und
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Es ist also kaum verwunderlich, dass Blickle sich wünscht, die „wissenschaftliche Diskussion“ könne an diese Deutungstradition der Hausväterliteratur „wieder anknüpfen“, wie es schon Otto Brunner versucht habe.11 Damit ist jedoch das Risiko eines Tunnelblicks auf die Geschichte des Hauses in den Wissensordnungen der Vormoderne verbunden. Nicht umsonst steht dieses Kapitel daher am Ende des Handbuchs: Selbst wenn es in den folgenden Beiträgen primär um Aspekte der intellectual history des Hauses geht, ist diese freilich nicht mehr im Sinne einer top-down Per spektive von den Normen zur Praxis zu konzeptualisieren und schon gar nicht losgelöst von den in den vorangegangenen Kapiteln behandelten sozialen, kulturellen und rechtlichen Aspekten des Phänomens ‚Haus‘. Dessen ist sich auch Blickle bewusst, denn er situiert den Ursprung der Konjunktur der „metaphorischen Rede vom Haus“ nicht von ungefähr zeitgleich mit dem Beginn solider Hausbauten im europäischen Hochmittelalter.12 Vielleicht liegt hier auch einer der Gründe für den Untergang des Hauses in der ars memorativa der Renaissance: Denn die zur Zeit Quintilians im ganzen Römischen Reich verbreitete und quasi verbindliche Form des Atriumhauses hatte längst einer Vielzahl regionaler Haustypen Platz gemacht. Erhellend ist auch das Beispiel Brunners selbst, dessen Thesen zum ‚ganzen Haus‘ unverkennbar von der Hauslandschaft – in materieller und sozialer Hinsicht – seiner eigenen Heimat geprägt sind, was ihren ‚alteuropäischen‘ Geltungsanspruch relativiert.13 Dass es sich beim ‚Haus‘ um einen sperrigen Begriff handelt, ist aber keineswegs erst eine Erkenntnis der Brunner-Debatte.14 Der Artikel „Haus“ des 1735 erschienenen zwölften Bandes des Zedler’schen Universallexikons bringt dies gleich zu Anfang auf den Punkt: Ein „Haus“ werde „entweder materialiter genommen […] oder Juridice und civiliter“. Zu ergänzen ist noch dessen religiös-moralische Deutung, denn neben antiken Quellen speist sich das im Zedler-Artikel dargebotene Wissen über das Haus nicht zuletzt aus der Bibel.15 Anstatt an die Hausväterliteratur und ihre (vor allem in ihrer barocken Ausprägung) holistischen Entwürfe zum Haus anzuknüpfen, geht dieses Kapitel im Anschluss an den Zedler-Artikel einen anderen Weg: Die dort skiz-
Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688. Salzburg 1949. Zum Haus als Weltmetapher vgl. auch den Beitrag von Thomas K. Kuhn in diesem Band. 11 Blickle, Das Alte Europa (wie Anm. 4), 38. 12 Ebd., 21. 13 Reinhard Blänkner, Von der ‚Staatsbildung‘ zur ‚Volkwerdung‘. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik für das 16.–18. Jahrhundert in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft. Berlin 1999, 87–135. 14 Vgl. hierzu die Hinweise im anderen Beitrag des Verfassers in diesem Band. 15 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 12. Halle 1735, 873. Zu Zedler vgl. Kai Lohsträter/Flemming Schock (Hrsg.), ‚Die gesammelte Welt‘. Wissensformen und Wissenswandel in Zedlers Universal-Lexicon. Wiesbaden 2013.
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zierten Schattierungen des Hausbegriffs werden interdisziplinär aus den Blickwinkeln derjenigen Wissensbereiche betrachtet, in deren Schnittpunkt das Haus liegt. Es wird also im Folgenden nicht darum gehen, die eingangs gestellte Frage nach dem Haus als Wissensordnung eindeutig zu beantworten. Vielmehr werden die jeweils eigenen Geschichten des Hauses in der politischen Theorie, der Jurisprudenz, der Architekturtheorie, der Theologie und der fiktionalen Literatur erkundet. Dabei treten drei Aspekte hervor, die hier kurz skizziert werden sollen. 1. Die nachhaltige Wirkung antiker Vorstellungen vom Haus bis weit in die Neuzeit ist unverkennbar; das hat bereits Otto Brunner erkannt.16 Doch kann von einer ‚alteuropäischen‘ Einheit des Denkens über das Haus keineswegs die Rede sein. Denn zum einen zeigt sich im Licht der aktuellen althistorischen Forschung, dass die Bedeutung des Hauses in den Wissensordnungen der griechisch-römischen Antike über dasjenige hinausging, was im Mittelalter und dann vor allem seit der Renaissance davon rezipiert wurde.17 Zum anderen sind diese Rezeptionen – sei es in der politischen Theorie, im Recht oder in der Architekturtheorie – als aktive Aneignungsprozesse zu verstehen. Zwar bot der humanistisch überformte universitäre Lehrplan, in den unter anderem auch die antike Ökonomik im 16. Jahrhundert Eingang fand, ein gewisses gemeinsames Grundwissen18, doch gestaltete sich das Ausmaß der Aneignung in den einzelnen Disziplinen jeweils unterschiedlich. Außerdem erwies sich das antike Erbe mitunter als ambivalent, wie das Beispiel der Gewalt des pater familias im römischen Recht vor Augen führt: Während Jean Bodin die unbeschränkte Gewalt des antiken Hausvaters als Modell absoluter Herrschaft würdigte, war dieser Aspekt der römischen Rechts tradition für das Privatrecht der Frühen Neuzeit unbrauchbar.19 2. Die Vorstellungen vom Haus blieben im Verlauf der Frühen Neuzeit nicht kon stant, sondern entwickelten sich in den einzelnen Disziplinen weiter, wobei der Rückbezug zur Antike immer mehr an Bedeutung verlor. Zwar verliefen manche dieser Veränderungen synchron, doch lassen sie sich auf unterschiedliche Faktoren zurückführen. Im Privatrecht etwa trug die Verbreitung naturrechtlichen Denkens ab dem 17. Jahrhundert zu einer Öffnung des bis dahin weitgehend autonom gedachten Rechtsraums des Hauses bei. Architekturtraktate hatten mit ihren Hausmodellen nicht nur auf veränderte Erwartungen an ein Wohngebäude zu reagieren, sondern reflektierten in ihrer Argumentation auch jeweils zeitgenössische Vorstellungen davon, wie Wissen zu erwerben und zu organisieren sei.20
16 Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127. 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Astrid Habenstein. 18 Julius Hoffmann, Die ‚Hausväterliteratur‘ und die ‚Predigten über den christlichen Hausstand‘. Weinheim 1959, 66–68. 19 Vgl. die Beiträge von Anna Becker und Steffen Schlinker. 20 Vgl. die Beiträge von Steffen Schlinker und Hans-Georg Lippert.
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Während dieses Genre um 1830 seine normative Gültigkeit einbüßte und auch die Welle von Kodifikationen des bürgerlichen Rechts um 1800 eine wichtige Zäsur darstellt, ist eine Epochengrenze zur Moderne in den Vorstellungen vom Haus in der religiösen und belletristischen Literatur weniger leicht auszumachen.21 3. Das Haus mag von den Autoren der Hausväterliteratur als geeignetes ‚Strukturprinzip‘ für das von ihnen dargebotene Wissen präsentiert worden sein, doch hält sich seine Bedeutung für die Wissensorganisation in den einzelnen hier betrachteten Disziplinen in Grenzen. Am ehesten trifft dies noch auf die protestantische religiöse Literatur zu: Hier bildete sich im Anschluss an die sog. Haustafelverse aus dem Neuen Testament im 16. Jahrhundert ein eigenes, auf das Haus bezogenes Genre heraus.22 Aus privatrechtlicher Perspektive war und ist das Haus jedoch kein Rechtsinstitut im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr der Schnittpunkt mehrerer Rechtsverhältnisse zwischen den Hausangehörigen.23 Für alle in diesem Kapitel behandelten Wissensbereiche gilt jedoch, dass das jeweilige Wissen vom ‚Haus‘ dazu dient, Ordnung herzustellen, zunächst einmal im Haus selbst, sei es architektonisch, sozial oder religiös. Aber auch über das Haus hinaus wurde diesem Wissen eine stabilisierende Wirkung zugeschrieben, und zwar sowohl für unterschiedliche Institutionen wie Hospitäler, Waisen- und Zuchthäuser als auch für das gesamte Gemeinwesen.24 Ob dieses ‚Ordnungswissen‘ vom Haus tatsächlich von politischer Relevanz war, wurde jedoch bereits im 16. Jahrhundert kon trovers diskutiert.25 Die Inanspruchnahme des Hauses als Ordnung stiftendes Modell ist allerdings, wie unter anderem die ‚Rettungshäuser‘ der Inneren Mission des 19. Jahrhunderts und die Romane Jeremias Gotthelfs vor Augen führen, kein Alleinstellungsmerkmal einer ‚alteuropäischen‘ Vormoderne. Diese Phänomene lediglich als deren Nachsommer oder
21 Vgl. die Beiträge von Thomas K. Kuhn und Christian von Zimmermann. Vgl. auch den Beitrag von Nacim Ghanbari in Teil V sowie Inken Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850. Köln 2010, 9–27, hier 11 f. 22 Walter Behrendt, Lehr-, Wehr- und Nährstand. Haustafelliteratur und Dreiständelehre im 16. Jahrhundert. Berlin 2009; vgl. den Beitrag von Thomas K. Kuhn. 23 Vgl. den Beitrag von Steffen Schlinker. 24 Kirsten Bernhardt, Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16.–20. Jahrhundert). Münster 2012; Falk Bretschneider, Das ‚gemeinsame Haus‘. Personal und Insassen in den Zuchthäusern der Frühen Neuzeit, in: ders./Martin Scheutz/Alfred Stefan Weiß (Hrsg.), Personal und Insassen von ‚Totalen Institutionen‘ – zwischen Konfrontation und Verflechtung. Leipzig 2011, 157–195; vgl. auch den Beitrag von Anna Becker. 25 Vgl. hierzu den Beitrag von Anna Becker. Für eine ältere Position zum 18. Jhdt. vgl. Gotthardt Frühsorge, ‚Oeconomie des Hofes‘. Zur politischen Funktion der Vaterrolle des Fürsten im ‚Oeconomus prudens et legalis‘ des Franz Philipp Florinus, in: August Buck (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 2. Hamburg 1981, 211–215.
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Abgesang zu interpretieren, greift jedenfalls zu kurz.26 Von daher erscheint es auch wenig hilfreich, die Rolle des Hauses als Wissensordnung und/oder Ordnungswissen zu untersuchen, indem man wie Otto Brunner an den „Traditionsstrang“ der Hausväterliteratur anknüpft, wie es Blickle gefordert hat.27 Vielmehr sollte sich die Erforschung des Wissens vom Haus an den Ansätzen der Wissensgeschichte orientieren, wenn sie den methodischen Vorsprung anderer Konzepte zum Haus einholen will.
26 Vgl. die Beiträge von Thomas K. Kuhn und Christian von Zimmermann. 27 Blickle, Das Alte Europa (wie Anm. 4), 38.
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Das Haus in den Wissensordnungen der griechisch-römischen Antike 1 Einleitung Zwischen 35 und 32 v. Chr. veröffentlichte der römische Autor Cornelius Nepos erstmals seine Sammelbiographie „De viris illustribus“ („Über berühmte Männer“).1 Sein ‚Editionsplan‘ sah unterhaltsame wie lehrreiche Lebensbeschreibungen prominenter Könige, Feldherren, Dichter, Grammatiker, Redner und Historiker vor, wobei jeweils auf einen Band Römer ein Band Nichtrömer folgte. Weitgehend vollständig überliefert ist lediglich das Buch über die griechischen Heerführer, in dessen praefatio die Ziele der Disposition jedoch sehr deutlich werden: Den römischen Lesern sollten neben den vorbildhaften Eigenschaften der griechischen Protagonisten auch griechische Sitten und Gewohnheiten nahe gebracht werden. Denn vieles, was bei den Griechen durchaus üblich sei, gelte in Rom als verwerflich, und umgekehrt. „Welcher Römer schämt sich denn“, so der Biograph, „seine Frau zu einem convivium mitzunehmen? Welche mater familias beansprucht nicht den ersten Platz im Haus und begrüßt dort die Gäste? Wie ganz anders ist das doch in Griechenland. Denn dort darf die Frau nicht an einem Gastmahl teilnehmen – außer in der Familie. Auch hält sie sich nur im innersten Teil des Hauses auf, dem Frauengemach, das ‚gynaeconitis‘ genannt wird, und niemand darf es betreten, mit Ausnahme ihrer Verwandten.“2 Neposʼ Lebensbeschreibungen berühmter Feldherren sind in vielerlei Hinsicht eine interessante Quelle für ganz unterschiedliche Aspekte der Politik, Gesellschaft und Kultur Griechenlands und Roms im 1. Jahrhundert v. Chr. So lassen bereits die wenigen hier vorgestellten Zeilen der praefatio diverse Perspektiven auf das Haus in der Antike zu. Erstens erlaubt der Auszug Einblicke in konkrete Vorgänge, hier anlässlich des Gastmahls, ein sowohl für das griechische als auch für das römische Haus typisches Ereignis, das zumindest in den Häusern der Aristokratie und wohlhabenden Bürger eine regelmäßig wiederkehrende Begebenheit darstellte und klaren Verhaltensregeln unterworfen war.3 Dass diese in Griechenland und Rom dennoch
1 Zu Cornelius Nepos vgl. Andreas Mehl, Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklung. Eine Einführung. Stuttgart 2001, 75–77, mit weiterführender Literatur. Antike Autorennamen und Werktitel werden im Folgenden nach dem Abkürzungsverzeichnis des Neuen Pauly zitiert: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hrsg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1. Stuttgart 1996, XXXIX–XLVII. 2 Nep. vir. ill. praef. 4–7. 3 Zum symposion: Marek Wecowski, The Rise of the Greek Aristocratic Banquet. Oxford 2014; Fiona Hobden, The Symposion in Ancient Greek Society and Thought. Cambridge 2013. Zum convivium: Dirk
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unterschiedliche Formen annahmen, zeigt Nepos anhand der Frage, wie viel Bewegungsfreiheit für eine Frau in und außerhalb ihres Hauses angemessen sei, was in der antiken mediterranen koinē offenbar sehr unterschiedlich beurteilt wurde.4 Gleichzeitig verdeutlicht die Darstellung zweitens, dass die Existenz des Hauses für Nepos eine Selbstverständlichkeit war, die Griechenland und Rom miteinander verband: Zumindest implizit setzt er einen Personenverband voraus, der auf verwandtschaftlichen/familialen Verbindungen beruht, um die herum weitere Sozialbeziehungen angelagert sind; den räumlich-materiell fassbaren Fixpunkt stellt das Haus als Gebäude bzw. Gebäudekomplex dar, das Ort und Gegenstand sozialen Handelns ist. Im Lateinischen, wie auch im Altgriechischen existieren mit domus und familia sowie oîkos/oikía (oἶκος/οἰκία) den Sprachgebrauch dominierende Begriffe und auf diesen beruhende Wortfelder, die diese Einheit von Gebäude, Besitz und sozialem Raum ausdrücken. Diese Aspekte, ergänzt um die Beziehung des Hauses zur sozialen und politischen Umwelt, der res publica bzw. der pólis (πόλις), werden in den Quellen immer wieder, allerdings unterschiedlich intensiv und differenziert thematisiert oder einfach als feste Größen vorausgesetzt.5 Auf diese Weise rekurriert Nepos, der ausdrücklich das Ziel verfolgt, seiner Leserschaft Wissen zu vermitteln, drittens auf Wissensordnungen zu einem zentralen Aspekt antiker Lebenswirklichkeiten, nämlich den Platz des Hauses in Griechenland und Rom. Der Begriff der ‚Wissensordnung(en)‘ bezeichnet hierbei eine analytische Kategorie, die vor allem in der Wissenssoziologie und Wissensgeschichte Anwendung findet. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt hat der Historiker Peter Burke pointiert formuliert: „Was Individuen für Wahrheit oder Wissen halten, wird von ihrem sozia-
Schnurbusch, Convivium. Form und Bedeutung aristokratischer Geselligkeit in der römischen Antike. Stuttgart 2011; Matthew B. Roller, Dining Posture in Ancient Rome. Bodies, Values, and Status. Princeton 2006. Vgl. ferner Konrad Vössing, Mensa regia. Das Bankett beim hellenistischen König und beim römischen Kaiser. München 2004. 4 Zur Einführung vgl. Sharon L. James/Sheila Dillon (Hrsg.), A Companion to Women in the Ancient World. Malden 2012. Zu Griechenland vgl. Tanja S. Scheer, Griechische Geschlechtergeschichte. München 2011. Für Rom vgl. Jane F. Gardener, Frauen im antiken Rom. Familie, Alltag, Recht. München 1995; Kristina Milnor, Gender, Domesticity, and the Age of Augustus. Oxford 2008. 5 Zu den einschlägigen Quellen, ihren Tendenzen und Themen vgl. Ernst Dassmann/Georg Schöllgen, Haus II (Hausgemeinschaft), in: Ernst Dassmann u. a. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 13. Stuttgart 1986, 801–890. Zum sprachlichen Befund vgl. ebd., 803–806. Grundlegend zur römischen Konzeption ist Richard P. Saller, Familia, Domus, and the Roman Conception of the Family, in: Phoenix 38, 1984, 336–355. Die beschriebene Einheit wurde im Griechischen, das mit einem Wortfeld beide Aspekte abdeckt, offenbar etwas enger gedacht als im Lateinischen, wo die Existenz eines Begriffspaares eine etwas stärkere Differenzierung andeutet. Daneben gibt es natürlich viele andere, hier jedoch nicht zu erörternde Termini, die Elemente des Hauses betreffen und deren soziokulturelle Implikationen viel über eine Gesellschaft aussagen, wie etwa Maurizio Bettini, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom. Frankfurt am Main 1992, anhand der römischen Verwandtschaftsterminologie gezeigt hat. Vgl. dazu Ann-Cathrin Harders, Suavissima Soror. Untersuchungen zu den Bruder-Schwester-Beziehungen in der römischen Republik. München 2008, 26–30.
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len Umfeld beeinflusst, wenn nicht determiniert.“6 Wissen als die von einer spezifischen Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt „geteilte Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“7, wird in dieser Sichtweise also nicht mehr vorrangig als geistiges, sondern in erster Linie als soziales Phänomen begriffen. Die (deutsche) Geschichtswissenschaft hat diese Erkenntnisse und die daraus resultierenden Fragen erst seit den 1980er Jahren verstärkt aufgegriffen: Einerseits die Anregungen der Wissenssoziologie aufnehmend, andererseits in kritischer Auseinandersetzung mit der traditionellen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte standen und stehen hierbei zum einen die soziopolitische und ökonomische Verortung der Wissensträger, -vermittler und -schaffenden sowie der ‚Wissenden‘ und ‚Unwissenden‘ im Zentrum. Zum anderen haben insbesondere die Thesen Michel Foucaults, aber auch Pierre Bourdieus und Bruno Latours dazu beigetragen, dass die Wissensgeschichte ihren Fokus um die Frage nach der sozialen Praxis des Wissens erweitert hat.8 In Anlehnung und Auseinandersetzung mit Foucault, der den Begriff mit seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Wissen und Macht in die Diskussion eingebracht hat, werden ‚Wissensordnungen‘ als „umfassender, kulturell und institutionell fest verankerter Rahmen für die Definition und Bewertung von Wissen“, also als jener „Bereich des Handelns“ verstanden, „in dem Differenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen festgelegt werden“. Hierbei kommt auch der (symbolischen) Ausformung und Wahrnehmung von Wissensordnungen besondere Bedeutung zu.9 Doch was hat das mit dem Haus in der griechisch-römischen Antike zu tun? Sei es explizit formuliert, sei es implizit vorausgesetzt: Zumindest dem Anspruch nach war das Haus gleichermaßen ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Ordnung, wie auch Mittel des Ordnens. Die soziale, politische, rechtliche, ökonomische oder auch religiöse Integration des/der Einzelnen erfolgte über die Zugehörigkeit zu einem Haus. Die Meinungen darüber, wie die Details innerhalb dieses Rahmens angeordnet werden sollten, gingen im Laufe der Jahrhunderte allerdings weit auseinander. Eine Verortung des Hauses in den antiken Wissensordnungen, um zum einen die Ausformulierung besagter Details bzw. die mehr oder weniger konfliktreich verlaufenden Prozesse des Ausformulierens, zum anderen die Manifestationen des Ausformulierten und ihre Bedeutung zu erfassen, erlaubt somit Rückschlüsse auf zentrale Eigenarten
6 Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001, 10. 7 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 24. Aufl. Frankfurt am Main 2012, 1. 8 Vgl. Achim Landwehr, Wissensgeschichte, in: Rainer Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, 801–811; Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der ‚Wissensgesellschaft‘, in: GG 30, 2004, 639–660, hier 644–650. Einen Überblick zur Geschichte der Wissensforschung bietet Burke, Papier und Marktgeschrei (wie Anm. 6). 9 Martin Huber, Wissensordnungen, in: Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie (wie Anm. 8), 797–800, hier 797.
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jener Gesellschaften: auf Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Transformationsprozesse, auf Konkurrenz und Koexistenz verschiedener Gesellschafts- und Weltbilder sowie Modi ihrer Stabilisierung oder Destabilisierung. Dass hinter den Ansätzen der Einordnung des Hauses in die antiken Wissensordnungen sehr unterschiedliche Auffassungen von einer Gesamtheit des Hauses standen, zeigt auch der Befund jener griechischen und lateinischen literarischen Quellen, die bis in die Neuzeit große Wirkmacht entfaltet haben. Nicht nur in quellenkritischer Hinsicht sind hierbei drei divergierende, wenn auch im Einzelfall durchaus ineinander übergehende Erscheinungsweisen zu unterscheiden, die im Folgenden betrachtet werden sollen: Zum einen (2) geht es um Schriften, die der philosophischtheoretischen Reflexion über das Haus als Ganzes gewidmet sind, namentlich die griechische Ökonomik-Literatur. Zum anderen (3) sind Abhandlungen von Interesse, die ebenfalls mit dem Anspruch, Wissen zu vermitteln, Teilelemente des Hauses in den Blick nehmen, insbesondere die Werke der römischen auctores rei rusticae und Vitruvs „De architectura“. Schließlich bleiben (4) Schriften zu erörtern, die sich nicht in erster Linie mit dem Haus oder seinen Gliedern beschäftigen, dessen bzw. deren Existenz jedoch vorausgesetzt wird. Dass sich die Interpretation dieser Quellen bei näherer Betrachtung erheblich komplexer darstellt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, soll am Beispiel einer spezifisch römischen Ausformung von Wissensordnungen, den exempla, gezeigt werden.
2 Die griechischen ‚Klassiker‘ – Der oîkos der Ökonomik-Literatur Das Haus als Ganzes in den Mittelpunkt philosophischer Überlegungen zu rücken, ist ein sehr griechisches Phänomen, wie die Ausbildung eines eigenen literarischen Genres, nämlich die Ökonomik, zeigt, welches die Römer nicht entwickelt haben. Erste Ansätze systematischen Nachdenkens über das Haus sind bereits ca. 700 v. Chr. in einem der frühesten Werke der griechischen Literatur greifbar, nämlich in Hesiods „Werke und Tage“ („Ἔργα καὶ Ἡµέραι“), eine Art Spruchsammlung, deren Ratschläge sich am kleinbäuerlichen Milieu der mittelgriechischen Landschaft Böotien orientierten, woher der Autor selbst stammte.10 Den eigentlichen Auftakt zur philosophischtheoretischen Reflexion sieht die Forschung in der Sophistik, deren Anfänge in Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu verorten sind. Wie deren Stand-
10 Vgl. Winfried Schmitz, Haus und Familie im antiken Griechenland. München 2007. Grundlegend zur frühen Ökonomik ist Peter Spahn, Die Anfänge der antiken Ökonomik, in: Chiron 14, 1984, 301– 323. Vgl. ferner die Einleitung in Kai Brodersen/Gert Audring (Hrsg.), OIKONOMIKA. Quellen zur Wirtschaftstheorie der griechischen Antike. Darmstadt 2008.
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punkt zum Thema oîkos aussah, kann allerdings kaum mehr nachvollzogen werden, da von den Schriften der Sophisten lediglich Bruchstücke erhalten sind.11 Die erste zumindest namentlich nachweisbare Abhandlung, die der guten Leitung eines Hauses gewidmet war, hat Antisthenes (ca. 445–365 v. Chr.) vorgelegt. Auch über den Inhalt dieses Werkes kann jedoch nur spekuliert werden, da lediglich der Titel „περὶ νίκης οἰκονοµικóς“ überliefert ist.12 Die erste auch inhaltlich greifbare Ökonomik-Schrift ist die stilbildende Abhandlung des Xenophon (440/426–355 v. Chr.), die den Titel „οἰκονµικός“ trägt.13 Hierbei handelt es sich um einen fiktionalen Dialog zwischen Xenophons Lehrer, dem großen Sokrates, und Kritobulos, einem jungen und vornehmen Bürger Athens, der über die gute und angemessene Führung eines oîkos belehrt werden will. Erkennbar ist hier bereits die Strategie, derer sich der Autor bedient, um seinen Argumenten Überzeugungskraft zu verleihen: Sokrates erscheint hier als von Kritobulos akzeptierte Instanz über ‚Wahrheit‘ und ‚Irrtum‘, mittels derer Xenophon seine Thesen quasi als Wissensbestände absegnen lässt. Den Sokrates wiederum lässt Xenophon seine Autorität daraus ableiten, dass er – der in der Leitung großer Häuser keine eigenen Erfahrungen vorweisen kann – einen anerkannten ‚Fachmann‘ befragt: den ebenfalls fiktionalen Athener Ischomachos, der wie Kritobulos vom soziopolitischen Profil her Xenophons avisiertem Leserkreis entspricht.14 Dementsprechend wird eingangs zuerst der Gegenstand der Schrift, die oikonomía (οἰκονοµíα), als ein Wissensgegenstand (ἐπιϛτήµη) vorgestellt, der des Studiums wert ist. Oikonomía wird hierbei als das Bestreben des Haushaltungsvorstandes begriffen, das Haus ‚gut‘ zu leiten, und das heißt: den Besitz zu erhalten und auf ehrenhafte Weise zu vergrößern. Zum Haus gehört dabei nicht nur der Wohnraum, sondern alles, was der Herr besitzt, gegebenenfalls auch Eigentum, das sich in einer anderen pólis befindet.15 Die Vergrößerung seines Besitzes soll Kritobulos aufgrund seiner zahlreichen Verpflichtungen anstreben, die aus seinem Ansehen resultierten: großzügig die Götter zu ehren, Freunde zu unterstützen und sich um die pólis verdient zu machen, etwa durch die Ausrichtung von Wettkämpfen, die Übernahme kostspieliger Ämter oder die Ausstattung von Kriegsschiffen.16
11 Dassmann/Schölgen, Haus II (wie Anm. 5), 816 f.; Brodersen/Audring, Quellen (wie Anm. 10), 15 f. 12 Vgl. Spahn, Anfänge (wie Anm. 10). 13 Zu Xenophon Klaus Döring, Xenophon, in: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie, Abt. 1: Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1. Basel 1998, 182–200; Sarah B. Pomeroy, Xenophon – Oeconomicus. A Social and Historical Commentary. Oxford 1994. Zur Wirkungsgeschichte Sabine Föllinger, Xenophon, Oikonomikos, in: Christine Walde (Hrsg.), Der Neue Pauly. Supplemente, Bd. 7: Die Rezeption der antiken Literatur. Stuttgart 2010, 1139–1146. 14 Xen. oik. 7,12–17. 15 Xen. oik. 1,1–5; 6,4 f. 16 Xen. oik. 2,4–8. Vgl. auch 7,1–3; 11,9 f.
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Das beste Betätigungsfeld, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und ehrbar einen Überschuss zu erzielen, sei die Landwirtschaft. Sie sei am leichtesten zu erlernen und raube den Seelen am wenigsten Zeit, so dass man sich noch den Freunden und der pólis widmen könne, und stärke den Körper für den Kriegsfall. Daher stehe diese Lebensweise in höchstem Ansehen – anders als die der Handwerker, die verachtet würden, weil ihre zeitintensive Arbeit Körper und Seele schwäche.17 Abgesehen davon, dass der Hausherr bewandert sein müsse in den Arbeiten, die in der Landwirtschaft anfallen, betont Xenophon, dass ein guter Hausvorstand seine Angelegenheiten stets selbst im Blick behält und überall präsent ist.18 Ausführlich erörtert der Autor sodann Aspekte, die die Sozialbeziehungen im oîkos betreffen (etwa das Verhältnis und die Arbeitsteilung zwischen den Eheleuten oder der Umgang mit Sklaven), sodann die Anlage der Gebäude und schließlich die Bedeutung von Ordnung in den Vorrats- und Wirtschaftsräumlichkeiten.19 Aristoteles (384–322 v. Chr.), der berühmte Philosoph und Vordenker der europäischen politischen Theorie, ging ganz anders, jedoch nicht minder einflussreich an die Frage nach dem Haus heran.20 Eine eigene Schrift zum Thema hat Aristoteles wahrscheinlich nicht vorgelegt. Doch setzt er sich in einem seiner wichtigsten Werke, der „Politik“, mit dem oîkos als Gesamtheit auseinander und ordnet ihn systematisch in seine Verfassungstheorie ein. Dies erfolgt vor allem im ersten Buch der Schrift, in dem er allgemeine politische und anthropologische Grundlagen formuliert. Der oîkos wird hier als Schnittstelle zwischen Individuum und pólis, dem politisch verfassten Gemeinwesen, konzeptualisiert. Da Aristoteles das Haus als Teil einer übergreifenden Systematik interessiert, fällt seine Behandlung auf die für die weitere Theoriebildung wesentlichen Aspekte reduziert aus. Die Details, die Xenophon umtreiben, sind für Aristotelesʼ Zwecke von geringer Bedeutung. Auch führt er als Gewähr für die Richtigkeit seiner Überlegungen nicht die Expertise eines philosophischen Urvaters, sondern die Bewährtheit seiner Methode an, die vorsehe, ein Ganzes von seinen Bestandteilen ausgehend und im Prozess ihrer Entwicklung in den Blick zu nehmen.21 Vor diesem Hintergrund nähert sich der Philosoph der pólis und beginnt mit dem oîkos als ihrem kleinsten Baustein. Das Haus entstehe aus den beiden ersten und grundlegendsten Formen menschlicher Beziehungen, nämlich der Beziehung zwischen Mann und Frau sowie Herren und Sklaven. Der oîkos stelle insofern eine der Natur des Menschen gemäße Gemein-
17 Xen. oik. 4 f.; 6,5–10. 18 Xen. oik. 11,14–16; 12,1–15,1; 21,2–11. 19 Xen. oik. 7,1–10,13. 20 Als Einstieg Christopher Shields, Aristotle. London 2014; ders. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Aristotle. Oxford 2012. Speziell zur ‚Politik‘ Eckart Schütrumpf (Hrsg.), Aristoteles. Politik, 4 Bde. Berlin 1991–2005 sowie die Beiträge in Marguerite Deslauriers u. a. (Hrsg.), The Cambridge Companion to Aristotle’s Politics. Cambridge 2013. 21 Aristot. pol. 1,1252a,10–30.
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schaft dar, als sie bestehe, um die Bedürfnisse des täglichen Lebens zu stillen, wozu der Mensch allein nicht in der Lage sei. Die Gemeinschaft mehrerer Häuser sei das Dorf (κώµη/kómē) und ebenfalls als naturgemäß zu betrachten, da dort Bedürfnisse erfüllt würden, die der einzelne oîkos nicht bewältigen könne. Die sich aus mehreren Dörfern bildende vollendete Gemeinschaft sei schließlich die pólis, welche das Ziel vollendeter Genügsamkeit (αὐτάρκεια/autárkeia) verfolge. Auch hierbei handelt es sich nach Ansicht des Philosophen um eine Form von Gemeinschaft, die der Natur des Menschen entspricht, mehr noch als sogar das Haus. Denn das Ganze sei stets naturgemäßer als die Teile, aus denen es besteht. In diesem Sinn sei der Mensch ein zôon politikón (ζῷον πολιτικόν).22 Ein Mensch, der sich an keiner Gemeinschaft zu beteiligen vermag oder ihrer aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit nicht bedarf, sei kein Teil der pólis, „aber damit entweder ein Tier oder aber ein Gott“– jedenfalls kein Mensch, so die Implikation.23 Die innere Struktur des oîkos und die oikonomía beschäftigen Aristoteles vor diesem Hintergrund in zweierlei Hinsicht: zum einen als Ausdruck der grundlegenden Sozialbeziehungen (Mann/Frau, Vater/Kinder und Herr/Sklave), zum anderen in Hinblick auf den Erwerb des Vorrats an Mitteln, die für den Unterhalt des oîkos und der pólis nötig sind.24 Beides erörtert Aristoteles auf einer abstrakten Ebene und meist ohne konkrete Verhaltensmaximen. Wichtig ist ihm die Beschreibung der häuslichen Beziehungen als Herrschaftsbeziehungen mittels der Sprache der politischen Kategorienbildung und umgekehrt die Darstellung seiner verfassungstheoretischen Überlegungen mittels der Sprache des Hauses.25 Wie erwähnt, hat Aristoteles selbst wahrscheinlich keine eigene Schrift zur Ökonomik vorgelegt. Doch wurde ihm vielleicht schon seit der Antike die Verfasserschaft eines Konglomerats dreier Bücher mit recht komplizierter Überlieferungsgeschichte zugeschrieben, das heute als pseudoaristotelische oikonomika bekannt ist.26 Lediglich im ersten Buch ist der Anspruch zu erkennen, eine Sicht des oîkos als Gesamtheit vorzustellen. Aufgrund der inhaltlichen Nähe zu Aristotelesʼ „Politik“ wird das Buch, das allerdings auch zahlreiche Bezüge zu Xenophon erkennen lässt, dem Umfeld des Peripatos zugerechnet und ist damit wohl Ende des 4. oder Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. zu situieren. Da die Schrift nur fragmentarisch erhalten ist, fällt es schwer, Aussagen über den Stellenwert der überlieferten Inhalte im Gesamtzusammenhang zu treffen. Doch wird deutlich, dass die Verbindung zwischen Haus und Gemeinwesen weiterhin als wichtiges Element in einer Schrift über das Haus betrachtet wurde. So nimmt der unbekannte Autor in Anlehnung an Aristoteles das Haus
22 Aristot. pol. 1,1252b,10–1253a,5. 23 Aristot. pol. 1,1253a,25. Vgl. auch 1,1253a,5. 24 Aristot. pol. 1,1253b,1–1260b,5. 25 Vgl. etwa Aristot. pol. 1,1259a35–1259b15. 26 Zu Überlieferung und Struktur vgl. Brodersen/Audring, Quellen (wie Anm. 10), 27–32.
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von der pólis ausgehend in den Blick.27 Der oîkos bestehe aus zwei Teilen: aus den Menschen und dem Besitz bzw. den Einkünften, wobei Letztere am besten mittels der Landwirtschaft zu erwerben seien, weil sie besser als das Handwerk geeignet sei, Tapferkeit und Tüchtigkeit für den Kriegsfall einzuüben.28 Im Anschluss an diese Vorbemerkungen erfolgen ähnlich wie bei Xenophon, aber inhaltlich durchaus mit anderen Akzenten, Ratschläge, etwa zur Auswahl der Ehefrau, zur Arbeitsteilung zwischen den Eheleuten oder zur Anleitung der Sklaven.29 Insgesamt bleibt Folgendes festzuhalten: Spätestens seit Xenophon existierte ein Themenspektrum, das im Rahmen von Schriften, die sich mit dem oîkos beschäftigten, immer wieder aufgegriffen wurde. Bestimmte Erzählfiguren entwickelten sich langfristig geradezu zu Versatzstücken, die in ähnlicher Weise auch in Schriften, die nur Teilaspekten des Hauses gewidmet waren, und schließlich auch in ganz anderen literarischen Genres Verwendung finden konnten. Ferner hatten die Autoren die großen Häuser wohlhabender und angesehener Bürger einer pólis vor Augen; die ‚mittelständischen‘ oder gar die kleinen Häuser der Armen finden nur selten Erwähnung. Auch wird stets ein Zusammenhang zwischen dem oîkos und dem politisch verfassten Gemeinwesen der pólis hergestellt, deren Grundlage die Häuser ihrer Bürger sind. Das führt zu einer letzten, aber sehr wichtigen Gemeinsamkeit, wonach die Entstehung dieser Schriften in soziokultureller und politischer Hinsicht im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. zu verorten ist. Was das konkret bedeutet, ist an dieser Stelle nicht ausführlich zu erörtern, soll jedoch zumindest bezogen auf den politischen Rahmen exemplarisch angerissen werden, um zu verdeutlichen, dass es auch in Hinblick auf die Philosophie des Hauses nicht genügt, in der reinen Ideengeschichte zu verharren. Vielmehr muss die Frage nach dem sozialen, kulturellen, ökonomischen oder politischen Hintergrund jener Diskurse gestellt werden, will man sie verstehen.30 So können Xenophon und Aristoteles, die beide in die politischen Vorgänge ihrer Zeit involviert waren, wohl kaum als begeisterte Befürworter der Athenischen Demokratie gelten, doch war dies der Rahmen, in dem sie sich intellektuell, sozial und politisch bewegten. Nach den Perserkriegen (490–479 v. Chr.), die mit dem triumphalen Sieg der Griechen unter der Führung Athens und Spartas endeten, verfestigten sich die demokratischen Strukturen in Athen so weit, dass sie – trotz mancher Krise – auch die Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) überdauerten.31
27 Ps.-Aristot. oik. 1,1,1 f. 28 Ps.-Aristot. oik. 1,2,1–3. 29 Ps.-Aristot. oik. 1,3–6. 30 In diesem Sinn Stefan Rebenich, Monarchie, in: Georg Schöllgen u. a. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 24. Stuttgart 2012, 1112–1196, hier 1113. 31 Zum Folgenden grundlegend: Karl-Wilhelm Welwei, Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit. 2. Aufl. Stuttgart 1998 und ders., Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jhd. Darmstadt 1999. Zu den Konflikten in Athen, welche
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Seit Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. bahnten sich mit dem Aufstieg der Makedonen jedoch gravierende Veränderungen an: Die Eroberungszüge Alexanders des Großen, der Zerfall seines Reiches und die Kriege der Diadochen um sein Erbe mündeten in die Begründung der hellenistischen Königreiche. Die Welt der griechischen póleis und die Athenische Demokratie gingen im Zuge dieses Prozesses zwar keineswegs unter. Doch büßten die einst mächtigen griechischen Stadtstaaten massiv an überregionaler Bedeutung ein, die zunächst an die hellenistischen Herrscher überging, bis diese seit Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. zunehmend vom Imperium Romanum marginalisiert oder verdrängt wurden. In Reaktion auf die politischen Fragen der Zeit entwickelte sich seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. ein breiter philosophischer Diskurs über die Frage nach der besten politischen Verfassung.32 In den Kontext dieser Diskussion gehört letztlich auch die Ökonomik-Literatur, die den Gegenstand des Handelns beschreibt, der zwischen pólis und Bürgern stand, um Letztere in Erstere zu integrieren. Der Hintergrund der komplexen Beziehung zwischen verfassungstheoretischem Diskurs und politischer Lebensrealität erklärt vielleicht auch den Befund, dass es seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. in theoretisch-philosophischer Hinsicht still wurde um den oîkos als Ganzes. Stefan Rebenich hat jüngst festgestellt, dass angesichts der monarchischen Struktur der hellenistischen Hegemonialmächte und ihres Erfolgs die Alleinherrschaft des basileús in den Fokus der politischen Theoriebildung rückte, indem die Debatte um die beste Herrschaftsform zunehmend durch die Diskussion ersetzt wurde, welche Qualitäten einen guten Herrscher auszeichnen.33 Ähnlich wie die Frage nach der besten Verfassung machte vielleicht auch die Diskussion der Ökonomik-Literatur um den oîkos als Grundlage des Gemeinwesens unter den Vorzeichen der Monarchie keinen Sinn mehr.34 Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass diese Verbindung zwischen Haus und Gemeinwesen nicht mehr gesehen oder gar verneint wurde. Ganz im Gegenteil: Diese Vorstellung gehörte die ganze Antike hindurch zum Repertoire nicht nur der politisch-philosophischen Reflexion.35 Das Interesse am Genre der Ökonomik-Schriften flackerte erst im 1. Jahrhundert v. Chr. noch einmal auf, als sich die Neupythagoreer des Themas annahmen. Erneut sind lediglich Fragmente überliefert, die inhaltlich an Aristoteles und Xenophon anlehnen. Ihre Interpretation gestaltet sich jedoch besonders kompliziert, weil es
immer wieder die demokratische Verfasstheit der pólis in Frage stellten, vgl. Christian Mann, Die Demagogen und das Volk. Zur politischen Kommunikation im Athen des 5. Jhd. v. Chr. Berlin 2007. 32 Rebenich, Monarchie (wie Anm. 30), 1128–1147. 33 Ebd., 1142–1147. 34 Interessant wäre, ob und wie der oîkos in den entstehenden Schriften ‚περὶ βασιλεíας‘ thematisiert wurde (ebd., 1145 f.). Dass der ‚Staat‘ als oîkos des Monarchen behandelt wurde, hat Christian Mileta, Der König und sein Land. Untersuchungen zur Herrschaft der hellenistischen Monarchen über das königliche Gebiet Kleinasiens und seine Bevölkerung. Berlin 2008, gezeigt. 35 Vgl. Dassmann/Schöllgen, Haus II (wie Anm. 5), mit den Quellen.
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sehr schwer ist, die Entstehung dieser pseudonymen Schriften zeitlich einzuordnen und ihren historischen Kontext zu erfassen.36 Ein eigener Entwurf einer Theorie des Hauses ist schließlich noch einmal bei dem Epikureer Philodemos von Gadara (ca. 110–40 v. Chr.) greifbar. Anders als griechische Philosophen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. wirkte er nicht mehr in Athen, sondern lebte als Protegé des Senators Lucius Calpurnius Piso Caesonius, Consul des Jahres 58 v. Chr. und Schwiegervater Caesars, am Golf von Neapel – kein ungewöhnlicher Lebensweg für griechische ‚Intellektuelle‘ jener Zeit, von denen seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. viele auf unterschiedliche Weise den Weg nach Rom, dem neuen Hegemon im Mittelmeerraum, fanden.37 Auch die Behandlung des Themas unterscheidet sich bei Philodemos in bestimmten Aspekten signifikant von früheren Autoren.38 In seiner fragmentarisch erhaltenen Schrift „περὶ οἰκονοµíας“ trägt er den epikureischen Standpunkt zum Thema vor. Ihm gehe es nicht, so Philodemos, um die Frage, wie man im Haus glücklich leben könne, sondern wie sich ein Philosoph stellen soll zum Erwerb und Bewahren von Vermögen.39 Denn für den Philosophen gebe es ein rechtes Maß des Reichtums. Wünschenswert sei ein Vermögen, das dem Philosophen die notwendige Muße für die philosophische Betätigung verschaffe und ihm gestatte, seinen Freunden nützlich zu sein – jedoch nicht mehr.40 Im Rahmen dieser Grundkonzeption behandelt Philodemos ähnliche Dinge wie seine Vorgänger, wendet sich sogar so profanen Themen wie der Vorratshaltung zu.41 Das Thema Landwirtschaft erörtert er allerdings nicht, handele es sich hierbei doch um ein Tätigkeitsfeld, das einem Philosophen und des Philosophierens nicht angemessen sei.42 Auch die Diskussion um das Verhältnis zwischen Haus und Gemeinwesen hat Philodemos offenbar kaum interessiert. Eine explizit politische Dimension der Ökonomik sucht man in seiner Konzeption jedenfalls vergeblich. Dies ist jedoch auch kein Wunder, geht doch der epikureische Ansatz, sich der Philosophie und dem Fortkommen der Freunde zu widmen, einher mit dem Rat, sich fernzuhalten von der Politik.43 Eine Schrift über Haushaltsführung, die erfolgreiches Wirtschaften als Zweck verfolgte, konnte vor diesem Hintergrund durchaus Sinn machen – sofern die Verwendung des so generierten Vermögens losgelöst war von der Frage nach der politischen oder verfassungstheoretischen Einbettung des oîkos.
36 Brodersen/Audring, Quellen (wie Anm. 10), 35 f. 37 Vgl. Simon Laursen, Greek Intellectuals in Rome. Some Examples, in: Pia Guldager Bilde u. a. (Hrsg.), Aspects of Hellenism in Italy. Towards a Cultural Unity? Kopenhagen 1993, 191–211. 38 Philodemos Coll. A u. B; 1–12, jetzt abgedruckt und übersetzt in Brodersen/Audring, Quellen (wie Anm. 10), 176–203. Zur Person: ebd., 32–35. 39 Philodemos Coll. 12. 40 Philodemos Coll. 12–16; 26 f. 41 Philodemos Coll. 1–12. 42 Philodemos Coll. 7 f.; 16 f. 43 Zur Lehre und Schule Epikurs vgl. die einschlägigen Beiträge von Michael Erler in: Flashar (Hrsg.), Grundriss (wie Anm. 13), Bd. 4.
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3 Zwischen Praxisbezug, Populärphilosophie und (aristokratischer) Selbstdarstellung – Die lateinischen ‚Klassiker‘ der römischen Republik und des frühen Prinzipats Eine andere Form der Einordnung des Hauses in antike Wissensordnungen kann in Fach- bzw. Sachbüchern gefasst werden, deren Intention nicht eine Betrachtung des Hauses als Ganzes oder die Einbindung einzelner Elemente in das Ganze ist, sondern die in Hinblick auf bestimmte Teilaspekte den Anspruch erhoben, fachbezogenes Wissen zu vermitteln.44 Als besonders wirkmächtig bis in die Neuzeit erwiesen sich hierbei die Schriften der lateinisch schreibenden auctores rei rusticae Cato, Varro und Columella über die Landwirtschaft sowie Vitruvs „De architectura“. Diese Autoren berufen sich zwar durchaus auf die einschlägigen griechischen Autoren oder übernehmen Versatzstücke aus ihren Schriften. Doch steht im Fall der Agrarschriftsteller stets das römische Landgut (villa) als Einheit landwirtschaftlicher Produktion, bei Vitruv das Haus als Gegenstand der Architektur im Mittelpunkt, und nicht etwa – äquivalent zum oîkos der Ökonomik-Literatur – die philosophische Reflexion über die Struktur von domus und familia in ihrem Bezug auf die res publica. Die Schrift „De agri cultura“ des Marcus Porcius Cato Censorius (234–149 v. Chr.) stellt noch keine durchstrukturierte Abhandlung dar.45 Sie enthält eine Sammlung von Ratschlägen und Hinweisen zu ganz unterschiedlichen Themen, die mit den Arbeiten und dem Leben auf einem römischen Landgut zu tun hatten. Beginnend mit dessen Erwerb und schließend mit dem Einpökeln Puteolanischer Koteletts, bietet der Autor eine bunte Mischung von Bauernregeln, Bauanleitungen, Musterverträgen, Hausmitteln und Kochrezepten. Im Zentrum steht die Frage, wie man ein Landgut so einrichtet und leitet, dass mit Ackerbau und Viehzucht gute Erträge erwirtschaftet werden können. Auffällig ist, dass die Schrift weitgehend frei von jenem moralischen Duktus ist, dessen sich spätere römische (Agrar-)Schriftsteller häufig bedienten und den man auch vom sprichwörtlich sittenstrengen Cato erwartet hätte. In den Details lassen sich oft Parallelen zu Xenophon ziehen, der zu seinen Quellen gehört. Den
44 Grundlegend: Burkhard Meißner, Die technologische Fachliteratur der Antike. Struktur, Überlieferung und Wirkung technischen Wissens in der Antike. Berlin 1999; Marietta Horster/Christiane Reitz (Hrsg.), Antike Fachschriftsteller. Literarischer Diskurs und sozialer Kontext. Stuttgart 2003. Zu den Agrarschriftstellern vgl. Silke Diederich, Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie. Berlin 2007. 45 Zu Cato vgl. Alan E. Astin, Cato the Censor. Oxford 1978, zu „De agri cultura“ Diederich, Agrarhandbücher (wie Anm. 44), 13–23; 165–171.
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philosophischen Bezug greift Cato jedoch nicht auf. Generell interessierte ihn das Verhältnis von Haus und Gemeinwesen im Rahmen dieser Schrift kaum.46 In der Folgezeit gewann das Thema Landwirtschaft an Beliebtheit unter den schriftstellernden römischen Senatoren. Wie etwa auch historiographische Formate, Reden oder juristische Themen wurde die Landwirtschaft zu einem Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung. Dessen Sachbezogenheit auf einen Lebensbereich, der als zentrales Element einer angemessenen aristokratischen Lebensführung galt, machte ihn zu einer passenden Beschäftigung. Dabei scheinen jene Autoren, deren Schriften weitgehend verloren sind, sich auch hinsichtlich der Art der Darstellung an Cato orientiert zu haben.47 Marcus Terentius Varro (ca. 116–27 v. Chr.), dessen „Rerum rusticarum libri III“ chronologisch die nächste vollständig überlieferte Schrift über die Landwirtschaft darstellen, versprach hier einen systematischeren Zugang.48 Der Autor bereitet seinen Gegenstand in drei Themenbereichen auf: Ackerwirtschaft (agri cultura), Viehzucht (pecuaria) und Hoftierhaltung (pastio villatica). Bei der Darstellungsweise orientiert sich Varro, der sich wie Cicero als Vermittler zwischen griechischer und römischer Kultur begriff, am philosophischen Gespräch griechischer Art. Der Gegenstand der Unterhaltung entspringt allerdings nicht der Philosophie und soll auch nicht dazu erhoben werden. Vielmehr geht es um ‚altrömisch‘praktische Wissensbestände als passenden Diskussionsgegenstand für römische Senatoren und Ritter. Dies vermittelt Varro insbesondere über die Rahmenhandlung: Stets treffen einige Senatoren und Ritter, die von dem zur Debatte stehenden Thema aus eigener Erfahrung viel verstehen, aufeinander und haben in Situationen, die symbolisch für jene Bereiche stehen, denen sich gute römische Bürger widmen sollten – bei der Verrichtung religiöser Pflichten, während eines Feldzugs oder im politischen Alltag der urbs – einen Moment Muße für ein kultiviertes Gespräch über Ackerbau und Viehzucht.49 Im Vergleich zu Cato nehmen bei Varro historische und linguistische Exkurse viel Raum ein, was wohl auch auf seinen Anspruch exzeptioneller Gelehrsamkeit zurückzuführen ist. Ein weiteres neues Element, das jedoch möglicherweise schon vor Varro in die Agrarschriften eingebracht wurde, ist der moralisierende Dekadenzdiskurs, der den Autor über die luxuria seiner Mitmenschen räsonieren lässt.50 Grundsätzlich betont er die Ertragskraft von agrarischen Bewirtschaftungsformen als zentralen Diskussionspunkt der Schrift, erörtert jedoch auch die Bedeutung von delectatio
46 Cato agr. 4. 47 Vgl. Kenneth D. White, Roman Agricultural Writers 1. Varro and his Predecessors, in: Hildgard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Tl. 1, Bd. 4. Berlin 1973, 439–497. 48 Varro rust. 1,2,25 ff. – Zu Varro vgl. Burkhart Cardauns, Marcus Terentius Varro. Einführung in sein Werk. Heidelberg 2001; Thomas Baier, Werk und Wirkung Varros im Spiegel seiner Zeitgenossen. Stuttgart 1997. 49 Vgl. Diederich, Agrarhandbücher (wie Anm. 44), 172–208. 50 Varro rust. 1,2,9–10; 1,13,6 f.; 2 praef.; 3,2.
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und amoenitas, von Vergnügen und Lieblichkeit.51 Es ist das ausgewogene Verhältnis des Nützlichen und des Schönen, so könnte ein Leitgedanke zusammengefasst werden, welches die gute Führung eines Landgutes kennzeichnet. Vor diesem Hintergrund erklärt Varro auch, was dafür spricht, die einerseits sehr profitable, andererseits Vergnügen und Genuss versprechende pastio villatica als eigenständiges Gebiet der Landwirtschaft zu betrachten, dem er als erster ein eigenes Buch widme. Hierin kommt allerdings nicht nur landwirtschaftliche ‚Fachsimpelei‘, sondern auch ein Charakteristikum der soziopolitischen Verhältnisse der ausgehenden Republik zum Ausdruck: die inneraristokratische Konkurrenz. Nicht von Ungefähr lobte Varro die Vogelzucht als besonders schönen und einträglichen Zweig der Hoftierhaltung. Denn dies bot ihm Gelegenheit, anhand seiner eigenen Vogelzucht, die in aufwändig gestalteten Gehegen untergebracht war, gleichermaßen überragenden Geschmack und landwirtschaftliche Sachkenntnis zu beweisen.52 Die Schrift „De re rustica“ des Lucius Iunius Moderatus Columella, der in zwölf Büchern zahlreiche Gebiete der Landwirtschaft erschöpfend abhandelt, entstand wahrscheinlich in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr.53 Den Verfall der Sitten seiner Zeit beklagend, der dazu führe, dass Gutsbesitzer nur selten Zeit auf ihren Ländereien verbrächten, stellt Columella die große Bedeutung der Landwirtschaft heraus, um zu begründen, warum er sich mit diesem Thema beschäftigt.54 Im Ganzen betrachtet, handelt es sich um eine sehr praxisorientierte Abhandlung, die deutlich den Anspruch erkennen lässt, in allen Fragen der Landwirtschaft mit sinnvollen Ratschlägen aufzuwarten – offenbar mit Erfolg, denn die Schrift wurde lange Zeit viel gelesen.55 Gleichzeitig war der Autor bestrebt, sein breitgefächertes (griechisches) Bildungswissen unter Beweis zu stellen, was den reinen Sachbezug bisweilen sprengt. In Columellas Schrift verbinden sich damit eine Reihe von Elementen, die schon bei seinen Vorgängern greifbar sind: die Sachlichkeit und die Detailfreudigkeit Catos mit der systematischen Vorgehensweise Varros, bei dem auch die moralisierenden Ansätze bereits erkennbar sind, die Columella in Exkursen zu Sittenverfall und Dekadenz weiter ausschmückt.56 Auch im Fall der römischen Agrarschriften gilt es, den jeweiligen soziopolitischen Hintergrund für die Interpretation zu beachten, vor dem die Werke entstanden und der sich ganz anders darstellt als im Fall der griechischen Autoren des 5. und
51 Varro rust. 1,3–1,4,4; 1,7,2; 3,1,9 f. 52 Varro rust. 3,5–18. 53 Zu Columella vgl. die Einleitung in Will Richter (Hrsg.), L. Iunius Moderatus Columella. Zwölf Bücher über Landwirtschaft, 3 Bde. München 1981–1983; Diederich, Agrarhandbücher (wie Anm. 44), 53–77; 209–257. 54 Colum. 1 praef. 55 Zur Wirkungsgeschichte Claudia Schindler, Columella, de re rustica, in: Walde (Hrsg.), Der Neue Pauly (wie Anm. 13), 263–270. 56 Vgl. etwa Colum. 1 praef.; 12 praef.
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4. Jahrhunderts. So war Cato einer der einflussreichsten und exponiertesten Protagonisten in der Politik der klassischen römischen Adelsrepublik.57 Seine auch von der Nachwelt vielbeschworene Sittenstrenge, mit der er den angeblich drohenden Verfall römischer Sitten und Tugenden, die Luxussucht und die übermäßige Bewunderung der griechischen Kultur seitens seiner Standesgenossen geißelte, ist hierbei als Teil seiner Selbstdarstellung zu begreifen, mit der Cato seinen Anspruch auf politische Autorität zu begründen suchte. In diesem Kontext diente die Schrift „De agri cultura“, die Formen agrarischen Wirtschaftens idealisiert, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wohl bereits überholt waren und die Cato auch auf den eigenen Gütern vielleicht gar nicht mehr betrieb58, der kalkulierten Inszenierung ‚altrömischer‘ virtutes. Ebenso ist Varro vor dem Hintergrund seiner Zeit zu betrachten, nämlich der sich rasch zuspitzenden Krise der römischen Republik: Als Aufsteiger aus einer ritterlichen Familie absolvierte er erfolgreich die senatorische Ämterlaufbahn, geriet wie so viele in den Bürgerkriegen zwischen die Fronten und entging nur knapp den Proskriptionen.59 In seiner Schrift zeigt sich seine für diese Zeit typische Herangehensweise an das Problem der inneraristokratischen Konkurrenz, die nicht nur im politischmilitärischen Bereich zum Tragen kam, sondern auch im Bereich der senatorischen Lebensführung. Varro wählte hier den Weg, sich als Vermittler zwischen altrömischer Tugend und griechischer Philosophie zu inszenieren, um sich im inneraristokratischen Wettkampf zu positionieren. Columella wiederum kann als typischer Vertreter der Funktionseliten des kaiserzeitlichen Imperium Romanum gelten. Als Angehöriger der ambitionierten Oberschicht der reichen Provinz Baetica hatte er eine militärische Karriere angestrebt, an deren Ende er sich in Italien niederließ, offenbar jedoch ohne politische Würden oder Einfluss in Rom anzustreben.60 Er ging sichtlich nicht mehr ausschließlich vom Vorbild oder den Vorgaben der alten Senatsaristokratie als Maßstab für einen gelungenen sozialen Aufstieg aus. Vor diesem Hintergrund zeigen sich auch die Grenzen des modernen Verständnisses von Fachbüchern in Hinblick auf die Schriften der römischen ‚Fachschriftsteller‘. Deren Zweck bestand in der Regel nicht ausschließlich, manchmal nicht einmal primär in der Wissensvermittlung, obschon die Autoren dies behaupten. Doch auch Selbstinszenierung war eine wichtige Motivation.61 Wie dies im Einzelfall aussah und wozu es jeweils diente, das Beschriebene als ‚Wissen‘ zu deklarieren, hing dabei stark vom historischen Hintergrund ab. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass
57 Vgl. Astin, Cato the Censor (wie Anm. 45). 58 Zur Diskussion vgl. Nicola Terrenato, The Enigma of the ‚Catonian‘ Villas. The De agri cultura in the Context of Second-Century BC Italian Architecture, in: Jeffrey A. Becker u. a. (Hrsg.), Roman Republican Villas. Architecture, Context, and Ideology. Ann Arbor 2012, 69–93, mit der älteren Literatur. 59 Vgl. Cardauns, Marcus Terentius (wie Anm. 48) sowie Baier, Werk (wie Anm. 48). 60 Vgl. Richter, Iunius Moderatus (wie Anm. 53). 61 Vgl. Silke Diederich, Das römische Agrarhandbuch als Medium der Selbstdarstellung, in: Thorsten Fögen (Hrsg.), Antike Fachtexte. Berlin 2005, 271–288.
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den Autoren die tatsächliche Nützlichkeit ihrer Abhandlungen unwichtig war: Die beiden Funktionen schlossen sich keineswegs aus, im Gegenteil. Dies zeigen auch die berühmten zehn Bücher Vitruvs (ca. 80/70–15 v. Chr.) über Architektur, die weit über die Antike hinausgehend in allen Fragen der Baukunst konsultiert wurden.62 Gegenstand der Schrift ist die Darlegung der theoretischen Grundlagen der Architektur und ihre Umsetzung. Ein guter Baumeister, so Vitruv, sei in vielen Themen bewandert. Daher erscheine es ihm sinnvoll, der Ausbildung des Architekten eine Abhandlung zu widmen, wobei es ihm nicht um die vollkommene Beherrschung der zahlreichen relevanten Wissenschaften gehe, sondern um jene Kenntnisse, die ein Baumeister für seine Tätigkeit benötige.63 Anhand verschiedener Gebäudetypen zeigt Vitruv, was bei der Planung zu berücksichtigen sei: angefangen bei griechischen Tempeln über ‚öffentliche‘ Gebäude wie Foren, Theater, Bäder und Brunnen bis hin zu Wohnhäusern. Zentral sind hierbei Begriffe wie decor, symmetria und distributio, bei denen es um Prinzipien der Angemessenheit und Ausgewogenheit geht.64 Dies betrifft zum einen bauliche Proportionen, wird aber auch auf die Wechselbeziehung zwischen Gebäude und Funktion angewendet. In diesem Sinne diskutiert Vitruv etwa, was bei der Errichtung einer Basilika oder eines Kerkers zu beachten und dass bei einem Wohnhaus der politisch-sozialen Stellung des Besitzers Rechnung zu tragen sei.65 Wie die auctores rei rusticae nutzte auch Vitruv seine Schrift, um seine Bildungsbeflissenheit zu beweisen. Der Autor verzichtet allerdings auf Tiraden über den Niedergang von Sitte und Moral. Letztlich ist Vitruv vor allem pragmatisch: Geboren als freier römischer Bürger, hatte er in den Bürgerkriegen für Caesar und Octavian, den späteren Kaiser Augustus, Kriegsmaschinen gebaut und sich später, gefördert vom princeps, hauptberuflich der Architektur zugewendet. Sein literarisches Anliegen bestand offenbar tatsächlich darin, ein sinnvolles Hilfsmittel für (angehende) Architekten vorzulegen, um auf diese Weise seinen Ruhm zu begründen.
4 domus und res publica im exemplum – ‚Geschichtskultur‘ als Wissensordnung Ebenso wichtig und interessant für die Untersuchung des Hauses in den Wissensordnungen der griechisch-römischen Antike sind literarische Quellen, deren Thema gar
62 Zur Wirkungsgeschichte Philip Stinson, Vitruv, de architectura, in: Walde (Hrsg.), Der Neue Pauly (wie Anm. 13), 1131–1138. Vgl. auch den Beitrag von Hans-Georg Lippert in diesem Band. 63 Vitr. 1,1. 64 Vgl. etwa Vitr.1,2 f.; 5,9. 65 Vitr. 6 praef; 6.
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nicht in erster Linie das Haus oder Teilaspekte des Hauses sind, jedoch darauf Bezug nehmen bzw. diese voraussetzen, wie eingangs am Beispiel von Neposʼ FeldherrenBiographien gezeigt wurde. Diese wurden in der Antike gerne und viel gelesen, galten in der modernen Forschung aber lange als wenig ergiebig und literarisch nicht besonders wertvoll.66 Gerade ihre vermeintliche ‚Mittelmäßigkeit‘ macht die Viten allerdings zu einer sehr aufschlussreichen Quelle: Als Durchschnittsautor bediente Nepos Themen, die ihm so interessant und wissenswert erschienen, dass er sie dem Durchschnittsleser bekannt machen wollte. So wählte der Biograph auch das Haus, um das Publikum von seinem Projekt der Wissensvermittlung zu überzeugen und es gleichzeitig zu fesseln, handelte es sich hierbei doch um ein Thema, das an die Lebenswirklichkeit der Leser anknüpfte bzw. den Vergleich damit nahelegte. Dieses Vorgehen bei der Analyse potenzieller Quellen lässt sich leicht übertragen: auf Prosa und Dichtung, Komödie, Tragödie und Satire, Reden, Briefe oder historiographische Formate. Auch hier sind die Zeitgebundenheit der Autoren, die soziopolitische Bedingtheit oder auch Funktionen ihrer Werke sowie gattungsspezifische literarische Konventionen für die Interpretation zu berücksichtigen. Ein interessanter Ausgangspunkt für die Frage nach dem Haus in der antiken Wissensordnung stellt das exemplum dar, eine in ganz unterschiedlichen Genres der römischen Literatur verwendete Form des Rückbezugs auf die Vergangenheit als Vorbild für die Gegenwart. Das exemplum war ein wichtiges Element der römischen ‚Geschichtskultur‘67, die letztlich eine spezifisch römische Form der Wissensordnungen darstellt. Sie beruhte auf der Autorität der Sitten der Ahnen (mos maiorum), berief sich also auf Geschichte, auf (mehr oder weniger) verbürgtes ‚wahres‘ Wissen um die Vergangenheit. Exempla, jene kurzen Erzählungen, die das moralisch vorbildliche Handeln eines Individuums in der ruhmreichen Geschichte Roms schildern, das oft unter großen persönlichen Opfern dem Wohl der res publica dient, boten hierbei einen sehr anschaulichen Maßstab für die Unterscheidung zwischen moralisch ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Verhaltensweisen. Die Umsetzbarkeit zentraler römischer Wertvorstellungen schien durch die angeblich erfolgte Umsetzung, ihre Berechtigung durch den Erfolg der maiores bewiesen, die als Begründer der identitätsstiftenden Größe Roms galten.68 Diese Transformation moralisch begründeter Verhaltensdirektiven in ‚personifizierte‘ historische Wissensbestände ermöglichte es, Geschichte in besonders eingängiger Weise in ganz unterschiedlichen Kontexten als Legitimierungsstrategie einzusetzen.
66 Vgl. dazu Anm. 1. 67 Grundlegend zum Thema: Uwe Walter, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom. Frankfurt am Main 2004. Vgl. auch Karl-Joachim Hölkeskamp, Rekonstruktionen einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte. München 2004, insbes. 24–29, 53–56. 68 Vgl. Walter, Memoria (wie Anm. 67), 51–60.
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Besonders bekannt, weil es bis weit in die Neuzeit rezipiert wurde, ist das exemplum der Lucretia.69 Sie soll die Gattin des Lucius Tarquinius Collatinus gewesen sein, der ihre Sittsamkeit gerne und stolz pries. Dies habe in Sextus Tarquinius, dem Sohn des verhassten Königs, das Verlangen geweckt, Lucretia zu besitzen und ihre Tugend zu zerstören. In Collatinusʼ Abwesenheit habe er als Gastfreund und Verwandter dessen Haus aufgesucht, wo ihn Lucretia beherbergte. Als der Königssohn ihren heftigen Widerstand mit der Drohung gebrochen hatte, sie zu töten und dies mit einem von ihm entdeckten Ehebruch zu rechtfertigen, vergewaltigte er sie. Nachdem Lucretia ihren Mann und ihren Vater informiert hatte, die beide beteuerten, dass sie völlig schuldlos sei, habe sie sich eigenhändig einen Dolch ins Herz gestoßen: Keine Frau, so Lucretia, sollte sich auf ihr Schicksal berufen können, um ungestraft Ehebruch zu begehen. Sterbend habe sie ihnen jedoch das Versprechen abgenommen, sie zu rächen. Der anschließende Aufstand soll zur Gründung der Republik geführt haben. Lucretia wurde in der Folgezeit zur Verkörperung des vorbildlichen Verhaltens einer römischen matrona. So wurde etwa die Anekdote, wonach ihr Mann und seine Freunde sie bei einem unangekündigten Besuch spinnend und webend antrafen, zu einem beliebten Motiv auf Grabreliefs und in Grabinschriften.70 Gerade die LucretiaGeschichte zeigt allerdings auch, dass Aussagen und Bewertungen eines exemplum stets aufs Neue Aushandlungsprozessen unterworfen waren, die auf soziale, politische und kulturelle Veränderungen reagierten. So deutete der Kirchenvater Augustin (354–430 n. Chr.) Lucretias Selbstmord um zu einem Akt ‚heidnischer‘ Hybris und Heuchelei.71 In Hinblick auf die Rolle des Hauses in den römischen Wissensordnungen ist besonders interessant, dass der Bruch des Friedens im Haus eines Aristokraten als letzter Auslöser für die Vertreibung der verhassten Tyrannen dargestellt wird. Die historiographische Tradition ließ Lucretias Tugend als Gegenpol zur Verwerflichkeit der Tarquinier erscheinen und erhob somit die gerechte Vergeltung für den Frevel an ihr zum Gründungsmoment der römischen Republik.72 Bei der Interpretation eines exemplum gilt es jedoch stets zu beachten, dass es den Normen- und Verhaltenskodex der Senatsaristokratie reflektierte und zwar zu einem Zeitpunkt, als dessen Geltungsmacht zunehmend durch die herausragende
69 Zur antiken Überlieferung vgl. vor allem Liv. 1,57–60; Dion. Hal. ant. 4,64–84; 5,1. Zur Rezeption: Ian Donaldson, The Rapes of Lucretia. A Myth and Its Transformations. Oxford 1982 sowie Renate Schrodi-Grimm, Die Selbstmörderin als Tugendheldin. Ein frühneuzeitliches Bildmotiv und seine Rezeptionsgeschichte. Diss. Göttingen 2009, URL: https://ediss.uni-goettingen.de/handle/11858/00– 1735-0000–0006-B4A2-B (Zugriff: 29. 11. 2014), insbes. 118–138. 70 Vgl. dazu Anm. 4. 71 Aug. civ. 1,19. Vgl. auch Donaldson, Rapes of Lucretia (wie Anm. 69). 72 Vgl. Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Göttingen 2002, hier 21–60.
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Stellung einzelner Standesgenossen in Frage gestellt wurde.73 Dies verdeutlichen jene exempla, die das Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der domus/familia und der res publica thematisieren: etwa im Fall des Konsuln Titus Manlius (340 v. Chr.), der zwar stolz gewesen sei auf ein militärisches Bravourstück seines Sohnes, den er aber trotzdem hinrichten ließ, weil der Sohn im Zuge dieser Aktion Befehle seines Vaters als Konsul ignoriert und damit die Autorität des Amtes in infrage gestellt hatte; oder im Fall des berühmten Fabius Maximus Cunctator, der seinen Sohn nachdrücklich aufgefordert haben soll, als Konsul (213 v. Chr.) auch dem Vater jene Ehrbezeugungen abzuverlangen, die dem Inhaber dieses Amt geschuldet waren; oder in der Geschichte des Aemilius Paullus, der 167 v. Chr., mit Blick auf den Tod seiner jungen Söhne kurz zuvor, in der Volksversammlung erklärt habe, dass ihm einzig die fortuna publica Trost spende angesichts des Unglücks seiner domus, in der es außer ihm alten Mann nun keinen Paullus mehr gebe.74 Abschließend bleibt festzuhalten, dass bezüglich des Hauses auch dem exemplum die philosophische oder verfassungstheoretische Reflexion der griechischen Ökonomik fremd war. Doch anders als bei Cato, Varro, Columella und Vitruv ist die Vorstellung vom Haus als Ganzem klar als Bezugsgröße besonderer Qualität erkennbar, und zwar an einem Punkt, der in der römischen Adelsrepublik mit hohem Konfliktpotential behaftet war: dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinwesen. Für die Konzeption der römischen domus als Einheit von Gebäude, Besitz und sozialem Raum im Zusammenspiel mit der sozialen und politischen Umwelt der res publica erweist sich die Analyse der einschlägigen exempla daher als mindestens so gewinnbringend wie die Lektüre der lateinischen ‚Klassiker‘.
73 Die Beschwörung des mos maiorum setzte Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. ein und verstärkte sich rasch im Zuge der Krise der Republik. Vgl. Wolfgang Blösel, Die Geschichte des Begriffs mos maiorum von den Anfängen bis zu Cicero, in: Bernhard Linke u. a. (Hrsg.), Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik. Stuttgart 2000, 25–97. 74 Vgl. Liv. 8,7,13–19 (Titus Manlius), 24,44,9 ff. (Fabius Maximus) und 45,40 f. (Aemilius Paullus).
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Der Haushalt in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit In der politischen Philosophie des 15. und 16. Jahrhunderts kamen dem Haushalt und der häuslichen Gemeinschaft entscheidende Funktionen zu. Der Haushalt wurde zum einen als Ursprung und somit Grundlage allen staatlichen Lebens und als Mikrokosmos des Staates beschrieben. Zum anderen bot die häusliche Gemeinschaft Vorbild sowie Reibungsfläche für Theorien des Regierens, des staatlichen Handelns und der politischen Ordnung. Mit der Wiederbelebung aristotelischer praktischer Philosophie seit dem 13. Jahrhundert und verstärkt in der Renaissance seit dem 15. Jahrhundert war die Hochschätzung der vita activa – des aktiven politischen und häuslichen Lebens – verbunden. Die Vorstellung, dass der Mensch ein zoon politikon, also ein genuin politisches Lebewesen, ist, das seine Selbstverwirklichung in der politischen Gemeinschaft (dem, was heute als ‚Staat‘ bezeichnet wird) findet, war also mit Theoretisierungen des häuslichen Lebens eng verknüpft. Denn das häusliche Dasein des Menschen wurde als Grundlegung für sein politisches Leben verstanden. Theorien zur Ordnung des Politischen setzten also Gedanken zur Ordnung des Haushalts voraus. Politische Denker untersuchten die Rolle der einzelnen Familienmitglieder im Haushalt und deren Beziehung zur politischen Gemeinschaft; tugendhaftes Handeln im Haushalt wurde als Voraussetzung für tugendhaftes Handeln im Staat begriffen. Im Folgenden werden diese Überlegungen an Beispielen einiger frühneuzeitlicher politischer Philosophen gezeigt. Alle hier besprochenen Denker vereint, dass sie Aspekte der praktischen Philosophie des Aristoteles ausdrücklich kommentierten oder verhandelten zum Teil wohlwollend, zum Teil heftig kritisierend. Daneben waren Xenophons „Oikonomikos“ und Ciceros „De Officiis“ wichtige Einflüsse. Die Grundlagen der aristotelischen praktischen Philosophie werden zunächst an italienischen, aber auch französischen Aristoteleskommentaren dargelegt, dann wird auf die Stellung des Haushalts in der politischen Theorie des Florentiner Bürgerhumanismus eingegangen und Machiavellis Kritik daran analysiert. Danach werden der nordalpine Humanismus und die Reformation als Rezeption der italienischen Humanisten in den Blick genommen, um anschließend die Stellung der häuslichen Gemeinschaft in der absolutistischen französischen Theorie zu diskutieren. In einem kurzen Fazit und Ausblick wird schließlich die Abkehr vom aristotelischen Denken insbesondere als Grundlage für vertragsrechtliche Theorien im 17. Jahrhundert behandelt, die für die Konzeptualisierung des Haushalts wesentliche Konsequenzen hatte.
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1 Aristotelische Grundlagen Seit der Antike wurde Moralphilosophie in drei Teile gegliedert: Ethik, Politik und Ökonomie – die Lehre vom Haushalt. Dieses Schema korrespondiert mit den aristotelischen Schriften „Nikomachische Ethik“, „Politik“ und (der pseudo-aristotelischen) „Oikonomika“. Es wurde ebenso von späteren griechischen Kommentatoren benutzt wie auch in der lateinischen mittelalterlichen Philosophie tradiert. Mit dem Aufkommen der Universitäten und den lateinischen Übersetzungen des aristotelischen moralphilosophischen Korpus im 13. Jahrhundert bildete diese Dreiteilung die Grundlage der moralphilosophischen Lehre an den Universitäten.1 Ethik, Ökonomie und Politik, in ihrer Gesamtheit auch ‚aktive‘ oder ‚praktische‘ Philosophie genannt, bildeten zusammen das „dreifache Leben des Menschen“ ab, wie Agostino Nifo zu Beginn des 16. Jahrhunderts schrieb. Dabei sei die vita oeconomica (das Leben im Haushalt) das Bindeglied zwischen vita monastica und vita civilis oder politica.2 Zusammengenommen machten diese drei Aspekte das Leben des Menschen komplett. Dem Haushalt kam dabei also eine entscheidende Rolle zu, denn durch ihn und durch das Leben in ihm wurde das Individuum mit der politischen Gemeinschaft verbunden. Der protestantische Autor Peter Vermigli, Regius Professor der Theologie in Oxford, Professor in Zürich und Straßburg, beschrieb diese Beziehung in seinem Kommentar zur „Nikomachischen Ethik (verfasst zwischen 1554 und 1556, publiziert postum 1563) folgendermaßen: „Unter den moralischen Subjekten wird der erste Platz sicherlich von der Ethik gehalten, dann folgt die Ökonomie, und schließlich die Politik. Ich sehe diese Ordnung somit als kreisförmig. Durch die Ethik werden ihre Schüler, einer nach dem anderen, zu guten Männern. Wenn sie sich als moralisch aufrecht erweisen, werden sie gute Familien hervorbringen, wenn die Familien korrekt eingerichtet sind, schaffen sie wiederum gute Republiken. Und in guten Republiken werden sowohl die Gesetze als auch Magistrate nichts weniger anstreben, als aus jedem Mann einen guten Bürger zu machen. Denn sie sorgen sich nicht nur um den Körper, sondern auch um die Seele, und sie werden darauf achten, dass die Bürger tugendsam leben.“3 Es ist somit nicht überraschend, dass man sich gerade in den Kommentaren zu Aristoteles‘ praktischer Philosophie seit dem 13. Jahrhundert intensiv mit dem Verhältnis von häuslicher und politischer Gemeinschaft – im Lateinischen domus und civitas – auseinandersetzte. Dabei nahmen Kommentare zur pseudo-aristotelischen „Oikonomika“ eine herausragende Stellung ein. Seit dem Mittelalter waren zahlrei-
1 Jill Kraye, Moral Philosophy, in: Charles B. Schmitt/Quentin Skinner (Hrsg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Cambridge 1988, 303–386, hier 303–305. 2 Agostino Nifo, De vera vivendi libertate, in: ders., Opuscula Moralia et Politica. Paris 1645, 17 f. 3 Petrus Martyr Vermigli, Kommentar zur Nikomachischen Ethik, hrsg. von Luca Baschera/Christian Moser. Leiden 2011, 51.
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che lateinische Übersetzungen und Kommentare des Werks im Umlauf, so etwa von Bartholomäus von Brügge oder von Nicolas Oresme, der die „Oikonomika“ um 1372 in das Französische übertrug. Leonardo Bruni, der spätere Kanzler von Florenz und Inbegriff des ‚Bürgerhumanisten‘, übersetzte die „Oikonomika“ 1420 in ciceronianisches Latein. Diese Übersetzung wurde, zusammen mit Brunis „Expositio“, extrem erfolgreich, ein regelrechter Bestseller, und die Grundlage zahlreicher Kommentare des 15. und 16. Jahrhunderts.4 An Brunis Übersetzung wird auch das Vokabular des Diskurses deutlich. In der Regel wurde in den Neuübersetzungen und den dazugehörigen Kommentaren das griechische oikos mit dem lateinischen domus übersetzt. Was dies genau bedeutete, beschrieb Leonardo Bruni so: „Wenn [Aristoteles] sagt ‚Häuser‘ [domus], muss man verstehen, […] dass er nicht über die Wände und Dächer, sondern über Familien [familiae] sprach.“5 Es ist also nicht das physische Haus, sondern der Haushalt, mit seinen Familienmitgliedern und deren wechselseitigen Beziehungen, der im Zentrum des Diskurses stand. Dies ist gerade vom aristotelischen Blickpunkt her nur logisch: Denn die Stadt (oder das Staatswesen: civitas), zu der das Haus (oder der Haushalt: domus) in Beziehung gesetzt wurde, wurde ebenfalls weniger als ein physisches, territoriales Gebiet und Gebilde verstanden als eine Ordnung und Gemeinschaft der Bürger. Im Laufe des 16. Jahrhunderts änderte sich allerdings das Vokabular. Selbst wenn sich Autoren bewusst auf das aristotelische Corpus bezogen und sich damit in einen Diskurs einschrieben, der um den oikos kreiste, benutzten sie nun verstärkt (aber keinesfalls ausschließlich) das römische familia oder res familiaris. Im Folgenden werden zuweilen ‚Haus‘, ‚Haushalt‘ und ‚Familie‘ synonym gebraucht, um der Verwendung der Begriffe in den Quellen so dicht wie möglich zu folgen. In diesem Kontext ist den Begriffen gemeinsam, dass sie die Gemeinschaft und die Ordnung der Mitglieder in der Familie beschrieben. Parallel zu domus und familia sowie deren volkssprachliche Entsprechungen kann man in den politisch-philosophischen Traktaten einen Wandel in der Verwendung der Begriffe civitas und res publica konstatieren. Im Neulatein der Aristoteleskommentare aus dem fünfzehnten Jahrhundert ist civitas die Bezeichnung für die politische Gemeinschaft. Res publica ist die Übersetzung des griechischen Begriffs politeia und bezeichnete die ‚Verfassung‘ einer politischen Gemeinschaft sowie eine von drei legitimen Herrschaftsformen (politie). Im Laufe des 16. Jahrhunderts wird aber auch im aristotelischen Kontext res publica immer häufiger in seiner römischen Bedeutung benutzt, um das auszudrücken, was
4 Josef Soudek, The Genesis and Tradition of Leonardo Bruni’s Annotated Latin Version of the (Pseudo-) Aristotelian Economics, in: Scriptorum 12, 1958, 260–68; ders., Leonardo Bruni and His Public. A Statistical and Interpretative Study of his Annotated Latin Version of the (Pseudo-) Aristotelian Economics, in: Stud. in Medieval and Renaissance Hist. 5, 1968, 49–136. 5 Alle Zitate zu Brunis Expositio der „Oikonomika“ sind der Teilübersetzung Gordon Griffith, Moral Conduct in Business and Marriage, in: ders./James Hankins/David Thompson (Hrsg.), The Humanism of Leonardo Bruni. Binghamton. 1987, 300–317, hier 308, entnommen.
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wir heute als ‚Staat‘ verstehen würden. Wenn im Folgenden von ‚Stadt‘ und (anachronistisch) von ‚Staat‘ die Rede ist, so ist immer die politische Gemeinschaft im Sinne der vormodernen Texte gemeint. In den Aristoteleskommentaren wurde die Beziehung von Haushalt und Staat unter drei übergeordneten Gesichtspunkten diskutiert. Erstens wurde die genealogische Verwandtschaft betont und die Bedeutung des Haushalts als Ursprung der politischen Gemeinschaft beschrieben. Zweitens wurden Haushalt und Stadt unter dem Aspekt ihrer Gemeinsamkeiten untersucht: Beide waren Gesellschaften oder Gemeinschaften, die nach Regeln der Tugendhaftigkeit, der Freundschaft und nicht zuletzt der Gerechtigkeit operierten. Beide stellten somit Ordnungen her, die sich ebenso gegenseitig spiegelten wie miteinander verflochten waren. Den dritten Aspekt bildete die Herrschafts- und Regierungsbildung: Der Haushalt war das wichtigste Medium, um verschiedene Arten von Herrschaft über freie und unfreie Menschen zu diskutieren und die Herrschaftsformen Monarchie, Politie, Aristokratie sowie die Tyrannei zu analysieren.
2 Das ‚Haus‘ als Keimzelle des Gemeinwesens im Humanismus Renaissancephilosophen schenkten der genetischen Verbundenheit von Haus und Staat weit mehr Raum und Aufmerksamkeit als die aristotelische Vorlage hergibt. Zu Beginn der „Politik“ stellt Aristoteles in allgemeiner Weise fest, dass sich Städte aus Haushalten und Dörfern entwickelten. In den Kommentaren wurde diese Ursprungsgeschichte ausgeschmückt; der Haushalt wurde in fast allen italienischen wie auch späteren französischen Kommentaren ausdrücklich als Keimzelle des Staates bezeichnet. Donato Acciaiuoli schrieb: „Das Dorf ist daher eine Erweiterung des Hauses, und die civitas geht aus der Multiplikation der Dörfer hervor“, somit sei Cicero Aristoteles „gefolgt“, als er das Haus als „principium der Stadt und gleichsam Keimzelle der res publica“ beschrieb.6 Louis Le Roy verwies in seinem Kommentar zur „Politik“ von 1576 dezidiert auf „das erste Buch von Ciceros ‚De Officiis‘“ und schrieb: „die erste Gesellschaft besteht in der Ehe, die nächste in der der Kinder, dann gibt es ein Haus [maison], in dem alles gemeinsam ist. Dies ist der Beginn einer Stadt und gleichsam die Keimzelle [semence] eines Staates.“7 Mit dem Rückgriff auf Ciceros „De Officiis“, worin die Rolle des Hauses (domus) als die tragende Untermauerung des politischen Gemeinwesens unterstrichen wurde, betonten frühneuzeitliche Aristoteleskommen-
6 Donato Acciaiuoli, In Aristotelis libros octo Politicorum Commentarii. Venedig 1566, 14v. 7 Louis Le Roy, Les Politiques d’Aristote. Esquelles est monstree la science de gouverner le genre humain en toutes especes d’estats publiques. Paris 1576, 11.
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tatoren also die zentrale Bedeutung des Haushalts für die Stadt. Was heute eher wenig aufsehenerregend klingt, war aber für die Autoren von außerordentlicher Wichtigkeit. Mit dem Rückgriff auf den Haushalt als Keimzelle des Staates wurde dessen ‚Natürlichkeit‘ hervorgekehrt: Der Mensch sei naturgemäß politisch, weil er sich – qua seiner Natur – zunächst in Haushalten, dann in Städten mit anderen Menschen zusammenschloss. Termini wie ‚Natur‘, aber auch ‚Notwendigkeit‘ erhielten eine positive Bedeutung für das Verständnis des Politischen und waren nicht dessen Gegensatz. Haushalt und politisches Gemeinwesen teilten grundlegende Eigenschaften: Beide waren Gemeinschaften (societates), die durch Freundschaft zusammengehalten wurden und sich durch Gerechtigkeit und innere Einheit auszeichneten. In ihren Ausführungen verwendeten die Aristoteleskommentatoren den Haushalt als Medium, durch das die Grundsätze des Zusammenlebens gesellschaftlicher Wesen erforscht werden konnten. Für Leonardo Bruni waren die wichtigsten Aspekte der häuslichen und bürgerlichen Beziehung am Anfang des ersten Kapitels der „Oikonomika“ festgelegt. Zu Beginn des Werks wird die Stadt beschrieben als eine „Vielzahl von Häusern, mit Grundstücken und Besitztümern hinreichend versorgt, um den Bewohnern zu ermöglichen, ein glückliches Leben zu führen“.8 Leonardo Bruni kommentierte diese Stelle ausführlich, schmückte die Vorlage nicht nur aus, sondern dramatisierte die Rolle des Haushalts für das Überleben der Stadt. Er betonte mehrfach, dass Haushalte die grundlegenden Einheiten der politischen Gemeinschaft seien: Die Stadt (civitas) sei eine „Vielzahl der Häuser“ (multitudo domorum). Ohne diese „kann die Stadt nicht überleben“.9 Bruni wies hier wie auch im Folgenden darauf hin, dass die städtischen Haushalte als Glieder fungieren, die die Gemeinschaft von Menschen zusammenfügen. Er machte deutlich, dass die politischen Bürger (cives) nicht ungebundene Individuen sind: sie werden erst durch ihre Haushalte in die politische Gemeinschaft integriert. Die Beziehungen in der Familie wie auch Beziehungen zwischen Familien halten die Gesellschaft zusammen. Bruni betonte, dass der Mensch sowohl Haushalt als auch Staat benötigte, um das gute Leben zu führen. Im aristotelischen Denken der Frühen Neuzeit waren das gute Leben und das höchste Gut also nicht nur in der politischen Sphäre möglich, sondern auch der Haushalt hatte Anteil am Streben nach Glück. Um diesen Punkt zu unterstreichen, erklärte Bruni, dass Menschen in Gemeinschaft zusammenkommen, damit sie alles, was ein gutes Leben ermöglicht, teilen.10 In Anlehnung an Cicero erklärte Bruni, dass sich die Gemeinschaft (communis societas) durch gegenseitiges Geben und Nehmen auszeichnet. Der Mensch kann also erwarten, von den Mitmenschen mit
8 So Brunis Übersetzung der „Oikonomika“: Leonardo Bruni, Aristotelis Oeconomicorum, in: Aristotelis Opera Omnia. Venedig 1560, 468r. 9 Griffith, Moral Conduct (wie Anm. 5), 309. 10 Ebd.
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dem versorgt zu werden, was ihm fehlt. Es ist genau diese Art des Zusammenlebens, für die der Mensch gemacht ist. Menschen teilen nicht nur materielle Dinge, sondern auch die Mühen der Erziehung, die Pflege von Freundschaften genauso wie die Sorge um die Aufrechterhaltung der Prinzipien von Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Auf diese Weise kann das höchste Ziel erreicht und die Gesellschaft autark werden. Bruni betonte, dass diese Art von Austausch, und damit die Beziehungen zwischen den Bürgern, zunächst in der Sphäre des Haushalts stattfindet. Erst nachdem die Werte und die Feinheiten des Gemeinschaftslebens im Haushalt „erlernt“ wurden, können die Bürger miteinander als Freunde im politischen Bereich wirken. Aus diesem Grund machte Bruni immer wieder deutlich, dass die Haushalte die Grundeinheiten der politischen Gemeinschaft seien. Denn die Haushalte „ermöglichen, dass die Stadt besteht.“ Bruni bezeichnete sie als das „Wesen“ der Stadt (civitas).11 Das Haus machte somit nicht nur die Bürgergesellschaft möglich, sondern es war auch entscheidend für deren reibungsloses Funktionieren; und dazu gehörte auch die häusliche Erziehung zu (politischer) Freundschaft und Gerechtigkeit. Diese Ideen wurden auch in weniger akademischen Arbeiten wiedergegeben. Bürgerhumanisten12 beschrieben den guten Bürger gleichzeitig als guten Familienvater, der seinen Haushalt tugendhaft leitete. Zur perfekten vita civile gehörte die Kunst der Politik genauso wie die Kunst der Haushaltsführung. Wir finden die Hochbewertungen von Familien- und Eheleben in den italienischen Schriften Brunis, wie etwa seinen „Vite di Dante e Petrarcha“, in dem er ausdrücklich betonte, dass Aristoteles, Cicero, Cato, Seneca und Varro alle „mogli, offici e governi nella Repubblica“ gehabt hätten.13 Leon Battista Albertis „I libri della famiglia“ (um 1432) oder Matteo Palmieris „Della vita civile“ (um 1429, gedruckt 1528) sind Paradebeispiele dieses Verständnisses von städtischem Leben, in dem Politik und Familie untrennbar miteinander verknüpft waren. Diese Schriften, die die Verteidigung der politischen Freiheit der Bürger zum Gegenstand hatten und die Gloria und Grandezza von Florenz feierten, widmeten sich im gleichen Maße auch den Haushalten der Bürger. Die Abhandlungen diskutierten, wie Ehen arrangiert wurden, wie die Nachkommen zu tugendhaften Stadtbürgern erzogen werden konnten und gaben sogar Anleitung für das richtige Stillen der Kinder. Dem Begriff des ‚Bürgers‘ kam nicht nur eine Bedeutung für eine politische Sphäre zu, sondern er umschrieb zugleich auch den Mann in seiner Familie. Dass den Haushalten von den Autoren eine wichtige Aufgabe für das Wohlergehen der Stadt zugeschrieben wurde, passte natürlich in die politische Realität von Florenz in der Renaissance, in der es Familien (und nicht ungebundene Individuen)
11 Ebd. 12 Ich benutze diesen Begriff hier, obwohl dessen Gehalt nicht unumstritten ist. Vgl. zum Stand der Diskussion die Aufsätze in James Hankins (Hrsg.), Renaissance Civic Humanism. Cambridge 2000. 13 Leonardo Bruni, Le vite di Dante e di Petrarca, in: ders., Humanistisch-philosophische Schriften, hrsg. von Hans Baron. Leipzig 1928, 5069, hier 54.
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waren, die die Politik der Stadt bestimmten und in der Ehen politische Angelegenheiten waren.14 Haushaltsführung, Ehe und Kindererziehung hatten bedeutende Funktionen für die Stadt: Durch Erziehung wurden gute Bürger geformt, Ehen zwischen den Angehörigen der Patrizierfamilien ließen die Bande zwischen den Bürgern, die sich als Freunde (amici) stilisierten, stärker werden. Freundschaft selber wurde zunächst in der Familie gelernt, bevor sie die Bürger in der politischen Arena einte.15 Ein Netz persönlicher Beziehungen überspannte somit die Stadt und unter Politik verstand man eine Mischung städtischer wie häuslicher Belange. Dieses Verständnis des Menschen als zugleich häuslich und politisch floss auch in die Deutungen der aristotelischen Idee des zoon politikon, des politischen Lebewesens, ein, wie sie Kommentatoren im 15. und 16. Jahrhundert ausformulierten. Im ersten Buch der „Politik“ legt Aristoteles dar, dass die Sprache als Fähigkeit, das Gute und das Schlechte zu differenzieren sowie das Gerechte und das Ungerechte zu beurteilen, den Menschen vom Tier unterscheidet. Spätere Aristotelesinterpreten wie etwa Hannah Arendt sahen genau in dieser Passage der „Politik“ die Bestätigung, dass sich wahre Menschlichkeit nur in der politischen Sphäre zeigt, die Arendt dem häuslichen Leben als diametral entgegengesetzt verstand.16 Doch in den Renaissancekommentaren wird mit dem Begriff des animal civile die Natur des Menschen als Bürger- und Haushaltswesen zugleich betont. Schon Thomas von Aquin hatte Aristoteles‘ zoon politikon mit dem Satz „Der Mensch ist von Natur aus politisch, das heißt, sozial“ („homo est naturaliter politicus, id est socialis“) wiedergegeben und sich damit gerade darauf bezogen, dass die Natur den Menschen vor allem zum Gesellschaftswesen angelegt hat. In der „Politik“ heißt es, dass die genuin menschliche Fähigkeit, Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden, das Haus und den Staat begründet.17 Sprache und Gerechtigkeit sind damit nicht nur in der politischen Gemeinschaft zu finden, sondern schon im Haushalt angelegt. Dies wird in den Renaissancekommentaren völlig akzeptiert und meist einfach paraphrasiert. Civitas und domus existieren in Abhängigkeit voneinander und bedingen einander. Donato Acciaiuoli betonte in seinem Kommentar, dass eine Person, die aus eigenem Willen außerhalb der staatlichen Gemeinschaft lebt, böse sei, „weil sie Gesetzen und guten Institutionen nicht gehorchen will, und deshalb aufrührerisch und kriegstreibend ist, eine Person, über die Nestor bei Homer sagt, dass sie ‚ohne Familie und Stamm ist‘.“18 Acciaiuoli hob also hervor, dass der Mensch, der sich des städtisch-politischen Lebens entzieht, sich gleichzeitig auch dem Leben im Haushalt verweigert. In den Kommentaren wurde der
14 Lauro Martines, The Social World of the Florentine Humanists, 1390–1460. London 1963, 176. 15 Vgl. Dale Kent, Friendship, Love and Trust in Renaissance Florence. Cambridge, Mass. 2009. 16 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. Zürich 1981. 17 Aristoteles, Politik, 1153a. 18 Acciaiuoli, In Aristotelis libros (wie Anm. 6), 16r.
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Mensch somit als ein politisch-gesellschaftliches Lebewesen anerkannt, und zwar genau weil er zunächst ein häusliches Wesen ist. In den Aristoteleskommentaren der Renaissance wurde die Familie als eine Gemeinschaft beschrieben, die sich neben Gerechtigkeit und Freundschaft durch den Aspekt der Herrschaft auszeichnete. In der „Nikomachischen Ethik“ erklärte Aristoteles: „Man kann auch in Haushalten Ähnlichkeiten zu politischen Systemen finden und gleichsam Modelle von ihnen.“19 Dabei wurde deren inhärente Beziehung zwischen Haushalt und Staat immer wieder betont und diese Stelle in den Kommentaren zentral behandelt. Die Kommentatoren widmeten sich im Detail den Beziehungsformen und Regierungsformen für die Stadt und für den Haushalt. Gerade der ehelichen Beziehung wurde hier große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die eheliche Beziehung wurde in der „Politik“ als ‚politisch‘ (lateinisch: civiliter) beschrieben und brachte die Ehefrau in Analogie zu einem Bürger in einem republikanischen Stadtstaat. Für Acciaiuoli hing die starke Beziehung zwischen den Herrschaftsformen im Staat auch mit genealogischen Gründen zusammen. „Denn da zunächst der Haushalt […] von dem Ältesten regiert wurde, floss dieses Regime hinaus in die Städte und die Völker.“20 Damit war die Art von Herrschaft, die im Haushalt vorhanden war, eben nicht nur ein gedankliches Modell für staatliche Herrschaft. Vielmehr wurde durch häusliche Herrschaft politische Herrschaft in ihrer spezifischen Form überhaupt erst möglich.
3 Machiavellis Kritik an den ‚politischen Haushalten‘ In den Schriften italienischer Bürgerhumanisten wurde die enge Verzahnung von Familieninteressen und städtischem (Allgemein-)Wohl begründet. In seinen Schriften kritisierte Niccolò Machiavelli (1469–1527) nun genau diese Vorstellung und bezweifelte, dass es ‚private‘ Familieninteressen die Politik der Stadt in positiver Weise steuern könnten. Zwar bestätigte er in den „Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio“ (um 1513, gedruckt 1532) das klassische Ideal, dass wir auch bei den Bürgerhumanisten finden, dass es „nicht das Wohl des Einzelnen, sondern das Gemeinwohl“ sei, „was die Größe der Städte ausmacht“.21 Machiavellis Sorge um das Gemeinwohl galt allerdings der Stadt per se; und ausdrücklich mussten Familieninteressen sowie private wie auch religiöse Loyalitäten den Bedürfnissen des Politischen untergeordnet sein. Für Machiavelli war es gerade die enge Beziehung von Familienherrschaft und Stadtregierung, die eine ernsthafte Bedrohung für das politische Leben darstellte.
19 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1160b. 20 Acciaiuoli, In Aristotelis libros (wie Anm. 6), 14v. 21 Niccolò Machiavelli, Discorsi, hrsg. von Rudolf Zorn. 3. Aufl. Stuttgart 2007, 175.
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Autoren wie Alberti und Palmieri hatten die Zentralität der Erziehung in der Familie hervorgehoben. Durch die richtige Unterweisung sollten aus Kindern tugendhafte Bürger werden, die zur Ehre der Stadt beitrugen. Die Bürgerhumanisten sahen also den Haushalt als den Ort an, an dem Tugend und Bürgergeist an die nächste Generation übertragen wurden; Bildung war in diesem Sinne ein politischer Akt, zentral für das vivere civile. Machiavelli betonte nun die Gegenseite zu dieser Erzählung und bezweifelte, dass die Erziehung der jungen Bürger ausschließlich in die Hände der häuslichen Gemeinschaften zu legen sei. Im dritten Buch der „Discorsi“ argumentierte er, dass Familien dazu neigten, die gleichen schlechten Sitten und Gebräuche über Generationen zu erhalten. Lasse man die alleinige Verantwortung für die Erziehung der jungen Bürger in den Händen der Familien, führe dies dazu, dass antirepublikanisches Denken und Handeln generationenübergreifend erhalten würden. Die römische Geschichte habe gezeigt, dass aristokratische und Patrizierfamilien im Stande seien, über einen langen Zeitraum hinweg Vorstellungen der Überlegenheit der eigenen Familie und des Hauses zu halten und zu nähren und solche Vorstellungen „gegen den Willen des Volkes“ zu perpetuieren.22 Familien trugen daher durch ihre Erziehung nicht notwendigerweise zur Schaffung bürgerlicher Tugenden und Freundschaften bei. Der verstärkte Fokus auf Partikularinteressen, so Machiavelli, führe vielmehr zur Korruption des Allgemeinwohls. Machiavelli machte gute Erziehung und Bürgertugenden allein vom Gesetz abhängig. Virtù, Machiavellis idiosynkratische Vorstellung von Tüchtigkeit, entstünde alleine durch gute Beispiele und diese durch „gute Erziehung. Gute Erziehung durch gute Gesetze, und gute Gesetze durch tumulti, die viele unüberlegt verurteilen.“23 Dem humanistischen Ideal von Freundschaft und Harmonie in Haushalt und Staat wird hier direkt widersprochen. Für Machiavelli sind es gerade tumulti, also offene, durchaus gewalttätige Konflikte in der Gemeinschaft, die, gleichsam die Gesellschaft reinigend, zu guten Gesetzen führen und damit für die Erziehung guter Bürger sorgen. Trotz allem Misstrauen gegenüber der ökonomischen Sphäre, die Machiavelli deutlich stärker mit dem Allgemeinwohl entgegenlaufenden Eigeninteressen verband, als seine Vorgänger dies getan hatten, stimmte Machiavelli jedoch an einem Punkt mit der klassischen Idee der politischen Funktion des Haushalts überein. Der Zustand eines Regimes nämlich, schrieb er, könne nur durch das Wohlergehen seiner Familien beurteilt werden. „In der Tat machen alle Städte und Länder, die in innerer und äußerer Freiheit leben […] die größten Fortschritte. Sie sind dichter bevölkert, weil die Ehen freier und den Menschen begehrenswerter sind. Jeder zeugt gerne Kinder, wenn er glaubt, sie ernähren zu können und nicht fürchten muss, dass ihm sein Besitz genommen wird, und wenn er ferner weiß, dass die Kinder als freie Menschen und nicht als Sklaven geboren werden, ja, dass sie durch Tüchtigkeit zu
22 Machiavelli, Discorsi (wie Anm. 21), 412–414. 23 Ebd., 18. Hervorhebung A. B.
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den höchsten Stellen im Staat emporsteigen können.“24 Die Verfassung hat direkte Auswirkungen auf die Familienordnung und die Art und Weise, wie das Individuum die Lebensaussichten für sich und seine Familie bewertet. Trotz aller Kritik an seinen Vorgängern leugnete also auch Machiavelli nicht, dass die Familienstruktur und die Struktur eines Staates bzw. dessen Verfassung eng miteinander verknüpft sind.
4 Das ‚Haus‘ im nordalpinen Humanismus und in der Reformation Auch im nordalpinen Humanismus finden wir den Haushalt als Fundament wie auch Erklärungsmuster des Politischen. Im Folgenden werden knapp humanistische wie reformatorische Ideen zum Verhältnis von Staat und Haushalt aufgegriffen, um dann Ideen über das Verhältnis von Haushalt und Staat in der politischen Philosophie in Frankreich zur Zeit der Religionskriege des ausgehenden 16. Jahrhunderts zu erläutern. Es ist nicht überraschend, dass Erasmus von Rotterdam, der sich in seinen Schriften ebenso auf Aristoteles, Cicero und Xenophon stützte wie die italienischen Humanisten, erklärte, dass der gute Herrscher „gegen seine Bürger nicht anders gesinnt sein [kann] als ein guter Hausvater [paterfamilias] gegen seine Angehörigen [domesticos]. Was ist denn ein Land anderes als eine große Familie [familia]? Was ist der König anderes als der Vater der Menge?“25 Erasmus betonte außerdem, dass es das Ziel der Ehe sein müsse, „Untertanen für den König und Diener für Christus“ zu zeugen. Sein jüngerer Zeitgenosse und Freund Juan Vives, der die meiste Zeit seines Lebens in den Niederlanden verbrachte, verglich Haushalt und Staat ebenfalls, kehrte aber die Perspektive um, wenn er der Ehefrau erklärte, dass ihr Haus (domus) für sie nichts anderes als ein ganzer Staates (res publica) sei, und sie lernen müsse, welches ihr Anteil an den Geschäften der Familie (res familiaris) sei und welches der ihres Mannes.26 Die Auffassung von Erasmus und Vives, dass die Familie ein kleiner Staat sei, wurde in England durchgängig rezipiert.27 Humanisten wie Thomas Elyot zitierten Erasmus wie auch Aristoteles‘ „Oikonomika“ und setzten das house mit dem publike weal in Beziehung.28 In der Widmung zu seiner Übersetzung von William Perkins‘ „Oeconomia Christiana“ berief sich Thomas Pickering ausdrücklich auf Aristoteles‘
24 Ebd., 179. 25 Desiderius Erasmus, Die Erziehung des christlichen Fürsten, in: ders., Ausgewählte Schriften. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Werner Welzig. 2. Aufl. Bd. 5. Darmstadt 1990, 179. 26 Juan Vives, De Officio Mariti Liber Unus. Basel 1540, 105. 27 Margo Todd, Christian Humanism and the Puritan Social Order. Cambridge 1987, 96–117. 28 Thomas Elyot, The Boke Named the Governour. London 1537, 5v.
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„Politik“ und bezeichnete, Cicero folgend, die Familie als „Keimzelle aller anderen Gesellschaften“ („seminary of all other societies“): „It followeth that the holy and righteous governance [of the family, A. B.], is a direct means for the good ordering both of Church and Commonwealth, yea that the laws thereof being rightly informed, and religiously observed, are available to prepare and dispose men to the keeping of order in other governments. For this first society is as it were the school wherein are taught and learned the principles of authority and subjection.“29 Die enge Verbindung von Staatsherrschaft und Familienleitung wurde sowohl von humanistischen Schriftstellern im England der Tudor-Zeit, unter Autoren der Divine Rights-Literatur unter den Stuarts, wie weiter unten dargelegt wird, und im puritanischen Gedankengut vertreten. Humanismus und Reformation stellten in dieser Hinsicht also keine Gegensätze dar, sondern beeinflussten sich gegenseitig.30 Ähnliches kann von deutschsprachigen Schriften zwischen Humanismus und Reformation im 16. Jahrhundert gesagt werden. Wie Thomas Kuhn in diesem Band darstellt, war das Haus zentral für die reformatorische Sozialordnung. Martin Luther hatte aber eben auch eine ‚politische Theorie‘, in der die Beziehung von Familie und Staat in einem Vokabular beschrieben wurde, das aus der aristotelisch-humanistischen Tradition gespeist wurde. In seiner später so bezeichneten ‚Dreiständelehre‘ beschrieb Luther den Menschen als in drei hierarchiae oder officia eingebettet, die Gott gegen den Teufel eingesetzt habe: Priesteramt, Eheamt (also der Haushalt) und weltliche Obrigkeit. Diese drei Stände, die direkt von Gott geschaffen waren, stellten die Basis aller weltlichen und richtigen Ordnung dar. Ohne sie, schrieb Luther, gäbe es keine moralische Organisation der Welt. „Nimm nun aus der Welt weg veram religionem, veram politiam, veram oeconomiam – das ist recht geistlich Wesen, recht weltlich Obrigkeit, recht Hauszucht – was bleibt über in der Welt denn eitel Fleisch, Welt, und Teufel?“31 In diesem dreigliedrigen Schema betonte Martin Luther ausdrücklich die Rolle des Haushalts für die Politik und benutzt dafür die Sprache der Aristoteleskommentare: Der Haushalt, schrieb Luther, sei die Quelle der Politik (oeconomia fons politiae). Ohne den Haushalt „könnten weder Reiche noch Städte existieren.“32
29 Thomas Pickering, The Epistle Dedicatorie to William Perkins, Christian Oeconomie, in: William Perkins, The Workes, Bd. 3. Cambridge 1618, unpag. 30 Todd, Christian Humanism (wie Anm. 27), 96–117. 31 Zit. nach Reinhard Schwarz, Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen Drei-Stände-Theorie, in: Horst Renz/Friedrich Willhelm Graf (Hrsg.), Protestantismus und Neuzeit. Gütersloh 1984, 78–99, hier 84. Hervorhebung A. B. Vgl. für Luthers Sozialethik: Risto Saarinen, Ethics in Luther’s Theology. The Three Orders, in: Jill Kraye/ders. (Hrsg.), Moral Philosophy on the Threshold of Modernity. Dordrecht 2006, 195–215; Virpi Mäkinen (Hrsg.), Lutheran Reformation and the Law. Leiden 2006. 32 Zit. nach Hans Grünberger, Wege zum Nächsten, Luthers Vorstellung vom Gemeinen Nutzen, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 1: Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin 2001, 159 (Fußnote).
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Nur wenn der Haushalt wohl errichtet sei, könne dies auch der Staat sein. Ohne Vater und Mutter, die sich der Pflege und Erziehung der Kinder widmeten, könne kein Staat existieren: „In der Tat entsteht der Staat [civitas] aus den Häusern [domus] und der Staat ist nichts anderes als eine Vielzahl von Häusern und Familien. […] Deshalb ist die oeconomia der Ursprung von Allem, und von Gott im Paradies geschaffen als Er sprach: ‚Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei‘, und außerdem: ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘.“33 Zwar wetterte Luther gegen die aristotelische Weltsicht, operierte jedoch ebenso mit einem dreigeteilten Schema, das gerade in der Beziehung der Ökonomie zur Politik der aristotelischen Philosophie nicht unähnlich war. Diese Nähe zur aristotelisch-praktischen Philosophie machte es im Übrigen möglich, dass dieser Teil der Soziallehre der Reformation relativ unproblematisch in die neuen Lehrpläne der protestantischen Universitäten aufgenommen werden konnte.34 Dies geschah vor allem durch Philipp Melanchthon, den praeceptor Germaniae. Der Griechischprofessor Melanchthon verkörperte dabei genau die Verbindung von humanistischer Hochschätzung der Antike und reformatorischem Eifer, die es schwer machen, von einem Gegensatz von Humanismus und Reformation zu sprechen.35 Melanchthon selbst verfasste einige Kommentare zu Aristoteles‘ „Nikomachischer Ethik“ und zur „Politik“ und verwies dabei auch auf die Symmetrien zwischen der ökonomischen und politischen Sphäre: Politische Ordnung und die Familienordnung müssen sowohl Gott gefällig sein als auch gemäß weltlichem Recht operieren. In seinen systematischeren Überlegungen zur Rolle der Politik in der göttlich instituierten weltlichen Ordnung kategorisiert er die Ehe als zum ordo politicus – der politischen Ordnung – gehörend.36 Die Ehe wurde damit als ausdrücklich politische Institutionen aufgefasst. Sie war die erste societas, schrieb Melanchthon in seinem Kommentar der „Politik“, aus dem sich die anderen societates – damit eben auch die Gemeinschaft der Familie – entwickelte.37 Die Reformatoren betonten vor allem die Symmetrien der Natur der Herrschaft in Staat und Familie. Dieser Topos, der schon bei Platon und Aristoteles angelegt ist,
33 Zit. nach Grünberger, Wege zum Nächsten (wie Anm. 32), 160 (Fußnote). Hervorhebung A. B. 34 Anja Moritz, Die Aristotelesrezeption der protestantischen Geistlichen zwischen theologischer und praktischer Ethik, in: Alexander Fidora/Johannes Fried/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007; Heinz Scheible, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform. Zum Quellenwert von Lutherbriefen, in: Michael Beyer/Günther Wartenberg (Hrsg.), Humanismus und Wittenberger Reformation. Leipzig 1996, 123– 144, hier 141; ders., Melanchthon. Eine Biographie. München 1997, 91. 35 Sachiko Kusukawa, Melanchthon, in: David Bagchi/David C. Steinmetz (Hrsg.), The Cambridge Companion to Reformation Theology. Cambridge 2004, 57–67. Vgl. auch Gerhard Binder (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Exemplarische Aspekte seines Humanismus. Trier 1998. 36 Rolf Bernhard Huschke, Melanchthons Lehre vom ordo politicus. Gütersloh 1968, 86 ff. 37 Philipp Melanchthon, Aristotelis aliquot Libros Politicos, Philippi Melanchthonis Commentaria. Hagenau 1531, unpag.
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bekam in den reformatorischen Schriften eine neue Dimension. Er wurde mit dem vierten Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ verbunden. Die politische Herrschaft wurde also unmittelbar analog zur Herrschaft in der Familie gesehen. Die Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Landesherrn wurde mit der natürlichen Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Vater gleichgesetzt. Justus Menius, der in seiner „Oeconomia Christiana“ (1529) die lutherische Anschauung über das Haus als Quelle aller weltlichen Ordnung ausformulierte, schrieb an anderer Stelle, dass die Menschen nicht „wie das wilde und unvernünfftige Vieh/ on alle gesetze und ordnung/ durcheinander schwermen und jrre lauffen/ sondern in feine ördenliche regiment gefasset sein […]. Solch ampt und ordnung hat Gott selbst eingesetzt im vierden gebot/ da er saget/ Du solt deinen Vater und deine Mutter ehren/ uff das dirs wohlgehe und lang lebest uff Erden. Und ob er wol alleine Vater und Mutter nennet/ und derwegen scheinet/ als ob diese ordnung alleine uffs Hausregiment gestellet sey/ So ists doch gewiß und war/ das sie zugleich auch in die höhere und grössere Regiment/ Policey und Kirchen gehöret/und die selbigen in dieser ordenung auch mit begriffen sind.“38 Das Haus war die natürliche Quelle des staatlichen Lebens; Autorität und Unterordnung waren natürliche, Ordnung stiftende Elemente, die von der Familie aus in den Staat flossen. Die Bezeichnung ‚Landesvater‘, die wir in den Werken des 16. Jahrhunderts immer wieder finden, hatte also weitreichende Bedeutung. Der Fürst wurde zum Vater des Landes, der Bürger wurde hier zum Kind.
5 Jean Bodin und die absolutistische Familie Einer der wichtigsten Beiträge, der die intime Verbindung von Haushalt und Familie in der politischen Philosophie des 16. Jahrhunderts zeigt, kommt allerdings nicht von einem protestantischen Denker, sondern vom französischen Begründer des ‚Absolutismus‘, Jean Bodin (um 1530–1596).39 In seinen „Six Livres de la République“ (1576) definierte Bodin staatliche Souveränität und absolute Gewalt des Herrschers. Diese Gedanken entwickelte Bodin immer im Rekurs zur Familie. Noch stärker, da weit systematischer als seine Vorgänger, betonte Bodin, dass die Familie die entscheidende Entität für das Verständnis des Staates sei. Schon in der programmatischen Definition des „Staates“ (république) als „die dem Recht gemäß geführte, mit souveräner Gewalt ausgestattete Regierung einer Vielzahl von Haushalten [mesnages] und dessen, was ihnen gemeinsam ist“, wird deutlich, dass für Bodin nicht Individuen, sondern Haushalte die fundamentalen Einheiten des Staates darstellen. Die Familie ist sowohl
38 Justus Menius, Von der Notwehr unterricht,/ Nützlich zu lesen, zit. nach: Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Tübingen 1999, 62 (Anm. 141). 39 Für das Folgende vgl. ausführlich Anna Becker, Jean Bodin on Oeconomics and Politics, in: Hist. of European Ideas 40, 2014, 135–154.
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Ursprung als auch Abbild des Staates und der Souveränität in ihm. Bodins Logik der Souveränität ist also in der Logik der Familie begründet.40 Wenn hier wie im folgenden Haushalt und Familie synonym verwendet werden, so entspricht dies Bodins Gebrauch des Vokabulars: er benutzte mesnage und famille, bevorzugte jedoch den letzteren Begriff. In der lateinischen Übersetzung der „Six livres“, die er 1586 selbst anfertigte, verwendete er vor allem familia und verzichtete weitgehend auf domus. Bei Bodin sehen wir die Wandlung im Vokabular der politischen Gemeinschaft, von der oben gesprochen wurde. Obwohl er nicht immer konsequent war, bemühte sich Bodin ausdrücklich, civitas weitgehend durch res publica zu ersetzen. Die Verbundenheit von Familie und Staat wird durch parallele Definitionen der beiden Gemeinschaften ausgedrückt. Gleich dem Staat ist der Haushalt (mesnage / familia) eine „rechtmäßige Regierung von mehreren Subjekten, die dem Familienvorstand Gehorsam schulden, und deren Eigentum.“41 Die Definition der Familie, so schrieb Bodin, sei gleichzeitig ein grundlegender Teil der Definition eines Staates. In den „Six Livres“ betonte Bodin, dass ein Staat nicht ohne Familien existieren könne, während Familien autark genug seien, ohne Staat zu bestehen. Für aristotelische Autoren der frühen Neuzeit war die Vervollkommnung der Menschheit und damit das Erreichen des höchsten Gutes erst mit der und in der politischen Gemeinschaft möglich, die gleichwohl nicht ohne Haushalte gedacht werden konnte. Für Bodin hingegen war streng genommen der Staat nicht absolut notwendig für das Erreichen des höchsten Gutes. Familien könnten nicht nur ohne Staat existieren, sondern sie könnten ohne ihn auch glücklich leben.42 Staaten benötigen Bodin zufolge Familien, denn nur sie garantieren das Überleben und den Fortbestand politischer Gemeinschaften. Durch ihre reproduktive Fähigkeit, die sie von jeder anderen Art Korporation unterschied, trägt die Familie wesentlich zur Stabilität des Staates bei. Sie ist in sich vollkommen und autark, denn der Vater trug schon das höchste Instrument herrschaftlichen Handels in sich: Er hat summum imperium, die höchste Gewalt über seine Angehörigen, die er eigenrechtlich ausüben kann. Daher hält der Haushalt die „res publica“ einerseits durch Fortpflanzung und Vermehrung lebendig und trägt andererseits und gleichzeitig die Struktur der Souveränität in sich. Bodin betonte, dass der Staat niemals getrennt vom Haushalt zu denken sei. Daher kritisierte er Xenophon und Aristoteles, die „ohne guten Grund“ Ökonomie von Politik getrennt hätten.43 Zwar sind für Bodin Haushalt (oder Familie) und Staat klar differenzierte Gemeinschaften, die Lehre der beiden kann
40 Jean Bodin, Les Six Livres de la République, hrsg. von Christane Frémont/Marie-Dominique Couzinet/Henri Rochais, Bd. 1. Paris 1986, 27. 41 Ebd., 39; ders., De Republica Libri Sex. Frankfurt am Main 1594, 12. 42 Vgl. die Diskussion im ersten Kapitel des ersten Buchs der „Six Livres“. 43 Bodin, République (wie Anm. 40), 39; ders., De Republica (wie Anm. 41), 12.
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aber nicht getrennt voneinander verhandelt werden. Ökonomie und Politik bedingen sich gegenseitig. Auch für Bodin, hier ähnlich den Aristoteleskommentaren, den humanistischen und den reformatorischen Schriften, spiegelte die Herrschaftsbeziehung in den Familien die Herrschaft im ‚Staat‘ wieder. Während Aristoteles und italienische Kommentatoren im 15. Jahrhundert den Haushalt als eine Gemeinschaft sahen, die aus drei anderen Gemeinschaften zusammengesetzt war (die von Ehemann zu Ehefrau, Eltern zu Kindern, Herr zur Dienerschaft), deren Herrschaftsordnung jeweils analog zu unterschiedlichen Staatsformen analysiert wurde (in der „Politik“ wird die Ehe als Politie aufgefasst, das Verhältnis von Vater zu Kindern als Monarchie, der Herr herrscht tyrannisch über die Dienerschaft) gab es für Bodin in der Familie nur noch eine Regierungsform: die der absoluten Herrschaft des paterfamilias. Idealtypisch habe der Vater sogar ius vitae necisque innegehabt, also das Recht, über Leben und Tod der Familienmitglieder zu entscheiden. Ursprünglich sei die Herrschaft des Vaters allein durch das Gesetz Gottes beschränkt gewesen.
6 Fazit und Ausblick Bodins Gedanken fielen auf fruchtbaren Boden; sie wurden gerade im 17. Jahrhundert in ganz Europa dezidiert rezipiert und kommentiert.44 Johannes Althusius bezog sich in seiner „Politica“ dezidiert auf Bodin, um seine Klassifikation der Familie (familia) als ausdrücklich politische Gemeinschaft zu begründen.45 Henning Arnisaeus kritisierte Bodin zwar in seiner eigenen Analyse der Beziehung von civitas, res publica und familia, betonte aber dennoch die allgemeine theoretische Bedeutung der häuslichen Gemeinschaft für die Wissenschaft des Politischen.46 In Frankreich verteidigten Apologeten des sogenannten absoluten Staates vor allem die absolute Herrschaft des Vaters. Die Vorstellung, dass der Staat (république) nichts anderes als ein großes Haus (maison) sei (eine Idee, die Bodin übrigens nicht vertreten hatte!), finden wir bei fast allen Vertretern des französischen Absolutismus im späten 16. und im 17. Jahrhundert.47 In England bezog sich gerade Sir Robert Filmer auf Bodin, wobei er die Thesen des Franzosen aber (wohl) bewusst fälschlich darstellte. In seiner „Patriarcha“ begründete Filmer alle Gewalt eines Monarchen mit der Macht des Familienvaters. Adam sei nicht nur der erste Ehemann und Familienvater gewesen, sondern
44 Howell A. Lloyd (Hrsg.), The Reception of Bodin. Leiden 2013. 45 Johannes Althusius, Politica Methodice digesta. Herborn 1614, 42 f. 46 Henning Arnisaeus, De Republica. Strassburg 1636, 1–5. 47 Pierre de Belloy, De l’authorité du Roy, et Crimes de Leze Majeste. Paris 1587, 19v. Vgl. Cesare Cuttica, Anti-Jesuit Patriotic Absolutism. Robert Filmer and French Ideas (c. 1580–1630), in: Renaissance Stud. 25, 2011, 559–579.
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der erste von Gott direkt eingesetzte Herrscher, als dessen unmittelbarer Nachfahr sich jeder Fürst verstehen müsse.48 Politische Herrschaft wurde also von der unbeschränkten Macht des Familienvaters abgeleitet. Unterschiede zwischen Familie und Staat bestanden nur noch hinsichtlich ihrer Größe. In der politischen Philosophie des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa kann man also eine positive, sogar emphatische Bewertung des Familienlebens feststellen. Der Haushalt wurde als wahrhaft menschlicher Lebensbereich analysiert, der eng mit dem Politischen verbunden war. Politisches Denken, vor allem wenn es sich auf aristotelische Grundlagen stützte, beinhaltete ausführliche Diskussionen über den Haushalt, seine Struktur und die verschiedenen Beziehungen in ihm. Politik und Ökonomie schlossen sich in der Renaissance also nicht aus; vielmehr war der Haushalt untrennbar mit der politischen Sphäre verbunden. Dabei finden wir Referenzen zum Haushalt bei Denkern aller politischen Provenienzen, von ‚republikanisch‘ bis ‚absolutistisch‘. Wir finden ähnliche Konstruktionen bei scholastischen Schriftstellern, bei Humanisten und bei Reformatoren. Alle hier diskutierten politischen Denker legten den Ursprung des Staates in die Familie. Es war die Natürlichkeit der Familie, die die Natürlichkeit des Staates bedingte.49 Mit dem Aufkommen der Sozialvertragsideen im 17. Jahrhundert kam die Idee von der Natürlichkeit des Staates dann aber unter harsche Kritik. Auch als Reaktion auf Filmer, aber vor allem in deutlicher Ablehnung der aristotelischen Grundlagen war es Thomas Hobbes, der wirkmächtig die Vorstellung kritisierte, dass Staaten das Ergebnis natürlicher Soziabilität seien und aus Familien entspringen. Um die Natur des Staates zu verstehen, muss Hobbes zufolge ein theoretischer Naturzustand der Staatsbildung vorausgeschaltet gedacht werden. In diesem leben Individuen vereinzelt und nicht in Familienverbänden. Der Staat, und mit ihm souveräne absolute Macht, sind die Ergebnisse eines Vertrags jedes einzelnen Individuums mit jedem anderen Individuum. Konsequenterweise ist demnach auch die Familienordnung vertraglich geregelt – denn sie ist dem Staat ja eben nicht vorgeschaltet. Im Naturzustand haben Mütter bzw. diejenigen, die ein Kind aufziehen, das Recht am Kind. In der bürgerlichen Gesellschaft jedoch ist dies eine Sache des Vertrags, und da die meisten Staaten von Männern gegründet seien, so Hobbes lapidar, werden meistens die Männer im Ehevertrag favorisiert.50 Dennoch verzichtete auch Hobbes nicht auf Analogien von Staat und Familie. Staaten und Städte sind für ihn in mancher Hinsicht „nichts anderes als große Familien [families]“. Wie Familien streben sie danach, ihren Besitz zu vergrößern, sich Gefahren zu erwehren, ihre Nachbarn zu schwächen oder
48 Becker, Bodin (wie Anm. 39). 49 Auch wenn im Falle Bodins der Staat ausdrücklich nicht natürlich war, so war es doch Ziel des Staates, die Familie in ihrer Natürlichkeit nachzuahmen. 50 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. von Richard Tuck. Cambridge 1996, XX, 139 f.
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zu unterjochen – eine Frage der „Ehre“.51 Aber Staaten müssen eben mehr sein als ein Zusammenschluss von Familien. Ein solcher Zusammenschluss, so Hobbes, sei zu unsicher und könne niemals zu Stabilität und Wohlstand führen. Auch wenn wenige Denker im 17. und 18. Jahrhundert mit einer ähnlich stark individualistischen Denkfigur der Staatswerdung operierten und sich gerade im 18. Jahrhundert historisch motivierte Erläuterungen für die Staatswerdung durchsetzten, bildeten doch zunehmend (männliche und besitzende) Individuen die konzeptionelle Grundlage für den Staat.52 Allerdings blieben die Familie und der Haushalt doch auch eine wesentliche Denkfigur in Theorien über Staatlichkeit und Politik.53 Die Denkfigur der häuslichen Gemeinschaft ist einer steten Wandlung und Neujustierung im Spannungsfeld von Individualethik, Politik und Gesellschaft unterworfen. Dabei ist das Haus kein Gegensatz zum Politischen, sondern mit ihm untrennbar verbunden, als seine Grundlage und sein Wesen.
51 Ebd., XVII, 118. 52 Harro Höpfl, From Savage to Scotsman. Conjectural History in the Scottish Enlightenment, in: Journ. of British Stud. 17, 1978, 19–40; John Greville Agard Pocock, Barbarism and Religion, Bd. 2: Narratives of Civil Government. Cambridge 2000. 53 Quentin Skinner (Hrsg.), Families and States in Western Europe. New York 2011.
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Das Haus im Recht der Frühen Neuzeit 1 Einführung Der Begriff ‚Haus‘ kann aus rechtlicher Sicht in dreierlei Bedeutung verwendet werden, erstens für ein Gebäude aus Holz oder Stein1, zweitens für alle Angehörigen eines adligen Familienverbandes und drittens für die Bewohner eines Anwesens im Sinne einer familia.2 Nur dieser dritte Aspekt soll hier nach einer kurzen Einleitung im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Für das Haus im Sinne eines Gebäudes ist rechtlich das Eigentums- und Nachbarrecht als Teil des Sachenrechts von Bedeutung.3 In der Regel teilt das Haus das rechtliche Schicksal des Grundstücks. Rechtlich zulässig ist aber auch die Aufteilung des Eigentums am Haus in Form des Stockwerkseigentums oder die Unabhängigkeit des Hauses vom Grundstück, etwa im sog. Meierrecht. Der Grundstückserwerb wird stets durch besondere Formen gesichert, vor allem durch öffentliche Übertragungsakte im Gericht und in den Städten durch die Einrichtung von Grundbüchern. Zur Nutzung eines Hauses auf Zeit können ein Mietvertrag oder im Bereich der Grundund Gutsherrschaft auch die verschiedenen Formen der Bodenleihe berechtigen.4 Der Entzug und die Störung begründen Ansprüche auf Herausgabe, Unterlassung oder Beseitigung. Das Nachbarrecht ist angesichts von städtischen Gewerbebetrieben von erheblicher Bedeutung zur Abwehr von Geräuschen, Dämpfen, Rauch oder Erschütterungen. Wegerechte bedürfen einer Regelung. Das Baurecht befasst sich schließlich mit der Bauausführung, mit Fenster- und Traufrechten und stellt feuerpolizeiliche Regelungen auf.5 Als Personenverband bildet eine hochadlige Familie ein Haus, das sich auf einen Stammvater zurückführt, Generationen übergreift und zuweilen verschiedene Linien
1 Gerhard Köbler, Haus, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2. 2. Aufl. Berlin 2012, 788–791; zur Formel von Haus und Hof vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Haus und Hof, in: ebd., 791– 798. 2 Köbler, Haus (wie Anm. 1), 789; Dieter Schwab, Kind, in: Handwörterbuch (wie Anm. 1), 1736–1746, hier 1736 ff.; Hans Planitz, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 2. Aufl. Berlin 1931, 123. 3 Einen Überblick zum Sachenrecht bieten Otto Stobbe/Heinrich Otto Lehmann, Handbuch des deutschen Privatrechts, Bd. 2/1. 3. Aufl. Berlin 1896, §§ 94 ff., S. 276 ff.; Planitz, Grundzüge (wie Anm. 2), 42 ff., 67 ff.; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht 1500 bis 1800, Bd. 1: Älteres gemeines Recht. München 1985, 291 ff.; Ursula Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte. 6. Aufl. Wien 2008, 145 ff. 4 Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 456 ff.; Floßmann, Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 3), 276 ff. 5 Zusammenfassend Stobbe/Lehmann, Handbuch (wie Anm. 3), 332 ff. (§§ 101 f.); Planitz, Grundzüge (wie Anm. 2), 44 f.
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bildet.6 In Hausordnungen gibt sich die hochadlige Familie ihr eigenes Recht, an das die Hausangehörigen gebunden sind, wenn auch diese Bindung im Einzelfall bekämpft wird.7 Vorzugsweise werden darin Güter und Herrschaftsrechte zugewiesen und Regeln für die Eheschließung sowie für die Sukzession aufgestellt.8 Schließlich bilden die im Haus als Gebäude lebenden Menschen als Haus im sozialen Sinne eine eigene Gemeinschaft, deren Zusammenhalt auf einer einheitlichen Hausgewalt ruht, die in erster Linie einem erwachsenen Mann, dem Hausvater, und in zweiter Linie seiner Ehefrau, der Hausfrau, zusteht.9 Erst im 18. Jahrhundert setzt sich anstelle des Begriffs ‚Haus‘ in der deutschen Sprache der Begriff ‚Familie‘ durch.10 Damit ist zunächst nicht die Kleinfamilie aus Eltern und Kindern gemeint, sondern die familia, die sich um einen Herrn gruppiert: „Familie oder Societas Domestica bedeutet […] eine Versammlung von mehr Personen, welche unter einem gemeinschaftlichen Haus-Vatter beysammen leben […] und begreift nicht nur Herren und Knecht, sondern auch Mann und Weib, Eltern und Kinder, unter sich.“11 Zu dieser Hausgemeinschaft können mithin Eheleute und deren leibliche Kinder, Kinder aus früheren Ehen, Pflegekinder, jüngere Geschwister und bisweilen auch die Eltern der Eheleute, Verschwägerte, sonstige Verwandte, Mägde und Knechte (Dienstboten, Gesinde, Ehehalten), Gesellen und Lehrlinge sowie Gouvernanten und Hauslehrer zählen.12 Erst im 19. Jahrhundert werden als ‚Familie‘ nur noch Vater, Mutter und Kinder bezeichnet.13
6 Zusammenfassend Steffen Schlinker, Landeshoheit, in: Handwörterbuch (wie Anm. 1), Bd. 3, 2013, Sp. 438–445; Volker Press/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung, Seiner Durchlaucht Fürst Franz Josef II. von und zu Liechtenstein zum 80. Geburtstag. München 1987. Zum adligen Haus als Dynastie vgl. den Beitrag von Daniel Menning in diesem Band. 7 Grundlegend Heinz-Dieter Heimann, Hausordnung und Staatsbildung. Paderborn 1993; Hermann Johann Schulze, Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, 3 Bde. Jena 1862–1883. 8 Statt aller Joachim Bahlcke, Landesherrschaft, Territorien und Staat in der frühen Neuzeit. München 2012; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. 7. Aufl. München 2013, §§ 20, 22, 23. 9 Christian Wolff, Institutiones Juris naturae et gentium. Halle 1754, §§ 964, 966, 969; William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 1. Oxford 1775, 422; Carl Anton von Martini, Des Freyherrn von Martini Lehrbegriff des Natur- Staats- und Völkerrechts, Bd. 2. Wien 1784, §§ 472, 476, S. 211 ff.; Franz von Zeiller, Das natürliche Privatrecht. Wien 1819, § 172, S. 238. 10 Elisabeth Koch, Familie, Familienrecht, in: Handwörterbuch (wie Anm. 1), Bd. 1, 2008, 1497–1502, hier 1497; Andreas Gestrich, Familie, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3. Stuttgart 2006, 790–809, hier 792; Michael Mitterauer/Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 4. Aufl. München 1991, 26 ff., 29 ff. 11 Wigulaeus Xaverius Aloysius von Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem, 1. Theil. München 1758, 66; Martini, Lehrbegriff (wie Anm. 9), 211 (§ 472). 12 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 66; Johann Lorenz Dorn, Versuch einer ausführlichen Abhandlung des Gesinderechts. Erlangen 1794, § 40, S. 89. 13 Johann Caspar Bluntschli, Deutsches Privatrecht, Bd. 2. München 1854, § 144, S. 142; Koch, Familie (wie Anm. 10), 1497 f.; Gestrich, Familie (wie Anm. 10), 792.
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Das Haus, das durch Mauern oder ergänzend durch einen Zaun von der Außenwelt abgeschnitten ist, bildet für lange Zeit einen besonderen Rechts- und Herrschaftsbereich. Das antike römische Recht hatte entscheidend auf das Kriterium der einheitlichen Herrschaft abgestellt, der die Hausangehörigen unterworfen sind.14 In der Frühen Neuzeit wird der Begriff dominus in der gelehrten Literatur etymologisch davon abgeleitet, dass der Herr dem Haus vorsteht und seine Herrschaft darin ausübt.15 Daher wird die Gesellschaft der im Haus lebenden Menschen „unter die Societates inaequales gerechnet, da nicht jedes Mitglied derselben gleiche Pflichten und Rechte hat.“16 So ist der Herrscher im Haus nach Meinung der gelehrten Literatur grundsätzlich königsgleich und hinsichtlich seiner Hausherrschaft keiner höheren weltlichen Instanz Rechenschaft schuldig.17 Der deutsche Natur- und Völkerrechtler Samuel von Pufendorf betont zwar, die Herrschaft des Mannes „in Sachen der Ehe und des Hauswesens“ beinhalte kein Recht über Leben und Tod, doch „so möchte ich wohl von einem solchen belehret werden, wer in einer abgesonderten und vor sich lebenden Haußhaltung den Hauß-Vatter oder in einem Reiche den König wegen dergleichen Dinge straffen solle?“18 Die eigene Entscheidungs- und Dispositionsbefugnis des Hausherrn (und mit gewissen Einschränkungen auch der Hausfrau) begründet die Autonomie19 des Hauses: Dem „Haus-Vatter“ ist „eine gewisse Gattung von Bothmäßigkeit über seine Hausgenossene beygelegt, welche man Jurisdictionem domesticam oder das Haus-Guberno zu nennen pflegt. […] In Kraft dieser hat er denselben quo ad domestica zu gebieten, und die hierinnfalls unter ihnen vorfallende Händel zu schlichten, die Ungehorsame mit mäßiger Züchtigung zu bestraffen, […] in summa alles zu verfügen, was der Haus-Fried nebst der guten Disciplin und Ordnung erfordert.“20
14 Corpus Iuris Civilis, Dig. 50, 16, 195, 2. 15 Samuel von Stryk, Specimen usus modernus pandectarum, Bd. 4. Halle 1737, ad D. 23, 2, § 48, S. 117. 16 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 66; Ludwig Julius Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen der Gesellschaften und der Völker. 5. Aufl. Gießen 1790, § 143, S. 137; § 152, S. 143; § 162, S. 156; § 170, S. 161 f. 17 Gottfried Christian Leiser, Jus Georgicum. Leipzig 1741, liber 2, cap. 1, Nr. 1. 18 Samuel von Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium Libri octo, tom. II. Frankfurt am Main 1744, dt.: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Frankfurt am Main 1711, lib. VI, cap. I, § 13, S. 293. 19 Zur Autonomie statt aller: Stephan Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung. 2. Aufl. Tübingen 2009, 47 ff. 20 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 66 f.; Wolff, Institutiones (wie Anm. 9), § 967; Martini, Lehrbegriff (wie Anm. 9), 213 ff. (§§ 477, 479 f.).
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2 Das Haus als autonomer Rechtsraum Das Haus wird im Privatrecht nicht vertieft thematisiert.21 Es ist zwar – insbesondere in der politisch-staatsrechtlichen Literatur – als sozialer Körper bekannt22, stellt aber kein in heutiger Diktion privatrechtliches Rechtsinstitut dar. Vielmehr werden die jeweiligen (Rechts-)Verhältnisse zwischen Ehegatten untereinander, zwischen Eltern und Kindern und zwischen dem Hausherrn und der Hausfrau gegenüber dem Gesinde analysiert. Das Haus ist eben kein rechtsfähiger Personenverband im Sinne einer „universitas“23 oder in heutiger Diktion: Das Haus ist keine juristische Person. Der Ausgangspunkt für die Rechtsbeziehungen zu anderen Personen im Haus ist der Hausvater in den drei möglichen Funktionen als Ehemann, als Vater und als Herr über die Dienstboten.24 Neben dem Hausvater steht als socia die Hausfrau. Der Vorrang kommt allerdings dem Mann zu.25 Im Folgenden soll anhand einzelner Aufgabenbereiche überlegt werden, inwieweit das Haus in der Frühen Neuzeit ein autonomer Rechtsraum war und als Konzept im Recht eine Rolle spielte. Dazu sind zwei Vorbemerkungen erforderlich: Erstens wird nachfolgend nur das – in heutiger Diktion – Privatrecht herangezogen26, während strafrechtliche Bezüge, etwa der Hausfriedensbruch27, ebenso außer Betracht bleiben wie die verfassungsrechtliche Bedeutung der hochadligen Familie.28 Die zweite Bemerkung betrifft die Rechtsquellen. Grundsätzlich galt zwar in Mittel-, West- und Südeuropa rezipiertes römisches und kanonisches Recht als ius commune, jedoch nur subsidiär neben den heterogenen partikularen Rechtsnormen mit geographisch grö-
21 Auf der Basis hochmittelalterlicher Quellen anders nur Otto von Gierke, Das deutsche Haus und der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches, in: ders., Aufsätze und kleinere Monographien, Bd. 2, hrsg. von Wolfgang Pöggeler. Hildesheim 2001, 643–658. 22 Dazu statt aller: Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die ‚alteuropäische Ökonomik‘, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, 103–127; Gisela Drossbach, Die ‚Yconomica‘ des Konrad von Megenberg. Das ‚Haus‘ als Norm für soziale Strukturen. Köln 1997. 23 Dazu: Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3: Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland. Berlin 1881, 440 ff.; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 262 f. 24 Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 255 (lib. VI, cap. I, § 1); Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 66. 25 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 67. 26 Grundsätzlich zur Dichotomie von Privatrecht und Öffentlichem Recht, die in der alteuropäischen Rechtsordnung vor den napoleonischen Umwälzungen nicht existieren kann: Dietmar Willoweit, Historische Grundlagen des Privatrechts, in: JuS 17, 1977, 292–297, 429–433, 573–578, 292. 27 Inken Schmidt-Voges, Securitas domestica oder ius certum domus? Juristische Diskurse zur Sicherheit des Hauses um 1700, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemeier (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation. Köln 2013, 645–660; dies., Mehr als eine (Rechts-) Ordnung. Hausfrieden um 1800, in: Frühneuzeit-Info 19, 2008, 71–77. 28 Vgl. dazu die Literatur zu Anm. 6 und 7.
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ßerer oder kleinerer Reichweite.29 Gerade zu den hier einschlägigen Rechtsgebieten gibt es eine unüberschaubare Fülle lokaler (dörflicher oder territorialer) Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten in bunter Gemengelage. Überdies finden natur- und vernunftrechtliche Ideen seit dem 17. Jahrhundert zuerst in der rechtswissenschaftlichen Literatur, Ende des 18. Jahrhunderts auch in der Gesetzgebung Ausdruck. Angesichts dieser Rechtsvielfalt können die hier herangezogenen Quellen in Form rechtswissenschaftlicher Literatur und Gesetzgebung allenfalls die großen Linien sichtbar machen. Dennoch lässt sich auf diesem Weg der europäische Rechtszustand in der Frühen Neuzeit im Wesentlichen darstellen, zumal die weitaus meisten Autoren zumindest auch in der Gerichtsbarkeit und mithin praktisch tätig gewesen sind. Dass die Rechtspraxis angesichts lokaler Besonderheiten von den hier aufgezeigten Linien in Einzelfällen abweichen kann, versteht sich von selbst. Für die rechtliche Begründung der Hausherrschaft ist in der Frühen Neuzeit der Vertrag das dominierende Element. Das gilt seit dem hohen Mittelalter vor allem für die Ehe, die nach christlicher Tradition durch freie Willensübereinstimmung geschlossen wird.30 Zwar wird deswegen schon im Naturrecht häufig die prinzipielle Gleichheit beider Geschlechter behauptet31, doch lässt sich die Herrschaft des Mannes über die Frau auch vertraglich in Form „einer freywilligen Unterwerfung“ begründen.32 Die Konzeption des auf Konsens der Frau beruhenden Vorrangs des Mannes als „Haupt der Familie“ behalten auch die naturrechtlichen Gesetzbücher bei.33 Während die Begründung für die elterliche Gewalt zunächst noch in der Natur gefunden wird, fingiert der Natur- und Völkerrechtler Samuel von Pufendorf für das Verhältnis zwischen den Eltern und ihren Kindern einen Vertrag, ein „auf einem Stillschweigens gleichsam eingegangenen Bündnüß“.34 Auch im Familienrecht zeigt sich
29 Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Frankfurt am Main 2002; Steffen Schlinker, Rezeption des römisch-kanonischen Rechts, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie (wie Anm. 10), Bd. 11, 2010, 201–213. 30 Corpus Iuris Civilis, X. 4. 1. 14.; X. 4. 4. 3; Johannes Schneidewin, In quattuor Institutionum Justiniani Libros Commentarii. Straßburg 1575, lib. I, tit. 10, pars I, §§ 2 ff., S. 53 ff.; pars II, §§ 18 ff., S. 65 f.; Justus Henning Boehmer, Ius ecclesiasticum protestantium, usum hodiernum iuris canonici, Bd. 3. Halle 1747, lib. IV, tit. 1, § 157, S. 1208; § 162, S. 1213 f., tit. 2; § 4, S. 1239, tit. 3; § 2, S. 1260; § 28, S. 1281; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 433 f., 439; Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, II, 1, § 136 (fortan ALR); Code civil des Français. Édition originale et seule officielle. Paris 1804, Art. 163. 31 Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 287 (lib. VI, cap. I, § 11), 291 (§ 12); ALR von 1794 (wie Anm. 30) I, 1 § 24. 32 Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 291 (lib. VI, cap. I, § 12); Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9) 221 f. (§ 158). 33 ALR von 1794 (wie Anm. 30) II, 1, § 184; Code civil (wie Anm. 30), Art. 213; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 175 f. (§ 148), 200 ff. (§ 153). 34 Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 372 (lib. VI, cap. II, § 4); Wolff, Institutiones (wie Anm. 9), §§ 835 f.; Dieter Schwab, Die Familie als Vertragsgesellschaft im Naturrecht der Aufklärung,
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also der epochale Einschnitt, dass der Vertrag zum Leitprinzip des Nachdenkens über soziale und gesellschaftliche Organisation wird. Für die Dienstboten ist die Grundlage der hausherrlichen Gewalt für die auf naturrechtlicher Basis argumentierenden Autoren ebenfalls ein Vertrag, in dem Dienstleistungen regelmäßig auf ein Jahr gegen Kost und Logis sowie eventuellen Dienstlohn versprochen werden.35 Bei Leibeigenschaft kann die Hausgewalt allerdings auch durch Geburt begründet werden.36 Inhaltlich ist die Hausherrschaft weitgehend unbestimmt. Das Haupt der ehelichen Gemeinschaft ist der Ehemann, dem die Frau als Gehilfin Gehorsam, Unterordnung und Ehrerbietung schuldet.37 Das ius maritale des Ehemanns beinhaltet personenrechtliche und vermögensrechtliche Befugnisse.38 So bestimmt der Mann den Wohnsitz. Die Frau ist ihrerseits verpflichtet, „dem Manne […] in der Haushaltung und Erwerbung nach Kräften beyzustehen“.39 Über die Kinder steht dem Vater die väterliche Gewalt zu.40 Der Begriff der patria potestas wird seit dem 16. Jahrhundert rezipiert, doch wird damit inhaltlich in der Regel nicht die unbeschränkte Gewalt des antiken Hausvaters aufgenommen.41 Unter dem Einfluss des Naturrechts wird teilweise aber auch von elterlicher Gewalt gesprochen.42 Die väterliche Gewalt erstreckt sich über die Kinder, die aus rechtmäßiger Ehe
in: ders., Geschichtliches Recht und moderne Zeiten. Ausgewählte rechtshistorische Aufsätze. Heidelberg 1995, 179–195, 189 ff.; Dietrich Berding, Elterliche Gewalt, Kindesrechte und Staat im deutschen Naturrecht, in: ZNR 22, 2000, 52–68, 56 ff. 35 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 5 §§ 1, 22, 82; Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9), 237 (§ 172). 36 Friedrich-Wilhelm Henning, Leibeigenschaft, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 1. Aufl. Bd. 2. Berlin 1978, 1761–1772; Jan Klussmann (Hrsg.), Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit. Köln 2003. 37 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 62 (lib. I, tit. 10, § 1); Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), 121 (ad D. 23, 2, § 52), 113 (§ 43), 117 (§ 48); Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 442; Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914. Köln 2003. 38 Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), 104 ff. (ad D. 23, 2, § 35 ff.), 105 (§ 36). 39 Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811, § 92 (fortan ABGB); Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), 119 ff. (ad D. 23, 2, §§ 50–52), 139 (§ 69); Christoph Christian Dabelow, System des gesammten heutigen Civil-Rechts. 2. Aufl. Bd. 2. Halle 1796, § 2737, S. 757. 40 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 36 (lib. I, tit. 9, § 3); zusammenfassend Silvia Schumacher, Das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern in der Privatrechtsgeschichte. Frankfurt am Main 1999. 41 Johann Schilter, Praxis Juris Romani in Foro Germanico, Bd. 1. Frankfurt am Main 1713, Exercitatio ad Pandectas, lib. 3, § 11, S. 37; Wolff, Institutiones (wie Anm. 9), §§ 888 ff.; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 452; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 247. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Anna Becker in diesem Band. 42 Höpfner, Naturrecht (wie Anm. 16), 152 (§ 160).
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geboren oder durch Rechtsakt legitimiert worden sind, sowie über Adoptivkinder.43 Töchter werden durch ihre Heirat von der väterlichen Gewalt frei.44 Dagegen endet die väterliche Gewalt über Söhne erst, wenn sie nach Eintritt der Mündigkeit mit Vollendung des 21. Lebensjahrs ihren eigenen Hausstand begründet haben und sich selbständig ernähren können.45 Aufgrund der väterlichen Gewalt hatten die Kinder, „der Eltern Befehl zu respektiren und deroselben Vorrecht und Ehrwürdigkeit demüthig zu erkennen“.46 Eine genaue Bezeichnung der gegenseitigen Rechte und Pflichten in den Quellen unterbleibt allerdings weitgehend. Vielmehr dürfen und müssen der Hausvater und die Hausmutter ihre Rechte im jeweiligen Einzelfall konkretisieren. Klar formuliert wird nur, dass die Eltern ihre Kinder nicht zu einer Ehe zwingen können.47 Entgegen dem kanonischen Recht ist jedoch für eine wirksame Eheschließung die elterliche Zustimmung erforderlich.48 Für den hohen Adel stellt sich häufig das Problem der standesmäßigen oder hausgesetzlichen Ehe.49 Ebenso unbestimmt wie die Rechte gegenüber den Kindern sind die Rechte gegenüber den Dienstboten. Deren Rechtsverhältnisse sind in einer unüberschaubaren Vielfalt von Gesindeordnungen geregelt.50 Der Eintritt in ein Dienstverhältnis bedeutet stets zugleich den Eintritt in die Ordnung des Hauses, ohne dass die konkreten Rechte und Pflichten für den Einzelfall ausgehandelt werden.51 In jedem Fall
43 Schilter, Praxis (wie Anm. 41), 37 ff. (§§ 12 f.); Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 84; Code civil (wie Anm. 30), Art. 331. 44 Benedikt Carpzov, Jurisprudentia forensis Romano-Saxonica. Leipzig 1656, pars II, const. 10, def. 2 & 3, S. 442 f.; Johann Gottlieb Heineccius, Akademische Reden über desselben Elementa Juris Civilis secundum ordinem Institutionum. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1766, 199 (lib. I, tit. 12, § 199); Code civil (wie Anm. 30), Art. 476; ABGB von 1811, § 175; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 327 (§ 176). 45 Kursächsische Konstitutionen von 1572, in: Wolfgang Kunkel/Hans Thieme/Franz Beyerle (Hrsg.), Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. 1/2. Weimar 1938, Teil 2, Const. 10, 266; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 76, 93; ABGB von 1811, § 174. 46 Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 365 f. (lib. VI, cap. II, § 1), (Zitat), 370 ff. (§ 4), 374 (§ 5); Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 193 f. 47 Boehmer, Ius ecclesiasticum (wie Anm. 30), 1169 (lib. IV, tit. 1, § 116). 48 Ebd., 1244 ff. (lib. IV, tit. 2, §§ 8 ff.); Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 106; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 437; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 1, § 59. 49 Dietmar Willoweit, Standesungleiche Ehe des regierenden hohen Adels in der neuzeitlichen deutschen Rechtsgeschichte. München 2004. 50 Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 3. München 1917, 642 f.; Rainer Schröder, Das Gesinde war immer frech und unverschämt. Gesinde und Gesinderecht vornehmlich im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992. 51 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 70; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 422, 425 ff.; Joachim Rückert, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB. Tübingen 2013, § 611, Rdnr. 170, 204; §§ 612–614, Rdnr. 28 ff.
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steht dem Hausherrn das Direktionsrecht zu.52 Häufig zeigt sich in den Gesindeordnungen eine Verbindung von schuldrechtlichen und haus- oder familienrechtlichen Komponenten. So müssen die Dienste im Haus oder in dessen räumlicher Nähe als landwirtschaftliche Tätigkeit geleistet werden, während gewerbliche Arbeit nicht in Frage kommt.53 Bisweilen wird die Aufnahme in die häusliche Gemeinschaft des Dienstherrn gefordert. Und ohne Genehmigung des Hausherrn darf sich das Gesinde nicht vom Haus entfernen.54 Die Hausangehörigen vertritt grundsätzlich der Hausherr vor Gericht und im Rechtsverkehr. Schon aufgrund ihres Alters haben Kinder keine Rechtsmacht, ohne Einwilligung ihres Vaters Verträge zu schließen, ihr Eigentum zu veräußern, zu verpfänden oder zu verschenken.55 Aus Geschäften des Sohnes entstehen allerdings dann Ansprüche gegen den Vater, wenn der Sohn mit Wissen und Willen seines Vaters ein eigenes Gewerbe betreibt und diese Geschäfte im Zusammenhang mit dem Gewerbe stehen.56 Vor Gericht kann ein Sohn nicht ohne Zustimmung des Vaters als Partei handeln, ausgenommen in Strafverfahren.57 Vielmehr vertritt ihn sein Vater. Während zwar nach rezipiertem römischem Recht eine Klage des Sohnes gegen den Vater unzulässig ist58, wird doch überwiegend angenommen, dass kraft Gewohnheit das hochmittelalterliche Kirchenrecht, das die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen ermöglicht, weiterhin Geltung beansprucht.59 Tatsächlich sind Formulare für Unterhaltsklagen des Kindes gegen Vater oder Großvater seit dem 13. Jahrhundert in den Prozessrechtslehrbüchern enthalten.60 Da zur Durchsetzung des Unterhaltsanspruchs eines unehelichen Kindes zuvor die Vaterschaft festgestellt werden muss, hat
52 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 5 § 74. 53 Ebd., II, 5 § 1; Gierke, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 50) 595 f. 54 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 5 §§ 59, 73. 55 Freiburger Stadtrecht von 1520, in: Kunkel (Hrsg.), Quellen (wie Anm. 45), Bd. 1/1, 1936, Teil 3, Titel 1, Art. 2; Solmser Landrecht von 1571, in: Kunkel (Hrsg.), Quellen (wie Anm. 45), Teil 2, Titel 10, Art. 6; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2 § 125; ABGB von 1811, § 152. 56 Württembergisches Landrecht von 1555, in: Kunkel (Hrsg.), Quellen (wie Anm. 45), Teil II, Kap. 9, Nr. 5. 57 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 40 (lib. I, tit. 9, § 33); Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 450; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 320 f. (§ 175). 58 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 40 (lib. I, tit. 9, §§ 30–32); Dabelow, System (wie Anm. 39), 760 (§ 2740). 59 Andreas Gail, Practicarum observationum libri duo. Köln 1616, 464, (lib. II, obs. 88, nr. 5); Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), 372 f., (ad. D. 25, 3, § 6); Engelbert Krause, Die gegenseitigen Unterhaltsansprüche zwischen Eltern und Kindern in der deutschen Privatrechtsgeschichte. Frankfurt am Main 1982, 76 f.; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 251; vgl. Anm. 99. 60 Guilelmus de Drogheda, Summa aurea, in: Ludwig Wahrmund (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Römisch-Kanonischen Prozesses im Mittelalter, Bd. 2. Prag 1914, 211 (Nr. 190); Guilelmus Durantis, Speculum iudiciale. Basel 1574, 461, (lib. IV, partic. IV, rubr. Qui filii sint legitime, nr. 6); Sebastian Brant, Clagspiegel. Straßburg 1516, fol. 43 (Theil 1, Tit. De partu agnoscendo).
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die Kanonistik auch eine eigene Klage auf Anerkennung der Vaterschaft formuliert („actio de partu agnoscendo“).61 Einen Dienstboten hat der Herr gegen ungerechte Gewalt zu verteidigen.62 Auf der anderen Seite ist er aber Dritten gegenüber für alle Schäden verantwortlich, die Angehörige seines Haushalts verursacht haben.63 Uneinheitlich geregelt ist die Rechtsstellung der Frau. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Frau rechtsfähig ist, also Eigentümerin ihrer Güter und Inhaberin ihrer Rechte ist. Nach gemeinem Recht ist die Frau auch rechtsgeschäftlich und prozessual handlungsfähig.64 Sie kann mithin selbst als Klägerin vor Gericht auftreten. Sie ist sogar befugt, gegen ihren Ehemann zu klagen, falls ihr Heiratsgut gefährdet sein sollte. Der Ehemann ist aber berechtigt, seine Frau vor Gericht zu vertreten und auch ohne ihren Willen einen Prozess in ihrem Namen zu führen. Demgegenüber stellen viele Partikularrechte die Frau unter „tutela mariti“.65 In diesem Fall kann die Frau nicht ohne Zustimmung ihres Mannes über ihr Eigentum verfügen, sich nicht in Verträgen verpflichten oder selbständig als Partei vor Gericht auftreten.66 Rechtsgeschäftlich und prozessual handlungsfähig ist allerdings die selbständige Gewerbeund Handelsfrau.67 Insofern kann das Haus nach außen einen abgeschlossenen Raum eigenen Rechts bilden, der allerdings insoweit offen ist, weil die Frau je nach geltendem Recht ohne oder mit Zustimmung des Mannes selbstständig handelt und im Bereich der Alltagsgeschäfte ohnehin mit einer Art Generaleinwilligung versehen ist.68 Hinsichtlich des Vermögens lässt sich nur partiell von einem einheitlichen Hausgut sprechen. Eine gewisse Familiengebundenheit ist dennoch zu erkennen. Das
61 Durantis, Speculum iudiciale (wie Anm. 60), 460 f. (lib. IV, partic. IV, rubr. Qui filii sint legitime, nr. 2) mit Formular für eine Klageschrift; Augustin Leyser, Meditationes ad pandectas. Leipzig 1744, Specimen 322, Nr. 2, S. 389 ff.; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 251. 62 Leiser, Jus Georgicum (wie Anm. 17), liber 2, cap. 5, Nr. 43; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9) 428 f. 63 Heineccius, Akademische Reden (wie Anm. 44), 814 f. (lib. IV, tit. 5, §§ 1114 ff.); Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 431 f. 64 Corpus Iuris Civilis, Dig. 47, 10, 1, 9; Inst. 4, 6, 37; Duncker, Gleichheit und Ungleichheit (wie Anm. 37), 551 ff., 985 ff. 65 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 1, §§ 174, 185 ff., 197 ff.; Code civil (wie Anm. 30), Art. 212 ff.; ABGB von 1811, § 91; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 176 (§ 148), 208 (§ 153). 66 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 152 ff., 154 f.; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 1, § 189; Code civil (wie Anm. 30), Art. 212 ff.; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 235 f. 67 ALR von 1794 (wie Anm. 28), II, 8 §§ 488 & 493 mit II, 1 § 230. Enger sind die Vorgaben des französischen Rechts in Art. 220 des Code civil (wie Anm. 30) und Art. 4 des Code de commerce, die nur der selbständigen öffentlichen Handelsfrau eine eigene Prozessführungsbefugnis geben. 68 Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 213 ff. (§ 154), (Zitat); Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 442.
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Ehegüterrecht kennt eine kaum überschaubare Vielfalt von rechtlichen Lösungen.69 Zwar haben Frau und Mann „keine separatam oeconomiam et mensam“70, doch bleibt in aller Regel jeder Ehegatte Eigentümer seiner Güter (Gütertrennung). Gemeinschaftliches Eigentum wird häufig nur das in der Ehe „durch gemeinschaftlichen Fleiß“ Erworbene (Errungenschaftsgemeinschaft), in einigen Gebieten auch die beweglichen Güter, die der Verwendung im Hauswesen dienen (Fahrnisgemeinschaft).71 Das Verwaltungs- und Nutznießungsrecht am Vermögen der Frau steht allerdings dem Mann zu.72 Um die Erben der Frau zu schützen, kann sie ihrem Ehemann durch lebzeitige Rechtsgeschäfte keine Güter zuwenden.73 Insbesondere Schenkungen zwischen Ehefrau und Ehemann sind verboten74, wenn nicht ein eigens bestellter Kurator oder die Kinder ihre Zustimmung erteilen.75 Insofern sind die Eigentümer durch die Existenz ihrer Nachfahren beschränkt (Erbenlaub).76 Auch Kinder, die sich in väterlicher Gewalt befinden, können Eigentum haben.77 Hier ist insbesondere an Vermögen zu denken, das ein Kind durch Erbfall erworben hat. Der Vater hat in diesem Fall am Vermögen des Kindes das Verwaltungsrecht und einen Nießbrauch (Nutzungsrecht), der zur Fruchtziehung, d. h. zur Abschöpfung der Erträge berechtigt.78 Erst wenn das Kind zum Zeitpunkt der Volljährigkeit eine „separatam oeconomiam“ gründet, ist der Vater zur Herausgabe des Vermögens verpflichtet.79 Günstiger für das Kind regelt das englische Recht die väterlichen Befugnisse. Auch hier verwaltet zwar der Vater das Vermögen des Kindes und erhält während dieser Zeit die Einkünfte, doch ist er wie ein Vormund zur Abrechnung gegenüber dem Kind verpflichtet, sobald dieses die Volljährigkeit erreicht.80 Während nach gemeinrechtlicher Auffassung überdies alles, was der Sohn durch eigene Arbeit erwirbt, dem
69 Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 192 ff. (§§ 151 ff.); zu Spanien: Ignacio Jordan de Asso y del Rio/Miguel de Manuel, Institutiones del derecho civil de Castilla. Madrid 1786, 51 ff. 70 Hieronymus Christoph Meckbach, Commentar über den Sachsen-Spiegel. 2. Aufl. Weimar 1789, ad Ldr. I, 31, 179. 71 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 144 ff., 163; Dabelow, System (wie Anm. 39), 754 (§ 2733); Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9), 224 (§ 160); Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 242. In England herrscht Gütertrennung: Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 444. 72 Freiburger Stadtrecht von 1520 (wie Anm. 55), Teil 3, Titel 2, Art. 7; Dabelow, System (wie Anm. 39), 756 (§ 2737); ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 1 § 205. 73 Freiburger Stadtrecht von 1520 (wie Anm. 55), Teil 3, Titel 2, Art. 8. 74 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 160 f. 75 Carpzov, Jurisprudentia (wie Anm. 44), 540 (pars II, const. 15, def. 23); Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), 231 ff. (ad D. 24, 1, §§ 1 ff.); Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 210 f. (§ 154). 76 Dabelow, System (wie Anm. 37), 760 (§ 2740). 77 Schilter, Praxis (wie Anm. 41), Bd. 2, 216 (lib. 27, § 88); ALR von 1794 (wie Anm. 30) II, 2 §§ 147 ff. 78 Stryk, usus modernus, (wie Anm. 15), 394 (ad D. 26, 1, § 4); ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2 § 168; Code civil von 1804 Art. 384; ABGB von 1811, § 152; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 317 ff. (§ 175). 79 Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 453. 80 Ebd.
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Vater zusteht81, sehen die naturrechtlichen Gesetzbücher vor, dass das Kind für sich selbst erwirbt und dem Vater an diesem Vermögen lediglich ein Verwaltungsrecht zusteht.82 Innerhalb der Familie vollzieht sich auch die Erbfolge, sofern ein Testament keine anderen Bestimmungen trifft.83 In diesem Fall stellt jedoch der Pflichtteil (legitima) einen unverfügbaren Vermögensanteil dar, der den Deszendenten und einem bestimmten Kreis von Aszendenten verbleiben muss und dessen Entzug nur unter erschwerten Bedingungen zulässig ist.84 Eine besondere Form der Erhaltung von Vermögensgütern in der Hand der Familie kann durch eine Familienstiftung und insbesondere durch den FamilienFideikommiss erfolgen. Der Fideikommiss betrifft „Erb- oder Stammgüter […], welche man nicht erst selbst acquirirt, sondern schon von seinen Eltern oder Voreltern ererbt hatte“.85 Diese stehen nicht mehr zur Disposition des derzeitigen Besitzers, vielmehr hat „das ganze Geschlecht in gewisser Maas daran Anteil“.86 Daher kann „ein solches Gut ohne Consens sammetlicher Erben und Geschlechts-Verwandter extra Familiam nicht veräußert werden“.87 Durch diese Bindung soll die ökonomische Grundlage der Familie über Generationen erhalten bleiben. Die erbrechtliche Sukzession erfolgt vorrangig in die nächsten männlichen Verwandten. Frauen erben erst, wenn die Manneslinie ausgestorben ist. Auch die Nachfolge in Lehnsgüter ist nur durch Intestaterbfolge an die nächsten männlichen Verwandten möglich.88 Bezüglich der Anwendung von Gewalt im Haus lassen sich im Lauf der Frühen Neuzeit wichtige Veränderungen beobachten. Aus juristischer Sicht stand dem Hausherrn grundsätzlich ein Züchtigungsrecht zu. Gegenüber der Ehefrau beinhaltet das ius maritale allerdings nur ein mäßiges Züchtigungsrecht.89 Nur das englische Recht, so wie es Blackstone um die Mitte des 18. Jahrhunderts darstellt, und auch das Allge-
81 Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), Bd. I, 94 (ad D. 1, 6, § 5); Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 319 (§ 175). 82 Heineccius, Akademische Reden (wie Anm. 44), 134 (lib. I, tit. 9, § 142); ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2 § 123, §§ 147155, 159; Code civil (wie Anm. 30), Art. 387. 83 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 3. Theil, 1763, 1325 ff.; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2, §§ 300 ff., §§ 348 ff.; Code civil (wie Anm. 30), Art. 731 ff.; ABGB von 1811, §§ 730 ff. 84 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 83), 1048 ff.; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2 §§ 391 ff., §§ 501 ff.; Code civil (wie Anm. 30), Art. 913 ff.; ABGB von 1811, §§ 762 ff.; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 610 ff. 85 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 83), 1236 ff., 1243 ff., hier 1237; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 4, §§ 21 ff., 47 ff.; ABGB von 1811, §§ 618 ff.; Coing, Privatrecht (wie Anm. 3), 385 ff. 86 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 83), 1237. 87 Ebd. 88 Johann Jakob Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 17. Nürnberg 1745, lib. 3, cap. 84, § 17, S. 8. 89 Stryk, usus modernus (wie Anm. 15), 113 f. (ad D. 23, 2, § 43), 127 ff. (§§ 58 & 59); Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 121 f.
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meine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 erlauben keine Gewalt gegen die Frau.90 Gegenüber den Kindern ist das Züchtigungsrecht zunächst nicht beschränkt.91 Zur Durchsetzung väterlicher Anordnungen konnte der Vater sogar obrigkeitliche Hilfe in Anspruch nehmen und dem Gericht die Höhe der (Gefängnis-) Strafe vorschreiben.92 Die Verhaftung des Kindes auf Antrag des Vaters oder der Mutter sieht noch der Code civil vor.93 Dagegen sprachen sich aber schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts einige Autoren und später auch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch dafür aus, das Züchtigungsrecht gegenüber den Kindern auf eine maßvolle, „nicht übertriebene und ihrer Gesundheit unschädliche Art“ zu beschränken.94 Ein strengeres Regiment gilt nach allgemeiner Ansicht gegenüber Dienstboten95, zumal „ein fauler Dieb […] einem Haus-Vater weniger [schadet], denn ein fauler Knecht.“96 Der Hausherr hat allerdings auch die Aufgabe, für den Unterhalt der Hausangehörigen zu sorgen. Gegenüber der Ehefrau ist der Ehemann verpflichtet, standesgemäßen Unterhalt zu leisten.97 Entsprechend hat der Vater, für den Unterhalt der Kinder aufzukommen.98 Die Unterhaltspflicht besteht nur dann nicht, wenn sich das Kind durch eigene Arbeit oder aus eigenem Vermögen ernähren kann. Die Unterhaltspflicht wurde nicht als bloß sittliche Pflicht beschrieben, vielmehr wurde die Unterhaltspflicht als Rechtspflicht verstanden, so dass der Vater zu deren Erfüllung durch das Gericht gezwungen werden konnte.99 Leibliche Kinder sind ihrerseits den Eltern zum Unterhalt verpflichtet, dagegen besteht nur nach preußischem Recht eine Unter-
90 Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 444 f. 91 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 39 (lib. I, tit. 9, § 27); Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 452. 92 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 39 (lib. I, tit. 9, § 27). 93 Code civil (wie Anm. 30), Art. 375–381. 94 ABGB von 1811, § 145; Kreittmayr, Anmerkungen, 1. Theil (wie Anm. 11), 67; Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9), 234 (§ 168). 95 Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 400 (lib. VI, cap. III, § 1); Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 428. 96 Leiser, Jus Georgicum (wie Anm. 17), liber 2, cap. 5, Nr. 54. 97 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 1, §§ 174, 185 ff., 197 ff.; Code civil (wie Anm. 30), Art. 212 ff.; ABGB von 1811, § 91; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 176 (§ 148); 208 (§ 153). 98 Carpzov, Jurisprudentia (wie Anm. 44), 449 (pars II, const. 10, def. 18, nr. 1 & 2); Kreittmayr, Anmerkungen, (wie Anm. 11), 74 f.; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 447 f.; Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9), 233 (§ 167); ABGB von 1811, § 141. 99 Schneidewin, Commentarii (wie Anm. 30), 11 (lib. I, tit. 2, nr. 9 & 10); Pufendorf, Natur- und Völkerrecht (wie Anm. 18), 372 (lib. VI, cap. II, § 4); Heineccius, Akademische Reden (wie Anm. 44), 132 & 134 (lib. I, tit. 9, §§ 140 & 143); ALR von 1794 (wie Anm. 30), II 2, §§ 109–115, 113; ABGB von 1811, § 148, § 178; vgl. auch Anm. 59.
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haltspflicht unter Geschwistern.100 Den Dienstboten schuldet der Hausherr schließlich Kost und Logis.
3 Das Haus im Blickfeld der Obrigkeit und die Intensivierung der Rechtspflichten Erst langsam beginnt die Obrigkeit, die rechtlichen Beziehungen innerhalb des Hauses zu reglementieren. Während das Ehe- und das Abstammungsrecht schon seit der Spätantike von kirchlichen Normen bestimmt werden, geraten die übrigen Bereiche erst in der Frühen Neuzeit in den Blick der Obrigkeit. Als frühes Beispiel ist die Schulpflicht zu nennen, deren Einführung eng mit der Reformation zusammenhängt.101 Martin Luther weist deutlich darauf hin, „daß man sich der Jugend mit Ernst annehme. Denn wöllen wir feine geschickte Leute haben […], so müssen wir wahrlich kein Fleiß, Mühe und Kost an unsern Kindern sparen zu lehren und zu erziehen, daß sie Gott und der Welt dienen mögen“.102 Schon in Stadtrechten des 16. Jahrhunderts wird die Erziehung als Pflicht der Eltern gegenüber den Kindern zu deren Wohl verstanden.103 In den Polizei- und Landesordnungen finden sich – wie schon im spätmittelalterlichen Stadtrecht – vermehrt Bestimmungen, die die Eltern zur Unterhaltung ihrer Kinder sowie die Kinder zur Unterhaltung der Eltern verpflichteten, und Normen, die die Einhaltung dieser Pflichten obrigkeitlichem Zwang unterwerfen.104 So soll der Amtmann einschreiten, wenn der Vater seinen Kindern eine Ausstattung für Beruf und Ehe verweigert.105 Zudem trägt die naturrechtliche Vertragskonzeption dazu bei, das Zusammenleben der Eheleute, die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie gegenüber den Dienstboten verstärkt als rechtliche und damit prinzipiell als gerichtlich einklagbare Beziehungen
100 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 74; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2 § 63, II, 3 § 14, Code civil (wie Anm. 30), Art. 207; ABGB von 1811, § 154 S. 2. 101 Berding, Gewalt (wie Anm. 34), 54. 102 Martin Luther, Großer Katechismus, 4. Gebot, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. 12. Aufl. Göttingen 1998, 545–738, hier 604; John Witte jr., Law and Protestantism – The Legal Teachings of the Lutheran Reformation. Cambridge 2002, 257 ff., 277 ff.; Mathias Schmoeckel, Das Recht der Reformation. Tübingen 2014, 67 ff. 103 Freiburger Stadtrecht von 1520 (wie Anm. 55), Teil 3, Titel 3, Art. 19; Heineccius, Akademische Reden (wie Anm. 44), 126 (lib. I, tit. 9, § 133); Berding, Gewalt (wie Anm. 34), 52, 55 f. 104 Gustaf Klemens Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht. Köln 1955, 72 f.; Krause, Unterhaltsansprüche (wie Anm. 59), 100 f.; Marko Oldenburger, Kindesunterhalt in England. Köln 2014, 56 ff., 124 f. 105 Schmelzeisen, Polizeiordnungen (wie Anm. 104), 72 f.
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zu verstehen.106 Zwar gibt es seit dem Mittelalter vermögensrechtliche Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn, die im Gericht ausgetragen werden.107 Gleichwohl bleiben die konkreten familiären Pflichten noch lange und zum Teil bis heute eine rechtlich unbestimmte, innerhäusliche Angelegenheit.108 Dass das Vertragsmodell eine „neue Deutung des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern“ mit sich bringt, weil das Kind als Partner eines fiktiven Vertrags den Eltern als Subjekt mit eigenen Rechten gegenübertritt, hat schon Dieter Schwab hervorgehoben.109 Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 formuliert infolgedessen: „Wenn aus einer Ehe Kinder geboren werden, so entsteht ein neues Rechtsverhältniß; es werden dadurch Rechte und Verbindlichkeiten zwischen den ehelichen Aeltern und Kindern gegründet.“110 Angestoßen durch die Reformation entdeckt der neuzeitliche Staat sein Interesse an brauchbaren Staatsbürgern: „Die Aeltern sind schuldig, ihre Kinder zu künftigen brauchbaren Mitgliedern des Staats, in einer nützlichen Wissenschaft, Kunst oder Gewerbe vorzubereiten.“111 Daher hat der Vater nach dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten bei der Bestimmung der „künftigen Lebensart“ auf die Neigungen und Fähigkeiten des Kindes Rücksicht zu nehmen. Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Kind über die Berufswahl entscheidet das Gericht.112 Damit werden innerhäusliche Kontroversen jenseits der vermögensrechtlichen Ansprüche nach außen getragen und gerichtlich entschieden.113 Indem die „Älterngewalt […] auf das wahre […] Wohl der Kinder“114 bezogen wird, ist jeder „Mißbrauch […] eine Rechtsverletzung der Kinder“.115 Insbesondere bei der Ausübung des Züchtigungsrechts kann nunmehr jeder, vor allem aber können die nächsten Anverwandten die Hilfe des Gerichts anrufen.116 Einheitlich ist diese Entwicklung allerdings nicht. Der französische Code civil von 1804 stellt staatliche Zwangsmaßnahmen vielmehr ausdrücklich in den Dienst des Vaters, um der väterlichen Gewalt Nachdruck zu verleihen.117
106 Andreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Bd. 1. Stuttgart 2003, 4 f.; Floßmann, Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 3), 69, 93. 107 Vgl. Anm. 59 und 99. 108 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 68; Wolff, Institutiones (wie Anm. 9), §§ 889 ff., § 971; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 453; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 2 §§ 121 f. 109 Schwab, Vertragsgesellschaft (wie Anm. 34), 192; Berding, Gewalt (wie Anm. 34), 63. 110 ABGB von 1811, § 137. 111 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II 2, § 108; Blackstone, Commentaries (wie Anm. 9), 450 f.; Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9), 229 (§ 164). 112 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II 2, §§ 109–115, 113; ABGB von 1811, § 148. 113 Beispiel bei Heineccius, Akademische Reden (wie Anm. 44), 132 (lib. I, tit. 9, § 140). 114 Zeiller, Privatrecht (wie Anm. 9), 234 (§ 168). 115 Ebd.; dazu Schwab, Kind (wie Anm. 2), 1740. 116 ABGB von 1811, § 178; Bluntschli, Deutsches Privatrecht (wie Anm. 13), 315 f. ( § 174). 117 Code civil (wie Anm. 30), Art. 371–383.
Das Haus im Recht der Frühen Neuzeit
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Nur langsam werden auch in der Beziehung zum Gesinde einklagbare Rechte erkennbar. Da es im Gesindedienst zunächst weitgehend an einer klaren Regelung von Rechten und Pflichten fehlt, spricht Joachim Rückert von „rechtsfreiem Arbeiten“.118 So wird das Gesinde im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten verpflichtet, „seine Dienste treu, fleißig und aufmerksam zu verrichten“.119 Die Dienstzeit und die Aufgaben können zwar vertraglich bestimmt sein, sind aber, falls es an einer präzisen Bestimmung fehlt, nach Gutdünken des Herrn zu leisten.120 Statt rechtlicher Ansprüche finden sich z. B. im Krankheitsfall des Dienstboten Aufrufe zu christlicher Nächstenliebe.121 Verletzt jedoch der Herr seinen Dienstboten, bleibt auch dieser Vorgang seit der Mitte des 18. Jahrhunderts keine innerhäusliche Angelegenheit mehr, sondern berechtigt den Dienstboten, seinen Herrn vor Gericht zu verklagen.122
4 Fazit Das Haus ist kein Rechtsinstitut des Privatrechts und daher kein normativer Begriff. Die Untersuchung der Rechtsverhältnisse zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie Herren und Dienstboten lassen jedoch erkennen, dass das Haus in der Frühen Neuzeit einen Raum eigenen Rechts darstellt, dessen Angehörige (nicht das Haus) nach außen im Gericht und im Rechtsverkehr durch den Hausvater vertreten werden können, ohne dass dadurch die Rechtsfähigkeit der Hausangehörigen in Zweifel gezogen wird. Die Ehefrau und in eingeschränktem Maße, mit Zustimmung des Vaters, auch die Kinder können allerdings selbständig rechtsgeschäftlich handeln. Der Hausherr verwaltet auch das Vermögen der Hausangehörigen, unabhängig von der Frage des Eigentums. Deshalb kann das Haus faktisch als Lebens- und Wirtschaftsraum existieren und wahrgenommen werden. Beide Bereiche – die Vertretung- und die Verwaltungsbefugnisse des Hausherrn – bleiben während der Frühen Neuzeit und bis in das 19. Jahrhundert hinein, unverändert. Rechtsinstitute wie die Intestaterbfolge, der Pflichtteil und der Fideikommiß zeigen, dass in der Familie vorhandenes Vermögen auch nachfolgenden Generationen zugutekommen soll, bisweilen sogar dergestalt, dass der Hausvater lediglich als Sachwalter des Hausvermögens erscheint. Die Entscheidungen im Haus trifft der Hausvater.
118 Rückert, Historisch-kritischer Kommentar (wie Anm. 51), Vor § 611, Rdnr. 19, § 611, Rdnr. 233 f. 119 ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 5 § 64. 120 Ebd., 5 §§ 40, 57 & 60; Wolff, Institutiones (wie Anm. 9), § 947. 121 Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 11), 4. Theil, 1550. 122 Leiser, Jus Georgicum (wie Anm. 17), liber 2, cap. 5, Nr. 46; ALR von 1794 (wie Anm. 30), II, 5 §§ 96 f.
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Die juristische Konzeption des Vertrags, der die Beziehungen im Haus begründet und ordnet, bringt jedoch Einschränkungen der hausherrlichen Gewalt mit sich. Die Hausangehörigen werden auch in ihrer häuslichen Funktion verstärkt als selbstständige Rechtsträger wahrgenommen. Die Obrigkeit legt der hausherrlichen Gewalt im Interesse des bonum commune Grenzen auf. Zudem können innerhäusliche Konflikte nach außen vor ein Gericht getragen werden. Damit wird das Haus als ein im Innern weitgehend autonomer Rechtsraum zwar nicht aufgelöst, aber geöffnet und der Aufsicht des Obrigkeitsstaats unterworfen. Das bedeutet zugleich den Weg der Hausherrschaft von der Willkürherrschaft, mag diese auch ethisch gebunden sein, zu einer (zumindest partiell) rechtlich überprüfbaren Entscheidungs- und Verwaltungskompetenz, die Fürsorgecharakter tragen soll.
Hans-Georg Lippert
Das Haus in Architekturtraktaten zwischen 1450 und 1950 Zu den Charakteristika der Geschichte Europas gehört der Umstand, dass Hausbau und Wohnen hier nicht nur, wie überall, seit jeher das ausgedehnteste Betätigungsfeld baulicher Praxis darstellen, sondern auch schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu einem wichtigen Gegenstand der theoretischen Reflexion über Architektur wurden. Architekturtheorie widmet sich der Frage, was Architektur – bis ins 20. Jahrhundert hinein meist als Baukunst verstanden – ausmacht, wie Architektur sein soll und welche gesellschaftliche Aufgabe sie hat. Sie ist Teil eines Diskurses, der bereits in der klassischen Antike ausgeprägt war und seitdem einen nahezu ununterbrochenen Kommentar zu den europäischen bzw. europäisch bestimmten Entwicklungen im Bauen formuliert hat. Während des Mittelalters manifestierte sich dieser Diskurs allerdings nur selten in schriftlicher Form, weshalb die Architektur- und Kunstgeschichte in der Wiederentstehung einer text- und abbildungsbasierten, zur Veröffentlichung bestimmten Architekturtheorie im 15. Jahrhundert einen der wesentlichen Vorgänge für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sieht. Die moderne mediale Vermittlung von Architektur und Bauen hat hier ihren Ursprung. Die literarische Form, in der dieser Prozess sich bis in das 19. Jahrhundert hinein überwiegend vollzog, ist die des Architekturtraktats, wobei die frühesten Beispiele noch vor Erfindung des Buchdrucks entstanden, dessen ungeachtet aber zumindest in den zeitgenössischen Fachkreisen vielfältig rezipiert und kommentiert wurden. Im Folgenden sollen die Merkmale dieser Textgattung kurz skizziert und die in ihr verhandelten, auf Haus und Hausbau bezogenen Inhalte in ihrer Entwicklung vom 15. bis zum 20. Jahrhundert anhand einiger prägnanter Beispiele vorgestellt werden.
1 Der Architekturtraktat als literarisches Medium Ein Traktat ist eine in Prosa verfasste Abhandlung, die sich systematisch einem einzelnen Thema widmet. Traktate sind Lehrschriften, d. h. sie verfolgen didaktische, zuweilen sogar dogmatische Zwecke und richten sich an ein vorgebildetes Publikum, das sich mit einer bestimmten Materie vertieft beschäftigen möchte. Traktate streben nach Verständlichkeit und Überzeugungskraft, aber nicht nach literarischer Eleganz. Üblicherweise präsentieren sie eine Fülle von Beschreibungen, Definitionen, Daten und Fakten und verfügen häufig sogar über einen mehr oder minder elaborierten Anmerkungsapparat. Allerdings verfolgen Traktate meist keine oder allenfalls sehr begrenzte historisch-analytische Ziele. Architekturtraktate sind deshalb nicht als baugeschichtliche Erörterung zu lesen, sondern als normative Handreichung für die jeweilige eigene
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Gegenwart, mitunter mit kanonischem Charakter. Wie jedes Orientierungswissen sind sie dabei dem Zwang zur Komplexitätsreduktion unterworfen, doch entwickeln sie bisweilen in gewissem Umfang auch eine Zukunftsvision bzw. eine Wunschvorstellung. Der erste Architekturtraktat der Frühen Neuzeit, die 1452 als lateinisches Manuskript vorgelegte stil- und gattungsprägende Abhandlung „De re aedificatoria libri decem“ von Leon Battista Alberti, kam noch völlig ohne Abbildungen aus; alle nachfolgenden arbeiteten dann durchweg mit Bildmaterial. Dabei wurden zunächst Holzschnitte verwendet, später die wesentlich detail- und maßgenaueren Kupferstiche. Ab dem 19. Jahrhundert kamen Stahlstiche und Lithographien zum Einsatz, ab 1900 schließlich auch Fotos. Architekturtraktate „etablierten eine neue Kommunikationsebene zwischen Architekten, Bauherren und Publikum“1, zunächst bezogen auf die Fürstenhöfe, spätestens ab 1600 aber auch für eine städtisch-bürgerliche Öffentlichkeit. Zwar gab es eine Reihe von Laien unterschiedlicher beruflicher Herkunft, die Architekturtraktate schrieben (zum Beispiel Mathematiker); die Mehrzahl der Verfasser und Herausgeber aber waren praktizierende Architekten, die – vor allem in der Anfangszeit der Gattung im 15. und 16. Jahrhundert – mit Hilfe einer systematischen Theorie und deren Veröffentlichung ihren Anspruch auf gesellschaftlichen Aufstieg und Anerkennung unterstreichen, eigene bauliche Ideen verbreiten und architektonische Idealvorstellungen formulieren konnten. Der für diese Epoche so charakteristische Rückgriff auf die klassische Antike wirkte dabei als Katalysator, denn „theoretische Literatur begleitete die Kunstpraxis der Renaissance von Anfang an. […] Die Gotik war verwurzelt in der Baupraxis ihrer Zeit. […] Dagegen entsprang die Idee eines neuen Rückgriffs auf die Antike den Köpfen von Künstlern […] oder auch von Literaten, die die alten Schriftsteller lasen und von da her den modernen Geschmack kritisierten. Mit anderen Worten, es war eine Idee, die nicht aus der Baupraxis kam, sondern gegen diese sich durchsetzen musste; und dazu bedurfte es der Definition, des Arguments, der Sprache, und schließlich der Schrift. […] Der neue Baustil bedurfte einer neuen Technik der Wissensvermittlung“2, und das begründete ganz wesentlich die Bedeutung der neuen Literaturgattung. Zentrum der Produktion von Architekturtraktaten war dementsprechend zunächst Italien; im 16. Jahrhundert kam Frankreich hinzu, das schon bald das Geschehen dominierte. Nach 1600 finden sich allmählich auch deutsche sowie in gewissem Umfang (nämlich im Kontext einer stark auf einzelne Vorbilder fokussierten Italienrezeption) englische Arbeiten. Im 18. Jahrhundert schließlich etablierte sich im deutschsprachigen Raum eine bemerkenswert eigenständige und durchaus innovative Autorenszene, die gerade dem Thema des Wohnhausbaus große Aufmerksamkeit schenkte.3
1 Christof Thoenes, Einleitung, in: Christof Thoenes/Veronica Biermann (Hrsg.), Architekturtheorie von der Renaissance bis zur Gegenwart. Köln 2003, 12. 2 Ebd., 8, 10. 3 Allgemein hierzu Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1991; Georg Germann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie.
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Seit dem 15. Jahrhundert behandelten Architekturtraktate mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung im Wesentlichen drei große Themenbereiche: den materiellen und technisch-konstruktiven Aspekt von Architektur, den funktionalen und sozialen Aspekt von Architektur (d. h. die Nutzungsweise eines Gebäudes, die Anordnung und Zweckbestimmung von Innen- und Außenräumen, das Streben nach Komfort und Behaglichkeit) und den Aspekt der Schönheit, also die ästhetische Behandlung und die ästhetische Aussage eines Bauwerks. Das entspricht dem Dreiklang von firmitas, utilitas und venustas, den bereits der antike römische Architekt Vitruv in seinen zwischen 33 und 14 v. Chr. entstandenen „Zehn Büchern über Architektur“4 formuliert hatte. Für die Architekten der Frühen Neuzeit waren seine Schriften von enormer Bedeutung, da es sich um den einzigen überlieferten architekturtheoretischen Text der klassischen Antike handelt. Im intellektuellen Umfeld der Renaissance gewann Vitruv aufgrund dieses Alleinstellungsmerkmals ab etwa 1400 den Rang einer alles überragenden Autorität. Nur die besonders selbstbewussten unter den neuen Autoren kritisierten ihn, alle anderen nahmen seine Aussagen als absolute Referenzgröße, an der das Bauen der eigenen Gegenwart ebenso gemessen wurde wie das Berufsbild und die gesellschaftliche Rolle des Architekten. Vitruv und seine „Zehn Bücher“ waren gewissermaßen das Fundament, auf dem die hier betrachteten Architekturtraktate ihre je eigenen Lehrgebäude errichteten und neue Ordnungsvorstellungen entfalteten. Dabei rekurrierten sie durchweg auf drei große Wissensbereiche. Erstens ging es um Bildungswissen in Bezug auf die römische und griechische Antike. Dieses Diskursfeld wurde in Italien vor allem mit Blick auf den sozialen Status des Architekten und dessen Aufstieg vom Praktiker zum Gelehrten mit gesellschaftlich wegweisender Funktion bearbeitet. In Frankreich dagegen eröffnete sich vor dem klassischen Bildungshorizont eine national, d. h. gegen die künstlerische Dominanz Italiens ausgerichtete Diskussion um den vorwiegend höfisch oder aristokratisch konnotierten bon goût. Dieser Weg führte an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert schließlich in den Akademismus, in die Suche nach einer neuen Klassik und in eine architektonische Variante der literarischen Querelle des Anciens et des Modernes. Zweitens wurde pragmatisches Entwurfs- und Planungswissen sowie technisches Erfahrungswissen dargeboten. Dieser Bereich war stets von wesentlicher Bedeutung für den baulichen Alltagsnutzen der Architekturtraktate und wurde nach 1750 zum Ausgangspunkt der mit der Entstehung der modernen Industriegesellschaft aufkommenden Handbücher und Fachlexika. Der dritte Bereich betrifft das ästhetische Ordnungswissen. Der daraus resultierende, eigentlich rein künstlerische Diskurs wurde allerdings schon sehr früh ins
Darmstadt 1993; Fritz Neumeyer, Quellentexte zur Architekturtheorie. München 2002; Kari Jormakka, Geschichte der Architekturtheorie. Wien 2003. Vgl. auch Thoenes, Einleitung (wie Anm. 1). 4 Marcus Vitruvius Pollio, Vitruvii De architectura libri decem = Zehn Bücher über Architektur. 5. Aufl., I.3, Darmstadt 1991, 44 f.
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Gesellschaftliche und Politische hinein transzendiert, wobei vor allem die Theorie und Systematik der aus der Antike hergeleiteten Säulenordnungen wesentliche Bedeutung gewann: „Korrekt angewandte Säulenordnungen wurden zum Merkmal zivilisatorischen Fortschritts; wie die guten Tischsitten im Bereich des täglichen Lebens, garantierten sie die Überwindung der Barbarei in der Architektur. Dabei lud das Wort ‚Ordnung‘ […] sich mit politisch-sozialer Bedeutung auf: Ordnung in der Architektur stand für Ordnung in der Gesellschaft. Für die französischen Theoretiker des 17. Jahrhunderts wurde die Säulenlehre quasi zur Staatsdoktrin. Durch immer detailliertere ‚parallèles‘ zwischen den Autoritäten […] suchte man zur absoluten, allen historischen Zufällen enthobenen Norm vorzudringen.“5 Dieses Denken spielte nicht nur bei öffentlichen Gebäuden eine Rolle, sondern auch bei Wohnbauten aller Abstufungen. Hinzu kam ein moralischer Bewertungsansatz, der sich vor allem in ständig wiederkehrenden Mahnungen äußert, gerade bei Wohnhäusern maßvoll mit Dekor umzugehen und äußerlichem Repräsentationsluxus zugunsten einer geschmackvollzurückhaltenden Gesamtkomposition eine Absage zu erteilen. Solche Aufrufe spiegeln die gesellschaftliche Entwicklung, nämlich den Aufstieg kapitalkräftiger und nicht immer geschmackssicherer neuer Eliten im Italien des 15. Jahrhunderts, wider. Vergleichbar ist die Herausbildung und Festschreibung einer ausdifferenzierten sozialen Hierarchie im Frankreich des 17. Jahrhunderts und das Ideal einer von Vernunft und Ökonomie bestimmten bürgerlichen Lebensführung ab Mitte des 18. Jahrhunderts, vor allem in Deutschland, aber teilweise auch in Frankreich und England. Diese drei Wissensbereiche liefern auch die Begründung dafür, weshalb die Architektur in der Systematik der Wissenschaften, die Denis Diderot und Jean-Baptiste Le Rond D’Alembert 1751 ihrer Encyclopédie voranstellten, schließlich an drei verschiedenen Stellen auftaucht, nämlich im Bereich des Erfahrungswissens (mémoire), der rationalen Analyse (philosophie) und der Kreativität (imagination). Die Themen Hausbau und Wohnen werden in den Architekturtraktaten – wiederum ausgehend von Vitruv und seiner Beschreibung einer aus den natürlichen Bedürfnissen des Menschen abgeleiteten ‚Urhütte‘, die dann kulturell weiterentwickelt und überformt wurde6 – ausnahmslos als anthropologische Konstanten betrachtet, die als gegeben vorausgesetzt werden. Weitergehende oder allgemeine Theorien zum Wohnhausbau werden nicht entwickelt und die Frage, was Wohnen eigentlich ist oder durch welche Parameter es über die elementare Obdachfunktion hinaus zu charakterisieren wäre, stellt sich nicht. Auch der Begriff des Privaten wird vor 1815 letztlich nur unter dem Gesichtspunkt öffentlicher oder privater Bauherrschaft verhandelt und nicht weiter definiert. Das ist insofern leicht erklärlich, als die Verfasser der Traktate in der Regel praktizierende Architekten auf der Suche nach Anerkennung und potenten Auftraggebern waren und keine Kulturphilosophen oder Wissenschaftler, denen
5 Thoenes, Einleitung (wie Anm. 1), 16. 6 Vitruv, Zehn Bücher (wie Anm. 4), II.1, 79–83.
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es um objektivierende Betrachtung von einer Meta-Ebene aus hätte gehen können. Zudem lagen die reflexiven Brechungen der Moderne und die damit einhergehende Unbehaustheitserfahrung, aus der sich dann nach 1850 viele grundsätzliche Überlegungen zum Thema Wohnen speisten, noch weit außerhalb ihres Erfahrungs- und Denkhorizonts. Dementsprechend sind die Architekturtraktate aus der Zeit vor der Französischen Revolution in der Regel auch politisch affirmativ, d. h. sie nehmen die zum Zeitpunkt ihrer Abfassung existierende ständische Gesellschaftsordnung und die bestehenden Geschlechterrollen als gegeben und nicht hinterfragbar an. Eine Diskrepanz oder Spannung zwischen der vorhandenen und einer erwünschten Gesellschaftsordnung wird nicht formuliert bzw. dem literarischen Genre der Utopie überlassen. Geht man der Frage nach, in welcher Weise die genannten Wissensbereiche durch die Architekturtraktate in eine größere, allgemeine Ordnung des Wissens eingebunden werden, so stößt man wiederum auf drei unterschiedliche Haltungen. Sie lassen sich in Anlehnung an die von Michel Foucault 1966 vorgeschlagenen Möglichkeiten von Wissensordnungen7 als das Aufzeigen von Ähnlichkeiten oder Parallelen, als das klassifikatorische Herausarbeiten von Differenzen bzw. Entwicklungen und als Rekurs auf eine von Natur und Vernunft bestimmte Letztbegründung charakterisieren. Anders als bei der von Foucault entwickelten Systematik bauen sie aber nicht aufeinander auf, sondern bilden verschiedene methodische Traditionsstränge aus, die teilweise gleichzeitig verlaufen, diverse Querbezüge und Überschneidungen aufweisen und manchmal sogar in der Person ein- und desselben Autors zusammentreffen. Der Eindruck einer geschichtlichen Abfolge oder Entwicklung entsteht allerdings durch den Umstand, dass im Verlauf der hier betrachteten rund 350 Jahre nacheinander jeweils eine der genannten Darstellungs- und Ordnungsweisen bevorzugt wurde und im Bereich der Architekturtraktate gewissermaßen das Geschehen bestimmte.
2 Architekturtraktate vor 1600: Im Dialog mit der Antike In der Frühen Neuzeit dominiert zunächst das Ähnlichkeitswissen. Dessen Leitbild – vor allem in Italien – ist es, sich an Vitruv und an der Autorität der Antike zu messen. Der Architekt präsentiert sich als Gelehrter, dem es gelingt, Parallelen zur altrömischen oder altgriechischen Vergangenheit zu schaffen und gleichzeitig Modernität auszudrücken, Letzteres aber meist nicht im Sinne eines linearen Fortschritts, sondern einer zyklischen Wiederkehr des Wahren, Schönen und Guten. Schon bei Leon Bat-
7 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 9. Aufl. Frankfurt am Main 1990.
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tista Alberti wird dies spürbar.8 Seine „Dialoge mit antiken Autoren wirken so vertraut, seine Beschreibungen antiker Bauwerke so nahsichtig, dass die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart oft unscharf werden.“9 Das Bauen ist für Alberti Teil einer verantwortlichen Gestaltung menschlicher Umwelt, womit er Architektur als ein gesellschaftliches Phänomen definiert und die Architekten darauf aufmerksam macht, dass soziale Praktiken für den Entwurf eines Gebäudes genauso wichtig sind wie Materialien und ästhetische Normen. Albertis Ausführungen zum Wohnbau beziehen sich allerdings ausschließlich auf Landhäuser und Stadtpaläste für vornehme Auftraggeber. Dabei benutzt er zwar antike Begriffe wie zum Beispiel ‚Atrium‘, beschreibt aber die für das Italien seiner Zeit typische Vorstellung vom gehobenen Wohnen, mit funktional und nach Jahreszeiten differenzierten Räumen, mit getrennten Schlafzimmern für Mann und Frau, „aber mit gemeinsamer Verbindungstür. An das Zimmer der Frau schließt der Ankleideraum, an das des Mannes die Bibliothek an. Es folgen Zimmer für die Schatztruhe, die Kinderzimmer, wieder nach Geschlecht getrennt, Gästezimmer, Waffenkammer, Räume für Diener und Mägde, Weinkammer, Speisekammer und schließlich Ställe für die herrschaftlichen Pferde. Schließlich hält Alberti ein Plädoyer gegen die unmittelbare Nähe von Abtritt und Schlafzimmer. Man solle das ‚gute Beispiel der Natur‘, z. B. der Schwalben befolgen, die immer ihr Nest sauber hielten.“10 Soweit es das Funktions- und das Sozialgefüge eines im Sinne der älteren Forschung ‚ganzen Hauses‘ betrifft, benennt Alberti damit faktisch sämtliche Themen, die auch in fast allen nach ihm kommenden Traktaten angesprochen werden: die sinnvolle Kombination von großen und kleinen Räumen, die Problematik von Vorratshaltung und Entsorgung, die Trennung von Herrschaft und Bediensteten, das Miteinander von Mann und Frau ohne Belästigung durch das – meist als selbstverständlich vorausgesetzte – Personal, die Wechselwirkungen zwischen Wohnen und Arbeiten oder Geschäftsleben sowie die Repräsentationspflichten des Bauherrn, der nach außen seine soziale Stellung dokumentieren muss und im Binnenverhältnis die Rolle des Hausvaters innehat. Auf Alberti aufbauend, liefern andere italienische Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts wie Filarete (um 1400–um 1469)11 oder Francesco di Giorgio Martini (1439– 1501)12 dann bereits umfangreichere, hierarchisch geordnete Wohnhaustypologien, die einerseits der Forderung nach Einmaligkeit entsprechend der varietà menschlicher Individualität genügen sollen und andererseits immer wieder das vitruvianische Thema der Urhütte reflektieren, womit sie das Wohnhaus zum Gebäude schlechthin stilisieren. Filarete bringt sogar schon erste Bilddarstellungen von Urhütten, aber erst
8 Leon Battista Alberti, De re aedificatoria libri decem. Manuskript 1442–1452. Florenz 1485. 9 Andreas Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus. 2. Aufl. München 1996, 93. 10 Günther Fischer, Leon Battista Alberti, sein Leben und seine Architekturtheorie. Darmstadt 2012, 140. 11 Antonio Averlino [genannt Filarete], Trattato di architettura. Mailand 1461–1464. 12 Francesco di Giorgio Martini, Architettura civile e militare. Urbino 1470–1495.
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Giovanantonio Rusconi13 nimmt Vitruvs Bericht über die Urhütte zum Anlass, „eine umfangreiche Übersicht über Holzbauweise, Fachwerk und Steinbau zu geben, eine Art Bildenzyklopädie zum Wohnhausbau von Portugal, Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, Russland, bis zum Schwarzen Meer.“14 Andrea Palladio schließlich leitet dann konsequenterweise alle denkbaren Bautypen aus dem Wohnbau ab (was im Umkehrschluss die Verwendung von Säulen und anderen Würdeformen im Hausbau legitimiert) und definiert Bequemlichkeit (commodità) als Kombination von Funktion und Ästhetik im Sinne der Vernunft (ragione).15 Damit wird Architektur endgültig zur Wissenschaft und zur Ordnung der Welt durch eine reflexive Ästhetik. Als selbstbewusster Architekt illustriert Palladio diese Haltung mit eigenen Entwürfen, die als eine der Antike ebenbürtige, ja sogar überlegene neue Klassik verstanden werden sollen. Allerdings haben diese Entwürfe eine ausgeprägte und im Lauf der Zeit zunehmende Tendenz zum Manifesthaften, womit die Aussagen zur commodità schließlich konterkariert werden. Besonders deutlich wird dies bei Palladios wohl bekanntestem Bauwerk, der Villa Capra, genannt ‚La Rotonda‘, bei Vicenza. Weithin sichtbar auf einem Hügel positioniert und allseitig symmetrisch, verkörpert sie das Idealbild eines Landhauses. Ein Tempelportikus auf jeder Seite und eine zentrale Kuppel führen vor Augen, dass der Architekt demonstrieren wollte, hier „einen neuen Beitrag zur Typologie der Wohnarchitektur geleistet zu haben: einen Profanbau zwar, aber mit deutlich sakralen Obertönen“16. Das war bereits den Zeitgenossen bewusst, und noch Ende des 18. Jahrhunderts bestätigte der Palladio-Bewunderer Johann Wolfgang von Goethe diesen Befund, indem er die Villa Rotonda als Konzeptkunst charakterisierte und feststellte: „Zu den Bedürfnissen einer vornehmen Familie würde sie kaum hinreichen. […] Der Raum, den die Treppen und Vorhallen einnehmen, ist viel größer als der des Hauses selbst. […] Inwendig kann man es wohnbar, aber nicht wöhnlich nennen. […] Dafür sieht man es auch in der ganzen Gegend von allen Seiten sich auf das herrlichste darstellen.“17 Unbeschadet solcher Kritik wurde Andrea Palladio im 17. und 18. Jahrhundert vor allem im angelsächsischen Raum auf vielfältigste Weise rezipiert und dadurch zum vielleicht einflussreichsten italienischen Traktatautor der Zeit vor 1600. Palladios Zeitgenosse Sebastiano Serlio18, der als Architekturtheoretiker auf lange Sicht ähnlich erfolgreich war, als praktizierender Architekt aber kaum in Erscheinung trat, behandelt das Thema Wohnhaus wesentlich pragmatischer (Abb. 1). Ihm geht es nicht um architektonische Manifeste, sondern um eine alltagstaugliche Verbindung
13 Giovanantonio Rusconi, Della architettura secondo i precetti di Vitruvio libri dieci. Venedig 1590. 14 Kruft, Architekturtheorie (wie Anm. 3), 79. 15 Andrea Palladio, I quattro libri dell’architettura. Venedig 1570. 16 Bruce Boucher, Palladio. Der Architekt in seiner Zeit. München 1994, 298. 17 Boucher, Palladio (wie Anm. 16), 295; Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 11, hrsg. von Erich Trunz. München 1981, 7–556, hier 55 f. 18 Sebastiano Serlio, Tutte l’opere d’architettura e prospettiva. Venedig 1619 (Zusammenstellung der ab 1537 entstandenen Schriften).
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von Schönheit und Bequemlichkeit, weshalb er sogar das Bauen im Bestand thematisiert und beispielsweise zeigt, wie man mehrere vorhandene Wohnhäuser durch eine gemeinsame neue Fassade in ein viel schöneres, weil regelhaft und symmetrisch erscheinendes Bauwerk verwandeln kann (Abb. 1).
Abb. 1: Sebastiano Serlio, Tutte l‘opere d’architettura (1584), Verschönerung bestehender Häuser durch eine gemeinsame neue Fassade.
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3 Architekturtraktate 1600–1750: Typologien und Nationaldiskurse In der Epoche zentralisierter Fürstenherrschaft, die in den verschiedenen Ausprägungen des Barock den ihr gemäßen künstlerischen Ausdruck findet, werden architekturtheoretisch zwar auch weiterhin Parallelen zur Antike konstruiert (vor allem mit Blick auf die schon erwähnte staatstragende Symbolik der Säulenordnungen), aber dessen ungeachtet erfolgt eine schrittweise Ablösung des Ähnlichkeitsmodells durch ein komplexes Unterscheidungswissen. Dem Leitbild einer zunehmend hierarchisch ausdifferenzierten Gesellschaft folgend, werden Chronologien und Entwicklungsreihen aufgestellt, die eine deutliche Tendenz zur Systematisierung zeigen und es schließlich ermöglichen, verschiedenste Entwurfslösungen aus einem der jeweiligen Bauaufgabe entsprechenden, möglichst einfachen Grundtyp abzuleiten. Parallel zur politischen Entwicklung wird die führende Rolle im europäischen architekturtheoretischen Diskurs dabei mehr und mehr von Frankreich übernommen, und aus dem Französischen stammen dementsprechend auch die neuen Leitbegriffe disposition (die Komposition von Baukörpern auf dem Grundstück), distribution (die zweckmäßige Anordnung von Räumen im Gebäude) und bon goût (der am höfischen Ideal geschulte Kunstgeschmack). Gleichzeitig nehmen die Architekturtraktate aber auch häufig Bezug auf Baupraxis und baumeisterliche Tradition. Dadurch erscheinen sie in Frankreich und Deutschland schließlich sehr viel stärker als in Italien an den tatsächlichen pragmatischen Anliegen orientiert, was das nördlich der Alpen schon aufgrund eines gewissen Nachholbedarfs nach wie vor bestehende Ziel, den Architekten gesellschaftlich aufzuwerten, zuweilen vordergründig kaschiert. Charakteristisches Merkmal der französischen Architekturtraktate dieser Zeit ist die Suche nach einem nationalspezifischen künstlerischen Ausdruck. Schon der Ende des 16. Jahrhunderts publizierende Jacques Androuet du Cerceau d. Ä. ist gegen die damalige italienische Dominanz in der französischen Architektur und sucht nach einem eigenständigen französischen Nationalcharakter im Bauen.19 Gleichwohl bevorzugt er italienische Grundrisslösungen und kündigt zwar eine Gebäudetypologie für Bauherren in bescheidenen, mittleren und großen Verhältnissen an, liefert faktisch aber nur Vorbilder für wohlhabende Bürger und Aristokraten. Hundert Jahre später, bei Augustin Charles d’Aviler20, ist nicht nur die Kunst der distribution sehr viel weiter entwickelt, sondern es wird auch der Wunsch spürbar, für den Wohnhausbau eine offizielle, allgemeingültige französisch-akademische Doktrin zu begründen, ähnlich wie auf dem Gebiet der Repräsentationsarchitektur gleichzeitig bei
19 Jacques Androuet du Cerceau d. Ä., Livre d’architecture, 2 Bde. Paris 1559–1561. 20 Augustin Charles D’Aviler, Cours d’architecture qui comprend les ordres de Vignole. Paris 1691.
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François Blondel und Claude Perrault. Parallel zu diesem Diskurs kommt generell „ein neuer Ton in die Architekturtheorie“, indem „Gegebenheiten und Bedürfnissen unmittelbar Rechnung getragen“21 wird. Beispiele dafür sind im 17. Jahrhundert Pierre Le Muet22 und, wiederum hundert Jahre später, Charles-Étienne Briseux (um 1680–1754)23, die sich ausschließlich auf die Pariser Baupraxis ihrer Zeit beziehen und dabei nicht zuletzt auf stadthygienische Missstände reagieren. Ausgehend von unterschiedlich großen Grundstücken und Budgets, stellt Le Muet 13 Haustypen mit je bis zu fünf Varianten vor, dazu liefert er ausführliche Beschreibungen von Fachwerkkonstruktionen (Abb. 2) und Dachwerken. Briseux präsentiert 59 distributions für Pariser Stadthäuser aller sozialen Klassen, jeweils mit individuellem Erdgeschoss und Normgrundrissen für die Obergeschosse. Beiden Autoren geht es um das nützliche Zusammenspiel von Bequemlichkeit, Ästhetik, Bauordnungen und Grundstücksparametern, ein Ansatz, der ästhetische Zurückhaltung und einen ausgeprägten Funktionalismus begünstigt. Das Ergebnis sind neuartige Musterbücher, die dem Leser ein katalogartiges Angebot von Alternativen, ja fast schon so etwas wie den von Walter Gropius in den 1920er Jahren propagierten „Baukasten im Großen“ vermitteln und zeigen, „dass man jetzt auch mit der Behandlung simpler Bauaufgaben wie dem Hausbau ‚Ruhm‘ ernten konnte, eine Vorstellung, die den Künstlern der Renaissance noch völlig fremd war.“24 In den deutschen Architekturtraktaten spielt der Nationaldiskurs zu dieser Zeit keine ausdrückliche Rolle. Autoren wie der Ulmer Patrizier und Stadtbaumeister Joseph Furttenbach, der den neuen sozialen Typus des politisch aktiven Unternehmer-Architekten verkörpert, präsentieren statt dessen ihre eigenen Bauten als vorbildhafte Verbindung italienischer und deutscher Gepflogenheiten.25 In seinem Werk „Architectura Privata“ bietet Furttenbach eine genaue Beschreibung seines eigenen dreistöckigen Hauses in Ulm einschließlich Grundrissplänen und Kostenkalkulationen.26 All das ist aus raumgenau festgelegten Funktionsparametern abgeleitet, was sich unter anderem daran ablesen lässt, dass Furttenbach hier wie auch in den stark italienisch inspirierten Hausentwürfen seiner „Architectura Civilis“ von 1628 eine vorbestimmte Möblierung einzeichnet, so wie man es auch heute tun würde, und wie es die französischen Architekten des 17. Jahrhunderts in ihren Darstellungen meist vermieden. Für den deutschsprachigen Bereich typisch ist auch der Umstand, dass Furttenbach bei seinen Entwurfsvorschlägen für andere Bauaufgaben, etwa Hospitäler, stets
21 Kruft, Architekturtheorie (wie Anm. 3), 140. 22 Pierre Le Muet, Manière de bâtir pour toutes sortes de personnes. Paris 1623. 23 Charles-Étienne Briseux, Architecture moderne ou l’Art de bien bâtir […]. Paris 1728. 24 Kruft, Architekturtheorie (wie Anm. 3), 140. 25 Joseph Furttenbach, Architectura civilis […]. Ulm 1628; ders., Architectura Privata […]. Ulm 1641. 26 Kruft, Architekturtheorie, (wie Anm. 3), 195.
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Abb. 2: Pierre Le Muet, Manière de bien bastir (1647), Typenhaus in Fachwerkbauweise.
von rechteckigen Baukörpern mit Satteldach, also vom Grundtyp des mitteleuropäischen Wohnhauses ausging. Dieser wurde dadurch auch für die meisten Gattungen öffentlicher Bauten zum Vorbild, ein Phänomen, das bei der Architektur der Frühen Neuzeit in Deutschland praktisch flächendeckend zu beobachten ist. Aufs Ganze gesehen entwickelte Furttenbach bereits eine klare und recht strenge Systematik, die zwar noch nicht den in Frankreich zur gleichen Zeit schon etablierten Abstraktionsgrad erreichte, aber eine Entwicklung vorbereitete, die sich in den deutschen
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Architekturtraktaten sonst erst nach 1700 manifestieren sollte. Die mit Abstand wichtigsten Beispiele für diese Systematisierung im Wohnhausbau sind die Schriften von Leonhard Christoph Sturm27, der d’Aviler ins Deutsche übersetzte, zugleich aber auf Vorarbeiten des Mathematikers Nicolaus Goldmann aufbaute, und Johann Friedrich Penther28. Sturm lässt sich nicht nur detailliert über die beim Hausbau zu beachtenden, wiederum von Vitruv hergeleiteten, ästhetischen, konstruktiven und funktionalen Parameter aus, er zeigt auch deren Anwendung im beispielhaften Entwurf von sechs ganz unterschiedlich genutzten großen Stadthäusern auf einem vorgegebenen Grundstück. Schließlich weitet er seine Betrachtung sogar ins Städtebauliche aus, indem er anhand mehrerer Varianten vorführt, wie man die zuvor beschriebenen Haustypen in ein Gefüge von Baublöcken einbinden kann, ohne dass der Eindruck von Gleichförmigkeit entsteht. Penther dagegen hat vor allem das Ziel, eine in sich logische Typenreihe von städtischen Wohnhäusern zu entwickeln, die vom bescheidenen Grundtyp zum komplexen Großbau führt und beides jeweils ganz pragmatisch in Stein- und Holzkonstruktionen darstellt (Abb. 3). Die Forschung war zuweilen der Meinung, Penther sei ein Pedant29, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er im deutschen Sprachraum derjenige ist, der im 18. Jahrhundert die Ideen von Systematisierung und Baukastenprinzip in der Theorie des Wohnhausbaus am genauesten ausformuliert hat.
4 Architekturtraktate 1750–1830: Objektivität und Natürlichkeit Das im 17. und frühen 18. Jahrhundert erarbeitete Unterscheidungs- und Systemwissen wird im Zuge der europäischen Aufklärung von einem umfassenden Ordnungswissen überwölbt, das den Leitbildern von Ursprünglichkeit und vernunftbetonter Objektivierung folgt und den bon goût, der jetzt mit erstarrter Klassik konnotiert wird, zunehmend in Frage stellt. Die neuen Leitbegriffe sind: Klassifizierung (nach dem Vorbild der immer dominanter werdenden Naturwissenschaften), ‚Charakter‘ (im Sinne einer ‚sprechenden‘, d. h. ohne einen klassischen Bildungsvorlauf aus sich heraus verständlichen Architektur, die ein von Zweck und Anspruch diktiertes, je individuelles Narrativ vermittelt) und Angemessenheit (im funktionalen wie
27 Leonhard Christoph Sturm, Vollständige Anweisung alle Arten von Bürgerlichen Wohn-Häusern wohl anzugeben […]. Augsburg 1721. Vgl. Jens Friedhoff, ‚Magnificence‘ und ‚Utilité‘. Bauen und Wohnen 1600–1800, in: Ulf Dirlmeier (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 2: 500–1800: Hausen, Wohnen, Residieren. Stuttgart 1998, 503–788, insbes. 639–648. 28 Johann Friedrich Penther, Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst […], Bd. 2. Augsburg 1745. 29 Kruft, Architekturtheorie (wie Anm. 3), 208.
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Abb. 3: Johann Friedrich Penther, Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst (1745), städtisches Wohnhaus in Steinbauweise mit drei Fensterachsen.
im moralischen Sinne). Ziel ist nun die Schaffung von quasi naturgegebenen, der geschichtlichen Bedingtheit enthobenen und dadurch scheinbar objektiv beschreibbaren Modellen, die als Abbild des aufklärerischen Tugenddiskurses fungieren können.
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Im Bereich der Architekturtheorie ist es zunächst wiederum Frankreich, das den Diskurs bestimmt. Jacques-François Blondel30, der 1751 auch den Artikel „Architecture“ in der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert verfasst, betont noch einmal die Bedeutung eines rationalen Entwicklungsschemas für das Gelingen eines Architekturentwurfs. Dessen caractère ist dabei ein funktionales Werkzeug, mit dessen Hilfe am Ende der grand goût de la belle simplicité geschaffen werden kann. Der Jesuit und Historiker Marc-Antoine Laugier überträgt dann den Rousseauismus auf die Architektur, und zwar in der Idee einer existentiellen Schönheit, die aus der Natur abzuleiten sei.31 Soweit es das Wohnhaus betrifft, wird erneut die vitruvianische Urhütte zum Prinzip und Maßstab allen Bauens, sie sei natürlich, vernünftig und funktional. Ihre konstruktive Logik ist für Laugier ein Ausdruck absoluter Wahrheit, womit er den technisch-materiellen Aspekt von Architektur zum ethischen Problem erhebt und eine Denkhaltung begründet, die den Architekturdiskurs im 19. und 20. Jahrhundert in erheblichem Umfang prägen wird. Nach Laugiers Auffassung ist Frankreich in der Erkenntnis und geistigen Durchdringung dieser Grundsätze am weitesten fortgeschritten, weshalb er den französischen caractère, verstanden als eine generelle Art und Weise, gebaute menschliche Umwelt zu gestalten, auch zum Vorbild für ganz Europa erklären kann. Der Architekt Louis-Ambroise Dubut wendet diese Theorie der Materialwahrhaftigkeit dann auf die habitation du citadin an, versucht in seinem umfangreichen Musterkatalog meist villenartiger Wohnhäuser zugleich aber eine Synthese von französischer Aufklärung und italienischer Architekturtheorie des 16. und 17. Jahrhunderts.32 Auf deutscher Seite spiegelt sich dieses Denken in der Zeit um 1800 vor allem in einer neuen Untergattung des Architekturtraktats, nämlich den zahlreichen Handbüchern zur sog. Landbaukunst. Dabei handelt es sich um in fürstlichem Auftrag entstandene Handreichungen für das staatlich gelenkte zivile Bauen auf dem Land, worunter auch Rittergüter, Villen, Pfarrhäuser, Landarbeiterhäuser usw. zu verstehen sind. Autoren sind architektonisch oder technisch ausgebildete Staatsbeamte wie Georg Heinrich Borheck, David Gilly oder Friedrich Meinert33, deren Absicht es ist, sowohl den praktisch tätigen Kollegen unter die Arme zu greifen als auch „Landguthsbesitzern durch Ideen der griechischen, römischen, egyptischen, chinesischen, gothischen und neuern Architektur zu Hülfe zu kommen, um darnach ihre etwa zu etablirenden architektonischen Gegenstände selbst zu charakterisie-
30 Jacques-François Blondel, L’Architecture françoise, 4 Bde. Paris 1752–1756; ders., Cours d’architecture, 9 Bde. Paris 1771–1777. 31 Marc-Antoine Laugier, Essai sur l’architecture. Paris 1753; ders., Observations sur l’architecture. Paris 1765. 32 Louis-Ambroise Dubut, Architecture Civile […]. Paris 1803. 33 Georg Heinrich Borheck, Entwurf einer Anweisung zur Landbaukunst. Göttingen 1792; David Gilly, Handbuch der Landbaukunst […]. Braunschweig 1797; Friedrich Meinert, Die schöne Landbaukunst […]. Leipzig 1798.
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ren, wenn Mangel an Architekten von Geschmack, ihre eigenen Bemühungen nöthig macht.“34 Ziel ist in der Regel die Schaffung einer geordneten, wirtschaftlich effizienten baulichen Infrastruktur, die sich über die technischen und ökonomischen Parameter hinaus als Gesamtkunstwerk aus Architektur und (Kultur)Landschaft darbietet und damit auch der moralischen Veredlung der Landbevölkerung durch Schönheit dient. Deshalb präsentiert z. B. Friedrich Meinert in seinem Buch ein unprätentiöses Landhaus für „eine wohlhabende Familie“, das dem „Landmann“ als „Muster“ dienen könne (Abb. 4).35 In diesen Texten geht es also darum, durch das stets auch als wahr und gut empfundene Schöne bessere Menschen und eine bessere Gesellschaft zu schaffen, wobei die durch Bildung, Umgangsformen und Geschmackserziehung zu leistende Arbeit am Menschen selbst in Wechselwirkung tritt zu einer sorgfältig gestalteten Lebensumwelt. Die häusliche Umgebung und das Wohnen erfahren dabei spezielle Aufmerksamkeit, weil sie als besonders einflussreiche und prägende Elemente verstanden werden. Ähnliche Ansätze finden sich später auch noch im Jugendstil und – rationalistisch akzentuiert – in der Weißen Moderne der 1920er Jahre wieder.
34 Friedrich August Leo, Einleitung zu Meinert, Landbaukunst (wie Anm. 33), unpag. 35 Meinert, Landbaukunst (wie Anm. 33), 4.
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Abb. 4: Friedrich Meinert, Die schöne Landbaukunst (1798), Ländliches Wohnhaus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie.
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5 Exkurs: Der utopische Diskurs vor 1800 Selbstverständlich reflektieren Architekturtraktate „allenthalben politisch-gesellschaftliche Sachverhalte, auch dort, wo diese nicht ausdrücklich angesprochen werden. […] Architekten wollen [aber] bauen, so großartig wie möglich, und deshalb gehört ihre Sympathie den Machthabern, die ihnen dazu Gelegenheit geben.“36 Gesellschaftskritische Ansätze findet man hingegen eher in utopischen Schriften. Vor allem in den wichtigen Staatsromanen der Frühen Neuzeit wie „Utopia“37 von Thomas Morus, „Città del Sole“38 von Tommaso Campanella, „Christianopolis“39 von Johann Valentin Andreae und „Gargantua“40 von François Rabelais werden Modelle neuartiger Sozialstrukturen und Wohnformen beschrieben, die bereits zahlreiche Themen der Moderne vorwegnehmen. Hierzu gehört insbesondere die Vorstellung von einer Gesellschaft der Gleichen, die den Begriff des Privaten faktisch nicht kennt und in seriellen, uniform anmutenden Häusern lebt, die (z. B. bei Morus) nicht verschlossen sind und jederzeit von jedermann betreten werden können. Bei Morus, Campanella und Andreae geht dies einher mit der Vorstellung von einer wohltätig-totalitären staatlichen Steuerung, bei Rabelais mündet es in die Vision der „Abtei“ Thélème, einer baulichen Großstruktur mit nahezu 4000 gleichartigen Appartements, deren Bewohner indes keineswegs klösterlich leben, sondern dem Ideal einer von einsichtsvoller Tugendhaftigkeit gebändigten individuellen Freiheit huldigen. Fortentwickelt und mit aufklärerischem Gedankengut kombiniert werden diese Utopien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beispiele dafür sind unter anderem die Schriften von Charles Fourier und Claude-Nicolas Ledoux. Fourier postuliert die Neugliederung der gesamten Gesellschaft in Einheiten zu je 1620 Personen, die unter sorgfältiger Berücksichtigung der verschiedenen menschlichen Charaktere gezielt zusammengestellt werden sollen und die er in Anlehnung an die blockhaften Militärformationen des antiken Sparta als Phalanx bezeichnet.41 Wohnen und arbeiten sollen sie in schlossartigen, technisch innovativen Großbauten, den Phalanstères, wobei das Zusammenleben ähnlich einer Kommune organisiert ist, mit ständig wechselnden Arbeiten, freien Liebesbeziehungen und ohne die bis dahin gewohnten Familienstrukturen. Ledoux42 hingegen imaginiert eine auf jansenistischen und freimaurerischen Idealen basierende frühindustrielle Stadtgemeinschaft unter geistiger und erzieherischer Führung
36 Thoenes, Architekturtheorie (wie Anm. 1), 12. 37 Thomas Morus, De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia. Leuven 1516. 38 Tommaso Campanella, La città del sole. Frankfurt am Main 1623. 39 Johann Valentin Andreae, Reipublicae christianopolitanae descriptio. Nürnberg 1619. 40 François Rabelais, Les grandes et inestimables croniques. Du grant et enorme geant Gargantua […]. Lyon 1532. 41 Charles Fourier, Le Nouveau monde industriel et sociétaire […]. Paris 1829. 42 Claude-Nicolas Ledoux, L’Architecture considerée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation. Paris 1804.
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des Architekten als dem „Rivalen des Schöpfers“43. Seine Aufgabe besteht darin, gewohnte Wohn- und Stadtstrukturen in ein Ensemble aus symbolisch hoch aufgeladenen, ‚sprechenden‘ Bauwerken zu verwandeln, wo etwa das Haus eines Fassreifenmachers aus zwei sich durchdringenden liegenden Zylindern besteht, das Haus des Wasserbaudirektors vom Fluss durchströmt wird und das von tugendhafter sexueller Freiheit beseelte Freudenhaus selbstverständlich ein begehbarer Phallus ist.
6 Architekturtraktate nach 1830: Die Kontingenz der Moderne Aufklärung und beginnende Industrielle Revolution markieren den Anfang eines natur- und ingenieurwissenschaftlich orientierten Zeitalters mit starkem Fortschrittsglauben, neuen politischen Ordnungen, wirtschaftlichen und technischen Innovationen, aber auch mit sozialen Instabilitäten und einem erheblichen Bevölkerungszuwachs. Damit verliert der Architekturtraktat seine normative Bedeutung und seinen überkommenen gesellschaftlichen Sinn. Aus einigermaßen überschaubaren Abhandlungen werden nun sehr umfangreiche, faktenbezogene Handbücher und Nachschlagewerke, die ihrerseits schließlich wissenschaftliche Grundlagenforschung und Reflexionen auf der Metaebene generieren. Der technisch-funktionale Bereich wandert ab in spezielle Kompendien, Entwurfs- und Konstruktionslehren. Diese Entwicklung gilt auch für zahlreiche andere Wissensbereiche wie Mechanik und Maschinenwesen, Landwirtschaft und Ökonomik, Kunstwissenschaft usw. Eine den bisherigen Traktaten vergleichbare literarische Form (mit entsprechender Autorenschaft) findet sich interessanterweise aber weiterhin in Gestalt von systematischen Essays oder umfangreichen Lexikonartikeln zu bestimmten Fragestellungen, wobei die Gattung des Architekturtraktats im Unterschied zu früher immer häufiger mit dem Utopiediskurs verschmilzt. Nicht nur der Hausbau, sondern auch die Wohnkultur wird nun endgültig theoriefähig, wobei ab der Julirevolution in Frankreich (1830) drei Themenbereiche vermehrt in den Vordergrund treten: 1. Die Postulierung und Beschreibung von historisch hergeleiteten Nationalcharakteren, sei es zur identitätsstiftenden Abgrenzung von konkurrierenden Nationen oder von ungeliebten Teilen der eigenen Tradition, sei es als erhofftes Vorbild für andere. Diese Argumentation bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte zum nach 1870 verstärkt einsetzenden Heimatdiskurs und geht darüber hinaus meist Hand in Hand mit der Frage nach der Bedeutung von Haustypen und generell nach der
43 Vgl. Hans-Georg Lippert, Rivalen des Schöpfers. Der Architekt als Weltbaumeister, in: ders./Anke Köth/Andreas Schwarting (Hrsg.), unplanbar, Bd. 1: Weltbaumeister und Ingenieur. Der Architekt als Rivale des Schöpfers. Dresden 2012, 18–43.
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Typisierung als Ausweis kultureller Leistung. Die propagierten nationalen Idealtypen treten grundsätzlich in historisierendem Gewand auf, verstehen sich aber in einem kulturkritischen Sinn als zukunftsgerichtet. Im 19. Jahrhundert dominiert dabei die Idee einer kombinatorischen Anthologie oder eines best of, im 20. Jahrhundert das Bild einer abgeklärten Essenz unter Weglassung alles vermeintlich Unwesentlichen und Zeitgebundenen. Die Vorreiterrolle in diesem Diskurs übernimmt einmal mehr Frankreich, wo einer der wichtigsten Architekten des Historismus, Eugène Emmanuel Viollet-leDuc, Mitte des 19. Jahrhunderts die Form des kommentierten Begriffs- und Sachlexikons wählt, um den seiner Meinung nach von fremden Einflüssen freien und damit für Frankreich zukunftsweisenden Charakter mittelalterlicher Stadthäuser darzustellen.44 In Deutschland wird dieser Ansatz zunächst rein baugeschichtlich rezipiert und weiterentwickelt; erst etwa fünfzig Jahre später machen Autoren wie Paul Mebes45 oder Paul Schultze-Naumburg46 sich in kulturkritischer Absicht daran, der industrialisierten Gegenwart einen biedermeierlich-romantischen Spiegel vorzuhalten, was Hermann Muthesius47 dann mit dem Vorbild der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung korreliert, die ebenfalls ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Moderne hatte. Das Ergebnis ist eine zunehmend ausdifferenzierte traditionalistische Ideologie, die sich bei Heinrich Tessenow48 zu einem nahezu kultischen Verständnis von Handwerk und Kleinstadt auswächst und spätestens bei Paul Schmitthenner49 auch völkische Züge annimmt, interessanterweise kombiniert mit sehr modern anmutenden Forderungen nach Typisierung und technischer Effizienz (Abb. 5). Karl Gruber wiederum leitet die Vorbildhaftigkeit des Mittelalters aus dem idealisierten Konstrukt einer christlichen Gesellschaft ab, die Architektur als Ausdruck eines religiös fundierten, sozial und ethisch wohlgeordneten Zusammenlebens verstanden habe.50 Er präsentiert diese Vorstellung
44 Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture française, Bd. 6. Paris 1863, Stichwort „Maison“. Dahinter verbirgt sich auch eine Polemik gegen die Dominanz des offiziösen Klassizismus der Pariser École des Beaux-Arts. 45 Paul Mebes, Um 1800. Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung. Berlin 1908. 46 Paul Schultze-Naumburg, Kulturarbeiten, Bd. 1: Hausbau. München 1901; Bd. 5: Das Kleinbürgerhaus. München 1907. 47 Hermann Muthesius, Das englische Haus, 3 Bde. Berlin 1905. 48 Heinrich Tessenow, Der Wohnhausbau. München 1909; ders., Hausbau und dergleichen. Berlin 1916; ders., Handwerk und Kleinstadt. Berlin 1919. 49 Paul Schmitthenner, Das deutsche Wohnhaus. Stuttgart 1932. 50 Karl Gruber, Die Gestalt der deutschen Stadt. Ihr Wandel aus der geistigen Ordnung der Zeiten. München 1937. Vgl. (auch zu Schmitthenner) Hans-Georg Lippert, Systematik und Sehnsuchtsbild. Der Beitrag der frühen Hausforschung zum traditionalistischen Bauen im 20. Jahrhundert, in: Kai Krauskopf/ders./Kerstin Zaschke (Hrsg.), Neue Tradition, Bd. 2: Vorbilder, Mechanismen und Ideen. Dresden 2012, 13–40.
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in sehr suggestiven Zeichnungen, was für den erstaunlichen nochmaligen Erfolg seiner (auch ins Französische übersetzten) Schriften im Westdeutschland der Adenauerzeit zweifellos mitverantwortlich war.
Abb. 5: Paul Schmitthenner, Das deutsche Wohnhaus (1932). Standard-Haustyp mit drei regionalen bzw. materialtechnischen Varianten.
2. Die oben beschriebene, schon um 1800 zu beobachtende Tendenz, Haus und Wohnen im Sinne eines Gesamtkunstwerks, sprich einer in sich geschlossenen, die Menschen durch Harmonie und Schönheit veredelnden gestalterischen Welt aufzufassen, die vom Städtebau bis zu den kleinsten Alltagsgegenständen reicht, findet eine Fortsetzung. Die Programmatik kann dabei eine bürgerlich-konventionelle, eine bürgerlich-avantgardistische (Stichwort: Jugendstil), eine sozialistische oder (in den USA) eine liberal-individualistische Stoßrichtung verfolgen. Ziel ist es in jedem Fall, soziale und gestalterische Missstände aus der Phase der
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Industrialisierung auf künstlerischem Wege zu überwinden. Die Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen wird dabei negiert oder hinter einer elaborierten Ästhetik verborgen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dieser Diskurs in nahezu allen westlichen Industriestaaten gleichzeitig geführt, was spannende Parallelen und Gegenüberstellungen nach sich zieht. In Frankreich entwickelt Tony Garnier das Konzept einer idealen Industriestadt, die unter den Vorzeichen eines vollendeten Sozialismus dem Proletarier die Möglichkeit offeriert, wie ein bildungsbürgerlicher Ästhet zu wohnen, wenn auch seriell und nach dem Takt der Fabriken.51 In Österreich glossiert Adolf Loos die alltagspraktischen Auswirkungen der allumfassenden Raumkunstidee52, für die expressionistisch bewegte deutsche Architekten wie Bruno Taut53 oder Erich Mendelsohn54 dann nach dem Ersten Weltkrieg am Beispiel ihrer eigenen Wohnhäuser noch einmal nachdrücklich Werbung betreiben. Die Entwicklung hin zu einem autoritären Regime und die nochmalige Kriegserfahrung führen Autoren wie Heinrich Lützeler55 oder Rudolf Schwarz56 schließlich sogar zu der Frage, wie Hausbau und durchgestaltetes Wohnen mit ständestaatlichen Vorstellungen zusammenzubringen wären – ein Ansatz, der auch in der westdeutschen Wiederaufbaudiskussion nach 1945 zuweilen noch spürbar bleibt. Zur gleichen Zeit imaginiert der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright auf der anderen Seite des Atlantiks das Jefferson’sche Ideal einer Auflösung der Stadt, verbunden mit einer weitreichenden Kapitalismusreform.57 Wright schlägt vor, die öffentlichen Funktionen der Städte vollständig zu dezentralisieren und den sozialen Grundbaustein der Gesellschaft, die automobile Kleinfamilie, in ästhetisch hochwertigen, individuell entworfenen Eigenheimen auf jeweils 4000 m2 großen Grundstücken unterzubringen. In einer solchen Siedlungsstruktur sah er den vollendeten architektonischen Ausdruck verwirklichter Demokratie, wobei er das auch zu seiner Zeit schon erkennbare Problem der Suburbanisierung allerdings sorgfältig ausblendete. 3. Das Ideal des Funktionalismus: Aufbauend auf älteren gedanklichen Vorarbeiten wird spätestens ab 1918 ein neues Narrativ formuliert, nämlich das Postulat eines rein rationalen, auf quantitativ erfassbare Fakten fokussierten Gestaltungsansatzes, der seine eigene, immanente Ästhetik generiert, ohne dass man
51 Tony Garnier, Une Cité Industrielle. Etude pour la construction des villes. Paris 1917. 52 Adolf Loos, Vom armen reichen Mann (1900), in: ders., Die Schriften 1897–1900, hrsg. von Adolf Opel. Wien 2004, 301–307. 53 Bruno Taut, Ein Wohnhaus. Stuttgart 1927. 54 Erich Mendelsohn, Neues Haus – Neue Welt. Berlin 1932. 55 Heinrich/Marga Lützeler, Unser Heim. Bonn 1939. 56 Rudolf Schwarz, Das Heim, in: Bauen und Wohnen, 1948, 121. 57 Frank Lloyd Wright, When Democracy Builds. Chicago 1945; ders., The Living City. New York 1958.
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diese herleiten oder begründen müsste.58 Das Haus wird in dieser Sichtweise zu einem maschinenhaften Objekt, das im Sinne einer Apparatur benutzt wird und frei ist von örtlichen und historischen Bezügen sowie von überkommenen gesellschaftlichen Strukturen. Stattdessen werden auch im Bereich des Wohnens neue Organisationsformen, neue Abläufe und neue Geschlechterrollen propagiert. Die Autoren solcher Schriften sind entweder Publizisten und Architekturkritiker wie zum Beispiel Walter Curt Behrendt59 und Adolf Behne60 in Deutschland sowie Peter Meyer61 in der Schweiz, oder medial versierte Architekten wie Le Corbusier62 oder Walter Gropius. Letzteren „faszinierte vor allem die Idee eines vorfabrizierten Hauses, das aus einer Anzahl normierter Einzelteile oder Raumeinheiten quasi als ‚Baukasten im Großen‘ zusammengesetzt werden kann. […] Sein Vorschlag ging von der Grundlage bewährter Haus- und Grundrisstypen aus, die […] eine variantenreiche Vielfalt an Lösungen zuließen“63, so wie es die Architekturtraktate des 17. und 18. Jahrhunderts bereits vorexerziert hatten. Darum berief sich Gropius auch auf unterschiedliche historische Haustypen, um der Gefahr der Gleichförmigkeit entgegenzuwirken.64 Aus heutiger Sicht handelt es sich aber hier wie bei vielen Ansätzen der sog. ‚Weißen Moderne‘ eigentlich nur um Behauptungen einer objektivierbaren, rein technokratischen Rationalität, hinter der sich bei genauerem Hinschauen eine mit Elementen der sozialistischen (in Italien aber auch faschistischen) Utopie aufgeladene, technikaffine Emotionalität verbirgt. Letztlich ist diese Spätform des Architekturtraktats Ausdruck eines die Hochmoderne von Anfang an begleitenden Globalisierungsdiskurses, wie er mit negativem Vorzeichen auch auf traditionalistischer Seite geführt wurde.
58 Dazu u. a. Vittorio Magnago Lampugnani u. a. (Hrsg.), Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste. Ostfildern 2004. 59 Walter Curt Behrendt, Der Sieg des neuen Baustils. Stuttgart 1926. 60 Adolf Behne, Neues Wohnen – Neues Bauen. Leipzig 1927. 61 Katharina Medici-Mall, Im Durcheinandertal der Stile. Architektur und Kunst im Urteil von Peter Meyer (1894–1984). Basel 1998; Simone Rümmele, Peter Meyer. Architekt und Theoretiker, Diss. Univ. Zürich 1999. 62 Le Corbusier, Vers une architecture. Paris 1923; ders., Urbanisme. Paris 1925. 63 Annemarie Jaeggi, ‚brauchbare typen sind ständig zu verbessern‘. Die Dammerstocksiedlung im Werk von Walter Gropius, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.), Neues Bauen der 20er Jahre. Gropius, Haesler, Schwitters und die Dammerstock-Siedlung in Karlsruhe. Karlsruhe 1997, 91– 106, hier 91; Walter Gropius, der große baukasten, in: Das Neue Frankfurt 1, 1926/1927, 25–30. 64 Jaeggi, brauchbare typen (wie Anm. 63).
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7 Zusammenfassung In der europäischen Geschichte sind Architekturtraktate eine wichtige Literaturgattung, die sich im 15. Jahrhundert herausbildet und zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert ihre stärkste Ausprägung erreicht. Mit der Entstehung der modernen Gesellschaften verliert die Traktatform ab Mitte des 19. Jahrhunderts rasch an Bedeutung; deren normativer Anspruch erweist sich angesichts einer mehr und mehr ausdifferenzierten Lebensumwelt als anfechtbar, was Architekturtraktaten, die im 20. Jahrhundert geschrieben werden, den Charakter eines individuellen Statements verleiht. Haus, Hausbau und Wohnen sind während dieses gesamten Zeitraums zentrale Themen der Architekturtraktate. Zunächst geht es dabei um eine Positionsbestimmung gegenüber der als übermächtiges Vorbild empfundenen klassischen Antike. Darauf aufbauend, folgt dann die Formulierung nationalspezifischer Haltungen und die allmähliche Herausarbeitung vielfältig verwendbarer Typologien und Systematiken. Im späten 18. Jahrhundert schließlich wird das Bestreben erkennbar, das Thema ‚Haus‘ an den zunehmend naturwissenschaftlich fundierten Vernunftdiskurs anzubinden und es damit zu objektivieren. Immer aber wird das Haus unter drei Aspekten betrachtet: Als Konstruktionsgefüge, als Funktions- und Sozialgefüge und als ästhetisches Gefüge.65 Die Ausprägungen des Ästhetischen folgen dabei bestimmten Konjunkturen, die eng an die Entwicklung der jeweils gesellschaftlich bestimmenden Kräfte gekoppelt sind. Die Bestimmung von Funktionalität und Bequemlichkeit erfolgt lange Zeit nur anhand von Grundrissdispositionen und Raumgrößen. Erst mit der Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts rückt die technische Ausstattung von Gebäuden als Komfortfaktor mehr und mehr in den Fokus der Betrachtung. Die Vorstellung vom Haus als Sozialgefüge schließlich ist über die Jahrhunderte hinweg stets mit einem sittlich-moralischen Anliegen verknüpft. Auch hier steht am Anfang das Wetteifern mit der zum sittlichen Ideal verklärten Gesellschaft der Antike. Nach 1600 geht es vor allem darum, das Haus als einen Ort standesgemäßer Lebensführung zu beschreiben, sei diese aristokratischrepräsentativ ausgerichtet oder den Prinzipien bürgerlicher Tugend und ökonomischer Verantwortbarkeit unterworfen. Der aufklärerische Diskurs stilisiert das perfekte Haus und seine Umgebung dann noch einmal zu einer Stätte charakterlicher Veredlung und höherer Menschlichkeit, ein Ansatz, der auch noch unter den Vorzeichen von Industrieller Revolution und gesellschaftlicher Modernisierung immer wieder Anhänger fand. Dies wissend, sehen die Autoren von Architekturtraktaten im 20. Jahrhundert im Haus entweder ein Instrument zur Überwindung der modernen Kontingenz und zur Rückgewinnung von sozialer Einheit und Verbindlichkeit, oder, im Gegenteil, die Möglichkeit
65 Vgl. dazu auch Konrad Bedal, Historische Hausforschung. Eine Einführung in Arbeitsweise, Begriffe und Literatur. 2. Aufl. Bad Windsheim 1995.
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zum Ausdruck persönlicher Identität im Kontext einer Vielfalt von unterschiedlichen Lebensentwürfen, die allesamt machbar erscheinen.
Thomas K. Kuhn
Das ‚Haus‘ im Protestantismus: Historisch-theologische Perspektiven In der Frühen Neuzeit war das ‚Haus‘ als zentrale historische, soziale und religiöse Kategorie1 ein vielfältig behandeltes Thema theologischer wie pastoraler Diskurse. In der christentumsgeschichtlichen Forschung hingegen fand es lange Zeit kaum Interesse. Inzwischen aber hat die jüngere Historiographie das Haus erneut in den Blick genommen2, nachdem über Jahrzehnte die 1959 veröffentlichte Studie von Julius Hoffmann3 forschungsgeschichtlich prägend gewesen war. Im Folgenden widmet sich dieser Beitrag, ausgehend vom Zeitalter der Reformation, nicht häuslicher religiöser Praxis4, sondern theologischen und ethischen Theorien, die sich in christlichen Ökonomien, Katechismen, Predigten sowie Kirchenordnungen, Dorf-Utopien und weiterer religiöser Literatur niederschlugen. In der frühen Neuzeit besitzt der zeitgenössische Begriff „Haus“ eine polysemantische Bedeutung. Haus „heisset hie nicht wie mans sonsten gewönlich gebrauchet / eine gebew von holtz oder steinen / […] sondern heisset hie narung / aufferhaltung / und alle leibes und lebens notdurfft / ja es heisset hie das wort / HAUS / was in unserm teglichen Gebet panis quotidianus heisset.“5 Diese Beschreibung von Joachim Magdeburg (1525–1587) nimmt einen Gedanken Martin Luthers (1483–1546) auf, den dieser knapp dreißig Jahre zuvor in einem Sendschreiben (1524) geäußert hatte: „das ‚haus bawen‘ heyst hie nicht hie alleyne holtz und steyne auff richten, das man wende und dach,
1 Werner Trossbach spricht völlig zutreffend vom Haus als einer „Basiskategorie des 17. Jahrhunderts“; Werner Trossbach, Das ‚ganze Haus‘. Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit?, in: BlldtLG 129, 1993, 277–314. 2 Vgl. v. a. Gerhard Richter, Oikonomia. Der Gebrauch des Wortes Oikonomia im Neuen Testament, bei den Kirchenvätern und in der theologischen Literatur bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 2005. Als zentraler Quellentext erschien kürzlich die 1529 erstmalig publizierte und einflussreiche „Oeconomia Christiana“ von Justus Menius (s. u., Abschn. 1): Ute Gause/Stephanie Scholz (Hrsg.), Ehe und Familie im Geist des Luthertums. Leipzig 2012. Auf religions- und theologiegeschichtliche Perspektiven des Themas gehen auch ein Walter Behrendt, Lehr-, Wehr- und Nährstand. Haustafelliteratur und Dreiständelehre im 16. Jahrhundert. Berlin 2009; Irmintraut Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik. Göttingen 1991, sowie die zahlreichen Arbeiten von Gotthard Frühsorge. 3 Julius Hoffmann, Die ‚Hausväterliteratur‘ und die ‚Predigten über den christlichen Hausstand‘. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim 1959. 4 Vgl. hierzu den Beitrag von Kaspar von Greyerz in diesem Band. 5 Joachim Magdeburg, Die Ware / und in Gottes wort gegründete Lere. Eisleben 1563; zit. bei Gotthardt Frühsorge, Luthers Kleiner Katechismus und die ‚Hausväterliteratur‘. Zur Traditionsbildung lutherische Lehre vom ‚Haus‘ in der Frühen Neuzeit, in: Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 73, 1984, 380–393, hier 388.
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kamern und gemach habe, Sondern viel mehr alles, was ynn eyn haus gehört, das wyr auff deutschen sagen ‚haushallten‘, gleych wie Aristoteles schreibt ‚Oeconomia‘, das ist von haushallten, dazu weyb und kind, knecht und magd, vieh und futter gehört.“6
1 Das ‚Haus‘ bei Martin Luther und im Luthertum In dem eben schon zitierten Sendschreiben schärft Luther ein, „das weltlich Regiment vnd haushalten eitel Gottes gaben sind vnd allein jnn seiner hand stehet. […] Wo er nicht glück mit weib, kind vnd gesinde gibt, da ist alle sorge vnd erbeit vmb sonst etc.“7 Somit ist für Luther, dessen Hausbegriff für die Neuzeit prägend war, das Haus zwar zentraler Ort der zwischenmenschlichen Praxis, Arbeit und Ökonomie, dessen Wohl und Ergehen allerdings allein vom Segen Gottes abhängig.8 Für Luther beschreibt Psalm 127 das Wesen der christlichen Ehe – als „fons oeconomiae“ – „und unterweyset yederman, wie er eyn Christlich eheman und hausherr seyn soll.“9 Die Mitte des Hauses bildet die Ehe – und damit auch das Elternamt – als zentrale personale Bezugsgröße, von der das Haus nicht getrennt wird, wie in der Formel „eyn ehlich leben und haushallten“ erkennbar wird. Diese Unterweisung befördert Luther, indem er sich in seinem Kleinen Katechismus sowohl an die Hausherrn als auch an „Pfarrherrn und Prediger“ wendet.10 Dem Hausvater weist er elementare „pastorale“ Aufgaben zu, wenn er über die materielle Versorgung seines Hauses hinausgehend auch für die geistliche und religiöse Praxis verantwortlich gemacht wird.11 Hausväter werden in den Katechismen zu Hausbischöfen und das Haus zum Ort idealer und realer Frömmigkeit, zur „Hauskirche“ oder zur kleinen Kirche.12 Damit bekommen die Hausvorstände eine elementare religiöse wie geistliche Dignität. Die Eltern sind für
6 Martin Luther, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe/Weimarer Ausgabe (WA), 73 Bde. Weimar 1883–2009, Bd. 15, 364. Max Josef Suda, Ökonomie und Beruf nach Luther, in: Wilhelm Pratscher/Robert Schelander (Hrsg.), Wiener Jahrbuch für Theologie 2012. Bd. 9: Schöpfung. Göttingen 2012, 199–214. 7 WA (wie Anm. 6), Bd. 15, 364. 8 Dietrich Schwab, Familie, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, 253–301, hier 264. 9 WA (wie Anm. 6), Bd. 15, 364, 10 f.; ebd., 12. 10 WA (wie Anm. 6), Bd. 30/1, 293, 5–7. 11 Richter, Oikonomia (wie Anm. 2), 618–620. Zu Luthers Hausbegriff vgl. auch Schwab, Familie (wie Anm. 8), 262–264. 12 Vgl. dazu auch Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005, 73. Vgl. im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts erscheint der Begriff der ‚Hauskirche‘ zudem als literarische Gattung, wie das Beispiel des Eislebener Pfarrers Andreas Fabricius (1528– 1577) zeigt. Er veröffentlichte 1571 „Die Hauskirche“, die sich an Pfarrer und Hausväter gleichermaßen richtete: Andreas Fabricius, Die Hauskirche. Das ist Wie ein Hausvater neben dem offentlichen
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Luther darüber hinaus „Episcopi, reges etc. in domo sua hoc dedit dominus, docere pure debet.“13 In der „Familia“ klingen somit „Politia“ wie „Ecclesia“ zusammen.14 Der Hausvater gilt als „primärer Bekenner“, er vertritt das Gesetz. Das Haus ist „der Koinzidenzpunkt des weltlichen und des geistlichen Regimentes.“15 Allen dreien kommt eine doppelte Aufgabe zu: Sie sollen um die leibliche wie die geistlich-religiöse Versorgung besorgt sein. Den eigentlichen Sitz im Leben des Katechismus stellt für Luther deshalb die häusliche Lebensgemeinschaft dar. Für die weitere Geschichte des Verständnisses der lutherischen Lehre vom Haus liegt hier mit der erkennbaren Gleichrangigkeit der drei Stände – status oeconomicus, status ecclesiasticus und status politicus – die entscheidende Weichenstellung vor. Denn die damit einhergehende neue Bewertung der Ehe als ein „weltlich Ding“ sowie das neue reformatorische Arbeitsverständnis führten gegenüber den traditionellen römisch-katholischen Vorstellungen16 erstens zu einer theologischen Aufwertung des Hauses: Gott gilt als der eigentliche Haushalter in den christlichen Haushalten.17 Zweitens erfolgte die Produktion zahlreicher Publikationen, die an die Traditionen der spätmittelalterlichen Ökonomie-Literatur18 oder an jene der Oeconomia christiana anknüpften.19 In diesen Schriften werden die Funktionen des Hauses mit Begriffen aus der politischen Welt beschrieben und das Haus, verstanden als naturrechtliche Institution und als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung, erscheint als ‚staatlicher‘ Mikrokosmos, in dem sich die Ordnungen des status politicus abbilden und in dem der Hausherr als Gesetzgeber fungiert. Seine Aufgabe zielt auf das größere Gemeinwesen, begründet dieses aber zugleich. Darüber hinaus ging mit der reformatorischen Neubewertung des Hauses und der Ehe als eines ganzheitlichen Sozialgebildes20 in ethischer Perspektive zum einen die Rede von den verpflichtenden Ordnungen Gottes und von der christlichen Ökonomia einher.21 Zum anderen findet neben dem status politicus auch der status ecclesiasticus im Haus seinen Niederschlag, denn durch die
Predigtampt, auch daheime sein Heufflein zu Gottes wort, vnd dem lieben Catechismo reitzen soll. Eisleben 1572. 13 WA (wie Anm. 6), Bd. 16, 504, 1f.; in der Vorrede zur Deutschen Messe (1526) schlägt Luther die Bildung von Hausgemeinden vor; WA (wie Anm. 6), Bd. 19, 75, 3–10. 14 Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 1: Die Zehn Gebote. Luthers Vorreden, in: ders., Kommentar zu Luthers Katechismen, hrsg. von Gottfried Seebaß. Göttingen 1990, 200. 15 Ebd., 25. 16 Carl Braun, Die katholische Predigt während der Jahre 1450 bis 1650 über Ehe und Familie, Erziehung, Unterricht und Berufswahl. Würzburg 1904. 17 Vgl. dazu die Ausführungen bei Frühsorge, Katechismus (wie Anm. 5), hier 387 f. 18 Vgl. dazu Schwab, Familie (wie Anm. 8), 260 f. 19 Richter, Oikonomia (wie Anm. 2), 621. 20 Waldemar Kawerau, Die Reformation und die Ehe. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts. Halle 1892, 4, spricht davon, dass die kirchliche Reformation auch zu einer „Reformation des häuslichen Lebens“ wurde. 21 Richter, Oikonomia (wie Anm. 2), 616.
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„Nachbildung der kirchlichen Gemeinschaft in der häuslichen“22 erhält das Haus ekklesiologische Funktionen, ohne aber die Kirche ersetzen zu wollen.23 Für die weitere Entwicklung der lutherischen Lehre vom Haus sind schließlich die sogenannten ‚Haustafeln‘ wirkmächtig geworden, die Luther dem Kleinen Katechismus beigefügt hatte.24 Ihren Namen, dessen Herkunft umstritten ist, erklärte beispielsweise Mitte des 16. Jahrhunderts der Mansfelder Pfarrer Cyriakus Spangenberg (1528–1604): „Vnd heisset dasselbige stück darumb die Haustaffel/ weil es allen Stenden/ hohen vnd nidrigen/ vnd allen Personen gros vnd kleinen/ In Summa allen die in einem Hause sein mögen/ anzeigen was einem jglichen in seinem Stande vnd Beruff zustehe/ das er thun oder lassen solle/ vnd ist eine reiche Lere […].“25 Diese Kompilation neutestamentlicher Verse fand seit Mitte des 16. Jahrhunderts breite Rezeption in Predigten, evangelischen Sittenlehren und in der in sich disparaten Gattung der ‚Hausväterliteratur‘. Die Autoren der Haustafelpredigten, unter denen neben Spangenberg vor allem Aegidius Hunnius (1550–1603) hervorzuheben ist, waren Pfarrer, die zum einen konfessionsspezifische Glaubensbestände und zum anderen ein Erziehungsprogramm zur Verchristlichung des Alltags zu vermitteln trachteten. Die Haustafeln avancierten zur Grundlage einer christlichen ‚HausEthik‘, in deren Zentrum die christliche Pflicht zur Arbeit sowie zur Kinderzeugung und -erziehung stand. Zuvor aber hatte die bereits 1529 erschienene und mit einem Vorwort Luthers26 versehene „Oeconomia Christiana“ von Justus Menius (1499–1558)27 den öffentlichen Diskurs bestimmt. Die Wurzeln einer Oeconomica christiana liegen zwar in vorreformatorischer Zeit, doch entfaltete sie ihr ganzes innovatives Potential erst mit der gleichnamigen Schrift des Eisenacher Pfarrers Menius. Dieses Werk bietet nicht nur eine erste umfassende reformatorische Hauslehre, sondern sie verknüpft die lutheri-
22 Werner Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. 2: Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums. München 1932, 94. 23 In eine weitere Richtung weist der metaphorische Gebrauch des Begriffsfelds ‚Haus‘ bei dem pommerschen Theologen Johannes Bugenhagen, der die Gemeinschaft der Gläubigen als „hauszzierd“, als eine „haußmutter, die das hauß Christi zieret“, bezeichnet. Vgl. Luise Schorn-Schütte, Die DreiStände-Lehre im reformatorischen Umbruch, in: Bernd Moeller (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte. Gütersloh 1998, 435–461, hier 455. 24 Zum Folgenden vgl. Behrendt, Nährstand (wie Anm. 2). Ihre erste Hochphase dauerte bis 1606: Ebd., 7. 25 Cyriacus Spangenberg, Die Geistliche HAVSTAFEL/ Wie sich ein jglich Gottselig Mensch in seinem Stande vnd beruff nach Gottes willen rechtschaffen halten solle. Wittenberg 1556, unpag. 26 WA (wie Anm. 6), Bd. 30/2, 60–63. 27 Martin Hein, Justus Menius, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzy klopädie, Bd. 22. Berlin 1992, 439–442.
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sche Lehre von der Oeconomia mit der Hausväterliteratur.28 Dabei nimmt es solche spätmittelalterliche Traditionen auf, in denen die ‚Ordnung‘ des Hauses als Nukleus der Schöpfungsordnung verstanden wird29 und grenzt sich mit ihrer Orientierung an Bibel und göttlicher Offenbarung offensiv von den Entwürfen heidnisch-antiker Philosophen ab. Die reformatorische Neubewertung des Hauses und der Ehe sowie deren untrennbare Zusammengehörigkeit finden bei Menius ihren programmatischen Niederschlag.30 Dabei fällt die Positionierung von Hausvater und Hausmutter als Zentrum des Hausstandes auf; 31 als Hauptziele der häuslichen Ökonomie gelten Ehe und Kindererziehung, nicht die Anhäufung von Reichtum. Inhaltlich umfasst diese Schrift neben dem ehelichen Leben und dem Haushalt die unterschiedlichen Aufgaben und Pflichten der einzelnen Hausbewohner sowie „Sachbeziehungen als sittlich-religiöse Ordnung des Handelns“, beispielsweise mit Blick auf das Geben von Almosen.32 Für Menius ist der Begriff der (göttlichen) Ordnung zentral. Das Haus ist bei ihm Ursprung und Teil einer größeren politischen wie kirchlichen Gemeinschaft und besitzt neben den ‚politischen‘ Aufgaben ebenso ekklesiale Funktionen. Der Hausvater ist deshalb als Haus-Bischof und Haus-Prediger das Fundament des Hauses und der Haushaltung. Menius explizierte in seiner wirkungsgeschichtlich einflussreichen Schrift, die innerhalb weniger Jahre fünfzehn Auflagen erlebte,33 detailliert die lutherische Lehre vom Haus. Als vornehmlich theoretischer Text umreißt er zwar idealtypisch die Vorstellung einer evangelischen Oeconomia christiana, verzichtet aber auf konkrete Anweisungen für die häusliche und landwirtschaftliche Praxis. Trotz dieses Mangels an praktischen Hinweisen beeinflusste Menius‘ Ökonomie beispielsweise maßgeblich die erste nachweisbare, 1545 in Königsberg erschienene, polnische ökonomische Schrift des Lutheraners Jakub Seklucyan.34 Den konkreten ökonomischen Pra-
28 Zum Folgenden vgl. Gause/Scholz (Hrsg.), Ehe und Familie (wie Anm. 2); Frühsorge, Katechismus (wie. Anm. 5), 384; Behrendt, Nährstand (wie Anm. 2), 108. 29 Richarz, Oikos (wie Anm. 2), 105–107. 30 Ein Jahr zuvor hatte Menius die in der Forschung kaum rezipierte Schrift Erynnerung was denen / so sich ynn den Ehestand begeben / zu bedencken sey. Wittenberg 1528, publiziert. 31 Gotthardt Frühsorge, Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen oeconomia christiana. Zur Rolle des Vaters in der ‚Hausväterliteratur‘ des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Hubertus Tellenbach (Hrsg.), Das Vaterbild im Abendland, Bd. 1: Rom, Frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart. Stuttgart 1978, 110–123; ders., Die Einheit aller Geschäfte. Tradition und Veränderung des ‚Hausmutter‘-Bildes in der deutschen Ökonomieliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 3, 1976, 137–157; Rainer Gruenter, Nachtrag zur Hausmutter, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 61, 1967, 155–162; Ulrike Hörauf-Erfle, Wesen und Rolle der Frau in der moralisch-didaktischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Frankfurt am Main 1991. 32 Frühsorge, Begründung (wie Anm. 31), 115. 33 Behrendt, Nährstand (wie Anm. 2), 102. 34 Richarz, Oikos (wie Anm. 2), 130.
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xisfeldern wandte sich erst der Rostocker Magister und evangelische Pfarrer Johann Coler (1566–1639) zu. Sein sechsbändiges Werk „Oeconomia“ (1593–1601) avancierte zu einem der wichtigsten Vertreter der Hausväterliteratur und diente als Muster für ökonomische Schriften bis ins 18. Jahrhundert hinein.35 Mit ihm erreicht die Oeconomia-Literatur eine neue Stufe. Hier treten vornehmlich Fragen der Verwaltung in den Blick, und es erfolgt eine Verschiebung von ethischen, religiösen und pädagogischen Perspektiven hin zu einer funktional ökonomischen Fragestellung. Andere lutherische Autoren wie beispielsweise Johann Gerhard (1582–1637) in seinen neunbändigen „Loci Theologici“ (1610–1622) blieben auf dem von Menius und Luther gebahnten Weg und verstanden unter Oeconomia vornehmlich Haus, Familie und Ehe. Allen diesen unterschiedlichen literarischen Gattungen ist gemein, dass sie ordnungspolitische und normative Bedeutung erlangten.
2 Heinrich Bullinger und die Reformierten Im reformierten Bereich findet sich im 16. Jahrhundert zwar kein Werk, das mit demjenigen von Menius unmittelbar vergleichbar wäre, aber immerhin legte der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger (1504–1575) ein Ehebuch36 vor, das durch eine Übersetzung ins Englische die englischen ‚Domestic Conduct Books‘ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beeinflusste. Bullingers Ehebuch, das in der Zeit zwischen 1540 und 1579 drei Auflagen erfuhr, gliedert sich in zwei Teile, einen eher moraltheologischen und rechtlichen sowie einen praktischen. Er wendet sich vornehmlich der Lebensgestaltung und der Kindererziehung zu, bietet aber auch unter der Überschrift „Von gebürlicher sorg vnnd rechter Christenlicher hußhaltung“ eine knappe Haushaltslehre.37 Diese folgt im Wesentlichen dem Aufbau mittelalterlicher Ökonomien und setzt in dem umfänglichsten Kapitel mit der Frage nach der Wahl des rechten Ehepartners ein. Den Eheleuten kommt Ebenbürtigkeit zu und sie haben spezifische Aufgaben und Ämter. Bullinger differenziert hier zwischen inner- und außerhäuslichen Tätigkeiten, wobei Letztere dem Mann zukommen. Der Frau obliegen die Hauswirtschaft im engeren Sinne sowie Erziehung und Unterweisung der Kinder. Mit „dem Fehlen von Aussagen über die Unterordnung der Frau unter den Mann im praktischen
35 Zu Coler vgl. Richarz, Oikos (wie Anm. 2), 138–148 sowie Philip Hahn, Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der ‚Oeconomia‘ Johann Colers. Epfendorf 2013. 36 Abgedruckt in Heinrich Bullinger, Der christliche Ehestand, in: ders., Schriften, Bd. 1, hrsg. von Emidio Campi/Detlef Roth/Peter Stotz, Zürich 2004, 417–575; vgl. auch Detlef Roth, Heinrich Bullingers Eheschriften, in: Zwingliana 31, 2004, 275–309. 37 Alfred Weber, Heinrich Bullingers ‚Christlicher Ehestand‘, seine zeitgenössischen Quellen und die Anfänge des Familienbuches in England. Leipzig 1929.
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Leben“ rückte er – obwohl er sich eng an den biblischen Texten orientierte – „von althergebrachten Vorstellungen ab“ und bahnte neuen Orientierungen den Weg.38 Auch Bullinger sah die Möglichkeit häuslicher Katechese vor und zwar insbesondere für Zeiten religiöser Bedrückung und als Schutz vor falschen Lehren. Aber – so schreibt Bullinger in Abgrenzung gegenüber separatistischen religiösen Gruppen – „sobald es durch die Gnade des Herrn möglich ist, öffentliche Gottesdienste zu feiern, eine freie uneingeschränkte und wahrhaftige Verkündigung des Evangeliums zu hören und auch an den Sakramenten Christi teilzuhaben, gibt es jene privaten Hauskirchen nicht mehr länger; nicht, dass das Haus eines gottesfürchtigen Familienvaters nicht auch immer eine Kirche wäre und bliebe, sondern weil das Anhören des Wortes Gottes, die Gebete und die Feier der Sakramente öffentlich und für alle Gläubigen gemeinsam sein sollen. Zu Recht nämlich werden die geheimen Zusammenkünfte der Wiedertäufer und aller übrigen Sektierer verurteilt.“39 Daneben bleibt für den Schweizer Reformierten das Haus Ort religiöser Erziehung, wo die Eltern in enger Kooperation mit Kirche und Schule agieren.40 Mit Blick auf die transkonfessionelle Rezeption der Haustafeln Luthers ergibt sich ein differenziertes Bild.41 Im Katechismus der Böhmischen Brüder von 1554 finden sie Niederschlag, aber weder katholische Katechismen des 16. Jahrhunderts noch Calvins Genfer Katechismus von 1542 nahmen sie auf. Allerdings lässt Calvin in seiner Institutio (Inst. 1559, IV. Buch) wie auch Bullinger in seinem Christlichen Hausbuch sowie im Zweiten Helvetischen Bekenntnis den mit den Haustafeln verbundenen Themenkreis anklingen. Im Zusammenhang mit dem reformierten Heidelberger Katechismus findet sich eine ausführliche Haustafel unter der Überschrift „Volgen die sprüch der heiligen schrift, darauß ein jeglicher in seinem standt erlernen mag, was ihme in seinem beruf zu thun gebühre“.42 Bei Calvin, der zwar nur selten von Oeconomia gesprochen, sich aber nachdrücklich um die Reformierung von Ehe, Eherecht und dem häuslichen Bereich bemüht hat, tritt das ‚Haus‘ als soziale Kategorie gegenüber dem Luthertum zurück. Diesen Befund deutet Peter Blickle mit dem Verweis darauf, dass „bei Zwingli und Calvin die
38 Richarz, Oikos (wie Anm. 2), 109; vgl. auch Monika Gsell, Hierarchie und Gegenseitigkeit. Überlegungen zur Geschlechterkonzeption in Heinrich Bullingers Eheschriften, in: Rüdiger Schnell (Hrsg.), Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998, 89–117. 39 Bullinger, Schriften (wie Anm. 36), Bd. 3, 2006, 314 f.; vgl. auch 284 f. 40 Ebd., 279; 313. 41 Vgl. zum Folgenden Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen (wie Anm. 14), Bd. 5: Die Beichte. Die Haustafel. Das Traubüchlein. Das Taufbüchlein, 1994, 107. 42 Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 14: Kurpfalz, hrsg. von Emil Sehling. Tübingen 1969, 375–378.
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Referenz auf die Gemeinde ausschließlicher erscheint“.43 Als theologische Grundlage für Calvins Ehe- und Familienreformen diente wesentlich die Lehre vom Bund44; mit diesem Begriff konnte vor allem der spätere Calvin auch die Ehe bezeichnen, die für ihn auch in der Schöpfungsordnung sowie in Naturordnung und Naturrecht gegründet war.45 Um eine angemessene häusliche religiöse Unterweisung zu gewährleisten, verfügte die Genfer Kirchenordnung, „daß in den Häusern alljährlich Besuche stattfinden sollen, wo jeder ganz schlicht über seinen Glauben befragt wird, damit zumindest keiner zum Abendmahl kommt, ohne zu wissen, worin das Fundament seines Heils besteht“.46 Diese als zentrales Element reformierter Kirchenzucht zu bezeichnenden Hausbesuche durch Älteste und Pfarrer dienten nicht nur der Evaluation der religiösen, sondern durchaus auch der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des sogenannten ganzen Hauses. Die Pfarrer hatten durch ihren Wirkungskreis nach dem Genfer Katechismus auch das „Haus Christi“ (la mayson de Christ) aufzubauen.47
3 Das evangelische Pfarrhaus Das Pfarrhaus48 ist keine Erfindung der Reformation, sondern stammt aus vorkarolingischer Zeit. Seine gesellschaftliche Sonderstellung fand vorreformatorisch obrigkeitlichen Niederschlag, wenn beispielsweise die erste württembergische Landesordnung von 1495 vorschrieb, „das uuf dem land inn dörffern von unsern underthon kain purnhauß uber zwen stöck haben sol, es were dan ains priesters oder wirtts haus“.49
43 Peter Blickle, Reformation und kommunaler Geist. Die Antwort der Theologen auf den Verfassungswandel im Spätmittelalter, in: HZ 261, 1995, 365–402, hier 385. 44 John Witte, Jr., Ehe und Familie, in: Herman J. Selderhuis (Hrsg.), Calvin-Handbuch. Tübingen 2008, 449–459, hier 451. 45 Kommentar zur Genesis 2, 18; zit. bei ebd., 452. 46 Peter Opitz, Die Ordonnances ecclésiastiques (1541) 1561, in: Eberhard Busch u. a. (Hrsg.), CalvinStudienausgabe, Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche. Neukirchen-Vluyn 1997, 227–279, hier 267. 47 Ernst Saxer, Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537), in: Busch (Hrsg.), Calvin-Studienausgabe (wie Anm. 46), Bd. 1: Reformatorische Anfänge (1533–1541). Teilbd. 1/1, 1994, 131–223, hier 203. 48 Vgl. dazu Wilhelm Baur, Das deutsche evangelische Pfarrhaus. Seine Gründung, seine Entfaltung und sein Bestand. 3. Aufl. Bremen 1884; Franz Blanckmeister, Vierhundert Jahre sächsisches Pfarrhaus. Berlin 1929; Hartmut Lehmann, ‚Das ewige Haus‘. Das lutherische Pfarrhaus im Wandel der Zeiten, in: Hans-Dietrich Loock (Hrsg.), ‚Gott kumm mir zu hilf‘. Martin Luther in der Zeitenwende. Berlin 1984, 177–200; sowie Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses. Berlin 2013; dort weitere Literatur. 49 Stephan Molitor/Klaus Graf/Petra Schön (Hrsg.), 1495: Württemberg wird Herzogtum. Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu einem epochalen Ereignis. Stuttgart 1995, 111; vgl. zum Folgenden auch Christel Köhle-Hezinger, Das evangelische Pfarrhaus. Kosmos, Glashaus, Sakralhügel?, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Leben nach Luther (wie Anm. 48), 83–88.
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Pfarrhaus und Wirtshaus bildeten neben Kirche und Kirchhof häufig schon weit sichtbar den Ortskern, sie waren zudem Anlaufstellen für Hilfesuchende. Mit der Reformation änderte sich das Wesen des Pfarrhauses deutlich; nun beherbergte es Pfarrfamilie samt Gesinde. Die teilweise verheerenden Wohnverhältnisse sowie bedrückende wirtschaftliche Verhältnisse konterkarierten freilich die im ausgehenden 18. Jahrhundert propagierte Pfarrhausidylle.50 Das Pfarrhaus, das häufig auch Teil eines landwirtschaftlichen Betriebes war, sollte auch – nicht nur mittels Mustergärten im Zuge der Volksaufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts51 – als vorbildhaftes Hauswesen dienen. So forderte man beispielsweise im frühen 19. Jahrhundert in Württemberg von den Pfarrern: „Sein Haus muß er zu einer Wohnung des Friedens machen, und für die ganze Gemeinde zum Beispiel stiller frommer Ordnung, redlichen Fleißes, guter Kinderzucht, verständiger und billiger Führung der Hausherrschaft aufstellen.“52 Auf dieses Ziel hatten zuvor schon die vielfach in Pfarrhäusern verfassten ‚Hausbücher‘ sowie die ‚Hausväterliteratur‘ des 16. und 17. Jahrhunderts hingearbeitet, die sich nicht nur allgemein an die Häuser und ihre Insassen, sondern mit gutem Grund auch speziell an den eigenen pastoralen Stand wandten. Auch Kirchen- und Visitationsordnungen intendierten seit dem 16. Jahrhundert eine Verbesserung der Pfarrhäuser als Zentren des erzieherischen, seelsorgerlichen und caritativen Handelns und forderten, dass die „pastores ein ebar, zuchtig, unergerliches leben furen, ir weib und kind zur zucht und erbarkeit zihen aller unerlichen hantirung, als weins oder bier schenkens, kaufmannschaft und dergleichen vor weisslicher handel sich enthalten“.53 Die Entstehung des evangelischen Pfarrhauses wird oft auf Martin Luther zurückgeführt. Historisch ist diese Zuschreibung allerdings nicht zutreffend, war Luther doch weder Pfarrer noch bewohnte er ein Pfarrhaus. Die erste evangelische Pfarrersehe allerdings schloss wahrscheinlich der ehemalige Dominikaner Jakob Knade 1518 in Danzig.54 Dennoch sind Martin und Katharina Luther im kollektiven protestantischen Gedächtnis nach wie vor als Ursprung dieser kulturgeschichtlich so
50 Fritz Martini, Pfarrer und Pfarrhaus. Eine nicht nur literarische Reihe und Geschichte, in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1991, 127–148. 51 Zur Volksaufklärung vgl. Thomas K. Kuhn, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung. Tübingen 2003, 79–223. 52 Aus dem Synodus-Schreiben „An die Württembergische evangelische Geistlichkeit“, Stuttgart 6. Juni 1818, zit. bei Andreas Gestrich, Erziehung im Pfarrhaus. Die sozialgeschichtlichen Grundlagen, in: Greiffenhagen (Hrsg.), Pfarrhaus (wie Anm. 50), 63–81, hier 63. 53 Sehling (Hrsg.), Evangelische Kirchenordnungen (wie Anm. 42), Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten, 1902, 314. 54 Eberhard Winkler, Pfarrhaus, in: Krause/Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie (wie Anm. 27), Bd. 26, 1996, 374–379, hier 375.
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prägend gewordenen Institution präsent. Das ist insofern nachvollziehbar, als Luther dem evangelischen Pfarrhaus durchaus theologisch den Weg gebahnt hat.55 Im Verlauf der Jahrhunderte avancierte das evangelische Pfarrhaus immer mehr zu einem Ort der Bildung und Erziehung und brachte zahlreiche kulturgeschichtlich bedeutende Persönlichkeiten hervor. Dabei spielte eine entscheidende Rolle, dass das Leben im Pfarrhaus „durch dauernde Anschauung vorgeführter christlicher Tugend und überzeugende Sinnvermittlung“ erzog.56 Auch deshalb förderte das Pfarrhaus die Ausbildung bürgerlichen Lebens. Ferner differenzierte es seine Funktionen aus als Ort von Bildung und Musik, von Seelsorge, Frömmigkeit und Hausandacht, konnte aber den zunehmenden sozialen Bedeutungsverlust seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht aufhalten. Für die Pfarrfamilien selbst konnte der Anspruch, ein „exemplarisches“ Leben führen zu müssen, in eine ständige Überforderung führen.57 Jüngere kritische Autobiographien von Pfarrerskindern lassen die damit einhergehenden vielschichtigen Probleme erkennen. Trotz der unübersehbaren Ambivalenzen besaß das protestantische Pfarrhaus für die konfessionsspezifische Erinnerungskultur und Identität bis ins späte 20. Jahrhundert hinein eine zentrale Funktion.
4 Puritanismus und Pietismus Für die Entwicklung der Ehe- und Hauslehren im Puritanismus ist die 1541 erfolgte Übersetzung von Bullingers Buch über die Ehe wegweisend. Unter dem Titel „The Christen state of Matrimonye“ erlebte sie bis 1575 sieben Auflagen. In den – vor allem im 17. Jahrhundert – zahlreich erscheinenden ‚Domestic Conduct Books‘, die neben der Bibel, antiken Schriftstellern, Kirchenvätern auch Erasmus und Bullinger rezipierten, geht es darum, – v. a. mit Bezug auf alttestamentliche Texte – das alltägliche Leben zu regeln und die Pflichten der Bewohner des Hauses zu benennen und damit primär um eine religiös-ethische Anleitung, weniger um Unterricht in praktischer Haushaltsführung.58 Unter den Autoren solcher Ökonomiken findet sich auch der bekannte englische Theologe William Perkins (1558–1602), der 1590 eine lateinische Fassung veröffentlichte, die 1609 als „Christian Oeconomie“ erschien.59 Perkins
55 Ebd., 375, sowie Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Das reformatorische Verständnis des Pfarramtes, in: Greiffenhagen (Hrsg.), Pfarrhaus (wie Anm. 50), 23–46. 56 Gestrich, Erziehung (wie Anm. 52), 71. 57 „Die Würde von Amt und Stand alltäglich aufs Neue und auf lange Sicht für die ganze Pfarrfamilie zu erhalten, war Lebensaufgabe und Kulturleistung“; Köhle-Hezinger, Pfarrhaus (wie Anm. 49), 87. 58 Richarz, Oikos (wie Anm. 2), 118. Vgl. dort auch zum Folgenden sowie Levin Ludwig Schücking, Die puritanische Familie in literar-soziologischer Sicht. 2. Aufl. Bern 1964. 59 William Perkins, Christian Oeconomie, or, A Short Survey of the Right Manner of Erecting and Ordering a Familie According to the Scriptures. London 1609. Weitere Beispiele sind William Gouge, Of Domestical Duties. London 1622, sowie Matthew Griffith, Bethel, or a Forme for Families. London 1633.
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beginnt seine hoch angesehene Schrift programmatisch mit den Worten: „Christian Oeconomie is a doctrine of the right ordering of a Family. The only rule of ordering the family is the written word of God“.60 Für ihn sind Beten und Fasten zentrale häusliche Pflichten gegenüber Gott, das Haus, in dem die göttlich geforderten Dienste praktiziert werden, gilt als „little church“ oder sogar als „paradise upon the earth“. Perkins und andere puritanische Verfasser zielten in gesellschaftlichen Umbruchszeiten darauf, religiöses und häusliches Leben zu verschmelzen.61 In den puritanischen Schriften wird – wie auch schon in William Tyndales „The obedience of a Christian Man“ (1528) – auf der Basis der biblischen Texte die Subordination der Hausmutter unter den Hausvater deutlich. Doch stellt dieser Aspekt der „subjection“ nur einen Teil der puritanischen Hauslehre dar, denn es kann auch von der vollkommenen Gemeinschaft die Rede sein, von einem Verhältnis gegenseitiger Verpflichtungen und von der Ehe als einer seelisch-sinnlichen Vereinigung. Daniel Rogers brachte es in seiner Schrift „Matrimonial Honour“ (1642) auf den Punkt, indem er die eheliche Gemeinschaft als eine Mischung aus „religion and nature“ bezeichnete.62 Die Hausmutter kann im Puritanismus durchaus als Stellvertreterin des Hausvaters fungieren und innerhalb der Hausgemeinschaft religiöse Funktionen wahrnehmen. Darüber hinaus dient die häusliche Gemeinschaft auch dazu, sich gegenseitig zu ermahnen und religiös und sittlich zu vervollkommnen. Das Haus wird wie im Luthertum zum religiösen Zentrum. Die puritanische Bewegung wurzelt in der Familie und „Religion ist hier Familienreligion“ und der Gottesdienst ist „Familiengottesdienst“.63 Unheil und Krisen in der Gesellschaft werden auf die schlechte Leitung in den Familien zurückgeführt. Die Familie erscheint hier radikalisiert als zentrales soziales und kulturelles Fundament. Ausgehend von dem Gedanken, dass Gott ein Gott der Ordnung sei, wird das ganze häusliche Leben mit einer Vielzahl von Praktiken religiös durchdrungen, so dass es eine Art Gottesdienst wird. Die Betonung der ‚Familienkirche‘ ist eine Reaktion auf die als unvollkommen gedeutete Reformation. Diese „Spiritualisierung des Haushalts“64 wurde durch Puritaner und Quäker auch in die Neue Welt eingeführt. Auch im deutschsprachigen Pietismus spielt das Haus eine zentrale Rolle als Ort intensivierter praxis pietatis.65 Durch die Betonung des reformatorischen Gedankens
60 Zit. bei Richarz, Oikos (wie Anm. 2), 119. 61 Ebd., 116–120. 62 Schücking, Puritanische Familie (wie Anm. 58), 44. 63 Ebd., 60. 64 Andreas Gestrich, Ehe, Familie, Kinder im Pietismus. Der ‚gezähmte Teufel‘, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, 498–521, hier 507. 65 Zum Folgenden vgl. ebd.; Fritz Tanner, Die Ehe im Pietismus. Zürich 1952; Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Württemberg 17. – 19. Jahrhundert. Göttingen 2005; Wilhelm Faix, Familie im gesellschaftlichen Wandel. Der Beitrag des Pietismus – Eine sozialgeschichtliche Studie. Gießen 1997.
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des Priestertums aller Gläubigen nahmen außerkirchliche Unterweisung wie häusliche religiöse Praktiken zu und das Haus avancierte nicht nur zum prägenden Ort religiöser Sozialisation, sondern konnte gleichsam als Ort der ‚wahren Kirche‘ verstanden werden. In der pietistischen Programmschrift „Pia desideria“ (1675) forderte Philipp Jakob Spener (1635–1705) beispielweise eine Vertiefung der Bibelkenntnisse. Dabei war zweifelsohne auch an das Vorlesen durch den Hausvater gedacht sowie an die private häusliche Lektüre. In seinen Katechismuspredigten unterstreicht er – wie auch im Puritanismus praktiziert – die Rolle der Hausmutter als selbständig agierende religiöse Erzieherin. Insgesamt gesehen, scheint vor allem im kirchlichen Pietismus die traditionelle und biblisch begründete Rollenverteilung der Geschlechter im Haus nicht in Frage gestellt worden zu sein. So betont Spener in seinem „Lebenslauf“, dass er nicht nötig gehabt habe, sich der „Haußhaltungs-Sorgen im geringsten anzunehmen“, sondern diese getrost seiner Frau überlassen konnte.66 Im Pietismus ist eine verstärkte religiöse Aktivität von Frauen im inner- und außerhäuslichen Bereich zu erkennen; ebenso steigerte sich die Stellung des pietistischen Hausvaters durch eine religiös-spirituelle Überhöhung, „aber gleichzeitig wurde das Recht des Mannes, seine Autorität gegenüber der Frau und den Kindern auch mit Handgreiflichkeiten durchzusetzen, ideologisch eingeschränkt. Rationalität, Höflichkeit und Erziehung waren die Gestaltungsvorgaben für den frommen Hausvater.“67 Auch der Hallenser Pietist August Hermann Francke (1663–1727) forderte eine Intensivierung der Bibelkenntnis: „Hat denn ein Hauß-Vater bißhero noch keine Bibel im Hause gehabt/ (wiewol dieses der nöthigste Haußrath in einem Hause ist/ und also auch billig der erste seyn sollte) so soll er es lieber an seinem Maul ersparen/ daß er nur vor allen Dingen eine Bibel ins Hauß schaffe […]“.68 Francke erwartete von Hausvätern neben ihrer ökonomischen Leitung zentral die Erziehung seines Hauses zur Gottesfurcht: Es soll „ein ieder Haus-Vater […] ein Prediger, ein Priester, ein Lehrer und ein Diener GOTTes in seinem Hause gegen seine Kinder und Gesinde seyn.“69 In den Häusern versammelten sich zudem pietistische Konventikel oder die ‚Stündler‘, deren Tradition bis auf den heutigen Tag in den sogenannten Hauskreisen fortlebt. In diesen Häusern entstanden zudem im Kontext eines separatistischen Pietismus durchaus autonome religiöse Gruppierungen. Vor allem in den chiliastisch geprägten Kreisen konnte die bürgerliche Familie in ihrem häuslichen Dasein als im Angesicht der Endzeit nicht angemessene Lebensform in die Kritik geraten: Nicht mehr die häusliche Gemeinschaft war entscheidend, sondern die Gemeinschaft
66 Philipp Jakob Spener, Eigenhändiger Lebenslauf, in: ders., Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe, Bd. 1/1, hrsg. von Kurt Aland/Beate Köster. Gießen 1996, 38. 67 Gleixner, Pietismus (wie Anm. 65), 237. 68 Wolf Oschlies, Die Arbeits- und Berufspädagogik August Hermann Franckes (1663–1727). Schule und Leben im Menschenbild des Hauptvertreters des halleschen Pietismus. Witten 1969, 215 f. 69 Ebd., 216.
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der Wiedergeborenen. In der Herrnhuter Brüdergemeine des Grafen von Zinzendorf wurde nicht allein die engere häusliche Familie durch die Glaubensgemeinschaft ersetzt, sondern der Graf und seine Frau übernahmen die Rollen von Hausvater und Hausmutter und ließen sich als „Papa“ und „Mama“ anreden.70
5 Das Zeitalter der Aufklärung Seit dem späten 17. Jahrhundert lassen sich mit Blick auf das ‚Haus‘, den ‚Hausvater‘ und die ‚Haushaltung‘ begriffliche Entwicklungen erkennen, die schließlich dazu führten, dass nach einer Phase des parallelen Gebrauchs das ‚Haus‘ durch die ‚Familie‘ ersetzt wurde. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Lehre von der Ökonomie als Produktionslehre, die unter anderem von dem Frühaufklärer Julius Bernhard von Rohr (1688– 1742) vorangetrieben wurde, verschwanden die in den alten Hauslehren aufgeführten Pflichten aus dem ökonomischen Schrifttum, da sie nun nicht mehr für den Hauswirt zu gelten hatten, sondern für einen Christen oder vernünftigen Menschen.71 Ökonomie mutierte somit zu einer anderen Wirklichkeit und aufgrund eines zunehmenden Funktionsdenkens löst sich das tradierte Bild des Hausvaters auf. Wenn Otto von Münchhausen (1716–1774) in seinem sechsbändigem Werk „Der Hausvater“72 etwa vom „frommen Hausvater“ spricht, meint er damit den rechtschaffenen und redlichen Ökonomen. Für die hier in den Blick genommene begriffliche wie funktionale Entwicklung ist allerdings wichtiger, dass die in der traditionellen Oeconomia christiana begründete Einheit von Hausvater und Haus aufgelöst wird. Der Hausvater, der hier für eine nicht mehr existente Gesellschaftsordnung steht, differenziert sich nun in die Rollen des Familienvaters und des Gutsherrn aus. Neben diesen Veränderungen sind im Zeitalter der Aufklärung weitere – im engeren Sinne religiöse – Entwicklungen zu erkennen. Zum einen gingen die Haustafelpredigten deutlich zurück; dafür verfassten viele Theologen eine unübersehbare Flut von Schriften zur praktischen Lebensbewältigung und zum häuslichen Leben. Dieser Umstand war der Tatsache geschuldet, dass man Religion primär unter dem Aspekt der Nützlichkeit verstand wie beispielweise in der sogenannten pastoralen Volksaufklärung, die reiches Material für die Verbesserung des häuslichen Lebens73 –
70 Gestrich, Ehe (wie Anm. 64), 508. 71 Frühsorge, Begründung (wie Anm. 31), 119. 72 Otto von Münchhausen, Der Hausvater, 6. Bde. Hannover 1764–1773. 73 Franz Philipp Florin, Der Kluge Landmann, Oder: Recht gründlicher und zuverläßiger Unterricht, wie man das Hauß-Wesen nützlich anfangen, in gutem Stand erhalten […] möge. […]. Nürnberg 1713.
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oder auch der häuslichen Tugenden74 oder Frömmigkeit75 produzierte. Neben diesen konkreten Anweisungen, die auch als „Gartenbau-Katechismus für den Landmann“76 veröffentlicht wurden, blieben Predigten weiterhin zentrale meinungsbildende Medien. Zudem versuchten die sogenannten Dorfgeschichten oder Dorfutopien, wie sie beispielsweise der Zürcher reformierte Pfarrer Johannes Tobler (1732–1808) unter dem Titel „Idee von einem christlichen Dorfe“ vorlegte77, idealisierte dörfliche Sozialformen zu propagieren. Toblers „Idee“ widmet sich den „Vorgesetzten“, den „Reichen“ und „Haushaltungen“, der Schule, dem öffentlichen Gottesdienst und dem Pfarrer seines idealen Dorfes sowie ihren jeweiligen spezifischen Aufgaben. Die einzelne Haushaltung, die auch das Gesinde umfasst und als ansprechender Ort qualifiziert ist, besitzt in Analogie zur dörflichen Hierarchie mit dem Hausvater ein Leitungsamt. Ihm steht als Stellvertreterin die Hausmutter zur Seite, der die Erziehung obliegt. Ihre Aufgabenbereiche entsprechen den traditionellen Bildern, allerdings wertet Tobler die Hausmutter in ihrer sozialen Stellung deutlich auf, indem er bei wichtigen Entscheidungen Einstimmigkeit zwischen Mann und Frau fordert. Das Haus ist für Tobler nicht nur Ort der Ökonomie, sondern auch der Bildung und der gemeinsamen religiösen Praxis. Dabei nimmt Tobler zudem die soziale Verantwortung des Hauses und des ganzen Dorfes in Blick. Er spricht in diesem Zusammenhang immer noch vom „Haus“, wohingegen sich der aus Pommern stammende Aufklärer Johann Joachim Spalding (1714–1804) hinsichtlich der sozialen Verantwortung gegen die „partheyische Familiensucht“ wendet, die sich allein auf den Vorteil der eigenen Familie konzentriere.78 Bei Spalding findet sich neben dem Begriff des „Hauses“ nun auch derjenige der „Familie“, die er beisammen verwendet79 oder die Familie als Teil des Hauses versteht, wenn er beispielsweise predigt: „Und was dabey aus der Regierung
74 S. C. Dittmann, Predigten zur Beförderung häuslicher Tugenden. Königsberg 1798; F. W. Hagen, Zwei Predigten über Gegenstände der häuslichen Glückseligkeit. Nürnberg 1796. 75 Wilhelm Abraham Teller, Wilhelm Abraham Tellers Predigten von der häuslichen Frömmigkeit und dem gottesdienstlichen Gesang. 2. Aufl. Berlin 1773; Johannes Tobler, Vom guten Verhalten zu Hause, in: ders., Sämtliche Erbauungsschriften, Bd. 1. Zürich 1776, 135–143. 76 So z. B. Johann Georg Vothmann, Garten-Katechismus für Landleute. Leipzig 1783. 77 Johannes Tobler, Idee von einem christlichen Dorfe, in: ders., Erbauungsschriften (wie Anm. 75), 292–316; dazu vgl. Thomas K. Kuhn, Volksaufklärung und Dorfgeschichten im späten 18. Jahrhundert. Johannes Toblers ‚Idee von einem christlichen Dorf‘ (1766), in: Albrecht Beutel/Volker Leppin (Hrsg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen ‚Umformung des Christlichen‘. Leipzig 2004, 93–105. 78 Johann Joachim Spalding, Die Eintracht unter Angehörigen, in: Albrecht Beutel/Verena Look/Olga Söntgerath (Hrsg.), Johann Joachim Spalding: Barther Predigtbuch. Nachgelassene Manuskripte. Tübingen 2010, 161–174, hier 165 f. 79 „[…] so werden wir unfehlbar das Haus und die Familie desto glücklicher preisen […]“; Johann Joachim Spalding, Betrachtung über den großen Werth eines gottseligen Hauses, in: Malte van Spankeren/Christian Elmo Wolff (Hrsg.), Johann Joachim Spalding: Predigten größtentheils bey außerordentlichen Fällen gehalten (1775). Tübingen 2011, 335–345, hier 340.
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eines Hauses, vornehmlich aus der Bildung und Erziehung einer Familie // werden könne, das wird eine etwas ernsthafte Ueberlegung wohl gar bald entscheiden.“80 Spalding nimmt die biblische Rede vom „ganzen Haus“ (Joh 4,53) auf und spricht nun aber vom „Hausvater“ und der Familie.81 Auch mit Blick auf die Hausfrömmigkeit lassen sich bei Spalding Veränderungen erkennen, wenn er sich dagegen wehrt, diese bloß als „gewisse bestimmte Bethstunden und gemeinschaftliche Andachtsübungen“ zu verstehen. Er sieht in ihnen zwar durchaus einen religiösen Nutzen, fordert aber zum einen, dass die Hausväter und Eltern82 als religiöse Vorbilder fungieren und zum anderen im Sinne der Tugendliebe ein Leben in Rechtschaffenheit und im beständigen Verhalten führen sollen.83 Diese Form wahrer Frömmigkeit ist für Spalding die Basis für das wahre Glück der „Häuser“.84 Die bei Spalding erkennbare Kritik an einer strengen häuslichen Andachtspraxis verschärft der Zerbster Theologe Christian Friedrich Sintenis (1750–1820) beispielsweise in seinen Morallehren.85 Auch bei dem reformierten Johann Ludwig Ewald (1747–1822) finden sich in seinen „Christlichen Familienpredigten“86 sowohl die Vorstellung des Hauses als Ort wahrer Freuden87 sowie eine parallele Verwendung von „Haus“ und „Familie“.88 Ausgehend von einer strikten Unterordnung der Frau unter den Mann, der als Stellvertreter Christi89 oder Gottes90 im Haus gilt, wird das ideale Haus als Ort des christlichen Gehorsams und der Eintracht beschrieben.91 Dort erfolge die entscheidende Entwicklung und Bildung des Menschen, dort reife das „reinste Gute“ sowie die „Vorbereitung zum wahren Verhältnis gegen Gott, und zur Lebensart der zukünftigen Welt“.92 Durch
80 Johann Joachim Spalding, Predigt von der Begierde nach Vergnügungen, in: Malte van Spankeren/ Christian Elmo Wolff (Hrsg.), Johann Joachim Spalding: Neue Predigten. Zweyter Band (1784). Tübingen 2009, 106 f. 81 Ebd., 335. 82 Ebd., 341–343; hier 341. 83 Ebd., 341 f. 84 Johann Joachim Spalding, Das Glück des häuslichen Lebens. Eine Predigt, in: Malte van Spankeren/Christian Elmo Wolff (Hrsg.), Johann Joachim Spalding: Predigten größtentheils bey außerordentlichen Fällen gehalten (1775). Tübingen 2011, 210–231, 224, oder auch ähnlich 226. 85 Christian Friedrich Sintenis, Das Buch für Familien. Ein Pendant zu den Menschenfreunden. Wittenberg 1779; zur Kritik am Hausgottesdienst vgl. Christian Friedrich Sintenis, Das grössere Buch für Familien. Zweiter Theil. Leipzig 1807, 323 f. 86 Johann Ludwig Ewald, Christliche Familienpredigten für mittlere Stände mit Anmerkungen und Zusätzen. Lemgo 1784. 87 Ebd., 206. 88 Ebd., 169. 89 Ebd., 33. 90 Ebd., 177. 91 Ebd., 187 f. 92 Ebd., 243 f.
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die „Familienbindung“ werde der Mensch zudem „besser und frömmer, – menschlicher und also göttlicher“.93
6 Vom Haus zur Familie: Ausblick ins 19. Jahrhundert „Dem Wandel vom ‚ganzen Haus‘ zur Familie, der sich seit dem 18. Jahrhundert abzuzeichnen begann, aber bis zum Ende der frühen Neuzeit noch längst nicht alle Schichten erreicht hatte, kommt erhebliche Bedeutung zu.“94 Er steht in Verbindung mit vielfältigen politischen, sozialen und kulturellen Transformationsprozessen und hängt unmittelbar mit der Entstehung modernen bürgerlichen Öffentlichkeit zusammen.95 Begrifflich wird dieser Wandel ersichtlich, da ‚Haus‘ nun nicht mehr die Verwandtschaft im Allgemeinen bezeichnet, sondern – als ein spezifisch adeliger Familienbegriff – auf ein vornehmes Geschlecht bezogen wird.96 Dafür tritt im 19. Jahrhundert der Begriff der Familie als sozialer Grundbegriff einen beeindruckenden Siegeszug an, der sich in einer rasch anwachsenden Zahl von Wortverbindungen zeigt.97 In der religiösen Literatur spielte das „Haus“ als Ort der elementaren Lebensordnung aber noch lange eine zentrale Rolle. So blieben die Begriffe ‚Hausandacht‘ und der ‚Hauskirche‘ bestehen.98 Im Kontext der Erweckungsbewegungen entstanden die Rettungs- und Diakonissenhäuser. Der ‚Kirchenvater des 19. Jahrhunderts‘ Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) veröffentlichte 1820 „Predigten für den christlichen Hausstand“, die mehrere Auflagen erlebten und dazu beitragen wollten, „christliche Gottseligkeit in der Stille des häuslichen Lebens zu erwecken und zu fördern“.99 Seine Predigten zielen ferner darauf, „das Hauptgewebe unserer Lebensverhältnisse zu überschauen und sie im Spiegel des göttlichen Wortes zu betrachten“.100 Ihm geht
93 Ebd., 246. 94 Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500 bis 1800. Frankfurt am Main 1996, 192. 95 Der Begriff ‚Familie‘ besaß zur Zeit seines Aufkommens ein überaus breites Bedeutungsspektrum, das im Verlauf des späteren 18 Jahrhunderts eingeschränkt wurde. Die Begriffe ‚Familie‘ und ‚Haus‘ konnten deshalb im Sinne der oeconomia als Synonyme verwendet werden; vgl. dazu Schwab, Familie (wie Anm. 8), 269 f. 96 Ebd., 271. 97 Vgl. dazu z. B. die Einträge zu ‚Familie‘ und deren Begriffskompositionen im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3. Leipzig 1862, 1305–1309, wo sich zahlreiche Begriffe von „Familienabenteuer“ bis „Familienzwist“ finden. 98 Karl-Heinrich Bieritz, Rückkehr ins Haus? Sozialgeschichtliche und theologische Erwägungen zum Thema ‚Hauskirche‘, in: Berliner Theologische Zeitschrift 3, 1986, 111–126. 99 Friedrich Schleiermacher, Predigten über den christlichen Hausstand. Erster (allgemeiner) Theil, in: ders., Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Bd. 1: Predigten. Berlin 1873, Vorrede zur ersten Ausgabe. 100 Ebd., 5 f.
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es um die „christlichen Häuser“, die auf der Ehe gegründet und „nach der göttlichen Ordnung bestimmt [sind], die Pflanzstätten des künftigen Geschlechtes zu sein.“101 Auch in Katechismuspredigten des 19. Jahrhunderts finden sich Ansprachen über die Haustafel.102 Von großer Bedeutung war das ‚Haus‘ im 19. Jahrhundert bei dem reformierten Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Albert Bitzius (1797–1854), der unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf zahlreiche Erzählungen und Romane veröffentlichte, in denen er das christliche Haus als Kern und Modell des christlichen Staates propagierte.103 Gotthelfs Schriften zielten – durchaus vergleichbar mit den Ansätzen der Inneren Mission Johann Hinrich Wicherns (1808–1881) – auf eine Restauration und Reformation des christlichen Hauses wie der Familie, von denen er – verstanden als von Gott gegebene Ordnungen – eine umfängliche soziale und kulturelle Erneuerung erhoffte. Theologisch war ihm der Zusammenhang von väterlicher Herrschaft und brüderlichem Dienst wichtig, wie sie in der göttlichen Selbstoffenbarung durch die Menschwerdung Jesu Christi geglaubt wurde. Neben Predigten104 und Literatur wandten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch christliche Traktate der Rettung des Hauses und der Familie zu. Hier sei beispielsweise genannt die anonym erschienene Schrift „Das christliche Hauswesen gegenüber seinen Verunstaltungen durch den Zeitgeist“105, die nach den üblichen konservativ-erwecklichen zeitdiagnostischen Verwerfungen die traditionelle Rolle des Ehemanns und Hausvaters zu retten versuchte, indem dieser als „Pfleger und Helfer des Hauses“, als Vermittler des göttlichen Segens, als Priester des Hauses, als Abbild Christi qualifiziert wird und die Ehefrau ihm Gehorsam zu leisten hat.106 Der Theologe und Journalist Heinrich Wilhelm Riehl (1823–1897) geht in seinem mehrfach aufgelegten Buch „Die Familie“ breit auf Jeremias Gotthelf ein, der als „Bußprediger, welcher die Verderbniß, die über das Haus gekommen“ sei, beklagt und „immer wieder auf das zertrümmerte Heiligthum der deutschen Familie“ verwiesen habe.107 Damit meint er das christlich fundierte „ganze Haus“, das Mitte des 19. Jahrhunderts schon sichtlich an Bedeutung verloren hatte und charakterisiert
101 Ebd., 26. 102 So z. B. der bedeutende Hermannsburger Erweckungsprediger Ludwig Harms (1808–1865) mit seinen Katechismuspredigten. Hermannsburg 1872, 445–502. 103 Vgl. dazu grundlegend Werner Hahl, Jeremias Gotthelf – der ‚Dichter des Hauses‘. Die christliche Familie als literarisches Modell der Gesellschaft. Stuttgart 1994, sowie den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Band. 104 Vgl. z. B. Friedrich Ahlfeld, Der christliche Hausstand. Fünf Predigten über Epheser 6, V. 1–9. 2. Aufl. Halle 1852. 105 Das christliche Hauswesen gegenüber seinen Verunstaltungen durch den Zeitgeist, mit besonderer Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse. Eine Stimme aus der Gemeinde von einem Familienvater. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1854. 106 Ebd., 21–48. 107 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. Stuttgart 1861, 294–296. Dieses Buch erschien als Teil der vierbändigen „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik“ (1851–1869).
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Gotthelfs Werk als ein „Idyll vom deutschen Hause“, das „als Hausbuch sich einbürgere in dieser und jener Familie, namentlich auch bei deutschen Frauen“.108 Die „modernen Rettungshäuser“, die im Kontext der Erweckungsbewegungen seit dem frühen 19. Jahrhundert eröffnet wurden, vertraten pädagogisch das Familienprinzip und verstanden sich als „ganzes Haus“ mit Hausvater und Hausmutter. In solchen Rettungshäusern sollten Waisenkinder „ein Haus wiederfinden; zuerst sollen sie erzogen werden in christlicher Familiensitte, in der liebevollen Zucht des Hauses, und alsdann gebildet in allerlei nützlicher Kenntniß; zuerst soll ihnen das Haus erschlossen werden und nachher die ganze Welt.“109 Im zweiten Teil seines Werkes „Haus und Familie“ propagiert Riehl eine Wiederherstellung des ganzen Hauses und sieht darin eine zentrale nationale, soziale wie religiöse Aufgabe. Das Haus versteht er als einigendes nationales Band für Deutschland, als Identifikation stiftende Institution, die vor ausländischen Einflüssen bewahrt werden müsse.110 Abschließend entwirft er eine Vision für das 20. Jahrhundert, für das er eine Renaissance des Hauses erwartet: „Der Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts hat die verlorene hauspriesterliche Würde wieder erobert: er hat den Muth, wieder mit dem ganzen Hause zu beten, und mit dem ganzen Hause, wie in einem Aufzug, zur Kirche zu gehen.“111 Diese Hoffnungen sollten sich indes als Illusion erweisen. Immerhin blieb der Begriff des ‚Hauses‘ auch noch im 20. Jahrhundert gelegentlich in seinem alten und umfassenden Sinn in Gebrauch, wenn beispielsweise der Marburger Theologe Wilhelm Herrmann (1846–1922) in seiner Ethik erklärt, dass die Schule dem „Hause helfen“ wolle in der Erziehung der Kinder.112 Im Protestantismus avancierten im 20. Jahrhundert neben den traditionellen Pfarrhäusern die Gemeindehäuser zu neuen Zentren eines transfamiliären gemeindlichen Lebens. Im Bereich Diakonie entstanden zahlreiche evangelische Krankenhäuser. Als neueste Entwicklungen sind die sogenannten Mehrgenerationenhäuser zu nennen, die es auch in einigen evangelischen Gemeinden gibt, sowie die Diskussion über die ‚Hauskirchen‘.113
108 Ebd., IX. 109 Ebd., 131. 110 Ebd., 260. 111 Ebd., 282. 112 Wilhelm Herrmann, Ethik. 4. Aufl. Tübingen 1909, 210. 113 Bieritz, Rückkehr (wie Anm. 98).
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Literarische Anthropologie des Hauses: Individuum, Familie und Haus in der Biedermeierzeit Der Philosoph Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) beschäftigte sich in mehreren philosophisch-anthropologischen Schriften mit der Frage nach einer in der Natur des Menschen angelegten Kraft zur Gemeinschaftsbildung. Die Menschheit, so heißt es in der populären Schrift „Urbild der Menschheit“ (1811) sei ursprünglich „[e]in Wesen“1 und strebe durch die allen individuellen Gliedern innewohnende Kraft zur Gemeinschaftsbildung (‚Liebe‘) danach, sich über mehrere Zwischenstufen (‚Wesenheiten‘) zu einem menschheitlichen Organismus zu verbinden. Krause beeinflusste mit seiner Wesenlehre auch das pädagogische Denken seiner Zeit, wie sich etwa in Friedrich Fröbels (1782–1852) Werken zeigen lässt.2 Jede soziale Gemeinschaft bilde, so führt Krause in „Urbild der Menschheit“ aus, einen gemeinsamen organischen Körper mit geteilten Werten: eine Individualität für sich (aufgebaut aus Individualitäten und Gegensätzen). Eine dieser Gemeinschaftsformen stellt für Krause die Familie dar, aus deren Gliedern „[e]in organisches Wesen, ein höherer vollständiger Mensch“ hervorgehen solle. In jedem einzelnen Glied der Familie müsse, heißt es bei Krause (ähnlich wie später bei Fröbel), in je individueller Ausprägung der Geist der ganzen Familie repräsentiert sein: „Die Familie hat einen gemeinsamen Altar, gemeinsame tugendliche Sitte, gemeinsame Gerechtigkeit und Rechtspflege, gemeinsame Wissenschaft und Kunst, gemeinsame, freie, kunstreiche Geselligkeit nach innen und aussen, mit der Menschheit und mit der Natur.“3 Dieser ‚gemeinsame Altar‘ ist nicht allein ideeller Natur, sondern er erfordert eine räumliche Konkretisation. Geselligkeit und Naturumgang, in denen sich der Familiengeist ausdrücke, benötigten „eine bestimmte, jenem allseitigen gemeinschaftlichen Leben entsprechende, räumliche Sphäre“, die der Familie
1 Karl Christian Friedrich Krause, Urbild der Menschheit. Ein Versuch. 2. Aufl. Göttingen 1851 [1811], 76. 2 Ausgehend von einer Rezension, die Krause über eine Schrift Fröbels in der Zeitschrift „Isis“ publizierte, entwickelte sich ein Austausch von Briefen und Schriften: Karl Christian Friedrich Krause, Einige Bemerklungen zu Fröbel’s Abhandlung Ueber deutsche Erziehung überhaupt, und das ‚allgemeine Deutsche‘ der Erziehungsanstalt in Keilhau insbesondere, in: Isis von Oken 3, 1823, 268–277. 3 Krause, Urbild (wie Anm. 1), 87. Fröbel bezeichnet die aus der Liebe hervorgehende Familie als „Gliedganzes der Menschheit und des Alls“ und den Einzelmenschen als „ein Gliedganze[s] einer Familie“; vgl. Friedrich Fröbel, Erneuung des Lebens fordert das neue Jahr 1836, in: ders., Gesammelte pädagogische Schriften, hrsg. von Wichard Lange, Abt. 1, Bd. 2. Berlin 1863, 499–561, hier 515.
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„eigen und unverletzlich“4 sein müsse und die „Eigenthümlichkeit“ der Familie „als ein grosses wohlgegliedertes und ebenmässiges Kunstwerk“5 repräsentiere. Der Lebensraum der Familie hat so eine ideelle und anthropologische Funktion: „Haus, Hof und Garten sind jeder Familie so wesentlich nöthig, als es dem einzelnen Menschen Nahrung und Kleidung sind. Das Haus selbst ist zugleich das Werk und die Sphäre der gemeinsamen Gottinnigkeit, Tugend, Wissenschaft und Kunst der Familie; es ist ihre äusserlich kunstreich verwirklichte geistliche und leibliche und menschliche Vortrefflichkeit. Der Hof ist die Sphäre freier Regung aller Kräfte im Anschaun des Himmels, umweht und erfrischt vom belebenden Hauche der freien Natur. Und der Garten ist die Sphäre des eigensten vertrauten Umgangs der Familie mit den schaffenden Kräften der Erde.“6 Haus, Hof und Garten sind in diesem Sinn nicht allein für die soziale und ökonomische Organisation der Familie bedeutsam; sie bedingen sich vielmehr aus der Natur des Menschen selbst und sind von daher Gegenstand der Anthropologie, jener populären Erkenntnis- und Wissensformation, die sich ausgehend von der Frühaufklärung in den menschenbezogenen Wissenschaften und in der Literatur entfaltet.
1 Literarische Anthropologie des Hauses – zur Einführung Literarische Anthropologie thematisiert die Natur des Menschen als Gegenstand der Literatur respektive den Anteil der Literatur an einer Diskursgeschichte vom Menschen. Anthropologie bezeichnet in diesem Sinn allgemein das Wissen vom Menschen und von der Natur des Menschen, wie es sich in spezifischen Menschenbildern manifestiert. Es geht dabei um die Natur des Menschen als Grundlage seiner eigenen Entwicklung und seiner Stellung zu Mitmensch, Mitwelt und Kosmos. Als literarische Anthropologie können sowohl die fingierten Szenarien der Menschennatur in literarischen Texten verstanden werden als auch die Forschungsrichtung, welche sich der Analyse der diesen Szenarien zugrunde gelegten Menschenbilder und ihrer Geschichte in literarischen Texten widmet. Nicht selten werden im fiktiven Raum der literarischen Texte von tradierten und normierten Konzepten abweichende Annahmen zur menschlichen Natur erprobt. So vermochte Wolfgang Lukas zu zeigen, dass die literarische Anthropologie der Biedermeierzeit das Harmoniemodell der Klassik unterläuft und zur Herausbildung eines
4 Krause, Urbild (wie Anm. 1), 87. Krause betont im Folgenden die Bedeutung des Grundeigentums und Familieneigentums für die soziale Ordnung des Staats und der Menschheit (88). 5 Ebd. 6 Ebd., 87 f.
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neuen, spezifisch bürgerlichen Menschenbildes einen erheblichen Beitrag leistet.7 Ergänzend lässt sich zeigen, wie die biedermeierliche Brautschauerzählung oder ‚Matchmaking-Literatur‘ dieses bürgerlich-anthropologische Modell immer wieder gegen die Konkurrenz einer anderen Auffassung der Menschennatur im französischen Frühsozialismus behauptete.8 Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg werden die kaum zu unterschätzenden Erschütterungen dieses bürgerlichen Menschenbildes durch Degenerationstheorie, Soziologie/Sozialpsychologie, Vererbungsdiskurs und Alkoholismusdebatten zum mitunter geradezu verstörenden Fundament der literarischen Anthropologie und beschäftigen so unterschiedliche Autoren wie Theodor Storm, Émile Zola, Henrik Ibsen oder August Strindberg.9 Auffällig ist, dass die Frage nach der Natur des Menschen in der Literatur sehr häufig eng mit der Frage verbunden ist, wie sich der Mensch seiner Natur entsprechend zu verhalten hat, um entweder die negativen Seiten seines Menschseins bezähmen zu können oder aber das ganze Potential seiner menschlichen Natur zu Leistungen für sich selbst oder die Allgemeinheit nutzen zu können. Anthropologie und Ethik sind daher immer wieder zu einer narrativen Pädagogik verknüpft. Gerade in der Biedermeierzeit häufen sich narrative Texte, in welchen die anthropologischen Modelle und Überzeugungen fingiert und evident gemacht werden können, um bestimmte Maximen für einen ethischen Lebenswandel und ein ethisches Verhalten im sozialen Kontext als zwangsläufige Folge der Menschennatur zu inszenieren. Der bezähmte bürgerliche Mensch geht letztlich erfolgreich aus den Irrungen des Erzählverlaufs hervor und zeigt daher paradigmatisch die Notwendigkeit einer Selbsterziehung zu Sittlichkeit und Mündigkeit als Grundlage liberaler Staatswesen. Mit Foucault könnte man formulieren, dass die Literatur die Wege veranschaulicht, auf denen die „Technologien des Selbst“10 herausgebildet werden können und wie diese in begrenzten
7 Wolfgang Lukas, ‚Gezähmte Wildheit‘. Zur Rekonstruktion der literarischen Anthropologie des ‚Bürgers‘ um die Jahrhundertmitte (ca. 1840–1860), in: Achim Barsch/Peter M. Hejl (Hrsg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt am Main 2000, 335–375. 8 Christian von Zimmermann, Matchmaking-Literatur, gelingende Partnersuche und ‚conditio humana‘. Zur literarischen Anthropologie vornehmlich der Biedermeierzeit, in: Ralf Bogner u. a. (Hrsg.), Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Berlin 2011, 379–399. 9 Vgl. grundlegend: Horst Thomé, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993. 10 Als „Technologien des Selbst“ bezeichnet Foucault eine „Matrix praktischer Vernunft“, welches es dem Individuum ermöglicht, „aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.“ Vgl. Michel Foucault, Technologien des Selbst, in: ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 4, hrsg. von Daniel Defert/François Ewald. Frankfurt am Main 2005, 966–999, hier 968.
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sozialen Räumen wie Dorf, Haus und Familie in Beziehung zu konkreten Formen des Regierens gesetzt werden können. Obwohl die anthropologischen Narrationen gerade in der Biedermeierzeit – etwa bei Adalbert Stifter (1805–1868) oder Jeremias Gotthelf (1797–1854) – häufig den Menschen in seinen privaten Verhältnissen vorführen und selbst in historischen Erzählungen der privaten Dimension der Geschichte einen breiten Raum geben, hat die Forschung kaum grundsätzlich die Frage nach der Rolle des Hauses im Kontext der literarischen Anthropologie aufgeworfen. Gleichwohl zeigt sich, dass das Haus und die häusliche (patriarchale und idealerweise drei Generationen umfassende) Ordnung in den Texten selbst immer wieder eine zentrale Position einnehmen. Die Texte spielen dabei mit der Errichtung des Hauses, mit der nicht selten symbolträchtigen architektonischen Ordnung, mit der Ausdifferenzierung von Haus, Garten und Wildnis und der Abgrenzung von Drinnen und Draußen. Auch die Etablierung einer häuslichen Ordnung oder das Fehlen derselben spielt eine Rolle. Die Konzeption und Ordnung des Hauses öffnet sich mitunter allegorisch auf die Ordnung der menschlichen Verhältnisse durch Gott oder metonymisch im Sinn des Hauses als Baustein des Staatswesens. Erst in jüngerer Zeit sind Arbeiten zum literarischen Haus entstanden, welche die geschichts- und sozialwissenschaftlichen Studien zu einer Geschichte von Haus und Familie aufgreifen. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten von Nacim Ghanbari11 und Saskia Haag12, die jeweils ausgehend von Wilhelm Heinrich Riehls (1823–1897) Annahme, das Haus sei eine in germanischen Traditionen begründete Institution des engen ‚familiären‘ Zusammenhalts unter Einschluss der Großfamilie wie der Dienstangestellten13, Haus- und Familienkonzepte in der Geschichte der Literaturen deutscher Sprache seit der Mitte des 19. Jahrhunderts untersuchen. Weitgehend unberücksichtigt blieb dabei die Bedeutung fiktionaler Entwürfe von Häusern und Familien für die anthropologisch-ethischen Auseinandersetzungen um ein bürgerliches Menschenbild im Kontext der Liberalismen des 19. Jahrhunderts.14
11 Nacin Ghanbari, Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte. 1850–1926. Berlin 2011. 12 Saskia Haag, Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 2012. 13 Vgl. hierzu eingehend Ghanbari, Das Haus (wie Anm. 11), 1–4. 14 Anregungen hierzu bereits bei Ulrich Kinzel, Ethische Projekte. Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens. Humboldt, Goethe, Stifter, Raabe. Frankfurt am Main 2000.
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2 Die Etablierung der Ordnung des Hauses (Adalbert Stifter) Das Haus als allegorische Ordnung begegnet entsprechend häufig in den anthropologisch-ethischen Narrationen der Biedermeierzeit. An die Stelle einer Ordnung des ‚Hauses‘ im Sinne der Genealogie der Familie, d. h. des Geschlechts, treten teilweise Richtfeste und symbolische Hausarchitekturen. Die Literatur der Biedermeierzeit ist reich an entsprechenden Texten. Unter den vielen Beispielen, die sich etwa im Werk Adalbert Stifters finden, sei hier zunächst auf die Novelle „Brigitta“ (Journalfassung 1844, ‚Studien‘-Fassung 1847) verwiesen: auf die symbolische Ordnung von Drinnen und Draußen, in welcher durch hohe Mauern der sittliche Bereich gegen eine noch unbefriedete Wildnis (und die Wölfe) geschützt werden muss.15 Die Parkmauern weisen eine deutliche Parallele zu den sittlichen Mauern auf, welche auch die Personen um sich errichten müssen, um der die menschliche Ordnung stets bedrohenden animalen Leidenschaftlichkeit zu entgehen. Stifters Erzähltexte kreisen immer wieder um die Stiftung von Ordnungen in äußeren Räumen (Kultivierung, Hausbau) wie in der sittlichen Ordnung des Menschen selbst. Der Roman „Die Mappe meines Urgroßvaters“ (Journalfassung 1841/42, ‚Studien‘Fassung 1847, zwei weitere, unvollendete Fassungen) reflektiert in mehrerer Hinsicht die Begründung von Familie und Haus. Der Ich-Erzähler reist in seine Heimat, um der Mutter die Ehegattin vorzustellen und begibt sich in dem alten mit Gerümpel von Generationen vollgestellten Haus auf die Suche nach der Vergangenheit, eigentlich auf die Suche nach dem früh verstorbenen Vater. Dabei fällt ihm im Gang zwischen Schüttboden und Dach ein Tagebuch in die Hände, das sein Vater einst gelesen hatte und welches die Aufzeichnungen des Urgroßvaters Augustinus enthält. Das Tagebuch erzählt von seiner Liebe zur Nachbarstochter Margarita, die er nach einem emotionalen Zwischenfall, der ihn an den Rand des Selbstmords treibt, zunächst aufgeben muss, um Margarita dann im Zeichen einer entsagenden oder disziplinierten Liebe erneut zu gewinnen. Der Roman lässt sich als Geschichte der Haus- und Familiengründungen lesen. Der Arzt Augustinus, der aus Prag als studierter Mann in seine Heimat zurückkehrt, zieht dort zunächst zu seinem Vater und zwei Schwestern in die „graue[ ] Hütte meines Vaters“16, die einst dort auf einem Hügel errichtet worden sei, um in den angrenzenden Niederungen Kulturland zu schaffen. Die Hütte ist verbunden mit der Kultivierungsgeschichte des Landes, welches sich allmählich aus den Waldungen zu einer bäuerlichen Gegend entwickelt hat. Für den Arzt Augustinus ist diese Standortwahl
15 Adalbert Stifter, Brigitta, in: ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd 1/5, hrsg. von Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald/Hartmut Laufhütte. Stuttgart 1982, 409–475, hier 463. 16 Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, in: ebd., 9–234, hier 73.
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auf einer Anhöhe nicht mehr notwendig; er kann es sich leisten, sein neues Haus in den Niederungen zu errichten, die ein angenehmeres Wohnklima versprechen. Schon hier ist der Hausbau metonymisch für einen kultur- und sozialgeschichtlichen Wandlungsprozess zu verstehen, also für die allmähliche Kultivierung ehemaliger Waldregionen bis zur Entwicklung einer Wirtschafts-, Sozial- und Infrastruktur, welche die alten Waldberufe verdrängt und neben Höfen und Dorfwirtschaften zunehmend auch die Niederlassung von Handwerkern oder eben auch Landärzten beinhaltet.17 Der Hinweis des fiktionalen Tagebuchschreibers, dass dem Hausbau umfassende Planungen und Zeichnungen vorausgegangen sind, damit jedes Detail nach den eigenen Bedürfnissen eingerichtet werden kann, unterstreicht die symbolische Bedeutung des Hauses. Der für Stifter nicht untypische Hinweis, dass für den Urenkel in der Rahmenerzählung dieses Haus des Arztes Augustinus nun klein und alt erscheint und dass es angefüllt ist mit dem „Plunder“ vergangener Tage, verweist zudem darauf, dass die Begründung des Arzthauses die kommenden Generationen genauso wenig auf eine stabile Ordnung und Tradition stellt wie die Hütte der Vorfahren von Augustinus. Das Haus ist – zumal für den Ich-Erzähler, der seine Familie an anderem Ort gründet – nicht Symbol von Dauer, Ortsstabilität und Tradition; es hat seine symbolische Bedeutung nur für denjenigen, der dieses Haus und diese Hausordnung als Manifestation und Symbol der eigenen sittlichen Reifung errichtet hat. Diese selbst dem architektonisch gestalteten Raum inhärente Flüchtigkeit und Vergänglichkeit steht im deutlichen Kontrast zu konservativen Hausmodellen. Das Haus ist nicht ein Rückzugsort aus einer flüchtigen Moderne in die stabilen Strukturen bewahrter Tradition und überlieferter Moral18, sondern es ist der stets erst zu erringende Preis individuellen sittlichen Handelns; es zeugt von den sozioökonomischen Veränderungen in der Geschichte im Sinn einer Anpassung unter Wahrung der Sittlichkeit, nicht im Sinn eines Widerstandes gegen die Moderne. Die Geschichte von Augustinus‘ Hausbau zeigt dies exemplarisch, denn sein ursprünglicher Plan, dem Vater und den Schwestern ein neues Haus als gemeinsame Wohnstatt zu errichten, scheitert, da alle drei binnen eines Winters versterben. Es entstehen Leerstellen, die erst durch die Gründung einer eigenen Familie gefüllt werden können. Als Augustinus Margarita kennenlernt, ist eine erste Bauphase bereits abgeschlossen – und dies symbolisiert zugleich den Abschluss einer ersten
17 Vgl. Herwig Gottwald, Natur und Kultur. Wildnis, Wald und Park in Stifters ‚Mappe‘-Dichtungen, in: Walter Hettche/Hubert Merkel (Hrsg.), Waldbilder. Technische Zeichnungen oder Gemälde? Von der Nützlichkeit des interdisziplinären Dialogs. München 2000, 90–106. 18 In diesem Sinn bezeichnet Wilhelm Heinrich Riehl das „‚Einleben‘ langer Generationen der Familien in dieselben festgegründeten Räume“ als ein zentrales Moment des wünschenswerten „socialen Conservativismus“, und er grenzt hiervon die Wandelbarkeit der Architektur, Hausgeräte und Sitten nordamerikanischer Häuser ab. Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie. Stuttgart 1861, 239 f.
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Phase der Persönlichkeitsentwicklung, die Augustinus als einen ökonomisch, sozial und intellektuell selbstständigen Charakter ausweist. Dass diese Persönlichkeitsentwicklung freilich nicht abgeschlossen ist, zeigt die emotionale Krise, die Augustinus in den Wald (!) und nahezu in den Selbstmord treibt und die Paarbildung jedenfalls zunächst unterbricht. Die vorübergehende Trennung des Paars leitet eine Zeit der Selbstbesinnung des Arztes ein, in welcher er ein neues Verhältnis zu seinem Heilberuf findet und das von ihm errichtete Haus umbaut. Wiederum gehen Persönlichkeitsentwicklung und Hausbau parallel, wobei die konkreten Ausführungen dem eingangs zitierten Gedanken von Krause entsprechen, dass der vom Familiengeist gestaltete Raum sich als ein „Kunstwerk“ präsentiere. Der fiktive Tagebuchschreiber formuliert diesen symbolischen Charakter explizit: „So will ich denn nun Thal ob Pirling, dachte ich, über dem der traurige Himmel ist, ausbauen, und verschönern, hier will ich machen, was meinem Herzen wohl thut, hier will ich machen, was meinen Augen gefällt – die Dinge, die ich herstelle, sollen mich gleichsam lieben; ich werde mich mit dem umringen, was mir Freude macht, ich werde hier immer bleiben, und werde die Menschen lieben, die in meinem Hause sind, und werde die Thiere lieben, die mir dienen, oder die sonst bei mir erzogen werden. Dann sollen diejenigen, die, wenn sie den Namen Thal ob Pirling aussprechen, nur immer mein Haus allein dabei im Auge haben, nicht aber die Gruppe von Hütten, die früher diesen Namen trugen, noch mehr recht bekommen, wenn sie nur das Haus so benennen.“19 Die Verbindung von Hausbau und ethischer Ordnung des Hauses ist hier ebenso präsent wie in den folgenden Details die Verbindung von seelischer Entwicklung und Ausgestaltung des Hauses. Nach der Krise wird im wahrsten Sinn des Wortes aufgeräumt: Der Bauschutt der ersten Bauphase soll fortgeschafft werden. Und nach der Krise wird die innere Einrichtung des Hauses auf Harmonie und Wohlbefinden ausgerichtet: „Ich werde unverweilt die lieblichen Schnitzereien, mit denen ich die Hinterstube gegen den Garten zur Freundlichkeit und Annehmlichkeit meines Gemüthes verzieren lassen will, ins Werk geben.“20 Erneut wird das Haus als Artefakt betont, wobei hier die Ausgestaltung des Raumes mit dem Selbstbildungsprozess des Mannes zum künftigen Hausvater verbunden ist. Augustinus baut sein Haus im Geist einer zunächst entsagenden, letztlich aber die Paarbildung und Familiengründung vorbereitenden Liebe um, deren zweideutige Patronin eine heilige Margaritha ist21, welcher Augustinus nun einen Hausaltar errichtet: „In dem Sommer habe ich auch, was mir schon früher einmal in den Sinn gekommen
19 Stifter, Mappe (wie Anm. 16), 195. 20 Ebd., 196. 21 Vgl. Christian von Zimmermann, Das seltsame Paarungsverhalten auf dem Lande. Rhetorische Anthropologie in den Brautschauerzählungen von Adalbert Stifter und Jeremias Gotthelf, in: Euphorion 101, 2007, 227–253, hier 240 f.
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ist, das achteckige Eckzimmer meines Hauses wie zu einer Hauskapelle einzurichten begonnen. Ich bekam den Gedanken, daß das Bildniß der heiligen Margarita als Schutzherrin darinnen stehen müsse […].“22 Die Schutzherrin symbolisiert den neuen Geist des Hauses in einer durchaus doppeldeutigen Weise, denn sie steht zugleich für Sittlichkeit (und Hilfe in der Not) wie für Fruchtbarkeit und verweist damit auf den sittlichen Geist des Hauses ebenso wie auf den Lohn der Sittlichkeit: die Bildung einer ehelichen Gemeinschaft nach einer ersten – durch Leidenschaft bewirkten – Krise des Paars. Kurz nach der Erwähnung der Umbauten und der Schutzgöttin heißt es im Text explizit diese Arbeiten mit der sittlichen Reifung parallelisierend: „Auch mit den Menschen ist es mir anders geworden.“23 Die zweite Phase der Persönlichkeitsentwicklung bezieht sich auf eine neue Achtsamkeit für Haus, Mitmensch, Tier und Natur, die zugleich die Voraussetzung für eine erneute Annäherung an Margarita ist. Nach der Aussöhnung mit ihr findet Augustinus „Ruhe, Stille und Feierlichkeit“ in seinem Haus.24 Die Ruhe des Hauses wird zum Ausweis, dass der Mensch die aus seiner menschlichen Konstitution – aus seiner „tigerartige[n] Anlage“25 – anthropologisch herrührende Lebensaufgabe zur Selbstbesänftigung erfüllt hat. Das Haus fungiert freilich in der Folge nicht im Sinn einer prästabilisierten Ordnung, die das Gedeihen der kommenden Generationen zu sichern vermöchte. Vielmehr ist der architektonische Raum nur für die individuelle Entwicklung und Reife als Symbol tauglich. Der ethische Imperativ lautet zwar offenbar: Handle so, dass die Resultate Deines Handelns auch vor dem sittlichen Richtstuhl der Nachwelt Bestand haben und sich der gute Name Deines Hauses (für alle Zeiten) festigt! Aber gleichzeitig ist die nach dieser Maxime erreichte Leistung nicht mit Besitz und Haus tradierbar oder vererbbar – wie ja auch die Rahmenerzählung deutlich macht: Alle Dinge der Gegenwart werden zum Plunder der Zukunft. Der Geist des Hauses – niedergelegt im anthropologischen Gehalt von Augustinus‘ Selbstaufzeichnungen – freilich kann sich durch das Gerümpel und den Plunder der Zeiten hinweg übertragen und für diejenigen, die selbst eine Familie gründen – wie der Ich-Erzähler im Rahmen des Romans –, zum Leitstern werden.
22 Stifter, Mappe (wie Anm. 16), 198. 23 Ebd., 198. 24 Ebd., 231. 25 Nach einem vielfach in der Stifterforschung zitierten Satz aus der Erzählung „Zuversicht“. Vgl. Adalbert Stifter, Zuversicht, in: ders., Werke und Briefe (wie Anm. 15), Bd. 3/1. Stuttgart 2002, 83–91, hier 86 f.
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3 Die Gefährdung der Ordnung des Hauses (Jeremias Gotthelf) Auch in den Werken des Schweizer Pfarrers und volkspädagogischen Schriftstellers Jeremias Gotthelf (1797–1854) werden die Anlage und säuberliche Ordnung des Hauses zum Ausweis der inneren Konstitution seiner Bewohner, und die Gründung eines eigenen Hausstandes ist in den Romanen „Wie Uli, der Knecht, glücklich wird“ (1841) und „Uli, der Pächter“ (1849) unmittelbar an die sittliche Reife Ulis gebunden, der sich durch landwirtschaftliches Geschick und umsichtige Führung der Hofgemeinschaft allmählich zum Pächter des Hofs hocharbeitet. Gleichwohl ist die Konzeption des Hauses und besonders des Hofs von größerer sozialer Komplexität, als dies bei Stifter der Fall ist. Während Stifter die individuellen Prozesse in seinen Texten so weit in den Vordergrund schiebt, dass er mit dem Kunstgriff des Todes der Angehörigen die Vereinzelung seines Helden wie bei Augustinus mitunter gewaltsam zuspitzt, besteht die individuelle Reifung der Helden bei Gotthelf nicht zuletzt in der Wahrnehmung sozialer Verantwortung für Haus und Hof sowie für die Landarmen, die den Hof in der Hoffnung auf ein Almosen aufsuchen: „Ein großes Bauernhaus, welches seit hundert und mehr Jahren im Besitz der gleichen Familie war […], ist in einer Gegend fast was das Herz im Leibe; drein und draus strömt das Blut, trägt Leben und Wärme in alle Glieder, ist, was auf hoher Weide eine vielhundertjährige Schirmtanne den Kühen, unter welche sie sich flüchten, wenn es draußen nicht gut ist, wenn die Sonne zu heiß scheinet, wenn es hageln will oder sonst was im Anzuge ist, was die Kühe nicht lieben; […]. Da liest man die Strohhalme zusammen und zählt die Almosen nicht, da findet man die Hände, welche nie lässig sind im Schaffen und im Geben, denen zur Arbeit nie die Kraft ausgeht und nie die Gabe für den Bedrängten.“26 Für Uli und Vreneli, die als Pächterpaar den Hof des Bauern übernehmen, besteht hier die Aufgabe dezidiert darin, auf der Basis der eigenen bereits erlangten sittlichen Reife auch den Geist des Hofs fortzuführen und selbst zu prägen. Auch in der zeitlichen Perspektive ist die Ordnung des Hauses an andere Bedingungen geknüpft als bei Stifters einsamen Helden. Das Band der Generationen besteht bei Stifter (auch jenseits der biologischen Generationenfolge) vornehmlich auf der Ebene des Menschlichen in der Funktion der vorangegangenen Generationen, als Leitstern für die notwendigen (?) Selbstbezähmungsprozesse zu dienen. Bei Gotthelf ist der Übergang von einer Generation zur nächsten (auch jenseits der biologischen Generationenfolge) eine Krisensituation des Hauses, in der eine Übernahme der Tradition nicht gesichert ist, sondern die sittliche und ökonomische Funktion des Hofs für das ‚ganze Haus‘ und sein Umfeld neu erarbeitet werden muss.
26 Jeremias Gotthelf, Uli der Pächter, in: ders., Sämtliche Werke in 24 Bänden [und 18 Ergänzungsbänden], Bd. 11, hrsg. von Rudolf Hunziker/Hans Bloesch. München 1921, 24.
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Der Fokus der Texte von Gotthelf liegt sehr häufig auf den Krisen des Hauses und deren Überwindung. Als Krisen erscheinen unterschiedliche Störungen der Ordnung des Hauses, die jeweils Auswirkungen auf dessen gesamtes soziales Gefüge haben. Besonders deutlich sind die Krisen des Hauses im Roman „Geld und Geist oder Die Versöhnung“ (3 Teile, 1842–1844) dargestellt. Die Krisen bestehen hier in einer besonderen ökonomischen Belastung, welche zum gegenseitigen Misstrauen zwischen dem Bauernpaar Christen und Änneli führt, sowie in den Heiratsabsichten des erbberechtigten jüngsten Sohns Resli, welche die Frage nach der Versorgung von Eltern und Geschwistern aufruft. Jedes Ereignis, welches ein einzelnes Familienmitglied bewegt, und jede Verhaltensänderung eines einzelnen Familienmitgliedes haben stets Auswirkung auf das ganze Haus. Aber auch die Hausgewohnheiten prägen, wie Pierre Cimaz feststellt, die Individuen: „Die Figuren von ‚Geld und Geist‘ lassen sich nicht als reine Individuen verstehen, sondern als Repräsentanten ihres Hauses und seiner Geschichte. Die Eingliederung ihres Daseins in das Werden der Familiengemeinschaft ist für alle eine klare Tatsache, die ihr Verhalten bestimmt.“27 Cimaz betont, dass der „Hausbrauch“ und der „Hausgeist“ im Roman einen ebensolchen Einfluss auf den Handlungsverlauf nehmen wie die einzelnen Figuren. In der Konzeption der beiden diametral entgegengesetzten Höfe Liebiwyl und Dorngrüt wird die polare Anlage der Hausgebräuche und Hausgeister soweit geführt, dass es geradezu unwahrscheinlich erscheint, dass Anne Mareili vom Dorngrüt überhaupt zu einer ernsthaften Heiratskandidatin des Resli von Liebiwyl werden kann und beide schließlich die besseren Liebiwyler Traditionen fortführen werden; der Kunstgriff einer Erziehung durch die Großmutter muss hier aushelfen, um diese Ausnahmeentwicklung von Anne Mareili mit der von Cimaz konstatierten Grundregel des Romans zu harmonisieren: „In ‚Geld und Geist‘ formt und gestaltet das Haus auf Gedeih und Verderb das Wesen der Individuen.“28 Im Roman stehen sich mit Dorngrüt und Liebiwyl vor allem Egoismus und Gemeinschaftsgeist gegenüber, wobei die beiden Pole mit spezifischen Liebeskonzeptionen versehen werden. Dem Dorngrüt-Egoismus entspricht die Auffassung von der Ehe als ein Vertragsabschluss zwischen den Hausvätern der Höfe, wobei der Wunschehemann aus der Sicht des Vaters ein alter Bauer ist, der zwar moralisch ein fragwürdiges Leben führt, aber seiner jungen Frau ein gutes Erbe hinterlassen wird – das letztlich den männlichen Familienangehörigen der Braut zugutekommen soll. Dem Gemeinschaftsgeist des Hofes Liebiwyl – der an den ‚gemeinsamen Altar‘ der Familie in den eingangs zitierten Ausführungen von Krause erinnert – soll, nach der konzeptionellen Anlage des Romans, die Liebesheirat entsprechen, woraus sich freilich eine narrativ folgenreiche Geschichte der Abwägung von individuellen und gemeinschaftlichen Interessen ergibt, da im Roman nun die Vermittelbarkeit von individuellem
27 Pierre Cimaz, Jeremias Gotthelf (1797–1854). Der Romancier und seine Zeit. Tübingen 1998, 501. 28 Ebd., 502.
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Glück (Resli) und Versorgungsansprüchen der Familie demonstriert werden muss. Der Roman bringt aus der Perspektive der Familienmitglieder auch die möglichen Konflikte und sozialen Probleme zur Sprache und zeigt die Notwendigkeit für alle Beteiligten, das individuelle Glück mit den Interessen der Gemeinschaft zu harmonisieren. In dieser psychologisch geschickten und geradezu ‚weisen‘ Durchführung der Konflikte erweist es sich als durchwegs anspruchsvolle Aufgabe, in einem durch äußere Einflüsse und den Wandel des Lebens beweglichen Gefüge des Hauses die sittliche Ordnung gemeinschaftlich immer wieder neu herzustellen. Partnerwahl und Eheschließung sind aus der Perspektive des Hauses Krisensituationen, welche den Weg für das künftige Schicksal der Hausgemeinschaft legen. Das zeigen neben „Geld und Geist“ auch die weiteren ‚Matchmaking-Erzählungen‘29 Gotthelfs wie „Michels Brautschau“ und andere mehr. Weitere Krisensituationen sind in anderen Erzähltexten gestaltet. Sie reichen vom Alkoholismus des Hausvaters („Dursli, der Brannteweinsäufer“) über veränderte ökonomische Rahmenbedingungen (wie die Einführung des Käsereiwesens in „Die Käserei in der Vehfreude“) bis hin zu den vielfältig thematisierten Erbfragen.
4 Pluralität der Hausordnungen und liberaler Staat In Gotthelfs Roman „Geld und Geist“ gibt es einige explizite Einlassungen zur Funktion des Hauses. Schon Karl Fehr hat in einem kleinen Beitrag die zentralen Aussagen gesammelt und die Dimensionen des Haus-Begriffs bei Gotthelf umrissen.30 Fehr betont, dass dem Haus bei Gotthelf zum einen die weite Bedeutung als Begriff für alle diejenigen, die unter einem Dach oder auf einem Hof wohnen, zukomme. In einer der im Roman zitierten Predigten, bei denen es sich mit großer Sicherheit um tatsächlich von Gotthelf als Lützelflüher Pfarrer gehaltene Predigten handeln dürfte31, führt der Romanpfarrer aus: „Daß unter Haus die Familienglieder, welche in einem Gebäude wohnen, zu verstehen sind, sowie unter Kirche nicht bloß der Tempel, sondern alle, welche sich darin versammeln, das brauche ich wohl nicht zu bemerken. Das Haus ist der erste Tempel Gottes gewesen, der Hausvater der erste Priester […].“32 Karl Fehr
29 Zur Matchmaking-Erzählung vgl. von Zimmermann, Matchmaking-Literatur (wie Anm. 8). 30 Karl Fehr, ‚Haus‘ bei Gotthelf, in: ders., Jeremias Gotthelf. Poet und Prophet – Erzähler und Erzieher. Zu Sprache, dichterischer Kunst und Gehalt in seinen Schriften. Bern 1986, 135–138. 31 Dies belegt Manuela Heiniger aus den Predigtnotizen des Lützelflüher Pfarrers Albert Bitzius: Manuela Heiniger, Bitzius‘ Predigten und sein Notizbuch. Eine Fundgrube für Gotthelfs Erzählwerk, in: Marianne Derron/Christian von Zimmermann (Hrsg.), Jeremias Gotthelf. Neue Studien zu Leben und Werk. Hildesheim 2014, 135–150. 32 Jeremias Gotthelf, Geld und Geist oder Die Versöhnung, in: ders., Sämtliche Werke (wie Anm. 26), Bd. 7, 1940, 358.
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schreibt dem Haus bei Gotthelf entsprechend eine „metaphysische Dimension“ zu, die an die traditionelle Rolle des Hausvaters und der Hausmutter, Letztere von Gotthelf wiederholt als Priesterin des Hauses bezeichnet33, anknüpft. Wenn im Roman das Haus als „der Spiegel euerer selbst, eueres Inwendigen“34 bezeichnet wird, so ist hinter dem vordergründigen Sinn – das reinliche Haus repräsentiert die Sittlichkeit seiner Bewohner – diese metaphysische Dimension (der ‚Altar‘ der Familie) stets mit zu bedenken, welche der Roman „Geld und Geist“ als eine Vermittlung zwischen Liebestheologie und praktischer Ökonomie vorführt. Dem autoritären und egoistischen Hausvater des Dorngrüthofs steht die komplexe Liebesharmonie des Liebiwylhofs gegenüber, die geprägt ist vom guten Geist der Hausmutter Änneli. Der sich demütig in die Ordnung Gottes fügende Mensch begrenzt hier seinen Anspruch auf die Führung der Nächsten durch ein umfassend verstandenes christliches Liebesgebot. Schon Karl Fehr betont: „Das Haus und seine demokratische Ordnung, die Gemeinde, der Staat, alles steht unter der alles umfassenden ‚auctoritas Gottes‘. Der Mensch aber soll grundsätzlich ‚antiautoritär‘ sein; alle seine Entscheide sollen bestimmt sein von Selbsthingabe und verstehender Liebe.“35 Der Begriff ‚demokratisch‘ erscheint problematisch, denn tatsächlich ist der ideale Hausstand eher einer der im Geist von Demut und Liebe und durch das Vorbild des Bauernpaars ‚geführt‘ wird;36 allerdings sind dabei die individuellen Interessen der Einzelnen zu wahren. Die von Ernest Hess-Lüttich in Bezugnahme auf Werner Hahl formulierte Polemik, Gotthelf liefere in seinen Romanen „ein Dokument konservativer Propaganda für die Restauration der ‚Familie‘ als Kernzelle christlicher Ordnung und Ökonomie“37, verkennt umgekehrt den genuin liberalen Gehalt dieses Modells. Die bekannte – von Gotthelf freilich nicht gehaltene – ‚Rede‘ „Eines Schweizers Wort an den Schweizerischen Schützenverein“ (1842) liefert in diesem Sinn ein für Festtagsreden häufig gebrauchtes und mitunter missbrauchtes Zitat: „Im Hause muß beginnen, was leuchten soll im Vaterlande; aus dem Hause stammt die öffentliche Tugend, und wer kein treuer Hausvater ist, dem fehlet des alten Schweizers Art und Weise“.38 Das Funktionieren der christlichen Hausgemeinschaften ist für Gotthelf die
33 Vgl. etwa ebd., 310. 34 Ebd., 365. 35 Fehr, Haus bei Gotthelf (wie Anm. 30), 137. 36 Der Erzähler betont die Führung des Hofs durch Liebe und Achtung und wendet sich explizit gegen autoritäre Strukturen. Vgl. Gotthelf, Geld und Geist (wie Anm. 32), 263. 37 Ernest W. B. Hess-Lüttich, Dialog und Didaxe in Gotthelfs ‚Uli‘-Romanen. Mit einem Nachwort zur Mediendebatte, in: Romey Sabelius (Hrsg.), Neue Perspektiven zur deutschsprachigen Literatur der Schweiz. Amsterdam 1997, 53–72, hier 58. Vgl. auch Werner Hahl, Jeremias Gotthelf – der ‚Dichter des Hauses‘. Stuttgart 1993. 38 Jeremias Gotthelf, Eines Schweizers Wort an den Schweizerischen Schützenverein. Manifest der schweizerischen Scharfschützen-Eidgenossenschaft, in: ders., Sämtliche Werke (wie Anm. 26), Bd. 15, 1925, 269–332, hier 301.
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Basis für ein Funktionieren des Staatswesens. Das gilt auf mehreren Ebenen: Im Haus wird die Erziehung zur Mündigkeit geleistet, die Voraussetzung für die Teilhabe am liberalen Staat ist.39 Im Haus werden die sittlichen und ökonomischen Grundlagen des Staats gesichert, und der ökonomisch unabhängige Hausvater ist zugleich der Repräsentant des Hauses auf der Ebene der Gemeinde. In diesem Sinn heisst es bei dem in der Schweiz wirkenden Volkspädagogen Heinrich Zschokke (1771–1848), der mit seinen Periodika und Erzähltexten über Jahrzehnte den schweizerischen Volksschriftenmarkt dominierte: „Das Gesetz aller Länder gibt dem Hausvater, der als Fürst unter den seinen stehen soll, höhere Rechte und höhere Pflichten. Er handelt noch jetzt als Stellvertreter der seinigen; ist der Verheidiger ihrer Rechtsame; hat von ihnen, als Ernährer und Versorger, Gehorsam zu fordern; er steht unter den Bürgern des Staates in Verehrung, und hat in freien Ländern seine Stimme zur Gesetzgebung und Ernennung der Obrigkeiten.“40 Hierin ist auch die Forderung der konstitutionellen Liberalen überhaupt begründet, dass das Wahlrecht nur den ökonomisch unabhängigen und gebildeten Hausvorständen zukommen solle.41 Dieser in seinem Kern liberale Begriff des Hauses war in der sog. Regenerationszeit nach 1830 – wie Gotthelf sehr wohl wusste – zwei Gegnerschaften ausgesetzt: dem demokratischen bzw. radikalen ebenso wie dem autoritärrestaurativen Staatsmodell. Gegen die Utopie unabhängiger Hausstände, die in ihrer Gesamtheit den Staat bilden, polemisieren sowohl der Restaurationstheoretiker Carl Ludwig von Haller (1768–1854)42 als auch die radikalliberalen Kräfte, die auf eine poli-
39 Vgl. Manuela Heiniger, Der mündige Bürger im liberalen Staat. Politische Anthropologie in Jeremias Gotthelfs ‚Bildern und Sagen aus der Schweiz‘. Diss. phil. Bern 2012. (Für den Druck in Vorbereitung.) 40 Heinrich Zschokke, Nr. 63: Der Hausvater, in: ders., Familien-Andachtsbuch zum Gebrauche der häuslichen Erbauung. Zusammengezogen aus den ‚Stunden der Andacht‘. 3. Aufl. Aarau 1865, 470– 478, hier 470. 41 Die Bernische Verfassung der Regenerationszeit band das Wahlrecht an die Mitgliedschaft in der zuständigen Burgergemeinde oder an den Nachweis finanzieller Unabhängigkeit (durch Grundeigentum oder einen hohen zu zahlenden Mietzins) sowie an die Voraussetzung, seit dem 18. Lebensjahre keine Sozialleistung ohne nachherige Rückerstattung bezogen zu haben. Vgl. Verfassung für die Republik Bern [vom 6. Juli 1831], in: Gesetze, Dekrete und Verordnungen der Republik Bern, Bd. 1 (1833 [für 1831]), §§ 30–32. 42 „So gebietet zwar der Vater über seine Kinder, der Herr über seine Diener, aber beyde dienen oft wieder einem höheren Herrn; der Anführer herrscht über seine Begleiter, aber er ist selbst wieder den Befehlen desjenigen unterworfen, der die Truppe angeworben hat und bezahlt; der Hausvater regiert über seine Haussaßen, aber das Haus steht vielleicht auf dem Grund eines anderen; von dem Landeigenthümer hangen schon viel mehrere Menschen ab, aber er kann das Land nur unter gewißen Verbindlichkeiten von einem dritten empfangen haben, durch Dienstverträge selbst abhängig seyn u. s. w. Diese Verkettung und Unterordnung der menschlichen Verhältniße muß jedoch bey irgend einem ganz freyen aufhören, der weiter niemanden dient, keinen Orden über sich hat. Wo sich nun dieser freye findet, da ist das [sic!] Verband geschlossen, der ‚Staat‘ (das selbstständige Wesen) vollendet, der Fürst, die höchste Gewalt, nicht durch fremden Auftrag, sondern von der Natur selbst
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tische Gleichberechtigung aller männlichen Staatsbürger zielen, gleichgültig ob diese ökonomisch unabhängig sind oder nicht. Um die Funktion des Hauses in theologischer wie staatstheoretischer Hinsicht besser fassen zu können, ist ein Seitenblick auf Friedrich Daniel Schleiermacher (1768–1834) sinnvoll, der in mehr als einer Hinsicht für Gotthelfs theologisches Denken prägend gewesen ist und in vielen Punkten vergleichbare Gesellschaftskonzepte formuliert hat. Schleiermacher geht davon aus, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen der Organisation des Staats und derjenigen des Hauses gibt: „Während der Hausvater jedes Kind gemäß dessen Individualität behandelt, muss umgekehrt der Staat alle Bürger gleich behandeln und muss der Gesetz gewordene Wille für alle derselbe sein.“43 Haus und Familie erscheinen als schützenswerte Bereiche, deren „Heiligkeit“ vom Staat gewährleistet werden müsse.44 Ein direkter Zugriff des Staats auf die Individuen ist nicht wünschenswert, da der Staat individuelle Verhältnisse nicht berücksichtigen kann. Ganz in diesem Sinn sind Schleiermachers Vorbehalte gegen eine staatlich organisierte Schulbildung zu verstehen.45 Bei Schleiermacher, Krause und auch bei Fröbel steht die Familie an der Schnittstelle zwischen einer teils emphatisch beschriebenen Individualität des Menschen46 und seiner Integration in eine Gemeinschaft, die einerseits auf der starken Individualität ihrer Glieder beruht, andererseits aber eine quantitativ und qualitativ höhere Ordnung darstellen soll. Dieses Spanungsverhältnis führt bei Schleiermacher und Fröbel mitunter zu staatskritischen Bemerkungen oder eben zu einer im Kern liberalen Position, welche die höhere Organisationsform aus der freien sittlichen Entfaltung der niederen ableitet – und Erziehung, Haus und Familie auch gegen staatliche Ordnung verteidigt. Gotthelfs Erzähltexte leben gerade von diesem Moment: vom individuellen Austarieren der Bedürfnisse der einzelnen unter dem gemeinsamen Vorzeichen einer Liebestheologie – und sie führen die Krisenfaktoren Egoismus und Autoritätsmissbrauch ebenso vor wie die Störungen des Hauses durch nachbarlichen Neid, Armenbegehr-
gegeben.“ (Carl Ludwig von Haller, Handbuch der allgemeinen Staatenkunde, des darauf gegründeten Staatsrechts und der allgemeinen Staatsklugkeit nach den Gesetzen der Natur. Winterthur 1808, 40.). 43 Miriam Rose, Schleiermachers Staatslehre. Tübingen 2011, 220. 44 Vgl. über das „Spannungsverhältnis zwischen Staat und Privatgesellschaft“: Friedrich Schleiermacher, Die Lehre vom Staat. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hrsg. von Chr. A. Brandis. Berlin 1845, 75 f. 45 Vgl. Brigitta Fuchs, Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher, in: Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hrsg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006. Berlin 2008, 475–494. 46 „In der Familie und in der Freundschaft geboren, in ihnen erzogen und gehalten, vollendet sich jeder Mensch als sein eigenes Kunstwerk in lebenvoller Eigenthümlichkeit.“ Vgl. Krause, Urbild (wie Anm. 1), 95. Die ausgeprägte Individualität bildet für Krause zugleich die Voraussetzung für Achtung und Respekt gegenüber fremder „Eigenthümlichkeit“ (ebd., 95 f.). Gemeinschaftsbildung fördere die Entwicklung der Individualitäten (ebd., 142).
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lichkeit, durch den ‚Zeitgeist‘, die historischen Wandlungsprozesse, Misswirtschaft oder Sittenverfall und Alkoholismus. Dies wäre im Detail zu zeigen und im Hinblick auf Gotthelfs Widerstand gegen eine staatliche Fürsorgepolitik47 zu analysieren. An dieser Stelle soll ein anderer – ebenfalls liberaler – Aspekt dieses Hauskonzepts noch angefügt werden: Obschon die Grundlage für die ideale Hausgemeinschaft in einer christlichen Anthropologie und Liebestheologie zu finden ist, bedeutet dies ebenso wie bei Krause nicht, dass die ideale Hausordnung in einer Uniformität der Hausstände resultieren würde. Dem liberalen Staatskonzept der geschützten Sphären von Haus und Familie folgend, sind individuelle Sitten und Gebräuche, wie sie sich in den Höfen und Familien herausbilden („Hausfarbe“)48, zu respektieren. Auch dies wird im Roman „Geld und Geist“ formuliert. Ganz praktisch wirkt sich das Problem unterschiedlicher Haussitten bei dem Wechsel der Arbeitsstelle durch Knechte und Mägde oder aber beim Eintritt einer jungen Bäuerin durch Heirat in einen neuen Hausstand aus. Gotthelf ist nicht der einzige Autor, der eine solche Konzeption des Hauses vertritt, die bei ihm sowohl in der christlichen Anthropologie und Liebestheologie als auch in liberal-republikanischen Überzeugungen wurzelt. In ganz anderen Zusammenhängen findet sich eine ähnliche Position zur Republik der Hausväter bei dem österreichisch-amerikanisch-schweizerischen Autor Charles Sealsfield (Karl Postl, 1793–1864). Sealsfields Romanheld Ralph Doughby feiert den Uncle Sam als wackeren Biedermann und Amerika als „unsere eigene Besitzung, unsere eigene Pflanzung, auf die wir mit dem Stolze, mit der Vorliebe eines Hausvaters, der seinen Haushalt gedeihen sieht, der seine Bäume selbst gepflanzt, seine Saaten selbst ausgestreut – schauen.“49 Zudem: „Es ist unsere eigene Besitzung, und deshalb lieben wir sie gerade so eigenthümlich, wie ein wackerer Hausvater, der auf sein schlichtes Haus und Hof, die er selbst erbaut, stolz ist, als der reiche Nachbar auf seinen prächtigen Landsitz, in welchem er blos zur Miethe wohnt.“50 Das Bild der Republik als Haus und die Hausvatermetaphorik für die Konzeption liberaler Staatswesen lassen sich zwischen Amerika und der Schweiz austauschen. Das ideale Amerika ist für Sealsfield – indes unter Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten – das Amerika der sich
47 Vgl. hierzu Barbara Mahlmann-Bauer, Die Berner Presse und Albert Bitzius, in: Jeremias Gotthelf. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. von dies./Christian von Zimmermann. Hildesheim 2012 ff., Bd. F1.3 (Politische Publizistik 1828–1854, Bd. 3. Kommentar 1841–1854), 1377–1551, hier 1539–1545. 48 Gotthelf, Geld und Geist (wie Anm. 32), S. 200. 49 Charles Sealsfield, Ralph Doughby’s Esq. Brautfahrt, hrsg. von Rolf Vollmann. Mit einem Essay von W. G. Sebald. Frankfurt am Main 2006, 77. 50 Ebd., 78.
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selbst regierenden Farmer und Landstädte.51 Vor allem die Farmer bilden für ihn „das Rückgrat der republikanischen Ordnung“.52 Zentrales Element einer solchen (alt)liberalen Konzeption ist die Betonung der Eigentümlichkeit der Individuen, der Einzelfamilien und der Haussitten. Daraus muss sich ein Toleranzmodell entwickeln, welches aus der Erkenntnis eigener Alterität zum Respekt des Anderen überleitet. In Bezug auf den Hausvater hieße dies: Herr im eigenen Haus sein zu können, setzt voraus, dass das Hausvaterrecht eines jeden Hausvaters anerkannt und geschützt wird. Das produziert aber auch multiple Grenzen zwischen eigenen und fremden Ordnungen, die nur durch allgemeine ethische Grundlagen geheilt werden können. Wo das Fremde als grundsätzlich eigenständig anerkannt wird, werden Grenzüberschreitungen zum Abenteuer – nicht nur für die Braut, die aus ihrem Herkunftshof nun als Bäuerin in eine neue Ordnung eintritt. Das fremde Haus mit seinen anderen Sitten kann zum unheimlichen Ort des Märchens werden, wie sich gut anhand der Literaturmärchen Wilhelm Hauffs (1802–1827) zeigen ließe, in dessen Märchen „Zwerg Nase“ oder „Der kleine Muck“ die Verwandlungen der Figuren, ihrer Schicksale und Leiden immer wieder mit dem Überschreiten von Hausgrenzen verbunden sind.
5 Das Unheimliche im eigenen Haus Könnte man das unheimliche fremde Haus als eine Konsequenz liberaler Hausvaterschaft auffassen, so stellt das Unheimliche im eigenen Haus die anthropologische Grundlage der Ordnung der Häuser auf die Probe und zunehmend in Frage. Bedeutsam sind die vielzähligen Narrationen, welche die nahe Räumlichkeit, das Vertraute und Selbstverständliche unterlaufen, indem sie auf die Gegenwart des unbewältigten Irrationalen verweisen. Hier hat das Unheimliche einen Ort im Sinn eines Verdrängten, das sich nicht verdrängen lässt.53 Dass das Unheimliche in diesem Sinn in das Haus eindringt, lässt sich ebenfalls in der Literatur der Biedermeierzeit beobachten, am eindrücklichsten wohl an
51 Vgl. Wynfried Kriegleder, Eine ‚Republik, wie sie seyn soll, nämlich die der Estados Unidos‘. Charles Sealsfileds ‚Herrenvolk democracy‘, in: Johann Dovořák (Hrsg.), Radikalismus, demokratische Strömungen und die Moderne in der österreichischen Literatur. Frankfurt am Main 2003, 51–70. 52 Volker Depkat, Der Ort der USA in vormärzlichen Wissenshorizonten. Erkenntnisinteressen in Charles Sealsfields Bericht ‚Die Vereinigten Staaten von Nordamerika‘ (1827), in: Alexander Ritter (Hrsg.), Charles Sealsfield. Lehrjahre eines Romanciers 1808–1829. Vom spätjosefinischen Prag ins demokratische Amerika. Wien 2007, 13–35, 27. 53 Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Imago. Zs. für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5, 1919, 297–324, hier 318. Vgl. auch Marianne Leuzinger-Bohleber/Dagmar von Hoff, Travestie des Unheimlichen, in: Edith Geus-Mertens (Hrsg.), Eine Psychoanalyse für das 21. Jahrhundert. Wolfgang Mertens zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2007, 99–113.
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einer hochkanonischen Novelle aus der Feder von Jeremias Gotthelf: „Die schwarze Spinne“ (1842).54 Gotthelfs Novelle vollzieht die Verlagerung des (Un)Heimlichen in das eigene Haus geradezu paradigmatisch in der Anlage seiner Novelle, die auf drei Zeitstufen angesiedelt ist. Auf der ältesten Zeitstufe erscheint das Unheimliche noch im Zusammenhang mit einer äußeren Repressionssituation, als die Bauern durch die tyrannischen Deutschritterherren in den Teufelspakt getrieben werden und sich die strafende Spinnenplage gegen das ganze gottvergessene Land richtet. In der jüngeren zweiten Binnenerzählung ist es dagegen die Auflösung der sittlichen Verhältnisse der Hofgemeinschaft (symbolisiert in der Aufhebung der Hausgemeinschaft zwischen Bauersfamilie und Dienstleuten), welche zur Wiederkehr der Spinnenplage führt. In der Rahmenerzählung ist das Unheimliche ganz auf den Raum der engeren Verwandtschaft reduziert: Der Großvater erzählt im Familienkreis anlässlich der Taufe eines Enkelkindes von den Spinnenplagen, da die Frage aufkam, warum im Haus ein alter schwarzer Balken verbaut worden sei. In diesem Balken haust das Unheimliche: die Spinne, und wartet auf gottlose Zeiten, um wieder hervorzubrechen. Sittlichkeit, Bezähmung der Leidenschaftsnatur, Demut werden als ordnungsstiftende Kräfte etabliert, welche das Unheimliche und Irrationale als Basis der höheren Ordnung erkennbar werden lassen und es zugleich ‚domestizieren‘, indem das Bewusstsein für das die Ordnung potentiell bedrohende Unheimliche zum sittlichen Handlungsmotiv wird.55 Die Zeitachse der Erzählung offenbart dabei zugleich die zentralen Themen von Freiheit und Mündigkeit.56 Sittliches Handeln ist nur in Freiheit möglich; um diese Freiheit aber zum Wohl Aller wahrzunehmen, bedarf es einer sittlichen Mündigkeit, ohne welche die animalischen Kräfte des Menschen als Unheimliches im eigenen Haus sich offenbaren. Für Gotthelf sind Ehe, Familie und Haus die in erster Linie verantwortlichen Institutionen, um den einzelnen Menschen auf dem Weg der Leidenschaftsbezähmung zu leiten.57 Nicht zuletzt wohl unter dem Eindruck der Lektüre von Jeremias Gotthelfs Romanen formuliert Riehl seine bekannten Thesen von der Ordnungsinstitution Haus, die er in fragwürdiger Weise als historisch gewachsene germanische Institution ansieht. Anders als Riehl betont Gotthelf aber das durchaus Moderne des Hauses,
54 Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne, in: ders., Sämtliche Werke (wie Anm. 26), Bd. 17, 1936, 5–97. 55 Vgl. auch Esther Kilchmann, Verwerfungen in der Einheit. Geschichten von Nation und Familie um 1840. Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, Jeremias Gotthelf, Georg Gottfried Gervinus, Friedrich Schlegel. München 2009, 141 f. 56 Vgl. Christian von Zimmermann, Der Teufel der Unfreien und die der Freien. Gotthelfs paränetische Erzählung ‚Die schwarze Spinne‘ (1842) im Kontext eines christlichen Republikanismus, in: Barbara Mahlmann-Bauer/Christian von Zimmermann/Sara Zwahlen (Hrsg.), Jeremias Gotthelf, der Querdenker und Zeitkritiker. Eine Vortragsreihe aus Anlass des 150. Todestags Jeremias Gotthelfs. Bern 2006, 75–104 57 Vgl. von Zimmermann, Seltsames Paarungsverhalten (wie Anm. 21).
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welches bei ihm gerade nicht als eine rückwärtsgewandte Utopie erscheint, sondern als adäquate organisatorische Basiseinheit republikanischer Staatswesen. Genauso wie Riehl sieht Gotthelf freilich in der radikalliberalen Betonung des Individuums eine Gefahr für die sittliche Ordnung der Gesellschaft, da sie den Egoismus und den Kampf aller gegen alle befördere, also die negativen Anlagen der menschlichen Natur (Begierden und Leidenschaften) freisetze.
6 Fazit Das Haus erweist sich auf mehreren Ebenen als zentrales Motiv der literarischen Anthropologie der Biedermeierzeit. Als architektonische Ordnung symbolisiert es den sittlichen Reifungsprozess der Individuen (wie etwa bei Stifter) respektive die austarierte sittliche Ordnung der Hausgemeinschaft. Das Haus kennt sowohl Räume, in welchen die metaphysische Ordnung manifest wird, als auch Orte, in denen das Unheimliche die potentielle Gefährdung der Ordnung repräsentiert. Als Ort der sittlichen Erziehung der Individuen bleibt das Haus – einem spätaufklärerischen Modell folgend58 – gegenüber staatlichen Einwirken zugleich autonom wie es die mündige Teilhabe am Staatswesen ermöglicht. Das Haus ist insofern kein restaurativer Rückzugsort, sondern es wird als die adäquate Form propagiert, in welcher sich ein starker Individualismus und Gemeinschaftsbildung auf der Basis einer gegenseitigen Sorge, Liebe und Toleranz austarieren lassen sollen. Das Haus steht freilich einem Menschenbild gegenüber, welches die Bedürfnisse und Leidenschaften, und damit die egoistischen Interessen ins Zentrum der sozialen und ökonomischen Entwicklung rückt. Die Ordnung des Hauses ist in der literarischen Anthropologie der Biedermeierzeit Symbol und Produkt der Domestizierung der Leidenschaften als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts.
58 Vgl. zur Regierung des Hauses im 18. Jahrhundert exemplarisch den Artikel „Hausvater“, in: Johann Georg Krünitz (Hrsg.), Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-StadtHaus- u. Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung. Zwey und zwanzigster Theil von Hang bis Hel. Berlin 1781, 411–430.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Albera, Dionigi Studium der Anthropologie in Turin und Aix-en-Provence. 1995 Promotion in Aix-enProvence. 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2006 Direktor am CNRS in Aix-en-Provence. Seit 2007 Direktor der Forschungsabteilung am CNRS. Forschungsschwerpunkte: Migration, häusliche Organisation, Pilgerwesen und interreligiöse Ehen. Becker, Anna Studium in Bonn, Berlin und Mailand. 2011 Promotion in Cambridge mit einer Arbeit zu „Gender and Political Thought in Northern Italy and France c.1420 – c.1578“. Seit 2011 Assistentin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Departement Geschichte in Basel. Aktuelles Forschungsprojekt zu Körperlichkeit und Materialität in der Geschichte der politischen Philosophie. 2014–2015 Balzan Skinner Fellow in Modern Intellectual History an der Universität Cambridge. Buttolo, Susann Studium der Architektur an der HTW Dresden (FH) und am Kent Institute of Art and Design in Canterbury, Dipl.-Ing. (FH). 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HTW Dresden (FH). Seit 2003 freie Architekturhistorikerin und Kuratorin. 2010 Promotion an der HTW Dresden/TU Dresden zum Thema „Planungen und Bauten in der Dresdner Innenstadt zwischen 1958 und 1971“. 2010–2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Architektur der TU Dresden. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Sächsischer Architekten. Cristellon, Cecilia 2005 Promotion am EUI in Florenz mit einer Arbeit über Ehegerichte im Venedig der Renaissance. Danach wissenschaftliche Mitarbeiterin in Münster, am DHI in Rom und in Frankfurt. 2015–2016 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Europäische Rechts- und Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere Ehe und Familie, Inquisition und römische Kongregationen, Übergangsriten und globale Steuerung religiöser Pluralität. Derix, Simone Studium der Geschichte, Germanistik, Romanistik und Politikwissenschaft in Köln und Bologna. 2006 Promotion in Köln. 2007–2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Köln, Duisburg-Essen und München (LMU), ab 2009 als Nachwuchsgruppenleiterin. 2013–2014 Gerda Henkel Junior Fellow am Historischen Kolleg München. 2014 Habilitation in München mit einer Studie zu transnationalen Familien- und Vermögensbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. 2014–2015 Professurvertretung in Mainz. Eibach, Joachim Studium der Geschichte und Germanistik in Konstanz und Tübingen. 1993 Promotion in Konstanz. Postdoc und Koordinator des SFB „Erinnerungskulturen“ in Gießen. 2001 Habilitation mit einer Arbeit zu Kriminalität, Strafjustiz und städtischer Lebenswelt. Projektleiter am FEA Potsdam; Fellowships und Gastdozenturen in Bielefeld, Galway, Konstanz, Bern, Basel und am EUI Florenz. 2005 Assistenzprofessor, seit 2010 Assoziierter Professor in Bern. 2008 Initiierung des AK „Haus im Kontext“ mit Inken Schmidt-Voges. Seit 2015 Leiter des SNF-Sinergiaprojekts “Doing House and Family”. Faroqhi, Suraiya Studium der Geschichte, Islamwissenschaft und Turkologie in Hamburg, Istanbul und an der Indiana University/Bloomington. Promotion 1970. Habilitationen 1981 (Türkei) und 1982 (Bochum). Seither Lehrtätigkeiten in Minneapolis, in Ankara 8 Middle East Technical University), in München (LMU) und Istanbul. Forschungsschwerpunkte: Osmanische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, mit besonderem Akzent auf Alltag, Handwerk und Handel (ca. 1480–1820).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ghanbari, Nacim Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Hannover und Konstanz, 2008 Promotion mit der Arbeit „Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926“. Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Siegen. 2011 bis 2014 Mitglied im DFG-Netzwerk „Medien der kollektiven Intelligenz“, Forschungsaufenthalte an der University of Chicago und am IFK in Wien. Forschungsschwerpunkte: Patronage und deutsche Literatur im 18. Jahrhundert, Literatur- und Theoriegeschichte des Hauses, Kulturtheorie. Greyerz, Kaspar von Studium in Bern, Genf und Stanford, Promotion in Stanford mit einer reformationsgeschichtlichen Arbeit. Habilitation 1987, 1988–1991 Lehrstuhlvertretung in Kiel. 1993 bis zur Emeritierung 2013 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit in Zürich, ab 1997 in Basel. Forschungsschwerpunkte: Reformations-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit sowie historische Selbstzeugnisforschung. Habenstein, Astrid Studium der Geschichte und der Philosophie in Bielefeld. Seit 2006 wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung Alte Geschichte in Bern. 2009–2010 Forschungsaufenthalt an der Faculty of Classics in Cambridge (UK); 2012 Promotion in Bern. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der römischen Antike, hier besonders der Übergang von der Republik in den frühen Prinzipat, Formen inneraristokratischer Konkurrenz sowie das Verhältnis zwischen Senatsaristokratie und Kaiser. Hahn, Philip Studium der Geschichte und Lateinischen Philologie in Tübingen, Oxford und Cambridge; 2009 Promotion in Frankfurt am Main mit einer buchgeschichtlichen Arbeit über die „Oeconomia“ Johann Colers. Im Anschluss dort wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem DFG-Projekt zur politischen Sprache lutherischer Prediger in Sachsen und Thüringen. Seit 2011 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Tübingen. Aktuelles Forschungsprojekt zur Sinnesgeschichte der Stadt in der Frühen Neuzeit. Haldemann, Arno Studium der Geschichte, Religious Studies und Kulturanthropologie in Bern und Basel sowie an der École Pratique des Hautes Études Paris. Seit Januar 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im SNF-Sinergiaprojekt „Doing House and Family“, Bern. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Eheanbahnung und Eheschließung sowie der Untersuchung von politischen Sprachen in Predigten in der Sattelzeit und zur Zeit der Helvetischen Republik. Hamling, Tara Studium der Kunstgeschichte an der University of Sussex. Seit 2007 Senior Lecturer in History in Birmingham. Zahlreiche Publikation im Bereich der visuellen und materiellen Kultur des frühneuzeitlichen England mit einem Schwerpunkt auf dem Einfluss religiöser Reform auf häusliches Interieur. Harding, Elizabeth Studium der Geschichte, Angewandten Kulturwissenschaften und Kommunikationswissenschaft in Münster, anschließend Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Symbolische Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit“. 2009 Promotion mit einer Arbeit zum landsässigen Adel, seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel. Forschungsschwerpunkte: Adels- und Universitätsgeschichte mit besonderem Fokus auf Verwandtschaftskonzepten und materieller Kultur.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Hassan Jansson, Karin Senior Lecturer für Geschichte in Uppsala. 2002 Promotion mit einer Arbeit zu Vergewaltigung und Geschlechterkonstruktionen im frühneuzeitlichen Schweden. Lehrtätigkeiten an der Mittsveriges Universitet Härnösand und der Södertörns Högskola. 2008–2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Uppsala und seit 2012 Senior Lecturer und Mitglied des Forschungsprojekts „Gender and Work“. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte, Männlichkeitskonzepte, historische Gewaltforschung und Haus- und Ehediskurse. Hatje, Frank Studium der Geschichte, Germanistik, Gräzistik und des Öffentlichen Rechts in Tübingen und Hamburg. 1996 Promotion mit einer Arbeit zur Selbstdarstellung von Herrschaftsstrukturen im 18. und 19. Jahrhundert. 1998–1999 Stipendiat am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Seit 2001 Leiter der Arbeitsstelle der Beneke-Edition. 2003 Habilitation mit einer Untersuchung zur Stiftungs- und Hospitalgeschichte zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert, seither Privatdozent am Historischen Seminar in Hamburg. Heijden, Manon van der Professorin für Vergleichende Stadtgeschichte in Leiden mit Forschungsschwerpunkten in der Stadtgeschichte, der Historischen Kriminalitätsgeschichte, Familie und Bürgergesellschaft. Direktorin des Forschungsprojekts Crime and Gender 1600–1900 (www.crimeandgender.nl). Verschiedene Herausgebertätigkeiten, u. a. „The Low Countries Journal of Social and Economic History“ und „Crime, History & Societies“. Mitglied der Academia Europaea. Jancke, Gabriele Historikerin und Privatdozentin in Berlin (FU). 2002 Promotion mit einer Arbeit zur Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts. Seit 2004 Mitglied der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ an der FU Berlin. 2013 Habilitationsschrift zur Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: soziale Beziehungen und Haushalte in frühneuzeitlichen Gesellschaften, Gelehrtenkultur, Geschlechtergeschichte, jüdische Geschichte. Joris, Elisabeth Studium der Geschichte und der Romanistik in Zürich. Seit 1981 frei schaffende Historikerin. 2003–2006 Projekt zur Geschlechtergeschichte in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia und dem Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechtergeschichte (IZFG) in Bern. 2010 Promotion mit einer biografischen Arbeit zu Handlungsräumen von Bildungsbürgerinnen. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Jütte, Daniel Studium der Geschichte und Musikwissenschaft in Zürich und Heidelberg. 2007– 2008 Visiting Fellow an der Harvard University, 2010 Promotion in Heidelberg mit einer Arbeit zur Geschichte des Geheimnisses in der Frühen Neuzeit. Seit 2011 Junior Fellow der Society of Fellows an der Harvard University und Lecturer am dortigen History Department. Forschungsschwerpunkte: Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit und Neuzeit, Kulturgeschichte, Stadt und Raum, Alltagsgeschichte, Wissen und Wissenschaft sowie jüdische Geschichte. Kuhn, Bärbel Studium der Geschichte und französischen Literatur- und Sprachwissenschaft an der Universität des Saarlandes. 1988 Promotion mit einer Arbeit zu dem Frühsozialisten Pierre Leroux. 1999 Habilitation mit einer Arbeit zu ledigen Männern und Frauen des Bürgertums, 1850–1914. Vertretungs- und Gastprofessuren in Bielefeld, Karlsruhe und Wien. 2007–2009 Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Seit April 2009 Professorin für Didaktik der Geschichte in Siegen.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Kuhn, Thomas K. Studium der Theologie in Bonn, Marburg, Wuppertal und Basel. 1989–1993 wissenschaftlicher Assistent für neuere Kirchen- und Dogmengeschichte in Basel. 1995 Promotion in Basel und Ordination durch die Evangelische Kirche im Rheinland. 2001 Habilitation, 2001–2006 Assistenzprofessor für Kirchen- und Theologiegeschichte, ab 2006 Titularprofessor für Kirchenund Theologiegeschichte in Basel. Seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte an der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: der Kirchengeschichte der Neuzeit, Erweckungsbewegungen und Diakoniegeschichte. Lanzinger, Margareth Studium der Geschichte in Wien und Graz. 1999 Promotion mit einer mikrohistorischen Studie über Heirat und Erbe. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte in Wien, 2013 Habilitation mit einer Arbeit über Verwandtenheiraten im 18. und 19. Jahrhundert. Gastprofessuren in Wien, der Berlin (FU), Siegen und Hannover. Derzeit Leiterin eines Projekts über Vermögensarrangements zwischen Geschlechtern und Generationen an der Universität Innsbruck. Tätig im HerausgeberInnenteam der Zeitschriften „Historische Anthropologie“, „L’Homme. Z. F. G.“ und „Quaderni storici“. Lippert, Hans-Georg Architekturstudium in Kaiserslautern und Darmstadt, dort 1984–1988 wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1989 Promotion mit einer Arbeit über städtische Wohnhäuser des Spätmittelalters. 1990–1997 Architekt und Bauhistoriker bei der Dombauverwaltung Köln. 1997 Habilitation in Dortmund. Seit 1998 Professor für Baugeschichte an der TU Dresden. 2003–2014 Projektleiter in den SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ und 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“. Forschungsschwerpunkte: Architektur nach 1800, Selbstverständnis von ArchitektInnen, Architektur in Spielfilm, Comic und Werbung. Menning, Daniel Studium der Geschichte, Anglistik und Erziehungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter in Trier und Tübingen. 2012 Promotion mit einer Arbeit zu Familien- und Gesellschaftsentwürfen im deutschen Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Seit 2012 akademischer Rat in Tübingen und Forschungen zur Geschichte von Börsenkrisen in Deutschland und Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert. Möhring, Maren Studium der Geschichte und Germanistik in Hamburg und Dublin. 2002 Promotion mit einer Arbeit zur deutschen Freikörperkultur. 2002–2010 wissenschaftliche Assistentin in Köln. 2010 Habilitation mit einer Studie über die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland. 2012–2014 Abteilungsleitung „Der Wandel des Politischen“ am ZZF Potsdam. Seit 2014 Professorin für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte in Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Körper- und Geschlechtergeschichte, Migrations- und Konsumgeschichte, Human-Animal-Studies, Geschichte und Film. Palmitessa, James R. Studium der Germanistik und Geschichte in New York und Boston. 1991–1993 IREX und ACLS Stipendiat an der Karls-Universität Prag. 1995 Promotion mit einer Arbeit über Sachkultur und Alltag im Rudolfinischen Prag an der New York University. 1997–2003 Assistant Professor und seit 2003 Associate Professor am Department of History, Western Michigan University. 1999 und 2005 Aufenthalte am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig und 2005 an der Südböhmischen Universität in České Budějovice. Sabean, David Studium der Geschichte an der University of Wisconsin. 1969 Promotion mit einer Arbeit zum Bauernkrieg 1525. 1966–1970 Lecturer an der University of East Anglia. 1970–1976
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Assistant bzw. Associate Professor in Pittsburgh. 1976–1983 Mitarbeiter am MPI für Geschichte in Göttingen. 1983–1988 Professor of History an der UCLA. 1988–1993 Professor an der Cornell University. Seit 1993 Henry J. Bruman Endowed Professor für Deutsche Geschichte an der UCLA. Forschungsschwerpunkte: Alltagskultur, Geschichte von Familie und Verwandtschaft sowie Inzestdiskursen in Europa seit dem 17. Jahrhundert. Sarti, Raffaella Studium in Bologna, Turin und Florenz. Professorin für frühneuzeitliche Geschichte in Urbino. Gast- und Forschungsaufenthalte in Paris, Wien, Bologna und Murcia. Forschungsschwerpunkte und zahlreiche Publikationen mit vergleichenden Langzeitstudien zur Geschichte von Familie und materieller Kultur, Gesinde und Pflegepersonal, Sklaverei im Mittelmeerraum, Ehe und Zölibat, Gender und Nation, Geschlechtergeschichte, Graffiti und Wandschriften. Schlinker, Steffen Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Kunstgeschichte in Würzburg. 1998 Promotion mit einer Arbeit zu „Fürstenamt und Rezeption. Reichsfürstenstand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter“. 2007 Habilitation zur „litis contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses“. Lehrstuhlvertretungen in Berlin (FU), München, Hannover und Passau. Forschungsschwerpunkte: Zivilrecht, mittelalterliche und neuzeitliche Verfassungs- und Privatrechtsgeschichte sowie Kirchenrecht. Schmidt, Ariadne 2001 Promotion in Amsterdam mit einer Arbeit über Witwen im Leiden des ‚Goldenen Zeitalters‘. Projektleitung “Women’s Work in the Northern Netherlands, c.1500–1815” am International Institute for Social History. Seit 2010 Lecturer und Assistant Professor für Wirtschaftsund Sozialgeschichte in Leiden sowie Co-Direktorin im Forschungsprojekt „Crime and Gender 1600–1900: A Comparative Perspective“. Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Frauen- und Kinderarbeit, Arbeitsdiskurse und -vorstellungen, Geschichte der Familie, Stadtgeschichte und historische Kriminalitätsforschung. Schmidt-Funke, Julia A. Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie in Leipzig und Lyon. 2001–2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“. 2005 Promotion. 2006–2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Mainz, seit 2010 am Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte in Jena. 2011 Gründung des Netzwerks „Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen Neuzeit“. Forschungen zur materiellen Kultur und Konsumgeschichte, zur Buchgeschichte und Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit sowie zum Bürgertum um 1800 und zur 1830er Revolution in Europa. Schmidt-Voges, Inken Studium der Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte in Gießen und Kiel. 2003 Promotion mit einer Arbeit zu historischen Selbstbildern in Schweden, 2005–2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Osnabrück. 2008 Initiierung des AK „Haus im Kontext“ mit Joachim Eibach. 2012 Habilitation mit einer Arbeit zum Hausfrieden im 18. Jahrhundert. Forschungsschwerpunkte: der Politischen Kultur, Haus und Familie, Mediengeschichte sowie in der historischen Friedensforschung. Seit 2014 Leiterin des DFG-Projekts „Mediale Konstruktionen von Frieden in Europa“. 2015 Ruf nach Marburg. Schott, Dieter Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik in Konstanz und Berlin (FU), 1987 Promotion mit einer Arbeit zur Geschichte der Stadt Konstanz in der Weimarer Republik. 1985–2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt. 1996 Habilitation mit einer Arbeit zur Stadtentwicklung und Elektrifizierung 1880–1918. 2000–2004 Professor für die ‚History of Urban Planning‘ an der University of Leicester. Seit 2004 Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Stadt- und Umweltgeschichte in Darmstadt.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Tantner, Anton Studium der Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Wien. 2004 Promotion mit einer Arbeit zur Geschichte der Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie. 2012 Habilitation mit einer Arbeit zu Adressbüros im frühneuzeitlichen Europa, 2012 Privatdozent für Neuere Geschichte in Wien. Mitglied der Redaktion der Frühneuzeit-Info und von http://de.hypotheses.org. Forschungsschwerpunkte: Historischen Medienwissenschaften, Geschichte der Volkszählungen und Neue Medien in den Geschichtswissenschaften. Velková, Alice Studium der Geschichte, Archivwesen und Historischen Hilfswissenschaften in Prag. 2004 Dissertation zur demographischen und Familienstrukturen im ländlichen Raum Böhmens 1650–1850. 2013 Habilitation mit einer Arbeit zum Kriminalitätsgeschichte der Habsburger Monarchie im 19. Jahrhundert. 2005–2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Pardubice. Seit 2006 zugleich wissenschaftliche Mitarbeiterin des Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Seit 2015 Dozentin an dem Institut für Demographie und Geodemographie in Prag. Zimmermann, Christian von Studium der Germanistik, Hispanistik und Lusitanistik in Kiel, Osnabrück, Santiago de Compostela und Heidelberg. 1996 Promotion in Heidelberg mit einer Arbeit zur Wahrnehmung Spaniens in den deutschsprachigen Ländern des 18. Jahrhunderts. 2004 Habilitation in Bern zur Geschichte und Kritik biographischen Schreibens. 2004–2008 SNF-Förderprofessor in Bern. Seither Dozent am Institut für Germanistik und ab 2015 Leiter der neuen historisch-kritischen Jeremias Gotthelf-Edition. Forschungsschwerpunkte: der Literarischen Anthropologie, Literatur der Biedermeierzeit, Neueren Schweizer Literatur, Biographik, Reiseliteratur und Editionsphilologie.
Abbildungsverzeichnis Raffaella Sarti: Abb. 1: Abernodwydd Farmhouse, walisisch, urspünglich 1678 in Llangadfan, Powys. Quelle: Museum of Welsh Life, Cardiff. Foto: Colin Smith, URL: http://www.geograph.org.uk/ photo/138634. Abb. 2: Landhaus, englisch, 17. Jahrhundert, Arlington, East Sussex. Foto: Freeman Forman. URL: http://www.theguardian.com/money/gallery/2012/oct/03/trading-up-trading-down-gallery. Abb. 3: Govert Dircksz Camphuysen, Innenansicht eines bäuerlichen Hauses, 17. Jahrhundert. Quelle: Rijksmuseum, Amsterdam, SK-C-563. Abb. 4: Andrea Palladio, Villa Almerico Capra (La Rotonda), Vicenza, Italien. Foto: Nicolò Valmarana. Abb. 5: Jan Brueghel der Ältere, Besuch beim Bauern, 1597. Quelle: Kunsthistorisches Museum, Wien, GG_674. Abb. 6: Adriaen Jansz van Ostade, Bauern in einem Innenraum, 1661. Quelle: Rijksmuseum, Amsterdam, SK-C-200.
Tara Hamling: Abb. 1: Familienporträt Hans Conrad Bodmer, Greifensee (Schweiz). „Tischzucht“. 1643. Quelle: Schweizer Nationalmuseum, Zürich, DEP-3721; Foto: DIG-1773. Abb. 2: Wandbemalung in einem Haus in North Yorkshire – Cowside Farmstead, Langstrothdale. Foto: Catherine Richardson. Abb. 3: Ofenplatte, um 1600. Quelle: Victoria and Albert Museum, London, 219-1897. Abb. 4: Niederländischer Beeldenkast, 1622. Quelle: Metropolitan Museum, New York, Nr. 64.81; Open Access for Scholarly Content: www.metmuseum.org.
Christiane Holm: Abb. 1: Charles Garniers Architekturgeschichte in Modellhäusern auf der Pariser Weltausstellung von 1889, aus: Constructions élevées au Champ de Mars pour servir à l’histoire de l’habitation humaine par Ch. Garnier. Texte explicatif et descriptif par Frantz Jourdain. Exposition Universelle de 1889. Paris [ca. 1890]. © Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Sign. 49.gr.2.2122. Abb. 2: Buchumschlag mit Schillers Wohnhaus in Weimar und seinem Gartenhaus in Jena, Titelei mit Carlyles Haus in Schottland, aus: Thomas Carlyle, Leben Schillers. Aus dem Englischen. Eingeleitet durch Goethe. Frankfurt M. 1830. © Klassik Stiftung Weimar – Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. Sch 1836. Abb. 3: Breakfast Room in Soanes Haus, aus: Description of the Residence of Sir John Soane, London 1830, Plate 3. © Klassik Stiftung Weimar – Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. Bh 1338. Abb. 4: Das Atelier des Malers Hans Makart in Wien, aus: Makart-Album. Wien 1882/83. © Klassik Stiftung Weimar – Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. Ku C-92.
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Abbildungsverzeichnis
Susann Buttolo: Abb. 1: Industrieller Wohnungsbau in Dresden-Johannstadt, 1974. Quelle: Sächsisches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, ohne Signatur. Abb. 2: Schemata Sozialistischer Wohnkomplex, 1958. Quelle: Deutsche Bauakademie der DDR, ohne Signatur. Abb. 3: Industrieller Wohnungsbau in Dresden-Prohlis, 1976. Quelle: Sächsisches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, ohne Signatur. Abb. 4: Wohnzeilen in Dresden-Seevorstadt Ost um, 1960. Quelle: Sächsisches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, ohne Signatur. Abb. 5: Kollektiv Wolfgang Hänsch, Wohnzeile Borsbergstraße mit eingeschossiger Ladenzone, 1956. Quelle: Sächsisches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, ohne Signatur.
Maren Möhring: Abb. 1: Pierre-Auguste Renoir, Madame Charpentier und ihre Kinder, 1878. Quelle: The Metropolitan Museum of Art, Catherine Lorillard Wolfe Collection, Wolfe Fund, 07.122.
Anton Tantner: Abb. 1.: Konskriptionsnummer in Wien. Foto: Anton Tantner. Abb. 2: 4711, die Hausnummer des Kölnisch Wasser. Foto: Anton Tantner. Abb. 3: Beispiel für Manzana-Nummerierung in Madrid. Foto: Anton Tantner.
Hans-Georg Lipppert: Abb. 1: Sebastiano Serlio, Tutte l’opere d’architettura, Venedig 1584, VII, 171 (http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/serlio1584/0713, creative commons licence: http://creativecommons. org/licenses/by-sa/3.0/de/). Abb. 2: Pierre Le Muet, Manière de bien bastir pour toutes les personnes (1647), S. 101 (http:// catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb30789235 m, creative commons licence: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/). Abb. 3: Johann Friedrich Penther, Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Bau-Kunst (1745), Bd. 2, Tafel 14. (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/penther1745/0236, creative commons licence: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/). Abb. 4: Friedrich Meinert, Die schöne Landbaukunst […], Leipzig 1798, Bd. 1, Tafel 1 (http://digi. ub.uni-heidelberg.de/diglit/meinert1898bd1_1/0043, creative commons licence: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/). Abb. 5: Paul Schmitthenner, Das deutsche Wohnhaus, 4. Aufl. 1984, S. 145, 152 (Bildrechte beim Verf.).
Personenregister A Abdülmecid, Sultan 560 Acciaiuoli, Donato 670–674 Adelung, Johann Christoph 390, 590 Ağa, Gazanfer 561 Ago, Renata 222 Agnesi, Maria 358 Ågren, Maria 121, 122 Albera, Dionigi 336 Alberti, Leon Battista 179, 228, 229, 468, 672, 675, 702, 706 Allen, Robert 256 Althusius, Johannes 679 Ammon, Wolfgang 541 Amussen, Susan Dwyer 89, 123 Anderson, Michael 107 Andreae, Valentin 717 Antisthenes 653 Aquin, Thomas von 673 Aretino, Pietro 476, 479, 481 Ariès, Philippe 76, 135 Ariost, Ludovico 480 Aristoteles 13, 14, 16, 391, 654–657, 667–670, 672–674, 678, 726 Ascher, David 353 Augspurg, Anita 387 Augustin 665 Augustin, Georges 69 Azulai, Ha’im Yoseph David 456 B Bassi, Laura 358 Barbagli, Marzio 106, 108 Barbieri, Giuseppe 104 Baruch, Hoffaktor 347 Baud, Michiel 131 Bavel, Bas van 145 Baxter, Richard 551 Bayezid II., Sultan 562, 563 Bäumer, Gertrud 387 Bechyňka, Jan 490 Becker-Cantarino, Barbara 50 Behne, Adolf 722 Behrendt, Walter Curt 722 Beneke, Ferdinand 33, 500, 505, 511, 515 Bernd, Adam 552 Biasutti, Renato 103
Biddle, Clement 617 Bingöl, Yöksel 566 Blicke, Peter 643 Blondé, Bruno 140 Blondel, François 710, 714 Boccacio, Giovanni 480 Bodin, Jean 646, 679–681 Bodmer, Hans Conrad 197 Bohl, Johann 226 Bohl, Elisabetha 226 Bonn, Levi zu 346 Borheck, Georg Heinrich 714 Boswell, James 512 Bosshard, Heinrich 547 Boulton, Jerema 493 Bourdieu, Pierre 25, 27, 66, 70, 435, 437, 439, 651 Bösch, Alexander 547 Brant, Sebastian 477 Braun, Lily 379 Bräker, Ulrich 547 Breymann, Henriette 364 Briseux, Charles-Étienne 710 Brontë, Anne 360 Brontë, Charlotte 360 Brontë, Emily 360 Brubaker, Rogers 529 Bruckner-Eglinger, Ursula 32 Brunner, Otto XIV, 1, 19, 37, 42, 43, 47–49, 51, 54, 59, 297, 328, 534, 609, 644–648 Bruni, Leonardo 669, 671, 672 Brügge, Bartholomäus von 669 Bullinger, Heinrich 730, 731 Burckhardt, Jacob 385 Burgo, Gian Battista de 190 Burguière, André 69 Burghartz, Susanna 52 Burke, Peter 650 Burnyeat, John 550 Burrows, William Alexander 511 Busch, Wilhelm 385 Büsch, Johann Georg 519 C Cabourdin, Guy 72 Caesar, Gaius Iulius 658, 663 Caesonius, Lucius Calpurnius Piso 658
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Personenregister
Calvin, Johannes 144, 420, 541, 544, 551, 731, 732 Carew, Richard 186 Carlyle, Thomas 238 Carow, Heiner 291 Častalovic, Jiljí Perger z 496 Castiglione, Baldassare 476 Cats, Jacob 146 Cavender, Mary W. 585 Çelebi, Evliya 557 Censorius, Marcus Porcius Cato 659–662, 666, 672 Cerceau, Jacques Androuet du 709 Chadwick, Edwin 257 Chambers, Andrew 96 Chaufepié, Jean Henri de 507 Chaytor, Miranda 86–88 Chruschtschow, Nikita 281 Cicero 660, 666, 667, 669–672, 676, 677 Cimaz, Pierre 752 Císař, Barbora 162 Císař, Jan 162 Císař, Josef 162 Císař, Martin 162 Císař, Václav 162 Císař, Vojtěch 162 Cohen, Elizabeth S. 443, 446 Coke, Edward 533 Cole, John W. 332 Coler, Johann 115, 644, 730 Collatinus, Lucius Tarquinius 665 Coletti, Francesco 102 Collé, Charles 472 Columella, Lucius Iunius Moderatus 659, 661, 662, 666 Cooper, Frederick 529 Craufurd, Giorgina 598 Crusius, Martin 454 Cuisenier, Jean 73 Cunctator, Fabius Maximus 666 D D’Alembert, Jean-Baptiste Le Rond 704 D’Aviler, Augustin Charles 709 Davis, Natalie Z. 434, 447 Delamer, Lord 548 Demangeon, Albert 71, 72 Deneken, Arnold Gerhard 509 Dennison, T.K. 139
Derouet, Bernard 69, 332 Descimon, Robert 70 Delaval, Elizabeth 550 Delbrück, Rudolph von 386 Diderot, Denis 704 Diersburg, Karl Roeder von 584 Dilcher, Gerhard 571 Doderer, Heimito 627 Donnersmarck, Florian Henckel von 291 Durkheim, Émile 26 Dupaquier, Jacques 153 Dülmen, Richard van 51 Dürr, Renate 52 E Egg, Franz 322 Ehmer, Josef 376 Eibach, Joachim 57, 61, 62, 433 Eichendorff, Joseph von 583 Eimbckes, Friederike Henriette 507 Eimbckes, Georg 507 Eisenberg, Johann Philipp 615 Elias, Nobert 77, 80, 257 Elisabeth I., Kg. von England 201 Elyot, Thomas 676 Erxleben, Dorothea 358 Eschenbacherin, Maria Josepha 322 Esterházy, Magnatenfamilie 592 Estienne, Charles 181, 182 Ettlinger, Anna 384 Eugénie, Kaiserin 370 Evans, Richard 257 Ewald, Johann Ludwig 739 F Faina, Eugenio 101 Falke, Jacob von 627 Fauve-Chamoux, Antoinette 153, 327 Febvre, Lucien 76 Fehr, Karl 753–754 Fendl, Elisabeth 603 Ferdinand II., Ks. d. Hlg. Röm. Reichs dt. Nat. 491, 500 Ferrante, Kg. von Neapel 470 Fertig, Georg 324 Fiebranz, Rosemarie 120, 125, 126 Filarete 706 Filmer, Sir Robert 681
Personenregister Fischer, Theodor 277 Folz, Hans 227 Fontane, Theodor 623–627, 629, 630, 636 Force, Pierre 70 Ford, Henry 280 Forster, Georg 518 Foucault, Michel 475, 651, 705, 745 Fourier, Charles 381, 717 Flandrin, Jean-Louis 76, 135 Flaubert, Gustave 629 Florén, Anders 118 Francke, August Hermann 736 Franits, Wayne 145, 195, 199 Franz Joseph I., Ks. von Österreich 594 French, Henry 97 Freud, Sigmund 623 Freudenthal, Margarethe 382 Freytag, Gustav 623, 624 Frie, Ewald 578 Friedrich II., Kg. von Preußen 350 Friedman, Alice 92 Fröbel, Friedrich 364, 366, 743 Fröbel-Levin, Louise 366 Furttenbach, Joseph 223, 538, 547 G Gabaccia, Donna 600 Gadara, Philodemos von 658 Galandra, Irene 196 Gall, Lothar 517 Gambi, Lucio 104 Gardiner, Samuel 203 Garfinkel, Harold 435 Garnier, Charles 236 Garnier, Tony 721 Garrett, Elizabeth 369 Gataker, Thomas 83 Gerhard, Johann 730 Gelderblom, Oscar 145 Geldern, Josef Juspa van 348–351 Geldern, Emanuel van 349 Geldorp, Grotzius 210 Gera, Esther von 543 Gestrich, Andreas 389 Giddens, Anthony 27, 29 Gieryn, Thomas F. 27 Gilly, David 714 Giolitti, Giovanni 101 Girouard, Mark 92
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Gleichmann, Peter 257 Gleim, Betty 357, 364 Godin, Jean-Baptiste André 381 Godsey, William D. 574 Goethe, Johann Wolfgang von 238, 633, 707 Goethe, Cornelia 360 Golfschmidt-Schwabe, Johanna 366 Goldmann, Nikolaus 610 Goubert, Pierre 72 Gouges, Olympe de 366 Gotthelf, Jeremias 647, 741, 742, 746, 751–756, 759, 760 Gottschalk, Karin 57 Gowing, Laura 90 Grassi, Paolo di 481 Grifalcone, Alberto 333 Grillparzer, Franz 240 Groebner, Valentin 57 Groot, Julie de 210 Gropius, Walter 280, 722 Grulich, Josef 154 Guillauté, Jean-François 612 Güntzer, Augustin 541 H Haag, Saskia 626, 627 Habermas, Jürgen XV, 43 Hafner, Thomas 377 Hahl, Werner 754 Hajnal, John 133, 134 Haks, Donald 135, 141 Haller, Carl Ludwig von 755 Hansen, Anna 126 Hanssen, Börje 118 Hanus, Jord 140 Hamling, Tara 96, 97 Hanioğlu, Şükrü 569 Harding, Vanessa 490 Harrach, Ernst Adalbert von 545 Harrach, Johanna Theresia von 537 Hauff, Wilhelm 758 Hausen, Karin 30 Haussmann, Georges-Eugène, Baron 241 Hatje, Frank 32 Hänsch, Wolfgang 290 Heal, Felicity 90 Hebebrand, Werner 277 Heer, Anna 370, 371 Heidrich, Hermann 51, 56, 444
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Personenregister
Heijden, Manon van der 136, 137, 141 Heim-Vögtlin, Marie 369–371 Heine, Heinrich 351 Heineken, Minna 515 Heinrich, Johann 514 Heinrich, Maximilian 346 Herrmann, Willhelm 742 Henn, Walter 280 Henry, Louis 152 Herlihy, David 107 Hesiod 652 Heyer, Baron von 368 Heymann, Lida Gustava 387 Heywood, Oliver 550, 551 Hindle, Steve 89 Hinrichs, Ernst 434 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 452 Hitler, Adolf 534 Hobbes, Thomas 682 Hobsbawm, Eric 572 Hoby, Margaret 548, 550 Hoffman, Julius 51 Hoffmann-Krayer, Eduard 433 Hohberg, Wolf Helmhardt von 189 Hohti, Paula 230 Hollände, Felix 637 Honecker, Erich 284 Hooch, Peter de 146, 210 Hoochstraten, Samuel 146 Hope, Thomas 235 Horský, Jan 154 Houlbrooke, Ralph 135 Howard, Ebenzer 381 Howell, Martha 143 Hölscher, Lucian 539 Huch, Ricarda 627, 630, 632 Hunnius, Aegidius 728 I Ibsen, Henrik 745 J Jacini, Stefano 100 Jeake, Samuel 550 Jeake, William 549 Jex-Blake, Sophia 369 Johnson, Christopher H. 334, 635 Johnson, Matthew 93, 95 Joris, Elisabeth 31
Johann Wilhelm, Kf. von der Pfalz 348 Joseph II., Ks. d. Hlg. Röm. Reichs dt. Nat. 619 K Kafka, Franz 35, 623, 627 Kant, Immanuel 170, 173 Karl IV., Ks. d. Hlg. Röm. Reichs dt. Nat. 487, 488, 497 Keith, Thomas 400 Keller, Gottfried 383, 384 Keller, Regula 384 Kempf, Rosa 375 Kertzer, David 99, 106, 107 Kiffin, William 549 Kirch, Gottfried 359 Kirch-Winkelmann, Maria 359 Klapisch-Zuber, Christiane 69, 107 Kloek, Els 144 Klopstock, Friedrich Gottlieb 223 Klopstock, Meta 223 Knade, Jakob 733 Knigge, Adolph von 513 Knonau, Ludwig Meyer von 618 Kolin, Peter 1 Koeler, Hieronymus d. Ä. 547 Korda, Natasha 88 Koselleck, Reinhard 16, 21 Krafft, Hans Ulrich 478 Kramer, Karl Sigismund 49, 51, 55, 56, 419, 434 Krause, Karl Christian Friedrich 743, 749, 752, 756, 757 Kritobulos 653 Krumlovský, Tomáš 499 Krupp, Bertha 597 Krünitz, Johann Georg 469, 481, 590 Kuhn, Thomas K. 677 L Laclos, Choderlos de 613 Ladurie, Emmanuel Le Roy 67 Lange, Helene 387 Lardelli, Tommaso 601 Laslett, Peter 19, 42, 85, 86, 105, 117, 122, 133, 153, 160 Latour, Bruno 173, 531, 651 Laugier, Marc-Antoine 714 Laven, Mary 196 Lavoisier, Antoine 359
Personenregister Lavoisier, Marie-Anne 359 Le Corbusier 722 Le Goff, Jacques 434 Le Muet, Pierre 710 Le Play, Frédéric 1, 37, 42, 46, 66, 67, 76, 102, 297, 328, 534 Le Strange, Alice 91 Ledoux, Claude-Nicolas 717 Leib, Glikl bas Juda 347 Leti, Gregorio 187 Levi, Giovanni 111 Lévi-Strauss, Claude 42, 67–70, 466, 637 Levy, Ascher 348 Ley, Hermann 633 Liebmann, Fradt 350 Liebmann, Jost 349 Liliequist, Jonas 124 Lindberg, Erik 121 Lindström, Dag 114 Ling, Sofia 121 Loos, Adolf 721 Lorck, Karl von 575 Lowe, Roger 549 Loyola, Ignatius von 540 Löw, Martina 357 Lucretia 665 Ludwig V., Ldgf. von Hessen-Darmstadt 345 Ludwig, Carl 367 Luhmann, Niklas 22, 43, 463 Lundh, Christer 116 Luther, Martin 53, 115, 123, 125, 389, 424, 460, 541, 677–679, 697, 725–735, 761, 764 Lux, Dora 631 Lütkens, Doris 360, 366 Lützeler, Heinrich 721 M Machiavelli, Niccolò 667, 674–676 Macfarlane, Alan 135 Mackenroth, Gerhard 323 Magdeburg, Joachim 725 Mahmud II, Sultan 565 Makart, Hans 249, 251–253 Maler, Josua 542 Malthus, Thomas 323 Manlius, Titus 666 Mann, Julia 632 Mann, Thomas 624
775
Mandrou, Robert 76 Mansuetis, Giovanni 474 Mare, Heide de 146 Marklund, Andreas 125 Marlitt, Eugenie 627 Martin, Jessica 96 Martindale, Adam 548 Martini, Francesco di Giorgio 706 Marwitz, Friedrich August Ludwig von der 580 Marx, Karl 611, 615 Masopust, Martin 495 Mathieu, Jon 59 Maur, Eduard 152 May, Ernst 266, 276–278, 289 Mazzini, Giuseppe 598 McBride, Kari Boyd 96 Mebes, Paul 719 Medick, Hans 51, 58 Mehmed II., Sultan 558 Mehmed III., Sultan 557 Meinert, Friedrich 714–715 Melanchthon, Philipp 678 Melling, Antoine Ignace 559 Mengli Geray I., Khan 564 Menius, Justus 679, 728–730 Mercer, Henry 205, 206, 208 Meldrum, Tim 88 Milizia, Francesco 182 Miller, Matheus 543 Mitchell, Margaret 599 Mirandola, Ludovico 478 Mitterauer, Michael 50, 59 Montaigne, Michel de 479 Moor, Tine de 139 Morozzi, Ferdinando 182 Morrall, Andrew 197, 198, 204, 205 Morus, Thomas 717 Mozart, Wolfgang Amadeus 605, 606 Muldrew, Craig 89 Mussolini, Benito 102 Mustafa bin Abdullah, Gouverneur 568 Müller, Jan-Dirk 627 Münchhausen, Otto von 737 Münsterer, Barbara 547 N Neufville, Kaufmannsfamilie 230 Nassiet, Michel 70 Nepos, Cornelius 649, 650, 664
776
Personenregister
Neufert, Ernst 280 Neutatz, Dietmar 278 Nice, Bruno 104 Niederer-Kasthofer, Rosette 362, 364 Nifo, Agostino 668 Nightingale, Florence 369, 370
Pollock, Linda 135 Popp, Adelheid 376 Poppel, Frans van 147 Preis, Caspar 544, 545 Procházka, Vladimír 155 Pronteau, Jeanne 610
O Obertreis, Julia 276 Octavian 663 Oexle, Otto Gerhard 571 Ogilvie, Sheila 139 Ommeren, Maria van 333 Opitz-Belakhal, Claudia 21, 47 Orelli-Escher, Regula 538 Oresme, Nicolas 669 Orlin, Lena 95 Orsini, römische Familie 592 Osterhammel, Jürgen 598 Otto-Peters, Louise 366 Österberg, Eva 126
Q Quenedey, Raymond 74 Quintilian 643, 645
P Palladio, Andrea 707 Palmieri, Matteo 672, 675 Paşas, İbrahim 562 Paravicini, Agatha 368 Paravicini-Blumer, Emilie 355–360, 367, 368 Pardailhe-Galabrun, Annick 76 Pátek, Řehoř 499 Paulsen, Charlotte 366 Patitz, Albert 288 Paullus, Aemilius 666 Pellikan, Konrad 454, 455 Pennell, Sara 95 Penther, Johann Friedrich 712 Peripatos 655 Perkins, William 676, 734, 735 Perrault, Claude 710 Pestalozzi, Heinrich 364 Petrarca, Francesco 480 Pettenkofer, Max 257 Philipp, Karl 552 Philliou, Christine 567 Piaget, Michel 326 Pickering, Thomas 676 Pihl, Christopher 119 Platter, Felix 453 Podebrad, Georg von 490
R Rabelais, François 717 Ranger, Terence 572 Rascher, Johannes 288 Rebel, Hermann 59 Reimarus, Hermann Samuel 516 Reinganum, Lemle Moses 349 Rettig, Heinrich 280 Reute, Gabriele 634 Riehl, Wilhelm Heinrich 1, 20, 25, 29, 34, 37, 42, 46, 246, 297, 328, 534, 609, 626, 627, 741, 742, 746, 759, 760 Riviére, George-Henri 73 Roberts, Benjamin 135 Roberts, Henry 236 Robisheaux, Thomas 58 Roche, Daniel 66 Rochefort, Jouvin de 191 Rogers, Daniel 735 Rogers, John 117, 118, 122 Rohr, Julias Bernhard von 737 Ronge, Johannes 366 Roosevelt, Priscilla 579 Roper, Lyndal 123 Roscher, Wilhelm 13 Rosenbaum, Heidi 50, 59 Rotteck, Karl von 35 Rotterdam, Erasmus von 457, 676, 734 Rovin, Václav Kamaryt von 495–497 Rudolf II., Ks. d. Hlg. Röm. Reichs dt. Nat. 492 Ruepp-Uttinger, Lisette 362 Runefelt, Leif 124 Rückert, Joachim 699 Rütiner, Johannes 542 Rydén, Göran 118 Ryrie, Alec 96 Ryff, Andreas 540
Personenregister S Sabean, David W. 19, 51, 52, 58, 59, 623 Sachs, Hans 227 Saffi, Aurelio 598 Sahib Geray, Khan 565 Sahlins, Marshall 466 Saller, Richard 99 Sanguinetti, Miriana 478 Sarti, Raffaella 109 Savonarola, Girolamo 473 Schama, Simon 143, 144 Scharfe, Martin 434 Schiller, Friedrich 238 Schindler, Norbert 441 Schleiermacher, Friedrich Daniel 740, 756 Schlumbohm, Jürgen 58, 59, 331 Schmidt, Ariadne 137, 145 Schmidt, Hans 277, 289 Schmidt, Heinrich Richard 52 Schmidt-Voges, Inken 53, 436 Schmitthenner, Paul 719 Schneider, Herbert 288 Schodoler, Wernher 544 Schortz, Conrad 229 Schuler, Fridolin 367, 368 Schulhoff, Esther 349 Schultheis, Franz 37 Schultze-Naumburg, Paul 719 Schütte-Lihotzky, Margarete 269, 380 Schwab, Dieter 698 Schwarz, Rudolf 721 Shakespeare, William 238, 477 Sealsfield, Charles 757 Seklucyan, Jakub 729 Selim II., Sultan 557, 559, 561 Semadeni, Domenico 602 Serlio, Sabastiano 180, 181, 707 Serpieri, Arrigo 102 Sewell, William 124 Shelley, Mary Wollstonecraft 636 Shorter, Edward 135 Siena, Bernardino da 474, 476 Sieveking, Georg Heinrich 514 Sieveking, Johanna Margarethe 514 Simmel, Georg 25 Simpson, William 550 Sintenis, Christian Friedrich 739 Sjöberg, Maria 118 Sixtus IV., Papst 470 Smith, Adam 227
777
Soane, John 235, 249–251, 253 Sokrates 653 Sommerand, Alexandre du 236 Sorel, Julian 624 Spalding, Johann Joachim 738 Spangenberg, Cyriakus 728 Spee, Friedrich 539 Spener, Philipp Jakob 736 Stadin, Kekke 124 Stadlin, Josephine 355–362, 365, 367, 371 Stalin, Josef 281 Stam, Mart 277 Stampferin, Maria Elisabeth 544 Starks, Ida 620 Stehn, Jan 200 Steinbrecher, Aline 399 Stendhal, Schriftsteller 623 Stevin, Simon 146 Stifter, Adalbert 746–748 Stoessl, Otto 624, 632 Stone, Lawrence 85, 135 Storcks, Marin Kreenfelt de 613, 616 Storm, Theodor 745 Strindberg, August 745 Stuarts, schott. Dynastie 549 Sturm, Leonhard Christoph 712 Sugiura, Miki 333 Sulzer, Heinrich 197 Süleyman I., Sultan 556–558 T Tacitus 176 Taut, Bruno 276, 721 Tadmor, Naomi 87 Tessenow, Heinrich 719 Teuschler, Simon 59 Theodoricus, Regina 541 Thompson, Edward P. 434, 438, 442 Thoresby, Ralph 551 Thornton, Alice 96, 550 Tiburtius, Franziska 370, 385 Todd, Emmanuel 335 Toivo, Raisa Maria 126 Tolstoi, Lew 629 Trauns-Meyer, Bertha 371 Tristan, Flora 366 Trossbach, Werner 56, 58 Trexler, Richard 473 Trupat, Christina 260
778
Personenregister
Tschudi, Balthasar Joseph 543, 546 Tucholsky, Kurt 256 Tyndale, William 735 V Varnhagen-Levin, Rahel 360 Varro, Marcus Terentius 659, 660 Vermigli, Peter 668 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel 719 Virchow, Rudolf 368 Vitruv 236, 652, 659, 663, 666, 704–707, 714 Vives, Juan 676 Vlis, Ingrid van der 138 Vogoride, Stephanos 567 Von Cimperg, Brikcí Zvonař 499 Voss, Ernestine 514 Vries, Jan de 91, 132, 134, 139, 193, 463, 464 W Waal, Edmund de 595 Wachsmann, Konrad 280 Warnke, Herbert 282 Warthausen, Wilhelm Freiherr König von und zu 575 Wall, Richard 19, 117, 133, 137 Walpole, Horace 624 Watt, Tessa 203 Weber, Max 19, 21, 25, 56, 419, 551 Wedel, Gudrun 366 Wehler, Hans-Ulrich 50 Weinsberg, Hermann von 54, 55, 537, 540 Wellem, Jan 349 Wendeborn, Gebhard Friedrich August 518 Werdmüller-Esslinger, Magdalena 365 Wetterer, Angelika 356
Whittles, Jane 87, 95 Wicherns, Johann Hinrich 741 Wickop, Walter 280 Wiel, Leopold 280 Wiesner-Hanks, Merry 47, 62 Wijngaarden, Hilda van 138 Wirsing, Thomas 538 Wrigley, Anthony 42, 85 Wrightson, Keith 84, 86 Wright, Frank Lloyd 36, 721 Wolff, Moses 347 Wollstonecraft, Mary 366 Woodforde, James 386 Woolgar, Christopher 62 Woude, Ad van der 132, 134 Wölfflin, Heinrich 384 Wunder, Heide 5, 51 Wyss, Solomon 618 X Xenophon 653–657, 659, 667, 676, 680 Y Yürekli, Zeynep 563 Yver, Jean 67 Z Želivský, Jan 489 Zell, Katharina 460, 461 Zola, Émile 637, 745 Zanden, Jan Luiten van 139 Zschokke, Heinrich 755 Zwaan, Ton 131 Zwingli, Huldrych 731
Ortsregister A Addis Abeba 621 Ägypten 560, 561, 565, 568 ––Kairo 554, 560 Aleppo 555 Algerien 37 Alpen 68, 73, 184, 601 Anatolien 553, 556, 557, 562, 565–568 Antwerpen 469 Asien 68 B Balkan 104, 553, 563, 565 Baltikum/Baltische Staaten 177, 205, 533, 574, 577–580, 582, 583, 586 Barbados-Inseln 550 Bratislava 592 Brügge 210, 669 C China 139 D Damaskus 554 Dänemark 601 ––Kopenhagen 223, 380 Deutschland 13, 20, 23–35, 42, 45, 47, 51, 58, 141, 169, 177, 184, 195, 205, 206, 228, 234, 247, 256–262, 264–268, 271, 273, 276–280, 303, 310, 316, 322, 356, 363, 364, 369, 379, 381, 382, 386, 400, 415, 417, 422, 434, 471, 503, 506–511, 518–522, 574–578, 583, 584, 586, 603, 609, 614, 624, 627, 632, 534, 687, 702, 704, 707, 709–711, 714, 719, 721, 722, 742 ––Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) 280, 283, 720, 721 ––Deutsche Demokratische Republik (DDR) 24, 274, 278–292, 604 ––Aachen 614 ––Augsburg 227, 317, 334, 543, 610, 614, 616 ––Baden 584 ––Baden-Württemberg 595 ––Bartenstein (Schloss) 592 ––Bayern 346, 443
––Berlin 241–245, 252, 255, 259, 260, 268, 276, 282, 349, 350, 351, 358–360, 362, 370, 373, 376, 380, 382, 384, 385, 387, 514, 520, 612, 615 ––Brandenburg 578, 580 ––Bremen 364, 509, 515, 522 ––Burgau 348 ––Bonn 346 ––Coburg 352 ––Darmstadt 258, 268 ––Dresden 263, 274, 282, 285, 287–289, 369 ––Duisburg 603 ––Düsseldorf 349, 350, 351 ––Eisenhüttenstadt/Stalinstadt 279 ––Essen 594, 595, 597 ––Frankfurt am Main 226, 229, 230, 266, 269, 277, 330, 471, 517, 595 ––Frechen 203 ––Friedersdorf 578, 579 ––Fulda 545 ––Goslar 594 ––Halle 358, 618, 736 ––Hamburg 33, 255, 257, 259, 362, 364–366, 505, 507, 508, 512, 514, 516–520, 522 ––Hamm (Hamburg-Hamm) 364 ––Hannover 283, 362 ––Hardenberg (Schloss) 592 ––Hensbach 595 ––Hessen 545, 595 ––Hessen-Marburg 345 ––Hohenlimburg 603 ––Holstein 360 ––Hutterfeld 595 ––Jena 238 ––Karlsruhe 385 ––Kettwig 595 ––Kirchberg (Schloss) 592 ––Kleinsteinach 352, 353 ––Köln 54, 203, 344–346, 514, 537, 540, 614, 615 ––Königsberg 169, 603, 729 ––Königstein im Taunus 595 ––Krefeld 365 ––Landsberg (Schloss) 595 ––Langenburg (Schloss) 592 ––Leipzig 260, 517, 632 ––Lippe 612
780
Ortsregister
––Lübeck 56 ––Mainz 613, 616 ––Mannheim 262, 267, 609, 616 ––Mansfeld 728 ––Mecklenburg 579 ––München 154, 251, 259, 277, 375, 387, 613 ––Norddeutschland 422, 507, 513, 574, 592 ––Nordostdeutschland 582 ––Nordwestdeutschland 188 ––Nürnberg 209, 225, 227, 229, 547, 614, 616 ––Oberdeutschland 227 ––Oehringen (Schloss) 592 ––Oldenburg 517 ––Olsberg 365 ––Osnabrück 59, 332, 428, 429 ––Ostdeutschland 604 ––Pommern 738 ––Preußen 21, 335, 351, 572–573, 575, 578, 580–583, 586, 611, 696 ––Raeren 203 ––Rheinbecken 177 ––Rheinland 203 ––Ruhrgebiet 381, 595 ––Sachsen 57 ––Siegburg 203 ––Sinbronn 538 ––Schillingsfürst (Schloss) 592 ––Schwaben 323, 348 ––Schweinfurt 352 ––Süddeutschland 33, 443, 546, 592 ––Südwestdeutschland 59, 572, 581, 582 ––Tübingen 454 ––Ulm 223, 259, 478, 538, 547, 710 ––Waldenburg (Schloss) 592 ––Warthausen 575 ––Weikersheim (Schloss) 592 ––Weimar 238, 239 ––Westfalen 322, 324 ––Worms 347 ––Württemberg 260, 552, 579, 582, 732, 733 ––Würzburg 351, 358, 367, 545 ––Zerbst 739 E England 5, 31, 41, 83–97, 107, 139, 141, 177, 184, 187, 188, 191, 193, 195, 200, 205, 207, 241, 245, 247, 257, 258, 299, 303, 307, 316, 325, 365–370, 382, 393, 403, 415, 425, 434, 441, 450, 451, 505, 506, 509, 510,
518–522, 548, 550, 595, 598, 599, 602, 676, 677, 681, 704 ––Barnstaple 208 ––Berkeley 184, 191 ––Birmingham 267 ––Brentford 208 ––Bristol 270 ––Cambridge 369 ––Cambridgeshire 188 ––Cheshire 188 ––Cornwall 176, 186 ––Devon 208 ––Gloucestershire 184, 191 ––Hampshire 188, 201 ––Hertfordshire 202, ––Kent 92, 188, 191 ––Langstrothdale 200 ––Leeds 548 ––Lincolnshire 188 ––Liverpool 381 ––London 27, 34, 86, 87, 94, 190, 202, 204, 206, 234–236, 249, 252, 267, 307, 309, 311, 382, 419, 490, 493, 506, 510, 512, 518–522, 548, 595, 612 ––Manchester 267, 270 ––Middlesex 208 ––Norfolk 188 ––North Yorkshire 200 ––Oxford 207, 369, 668 ––Pittleworth 201, 206 ––Salisbury 208 ––Sandwich 92 ––Stoneleigh 92 ––Stratford-upon-Avon 238 ––Warwickshire 92 ––Yorkshire 360, 549 Estland 577 F Finnland 116, 117, 126, 310 Frankreich 5, 41, 65–67, 70–73, 81, 103, 107, 123, 141, 176, 177, 181, 182, 184, 187, 191, 234, 246, 247, 284, 299, 310, 314, 322, 327, 330–333, 346, 362, 366, 368, 369, 397, 400, 418, 434, 441, 447, 450, 451, 546, 585, 595, 596, 613, 614, 617, 637, 667, 670, 676, 679, 681, 702–704, 707–711, 714, 718–721, 745 ––Aix-en-Provence 478
Ortsregister ––Béarn 66, 70 ––Bretagne 176 ––Burgund 176 ––Caen 185, 192 ––Elsass 343, 348, 541 ––Fontainebleau 181 ––Île-de-France 176 ––Le Creusot 381 ––Lothringen 72 ––Lyon 75, 79 ––Margeride 73 ––Marseille 607 ––Montaillou 67 ––Montpellier 453 ––Nantes 79 ––Nordfrankreich 176, 381 ––Normandie 185, 191, 192 ––Paris 28, 74–78, 81, 236, 237, 241, 243, 245, 248, 252, 255, 358, 366, 368–370, 382, 400, 419, 472, 574, 595, 610, 613, 614, 617, 710 ––Picardie 73 ––Reichshofen 348 ––Rouen 74, 81 ––Saint-Denis 596 ––Straßburg 460, 668 ––Südfrankreich 327, 332 G Griechenland 312, 566, 567 Griechenland (antikes) 37, 115, 177, 424, 646, 649–652, 656–663, 666–669, 703, 705, 714 ––Athen (antikes) 652–653, 656–658 ––Böotien 652 ––Gadara 658 ––Samos 567 ––Sparta (antikes) 656, 717 Großbritannien 177, 191, 197, 256, 260–262, 266–271, 362, 368, 369, 394, 400, 441, 533, 599, 601, 612 I Indien 599 Irak 561, 565 Irland 190, 191, 599, 600 Israel 337, 338 ––Jerusalem 337
781
Italien 20, 43, 45, 94, 99–112, 177, 180–189, 196, 298, 299, 303, 305–316, 329–333, 362, 442, 468, 474, 478–481, 592, 598, 600, 601, 662, 667, 670, 672, 674, 676, 681, 702–707, 709, 710, 714, 722 ––Apulien 112, 307 ––Bologna 311, 358 ––Florenz 100, 186, 308, 473, 492, 667, 669, 672 ––Genua 186 ––Julisch Venetien 104 ––Kampanien 111 ––Marken 102 ––Mailand 100, 593, 614 ––Mittelitalien 106, 108, 189 ––Modena 478 ––Neapel 470, 593, 658 ––Norditalien 111, 574 ––Piemont 101, 111 ––Rom 222, 316, 317, 445, 470, 479–481, 593 ––Romagna 308 ––San Gimignano 592 ––Sardinien 112 ––Siena 470, 474, 476 ––Sizilien 188, 307 ––Südtirol 332 ––Toskana 103, 106, 182, 186, 192, 307, 308, 592, 593 ––Trentino 332 ––Tret 332 ––Trient 303, 317, 318, 478 ––Triest 612 ––Turin 100 ––Udine 308 ––Venedig 184, 307, 311, 312, 333, 474, 479, 481, 492, 561, 601, 615 ––Veneto 308 ––Vicenza 181, 314, 707 K Kurland 577 Krim 553, 564 L Lettland 582 Litauen 577 Livland 577
782
Ortsregister
M Maghreb 190 Mittelmeer/Mittelmeerraum 3, 175, 184, 482, 658 Mitteleuropa 3, 179, 341, 482, 488, 490, 711 Neuengland 481 Niederlande/Holland 41, 43, 131–147, 195, 205, 210, 211, 236, 333, 397, 422, 511, 614, 676 ––Amsterdam 390 Nordeuropa 3, 177, 179, 204, 205, 209, 273, 482 Norwegen 126, 184 O Odessa 595 Osmanisches Reich 456, 465, 533, 553–560, 562, 564–566, 569, 619 Österreich 107, 184, 247, 251, 322, 434, 451, 543, 594, 612, 618, 632, 633, 644, 696, 698, 721, 757 ––Burgenland 592 ––Eisenstadt 592 ––Linz 55, 346 ––Mühlviertel 633 ––Oberösterreich 633, 644 ––Salzburg 322 ––Steiermark 543 ––St. Felix 332 ––Tirol 191, 328, 330, 612 ––Unterösterreich 644 ––Wien 50, 57, 154, 236, 240, 249, 251–253, 368, 376, 380, 382, 537, 574, 592, 593, 595, 596, 605–612, 616, 617 Österreich-Ungarn 362, 369 Osteuropa 217, 278, 335 Ostmitteleuropa 24, 42, 43 P Polen 176, 177, 184, 188, 205, 601, 707 ––Danzig 733 Portugal 184, 601, 707 ––Lissabon 611 Pyrenäen 66–68, 327 R Reich, Hlg. röm. dt. Nat. 5, 205, 347, 368 Rom (antikes)/Imperium Romanum 176, 607, 645–652, 657–666, 675, 705, 714 ––Baetica (antikes) 662
Rumänien 362, 566 ––Moldau (Rumänien) 566, 567 Russland 177, 184, 273, 276, 307, 362, 572–577, 579–586, 601 ––St. Petersburg/Leningrad/Petrograd 273, 276, 382, 585 ––Magnitogorsk 2, 78 ––Moskau 273, 277, 281, 282 S Schlesien 611 Schottland 176, 188, 200, 239 Schweden 5, 41–46, 113, 116, 119, 121–126, 308, 310 ––Dalarna 114 ––Orsa 114 ––Stockholm 121, 380 ––Umeå 116 ––Uppsala 121 Schweiz 24, 31, 35, 107, 184, 203, 205, 355, 360–370, 433, 434, 441, 451, 722, 731, 741, 751–757 ––Aarau 360 ––Aargau 545, 595, 601, 614 ––Ardez 203 ––Bern 33, 369 ––Bremgarten 545 ––Basel 32, 33, 289, 453, 540, 547 ––Ennenda 546 ––Genf 369, 540, 606, 614, 619, 731, 732 ––Glarus (Kanton) 546 ––Lützelflüh 753 ––Mollis 355, 368 ––Poschiavo/Puschlav 601, 602 ––St. Gallen 542 ––Toggenburg 545, 547 ––Wallis 326 ––Yverdon 360 ––Zürich 33, 197, 365, 367, 369–371, 376, 380, 383–387, 423, 538, 542, 668 Seoul 621 Skandinavien 113–116, 128, 177, 205, 307, 362 Sowjetunion 273–279, 281, 287–292, 586 Spanien 107, 176, 184, 186, 314, 332, 362, 537, 601, 707 ––La Mancha 176 ––Madrid 612, 616, 617 ––Tierra de Campos 184 ––Tierra del Pan 184
Ortsregister ––Valle del Duero 191 Südeuropa 335 Syrien 565, 568
––Manisa 557, 562 ––Sivas 567 ––Trabzon 557
T Tokyo 595 Tschechien 42, 149, 151–155, 157, 159, 160, 163, 164, 485 ––Altpilsen 162 ––Böhmen 41, 149, 150, 153, 169, 150, 153, 158, 160–164, 177, 229, 489–492, 500, 537, 544, 613, 618, 620, 731 ––Litomyšl 618 ––Mähren 158 ––Pilsen 162 ––Prag 368, 485–494, 496, 498–501, 747 Tschechoslowakei 152, 153 Türkei 570 ––Ankara 563 ––Bağçasaray 553, 564 ––Bursa 568 ––Divriği 567, 569 ––Doğubeyazit 553, 565 ––Edirne 557, 562, 564 ––Eskişehir 563 ––Istanbul 553–569 ––Kayseri 553, 563, 567–569 ––Kütahya 557
U Ungarn 184, 205, 592, 594, 614, 619, 620 ––Fertöd 592 ––Gödöllő (Schloss) 594 ––Veszprém 619
783
V Vereinigte Staaten/USA 36, 47, 58, 106, 280, 370, 389, 396, 473, 599–601, 617, 720, 721, 757 ––Marion County 620 ––New York 203, 211, 370, 604 ––Pennsylvania 205 ––Philadelphia 370, 617 ––West Virginia 620 W Westeuropa 20, 73, 131, 132, 134, 139, 154, 163, 164, 217, 224, 327, 331, 335 Z Zagreb 376