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German Pages 251 [252] Year 2021
Europäische Utopien – Utopien Europas
Europäische Utopien – Utopien Europas
Interdisziplinäre Perspektiven auf geistesgeschichtliche Ideale, Projektionen und Visionen Herausgegeben von Oliver Victor und Laura Weiß
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dekanats der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
ISBN 978-3-11-075365-3 e-ISBN [PDF] 978-3-11-075694-4 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-075700-2 Library of Congress Control Number: 2021944595 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston d|u|p düsseldorf university press ist ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH Umschlagabbildung: Holzstich aus Camille Flammarion: L’atmosphère. Météorologie populaire (1888), S. 163, Bibliothèque nationale de France Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com dup.degruyter.com
Inhalt Oliver Victor und Laura Weiß 1 Einleitung Christoph Kann Augustinus’ philosophischer Surrealismus
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Helmut Brall-Tuchel Inseln, Reisen, Utopien: Residuen utopischen Denkens in der mittelalterlichen Literatur 29 Nina Scheibel Wolframs Visionen? Diversität, Identität und der Entwurf einer (inter‐) 47 kulturellen Wertegemeinschaft im Willehalm Volker Sliepen Auf der Schwelle zum gegenwärtigen Heil: Von utopischen Räumen, Zeiten 69 und Menschen in mittelalterlichen (Anti‐)Legenden des Passional Monika Steffens Zuviel ist nicht genug – Gier und Gleichheit in Morusʼ Utopia Roland Braun Baruch de Spinoza zwischen Realismus und Utopie
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Luise Maslow „…den Vorschriften der Natur folgend, zugleich so weise und so glücklich“ – Fénelons Les Aventures de Télémaque als literarisches Gartenprogramm der 123 Wilhelmine von Bayreuth Tim Willmann Mythologie der Vernunft? Zum Utopie-Entwurf im sogenannten ältesten 149 Systemprogramm des Deutschen Idealismus Dennis Sölch Philosophie als utopische Existenz: Thoreaus Kritische Theorie
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Inhalt
Efrat Gal-Ed Jiddisch: Von exterritorialer Literatur zum Literaturland
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Sabrina Proschmann Europäische Utopien und die Post – Briefmarken als Botschafterinnen 211 Europas? Eva Mona Altmann Theokratie in Europa – zeitgenössische französische Utopien: Soumission (2015) von Michel Houellebecq und L’Exil des mécréants (2017) von Tito Topin 225 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Personenregister
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Einleitung
Spätestens seit Platon und dessen Politeia prägen Utopieentwürfe die europäische Geistesgeschichte.¹ Kontroverse Diskussionen über fiktive Gesellschafts- oder Staatsformen lassen sich daher bereits bis in die Wiege der europäischen Philosophie zurückverfolgen. Diese Entwürfe können als Utopien avant la lettre bezeichnet werden, insofern erst in der Renaissance mit Thomas Morusʼ Werk Utopia und seiner Rezeption der Terminus ‚Utopie‘ Einzug in die Geisteswissenschaften gehalten hat und zum festen Bestandteil der Terminologien historisch-philologischer Wissenschaften einschließlich der Philosophie wurde.² Indem Morus seinem Werk den Kunstnamen Utopia als Titel gab, wurde er zum Namensgeber eines ganzen literarischen Genus. Der Terminus ‚Utopie‘ wird aus den griechischen Worten ‚ou‘ (nicht) und ‚tópos‘ (Ort) zusammengesetzt und kann somit als ‚Nichtort‘, ‚Nirgendort‘ oder ‚Nirgendwo‘ übersetzt werden. Als wesentliches Charakteristikum einer Utopie gilt seither der Entwurf einer idealisierten Staatsoder Gesellschaftsform, der sich kritisch von den jeweiligen zeitgenössischen Zuständen distanziert und diesen ein räumlich oder zeitlich fiktives und argumentativ-rational gestütztes Ideal entgegenstellt.³ An die Vielzahl literarischer Utopien, die an die Grundidee der Erzählung von Morus anknüpfen, hat sich längst eine eigenständige sowie Disziplinen übergreifende Utopieforschung angeschlossen, die sich der Rekonstruktion und kritischen Reflexion jener Entwürfe verschrieben hat.⁴ Beschränkt man den Utopiebegriff jedoch nicht auf die literarische Gattung und damit auf das Spektrum idealer Staats- oder Gesellschaftsformen, sondern erweitert ihn vielmehr um den Bereich von Denkfiguren, Idealvorstellungen und Visionen im Allgemeinen, eröffnen sich besonders aus interdisziplinärer Sicht zusätzliche gehaltvolle Perspektiven. In diesem Kontext wird der Utopiebegriff
Einen bis in die Antike zurückgehenden historischen Überblick über die Vielfalt solcher Entwürfe bietet nach wie vor das einschlägige Werk Utopische Profile von Saage. Siehe hierzu Saage, 2001–2003; vgl. auch Saage, 2006. Zur semantischen Entwicklung des Wortes ‚Utopie‘ siehe Funke, 2005, S. 11– 32. Zur Geschichte des Utopiebegriffs in der Philosophie im Besonderen siehe u. a. Dierse, 2001. Einen Umriss des philosophischen Begriffs des Utopischen leistet des Weiteren Pieper, 1996, S. 183 – 187. Vgl. Heyer/Saage, 2011, S. 811– 815. Einen aktuellen exemplarischen Überblick über die Vielfalt der Utopieforschung bietet der anlässlich des 75. Geburtstages von Saage herausgegebene Band Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung. Vgl. Amberger/Möbius, 2017. https://doi.org/10.1515/9783110756944-001
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dann um ‚utopisches Denken‘ oder ‚utopisches Bewusstsein‘ erweitert und somit zum Forschungs- und Untersuchungsgegenstand geistes-, kultur- und ideengeschichtlicher Disziplinen. So ist dann auch von dem Utopischen die Rede. Verschwiegen werden soll indes keineswegs, dass das Wort ‚Utopie‘ nicht durchweg positiv besetzt, sondern insbesondere dessen adjektivische Verwendung im alltagssprachlichen Gebrauch häufig pejorativ konnotiert ist. Man denke an die Redewendung ‚Das ist doch utopisch!‘, die auf die Realtitätsferne einer Absicht anspielt und diese mit einer Art Wunschdenken gleichsetzt. Der vorliegende Band konzentriert sich jedoch auf den konstruktiven Beitrag und Mehrwert, den Utopieentwürfe leisten oder zumindest zu leisten beanspruchen. Mittels der genannten Erweiterung des Utopiebegriffs werden nun auch Fragen nach kultureller Identität und Projektionen einer möglichen europäischen Wertegemeinschaft oder – noch grundsätzlicher – nach einem gelungenen individuellen Lebensentwurf zentral für den Utopiediskurs.⁵ Die zusätzliche Klassifizierung der hier diskutierten Utopien als ‚europäisch‘ umfasst dabei im Kern zwei Aspekte: (1) Entwürfe, welche inhaltlich an Diskurse der europäischen Geistesgeschichte anschließen, und (2) Visionen für Europa als ein geographisches oder politsches Gebilde. Diesen und weiteren Themenkomplexen, die zur Konstitution und Transformation europäischen Denkens und Selbstverständnisses geführt haben, widmet sich der vorliegende Band mittels eines interdisziplinären Ansatzes mit historischem Schwerpunkt. Zeitlich decken die Beiträge das Spektrum von der Spätantike bis zur Gegenwart ab, wobei sowohl Klassiker der utopischen Literatur wie Morus’ Werk selbst als auch weniger rezipierte Entwürfe aus mittelalterlicher Literatur und Philosophie diskutiert werden. Mit dem Mittelalter findet so eine Epoche Berücksichtigung, die ansonsten kaum im Zentrum der Utopieforschung, welche sich meist primär auf die Renaissance und Neuzeit fokussiert, steht. Es ist eines der zentralen Anliegen dieses Bandes, zum Schließen dieser Lücke beizutragen und der These, es handele sich beim Mittelalter um ein „utopiegeschichtliches ‚Vakuum‘“⁶, entgegenzuwirken. Das breite historische Spektrum zeigt deutlich, dass die Debatte um die Tauglichkeit utopischer Entwürfe das europäische Denken über Epochen hinweg beschäftigt hat und somit im kulturellen Gedächtnis Europas ihren festen Platz besitzt. Der historische Blick auf das Verhältnis zwischen Realität, Zukunftsvisionen und Idealen schärft zum einen das kritisch-reflexive Geschichtsbewusst Der wissenschaftliche Utopiediskurs wird seit jeher durch unterschiedliche Verständnisse des Utopiebegriffs und -gegenstands geprägt. Einen Überblick über die verschiedenen Begriffe und Definitionen liefern vor allem Heyer/Saage, 2011. Schölderle, 2017, S. 58. Diese These selbst geht auf Schulte Herbrüggen, 1960, S. 115 zurück.
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sein und ermöglicht zum anderen auch die Aktualisierung und adäquate Verortung gegenwärtiger gesellschaftlicher Utopien. Dabei kann die kritische Reflexion des historischen Erbes die Diskurse der Gegenwart – etwa über eine europäische Verantwortung, Wertegemeinschaft und Zukunft – bereichern und zu einem besseren Verständnis aktueller Utopiemodelle beitragen. Zugleich deutet sich schon der Mehrwert der Ausweitung des Bedeutungsspektrums des Utopiebegriffs an, dem der Band ebenso verstärkt nachgeht. Dieser Ausweitung des Utopiebegriffs tragen die Beiträge insofern Rechnung, als sie Idealvorstellungen und Visionen aus der Vielfalt der europäischen Geistesgeschichte untersuchen, wobei sie diverse historische und geographische Räume abdecken. Sie alle reflektieren aus unterschiedlichen Perspektiven und an verschiedenen Beispielen ebenjenes utopische Denken, das sich in der zeitgenössischen Literatur und Kultur widerspiegelt und oftmals als Kontrastfolie zur Realität fungiert. Das breite Spektrum der Kulturphänomene miteinbeziehend, finden neben literarischen Utopiekonzepten auch in der Realität manifestierte Entwürfe Berücksichtigung: So können etwa Gärten mit Michel Foucault als Heterotopien⁷, d. h. realisierte Utopien, diskutiert werden. Das Konzept der Heterotopie wiederum bietet sich an, um der Frage nachzugehen, ob und inwiefern es charakteristisch für eine Utopie ist, eben (noch) nicht realisiert zu sein. In der Zusammenschau veranschaulichen die Beiträge des vorliegenden Bandes den Mehrwert eines weitgefassten Utopiebegriffs und des interdisziplinären Ansatzes. Die verschiedenen Betrachtungen zeigen, dass Vorstellungen von Idealwelten und -typen immer schon tief im europäischen Denken verankert waren und Utopien somit maßgeblich zu den kulturellen Grundlagen Europas zählen. Die Ansätze schärfen zugleich den Blick für die Entwicklung utopischen Denkens von der antiken bis in unsere heutige Welt. Als verbindendes Element der utopischen Denkmodelle erweist sich dabei vor allem der kritische Rekurs auf zeitgenössische Gesellschaftsmodelle und Lebensumstände, die stets hinterfragt werden und deren Status Quo es zu überwinden gilt. Da Utopien und Utopiediskurse Untersuchungsgegenstände unterschiedlicher historisch-philologischer Disziplinen sind, und damit, wie einmal mehr anhand der hier versammelten Beiträge gezeigt werden soll, die Utopieforschung der Interdisziplinarität verpflichtet ist, verzichtet der Band auf eine systematische Anordnung der einzelnen Beiträge und folgt einer chronologischen Reihenfolge gemäß den thematisierten Autoren und Werken. Der Band schließt an eine im Januar 2019 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattgefundene Tagung zu Projektionen, Visionen und Idealen der
Vgl. Foucault, 1992, S. 38 f.
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europäischen Geistesgeschichte an. Die Mehrzahl der versammelten Aufsätze geht auf Vorträge dieser Veranstaltung zurück, zudem konnten weitere thematisch einschlägige Beiträge hinzugewonnen werden. Frühen Spuren utopischen Denkens geht Christoph Kann in seinem Beitrag zu Augustinus’ spätantikem philosophischen Surrealismus nach. Augustinus wird als eine ‚liminal entity‘ in mehrfacher Hinsicht beschrieben. So stehe der Bischof von Hippo klassischerweise für die Epochenzäsur von Antike und Mittelalter, aber auch topographisch – in Nordafrika geboren, überwiegend in Mailand und Rom lehrend – bewege er sich zwischen zwei kulturellen Räumen. Diese Perspektiven werden um eine innovative dritte angereichert, insofern Augustinus mit dem christlichen Neuplatonismus einerseits und dem spekulativen Surrealismus andererseits zwei prima facie disparate Traditionen der europäischen Geistesgeschichte miteinander vereine. Anhand einer vergleichenden Analyse der Confessiones und De civitate Dei wird aufgezeigt, wie die Gedächtnistheorie für das visionäre Bild eines Gottesstaates den epistemologischen Hintergrund liefert. Die ‚civitas caelestis‘ trage zwar utopistische Züge, sei aber nicht mit einer Utopie gleichzusetzen. Vielmehr bewege sie sich mit ihrem Realisierungspotenzial zwischen den Ismen ‚Realismus‘ und ‚Idealismus‘ und könne als Surrealismus begriffen werden. Der Kennzeichnung ‚Surrealismus‘ wird dabei sowohl eine Leistungsfähigkeit im Hinblick auf Philosopheme allgemein als auch für Augustinus im Besonderen attestiert. Der Surrealismus reduziere die Realität nicht auf das bloß Faktische, sondern stehe für ein multiples Realitätsverständnis, das unausschöpfbare Möglichkeiten inkludiere. Indem Augustinus die irdische ‚civitas‘ und den Gottesstaat gegenüberstelle, sensibilisiere er den Menschen für den Möglichkeitsraum des Realen. Helmut Brall-Tuchel untersucht utopische Entwürfe in mittelalterlichen Reiseberichten, da vor allem das Reisen als überschreitendes Element den Entwurf alternativer Vorstellungen und Welten ermögliche. An unterschiedlichen Texten – beginnend im Frühmittelalter mit der Navigatio Brendani und schließend mit dem sogenannten ‚Niederrheinischen Orientbericht‘ aus dem Spätmittelalter – beleuchtet Brall-Tuchel das Motiv des Reisens und arbeitet der oft anzutreffenden ‚Mittelalterblindheit‘ der Utopieforschung entgegen. Er charakterisiert das Reisen als einen dynamischen Topos und zugleich als wichtiges Merkmal utopischen Denkens. Die hier ausgewählten Beispiele heben Inseln als Projektionsflächen für Wunschräume und Wunschzeiten hervor – und das nicht erst seit Morusʼ Utopia. Der Beitrag analysiert Zusammenhänge zwischen imaginierten Räumen, fiktiven und realen Reisen und visionären Denkmustern. Im Fokus stehen utopische Konstrukte am Beispiel ‚paradiesischer‘ Inseln und damit einhergehender Visionen in der Ferne liegender idealer Gemeinschafts- und Herrschaftskonzepte. So eröffneten etwa die Wunder der heiligen Insel aus der Brendan-Legende Raum für
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utopisches Denken, indem sie an ein topographisch nachvollziehbares Residuum und an die Sphäre der Immanenz gekoppelt seien. Verwandte Motive würden in den Darstellungen des indischen Reichs im fingierten Brief des Priesterkönigs Johannes skizziert. Dies impliziere Wünsche und Sehnsüchte nach Reichtum und gerechter Herrschaft genauso wie die Vorstellung von einem Leben in Demut, Aufrichtigkeit und Gesundheit. Trotz jener utopischen Denkmodelle etwa in Bezug auf eine über jegliche Religionsgrenzen hinweg bestehende friedliche Herrschaftsform, sei allem mittelalterlichen utopischen Denken dennoch eines gemein: Das Bewusstsein, dass die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies unwiderruflich sei. Nina Scheibel führt den Diskurs zu europäischen Utopien in der mittelalterlichen Literatur fort und untersucht utopische Vorstellungen im mittelalterlichen Epos vor dem Hintergrund zeitgenössischer Glaubensdifferenzen zwischen Orient und Okzident anhand des Krieges zwischen Christen und Sarazenen in dem zwischen 1210 und 1220 entstandenen Willehalm-Roman Wolframs von Eschenbach. Im Zentrum steht die Diskussion potenzieller Lösungsangebote des religiösen Konflikts. Hierzu stellt sie die Frage nach dem visionären Gehalt des Romans, indem sie die Darstellung von Christen und Heiden jenseits ihrer religiösen Identität auf gemeinsame normative Werte, Moralvorstellungen und Ordnungsentwürfe hin befragt. Besonders signifikant erscheint ihr dabei das utopische Potenzial einer antizipierten friedlichen Koexistenz der unterschiedlichen Kulturen und Glaubensgemeinschaften, die aufgrund eines geteilten Wertekanons bestehen könnte. Selbst wenn dieser utopische Entwurf eines friedlichen Nebeneinanders trotz Glaubenskriegen zwischen Christen und Sarazenen im 13. Jahrhundert ausschließlich innerhalb der fiktiven erzählten Welt des Romans gelte, sei hier das Potenzial einer gesamtgesellschaftlichen Lösung durch die Imagination einer (inter‐)kulturellen Wertegemeinschaft zumindest angelegt. Zwar könnten wir nicht von fortschrittlichen Visionen eines Dichters zu einer Zeit, in der das Christentum andere Glaubensgemeinschaften negiert, sprechen, dennoch würden die antizipierten Alternativen der Konfliktlösung einen – wenn auch fiktiven – utopischen Entwurf jenseits von Glaubensunterschieden koexistierender Gesellschaften im Hochmittelalter bereitstellen. Utopisches Erzählen wird so zu einer Imagination von Wunschräumen und Wunschzeiten. Vor dem Hintergrund derzeit sich wieder forcierender globaler Konflikte zwischen diversen Konfessionen gewinnt ein solcher Entwurf trotz aller Differenzen zwischen den heutigen und hochmittelalterlichen Gesellschaften wieder an Aktualität und verliert nicht sein utopisches Potenzial. Auch Volker Sliepen wendet sich der Frage nach utopischen Konzepten und deren Vielfalt in der mittelalterlichen Literatur zu. Sliepen verfolgt die Spur utopischen Denkens weiter, indem er christlich-mittelalterliche Erzählungen über
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unheilige und heilige Menschen auf ihre utopischen Momente hin untersucht und dabei Kritik an der weit verbreiteten Typisierung des Mittelalters als „utopiegeschichtliches ‚Vakuum‘“⁸ übt. Gegenstand der Betrachtung bilden ausgewählte Legenden des volkssprachlichen Passional und in ihnen die Darstellung utopischer Räume, Zeiten und Menschen. Dabei wird der Ansatz verfolgt, die Heiligenviten auf die in ihnen antizipierte Sozialkritik, und damit auf eines der kennzeichnenden Elemente von Utopien überhaupt, zu hinterfragen. Neben der Kritik an der Missachtung christlicher Glaubensgrundsätze und sündhaftem Verhalten wie Gier und Neid lasse sich auch eine umfassende Kritik am adeligen Feudalsystem erkennen. Die Heiligenviten des Passional verdeutlichen, so Sliepen, wie nah Utopie und Dystopie, Ideal und Schreckensvision, im legendarischen Erzählen beieinander liegen können. Ein utopisches Gemeinschaftsideal, verkörpert in der Darstellung eines ausgezeichneten Menschen, könne erst kontrastierend vor der Folie des Schreckens und Bösen volle Entfaltung finden. Utopischen Gehalt bekämen die Heiligenviten nicht zuletzt dadurch, dass sie, ihres Gegenstandes zum Trotz, nicht primär eschatologisch, sondern vielmehr durch einen radikalen Gegenwartsbezug geprägt seien. Thomas Morusʼ Utopia gilt nicht nur als Klassiker der politischen Philosophie und Weltliteratur; mit diesem Werk und dieser Zeichnung eines alternativen, utopischen Staates wird zudem das literarische Genre der Utopie als solches begründet, für das das Werk als Namensgeber fungiert. Ebenjenem Idealstaatsentwurf der Renaissancephilosophie von Thomas Morus widmet sich Monika Steffens, indem sie die auf der fiktiven Insel Utopia lebende Gesellschaft in Bezug auf ihre Prinzipien hinterfragt, dank derer jedem Bürger die Voraussetzungen gegeben sind, ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Insbesondere im Hinblick auf die Missstände in den europäischen Staaten des 16. Jahrhunderts skizziere Morus einen alternativen Staat, der sich durch die ökonomische, politische und soziale Gleichheit aller Menschen auszeichne. Dadurch entwerfe Morus zugleich eine Kontrastfolie zu und Kritik an den zeitgenössischen Umständen. Indem die auf umfassende Gleichheit basierende Gesellschaftsordnung, die einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und politischen Ämtern gewährleistet, in den Vordergrund rückt, wird neben der unbestreitbaren historischen auch die aktuelle Relevanz des Werkes evident. Wenngleich das heutige Europa sich einigen – für die damalige Zeit höchst fortschrittlichen – Forderungen angenähert und in Form unserer modernen Demokratien realisiert hat, bleibt der größte Kritikpunkt Morusʼ an den zeitgenössischen Staaten für Steffens durchaus bestehen: das Prinzip der Gier, das schier unaufhaltbare Bestreben nach materiel-
Schölderle, 2017, S. 58. Vgl. hierzu Schulte Herbrüggen, 1960, S. 115.
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lem Reichtum, welches tief im System des Kapitalismus verankert scheint. Dieser Tatsache zum Trotz lasse sich das, was zu Zeiten Morusʼ als frommer Wunsch gelten musste, als zumindest teilweise realisiert betrachten. Mit dem Beitrag von Roland Braun liegt nun das Augenmerk auf Utopiekonzepten der Neuzeit. Er untersucht Baruch de Spinozas Hauptwerk Ethica und seinen Tractatus politicus in ihrem Spannungsfeld zwischen Utopie und Realismus. Dabei geht er auch auf Spinozas eigenes Anliegen ein, eine Theorie der Politik zu entwerfen, die realistischen Ansprüchen genügt, und sich somit von den Verfassern klassischer Staatsutopien mit und seit Thomas Morus zu distanzieren. Der Vergleich der beiden Texte ermöglicht Einblicke in Spinozas Utopie, seine Beurteilung des Verhältnisses von Utopie und Realismus und beleuchtet das Ideal Spinozas, welches er in seinen Werken artikuliert. Gemäß dem hermeneutischen Anspruch, einen Autor besser verstehen zu wollen als dieser sich selbst, werden durchaus als utopisch typisierbare Momente des Tractatus politicus offengelegt. Seiner Abhandlung wohne ein idealtypisches Element inne, insofern Spinoza ein Idealmodell des Kollektivs konstruiere, und zwar analog zum idealen Gefühlshaushalt des Einzelnen, der in der Ethica thematisiert werde. Spinoza gehöre jedoch zu denjenigen Philosophen, die sich keinen Illusionen hingeben, und so brachten ihn die sich in der Realität manifestierenden Unterschiede dazu, eine Politik-Theorie zu konzipieren, die damit eher ein Konzept eines Ideals denn eine Utopie im strengen Wortsinne sei und den Umständen der Wirklichkeit gerecht zu werden versuche. Als Kulturphänomene sind utopische Konzepte keineswegs auf den Bereich der reinen literarischen Produktion begrenzt. Dies zeigt Luise Maslow, indem sie utopische Entwürfe in der Gartenkunst am Beispiel des Felsengartens Sanspareil der Wilhelmine von Bayreuth thematisiert und der Frage nachgeht, ob Gärten als realisierte Utopien betrachtet werden können. Gärten werden klassischer Weise als Exempel angeführt, um die ansonsten starre Dichotomie zwischen Kultur und Natur zumindest infrage zu stellen, wenn nicht sogar aufzuheben. Dies lässt sie besonders im Kontext der Utopieforschung interessant erscheinen. Die Besonderheit des Gartens Sanspareil besteht für Maslow darin, dass er nicht nur unter dem Aspekt der Gartengestaltung und Gartenkunst auf seine utopischen Elemente hin beleuchtet werden kann. Wir werden hier des Weiteren mit dem seltenen Fall eines literarischen Gartenprogramms konfrontiert: Wilhelmine deutete den Garten nach Vollendung der Bauarbeiten anhand von Fénelons Utopie Les Aventures de Télémaque durch ein literarisches Konzept aus. Der Garten erweise sich als Projektionsfläche und Experimentierraum für Denkmodelle einer idealen Gesellschaft und entfalte somit sein utopisches Potenzial. Maslow analysiert nicht nur die gestalterischen Besonderheiten des Gartens, die innerhalb der Gartenkunst wegweisend waren, sondern bezieht das literarische Programm in die
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Interpretation des Gartens entschieden mit ein. Somit werde deutlich, dass Sanspareil gleich in zweifacher Hinsicht ein utopisches Element innewohnt: Zum einen biete seine Struktur einen Gegenentwurf zur zeitgenössischen höfischen Kultur, zum anderen würden durch das literarische Programm alternative Staatsund Herrschaftsideale präsentiert. Es zeigt sich, wie ein Garten in einer Art und Weise gestaltet werden kann, die es ermöglicht, die Handlung eines Romans bei einem Spaziergang gewissermaßen nachzuspielen und nachzuerleben. Les Aventures de Télémaque seien eine Utopie, die erzieherische Ideale beinhaltet, die im Gartenbau versinnbildlicht werden. Dem Garten wachse somit eine didaktische und pädagogische Funktion zu. Der Gartenbesuch werde wahrlich zu einem Erlebnis, das einen aktiven Part der Besucher einfordert. Abschließend fragt sich Maslow, ob Gärten als realisierte Utopien (Heterotopien) gelten können. Dies mag prima facie paradox anmuten, da es nach gängiger Auffassung zum Wesen einer Utopie gehört, dass sie aufhört, Utopie zu sein, sobald sie in re übergegangen ist. Im Garten realisierte utopische Entwürfe büßten jedoch bei ihrem Eintritt in die Wirklichkeit nichts von ihrer Faszinationskraft ein, da sie als Orte des Experiments unter veränderten Konditionen stets dem Alltag enthoben und somit utopisch blieben. Tim Willmann richtet sein Augenmerk auf das utopische Potenzial eines im Zeitalter der Aufklärung verfassten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals publizierten Textes. Dabei handelt es sich um Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus, dessen Verfasserschaft bis heute kontrovers diskutiert wird. Im Fokus der Betrachtung steht das im Text antizipierte Verhältnis von Philosophie und Poesie bzw. das implizierte Potenzial einer Synthese von Vernunft und Mythologie. Notwendige Bedingung für eine gesellschaftspolitische Utopie sehe das Systemprogramm in der Vermittlung von Vernunft und Mythologie und damit von Philosophie und Dichtung. Worin besteht nun die Notwendigkeit einer solchen Synthese? Die Forderung nach einer wechselseitigen Ergänzung von Philosophie und Poesie impliziere die ästhetische Realisierung von Ideen in der poetischen Rede. Das Systemprogramm messe der Dichtung somit einen hohen Stellenwert bei, da sich zuallererst in der Poesie die Vernunft artikulieren und ästhetisch-praktisch realisieren könne. Die auf der Ratio basierende Bewegung der Aufklärung erkenne die Grenzen der theoretischen Vernunft an, die Umsetzung ihrer Ideen sei nur als und in der Dichtung möglich. Dieser Entwurf einer versinnlichten Vernunft als Dichtung ist an ein Erziehungskonzept universeller Bildung gekoppelt und damit eine gesellschaftspolitische Utopie, so Willmann. Mit einem Ausblick auf Hölderlins Entwurf Fragment philosophischer Briefe wird aufgezeigt, dass der Dichtung die politische Funktion zuwächst, einen als abhandengekommen geglaubten Sozialzusammenhang wiederherzustellen.
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Dennis Sölch setzt in seinem Beitrag die philosophische Existenz bzw. eine philosophische Lebensführung in Bezug zum Konzept des Utopischen. Die Pluralität und Mannigfaltigkeit der Tradition europäischer Utopien wird hier zudem gewissermaßen geographisch erweitert. Unter dem Topos eines Rufes nach philosophischer Emanzipation von den europäischen Wurzeln im Amerika des 19. Jahrhunderts erscheine unter Rekurs auf das platonische Philosophieverständnis Henry David Thoreau als ein „amerikanischer Platon“⁹. Mit Blick auf Platons Höhlengleichnis charakterisiert Sölch den Weg des Menschen aus der Höhle als Erkenntnis- und Bildungsweg genauso wie als Weg der Philosophie und als eine Entscheidung für ein der Philosophie gewidmetes Leben. Das Entwicklungspotenzial des menschlichen Lebens liege in der Bereitschaft zur grundlegenden Veränderung, in der Abwendung von alltäglichen Routinen, begrenzenden und festgefahrenen Denk- und Handlungsmustern hin zu Veränderungen und neuen Möglichkeiten, die immer auch mit einer Ungewissheit einhergehen, womit das Philosophieren zu einem Wagnis werde. Thoreaus autobiographisches Werk Walden präsentiere den Prozess ebenjener Entscheidung als Utopie eines alternativen Lebensentwurfes und werde durch seinen appellativen Gestus als ethischexistenzielles Werk deutbar. Das Sich-Einlassen auf den unbekannten Weg entziehe sich der Rationalität, da – bedingt durch die begrenzte Erfahrungswelt des Individuums – das eventuell positive, mithin utopische Potenzial, erst retrospektiv erkennbar werde. Aus der kritischen Reflexion der eigenen Lebensführung und der Offenheit für andere Lebensmodelle resultiere die Hoffnung auf neue Möglichkeiten, auf eine utopische Existenz. Besonderes Merkmal des Ansatzes von Thoreau sei zudem, dass von einer schier unendlichen Bandbreite authentischer Lebensentwürfe ausgegangen wird, keiner kann für sich einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Ziel und Inhalt einer philosophischen Existenz könnten nicht positiv und abschließend bestimmt werden; vielmehr solle der Mensch offenbleiben, immer wieder über den Status Quo hinauszugehen und sich auf das Wagnis einer utopischen Existenz einzulassen. Efrat Gal-Ed skizziert in ihrem Artikel die Entwicklung des Jiddischen von einer exterritorialen Literatur zu einem Literaturland. Den 1922 formulierten Ruf des Lyrikers Uri Zvi Grinberg, der die Exterritorialität des Jiddischen beklagt, nach einer Heimat für diese Literatur wird als ein Gegenentwurf zu bestehenden Verhältnissen ausgelegt, der als eine Proklamation des Neuen in kritischer Distanzierung zum Bestehenden ein räumliches und zeitliches utopisches Potenzial entfalte. Die jiddische Literatur, die ohne feste Anbindung an ein klar abgegrenztes Territorium ist, entwickelte sich als Minderheitskultur und -literatur stets
Siehe S. 167 des vorliegenden Bandes.
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in Interaktion mit den sie umgebenden Mehrheitskulturen. Mit der Aufnahme in den PEN 1927 wurde „die Literatur ohne Land zum Literaturland“¹⁰, so Gal-Ed. Dabei stellt sich als ein besonderes Merkmal heraus, dass jenes Literaturland kein Territorium im klassischen Sinne eines Staates mit eindeutig fixierten Grenzen darstellt, sondern vielmehr als reiner Kulturraum existiert: Diese Vision der jiddischen Moderne werde zu einem Gegenentwurf eines europäischen territorialen Zentralstaates. Das Adjektiv ‚jiddisch‘ werde somit zum Namen eines Landes, das auf keiner geographischen Karte zu lokalisieren sei. Als Literaturland werde ‚Jiddischland‘ zu einem utopischen Projekt, insofern es eine räumliche Gegenwelt entwerfe, in der zumindest für eine gewisse Zeit die Verknüpfung von kultureller Differenz und kosmopolitischer Weltanschauung Realität wurde. ‚Jiddischland‘ als realisierter Kulturraum und somit gelebte kulturelle Praxis war keine reine Utopie mehr, verkörperte jedoch zugleich stets ein utopisches Potenzial, da seine Akteure ein andauerndes Bestreben nach Vervollkommnung auszeichnete. Das utopische Projekt ‚Jiddischland‘ sei die Praxis einer Kulturnation ohne Staat; initiiert durch eine Vision, auf die eine Verwirklichung und Institutionalisierung folgten, setzte nach 1945 die Zerstörung ein, und damit blieb die utopische Vision als reiner Gedächtnisort zurück. Anhand von ‚Jiddischland‘ wird das Ideal eines utopischen Kulturraumes exemplifiziert, das als Kontrastfolie zu bestehenden Verhältnissen für eine bestimmte Zeit zumindest teilweise Wirklichkeit wurde. Dass es lohnend ist, den Utopiebegriff nicht exklusiv für die Kennzeichnung der literarischen Gattung vorzubehalten, zeigt einmal mehr der geschichtswissenschaftliche Beitrag von Sabrina Proschmann. Sie untersucht die gemeinsam herausgegebenen Briefmarken der europäischen Postverwaltungen und die auf ihnen dargestellten, mitunter visionären Bilder von Europa. Im Fokus stehen dabei insbesondere die Botschaften der sogenannten ‚Europa-Marken‘, welche die Postverwaltungen der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zwischen 1956 und 1959 herausgegeben haben. Bei der Auswahl der Motive für die Briefmarken werde deutlich, dass stets die europäische Zusammenarbeit im Post- und Telekommunikationswesen im Vordergrund stand, nicht aber die Absicht, ein dezidiertes politisches Projekt oder Ziel zu verfolgen oder zu vermitteln. Das Selbstverständnis der europäischen Postverwaltungen umfasse die Unabhängigkeit von Politik und wirtschaftlichen Institutionen, wenngleich der europäische Zusammenhalt betont werde; dies jedoch insbesondere in Bezug auf die Förderung der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Post- und Fernmeldewesens, wodurch erkennbar das Eigeninteresse der Postverwaltungen im Zentrum stehe. Obwohl die Briefmarken keine politi-
Siehe S. 196 des vorliegenden Bandes.
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schen Visionen eines geeinten und friedlichen Europas zeichnen oder ihrem Anspruch nach vermitteln wollen, so Proschmann, könne die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Postverwaltungen – gerade vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges – durchaus als Vision und Projektionsfläche für andere Bereiche europäischer Zusammenarbeit betrachtet werden. Zudem lasse die Interpretation der Motive auf den Marken von 1956 bis 1959 zumindest einen latenten Friedensappell erkennen. Einem solchen mag in jenen Zeiten schon ein utopischer Gehalt zukommen. Botschafterinnen eines geeinten Posteuropas sind die ‚Europa-Marken‘ allemal. Unter Rekurs auf zwei gegenwärtige französische literarische Utopien, nämlich Soumission von Michel Houellebecq und L’Exil des mécréants von Tito Topin, widmet sich Eva Mona Altmann dem Motiv der Theokratie. Dieser abschließende Beitrag rückt den interdisziplinären Utopiediskurs des Bandes nun in die Gegenwart bzw. in eine fiktionale Zukunft. Die beiden literarischen Zukunftsentwürfe zeichnen ein theokratisches Europa und konzipieren somit eine Art Schreckensszenario, das vor dem Hintergrund des aktuellen gesellschaftspolitischen Kontexts in Frankreich – man denke u. a. an die Terroranschläge vom 13. November 2015 –, aber auch in ganz Europa, besondere Relevanz bekommt. Mittels einer vergleichenden Textanalyse kristallisiert Altmann sowohl die eutopischen als auch dystopischen Elemente beider Utopien heraus. ‚Utopie‘ findet als Oberbegriff Verwendung, unter den sich ‚Eutopie‘ als Kennzeichnung für positive Formen und ‚Dystopie‘ als Typisierung für negative Entwürfe subsumieren lassen. In beiden Werken zeichne sich trotz der dominierenden dystopischen Gehalte eine Art „Binnen-Eutopie“¹¹ ab, die auf den revisionistischen Charakter der Theokratien verweise. Die Romane Houellebecqs und Topins erfüllen wesentliche Charakteristika einer Utopie, so u. a. die kritische Reflexion kontemporärer Entwicklungen, und markieren zugleich, so Altmanns These, einen erneuten Wendepunkt in der Literaturgeschichte, insofern in ihnen die Utopie wieder zu ihren, bereits bei Morus grundgelegten sozialkritischen Wurzeln zurückkehrt, nachdem zuletzt verstärkt technologisierende Zukunftsvisionen, man denke zum Beispiel an den Transhumanismus, im Mittelpunkt standen. Beispielhaft wird deutlich, dass auch heute die Utopieforschung noch keineswegs an ein Ende gelangt ist und durch das stets anhaltende Erscheinen neuer Entwürfe wohl auch nie kommen wird.¹²
Siehe S. 234 des vorliegenden Bandes. Für die kritische Durchsicht der Einleitung und die wertvollen Anmerkungen danken wir Ricarda Bauschke-Hartung und Matthias Ernst Bähr. Eva Locher und Anne Sokoll vom De Gruyter Verlag gilt unser Dank für die erstklassige Betreuung.
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Oliver Victor und Laura Weiß
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Christoph Kann
Augustinus’ philosophischer Surrealismus Ist Augustinus eine plausible Referenzfigur für den thematischen Rahmen der Kulturgeschichte Europas, insbesondere bei einer Fokussierung auf Utopien? Welche Bedeutung kann ihm unter der Leitperspektive von Projektionen und Visionen, von Idealen und Utopien, zukommen? Motive, welche die AugustinusRezeption als glücksverheißende oder heilsgeschichtliche Programmatik im Denken des Kirchenvaters diskutiert, bieten in diesem Kontext Anlass zu einer neuen Sondierung und hypothetischen Perspektivierung, der sich der Titel „Augustinus’ philosophischer Surrealismus“ letztlich verdankt. Augustinus entzieht sich einer klaren ideengeschichtlichen Zuordnung auf mehreren Ebenen. Dass er den Ausgang der Antike und zugleich den Beginn des Mittelalters repräsentiert, ist ausgiebig erforscht und anerkannt. Mit einem Standbein, nämlich dem des Rhetorikspezialisten im Kontext der artes-Tradition, steht der Kirchenvater auf antikem Boden. Sein zweites Standbein, das eines Hauptvertreters des christlichen Platonismus, welcher die Patristik und Scholastik prägt wie kaum ein anderer, weist ihn als Initialfigur mittelalterlicher Philosophie aus. Augustinus steht für ein Denken, das „die christliche Kultur mit dem ‚klassischen‘ Erbe Roms zu versöhnen versuchte“¹. Die Lektüre des Buches XI der Confessiones kann den Eindruck vermitteln, man werde „zum unmittelbaren Zeugen eines Epochenwechsels“². Als liminal entity steht Augustinus, wie von Peter Seele eindrucksvoll rekonstruiert, für einen Prozess, in dem die persönlichbiographische Metamorphose, insbesondere die vielfältig interpretierte Bekehrung mit ihren intellektuellen und ethisch-moralischen Implikationen, das Zentrum einer Epochenschwelle im Sinne Hans Blumenbergs ausmacht.³ Von Augustinus als einer liminal entity lässt sich allerdings nicht nur im Sinne des Epochenwechsels, also mit temporaler Konnotation, sondern auch im Sinne des Ortswechsels, insofern mit regionaler Konnotation, sprechen. Geboren 354 im nordafrikanischen Thagaste, dem heutigen Souk Ahras, wurde Augustinus auf der Grundlage einer fundierten traditionellen Ausbildung Rhetoriklehrer in Rom und Mailand, zeitweilig aber auch in Karthago nahe dem heutigen Tunis, was wohl nicht zuletzt durch seine langjährige Partnerschaft mit einer numidischen Le-
Price/Thonemann, 2018, S. 10. Der Titel des Werkes verbindet die Entstehungsgeschichte des klassischen Europa mit Augustinus in exemplarischer Weise. Horn, 1995, S. 99. Vgl. Seele, 2008 und Blumenberg, 1976. https://doi.org/10.1515/9783110756944-002
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bensgefährtin Spuren hinterließ: „Zwei Jahre lebte Augustinus bereits in Mediolanum [Mailand], als er feststellen musste, dass sich die Einheimischen immer noch über seine afrikanische Aussprache lustig machten.“⁴ Als wegweisender Repräsentant und Interpret des frühen Christentums wurde er im Jahre 391 in Hippo, dem heutigen Annāba in Algerien, zum Priester und 395 zum Bischof geweiht. Als Prediger versuchte Augustinus, verbliebenen Anhängern der polytheistischen römischen Religion den christlichen Glauben nahezubringen. Er selbst hatte zum Christentum über den Umweg des Manichäismus gefunden, eine der Gnosis mit ihrer zentralen Annahme erlösungsrelevanter Gotteserkenntnis zuzurechnende persische Offenbarungsreligion, die von einem ewigen Widerstreit zwischen Gut und Böse ausging. Ersichtlich verdankt Augustinus entscheidende Konturen seines sittlich-moralischen und seines intellektuellen Werdegangs einem mehrdimensionalen kulturellen Hintergrund einschließlich einer besonderen philosophischen, theologischen und religiösen Diversität. Die Quellen der hier lediglich grob zu skizzierenden Einflüsse sind komplex und vielschichtig. Augustinus ist nicht nur selbst eine kulturgeschichtliche Größe, er macht in seinen Schriften die Kulturgeschichte als Bezugs- und Einordnungsrahmen seiner persönlichen Lebensgeschichte zum Thema. In De doctrina Christiana thematisiert er die Beziehung des Christentums zur nichtchristlichen klassischen Kultur, die er als sozialgeschichtliches Phänomen rekonstruiert. Selbst die ‚heidnische‘ Religion sei, wie Price und Thonemann erklären, ein gesellschaftliches Konstrukt, das Opfergaben als Kommunikationsmittel zwischen Menschen und Gottheiten vorsehe.⁵ Aufschlussreicher für unsere kulturgeschichtliche Perspektivierung sind aber die beiden Hauptwerke Confessiones (Bekenntnisse) und De civitate Dei (Vom Gottesstaat). Die Confessiones beginnen mit der autobiographischen Entwicklungsgeschichte des Augustinus hin zum christlichen Glauben (Buch I–IX) und gehen dann über zu immer dichteren genuin philosophischen Betrachtungen (Buch X–XIII), besonders zu den Themen Erinnerung bzw. Gedächtnis (Buch X) und Zeit (Buch XI). Das memorierende Bekenntnis vor und zu Gott rekapituliert Augustinus’ Weg zu Wahrheit und sittlicher Vollkommenheit. Er will „hinausgehen und in Stufen aufsteigen zu dem, der mich gemacht hat. Dabei betrete ich die Felder und weiten Paläste meines Gedächtnisses.“⁶ In De civitate Dei rekurriert Augustinus auf das biblische Motiv zweier ‚Staaten‘, eines Gottesstaates und eines irdischen Staates, die in parallelgeschichtlicher Konstruktion einander gegenübergestellt werden. Der erste Teil Price/Thonemann, 2018, S. 398. Vgl. ebd., S. 401. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse X, 8, 12 (2009, S. 475; übers. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch).
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(Bücher I–X) des monumentalen Werks enthält eine Rechtfertigung des Christentums angesichts des geschichtlich sowie vorgeschichtlich bedingten Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches vor dem Hintergrund der Verehrung ‚heidnischer‘ Götter. Der zweite Teil (Bücher XI–XXII) bietet, die Folge historischer Abläufe hinter sich lassend, eine visionäre Chronik von der Schöpfung bis zum Ende der Welt aus eschatologischer Perspektive. Die facettenreich gezeichnete Geschichte der beiden ‚Staaten‘ schließt, weit entfernt von restaurativem Historismus, das weite Spektrum auch ältester Überlieferung ein (Heilige Schrift, Sagen, Legenden usw.). Mit der Ankunft Christi und der Kirche kommt es zur Einung der ‚Staaten‘ und ihrer Geschichte bis zum Jüngsten Gericht. Die beiden Hauptwerke des Augustinus – Confessiones und De civitate Dei – werden meist unabhängig voneinander betrachtet oder sogar antagonistisch gegenübergestellt: hier die persönliche Autobiographie, dort die gattungsgeschichtliche Rekapitulation; hier die philosophisch-theologische Reflexion, dort die historisierende Betrachtung; hier die psychologisch-epistemologische Perspektive, dort der heilsgeschichtliche Zugang. Doch diese Gegensätze verbinden sich mit Parallelen und Analogien. Wenn man die Confessiones als introspektiven Blick ins Innere lesen kann, dann ist komplementär dazu De civitate Dei, vor allem die Bücher XI bis XXII, als vergewissernder Blick aufs Äußere zu lesen; der früheren individualgeschichtlichen Perspektive korrespondiert die spätere universalgeschichtliche Perspektive. Die epistemologische Reflexion der Confessiones bereitet die historiographische Betrachtung von De civitate Dei vor, konzeptionelle Grundlagen des Gottesstaates sind in Erinnerung verankert. Ohne memoria gäbe es nicht nur keine Autobiographie, sondern auch keine Geschichtsdarstellung; ohne Geschichtsverständnis gäbe es keine Eschatologie.⁷ Damit ist überzugehen von der individual- und kulturgeschichtlichen zur heilsgeschichtlichen Perspektivierung. In De civitate Dei, wo eine spekulative Deutung des Verlaufs von der Schöpfung bis zu dem übergeschichtlichen, visionären Ziel der Geschichte entwickelt wird, reflektiert Augustinus besonders in Buch XI, 3 – 4 das existenzielle Woher und Wohin des Menschen. Was wir erinnernd vergegenwärtigen, weist, wie schon die Confessiones zum Ausdruck bringen, über unsere sensitive Erfahrung hinaus. Augustinus unterscheidet, was den äußeren und den inneren Sinnen als jeweils eigenen Zeugnissen zugänglich ist, und wofür wir auf Zeugnisse anderer zurückgreifen, die wiederum auf ihre Sinne rekurrieren. Wir sind auf Prophetenstimmen angewiesen, auf eine Offenbarung, insofern sie Einsicht in die göttliche Vorsehung, providentia, ermöglicht, und schließlich auf die Welt als Zeichen des
Vgl. Kann, 2009, S. 29 – 33.
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göttlichen Willens – eine Welt, die uns als pansemiotisches Gebilde ihren eigenen Ursprung erkennen und deuten lässt. Nicht nur die Confessiones, sondern auch De civitate Dei weist über den dokumentarischen Nachvollzug vergangener Ereignisse hinaus. Die Konzeption des Gottesstaates zeugt von spekulativer, teils spiritueller Durchdringung und Verformung des Tatsächlichen. Augustinus rekonstruiert den Ursprung der beiden civitates über Erschaffung und Abfall der Engel, die Erschaffung des Menschen und den Sündenfall, beschreibt die Vermischung der beiden civitates in der irdischen Wirklichkeit und stellt die Geschichte des Alten Testamentes in Verflechtung mit der römischen Geschichte dar, die für uns nicht zuletzt europäische Geschichte ist. Die spirituell-allegorische Auslegung des Alten Testamentes ordnet die Ereignisse hin auf das Erscheinen Jesu und die Begründung des Neuen Testamentes. Eine Friedenslehre leitet den eschatologischen Ausblick ein. Ewige Verdammnis und ewige Seligkeit bilden die Endformen der civitates. Historisch verbürgte Tatsachen und Schlüsselereignisse, Stationen des konkreten Geschichtsverlaufs, bilden lediglich das Substrat, welches durch die fiktionale Verarbeitung eine eigentliche Formung und Aussage erfährt. Die historisierende Rückschau erfolgt nicht um ihrer selbst willen, sondern als Einbettung von Zukunftsprojektionen. Wenn man die Confessiones auf den tatsächlichen persönlichen Erlebnisgehalt hin analysiert, dann greift man ebenso zu kurz, wie wenn man De civitate Dei auf die Dignität eines historisierenden Dokuments hin befragt. Die Geschichtsdarstellung in De civitate Dei, gewissermaßen die Extrapolation der augustinischen Eschatologie, folgt letztlich derselben Perspektive wie die autobiographisch-philosophische Reflexion der Confessiones. Die Konzeption eines einmaligen universalgeschichtlichen Geschehens einerseits (in De civitate Dei) und des individuellen Menschenlebens andererseits (in den Confessiones) steht für Augustinus primär im Dienste der Beantwortung einer einzigen Frage: Wie gelangt der Mensch zum Glück? In den Confessiones ist die vita beata, das glückselige Leben, paradigmatischer Gegenstand einer suchenden Retrospektive und gleichzeitigen Zukunftsorientierung vor dem Hintergrund eines erinnerten Vorherwissens. Die vita beata mag – wenigstens in ihrer neuplatonisch-augustinischen Version eines von den Fixierungen des irdischen und leiblichen Daseins gelösten Bewusstseinszustandes – idealisierend und religiös überformt erscheinen. Aber das Motiv der vita beata ist nicht zu übergehen, wenn wir Augustinus’ memoria-Konzeption als epistemologischer Grundlage seiner historisierenden Betrachtung und spekulativen Weltdeutung in De civitate Dei gerecht werden wollen. Das Werk ist als ein Geschichtsentwurf zu lesen, der den Weg, welchen die Menschen zu dem allseits angestrebten Glückszustand gegangen sind, gehen und gehen werden, in verschiedenen historischen und vorhistorischen Epochen beschreibt. Das in den
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Confessiones als latenter und zugleich erstrangiger memoria-Inhalt hervorgehobene Glück tritt als höchstes Gut in Form ewigen Friedens in der teleologischen Ethik von De civitate Dei wieder auf. Entworfen wird eine visionäre heilsgeschichtliche Konzeption – der Weg von der in menschlicher Selbstliebe befangenen civitas terrena zu der auf Gott und Gottesliebe ausgerichteten civitas caelestis. Civitates stellen in diesem Zusammenhang also nicht unterschiedliche Staatsgebilde dar (wir stehen weder vor räumlich oder soziologisch distinkten Einheiten noch vor einem geschichtlichen Phasenmodell), sondern antagonistische Willens-, Werte- und Schicksalsgemeinschaften auf Grundlage unterschiedlicher ethischer Orientierungen.⁸ In philosophiegeschichtlichen Typisierungen hat sich das Bild von Augustinus als einem (oder sogar dem) Philosophen der Innerlichkeit verfestigt. Für seinen „spiritualistischen und individualistischen Begriff von ‚Glück‘“ spielt die gesellschaftliche Praxis, auf die etwa Aristoteles konzentriert war, eine untergeordnete Rolle.⁹ Nunmehr repräsentieren die visionären Verheißungen des Christentums die wahre Philosophie. Horn erklärt treffend, dass „Augustinus an Geschichte nur soweit interessiert ist, wie zum Erweis der überhistorischen Antithese der beiden civitates erforderlich ist“¹⁰. Die vita beata aber erfüllt sich in der civitas caelestis – ewiges Glück bietet allein die von Augustinus emphatisch ausgestaltete christliche Erlösungsprojektion: „Wenn nämlich die Seele erlöst, und zwar zum ersten und einzigen Male erlöst wird, ohne noch einmal in das Elend zurückkehren zu müssen, geschieht ihr etwas Neues, was es noch nie zuvor gab, etwas gewaltig Großes: Die ewige Glückseligkeit, die kein Ende nimmt, wird ihr zuteil!“¹¹ So erscheint das definitive, unter irdischen Voraussetzungen niemals vollständig zu realisierende Glück, die endgültige Erlösung des Menschen nicht nur als Erlösung in, sondern auch als Erlösung von der Geschichte. Zugleich ist aber die erinnerte Geschichte der Rahmen, in dem dieses qualitativ neue, geschichtstranszendente Ziel seine äußeren Bedingungen vorfindet. In endlicher Zeit, in der Geschichte, lässt sich unendliches Glück gewinnen oder verlieren. In endlicher Zeit erhält die Geschichte des Einzelnen ebenso wie die Universalgeschichte die für Augustinus’ Denken durchgängig kennzeichnende religiös-existenzielle Dramatik. Die Verbindung von Erinnertem und Erwartetem begründet die Möglichkeit des Neuanfangs.Wie Glückseligkeit und der für Augustinus anamnetische Weg zu ihr aussieht, wird in der Konzeption der civitas caelestis in spekulativer, erin Vgl. Flasch, 1980, S. 383 ff.; Horn, 1995, S. 111 ff. Flasch, 1980, S. 87. Horn, 1997b, S. 177. Augustinus, Vom Gottesstaat XII, 21 (1977/1978, Bd. 2, S. 96; übers. v. Wilhelm Thimme).
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nernder Vergegenwärtigung skizziert. Was wir unserer Erinnerung verdanken, sind Bruchstücke, die den Suchvorgang leiten, den wir einschlagen, um das visionäre Bild der civitas caelestis zu vervollständigen. Wenn wir ein Bild der in den Confessiones epistemologisch anvisierten und in De civitate Dei historisierend ausgestalteten Glückseligkeit entwerfen wollen, sind wir auf eine Perspektivierung angewiesen, deren unverzichtbare Voraussetzung die memoria ist. Nur erinnernd können wir wissen, was wir suchen; das in den Confessiones skizzierte Programm einer erinnernden Fixierung der Glückseligkeit wird in der heilsgeschichtlichen Vision, dem Ideal des Gottesstaates als radikalem Paradies umgesetzt. Das Bewusstsein kann sich erst ausgehend von der Erinnerung des Vergangenen auf die Erwartung des Zukünftigen ausdehnen. Erinnertes, so ist mit Blick auf Confessiones X, 8, 14 festzuhalten, konstituiert Zukunftserwartungen. Nur wer ein reflektiertes Bild seiner Vergangenheit entwickelt, kann einen reflektierten Blick auf seine Zukunft gewinnen. In den Confessiones wird deutlich, dass der Weg der Gottes- und Wahrheitssuche ausschließlich über das eigene Innere, über die eigene memoria, erfolgt. Augustinus beschreibt in den Confessiones die Gottessuche vom Standpunkt desjenigen, der den Suchweg schon gegangen ist und ihn rückblickend theoretisch fundiert. Dieses Motiv hat eine unmittelbare Parallele in De civitate Dei: Die Suche nach dem Gottesstaat, der geläuterten menschlichen Werte- und Schicksalsgemeinschaft, geschieht ebenfalls durch Rekapitulation des Vergangenen. Die Perspektive der Werte- und Schicksalsgemeinschaft der civitas caelestis findet bzw. erfährt der Mensch durch gleichsam archäologische Rückbesinnung auf die wesentlichen Phasen und Zäsuren seiner Gattungsgeschichte. In den Confessiones wird das begreifende Erinnern auf seine Reichweite und Leistungsfähigkeit hin und an Augustinus’ eigenem Leben erprobt. In De civitate Dei wird die in den Confessiones entwickelte memoria-Konzeption latent fruchtbar gemacht für eine Geschichtsdeutung, bei der das begreifende Erinnern der Vergangenheit zur konzeptuellen Gegenwart einer visionären Zukunft führt. Die visionäre Zukunft der civitas Dei trägt Züge einer Utopie, ohne darin aufzugehen. Wäre sie Utopie in einem undifferenzierten wortwörtlichen Sinn, dann entspräche sie kaum einem Möglichkeitsraum mit Realisierungspotential und wäre ungeeignet als faktischer Anspruch und persuasives ethisch-moralisches Modell. Ein solcher Möglichkeitsraum wird allerdings anvisiert durch den Theologen Paul Tillich, der in dem Anspruch, das Bild einer puren Diesseitigkeit überwinden zu können, auf die Kennzeichnungen einer ‚horizontalen‘ oder immanenten und einer ‚vertikalen‘ oder transzendenten Utopie zurückgreift: Während die horizontale Utopie eine Konzentration auf das Diesseitig-Geschichtliche signalisiert, soll diese immanente Wirklichkeit durch eine auf das Jenseits bezogene vertikale Utopie erweitert werden. Die Realisierung der Utopie bleibt dem
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Menschen zunächst verwehrt, wird aber bereits in seinem Diesseits, in seiner Jetztzeit, prospektiv fassbar. Im diesseitigen „kämpfende[n] Reich Gottes in der Geschichte“ realisiert der Mensch die Spannung seiner Endlichkeit und der darüber hinausweisenden transzendenten Sphäre.¹² Insofern letztere aber als faktischer Anspruch und persuasives ethisch-moralisches Modell fungiert und als solches zur Verwirklichung drängt, ist sie wiederum mehr als nur ideenhaft, ideal. Sie entzieht sich der Dichotomie von realistischer Erwartung und idealistischer Projektion, sie ist zwischen Realismus (im Sinne der Annahme einer vorgängig vorhandenen Wirklichkeit, an und in der wir uns zu bewähren haben) und Idealismus (im Sinne der Annahme einer erst antizipierten Wirklichkeit, an der wir uns zu orientieren haben) zu verorten. Gleichwohl wurde immer wieder versucht, Augustinus’ Konzeption vom Gottesstaat anhand der Koordinaten von Realismus – verstanden als unnachsichtig gezeichnetes Bild des sittlich defizitären Faktischen – und Idealismus – verstanden als moralisierendes Korrektiv jenes Faktischen – zu rekonstruieren, ohne zu einer geeigneten Formel der Vermittlung zu finden. Worin liegen Leistungsfähigkeit und Grenzen von ‚Realismus‘ und ‚Idealismus‘ als typisierende Kennzeichnungen für die Konzeption des Gottesstaates? Reinhold Niebuhr konstatiert nicht nur einen sie prägenden politischen Realismus, sondern erkennt in Augustinus als dem „first great ‚realist‘ in Western history“ sogar dessen eigentliche Galionsfigur: „He deserves this distinction because his picture of social reality in his Civitas Dei gives an adequate account of the social factions, tensions, and competitions which we know to be well-nigh universal on every level of community“¹³. Mit seinem Bild einer von Augustinus propagierten Weltgemeinschaft, einer „actualization of community on the global level“¹⁴, die sich unvermeidlich von konkurrierenden, sich teils überlagernden Wertestandards und Interessen geprägt zeigt, geht Niebuhr auf Distanz zu stoischen und neuzeitlichen Idealisten mit ihrer einseitigen Erwartung einer utopistisch anmutenden geradlinigen Umsetzung globalgesellschaftlicher Einstimmigkeit. Unter Betonung der das augustinische Denken prägenden potentiellen Weltgemeinschaft will er den Kirchenvater nicht als „idealist“, sondern eben als „consistent realist“¹⁵ charakterisieren, lasse dieser doch einen ausgeprägten Sinn für die Unterschiedlichkeit ethnischer, kultureller und sprachlicher Grunddis-
Tillich, 1963, S. 209; vgl. Dierse, 2001, Sp. 520. Niebuhr, 1986, S. 124. Ebd., S. 127. Ebd.
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positionen einschließlich daraus resultierender Interessenskonflikte und Spannungen erkennen. Niebuhrs Interpretation ist unter der schlagwortartig verfestigten Kennzeichnung „politischer Realismus“ durch Christoph Horn und Otfried Höffe als mehr oder weniger geeignete Formel für die gleichsam realpolitische Verortung des augustinischen Ansatzes aufgegriffen worden.¹⁶ Als frühe Variante eines politischen Realismus hat nach Joseph Ratzinger die theokratische Deutung des Gottesstaates im Sinne der Zielsetzung eines irdisch-konkreten Imperium christianum zu gelten. Diesem stehe eine „idealistische“ Deutung gegenüber, wonach die augustinischen civitates gerade nicht als „reale geschichtliche Gebilde“, sondern als „ideale Mächte“ zu verstehen seien, „deren Grenzen quer zu allen konkretgeschichtlichen Gemeinschaften liegen“¹⁷. Die idealistische und die realistische Deutungsrichtung erweisen sich allerdings in ihrer jeweiligen perspektivischen Einseitigkeit immer wieder als strittig. So bewährt sich die Kennzeichnung ‚Realismus‘ nur aus der reduzierten Perspektive einer empirisch-politischen Bestandsaufnahme und Programmatik, um die es Augustinus aber letztlich nicht gehen kann. Die Kennzeichnung ‚Idealismus‘ bewährt sich lediglich am konzeptionellen Gehalt des visionär Projizierten, ohne die Ansprüche an eine verbesserte sittlich-moralische Praxis adäquat zu erfassen. Als dritte Option bringt Ratzinger die bereits erwähnte eschatologische Deutung ins Spiel,¹⁸ welche sich aber cum grano salis der idealistischen Deutung mit ihrer Konzentration auf das Transzendente subsumieren lässt. Jedenfalls geht es bei der augustinischen Unterscheidung zweier civitates um die Kontrastierung von sinnlicher und geistiger Sphäre, zwischen erfahrbarem und erwartbarem Zustand, und die Protagonisten einer realistischen wie auch einer idealistischen Lesart zeigen die Tendenz zur einseitigen Betonung jeweils eines dieser Aspekte auf Kosten des anderen. Mit den genannten Ismen nutzen sie überdies kaum randscharfe Positionsanzeigen als vielmehr elastische Instrumente mit pragmatischer Orientierungsfunktion, wobei mitunter fachterminologische und normalsprachliche Verwendungen, ineinander übergehen.¹⁹ Vor diesem Hintergrund bietet sich die Perspektive, Augustinus’ spekulatives Bild vom Gottesstaat in experimenteller, hypothetischer Verortung zwischen den einseitig-unzulänglichen Polen von Realismus und Idealismus als Surrealismus zu begreifen. Der Surrealismus – die Bezeichnung geht zurück auf den französischen Schriftsteller Guillaume Apollinaire – weist schon vom Wort her über („sur“) den
Vgl. Horn, 1997a, S. 18; Höffe, 1997, S. 279. Ratzinger, 1961, S. 57. Vgl. ebd., S. 58. Für eine entsprechende Analyse der Ismen vgl. Kann, 2020, S. 166 – 185 u. S. 267– 285.
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Realismus hinaus, ohne allerdings mit dem Idealismus identifizierbar zu sein. Als teils antirationalistisch akzentuierte Bewegung, repräsentiert durch André Breton im Paris der 1920er Jahre, intendiert der Surrealismus nicht eine Negation, sondern eine Erweiterung von Wirklichkeit und Bewusstsein. Er artikuliert sich als anarchische Revision etablierter Kunst-,Wert-, und Weltverständnisse, richtet sich politisch-soziologisch gegen defizitäre Normen des Faktischen, will metaphysisch die hinter der vermeintlichen Wirklichkeit stehende Realität erfassen bzw. darstellen und ist, nicht unwesentlich für den vorliegenden thematischen Rahmen, der Kulturgeschichte Europas zuzuweisen.²⁰ Generell wird der Surrealismus jener modernen Avantgardebewegung zugerechnet, die sich im frühen 20. Jahrhundert über den tradierten Formenkanon hinwegsetzt und in seinen unterschiedlichen künstlerischen Manifestationen neue bildliche und nicht-bildliche Ausdrucksweisen erprobt. Die Faktizität des Tatsächlichen sollte nach Anspruch der Protagonisten um die Variabilität unbegrenzter Möglichkeiten erweitert werden. In der Praxis, den diversen Formen der Kunst, ergeht sich der Surrealismus in der Darstellung von Träumen, Visionen, Halluzinationen und triebbedingten Assoziationen.Wie leistungsfähig ist die Kennzeichnung ‚Surrealismus‘ eigentlich in ihrer Anwendung auf philosophische Konzeptionen im Allgemeinen und dem augustinischen Ansatz im Besonderen? Die gängige Auffassung, dass der Surrealismus vor allem einschlägige Phänomene in Literatur, bildender Kunst und Film sowie Fotografie erfasse, wird in prägnanter Weise korrigiert von Ralf Konersmann, für den der Surrealismus „über bloß künstlerische Absichten entschieden hinausgeht“²¹. Indem sein Wörterbuchbeitrag der begrifflich-terminologischen Ebene verpflichtet bleibt, taucht er entsprechend weniger ein in die Welt von Philosophien, die sich aus surrealistischen Motiven speisen mögen. Was entsprechende ideengeschichtliche Tiefendimensionen anbetrifft, wird Konersmanns Arbeit ergänzt und überboten von Wolfram Hogrebe, der sein Werk Philosophischer Surrealismus u. a. vor dem Hintergrund des prominenten, auf Apollinaire und Breton zurückgehenden ästhetischen Surrealismus und des durch John Horton Conway repräsentierten mathematischen Surrealismus entwickelt, dem es um eine surreale Klasse von Zahlen geht, die alle reellen Zahlen beinhaltet, welche größer sind als jede reelle Zahl.Vor dieser breitgefächerten Kulisse und in erklärter Affinität mit dem ästhetischen Surrealismus zeichnet Hogrebe die Konturen des für den vorliegenden Zusammenhang relevanten spekulativen Surrealismus.
Vgl. die ausdrückliche Redeweise von einem europäischen Surrealismus bei Mathy, 1994, S. 123. Konersmann, 1998, Sp. 682.
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Die Selbststilisierung des Surrealismus verbindet mit der Tendenz, die eigene Einzigartigkeit und Beispiellosigkeit geltend zu machen, zugleich die Neigung, auf Elemente seiner verzweigten Vorgeschichte zu rekurrieren. Dabei ist in erster Linie auf die deutsche Romantik, auf Henri Bergson und auf Sigmund Freud zu verweisen. Dieses Ensemble prominenter Einflussgrößen ergänzt Hogrebe durch Hinweise auf entlegenere Kapitel der Philosophiegeschichte – auf den Neuplatoniker Plotin und, als weitere Referenzgröße, auf die anfangs erwähnte Gnosis, die verschiedene religiöse Lehren und Gruppierungen des 2. und 3. Jahrhunderts, teils auch frühere Vorläufer, umfasst. Insbesondere aber sei es der für seine holistische Naturphilosophie bekannte Johannes Scotus Eriugena, der „wie kein zweiter den Intentionen eines philosophischen Surrealismus schon im 9. Jahrhundert zugearbeitet hat“²². Eriugenas Zentralmotiv einer „Verwesentlichung des Nichtwissens“²³ ist demnach herzuleiten aus seiner Gleichsetzung von göttlichem Nichtwissen mit der höchsten und wahrsten Weisheit. Bei näherem Hinsehen manifestiert sich diese als uneigentliches, in Hogrebes Diktion nichtpropositionales Wissen, das Ausdruck findet in einer ästhetisierenden Theophanie. In seiner Nichtpropositionalität ist das göttliche Wissen für uns keinesfalls übersetzbar, die Theophanie und ihre Selbstoffenbarung jedoch als Ausdruck eines ontologischen Konzepts von Schönheit für das menschliche Sensorium registrierbar. Auch wenn man solche Rekonstruktion von Eriugenas Zentralmotiv einer „Verwesentlichung des Nichtwissens“ und ihren ästhetischen Implikationen als frühe Artikulation des Surrealismus akzeptiert, bleibt damit das Grundgerüst der einschlägigen Ahnengalerie rhapsodisch und soll nun hier um eine Schlüsselfigur ergänzt werden, die weder von Konersmann noch von Hogrebe ins Auge gefasst wird, dabei aber frappierend ins Bild passt. Nach den bisherigen Ausführungen wird es nicht überraschen, dass auf Augustinus zurückzukommen ist, der seinerseits im Dunstkreis der Gnosis und als Leitbild platonischer Traditionslinien des Mittelalters einzuordnen ist und von dessen pansemiotischer Metaphysik der ästhetisierende naturphilosophisch-kosmologische Entwurf des Eriugena ersichtlich profitiert. Doch stehen wir zunächst vor der Rückfrage, ob sich Augustinus’ Philosophie als gelehrter Ausdruck spekulativer und zugleich disziplinierter Rationalität und der Surrealismus als anarchisch-bildlicher Ausdruck expressiver Irrationalität nicht allzu antagonistisch gegenüberstehen, um auf ihre Kongruenz hin befragt zu werden. Bei näherem Hinsehen dominieren allerdings die Affinitäten gegenüber den Antagonismen in eindeutiger Weise. Schon Augustinus’ Confessiones
Hogrebe, 2014, S. 13. Ebd., S. 98; vgl. auch S. 110 f. u. S. 121.
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machen deutlich, was Hogrebe aus der Philosophie Hans Wagners als neuerer philosophisch-surrealistischer Bezugsgröße ableitet: „Es gehört zur Rationalität, sich selbst als ins Irrationale hineingestellt zu erfahren.“²⁴ Wenn hiervon, wie es bereits im nächsten Satz heißt, Kunst als legitimer Ausdruck zu gelten habe, so möchte man die Perspektive erweitern: Auch und gerade die Philosophie kann legitimer Ausdruck einer Rationalität sein, die sich selbst ins Irrationale hineingestellt erfährt. Die Confessiones des Augustinus jedenfalls sind Ausdruck des Zusammenfalls rationaler, aufs Irrationale bezogener Selbstsituierung – die Eroberung des Rationalen und des Irrationalen geht Hand in Hand: „Das Irrationale ist eine intrinsische Voraussetzung unserer Rationalität.“²⁵ Lässt sich als Schlüsselmoment des Surrealismus ein subjektivistisches Entgrenzungsprogramm, eine „Heuristik unserer Selbstfindung“ nennbar machen,²⁶ so liegt schon hier die Affinität zu Augustinus’ Confessiones auf der Hand. Die autobiographische Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit erfolgt über die Loslösung von der sinnlich erfahrbaren Welt. Das sich selbst vergegenwärtigende Bewusstsein umfasst neben dem Gedächtnis auch Phantasie und Affekte. In der berühmten Zeitanalyse des Buches XI seiner Confessiones wechselt Augustinus von der messbaren Außen- oder Weltzeit zur inneren Zeiterfahrung mit den ihr eigenen Metamorphosen.²⁷ Mindestens ebenso reichhaltig sind die surrealistischen Implikationen des zweiten Hauptwerks De civitate Dei. Wenn philosophischer Surrealismus, wie Konersmann mit Seitenblick auf Nietzsches Übermensch-Konzeption konstatiert, „die Faktizität des Endlichen um die Variabilität unausschöpfbarer Möglichkeiten“ erweitert,²⁸ dann ist als Ausdruck solcher Erweiterung an jenen Möglichkeitsraum zu denken, den uns der augustinische Gottesstaat vor Augen führt. „Die vorfindliche Faktizität“, so Hogrebes Sondierung der ‚Dimensionen des Surrealen‘, „wird um unabsehbare Varianten bereichert, Vertrautes um Unvertrautes, Bekanntes um Unentdecktes, Zivilisationsreste um auratische Konstellationen. Positivitäten werden also in einen nicht festgelegten Horizont von Möglichkeiten hineingehalten und gewinnen gerade hier völlig unvermutete Konturen oder Er-
Ebd., S. 91. Ebd., S. 97. Ebd., S. 82. Dass der nicht nur für Hogrebe, 2014, S. 75 „bedeutendste Kopf“ des Surrealismus im 20. Jahrhundert – Salvador Dalí – zumindest punktuell auf Augustinus’ Confessiones rekurriert, wie Jacobs, 2019, S. 180 u. S. 188 – 191 zu entnehmen ist, wäre ein Ansatzpunkt eigener Untersuchung möglicher Einflüsse und Affinitäten. Konersmann, 1998, Sp. 682.
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gänzungen.“²⁹ All das bietet, ausgeprägter als die Mehrzahl philosophischer Konzeptionen, das eschatologische Modell des Augustinus in suggestiver Weise. „Der Witz ist“, erklärt Hogrebe, „daß der Surrealismus den robusten Realismus unseres Alltags keineswegs verneinen muß, er stellt ihn nur in Horizonte ein, die uns allenfalls aus hemmungsloser Phantasie und Imagination, aus Traum-, Rausch- und Wahnerfahrungen als Stimmen eines Unbewußten zugänglich sind.“³⁰ Gerade in Augustinus’ Vorstellungsrahmen repräsentiert der irdische Staat, die civitas terrena, besagten robusten Realismus unseres Alltags, der konfrontiert wird mit Phantasie und Imagination – wohl nicht aus Traum-, Rauschund Wahnerfahrungen, sondern, im Rahmen augustinischer Erfahrungstranszendenz, auf der Grundlage von Offenbarung und Illumination. Der Surrealismus lässt realistische Konzeptionen hinter sich, indem er sich programmatisch auf ein neuartiges, multiples Realitätsverständnis festlegt. Er verneint nicht den Realismus unseres Alltags, hält diesem allerdings nur den Status eines reduzierten, defizitären Segments von Realität zugute. Auch Augustinus attribuiert dem irdischen Staat den Status eines reduzierten, defizitären Segments der Realität. Dieses defizitäre Segment erschließt sich in der Situationsbeschreibung des Faktischen, das durch das Noch-nicht-Faktische des Gottesstaates visionär überboten wird. Der Surrealismus versteht sich als „Revolte“, durch die unser „routinierter Weltumgang“, unsere Einnistung in der „Gleichförmigkeit des Üblichen“ gestört werden will, so dass wir uns für „unabsehbare Möglichkeiten des Realen“ sensibilisieren können.³¹ Eben das ist intendiert, wenn dem irdischen Staat der Gottesstaat – der Wirklichkeit die Überwirklichkeit – gegenübergestellt wird. Es ist das Konzept der Überwirklichkeit, das als „Arbeitsbegriff“ von Dieter Penning eingeführt und in Anspruch genommen wird, um die literarische Phantastik des 19. Jahrhunderts (bei Nerval, Maupassant und Breton) herauszuarbeiten. Deren Werke gewinnen ihre Phantastik aus jenem „Zusammenstoß zweier Ordnungen, einer empirischen und einer spirituellen“³², wie wir sie paradigmatisch in Augustinus’ De civitate Dei gegenübergestellt finden, und zwar einschließlich derjenigen Wertungsnuancen, um die es in Pennings Ausführungen eigentlich geht. Während nämlich im Tenor der Interpretationen jener literarischen Phantastik „die spirituelle Ordnung meist negativ als ‚Einbruch‘ in die
Hogrebe, 2014, S. 64. Ebd. Ebd., S. 65. Penning, 1980, S. 201. Das Überwirkliche bei Penning entspricht dem Überseienden, Surrealen bei Hogrebe.
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‚vertraute Wirklichkeit‘ gesehen“ werde,³³ geht es Penning selbst um ein korrigierendes Kontrastbild: Der Begriff der Überweltlichkeit soll die pejorative Note des ‚Einbruchs‘ vermeiden und dazu dienen, die „höhere Ordnung, die sich über die im phantastischen Werk aufgebaute Wirklichkeit lagert und diese in Frage stellt, positiv zu beschreiben“. Penning hebt hervor, dass in seinen Bezugstexten „die Elemente der Überwirklichkeit kein Produkt einer wild entfesselten Imagination des Dichters sind, sondern sich bestimmten, im weitesten Sinne philosophischen Systemen zuordnen lassen, die für eine Epoche dominant waren und versuchten, die Welt als Totalität zu erfassen.“³⁴ Auch und gerade für Augustinus’ philosophisches System in De civitate Dei gilt, dass wir keinesfalls mit einer entfesselten Imagination konfrontiert werden, sondern mit einer reichhaltigen Collage kulturgeschichtlicher Prämissen von außerordentlicher wirkungsgeschichtlicher Dominanz und einem zweifelsfreien Deutungsanspruch der Welt als Totalität. In allen drei genannten Texten der französischen Phantastik finden sich „ganze Geschichtsphilosophien“ eingebettet, deren spezifische Gestaltung in frappierender Weise als Spielarten des augustinischen Modells erscheinen: Im „Gegeneinander der empirischen und der spirituellen Ordnung“, aus dem sich „die Überwirklichkeit als die eigentliche Wirklichkeit“ entpuppt und ihre „erlösende Funktion“ zur Geltung bringt, kommt ein „progressives Geschichtsbild“ zum Vorschein,³⁵ das in unterschiedlicher Ausgestaltung die von Penning untersuchten Beispiele literarischer Phantastik prägen mag, in seiner paradigmatischen Form aber offensichtlich bei Augustinus begründet ist. Weist schon der Neuplatonismus generell „in unerhörter Weise über ein Positivitätsdenken hinaus“, so gilt dies insbesondere für den christlichen Neuplatonismus mit der hier in den Blick gerückten Galionsfigur Augustinus: Gerade dem Neuplatonismus in Kombination mit seiner Zeitgeist-Signatur des frühen Christentums ist die sprichwörtliche „Fluchtbewegung aus der Welt“ zu attestieren,³⁶ doch heißt Flucht wovor in der Regel eben auch Flucht wohin. Für dieses Wohin stehen Spielräume des Möglichen, die epistemisch nur schemenhaft einholbar, aber experimentell oder spekulativ erprobbar und gleichsam existenzialistisch erwartbar oder wenigstens erhoffbar sind. So ist nicht nur mit Blick auf Plotin, sondern gerade auch mit Blick auf Augustinus die Hypothese zu wagen, dass der Neuplatonismus (um Hogrebes Formel zu adoptieren) als „undercoverTheorie des Surrealismus“ fungiert.³⁷ Die neuplatonischen Begriffsräume und
Ebd. Ebd. Ebd., S. 204. Hogrebe, 2014, S. 67 f. Ebd., S. 70.
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surrealistischen Vorstellungsräume zeugen von performativen Affinitäten, die bisher erst sporadisch zur Geltung gebracht sind. Es gehört zu den spezifischen Vexierbildern der Geistesgeschichte, dass wir ebenso die Perspektive wechseln und einen latenten Surrealismus zur undercover-Theorie des Neuplatonismus erklären können. Das Grundprinzip des Surrealismus sieht Hogrebe mit einem pointierten Satz Adornos erfasst, der da lautet: „Was ist, ist mehr, als es ist“³⁸. Die an sich rätselhafte, geradezu paradoxe Formel aus der Negativen Dialektik, welche in eigener Weise um die Erosion und Fragilität positiver Wahrheit kreist, zeigt ihr Potential nicht allein in der Bestandsaufnahme eines philosophischen Surrealismus, sondern insbesondere auch in seiner Anwendung auf Augustinus: Der irdische Staat ist mehr, als er ist, weil er über sich hinaus- und auf den Gottesstaat vorausweist, in dem und durch den er als (im Sinne Hegels) ‚aufgehoben‘ zu deuten ist. Insofern sich Augustinus’ Denken als archaische Artikulation eines philosophischen Surrealismus dechiffrieren lässt, scheinen Aporien vermeidbar, die sich aus der Subsumtion von De civitate Dei unter die unzulänglichen Optionen von Realismus und Idealismus ergeben. Der philosophische Surrealismus wird damit fortgeschrieben um ein frühes Kapitel, das die platonische Traditionslinie und ihre surrealistische Variante über Johannes Scotus Eriugena und sein Motiv einer „Verwesentlichung des Nichtwissens“ hinaus erweitert. Beobachtungen, die Penning unter dem Titel einer „Überwirklichkeit“ der französischen Phantastik des 19. Jahrhunderts zusammenführt, lassen sich demnach zurückbeziehen auf eine klassische philosophische Konzeption, womit sich die geläufige Diagnose des symbiotischen Verhältnisses von Philosophie und Dichtung neuerlich bewährt. Der Verwendung von ‚Surrealismus‘ als Epochenbegriff wird hier die Verwendung derselben Kennzeichnung als systematische Ausrichtung gegenübergestellt, die sich an Philosophemen unterschiedlichster Traditionen bewähren könnte. Hogrebes Diagnose philosophiegeschichtlicher Prämissen des spekulativen Surrealismus innerhalb der platonischen Tradition ist also hypothetisch um ein entscheidendes Kapitel zu erweitern, so wie umgekehrt das Spektrum der Ismen, derer sich die Augustinus-Interpretation als mehr oder weniger passende heuristische Formate bedient, um eine herausfordernde Variante ergänzt wird. Augustinus erweist sich als liminal entity in einem neben seinem mehrdimensionalen kulturellen Hintergrund, neben Epochen- und Ortswechsel zusätzlichen Sinn, indem er in exponierter Weise die Symbiose zweier auf den ersten Blick disparater Strömungen der Kulturgeschichte Europas – jener des christlichen
Adorno, 1980, S. 164; vgl. Hogrebe, 2014, S. 80.
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Neuplatonismus und des spekulativen Surrealismus – in ihrem eigenartigen Verwandtschaftsverhältnis repräsentiert.
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Inseln, Reisen, Utopien: Residuen utopischen Denkens in der mittelalterlichen Literatur I Einleitung In der Reihe der titelgebenden Stichwörter dieses Beitrags fällt der zentrale Begriff der Utopien erst an letzter Stelle. Das hat damit zu tun, dass „fiktive Szenarien einer besseren Weltsituation“¹ zwar immer wieder einmal auf der Tagesordnung der europäischen Literaturen des Mittelalters standen, der Begriff Utopie selbst und die mit ihm ins Leben gerufene literarische Gattung jedoch eine Errungenschaft des ausgehenden Mittelalters sind. Wie wir alle wissen, war es eine Eingebung des großen Gelehrten und Staatsmannes Thomas Morus, der fiktiven Insel in staatlichem Bestzustand den Namen Utopia (Ortlos) zu geben.² Dabei handelt es sich um eine künstliche, durch Menschenhand vom Festland und der Außenwelt abgetrennte Insel, auf der Platz für 54 Städte gleicher Anlage ist. Die Insellage erfüllt in der Utopia vornehmlich den Zweck, den Städten Ackerland und Anbauflächen planmäßig zur Verfügung zu stellen, die von den Bürgern im steten Wechsel und nach Vorliebe bewirtschaftet werden. In der literarischen Bilderwelt des späten Mittelalters³ und auch im Lauf der Geschichte haben sich Inseln als diejenige geographische Formation herausge-
Hartmann/Röcke, 2013, S. 3. Hartmann und Röcke beziehen sich hier auf Schölderle, 2012, S. 57 f., der das heilsgeschichtliche Denken des christlichen Mittelalters als utopieabsorbierende Kraft ansieht. Von historischer Seite wird hingegen die Vielfalt utopischen Gedankenguts im Mittelalter, insbesondere hinsichtlich des planerischen Elements, betont bei Seibt, 1969; Seibt, 1972; siehe auch Seibt, 1985. Vgl. dazu Brunner, 1967. Schon Brunner unterschied mit Verweis auf Robert Musil und Ernst Bloch zwischen „utopischem Denken“ und „Utopie“ als einer eigenen Gattung, die dem Anspruch nach Modellcharakter besitzt, vgl. S. 66 f. Siehe auch Voßkamp, 1985. Ein neuerer Überblick über die Text- und Wirkungsgeschichte der ‚Utopiaʻ findet sich bei Steffens, 2018. Siehe dazu die Insularien des Florentiners Cristoforo Buondelmonti mit den Illustrationen der Düsseldorfer Handschrift Ms. G 13 bei Siebert, 2005, und den ‚Isolarioʻ des Venezianers Benedetto Bordone von 1528. Ein modernes Seitenstück dazu ist der von Judith Schalansky, 2011, herausgegebene Taschen-Atlas der ‚abgelegenenʻ Inseln. Die Verfasserin weist in ihrem Vorwort zurecht auf den diametralen Status solcher Inseln hin: „Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.“ (S. 10). Ransmayr, 2014 hat einige der ‚abgelegenenʻ Inseln wie die Osterinsel, Pitcairn und die https://doi.org/10.1515/9783110756944-003
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stellt, die sich für Abschottung und Isolation gleichermaßen gut eignet wie für Kolonisation und Ausrottung. Gäbe es keine Inseln, man müsste sie erfinden. Denn wo sonst sollte Platz sein für Verbrecher, Imperatoren und Atomexplosionen, wohin sonst könnten sich Forscher, Entdecker mit ihrer Neugier, Abenteurer und Desperados mit ihren Lüsten und Süchten wenden? Und wohin sonst auf Erden sollten wir unsere Wünsche nach einem glücklicheren Leben und einem erfüllten Dasein richten? Natürlich gibt es noch die beiden Pole und die Gipfel der Berge, aber sie rangieren an der Peripherie der Laboratorien des Utopischen. Bevölkerte Räume in Gestalt abgelegener Inseln, entfernter Regionen oder exotisch-lieblicher Landschaften dienten seit der Antike als geeignete Kulisse für Utopien und ihre Gegenstücke bis in die James Bond-Filme hinein. Inseln vertreten in zeitlicher Hinsicht die Stelle von Anfang und Ende, in räumlicher die von Unterwelt und Überwelt. Naturnaher Urzustand oder apokalyptische Weltzerstörung – auf Inseln lässt sich beides denken und modellhaft realisieren.⁴
II Wandlungsfähigkeit des utopischen Denkens Utopisches Denken kann insoweit für keine Epoche der Geschichte gänzlich ausgeschlossen werden.⁵ Auch nicht für unsere Zeit, die womöglich schon unterwegs ist von der Utopie zur „Uchronie“, einem auch literarisch imaginierten Zeitalter der „Gleichzeitigkeit“, in dem Bedeutungen, Identitäten, Wahrheiten, Fakten, Realitäten und Intelligenzen sich von ihren bisherigen Trägern lösen und ein künstliches Eigenleben erhalten. Ob und wie diese freien Zeichen und entbundenen Vorstellungen wieder zusammenfinden, welche neuen Träger sie sich suchen oder ob sich neue Träger nunmehr aus diesem allgemeinen Pool bedienen werden, das wird in nicht allzu ferner Zukunft an den Tag kommen und kaum jemand wird sich darum scheren, wie wir das heute finden und bewerten. Damit sind wir bei der grundsätzlichen Frage, ob wir nicht immer schon, ob wir es wissen oder nicht, wollen oder nicht, in die Zukunft hineinwirken? Die gern und häufig geäußerten Ansagen von Politikern und Ökonomen, die Zukunft ge-
Robinson Crusoe-Insel einer literarischen Spurensuche unterzogen (siehe S. 130 ff., S. 243 ff. und S. 450 ff.). Freyer, 1936: „Alle Utopien liegen auf einer Insel mitten im großen Ozean oder sind sonst durch Natur oder Gesetz ‚geschloßne Handelsstaatenʻ.“ (S. 25). Hinzu kommt Freyer zufolge das Moment der Unveränderlichkeit des einmal erreichten Bestzustandes der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 25). Doren, 1927. Freilich gibt es Zeiten mit größerem und geringerem Unbehagen an den Lebensund Zeitumständen und dementsprechend abgestufter Affinität zu utopischen Vorstellungen und Hoffnungen auf ein besseres Diesseits.
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stalten, sie also nicht mehr nur – wie auch immer gewappnet – „erwarten“, auf sich zukommen lassen zu wollen, machen uns ja darauf aufmerksam, dass auch hier ein utopisches Aktionsprogramm aufgelegt wird. Vermutlich geht es bei diesen Ermunterungen um das Abstecken von Claims, um den Zugriff auf künftiges materielles und ideelles Kapital. Die utopische Antizipation verändert in diesem Diskurs insoweit ihren Charakter. Aktuell will sie heute schon festschreiben, wem morgen was zustehen wird und wer demnächst über was wie verfügen können soll. In diesen „Geist“ der Utopie haben nicht nur längst überwunden geglaubte Formen der Mantik und des Aberglaubens wieder Einzug gehalten; hinzukommt, dass die Beanspruchung künftiger Kapitalanteile in der Gegenwart vergisst, dass es sich dem planenden Zugriff entzieht, ob die Kurse im Plus oder Minus liegen werden. Eine solche Option nur auf das Gelingen scheint verschwistert zu sein mit der Anfälligkeit des Utopischen für das Ideologische.⁶ Der ideologischen Forderung nach umfassender Kontrolle aller Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens haben nicht nur verschiedene Utopieanalysen deutliche Absagen erteilt. Den Wünschen nach Daten zur umfassenden Kontrolle des gesellschaftlichen und privaten Lebens hingegen geben wir sehr bereitwillig und auf breiter Front nach. Im Gegenzug bleibt zu bedenken, dass utopische Programmatik Wege aus der Gegenwart aufzeigt und uns dabei hilft, „in der Gegenwart für die entferntesten Dinge zu arbeiten“.⁷ Denn: „Es liegt Vulgarität und Niedrigkeit in einer Handlung, die nur für den unmittelbaren Augenblick gedacht ist, das heißt aber, letzten Endes nur für unser Leben. Und es liegt ein sehr großer Adel in der vom Zwang der Gegenwart befreiten Energie.“⁸ So kann man die Reserviertheit der mittelalterlichen Kultur gegenüber dem Utopischen womöglich als Korrektiv zu der Bereitschaft unserer Zeit ansehen, der mentalen Kolonisierung des Kommenden Vorschub zu leisten. Von den ubiquitären Zwängen des Fortschritts und den Anstrengungen der individuellen Selbstoptimierung, die in der Neuzeit bis in die postmoderne Gegenwart hinein zu verzeichnen sind, war in den Lebenswelten des Mittelalters wohl wenig zu spüren. Die Möglichkeiten und Grenzen utopischer Konzepte changierten entsprechend zwischen Kritik an Herrschaft, Gesellschaft und dem Entwurf „alternativer Welten“,⁹ sie modellierten Wünsche und Hoffnungen und sie unterschieden zwischen
Dazu Mannheim, 1965. Bei allen lichten Einsichten der ‚Utopia‘ des Thomas Morus kommen in der neueren Forschung auch immer wieder der Zwang zum Glück und die vielfältigen Reglementierungen des Lebens zur Sprache, ohne die ein Soll- oder Bestzustand nicht zu erreichen ist. Siehe dazu jetzt Emmelius, 2017, S. 142 ff. Levinas, 1989, S. 37. Ebd. Vgl. Schrader, 1988.
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notwendigen und unerreichbaren Forderungen. Das Reisen mit den Komponenten der Ferne und der Absenz trug dabei wesentlich dazu bei, den Horizont des Möglichen offen zu halten oder nach Lage der Dinge und Interessen zu verschieben. Insoweit wäre es verfehlt, den heilsgeschichtlichen Eckdaten des Weltgeschehens, dem Paradies der Schöpfungsgeschichte und der Ankündigung des Jüngsten Tages mit dem Weltgericht die absolute Geltung für das Mittelalter einzuräumen.¹⁰ Im utopischen Denken treffen also – auch dies ist bekannt – gegenläufige Bestrebungen aufeinander. Wir haben einerseits das dynamische Element, das Überschreitende, „das sich mit dem es umgebenden ‚Seinʻ nicht in Deckung befindet“,¹¹ wie Karl Mannheim feststellte, das „Drängende“ nach Ernst Bloch; andererseits aber auch das Ordnende, Kontrollierende, Bevormundende, Totalisierende, das in fast allen Utopien, zumal wenn sie Staats- und Gesellschaftsentwürfe sein wollen, zu finden ist. Wir wären heute geneigt, das dynamische Element des Utopischen tendenziell der Jugend oder der Adoleszenz zuzuschreiben, einer Altersgruppe, die Reformen und Revolutionen mit Blick auf die eigene Zukunft unbedingt anstrebt, während den seniores, dem Establishment, eher an der Bestätigung des Bestehenden gelegen zu sein scheint. Doch dieses Generationenmodell hatte im Mittelalter nur sehr eingeschränkt Geltung, denn die Ausrichtung auf das Kommende ist durch die heilsgeschichtliche Zuversicht der Eliten ebenso abgedeckt wie die Bewahrung des Bestehenden durch die göttliche Schöpfungsordnung. Einigen Denkern und Exegeten wie etwa Scotus Eriugena, Joachim von Fiore oder Rupert von Deutz gelang zwar die Konstruktion von Zwischenzeiten und Zwischenräumen, d. h. eines symbolischen „Reiches“ innerweltlicher Erfüllung. Diese Vorstufen der literarischen Utopie bewegten sich auf der Basis der Bibelauslegung, die Mehrzahl der Zeugnisse utopischen Denkens entstammt nichtbiblischer Überlieferung und ist episodischer und nicht selten apotropäischer Natur.
III Utopie und Reise So kommt es nicht von ungefähr, dass das Motiv der Reise und die Gestalt des Reisenden ein dynamisches Element des Utopischen in die mittelalterliche Literatur bringen. Hier gerät man überdies nicht in allzu großen Konflikt mit den
Zur begrifflichen Unterscheidung der christlichen Utopie des europäischen Mittelalters von antiken und neuzeitlichen Utopien vgl. Saage 2001, S. 21 ff. Mannheim, 1965, S. 169.
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kosmologisch begründeten Begriffen des Bestehenden und Ewigen. Migration und Mission, Weltflucht und Abkehr vom Herkommen sind ja durchaus zentrale und identitätsstiftende Werte; sie erfüllten vorbildhafte Funktion in der Lebensführung von Mönchtum, Weltklerus und Adel. Und Reisen referiert auf symbolischer und auf lebenspraktischer Ebene auf spirituelle Erfahrungen, erschließt utopische Gehalte wie „Erfüllung“, „Vergebung“, „Veränderung“ oder „Verwirklichung“ – wartet freilich auch auf mit Gegenstücken wie „Mangel“, „Schuld“, „Sorge“ und „Not“.¹² Ernst Bloch in seinem wachen Sinn für alles Utopische notierte dazu: „Die Reisezeit wird so gefüllt wie sonst nur der Raum, und der Raum wird das Medium der Veränderung wie sonst nur die Zeit. Es entsteht also eine Umkehrung der gewohnten Wahrnehmungsordnungen, es entsteht ‚gefüllteʻ Zeit im ‚bewegt, verändertʻ erscheinenden Raum.“¹³ Albert Camus hingegen sah den „Wert des Reisens“ im Innewerden von existenzieller Ungeborgenheit, in der Angst, durch die „der Sinn für das Ewige“, des „geheimsten unserer Sinne“¹⁴ geschärft werde. Die abrupte Trennung von Heimat, Herkommen, Gewohnheiten, Sprache wurde von geistlichen Rigoristen im Sinne des Rückzugs von den Wirren der Welt zwar gefordert; an Welterfahrung, wie sie das Reisen mit sich bringt, war dabei aber nicht gedacht. Francesco Petrarca empfand beim Abstieg vom Mont Ventoux tiefe Reue angesichts seines vermessenen Unterfangens, vom Gipfel des unbedeutenden Berges einen freien Rundblick auf die Welt zu genießen. Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahin fließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst.¹⁵
Als das Auge des Dichters auf diese Worte des Kirchenvaters Augustinus im 10. Buch der Konfessionen fiel, erstickte deren Macht – jedenfalls der rückblickenden Mitteilung zufolge – den Anlauf zu einer human dimensionierten Weltbetrachtung im Keim. Geistigen Vorrang sollte die mit der Innenschau verbundene Abkehr von der Welt haben: „Geh nicht mehr nach draußen, kehre in dich selbst
In Anlehnung an die „vier grauen Weiber“ aus dem 5. Akt von Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Bloch, 1985, S. 431. Camus, 1972, S. 14. Vgl. Leed, 1993, S. 15. Petrarca, 1980, S. 96.
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zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit“, warnte und wusste der Bischof von Hippo.¹⁶ Wir haben es wegen solcher Imperative und ihrer Geltung darum mit halbherzigen Ansätzen und Problematisierungen von utopischen Konstrukten zu tun. Dennoch gilt es, solche „Residuen utopischen Denkens“, jene ungezügelten Reste des „Drängenden“ im Selbstbild der christlichen Kultur zu erkennen. Das Überschreiten und Verwirklichen von Alternativen im symbolischen Raum, im Traum, in der Kunst und in der Literatur bildete nicht selten den Kern kommender Veränderung. Die folgenden Überlegungen und Interpretationen konzentrieren sich auf einige Zusammenhänge zwischen imaginierten Räumen, fiktiven und realen Reisen und utopischen Denkmustern.¹⁷ Weil die Abgrenzung zwischen Idealvorstellungen und Utopien für das Mittelalter besonders schwer zu ziehen ist, konzentriere ich mich auf die Kombination utopischer Konstrukte am Beispiel von Inseln bzw. der Ferne mit Vorstellungen von idealer Gemeinschaft und Herrschaft.
IV Die Insel der Seligen Die wirksamsten geistigen Anstöße zur Entstehung der mittelalterlichen Reiseliteratur kamen aus dem Umkreis des asketischen irischen Mönchtums. Die Pilgerreise des Lebens aus dem Geist der frühchristlichen peregrinatio sollte für den Mönch nicht mehr nur Sinnbild, sondern Praxis, sollte Lebens- und Frömmigkeitsform werden. Diese spirituelle Ausrichtung fand ihren literarischen Ausdruck in der sog. „Mönchsodyssee“ des heiligen Abtes Brendan. Bis heute beeindruckt die Navigatio Brendani den Leser durch ihren unbändigen Willen zur Aktivität, zur uneingeschränkten Mobilität und zur Abkehr von der statischen sozialen Nahwelt.¹⁸ Welche „utopischen“ Vorstellungen zeichnen nun die Legenden vom hl. Seefahrer Brendan aus? Schauen wir in die Vorgeschichte der Navigatio, die das
„Noli foras ire, in teipsum redi; in interiore homine habitat veritas“ (Augustinus, PL 34, S. 154). Vgl. dazu Kersting, 1991 und Sloterdijk, 2015, S. 357. Im Anschluss an Tomasek, 2001/2002 hat Renz, 2013, den Versuch unternommen, mit Blick auf die „Utopia“ des Thomas Morus die mittelalterlichen Utopien als deren „Vorgeschichte“ zu verstehen. Seine Ausführungen konzentrieren sich auf die Reiseberichte Odorichs von Pordenone (in der Übertragung von Konrad Steckel), auf Marco Polos Reisebericht in deutscher Fassung und auf Mandevilles Reisen in der Übersetzung von Michel Velser. Ich greife in den Abschnitten 4 und 5 in gekürzter Form auf Überlegungen zurück, die ich bereits publiziert habe: siehe Brall-Tuchel, 1998.
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Motiv der Ausfahrt und das Ziel der Reise preisgibt. Ein Neffe und Amtsbruder, der heilige Barinthus, erzählt Brendan anlässlich eines Besuches von einer Visitation der insula deliciosa, auf die einer seiner Schüler sich zurückgezogen habe.¹⁹ Dort sei er dessen Einladung zu einer Fahrt über das Meer zum Verheißenen Land der Heiligen gefolgt. Nach dem Durchfahren einer dichten Nebelwand erreichen St. Barinthus und sein Begleiter St. Mernoc eine lichtdurchflutete, fruchtbare, an Früchten und Blumen reiche Insel, deren Ende sie auch nach zweiwöchiger Erkundung nicht aufspüren können. An einem Fluss erscheint ihnen ein Engel, der ihnen mitteilt, der Herr selbst habe ihnen dieses Land offenbart, das für seine Heiligen bestimmt sei. Sie seien schon bis zur Mitte der Insel gekommen. Doch nun folgt die entscheidende Aussage des Engels: „Ihr dürft nicht mehr weitergehen. Dreht um und geht hinaus.“²⁰ Die Utopie bezieht sich also nur auf die Vergangenheit, den zurückgelegten Weg und die Freuden der Askese. Ohne es zu wissen, haben die Pilger bereits ein ganzes Jahr auf der Insel verbracht, ohne Hunger, Durst und Müdigkeit zu verspüren. „Hier ist es nämlich immer Tag ohne Dunkelheit. Unser Herr Jesus Christus ist selbst das Licht.“²¹ Das Boot bringt die beiden Mönche dann zur insula deliciosa zurück, wo Barinthus den zurückgebliebenen Brüdern mitteilt, dass sie nicht weit entfernt vom Paradies lebten. St. Brendan wird nun selbst von einer großen Sehnsucht nach dem Verheißenen Land der Heiligen ergriffen und macht sich mit seinen Mönchen auf den Weg. Seine Fahrt verläuft nicht so glatt wie das Pilotprojekt des heiligen Vorgängers. In einer Kette von Episoden werden Höhen und Tiefen der geistlichen Seefahrt ausgelotet. Damit gewinnt der Weg zur terra repromissionis sanctorum einen eigenständigen Stellenwert. In der Begegnung mit Meeresungeheuern, feuerspeienden Tieren, beim Anblick des Kampfes zwischen Ungeheuern werden Bilder und spirituelle Erfahrungen der Unsicherheit des irdischen Daseins aufgerufen, andere Episoden thematisieren spezielle Wünsche und Ängste, Versuchungen und Hoffnungen des mönchischen Lebens. So genießen die Mönche die Annehmlichkeiten des Lebens auf einer schwer zugänglichen Insel, auf der sie Behausung, Gelegenheit zur Körperpflege sowie Speise und Trank finden. Brendan warnt die fratres hier vorausschauend vor den Versuchungen des Satans, denen einer der drei Nachzügler dann doch zum Opfer fällt. Signifikant ist das Interesse der Seefahrer an den Strafen der Verdammten: Sie stoßen auf die neutralen Engel der Vogelinsel, der flüchtige dritte Nachzügler wird von den Teufeln der Vulkaninsel geholt und sie treffen den Verräter Judas,
Navigatio Sancti Brendani abbatis, from early Latin manuscripts, siehe Selmer, 1959. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7.
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der an Sonn- und Festtagen seinen Platz in der Hölle gegen einen Felsen im Meer tauschen darf. Ihre „utopische“ Qualität gewinnt die Reise jedoch durch die Schilderung von Wundern und Abenteuern. Multa mirabilia oder tanta ac talia mirabilia feuern die Gottsuche der Mönche an und halten ihre Sehnsucht nach Einkehr in das den Heiligen versprochene Land wach. Die Verknüpfung der Wunder der Welt (mirabilia) mit einem topographisch nachvollziehbaren Reiseweg trug entscheidend dazu bei, die frühmittelalterliche Symbolik der Seelenreise zu transformieren und auf Schauplätze der diesseitigen Welt zu verlegen. Und noch ein weiterer Gesichtspunkt verdient Beachtung: Die Reise in ihrer ganzen Beschwerlichkeit wird nunmehr in einer Gemeinschaft bestanden, während die Seelenreise in der Regel allein, zumeist von Außenseitern und begnadeten Ekstatikern, erlebt und der Mitwelt weitergegeben wurde.
V Grippia – Schluss mit Lust und Luxus Die profane Literatur des Hochmittelalters übernimmt schon im 12. Jahrhundert das Schema der gemeinschaftlichen Reise zu den Wundern der Welt. Anstelle geistlicher schieben sich aber nun weltliche Szenarien in den Vordergrund. Wegbereiter dieser Entwicklung war die sog. Spielmannsepik, allen voran das Epos von Herzog Ernst. Der anonyme Dichter setzte das Motiv der Reise dazu ein, das hochmittelalterliche Wissen über die Welt, einheimische Sagentraditionen und soziale Konfliktfelder der aristokratischen Jugend miteinander zu korrelieren. Ganz kurz zur Handlung: Herzog Ernst, der makellose Held, genießt das Vertrauen und die Liebe seiner Mutter. Dies und sein großes Ansehen bei seinem Stiefvater wecken den Neid eines Pfalzgrafen. Der beste Helfer Kaiser Ottos fällt einer Intrige zum Opfer und nimmt blutige Rache an seinem Widersacher. Verfolgt von seiner nächsten Verwandtschaft sieht er sich schließlich nach zähem und aufreibendem Widerstand zur Flucht aus dem Reich gezwungen. Im abenteuerlichen Exil bewährt er sich nach verlustreichen Scharmützeln und unter großen Gefahren als Kämpfer für Recht und Ordnung, was ihm schließlich die Heimkehr ermöglicht. Die Reise oder Fahrt des Helden dient offenkundig dem Zweck, einen Zwischenraum für Konfliktlösung und Veränderung zu schaffen. Schon der Prolog preist den Wert der Reise. Der Dichter unterscheidet zwischen denen, die dâ heime ir lant bûwent / unde nimmer des getrûwen / swaz man von heldes noeten saget (V. 9 – 11) und jenen, die in fremden rîchen / dicke sorclîchen / varent durch vermezzenheit / unde bediu liep unde leit / lîdent undr unkunder diet (V. 23 – 27). Erfahrung (versuochen), Risiko und Gefahr, starkiu arbeit, grôzer kumber, nôt werden als
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Bereicherung des menschlichen Lebens betrachtet. Zwar haben die Helden die Lebensform des Reisenden nicht frei gewählt, aber wer schon den Status des Flüchtlings und Exilierten innehat, so die Folgerung, der kann auch vil manic ellende versuochen (V. 132 f.).²² So pflegen die jungen Rebellen die Sitten ihrer Heimat und inspizieren fremde Ethnien und Kulturen. Nur in der diesseitigen Zielsetzung, nicht aber in der männerbündischen Lebensform und in der Art der „Erfahrung“ unterscheidet sich die Herzog Ernst-Reise von der Brendanreise. wunder sehen (V. 2557) wollen ja auch die exilierten Helden und dabei stoßen sie dann auch auf Attraktionen, die viel über die geheimen Wünsche verraten, die nicht zuletzt auch zu ihrer Vertreibung aus dem Reich geführt haben. Die Jünglinge Ernst, sein bedächtiger Gefährte Wetzel und ihr Gefolge werden nach langer Irrfahrt übers Meer in ein vil hêrlîchez lant (V. 2205) verschlagen. Im Hafen einer prächtigen Stadt namens Grippîâ, die von einem Fluss und einer Mauer aus Marmorsteinen mit gold- und edelsteinbesetzten Zinnen umgeben ist, gehen sie vor Anker. Mit einem hochgerüsteten Stoßtrupp dringen sie überraschend in die Stadt ein, um ihre Vorräte aufzufüllen. Als sie dort keine Verteidiger antreffen, halten sie Umschau und entdecken einen grünen, kühlen Garten mit reich gedeckten Tischen und kostbarem Geschirr, genießen die Annehmlichkeiten eines Gastmahls, decken sich mit den reichen Vorräten eines Hauses an Fleisch, Wein und Brot ein, ohne nach einem Wirt zu fragen. Die Aussicht auf Reichtum und Luxus verleitet die beiden Protagonisten zu einer weiteren Erkundung der Stadt. Überwältigt vom unerhörten Luxus des Palastes und der Sauberkeit der marmornen Stadt gönnen sich die beiden Helden nicht ohne Bedenken zunächst ein Bad und danach eine Ruhepause auf einem kostbaren Bett im Palast. Doch diese Stadt, aller bürge ein krône (V. 2790), ist nicht als Rückzugsraum für exilierte Helden und fremde Besucher gedacht. Der Lärm der rückkehrenden Bewohner, der Kranichköpfe, schreckt Herzog Ernst und Graf Wetzel jäh auf. Sie werden unfreiwillig Zeugen eines monströsen Geschehens, nämlich der Zwangshochzeit des Königs der Kranichköpfe mit der entführten schönen Tochter des Königs von Indîâ. Der Traum von Reichtum, erotischem Glück und weltlicher Macht zerplatzt angesichts der rauen Sitten in der Militärgesellschaft der Grippîâner. Das vielversprechende Abenteuer bei den wunderlîchen liuten (V. 2206 ff.) endet im Desaster. Die jungen Helden werden unter großen Verlusten erneut aus einem Reich Zitate werden im Fließtext belegt und folgen der Ausgabe von Bernhard Sowinski (1970). Übersetzung: „die daheim ihr Land bestellen / und niemals das wagen / was man über die Taten der Helden erzählt“ (V. 9 – 11); „die in fremden Ländern / unter großen Gefahren / mit großer Kühnheit umherfahren / und Gutes und Schlechtes bei unbekannten Leuten erdulden“ (V. 23 – 27); „in mancherlei Fremde bestehen“ (V. 132 f.).
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vertrieben, das sie fatalerweise als ihnen zustehend angesehen haben. Aber das vermeintliche Paradies auf Erden ist nichts anderes als ein Sündenpfuhl aus Luxus, Gewalt und Triebhaftigkeit. Heterotopie und Utopie liegen hier ganz dicht beieinander. Dem Streben nach weltlichem Glück sind enge Grenzen gesteckt. Darum warnt der Herzog Ernst vor der Illusion, ohne persönliche Leistung, ohne Demut, Eignung und Dienst für Gott und die Menschen zu Reichtum, Liebe und Herrschaft gelangen zu können.
VI Auflösung von Heterotopien Den Missbrauch von Herrschaft und die despotischen Seiten heterotopischer Gesellschaftsvorstellungen kennt vereinzelt schon die höfische Literatur. Man denke an die lähmenden, isolationistischen Lebensbedingungen, die der Eunuch Clinschor auf Schastel marveile in Wolframs Parzival der höfischen Schattengesellschaft auferlegt,²³ an die Sonderwelt des Gewaltmenschen und Teufelsbündners Rôaz im Wigalois des Wirnt von Grafenberg oder an die Schreckensherrschaft des „kahlen Siechen“ in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal. ²⁴ Diesen mehr oder minder verschlossenen Räumen mit ihren Zwangsgemeinschaften stehen nun nicht nur die idealen Lebensformen der höfischen Gesellschaft mit ihren glanzvollen Seiten gegenüber; die Gegenwelten müssen durch den Elan des Helden immer wieder aufgebrochen, abgeschafft und – soweit überhaupt möglich – dem „höfischen“ Lebensraum eingegliedert werden. Dieses Muster findet sich nicht nur in fiktionalen Werken, sondern hält Einzug auch in die Berichte von Reisenden. Dafür nur ein Beispiel: An Infamie und wohl auch an einem gewissen Realitätsgehalt nicht zu überbieten ist die Funktionalisierung utopischer Wünsche in den Erzählungen über den Alten vom Berge, wie sie Marco Polo und Odorico von Pordenone weitgehend übereinstimmend aufzeichnen. Die „Beschreibung der Welt“ enthält einen Einschub (Kap. XLI), in dem die Praxis der Abrichtung von Attentätern im Osten Persiens thematisiert wird. In einem lieblichen Tal, so habe er, Marco Polo, es gehört und so gebe er es auch wieder, habe ein gewisser Alaodin einen herrlichen Garten anlegen lassen. In goldenen Palästen flössen nicht nur Milch und Honig, sondern auch Wasser und Wein. An schönen Jungfrauen, die musizieren und tanzen, bestehe kein Mangel; kein Wunder, dass man sich hier im Paradies wähne. Doch Einlass in dieses Paradies fänden nur Jünglinge mit den besten Anlagen. Sie würden betäubt und entführt,
Vgl. Tuchel, 1994. Siehe dazu Brall-Tuchel, 1999, S. 220 ff.
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um dann im Paradiesgarten aufzuwachen, den sie dann nie mehr verlassen wollten. Der Alte vom Berge inszeniere jedoch nach Bedarf für seine Jünglinge die Vertreibung aus dem Paradies. Das rufe bei den Probanden eine solche Sehnsucht wach, dass sie zu jedem Mordanschlag bereit seien, um nur wieder zurück ins Paradies zu gelangen. Unter utopiekritischen Gesichtspunkten betrachtet ist dies eine äußerst hellsichtige Analyse totalitärer Herrschaft bzw. manipulativer Techniken der Macht. Wie im bereits genannten Spielmannepos Herzog Ernst steht hier eine Warntafel für die aristokratische Jugend. Doch darüber hinaus wird auch die zersetzende und destabilisierende Auswirkung des Terrors auf legitim ausgeübte Herrschaft im Kern erfasst: „Und darum ist es eine Tatsache: etliche Könige und Barone zahlten ihm Tribut und stellten sich gut mit ihm aus purer Angst vor seinen Mordanschlägen.“²⁵ Erst die Tataren (Mongolen) setzten der Schreckensherrschaft des Alten vom Berge nach langer Belagerung ein Ende. Die Vorspiegelung utopischer Zustände dient – so die Logik dieser Erzählung, die Eingang in die europäische Literatur und Bildwelt fand²⁶ – nur der Verführung und Fehlleitung der Jugend.
VII Das Reich des Priesterkönigs Johannes Der Rang einer europäischen Utopie avant la lettre – vor der theokratisch ausgerichteten „Città del Sole“ des Tommaso Campanella (1602/1623) und der weitgehend für monastisch-intellektuelle Lebensführung plädierenden „Utopia“ des Thomas Morus (1516) – gebührt wohl am ehesten dem Vorstellungskomplex vom Priesterkönig Johannes und seinem indischen Reich. Hier werden nicht etwa zukunftsweisende Formen städtischer Vergemeinschaftung oder „bürgerliche“ Ideale utopisch inszeniert,²⁷ sondern feudale und klerikale Statusrepräsentation
Marco Polo, 2003, S. 63. Vgl. Reichert, 1992, S. 208, S. 250. Hammerstein, 2010, hat zu bedenken gegeben, dass die politischen Utopien des Spätmittelalters von den utopischen Architekturtraktaten der italienischen Renaissance profitiert haben. „Hier werden Einsichten geschildert und Forderungen zum erstenmal in der europäischen Geschichte in solcher Deutlichkeit erhoben, die auf Grund der Erfahrungen, die nur im engen Zusammenleben der Menschen in einer italienischen Renaissance-Stadt gemacht werden konnten, zu gewinnen waren: Die Gesellschaft, das Gemeinwesen, der ordnende, menschliche Verstand, nicht Kirche, Orden, Landes- oder Feudalherr – hatten die Aufgabe, das Leben, die soziale Vielfalt staatlich-städtischer Existenzmöglichkeiten zu regeln, zu ordnen, zum Besten aller zu organisieren und zu verwalten, die sozialen Belange als integralen Teil der eigenen, mundanen Tätigkeit zu begreifen.“ (S. 339).
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mit überzogenen Herrschaftsphantasien beherrschen das Bild. Ausgangspunkt dieses durch das gesamte Europa des Mittelalters wandernden Konglomerats um das östliche Vielvölkerreich und seine Ordnung war ein fingierter Brief seines mächtigen Herrschers. Vermutlich hat ein Geistlicher mit guten Orientkenntnissen²⁸ diesen Brief um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfasst. Er wurde an den König der Griechen, unmittelbar danach auch an weitere europäische Könige und an Papst Alexander III. gerichtet. Man findet Bezugnahmen auf den Brief des Priesterkönigs Johannes in der Literatur und in vielen Reiseberichten des hohen und späten Mittelalters. Obwohl viele Details erkennen lassen, dass das in der Epistula verarbeitete Orientwissen zum großen Teil aus westlichen und biblischen Quellen stammt, rechnete man nicht mit einer Fälschung.²⁹ Bestärkt durch die Autorität Ottos von Freising, der in seiner Chronik den Bericht eines syrischen Bischofs wiedergibt, dem zufolge in extremo oriente ein rex et sacerdos den bedrängten Christen zu Hilfe geeilt und gegen Perser und Meder in die Schlacht gezogen sei, erfuhr das Schreiben des Priesterkönigs eine rasante Verbreitung in ganz Europa bis in das 16. Jahrhundert hinein. Der Brief enthält u. a. das Gelöbnis des Priesterkönigs, nach Jerusalem zu ziehen und gegen die Feinde unseres Herrn Jesus Christus zu kämpfen (§ 11). Nach dieser im Westen gern gehörten Ansage strotzt der Text allerdings auch vor Großartigkeit und imperialer Selbstherrlichkeit. Nicht wenige Partien warten auch mit mehr oder weniger utopisch anmutenden Motiven auf. So greift die Aufzählung der exotischen Tierwelt (§ 14), der Fabelwesen und Anthropophagen (§ 16) die westliche Faszination für mirabilia auf, die Beschreibung des Landes, „in dem Milch und Honig fließt“ (§ 21) entwirft einen christlich-klerikal durchorganisierten Idealstaat, in dem alle Menschen reich, gesund, im besten Alter, ohne Kriminalität, Laster, Lügen, Ehebruch und Neid friedlich zu-
Vgl. Huschenbett, 1989, mit reichen Literaturangaben. Neben der Pionierleistung bei der Erschließung der lateinischen und deutschen Überlieferung von Friedrich Zarncke sind besonders die souveräne Deutung des Textes durch Olschki, 1931, und die neuerliche Sichtung der gesamten Überlieferung durch Wagner, 2000, mit Hinweisen auf die Überlieferungsgemeinschaft vom Presbyterbrief mit Reiseliteratur und Pilgerberichten, S. 310 ff. hervorzuheben. Friedrich, 2003, sieht in den Fassungen des Briefes „eine Art Verräumlichung von heilsgeschichtlichen Strukturen und Energien“ (S. 73). Zimmermann, 2009, untersucht den Text unter dem Aspekt der Aneignung des Fremden, wonach das ferne Reich „als ein sonderbar hybrider ‚Zwischenraumʻ markiert“ (S. 151) werde. Zur Schilderung des Reiches des Priesterkönigs bei Mandeville vgl. Renz, 2013, S. 145 ff. „Bei näherer Betrachtung unterscheidet sich der Brief sowohl von den christlichen Darstellungen eines jenseitigen Idealreiches als auch von heidnischen Schilderungen der ‚saturnia regnaʻ; denn in ihm werden ihre Motive auf ein vermeintlich bestehendes und politisch geordnetes Reich weltlicher Ordnung übertragen.“ (Olschki, 1931, S. 9).
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sammen leben, wo nur viermal im Jahr Verkehr mit Frauen aus demographischen Gründen stattfindet und wo man sich bei Tisch nicht betrinkt. Auch die klerikale Überwachungsphantasie, der zufolge ein auf Säulen errichteter Spiegel alle machinationes und feindlichen Aktivitäten im In- und Ausland erkennt (§ 71), bedient ein bekanntes klerikales Denkmuster. Der Palast des Priesterherrschers (§ 87 ff.) übersteigt an Größe und Ausstattung alles, was anderen irdischen Herrschern zu Gebote steht.³⁰ Man könnte diese weltfremd wirkende Selbstanpreisung in das Reich der Fabel verweisen, hätten sich mit ihrem Realitätsgehalt nicht Poeten wie Wolfram von Eschenbach und Albrecht von Scharfenberg, Weltreisende wie Marco Polo und Odorico von Pordenone, Heidenfahrer und Hagiographen über Jahrhunderte hinweg auseinandergesetzt. Ich will an dieser Stelle nur noch auf den sogenannten Niederrheinischen Orientbericht eines anonymen Verfassers aus der Mitte des 14. Jahrhunderts eingehen. Der Anonymus war zweifelsfrei ein guter Kenner des Vorderen Orients. Er hat sich im Königreich Armenien (Kilikien) und am Hof des Sultans in Kairo von 1338 – 1352, also ca. 14 Jahre lang, aufgehalten, bevor er heimkehrte und seinen Bericht diktierte. Dieser ist in zwei Handschriften aus dem beginnenden 15. Jahrhundert überliefert. Trotz seiner genauen geographischen, politischen und ethnographischen Kenntnisse und seiner Augenzeugenschaft kolportiert der Verfasser an bestimmten Stellen unverdrossen das Indienbild, das sich im Gefolge des Presbyterbriefes in den Köpfen der Europäer festgesetzt hatte. Über den Priesterkönig Johannes weiß der Anonymus u. a. zu berichten: Vort preister Johan is krysten und is here over Indien und is mechtiger ind meirre here dan der keyser van Rome und wanne hie here wirt over Indien so wirt eme der name myt dat hie heist preister Johan und also schryft he in al synen breven dat hie geynnen groisser ede(l)er hoger name konne gewissen dan eyn preister. Want van eyns preisters macht wirt hemel ind hella up geslossen und zo und wanne eyn preister syn armen up hevet so vallent alle keyser coninge up ere knee. Vort de beste stat de in Indien liget de heist Seuwa da wont preister und we costlich riche und schone syne pallaese und wonnungen sint van goulde ind van edelen gesteintze da were lanck aff zo sprechen. ³¹
Vgl. Brincken, 1985. Brall-Tuchel, 2019, S. 32/34. Übersetzung: „Priester Johannes ist Christ und Herrscher über Indien und er ist mächtiger und ein größerer Herrscher als der Kaiser von Rom. Und hier als Herrscher über Indien wird ihm der Name verliehen, dass er Priester Johannes heißt und so schreibt er in all seinen Briefen, dass er keinen größeren, edleren, höheren Namen kenne als den des Priesters. Denn durch die Macht eines Priesters werden Himmel und Hölle auf- und zugeschlossen und wenn ein Priester seine Arme hebt, dann fallen alle Kaiser und Könige auf ihre Knie. Die prächtigste Stadt in Indien heißt Seuwa, dort wohnt der Priester. Wie kostbar und schön
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Das fingierte Selbstbild des mächtigsten Herrschers eines idealen Staates hat sich im Lauf von zwei Jahrhunderten zum festen Bestandteil der westlichen Weltwahrnehmung verselbständigt. Offenbar brauchte man noch im 14. und 15. Jahrhundert ein Gegengewicht zum Gefühl der Bedrohung durch den Islam und man gab im Westen die Hoffnung auf einen Bündnispartner nicht auf, mit dessen Hilfe es gelingen könne, die Herrschaft über das Heilige Land zurückzugewinnen. Verschoben haben sich im Lauf der Zeit die Gewichtungen der einzelnen Motive des Presbyterbriefes; besonders die geographischen Angaben sowie die Strategien der Beglaubigung erfuhren Änderungen nach dem jeweiligen Wissensstand. Der Verfasser des Niederrheinischen Orientberichts deckt zu Beginn seiner Darstellung der Verhältnisse mit dieser Überlieferung alle Lücken und Unzulänglichkeiten des Wissens über wenig bekannte Weltregionen ab. Sein Bild von Indien, über das Priester Johann gebietet, füllt die entsprechenden Leerstellen einerseits mit phantastischen Elementen: ungeheure Reichtümer, befremdliche Sitten, exotische Tiere, erotische Freizügigkeit, seltsame Menschen. Nicht von ungefähr besteht das Land Indien für den Anonymus „aus Inseln, die mit großen Sümpfen und mit Gewässern voneinander getrennt sind“.³² Die Leute, die dem Paradies am nächsten wohnen, sind taub, weil das Firmament sich dort mit solchem Getöse dreht, dass kein hörender Mensch das ertragen kann.³³ Herrlichkeiten, Wunder, Wünsche und Abnormitäten jenseits der eigenen Realität haben nach wie vor ihr Daseinsrecht im legendären Reich des Priesters Johannes. Obwohl der Verfasser das Reich des Priesterkönigs an der Peripherie des eigenen Weltbildes ansiedelt, bemüht er sich andererseits jedoch immer wieder um eine Integration der „Wunder des Ostens“ (Rudolf Wittkower) in die durch Erfahrung und Buchwissen beglaubigten Realitäten. An die Stelle der Beschreibung der sagenhaften Reichtümer (da were lanck aff zo sprechen) tritt bei ihm die Anbindung des Reiches an die christliche Missionsgeschichte, an das Leben der Heiligen Drei Könige dortzulande, an die Gestalt des Apostels Thomas und die Legende der Heiligen Helena. Der Bericht verfolgt damit den Zweck, den Orient als eine erstaunliche, in mancher Hinsicht verbesserungsbedürftige, aber gleichwohl für das Christentum aussichtsreiche Randzone zu deuten. Wir haben es also nicht nur mit einer Verschiebung von unterdrückten Triebwünschen in Richtung Osten zu tun, sondern auch mit einer Abspaltung utopischer Gehalte von christlichen Wertvorstellungen. Ja, es gibt die wundervolle Welt des Ostens, lautet die Botschaft des Berichtes, dort ist alles viel schöner und seine Paläste und Wohnsitze mit Gold und Edelsteinen geschmückt sind, darüber wäre viel zu sagen.“ (Ebd., S. 33/35). Ebd., S. 37. Vgl. ebd.
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größer, prächtiger und luxuriöser als hierzulande – aber wo es den Heiden, gemeint sind hier die Muslime, gut geht, da ist es um die dort lebenden Christen schlecht bestellt. Sie sind entweder in ihren Riten und Glaubensvorstellungen zu weit von der Papstkirche entfernt oder sie leiden Verfolgung und schmachten in Gefangenschaft. Die prachtvolle Fassade, alle höfischen Zeremonien und Lustbarkeiten können in der Optik des Berichterstatters nicht darüber hinwegtäuschen, dass kein Segen auf diesem Wohlleben liegt. Auch die Lizenzen in Bezug auf Glauben und Sitten haben ihre dämonische Seite wie etwa der religiös begründete rituelle Selbstmord von Jungfrauen.³⁴ Die sexuelle Führungsrolle von Frauen und die Freizügigkeit der Amazonen³⁵ erweisen sich als Versuchungen, vor denen man sich als Christ zu hüten hat.
VIII Fazit Die Umschau nach utopischen Entwürfen in der mittelalterlichen Reiseliteratur hat ergeben: Im Gegensatz zu den spirituellen Reisen geistlicher Gemeinschaften in Räume des Glücks und der Verheißung, die aber von ihnen nicht betreten werden können, sind die von den Reisenden aufgesuchten und aus ihrer Sicht beschriebenen Räume tendenziell heterotopisch angelegt. Entweder handelt es sich um falsch verstandene Paradiese, aus denen die Grenzgänger vertrieben werden oder um Schreckensherrschaften, die bezwungen und aufgelöst werden müssen oder um – wie auch immer dämonisch geartete – Sonderwelten. Einzig die Epistula des Priesterkönigs Johannes hat es vermocht, utopische, d. h. nicht zu vereinbarende Wünsche nach Reichtum, gerechter Herrschaft und einem Leben in Demut, Aufrichtigkeit und Gesundheit zu bündeln. Die Verwirklichung einer theokratischen Herrschaftsordnung in Frieden und Harmonie über alle Religionsgrenzen hinweg rückte damit in den Bereich des Erstrebenswerten. Allerdings konnte es nur aufgrund der Extrapolation einer gänzlich unanfechtbaren Machtposition mit nie versiegender Ressourcen gelingen, dem christlichen Abendland derart kritisch und drohend den Spiegel vorzuhalten. Doch wie so viele andere Versuche utopischen Denkens im europäischen Mittelalter blieb auch diese „politische Utopie“ (Leonard Olschki) an die Einsicht gebunden, dass die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies durch keine wie auch immer geartete utopische Anstrengung rückgängig zu machen sei.
Vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 142 ff.
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Nina Scheibel
Wolframs Visionen? Diversität, Identität und der Entwurf einer (inter‐)kulturellen Wertegemeinschaft im Willehalm Der Willehalm ¹ Wolframs von Eschenbach erzählt vom Krieg: von Mord, Gewalt und Tod, von Entfremdung, Zorn und Aggression. In einer ungewöhnlichen Breite und einem bemerkenswerten Detailreichtum berichtet der wahrscheinlich zwischen 1210 und 1220 entstandene, fragmentarisch gebliebene Roman von den Schrecken des gewaltsamen Konflikts zwischen Christen und Sarazenen.Visionär, antizipatorisch oder gar fortschrittlich, wie es der Titel des Beitrags nahelegt, erscheint hier auf einen ersten Blick kaum etwas, denn in dem grausamen Krieg zwischen Orient und Okzident kämpfen nicht nur zwei Glaubensgemeinschaften, sondern auch zwei Großfamilien gegeneinander. Verbunden sind beide durch Arabel, einst Ehefrau des heidnischen Königs Tybalt, die zum Christentum konvertiert,Willehalm, Markgraf der Provence, heiratet und sich fortan Gyburc nennt. Folge dieser Entscheidung ist der Angriff ihres militärisch weit überlegenen Vaters Terramer, der mit seinem heidnischen Heer in zwei großen Schlachten gegen das immer geringer werdende christliche Aufgebot zieht; nach einer verheerenden Niederlage der Christen in der ersten Schlacht gelingt es Willehalm mit der Unterstützung seiner Verwandten und der Rennewarts², die zweite Schlacht für sich Wolfram von Eschenbach, 2003. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert (siehe Bibliographie), und die Stellen werden im Fließtext angegeben. Die neuhochdeutschen Übersetzungen sind ebenfalls dieser Ausgabe entnommen und stehen in den Fußnoten oder bei eingerückten Zitaten unterhalb des mittelhochdeutschen Textes im Fließtext. Rennewart ist der Sohn Terramers und Bruder Gyburcs, der als Kind entführt und am Hof des französischen Königs aufgewachsen ist, dort als Küchenjunge niedere Dienste verrichtet und von Willehalm für die Schlacht gewonnen wird; obwohl Rennewart die Taufe verweigert und seiner Religion nicht abschwört, kämpft er im Glauben, seine Familie habe ihn im Stich gelassen, in der zweiten Schlacht für die christlichen Truppen, kann den Sieg herbeiführen, verschwindet aber letztlich aus dem Geschehen, bevor der Text abbricht. Die Figur Rennewarts hat dabei wohl aufgrund ihrer Ambivalenz und der sie auszeichnenden Paradoxien, die der Erzähler markant im Bild des in Schmutz gefallenen Goldes (vgl. 188,21– 29) und des aus dem Nest geflogenen Adlerjungen (vgl. 189,2– 24) fasst, und ihrer Bedeutung für das Erzählkonzept des Willehalm, sofern sich in ihr die zentralen Konfliktlinien der Erzählung spiegeln, enorme Aufmerksamkeit seitens der Forschung erfahren. Vgl. insgesamt zur Rennewart-Figur: Greenfield/Miklautsch, 2012, S. 204– 210; Young, 2000, S. 64– 80; Kielpinski, 1990; Przybilski, 2003. Zuletzt hat sich Knaeble, 2015 dem sich in der Figur spiegelnden Verhältnis von Christen und Heiden aus einer narratologischen Perspektive genähert. https://doi.org/10.1515/9783110756944-004
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zu entscheiden. Mit Willehalms Anordnung, die gefallenen Heidenkönige in ihre Heimat zu bringen und sie dort ehrenhaft zu bestatten, bricht der Text ab. Inwieweit sich nun das hier programmatisch vorangestellte und seit der Antike prominente Bild des Dichters als Seher, der „den Horizont [seiner] eigenen Epoche“ überschreitet und „in seinen poetischen Visionen Kommendes vorwegnimmt“³, mit Wolfram und vor allem mit seinem Willehalm in Verbindung bringen lässt, wurde in der Forschung immer wieder diskutiert. Die Kontroverse über das antizipatorische Potential des Romans entzündete sich dabei an der wohl prominentesten Figurenrede der Erzählung: Gyburcs Rede vor dem Fürstenrat, in der sie kurz vor Beginn der zweiten Schlacht die christlichen Heerführer im Falle eines Sieges um die Schonung der heidnischen Feinde bittet, die Heiden als Geschöpfe Gottes bezeichnet und zu Barmherzigkeit aufruft. Im Anschluss an diesen Appell verweist sie im Rekurs auf Figuren der Heilsgeschichte darauf, dass nicht alle Heiden zur Verdammnis bestimmt seien, und betont den ursprünglich heidnischen Status aller Christen bis zur Empfängnis der Taufe.⁴ In welchem Maße der Rede revolutionärer Gehalt unterstellt wurde, hing dabei insbesondere von dem Verständnis einer Figurenäußerung und damit der Frage ab, ob Gyburc mit der Aussage: dem sældehaften tuot vil we, / ob von dem vater siniu kint / hin zer vlust benennet sint: / er mac sich erbarmen über sie, / der rehte erbarmekeit truoc ie (307,26 – 30)⁵ die Heiden als Kinder Gottes bezeichnet oder nicht. Trotz einer bemerkenswerten Vielfalt diesbezüglicher Positionen – von der These des humanitätsgeschichtlich Neuen⁶ über die einer Wolfram nicht zu-
Schnell, 1993, S. 185. die rœmischen vürsten ich hie man / daz ir kristenlich ere meret. / ob iuch got so verre geeret, / daz ir mit strite uf Alischanz / rechet den jungen Vivianz / an minen magen und an ir her […], / und ob der heiden schumpfentiur erge, / so tuot daz sælekeit wol ste: […] schonet der gotes hantgetat. / ein heiden was der erste man / den got machen began. […] / die heiden hin zer vlust / sint alle niht benennet. […] / getouft wip den heiden treit, / swie daz kint der touf hab umbeleit. / […] wir waren doch alle heidnisch e. („Euch, Fürsten des römischen Reiches, mahne ich, das Ansehen des Christentums zu mehren. Wenn Gott Euch so hoch ehrt, daß Ihr im Kampf auf Alischanz den jungen Vivianz rächen dürft an meinen Verwandten und deren Heer […] und wenn Ihr die Heiden besiegt, so versündigt Euch nicht. […] [V]erschont die Geschöpfe Gottes. Der erste Mensch, den Gott schuf, war ein Heide. […] Der Verdammnis sind nicht alle Heiden zubestimmt. Die Christenfrau trägt immer erst ein Heidenkind, wenn auch die Taufe das Kind umschließt. […] Wir alle waren anfänglich Heiden.“; 306,18 – 307,25). „Den Geretteten muß es sehr schmerzen, wenn der Vater seine eignen Kinder dem Verderben anheimgibt. Doch steht es in dessen Macht, sich ihrer zu erbarmen, der stets wahre Barmherzigkeit gezeigt hat.“ So schon Bertau, 1983, S. 102.
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zutrauenden, ketzerisch zu nennenden Wunschprojektion moderner Rezipienten⁷ hin zu der einer zeitgenössisch wenig innovativen, weil in anderen theologischen Quellen längst vertretenen Bewertung der Heiden⁸ – und der mittlerweile mehrfach vertretenen Annahme, dass diese, aus der Perspektive einer Figur formulierte und aus deren individueller Situation heraus plausibilisierte Aussage keine autorseitige Aufwertung des heidnischen Glaubens impliziert⁹, scheint die Beurteilung von Wolframs antizipatorischem Potential nicht ausschließlich, aber doch in besonderer Weise von der Bewertung dieser Passage und ihres (vermeintlichen) Toleranzgehaltes abhängig zu sein¹⁰. Gerade bei Positionen, die zu einer Generalisierung des Toleranzgedankens tendieren und die Erzählung als „Appell zur Versöhnung von Heiden und Christen, von Orient und Okzident“¹¹ verstehen, lässt sich dabei allerdings häufig eine zu einseitige Fokussierung auf die religiöse Di-
So etwa Knapp, 1993, S. 203. Schnell, 1993, S. 196 ff. Vgl. zur Plausibilisierung von Gyburcs Figurenrede, die den Heiden und damit ihrer Familie die Gotteskindschaft zuspricht, durch ihren Status in der erzählten Welt: Schnell, 1993, S. 195; Toepfer, 2013, S. 249, S. 256; vgl. zur These einer aus der Rede der Figur gerade nicht abzuleitenden Wertschätzung des heidnischen Glaubens: Wells, 2001, S. 220 ff; Bauschke, 2012, S. 210 f. Eine Übersicht über die verschiedenen Positionen in dieser Kontroverse findet sich bei Bulang/Kellner, 2009, S. 125, Anm. 2. Die Tendenz zur Verknüpfung von antizipatorischem Potential und der Rede Gyburcs manifestiert sich nicht zuletzt in der nahezu selbstverständlichen und allgemein verbreiteten Bezeichnung jener Figurenäußerung als Toleranzrede sowie in der Beobachtung, dass – wann immer im Rahmen von (nicht nur literaturwissenschaftlichen) Untersuchungen Toleranz im Fokus steht – Bezug auf die genannte Textpartie genommen zu werden scheint (siehe hierzu exemplarisch etwa Schmidinger, 2002, der „eine Auswahl von Texten zusammenstellt, die als wesentliche Marksteine auf dem Weg zur Entdeckung der Toleranz bezeichnet werden müssen“ [S. 11] und dabei unter dem Kapitel „Literatur“ Wolframs Willehalm und die Toleranzrede Gyburcs untersucht [vgl. S. 68 – 71]). Bulang/Kellner, 2009, S. 126. Vgl. zur Verbindung von Toleranzidee und Gyburcs Figurenrede und ihrer Generalisierungen auch in der frühen Forschung den Überblick bei Sabel, 2003, S. 3 ff. Auch jüngere Arbeiten fassen genannte Textphänomene als Ausdruck eines spezifischen Toleranzgedankens, der dabei nicht selten auf eine Autorposition zurückgeführt wird, wie etwa bei Haupt, 2009, S. 55, die „im Hinblick auf Wolframs Einstellung gegenüber Nicht-Christen durchaus von ‚Humanität‘ und ‚Toleranz‘ sprechen [möchte]“. Vgl. außerdem – allerdings mit stärkerer Differenzierung der narrativen Ebenen hinsichtlich Figuren- und Erzähleräußerungen – Bampi, 2011, zusammenfassend S. 18.Vgl. zur Toleranz im Mittelalter insgesamt: Heinz, 2017, S. 13, der die Existenz des Phänomens Toleranz im Rekurs auf die wichtigsten diesbezüglichen Forschungsarbeiten als erwiesen betrachtet; vgl. zu den diversen früheren Positionen, ob und in welchem Grad von Toleranz bzw. Toleranzbewusstsein im Mittelalter gesprochen werden kann auch Sabel, 2003.
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mension und eine Marginalisierung der an anderen Stellen eigens hervorgehobenen Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Textes¹² beobachten. An dieser Vielschichtigkeit des Willehalm möchte der folgende Beitrag aber nun ansetzen und ausgehend von zunächst widersprüchlich oder ambivalent erscheinenden Textarrangements die Frage nach dem visionären Gehalt des Romans erneut stellen. Dabei soll gezeigt werden, dass Wolfram durchaus eine potentielle Lösung des Konflikts und eine mögliche Annäherung der beiden verfeindeten Parteien in Aussicht stellt, dies aber nicht zwingend als Ausdruck eines besonders fortschrittlichen oder visionären Toleranzgedankens¹³ zu verstehen ist. Vielmehr scheinen sich spezifische Konstellationen des Textes als Projektionen einer auf gemeinsamen Werten basierenden und jenseits von Glaubensunterschieden existierenden Gesellschaft und damit als Elemente des Utopischen lesen zu lassen.¹⁴ Die im Willehalm antizipierten Alternativen einer
So konstatieren etwa Bulang/Kellner, 2009, S. 126: „Solche Lesarten laufen Gefahr, die Komplexität der literarischen Kommunikation im Blick auf theologische und ideologische Aussagen des Textes zu unterschneiden, indem etwa […] Einzelaussagen zur Botschaft des Gesamttextes hypostasiert werden. Zu wenig berücksichtigt bleiben dabei häufig gerade die spezifischen Formen der Literarizität. Demgegenüber möchten wir akzentuieren: Literarische Kommunikation erschöpft sich nicht in der Illustration propositionaler Gehalte, die literarische Arbeit an der Kreuzzugsthematik entfaltet in komplexen Bildern und Bildfeldern sowie im Schnittfeld verschiedener Diskurse vielmehr Eigendynamiken, die sich nicht umstandslos mit eindeutigen Appellen verrechnen lassen. Zu berücksichtigen ist stets die Vielschichtigkeit und damit auch die Widersprüchlichkeit der Semantiken und Strukturen, welche die kulturellen Dichotomien des Textes konstituieren“. Versteht man Toleranz zunächst als „Tugend geduldigen Ertragens abweichender Überzeugungen, die Duldung eines Übels, in engerem Sinn das Gewährenlassen anderer religiöser Bekenntnisse“ (Lellek, 2002, Sp. 849), zeigt sich diese „Geisteshaltung“ (Heinz, 2017, S. 14) durchaus an manchen Stellen der Erzählung – allerdings primär auf Ebene der Figuren, seltener auf der des Erzählers und damit grundsätzlich als ein Phänomen der erzählten Welt. Damit sind weder direkte Rückschlüsse auf eine (vermeintliche) Autorhaltung – selbst wenn es sich primär um Erzähler- und nicht Figurenperspektive handelte – noch auf eine Gesamtbotschaft des Textes möglich. Auf die Notwendigkeit, zwischen den einzelnen narrativen Ebenen zu differenzieren, weisen auch Bulang/Kellner, 2009, S. 126 hin. Vgl. zur ursprünglich problematisierten, mittlerweile aber durchaus akzeptierten Anwendung des Begriffs und des Konzepts der Utopie und des Utopischen auf die vormoderne Lebenswelt und Episteme die Diskussion bei Hartmann/Röcke, 2013b, insb. S. 7: „Die Herausgeber dieses Heftes gehen daher von der leitenden These aus, dass der Begriff des Utopischen für Entwürfe der idealen menschlichen Gemeinschaft auch für das Mittelalter fruchtbar gemacht und historisch sinnvoll angewendet werden kann, da vormoderne Epochen das ‚Träumen nach vorwärts‘ und vernunftgeleitete Phantasien menschlicher Grenzüberschreitung bereits ebenso wie die Neuzeit gekannt und mit ihren jeweiligen zeitspezifischen Vollkommenheitssymbolen zum Ausdruck gebracht haben.“ Damit sind die Utopie bzw. utopisches Bewusstsein gerade kein erst im 16.
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Konfliktlösung wären damit – so die These – als Bestandteile eines utopischen Erzählens zu fassen, sofern sie als „Entwürfe von ‚Wunschräumen‘ und ‚Wunschzeiten‘ […], in denen alle Leiden und Widersprüche der bestehenden Weltordnung beseitigt werden und ein stabiler Zustand des allgemeinen Glücks, Rechts und Friedens eintritt“¹⁵, begriffen werden können.¹⁶ Ein Verständnis jener Konstellationen als Resultat einer nur partiell und an spezifischen Stellen des Romans eingesetzten narrativen, eine fiktive Idealsituation imaginierenden Technik erscheint gerade in Anbetracht der Wolframs Willehalm auszeichnenden Vielstimmigkeit und Komplexität sinnvoll: Das Utopische lebt vom Widerspruch zum Nicht-Utopischen, die Utopie existiert nur aufgrund ihrer Negation – oder anders: um Frieden zu antizipieren, braucht es den Krieg –, und so scheint mir ein Erzählen, das aus der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“¹⁷ resultiert, genau jenes „Nebeneinander divergierender Anschauungen“¹⁸ und jene „widersprüchliche[n] Denkmuster und Wertorientierungen“¹⁹ abzubilden, die für Wolframs Text konstitutiv erscheinen.²⁰ Die genannte Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Bewertungsparadigmen zeigt sich im Willehalm nicht zuletzt im narrativen Umgang mit dem Fremden, mit den von Wolfram meist als Heiden bezeichneten Sarazenen. Zwar lässt der Erzähler Gyburc in ihrer Rede vor dem Fürstenrat „die Idee eines religionslosen Ursprungs aller Menschen formulieren“²¹, auch versteht er die Christen als ur-
bzw. 17. Jahrhundert auftretendes Phänomen, sondern – trotz ihrer erst durch Thomas Morus vorgenommenen terminologischen Fixierung – als anthropologische Konstante zu verstehen. Hartmann/Röcke, 2013b, S. 4. Unter utopischem Erzählen wird hier mithin ein narrativer Vorgang gefasst, der auf den fiktiven Entwurf einer idealen Form menschlichen Miteinanders und damit auf die Inszenierung und Generierung jener Wunschräume und Idealvorstellungen zielt. Auge/Witthöft, 2016, S. 2. Heinzle, 1998, S. 79. Wachinger, 1996, S. 58. In der Erzählung kreuzen sich nicht nur zentrale, zuweilen nicht immer miteinander zu vermittelnde theologische, anthropologische und politische Diskurse, auch auf narrativer Ebene werden anhaltend Widersprüche, Doppelwertigkeiten und Aporien erzeugt. Vielstimmigkeit, Ambivalenz und Komplexität scheinen also konstitutive Elemente der Erzählung zu sein; eindeutige Appelle oder Lehren gibt der Text nicht (vgl. zu diesen Aspekten auch Bulang/Kellner, 2009, S. 124– 127). Ausdruck dieser grundlegenden Ambivalenz des Textes scheint dabei auch die Offenheit für eine Vielzahl unterschiedlicher Deutungen zu sein, die die Erzählung geradezu zu provozieren scheint. Dieses spezifische Erzählkonzept wurde von Heinzle, 1994, S. 306 f., schon früh als ‚Darstellungsfigur der zwei Stimmen‘ beschrieben, sofern es intendiert und „sorgfältig berechnet“ (S. 305) sei und „unablässig an der Problematisierung geläufiger Denkmuster“ (S. 307) arbeite. Bauschke, 2012, S. 210.
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sprüngliche Heiden, nichtsdestoweniger verdeutlicht er bereits im Prolog nachdrücklich, dass nur durch die Hinwendung zum christlichen Gott und die Taufe Heil erlangt werden kann: so git der touf mir einen trost / der mich zwivels hat erlost: / […] du bist Christ, so bin ich kristen (1,23 – 28)²². Der sich nicht zum christlichen Gott bekennende, gleichwohl aber monotheistische Islam wird nicht nur explizit als polytheistische Religion dargestellt,²³ sondern auch mit Torheit, mangelnder Weisheit und noch nicht entwickelter geistiger Reife assoziiert: er [Terramer] selbe was vertoret, / daz er an si [die Götter] geloubte / unt sin alter wisheit roubte, / als ob er wære nach jugende var (352,14– 15)²⁴. Dieser dezidierten Herabsetzung des muslimischen Glaubens entspricht die deutliche Profilierung des Christentums durch die wiederholte Bezugnahme auf christliche Glaubensgrundsätze, wie es sich etwa im Prolog, aber auch in einzelnen Figurenreden manifestiert.²⁵ Die derart etablierte und auf den zeitgenössisch wirkmächtigen Kreuzzugsdiskurs rekurrierende Differenzierung von Christen und Heiden wird dabei insbesondere im Hinblick auf die jeweilige Heilsgewissheit konkretisiert, sofern die in der Schlacht gefallenen Christen ein Platz im Himmel und das ewige Leben, die getöteten heidnischen Kämpfer jedoch die ewige Verdammnis in der Hölle erwartet – leiblicher Tod und Seelenfrieden auf christlicher (vgl. 32,6), leiblicher Tod und Höllenfeuer auf heidnischer Seite (vgl. 38,20 – 30).²⁶ Die sich in solchen Polarisierungen manifestierende Betonung christlicher Prädominanz lässt sich dabei weder als „Gewährenlassen anderer religiöser Bekenntnisse“²⁷ und damit als ein Zeugnis der Toleranz deuten, noch scheint sie sich recht als Imagination einer idealen Gemeinschaft lesen zu lassen. Entspre „So schenkt die Taufe mir die Zuversicht, die mich vom Unglauben erlöst hat: […] Du bist Christus, also bin ich Christ.“ Die Bezeichnung der Muslime als Heiden und die Darstellung des monotheistischen Islams als polytheistische Religion kann durchaus als Verfahren der Negativzeichnung der Fremden und der Abwertung ihres Glaubens gelesen werden: „Die verfälschende Darstellung seiner Grundsätze ist Mittel zum Zweck […]. Der Geruch von Fremdheit, Irritation und Gefährdung, welcher der anderen Religion innewohnt, verflüchtigt sich nicht, sondern wird verstetigt und festgeschrieben.“ (Bauschke, 2012, S. 211). Dies entspricht der expliziten Höherwertung des christlichen Glaubens und der Betonung der notwendigen Hinwendung zum Christengott als Bedingung für Erlösung. „Blind war er selbst, daß er an sie glaubte und sein Alter ihm den Verstand raubte, als ob er noch ein Kind gewesen wäre.“ Vgl. hierzu Gyburcs Rede vor dem Fürstenrat (306,1– 311,6) und das Religionsgespräch mit ihrem Vater (215,1– 221,26); vgl. dazu auch Bauschke, 2012, S. 209. Vgl. für den vom Erzähler in Aussicht gestellten himmlischen Lohn für die christlichen Kämpfer auch 14,8 – 13; 19,28 – 29; 31,12– 13; 37,16 – 21; 450,28; für die Hinweise auf die ewige Verdammnis der Heiden 20,10 – 12. Lellek, 2002, Sp. 849.
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chend der postulierten Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Anschauungen bleibt es aber nicht bei dieser primär über die Profilierung der Heiden als Nicht-Christen evozierten Abwertung des Gegners²⁸, denn es finden sich auch solche Erzähleräußerungen, die zunächst eine andere Perspektive auf die Heiden generieren, Kommentare nämlich, die das Kriegsgeschehen als Mord beklagen, die das Hinrichten der Heiden als Sünde – und gerade nicht als gerechtes, göttlich legitimiertes Töten – verurteilen und in denen Mitleid mit ihrer ewigen Verdammnis artikuliert wird.²⁹ Diese Gleichzeitigkeit von genannten Erzähleräußerungen und dem Beharren auf religiöser Diversität kann nun zwar als Reflexion jener zeitgenössischen theologisch-juristischen Diskussionen über die christliche Verantwortung für die Heilsmöglichkeit Andersgläubiger gedeutet werden, nach denen die Tötung der Heiden ihre potentielle Bekehrung und ihre mögliche Bekenntnis zum christlichen Glauben verhindert³⁰. Sie kann aber auch als Ausdruck jenes Wolframschen Erzählkonzeptes der Vielstimmigkeit interpretiert werden, wobei die sie konstituierenden Vorstellungen gerade nicht als sich ausschließende verstanden werden.³¹ So ließen sich nämlich die genannten, die Verdammnis der Heiden ob ihrer Gottesgeschöpflichkeit beklagenden und das Morden als sündhaft verurteilenden Erzählerkommentare neben anderen Verfahren als Projektionen einer – trotz religiöser Differenzen – möglichen Koexistenz von Christen und Heiden und damit
Vgl. zu diesem Aspekt Bauschke, 2012, S. 208 ff. So bezeichnet der Erzähler das Geschehen an verschiedenen Stellen als mort (vgl. 10,18 – 20; 162,14– 15), verbindet dies darüber hinaus resignativ mit einer Klage – Owe nu des mordes, / der da geschach ze beder sit („Ach, welch Gemetzel da auf beiden Seiten begann“; 401,30 – 402,1) – und konstatiert nach Ende der zweiten Schlacht sogar die Sündhaftigkeit des als unrechtmäßig beurteilten Mordens der Andersgläubigen, die ebenfalls Geschöpfe Gottes seien: die nie toufes künde / enpfiengen, ist daz sünde, / daz man die sluoc alsam ein vihe? / grozer sünde ich drumbe gihe: / ez ist gar gotes hantgetat, / zwuo und sibenzec sprache, die er hat („Ist das Sünde, daß man die, die nicht getauft worden waren, wie Vieh erschlug? Für große Sünde halte ich es! Alle Menschen sind Gottes Geschöpfe, alle zweiundsiebzig Völker, die er geschaffen hat.“; 450,15 – 20). Dem entspricht auch das vom Erzähler geäußerte Mitleid mit der die Heiden ereilenden Verdammnis, wofür er allerdings nicht den christlichen, sondern den heidnischen Gott Tervagant verantwortlich macht: nu gedenke ich mir leide, / sol ir got Tervigant / si ze helle han benant („Es schmerzt mich, sollte ihr Gott Tervagant sie zur Hölle bestimmt haben“; 20,10 – 12). Auf diese Weise erhält die Anteilnahme des Erzählers am Schicksal der von ihrem eigenen Gott verdammten Heiden besonderes Gewicht, dient aber zugleich der Diffamierung ihres Glaubens. Vgl. über den Zusammenhang von Heidentötung und christlicher Verantwortung sowie dessen Reflexionen in der gelehrten Tradition Schnell, 1993, S. 196 ff. So legt es Heinzle, 1994, S. 306 ff., nahe, wenn er im Rahmen seiner Erörterungen über die ‚Darstellungsfigur der zwei Stimmen‘ davon ausgeht, dass Wolfram Vorstellungen zusammensehe, „die sich (theo)logisch oder erfahrungsgemäß ausschließen“ (S. 307).
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als utopischer Entwurf verstehen, der sich erst vor der Folie des Ist-Zustandes – auf den das Beharren auf eben jener Differenz bei Betonung christlicher Dominanz verweist – profiliert. In dieser Lesart antizipierten jene Erzähleräußerungen also eine potentielle Lösung des Konflikts und eine mögliche Annäherung der beiden Parteien; utopisch wäre dies zu nennen, weil die Existenz einer Wertegemeinschaft imaginiert wird, die sich trotz religiöser Diversität durch eine spezifische Form der Identität auszeichnete. Im Folgenden soll der Willehalm deshalb auf weitere Momente befragt werden, die sich als solche Projektionen einer Wertegemeinschaft lesen ließen. Dabei wird die Annahme vertreten, dass die Erzählung eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen Christen und Heiden inszeniert und sie in normativer, moralischer und politischer Hinsicht einander angeglichen werden. Trotz der religiösen Verschiedenheit – so die These – wird also eine Identität in Werten, Moralvorstellungen und politischen Ordnungsentwürfen generiert, auf deren Basis eine Koexistenz der Kulturen möglich erscheint. Zunächst soll daher ein Blick auf die Inszenierungen jener Identität geworfen und dabei zunächst die positive Darstellung der Heiden in Erzählerrede aufgezeigt werden, die vor allem im Hinblick auf die sie auszeichnenden Eigenschaften in Analogie zu den christlichen Kämpfern entworfen werden; sodann sollen die über die konkreten Erzähleräußerungen hinausgehenden Ähnlichkeiten fokussiert werden, die sich in Handlungsmotiven der Figuren, gemeinsamen Wertvorstellungen und ähnlichen politischen Ordnungsmodellen manifestieren. In einem zweiten Schritt soll dann die mit der inszenierten normativen, moralischen und politischen Identität implizierte, sich meist in Figurenreden abzeichnende Lösung des Konflikts betrachtet werden. Neben zahlreichen positiven Attributen, die der Erzähler den Heiden zuschreibt – sie werden als edel (10,13), mutig (11,15; 19,15), kühn (22,5), tapfer (19,15), trefflich (26,12), rechtschaffen (74,14) und von jeglicher Feigheit frei (378,8) bezeichnet, es ist von vielen edlen Häuptern (20,25), von edlen Sarazenen (10,9), ihrer Schönheit (22,19) und ihrem hohen Ruhm (46,10) die Rede – fallen vor allem die umfangreicheren und durchweg wertschätzenden Beschreibungen einzelner heidnischer Kämpfer auf. So heißt es etwa über Arofel, König von Persien und Onkel Gyburcs: ich het iu vil ze sagen von siner hohen werdekeit, und wie er den ruoft erstreit under al den Sarrazinen, daz er sich kunde pinen von hoher kost in wibe gebot und ouch durh siner vriunde not, berlich im selben ouch ze wer.
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under al dem Terramers her was ninder bezzer riter da denne Arofel von Persia. Gyburge milte was geslaht von im: er hetez dar zuo braht, daz ninder dehein so miltiu hant bi sinen ziten was bekant. Arofel der riche streit genendecliche: er bejaget e werdekeit genuoc. (78,8 – 25) Viel könnte ich euch erzählen von seinem hohen Ansehen, und wie er den Ruf bei allen Sarazenen erwarb, daß er jede Gefahr auf sich nähme in aufwendigem Frauendienst, um seinen Freunden in Gefahr zu helfen und natürlich auch um sich selbst zu verteidigen. Im ganzen Herr Terramers gab es keinen besseren Ritter als Arofel von Persien. Gyburc hatte ihr Freigebigkeit von ihm geerbt; er hatte es erreicht, daß nirgends eine ähnlich freigebige Hand zu seiner Zeit bekannt war. Der mächtige Arofel kämpfte tapfer; schon vorher hatte er viel Ruhm erworben.
An späterer Stelle hält der Erzähler zudem fest: weder starp noch genas / getriuwer künec nie dehein, / den tages lieht ie überschein (374,28 – 30)³². Dass solche Beschreibungen, die sich an zahlreichen Stellen finden,³³ durchaus eine Analogisierung von Heiden und Christen intendieren, zeigt sich auch mit Blick auf einzelne Kampfschilderungen, in denen völlige Ebenbürtigkeit zwischen den Gegnern suggeriert wird. Besonders pointiert zeigt sich diese Gleichrangigkeit etwa im Kampf zwischen dem heidnischen Minneritter Tesereiz und Willehalm: hie wurden diu ors mit sporn genomen. da was manheit gein ellen komen,
„In Leben und Tod gab es niemals einen treueren König unter der Sonne.“ Vgl. hier etwa die Beschreibungen von Halzebier (46,1– 46,21; 419,8 – 21), Tesereiz (87,27– 88,14), Tybalt (343,1– 2) oder Noupatris (22,14– 28).
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und diu milte gein der güete, kiusche und hochgemüete, mit triuwen zuht ze beder sit: der ahte schanze was der strit. daz niunde was diu minne: diu verlos an ir gewinne. (87,15 – 22)³⁴ Die Pferde wurden angespornt. Tapferkeit war gegen Mut angetreten, Großzügigkeit gegen Güte, Sanftmut und Hochsinnigkeit, Treue und Anstand auf beiden Seiten: diese acht kämpften um Gewinn und Verlust. Die Liebe war als neunter Spieler angetreten; sie verlor ihren Einsatz.
Nicht nur in den explizit wertenden, durchweg positiven Erzählerkommentaren, sondern auch in den auf völlige Ranggleichheit zielenden Kampfbeschreibungen³⁵ zeichnet sich damit ein Verfahren ab, das sich als Entdifferenzierung beschreiben lässt: Die Unterschiede zwischen den sich in ihrem Glauben eigentlich unterscheidenden Parteien werden im Hinblick auf die sie auszeichnenden Eigenschaften und Handlungsantriebe verringert, wenn nicht gar marginalisiert; werdekeit, hövescheit, milte, klârheit, tugent und êre werden zu Kennzeichen sowohl der christlichen als auch der heidnischen Kämpfer stilisiert.³⁶ Dies ist gleichwohl nicht nur Resultat der spezifischen Gestaltung der erzählenden Instanz und ihrer Kommentar- und Bewertungsfunktion, sondern ergibt sich auch aus einer über diese evaluativen Urteile hinausgehenden Inszenierung von Ähnlichkeit zwischen christlichen und heidnischen Figuren, sofern diese hinsichtlich ihrer Motive für den Krieg – Glaube, Minne, Ruhm und Rache – sowie ihrer sozialen und politischen Normen – Relevanz der sippe und Herrschaftsstruktur – einander angeglichen werden. Für Gott und für den Lohn der Frauen – diese beiden Aspekte stellen die zentralen Handlungsmotive sowohl der heidnischen als auch der christlichen Kämpfer dar. Auch mit Blick auf die entweder vom Erzähler oder aber von den Tesereiz unterliegt in diesem Kampf; die Beschreibung seines Todes (vgl. 87,27– 88,11) stilisiert ihn zum Minnemärtyrer und erinnert an den Märtyrertod der Vivianz-Figur.Vgl. zu dieser Parallele u. a. Haupt, 2009, S. 47 f. Vgl. hier außerdem den Kampf zwischen dem Grafen von Champagne und dem heidnischen Fürst Gandaluz (vgl. 366,16 – 22). Vgl. zum Aspekt der Angleichung von Christen und Heiden und der Marginalisierung ihrer Differenzen Bumke, 2004a, S. 336 f.; Kiening, 2002, S. 274; vgl. zum Begriff der Entdifferenzierung Knaeble, 2015, S. 42 f.
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Figuren selbst geltend gemachten Gründe, in den Krieg zu ziehen, lässt sich demnach eine bemerkenswerte Affinität zwischen Christen und Heiden konstatieren. Obwohl bei beiden Parteien jeweils ein Motiv dominiert – Kampf für den Glauben auf christlicher, Kampf für die Minne auf heidnischer Seite –, wird dem je anderen Beweggrund stets auch Relevanz beigemessen: So wird bei den Christen trotz der im Laufe der Handlung zunehmenden Rechtfertigung des Krieges als Glaubenskrieg und einer zu beobachtenden Dominanz religiöser Motive³⁷ auch die Minne zu einem zentralen Handlungsantrieb. Diese doppelte Motivation verdeutlicht allerdings nicht nur der Erzähler explizit (vgl. 381,20 – 21), auch die Figuren argumentieren vor dieser Prämisse: so etwa, wenn Willehalm seine Truppen um der zweifachen Liebe willen – für den Lohn der Frauen auf Erden und den Gesang der Engel im Himmel (vgl. 16,25 – 17,2) – anspornt oder auf den gleich zweifachen Ertrag ihres Kampfes, nämlich die Möglichkeit der Buße und die Aussicht auf weibliche Gunst (vgl. 322,25 – 26), hinweist. In analoger Weise ist die Situation auf heidnischer Seite geschildert: Obgleich die Heiden in besonderer Weise als Minneritter profiliert werden,³⁸ verdeutlichen Erzähler und Figuren stets zugleich die handlungsbestimmende Rolle ihres Glaubens.³⁹ Glaube und Minne und damit religiöse und irdische Motive sind folglich für beide Parteien von hoher Relevanz – sie werden ze beder sit (402,1) als primäre Handlungsantriebe profiliert. Aber nicht nur im Hinblick auf diese Primärmotive, sondern auch hinsichtlich sekundärer Beweggründe werden im Rahmen dieser Analogisierungsstrategie auffällige Übereinstimmungen zwischen den beiden verfeindeten Parteien konstruiert, so etwa bei dem Christen und Heiden auszeichnenden Streben nach ritterlicher Ehre⁴⁰ oder der sie bindenden lehns So erklärt der Erzähler die Motivation der für Willehalm kämpfenden Krieger etwa mit ihrem Streben nach ewigem Ruhm (vgl. 19,28 – 29) und lässt die von ihm für die zweite Schlacht gewonnenen Truppen schwören, in den Kampf zu ziehen für Glaube und Taufe (vgl. 199,22– 23). Dies zeigt sich besonders bei Tesereiz (vgl. 36,20 – 22); auch Terramer ermutigt seine Truppen mit dem Hinweis auf die Huld der Damen (vgl. 346,4– 7). So ruft etwa König Rubual die Heiden dazu auf: helfet unseren goten ir rehtes, / daz des Heimriches geslehtes / immer iht mege bekliben („Verhelft unseren Göttern so zu ihrem Recht, daß vom Geschlecht Heimrichs kein Mann mehr übrig bleibt.“; 43,3 – 5). Und auch der Erzähler verweist auf diese religiöse Motivation der heidnischen Kämpfer, wenn er pointiert: si [die heidnischen Könige] wolden […] al ir goten vüegen pris. („Sie wollten […] dem Ruhm aller ihrer Götter dienen.“; 339,27– 29). Dass bei den Heiden der Kampf für den Glauben gleichermaßen bedeutsam ist wie der Kampf um irdische Liebe, zeigt sich nicht zuletzt an Terramers Appell an seine Truppen vor der zweiten Schlacht, Ruhm für die Götter und für die Minne zu erlangen (vgl. 337,30 – 338,17). So geht es Christen und Heiden nämlich immer auch um die Erhöhung des eigenen Ruhms und der ritterlichen Anerkennung; wie etwa bei dem Christen Vivianz, der um des Ruhmes und der Taufe willen kämpft (vgl. 23,17), oder dem Heiden Noupatris, der sein Leben für Ruhm und Liebeslohn wagt (vgl. 25,8 – 9).
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rechtlichen Verpflichtung⁴¹. Verbindendes Moment wird dann – vor allem in der zweiten Schlacht – der beide Parteien auszeichnende Wunsch nach Rache für die Gefallenen, der zu einem zentralen Handlungsmotiv avanciert; indem der Erzähler die jeweiligen Rachebestrebungen miteinander verknüpft – uf Aliscanz der erste strit / der Pinele gap den re, / des mage sit taten drumbe we / uf Alischanz getoufter diet. / Vivianzes tot ouch sider schiet / manegen werden heiden von sinem leben (305,24– 29)⁴² – und auf die Formel sus rache wider rache wart gegeben (305,30)⁴³ reduziert, entdifferenziert er Christen und Heiden auch in dieser Dimension und schafft damit eine spezifische Form von Identität. Während die Motive der sich durch ihren jeweiligen Glauben unterscheidenden Kämpfer somit völlig identisch sind, wird – dies verdeutlichen auch die jeweiligen Rachebestrebungen – Übereinstimmung auch im Hinblick auf die Bedeutung inszeniert, die die Figuren der Familie und der Loyalität innerhalb der sippe zuschreiben.⁴⁴ In beiden Großfamilien sind die verwandtschaftlichen Bindungen dabei einerseits Basis von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung, andererseits sind sie aber auch Ursache tödlicher Konflikte. Diese Ambivalenz kennzeichnet die eine wie die andere sippe, wobei triuwe in beiden Familien den zentralen Wert darstellt: So fordert Willehalm den Beistand seiner Verwandtschaft für die zweite Schlacht explizit mit Berufung auf die familiäre Bindung ein, hätte aber nichtsdestoweniger seine Schwester erschlagen, weil diese ihm zunächst ihre triuwe entzogen hatte.⁴⁵ Ist das soziale Miteinander somit schon in der Heimrichsippe prekär, gestaltet sich die Situation in der sippe Terramers noch problematischer und konfliktgeladener: Während im Fall Gyburcs religiös-politische Motive mit väterlicher Liebe und triuwe konkurrieren,⁴⁶ ist es bei Rennewart die vermutete Illoyalität und der Mangel an triuwe, die ihn gegen seine Verwandten
Die eidliche Verpflichtung spielt auf beiden Seiten eine Rolle, vgl. für die christliche Seite 209,14– 16, für die heidnische 71,23 – 27. „Der erste Kampf auf Alischanz hatte Pinel das Leben gekostet, dessen Verwandten daraufhin die Christen auf Alischanz versehrten. Der Tod des Vivianz wiederum brachte im weiteren Verlauf viele tapfere Heiden ums Leben.“ „So wurde Rache mit Rache vergolten.“ Vgl. zur Relevanz von Familie und Verwandtschaft Przybilski, 2000. Vgl. hier die Szene über Willehalms Auseinandersetzung mit dem König, den Streit mit seiner Schwester und die Besänftigung durch Alyze (145,1– 160,19); vgl. zu ihrer Interpretation Starkey, 2002; Bumke, 2004b. Welchen Wert die familiäre triuwe darstellt, wird dabei auch an Willehalms Vater Heimrich gezeigt, der seine Unterstützung in der zweiten Schlacht auch mit dem Hinweis auf die von Gyburc, nun Mitglied der sippe, gegenüber seinem Sohn geleistete Loyalität begründet (vgl. 251,12– 252,24). So offenbart Terramer im Gespräch mit seiner Tochter den anhaltenden Konflikt zwischen politischer Notwendigkeit und andauernder familiärer Bindung (vgl. 217,15 – 30).
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kämpfen lassen.⁴⁷ Die Existenz dieser Konflikte in beiden Großfamilien zeigt damit nicht zuletzt die zentrale Bedeutung, die Christen und Heiden der sippe als identitätsbildender Kraft zuschreiben. Das Streben nach Ruhm und Rache und der Kampf für Glaube, Minne und sippe stellen mithin die zentralen Handlungsantriebe der christlichen und heidnischen Figuren dar. Prämisse für die Ausbildung solcher Antriebe, von das eigene Handeln anregenden Motiven ist neben individuellen Dispositionen die Verinnerlichung der sie generierenden sozialen Normen. Aus diesem Grund besteht eine Identität zwischen Christen und Heiden gerade nicht nur hinsichtlich ihrer Motive Streben nach bzw. Kampf für, sondern auch in den diese erst generierenden kulturellen Vorgaben, den Werten Religion, höfische Liebe und familiärer Zusammenhalt.⁴⁸ Pointiert zeigt sich dies in jenen Appellen, die beide Heerführer vor der zweiten Schlacht an ihre Truppen richten: Willehalm und Terramer berufen sich auf den Glauben, auf die Rache für und die Loyalität in der sippe, sie appellieren an die ritterliche Ehre und den Kampfgeist und stellen beide das doppelte Ziel – für Gott und die Huld der Damen – explizit vor Augen.⁴⁹ Dieser Identität in normativer Hinsicht korrespondiert nun bemerkenswerterweise auch eine solche politischer Natur: Nicht nur kämpfen beide Seiten um den jeweils als legitim beurteilten Anspruch auf das römische Reich – Willehalm und seine Truppen verteidigen dieses, während Terramer es rechtmäßig zu beanspruchen
In dem Glauben, seine Familie habe ihn im Stich gelassen, den der Erzähler aber als völlig unberechtigt herausstellt, richtet sich Rennewarts Hass ganz explizit gegen seine engsten Verwandten, an denen er die vermeintlich durch ihre Schuld erlittene Schande rächen möchte (vgl. 285,1– 16). Für ihn ist der Wert der triuwe innerhalb der sippe also so zentral, dass ihre Unterlassung zu dem Wunsch der Auslöschung eben dieser sippe und dem forcierten Kampf gegen seine Glaubensbrüder führt. In Theorien Sozialen Handelns und Sozialer Ordnung wird davon ausgegangen, dass das Handeln von Individuen an den kulturellen Vorgaben einer Gesellschaft, an Werten, Überzeugungen, Vorschriften und Regeln orientiert ist, deren Summe als kollektives Bewusstsein verstanden wird und die als Normen verinnerlicht werden (vgl. Abels, 2019, S. 98 f.). Das Handeln von Individuen vollzieht sich demnach entlang der verinnerlichten, im kollektiven Bewusstsein verankerten Normen, wobei der Prozess der Sozialisation für die Internalisierung eine zentrale Rolle spielt (vgl. ebd. S. 101). Auch in vormodernen Gesellschaftssystemen folgt das Handeln von Individuen diesen Mustern, auch wenn dies zeitgenössisch nicht theoretisch reflektiert wurde. Mit der Anwendung eines solchen Modells auf einen literarischen Text wird demnach ein produktionsseitiges Bewusstsein für solche Prozesse jenseits ihrer terminologischen Explikation und Diskursivierung unterstellt (vgl. zu dem Phänomen, dass „[e]s […] eine Art von praktischem Begriff [gibt], der darin besteht, daß man weiß, was man tut, ohne daß man über eine explizite Theorie verfügte“, Hübner, 2003, S. 82). Vgl. die Ansprache Terramers 337,30 – 338,17 und Willehalms 322,4– 30.
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glaubt⁵⁰ –, Übereinstimmung besteht vielmehr auch hinsichtlich der die jeweilige Herrschaft begründenden politischen Ordnung, denn letztlich entspricht das heidnische Großreich in Struktur und Herrschaftsaufbau dem römischen Reich (vgl. 434,1– 21). Der Blick auf die Motive der Figuren, die diese konstituierenden Wertvorstellungen, ihre politischen Ordnungsentwürfe und die Bedeutung, die sie der sippe zuschreiben, hat eine ausgeprägte Analogie, wenn nicht gar Identität der beiden verfeindeten Familien aufgezeigt. Mit der Inszenierung einer solchen Identität wird zugleich die Basis für eine erzählinterne Konfliktlösung antizipiert, die in einer Annäherung, wenn nicht sogar Koexistenz der Kulturen bestehen könnte. Es handelt sich dabei insofern um einen utopischen Entwurf, als eine andere, idealere Form menschlichen Miteinanders vor der Folie des von Krieg, Chaos und religiöser Auseinandersetzung geprägten Ist-Zustandes imaginiert wird. Geltung beansprucht diese Imagination, die sich nicht über die Erzählerrede, sondern über einzelne Figurenreden rekonstruieren lässt, ausschließlich in der erzählten Welt und kann demnach nicht zu einer Aussage über ein vermeintliches Gesamtprogramm der Erzählung verallgemeinert werden. Ihr Gegenstand ist eine Wertegemeinschaft innerhalb der erzählten Welt, die trotz religiöser Diversität auf Identität, gegenseitiger Duldung und der Bereitschaft zu Kommunikation und Verständigung basiert und damit das Potential einer gesamtgesellschaftlichen Lösung bereithält.⁵¹ Die Möglichkeit einer gegenseitigen Duldung der beiden Parteien wird über die Schilderung der beidseitigen Wertschätzung angedeutet, wie sie sich etwa im Dialog zwischen Willehalm und dem heidnischen König Matribleiz nach dem siegreichen Ende der zweiten Schlacht erkennen lässt: So spricht Willehalm diesem nicht nur edlen Kampfgeist und hohen Ruhm zu, sondern betont auch dessen Tapferkeit, Treue und uneingeschränkte Freigebigkeit (vgl. 461,30 – 462,9). Auch auf heidnischer Seite zeichnet sich eine solche grundsätzliche Anerkennung des Gegenübers ab, wenn Terramer seine Truppen mit dem Hinweis auf Willehalms Streitbarkeit anzuspornen sucht (vgl. 346,8 – 13). Die sich hier manifestie-
Zur Idee eines Verteidigungskrieges vgl. die Figurenperspektive Willehalms 224,21– 23 sowie die Darstellung des kollektiven Bewusstseins der Franzosen 225,15 – 17; vgl. den von Terramer selbst geäußerten Anspruch auf den römischen Thron 338,15 – 339,1. Es handelt sich somit gewissermaßen um eine Imagination auf zweiter Ebene, sofern diese in das Bewusstsein und die Handlungen der Figuren verlegt wird – diese imaginieren und antizipieren ein mögliches Nebeneinander der beiden Glaubensgemeinschaften. Dies plausibilisiert auch die Verwendung von kommunikativer bzw. autokommunikativer Figurenrede, da der Erzählerrede stets ein höherer Stellenwert zukommt als der von Figuren (vgl. zur Hierarchie von Erzähler- und Figurenrede Hübner, 2003, S. 169).
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rende gegenseitige Duldung ist dabei allerdings noch rein personeller Natur und impliziert keine direkte Anerkennung der jeweils anderen Glaubensrichtung; es handelt sich demnach nicht dezidiert um ein „Gewährenlassen anderer religiöser Bekenntnisse“⁵², sondern referiert auf Aspekte höfischer Existenz und damit auf jene Eigenschaften, die beiden Parteien als zentrale Wesensmerkmale zugeschrieben werden. Diese zwar partielle, aber doch gegenseitige und wertschätzende Duldung kann dabei durchaus als Resultat einer von den Figuren wahrgenommenen und anerkannten Ähnlichkeit hinsichtlich der sie leitenden Normen verstanden werden; sie suggeriert eine Akzeptanz des jeweils Anderen – trotz der Differenzen im Glauben. Dass eine solche Duldung und das Wissen um eine gemeinsame normative Basis zu einer interkulturellen Verständigung führen kann, zeigt eine Szene in besonderer Weise – Gyburc berichtet von ihr im Gespräch mit ihrem Schwiegervater⁵³. Während der Belagerung der christlichen Festung und den Angriffen durch die Heiden hätten zwei heidnische Könige sich geweigert, eine wehrlose Frau anzugreifen: gein mir und gein al der wipheit solt ungerochen sin ir leit. swa der marcrave in bræchte strit, da kœme alreste ir rache zit. […] die der minne gerende uz brahte, sere daz den versmahte, der sich gein mir armen vrouwen in sturme lieze beschouwen. sit diss landes herre was überstriten und der nach helfe was geriten, si jahen, gein werden wiben solten werde man beliben daz si immer dienstes werten und ir lones wider gerten. hie was vil hers herrenlos, von den ich starken haz erkos: wan Noupatrises diet und Thesereizes her sich schiet
Lellek, 2002, Sp. 849. Nicht der Erzähler schildert also dieses Geschehen, es handelt sich auch nicht um die erzählte Wahrnehmung einer Figur, sondern Gyburc berichtet ihrem Schwiegervater in direkter Rede davon. Auf diese Weise verliert die Szene zwar an Aussagekraft für eine positive Gesamtwertung der Heiden – der Erzähler kommentiert ihr Verhalten explizit nicht –, es wird aber verdeutlicht, dass das von Gyburc erzählte Geschehen ausschließlich in der erzählten Welt Relevanz besitzt.
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uz den andern, als ich han gesagt. ich wæne, si waren doch unverzagt. (266,29 – 267,20) [A]n mir und allen andern Frauen solle ihr Leid nicht gerächt werden. Erst wenn der Markgraf sie angreife, sei die Stunde ihrer Rache gekommen. […] Ihnen, die der Minneritter hergeführt hatte, schien es sehr unwürdig, daß einer gegen mich schwache Frau im Kampf antrete. Da der Herr dieses Landes besiegt worden und nach Hilfe weggeritten sei, so sagten sie, sollten edlen Frauen gegenüber sich edle Herren so verhalten, daß sie ihnen zu Diensten stünden und dafür ihren Lohn begehrten. Viele führerlose Truppen waren da, die sich mir gegenüber sehr feindselig verhielten; nur das Gefolge des Noupatris und das Heer des Tesereiz sonderten sich, wie gesagt, von den andern ab. Dennoch waren sie nicht feige, davon bin ich überzeugt.
In der Berufung auf die gleichen Werte – hier die Verschonung wehrloser Frauen – scheint selbst im erbittertsten Krieg eine Verständigung möglich, eine Lösung von Konflikten denkbar, die auch gegen die eigenen Reihen und damit die eigenen Glaubensbrüder durchgesetzt wird. In dem den Figuren zugeschriebenen Bewusstsein für eine sie mit dem jeweils Anderen verbindende, normative Identität, der daraus resultierenden gegenseitigen Duldung und Kommunikationsbereitschaft zeichnet sich dabei prinzipiell die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz ab, in der Glaubensdifferenzen aufgrund und zugunsten einer Werteidentität an Relevanz verlieren – so könnte man zumindest jene Szene verstehen, in welcher der heidnische Minneritter Tesereiz dem sich in erbeuteter heidnischer Rüstung zurückziehenden Willehalm der Minne wegen Beistand anbietet: ob duz der marcrave bist, half dir do din herre Christ daz diu Araboysinne Arabel durh dine minne richiu lant und werde krone diner minne gap ze lone […]
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ich wil durh dine werdekeit dich vor al den heiden nern, benamen durh dine minne wern. (86,7– 18) Bist du aber der Markgraf selbst und hat dir damals dein Herr Christus geholfen, dass die Araberin Arabel, die dich liebte, reiche Länder und eine Königskrone als Lohn für deine Liebe gab […] dann will ich dich um deines Adels willen vor den Heiden schützen und dich deiner Liebe wegen verteidigen.
Der Wert minne ist für Tesereiz derart zentral, dass der eigene Glaube und die eigene religiöse Zugehörigkeit an Bedeutung verlieren: Dies zeigt sich nicht nur in seiner Bereitschaft, Willehalm gegen die Heiden zu verteidigen, sondern auch in dem Zugeständnis an die christliche Religion, sofern er die Ermöglichung der Willehalm und Arabel verbindenden Liebe auf das Wirken von Christus zurückführt. Die Differenz im Glauben wird hier auf Figurenebene völlig marginalisiert, sie spielt für Tesereiz in Anbetracht der von ihm vermuteten Identität keine Rolle mehr, nur deshalb betont er: so unsanfte ich nie gestreit / mit deheiner slahte man, / wand ich dir deheines schaden gan. (86,28 – 30)⁵⁴ Aus Perspektive der Figuren ist somit nicht nur ein friedliches Nebeneinander, sondern auch gegenseitige Unterstützung möglich; die Bereitschaft zu dieser resultiert im Fall von Tesereiz aus der Annahme einer bereits existierenden Wertegemeinschaft, die es zu etablieren und gegen andere zu verteidigen gilt. Als Antizipation einer solchen kann nun auch Willehalms abschließende Rede an Matribleiz, jenen heidnischen König, dem er zuvor manheit, triuwe, milte und stæte (462,7– 9) zugesprochen hatte, interpretiert werden: ich künd iu, wol gelobter man, minen willen, des ich bite; ich getruwe iu wol, ir sit dermite: nemt dirre gevangen liute ein teil, […] swaz hie künege lige erslagen, daz ir die suochet uz dem wal und rehte nennet über al
„So hart war es für mich noch nie, gegen irgendeinen Mann anzutreten; denn ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“
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beide ir namen und ir lant. die sol man heben al zehant schone von der erden, daz si iht ze teile werden deheime wolf, deheime raben. wir sulen si werdeclicher haben […] swaz Gyburge mage ist hie verlorn, die sol man aromaten, mit balsem wol beraten, und baren künecliche, als ob in sime riche da heime ieslicher wære tot. […] nu vüert die toten werden von der toufbæren erden, da man si schone nach ir e bestate. […] swaz ir künege vindet da, die bringet Terramere, […] des genade und des hulde ich gerne gediende, getorst ichs biten, swie er gebüte, wan mit den siten daz ich den hœhsten got verküre und daz ich minen touf verlüre und wider gæbe min clarez wip. […] her künec, ir muget im dort wol jehen, ich ensendes im durh vorhte niht, swaz man hie toter künege siht, ich ere dermit et sinen art, des mir ze kürzwile wart an minem arm ein süezez teil (462,10 – 466,21). Ich will Euch, hochgeehrter Mann, meinen Entschluß und meine Bitte eröffnen; ich glaube, Ihr werdet einverstanden sein: Nehmt einen Teil der Gefangenen […] und sucht alle Könige, die getötet wurden, auf dem Schlachtfeld zusammen und stellt zuverlässig alle ihre Namen und Länder fest. Die soll man dann sogleich ehrerbietig aufheben, damit sie nicht
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dem Wolf oder Raben zum Fraß dienen. Wir wollen uns würdiger ihrer annehmen […] Alle toten Verwandten von Gyburc soll man einbalsamieren, mit Wohlgeruch versehen und königlich aufbahren, als ob in seinem eignen Reich daheim ein jeder gestorben wäre. […] Bringt nun die edlen Toten aus dem Land der Christen dorthin, wo man sie würdig nach ihrem Gesetz bestatten kann. […] Alle Könige, die ihr findet, bringt zu Terramer […] dessen Gunst und Gnade ich gern verdienen möchte – dürfte ich darum bitten – nach seinem Gebot, nur nicht so, daß ich mich vom Höchsten lossagte, meine Taufe preisgäbe und meine schöne Frau zurückgäbe. […] Herr König, berichtet ihm dort, ich sendete ihm nicht aus Furcht alle toten Könige, sondern ehrte damit nur sein Geschlecht, aus dem mir ein liebes Kind zuteil wurde, das ich mit Freuden im Arm halte
Wie Gyburc in den Gesprächen mit ihrem Vater Terramer stets nur die Akzeptanz für ihre Konversion und nicht dessen Bekehrung intendiert hatte, so verfolgt auch Willehalm – Sieger der Schlacht – keine missionarischen Ziele.Vielmehr zeigt sich an seiner Aufforderung, die heidnischen Könige in ihrer Heimat würdig nach ihrer Religion zu bestatten, die Anerkennung einer neben dem Christentum existierenden eigenen religiösen Ordnung, ein „Gewährenlassen anderer religiöser Bekenntnisse“⁵⁵. Auf Figurenebene propagiert der Willehalm demnach durchaus
Lellek, 2002, Sp. 849. Der in dieser Figurenrede formulierten Duldung des anderen Glaubens wird in der erzählten Welt durch Willehalms Schilderung seines senelichen vunt (seiner „traurigen Entdeckung“; 464,2), der Entdeckung jenes Zeltes, das als Aufbewahrungsstätte für die gefallenen Heidenkönige dient, Gewicht verliehen, sofern er hier Mitgefühl und Empathie zeigt (vgl. 464,1– 465,9).
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Toleranzbewusstsein – immerhin fordert Willehalm jene Akzeptanz auch für sich ein und wirbt um ein friedliches Nebeneinander der beiden Großfamilien⁵⁶ –, dieses sollte aber nicht zu einer Gesamtaussage der Erzählung und schon gar nicht zu der Wolframs stilisiert werden, sondern als notwendiger Bestandteil des utopischen Entwurfs verstanden werden, sofern jene Toleranz in der erzählten Welt Prämisse der Imagination einer interkulturellen Wertegemeinschaft und damit einer besseren (erzählten) Welt ist. Mit der Rede Willehalms an Matribleiz bricht der Text ab. Ob eine langfristige Lösung des Konflikts zwischen Christen und Sarazenen intendiert war und wie diese ausgesehen hätte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aus diesem Grund bleibt auch die These einer utopischen Imagination, einer eine Idealsituation antizipierenden Fiktion letztlich zu diskutieren; im Hinblick auf die Offenheit des Willehalm, seine Vielstimmigkeit und seine narrative Komplexität erscheint ein utopisches Erzählen, in dem Wolfram über die Imaginationen seiner Figuren ein Wunschszenario für die erzählte Welt imaginiert, allerdings durchaus vorstellbar. In der Vision eines friedlichen Nebeneinanders verschiedener Kulturen, Traditionen und Religionen scheint mir die Potentialität einer gesamtgesellschaftlichen Lösung in jedem Fall angelegt. Damit wäre die Frage nach Wolframs antizipatorischem Potential womöglich doch positiv zu beantworten.
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Bemerkenswert erscheint, dass die Christen, hier Willehalm, im Vergleich zu ihren muslimischen Gegnern als verhältnismäßig tolerant dargestellt werden; dies entspricht laut Heinz, 2017, S. 33 f., weder der zeitgenössischen Realität noch der gängigen Darstellung in literarischen Quellen, in denen Toleranz stets dem Islam zugeschrieben wurde. Es stellt sich also die Frage, ob sich hier nicht womöglich auch ein utopischer Wunsch manifestiert, nämlich der nach einer insgesamt toleranteren Haltung der eigenen Kultur.
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Auf der Schwelle zum gegenwärtigen Heil: Von utopischen Räumen, Zeiten und Menschen in mittelalterlichen (Anti‐) Legenden des Passional I Einleitung In kaum einer geisteswissenschaftlichen Debatte prallen so unterschiedliche Auffassungen aufeinander wie im Falle des ideologisch aufgeladenen UtopieDiskurses. Vertreter des klassischen Verständnisses plädieren für einen engen Utopiebegriff. Sie sehen in der namensgebenden Utopia des Thomas Morus (1516) den eigentlichen Beginn des utopischen Denkens und legen den Fokus auf neuzeitliche, zumeist literarische Entwürfe idealer Staaten. Dagegen weiten Anhänger des sozialpsychologischen Ansatzes den Begriff radikal aus. Stellvertretend dafür steht der Philosoph Ernst Bloch, der die Utopie in Rekurs auf Mannheim und Landauer als anthropologische Grundkonstante verortet und im Bewusstseinsakt eines „Träumen nach vorwärts“¹ gegeben sieht.² Beide Ansätze stellen den Literaturwissenschaftler vor Probleme: Das ins Weite gedehnte Utopieverständnis Blochs ist in seiner Radikalität anziehend wie abschreckend. Es öffnet die (vormoderne) Literatur für einen breiten utopiegeschichtlichen Diskurs, stellt [jedoch] kein einziges Unterscheidungskriterium zur Verfügung, um so unterschiedliche Dinge wie das biblische Paradies von Schaufensterauslagen, architektonische Baustile von eschatologischer Heilserwartung, oder Prognostik und Pantomime, Tänze und Traumassoziationen von der Utopie abzugrenzen.³
Während es der aufgeweichten Begrifflichkeit an Trennschärfe mangelt, ist der klassische Utopiebegriff zu eng. Selbst wer wie der Politologe Thomas Schölderle sein Vorgehen nicht „von vornherein auf die politische Neuzeit“ begrenzen will, muss die Ergebnisse seiner Untersuchung a priori auf „Vorläuferformen in Antike
Bloch, 1985, S. 9. Vgl. Schölderle, 2017, S. 12 f. Schölderle, 2011, S. 400. https://doi.org/10.1515/9783110756944-005
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und Mittelalter“ und „gewisse Schnittmengen mit der klassischen Utopie“⁴ einschränken. In der Praxis spricht Schölderle dem Mittelalter dann de facto das utopische Bewusstsein ab. In groben Strichen skizziert er das Bild einer dogmatischen Zeit, die durch den Sündenfall ausschließlich eine auf die letzten Dinge bezogene Heilserwartung und damit kein innerweltliches Streben nach Glück kenne: Das Diesseits gilt als Zeit der Prüfung, alle Hoffnungen richten sich auf ein eschatologisches Heil. Die Übermacht einer vom Transzendentalen her geordneten Lebensordnung lässt für innerweltliche Alternativen kaum Platz. […] Vor diesem Hintergrund erscheint das Mittelalter gleichsam als utopiegeschichtliches ‚Vakuum‘.⁵
Einen solch rigoristischen Ausschluss der Utopie aus dem mittleren Zeitalter hat die mediävistische Forschung nicht mitgemacht. Vor allem die Unterscheidung zwischen einer an die göttliche Ordnung und den Glauben gebundenen (statischen und damit defizitären) Vormoderne und einer aus (dynamischer) menschlicher Gestaltungskraft und Vernunft gespeisten Moderne⁶ hat früh Widerspruch erzeugt. Mit seinem epochemachenden Verständnis der Utopie als Entwurf von „Wunschräume[n] und Wunschzeiten“⁷ schuf der Kulturhistoriker Alfred Doren bereits 1927 ein begriffliches Instrumentarium zur Ergründung des mittelalterlichen Utopie-Bewusstseins. Im Jahr 2013 konstatieren Heiko Hartmann und Werner Röcke, dass Doren damit „den Utopiebegriff von den klassischen Staatsutopien der Frühen Neuzeit [gelöst] und […] ihn für allgemeinere Konzepte von Idealwelten auch in früheren Epochen [geöffnet hat]“⁸. Gegenüber universalistischen Konzepten wie demjenigen Blochs bestehe der Vorteil des Ansatzes in der Historisierung des utopischen Denkens.⁹ Auf der Grundlage Dorens spricht sich auch Tomas Tomasek für einen intentionalen Utopiebegriff aus: „Utopie wird in diesem Sinne als der ‚Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung‘ gefaßt (vgl. A. Neusüß 1972, 18), der eine doppelte Zielrichtung verfolgt: eine ‚Kritik dessen, was ist‘ und eine ‚Darstellung dessen, was sein soll‘ (M. Horkheimer 1972, 186).“¹⁰ In diesem die Wirk-
Schölderle, 2017, S. 15. Ebd., S. 57 f. Vgl. ebd., S. 58 ff. Doren, 1927, S. 158 – 205. Hartmann/Röcke, 2013b, S. 4 f. Vgl. ebd., S. 4. Tomasek, 2001/2002, S. 184. Die Quellenverweise beziehen sich auf den Sammelband von Neusüß, 1986. Vgl. die Kapitel von Neusüß: „Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen
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lichkeit transzendierenden Gefüge erweitert Tomasek die utopischen Kategorien um die des „Wunschmenschen“¹¹. Die Begrifflichkeit geht auf „die Idealvorstellung eines neuen perfekten Menschen (Alanus ab Insulis) [zurück], der das vollkommene Wesen Adams und Evas ante lapsum wiederherstellen sollte“¹². Der Sündenfall hat also immanenten Glücksverheißungen keineswegs die Grundlage entzogen, sondern umgekehrt ein Bestreben evoziert, das die Vollkommenheit anstrebt und im Diesseits abzubilden sucht.¹³ Da die Heilsgeschichte im Mittelalter jedoch stets gedanklicher Bezugspunkt bleibt, nutzen Utopien „geschichtsmythische Muster“¹⁴ zur Legitimation ihrer Entwürfe. Das Spezifikum des mittelalterlichen Utopie-Bewusstseins besteht mit Tomasek also in der „spezifische[n] Kombination von rationaler Konstruktion und mythischer Symbolik“¹⁵. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wurde das utopische Denken des Mittelalters von der jüngeren Forschung verstärkt in den Blick genommen. Dabei umfasst das Verständnis des Utopischen so verschiedene Bereiche wie Gartenallegorien,Weltkarten, Stadtentwürfe, das Reich des Priesterkönigs Johannes oder Liebes- und Artusromane. Entsprechend reicht die Spannweite der Untersuchungen von der utopischen Dimension der ‚Tristan und Isolde-Liebe‘¹⁶ und dem utopischen Moment des Artusromans¹⁷ bis hin zu Arbeiten über spätmittelalterliche Reiseberichte oder Stadtutopien.¹⁸ Der vorliegende Beitrag sucht nun ausgerechnet dort nach utopischem Denken, wo es Vertreter der klassischen Utopieforschung am wenigsten vermuten würden: in den christlich-mittelalterlichen Erzählungen über unheilige und heilige Menschen. Zentral ist hierbei die Annahme, dass das legendarische Erzählen
Denkens“, S. 13 – 112, und „Horkheimer: Die Utopie. (Aus: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Stuttgart, 1930, S. 77– 94)“, S. 178 – 192. Tomasek, 2001/2002, S. 183. Hartmann/Röcke, 2013b, S. 5. Mit Blick auf seine Sprach- und Geschichtsphilosophie sieht Walter Benjamin eine solch messianische Gestaltungskraft in der Sprache gegeben. Sprache sei ein entelechisches Moment eingeschrieben, das auf Restitution und Überwindung ziele und so Ursprung und Ende zusammenschließe. Dem postadamitischen Sprachverfall sei somit die Möglichkeit inhärent, den paradiesischen Zustand im Sinne einer universalen Sprachgemeinschaft zu vollenden. Vgl. dazu: Kather, 1989, S. 277 ff. Tomasek, 2001/2002, S. 182. Ebd., S. 180. Vgl. hierzu immer noch grundlegend: Tomasek, 1985. Vgl. Achnitz, 2012, S. 49 – 86. Vgl. hierzu den Band: Utopie im Mittelalter. Begriff – Formen – Funktionen von Hartmann/ Röcke, 2013a.
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nicht primär durch die Lehre von den letzten Dingen (Eschatologie) und die Hoffnung auf das Tausendjährige Reich (Chiliasmus), sondern durch einen radikalen Gegenwartsbezug geprägt ist. Dieser umgreift Vergangenheit und Zukunft, Anfang und Ende und begreift „die Gegenwart als Forderung nach Vollendung, als das, was ‚im Namen des Endes steht‘“¹⁹.Vor dem Hintergrund dieser Denkfigur werden mit Pontius Pilatus und Judas Iskariot zunächst zwei Prototypen des verdammten wie verdammungswürdigen Menschen untersucht, deren Leben und Sterben untrennbar mit der Heilsgeschichte verwoben ist bzw. diese überhaupt erst ermöglicht.²⁰ Die Analyse der Pilatus- und Judasvita des volkssprachlichen Passional trägt dabei einem bisher vernachlässigten Ansatz Rechnung, der den Kern aller Utopien bildet: „die Intention unmittelbarer Sozialkritik“²¹. In der Schilderung ‚dessen, was ist‘ öffnen sich utopische Räume und Zeiten, die das Nicht-Heilige und damit Profan-Menschliche mit der Möglichkeit und Gewissheit einer vollkommenen irdischen Gemeinschaft kontrastieren. An ausgewählten ‚Wunschmenschen‘ des Passional wird so gezeigt, dass „ausgezeichnete Menschen als Angelpunkte einer besonderen Gemeinschaft gedacht werden [können]“²². Diese sozialethische Gemeinschaft schließt auch die Leser und Hörer der Dichtung mit ein. Sie übergreift damit Raum und Zeit und entwirft – mit Tomasek gesprochen – „ein irdisches lebendez paradis der Liebe im Rahmen eines utopischen Ausgleichs von Individuum und Gesellschaft“²³.
II Die Pilatusvita des Passional Das gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandene Passional ist ein Mammutwerk. Der unbekannte deutsche Dichter hat seine 110.000 Verse umfassende Dichtung in drei Bücher eingeteilt. Buch I schildert das Leben Jesu Christi und seiner Mutter Maria sowie die Marienmirakel,²⁴ das zweite Buch erzählt die Apostellegenden, das dritte die Legenden der postbiblischen Heiligen.²⁵
Agamben, 2006, S. 90 f. Das Zitat geht auf den donatistischen Bischof Tyconius zurück (licet non in eo tempore finis, in eo tamen titulo futurum est). Tyconius, 1989, S. 110. Zur mittelalterlichen Pilatusvita vgl. Scheidgen, 2002. Zur Judasgestalt vgl. Klauck, 1987. Schölderle, 2017, S. 12. Tomasek, 2001/2002, S. 184. Ebd. Zur etwas unglücklichen Bezeichnung von Band I als ‚Marienleben‘ vgl. Hammer, 2016, S. 468 f. Im Folgenden werden Buch und Versangaben im Fließtext wiedergegeben. Vergleiche für die jeweiligen Ausgaben die Bibliographie. Eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche liegt nicht vor.
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Die Vita des Pilatus ist Teil des ersten Buches. Sie markiert einen markanten, vom Erzähler eigens hervorgehobenen Einschnitt in di materien (I, 7487), der zwischen Kreuzigung und Auferstehung Christi angesiedelt ist. Die Geschichte des Pilatus ist also an eine für die Heilsgeschichte zentrale Zwischenzeit gebunden, die vielleicht am ehesten mit dem Begriff der Schwelle gefasst werden kann: „In der deutschen Sprache verweist Schwelle auf den Architrav der Tür, sie kann aber auch – wie Benjamin schreibt – mit dem Verb schwellen und allen seinen Nebenbedeutungen (‚Wandel, Übergang, Fluten‘) verbunden werden.“²⁶ Die Natur der Schwelle ist die einer Zone, die „ihren eigenen Zustand ‚überschreitet‘, hinübergeht, und somit andere Räume schafft“²⁷. Von diesen anderen Räumen – der Erschließung des ewigen Lebens; der Schwelle zwischen Immanenz und Transzendenz – möchte der Erzähler zunächst schweigen. Stattdessen greift er das Bild eines Umschwungs sowie einer Kreisbewegung auf (ummesweif; reif I, 7489 f.) und evoziert damit die Vorstellungswelt einer mythischen (Vor‐)Zeit, einer Zeit, die zu sich selbst kommt und Übergang, Ursprung und Gründungsakt symbolisiert. Christian Kiening hat diese spezifisch christliche Funktionalisierung des Mythos als ‚Arbeit am Absolutismus des Mythos‘ bezeichnet: „Im Falle von Judas [und Pilatus] geht es um die Neuanfänge der christlichen Geschichte, von denen zu erzählen zugleich die Möglichkeit bot, den Ursprung einer radikalen kulturellen Differenz mit heilsgeschichtlicher Dignität zu versehen.“²⁸ Diese radikale kulturelle Differenz ist folglich in eine Wunschzeit eingebettet, die aus der Kritik am Bestehenden das utopische Gemeinschaftsideal erwachsen lässt. Bereits die Zeugung des Pilatus steht unter unordentlichen Vorzeichen: König Cyrus muss auf der Jagd Unterschlupf in einer Mühle suchen. Vom Anblick der schönen Müllerstochter Pyla entflammt, beschläft der wohlhabende Heide die Tochter des Wirtes und zeugt so den außerehelichen Sohn Pilatus. Die Verbindung von Jagd und Begierde (vgl. I, 7513 – 21) ist eindeutig negativ konnotiert. Auch jenseits des hagiographischen Erzählmusters konnte der Verweisungszusammenhang von ars venandi und ars amandi problematisiert werden. Dies verdeutlicht etwa Gottfrieds Tristan, in dem der listige und fremde Jäger durch seine musische Kunstfertigkeit früh als Bedrohung der bestehenden (sexuellen) Ordnung entlarvt wird.²⁹ Der Einbruch der fremden unnart (I, 7576) in die familiäre Ordnung der Königsfamilie lässt in der Pilatusvita nicht lange auf sich warten. Der von Geburt aus
Borvitz/Ponzi, 2014, S. 8. Ebd., S. 9. Kiening, 2004, S. 56. Vgl. dazu Sliepen/Weiher, 2019, bes. S. 248 – 271.
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der Art geschlagene Sohn erträgt nicht, dass sein Halbbruder aus allem öffentlichen Kräftemessen als Sieger hervorgeht. Der heimlich[e] (I, 7579) mort (I, 7609) trägt das Merkmal der Heimtücke und verweist damit auf eine angeborene bosheit (I, 7577) sowie die besondere Schwere der Schuld.³⁰ Zentral ist in diesem Zusammenhang die Reaktion des Vaters, dessen erster Impuls naturgemäß auf Rache sinnt. Jedoch fürchtet er den Tadel des Hofes (daz man im ez misseprisete I, 7613) und möchte sich daher nicht am Tod seines Sohnes schuldig machen. Stattdessen fasst er einen Plan, der Leben und Wohlergehen des Pilatus fremden Händen überantwortet und aus der familiären Katastrophe finanziellen Profit schlagen soll. Cyrus schickt seinen Sohn als Geisel nach Rom, um sich von der Zinspflicht freizukaufen und seine Tributpflicht mit der Beugehaft des sündigen Schuldners zu begleichen. Jenseits der Frage nach der Providenz des Geschehens wirft die Bewertung des königlichen Handel(n)s Probleme auf. Handelt es sich tatsächlich um die kluge (cluclich I, 7619) List eines klugen Königs (ein wiser man I, 7611) oder ist die Wertung des Erzählers nicht vielmehr Ausdruck einer ironisch-sarkastischen Haltung, die man Hagiographie wie Utopie in vielen Fällen gar nicht zutraut?³¹ In diesem Fall wäre die Szene als soziale Kritik an der Verknüpfung von Geld und Schuld lesbar, wie sie etwa im mittelalterlichen Ablasshandel gang und gäbe war. Zumindest wiederholt sich durch den weltlichen ‚Ablasshandel‘ die Geschichte: Pilatus wird am Hof des Kaisers vom französischen Prinzen an prise, / an zucht, an tugende wise / und an craft (I, 7663 ff.) stets überflügelt und mordet den Rivalen heimtückisch. Dieses Mal wird er als Statthalter auf die fremde Insel Ponthos ‚verbannt‘, dieses Mal besteht das Movens in der Instrumentalisierung des Mörders, dessen Bosheit zu irdischem Machtstreben missbraucht werden soll. So äußern die Römer: ‚sit ez sich hat gevuget so, daz er den knappen hat erslagen und wir da bi ouch horten sagen, wi er sinen bruder sluc, diz ist ein michel unvuc. wizzet, er ist so nachaft, daz er unserre viende craft under uns wol mac bougen, mit vrevele urlougen, als er gewechset zeinem man. des sul wir im sin leben lan.‘ (I, 7690 ff.)
Vgl. Hammer, 2014, S. 193 f. Vgl. zur satirischen Konzeption des Utopischen Tomasek, 2001/2002, S. 185 f.
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Die Domestizierung des Bösen scheitert in doppelter Hinsicht. Weder lässt sich Pilatus durch das Lehen für die (Friedens‐)Pläne der Römer einspannen noch erfüllt sich die geheime Hoffnung, dass die Inselbewohner sich des Fremden gewaltsam entledigen. Stattdessen schafft er es, den Ort des Schreckens (locus terribilis) durch Schmeichelei und Ausbeutung zu einem noch schrecklicheren zu machen: nach cluges herzen willekur nam er die achtperen, den er mit schonen meren beide gelobete und gab daz er gebrach den armen ab. […] da bi er in sagete swaz sie gerne horten; an kurtzewile, an worten was er, swi sie in wolden haben. (I, 7754 ff.)
Diesen Diebstahl an der Gemeinschaft und den (christlichen) Werten der Gemeinschaft als Wahl eines ‚klugen‘ Herzens zu bezeichnen, muss als bitterböse zeitgenössische Kritik am unverantwortlichen Handeln und der Tyrannei des Adels verstanden werden. Pilatus ist derweil zum einflussreichen und gefürchteten Tyrannen geworden. Dabei erweist sich gerade die Abgeschiedenheit der Insel und des dort wuchernden Bösen als gefährliche, nicht zu kontrollierende Bedrohung.Wieder wird der Versuch unternommen, Pilatus in eine bestehende (Un‐)Ordnung zu integrieren. Dieses Mal ist es der Gesinnungsgenosse Herodes, der ihn mit Geld und Versprechen (gelubde und mit habe I, 7784) bestechen und als Landpfleger nach Judäa beordern will. Pilatus lässt sich auf das Angebot ein. Auf Geheiß des Herodes beutet er das Land aus, liefert das Geld allerdings nicht wie gehofft am Hofe, sondern beim römischen Kaiser Tiberius ab. Auf diese Weise erhält er das Land als Lehen zurück und kauft sich nebenbei von Herodes frei (vgl. I, 7809 ff.). Der Konnex von Geld-, Schuld- und lehnsrechtlichen Metaphern bildet ein zentrales Grund- und Deutungsmuster der Vita. Auf diese Weise werden das Streben nach weltlicher Macht sowie Reichtum und die Zirkulation von Geld als Mangel an Empathie und Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl entlarvt. Dabei zielt die sozialethische Komponente auf eine umfassende Kritik am adeligen Feudalsystem. Der Mord an Christus kehrt nun die herrschenden Verhältnisse um. Mit der Vollstreckung des eher beiläufig geschilderten Gerichtsurteiles hat Pilatus einen point of no return überschritten. Jeder Versuch, seine Schuld abzuwälzen oder sich davon freizukaufen, ist zum Scheitern verurteilt. Während für den Unheiligen der Kairos und mit ihm irdische Zeit und Raum an
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sein Ende kommen, öffnet sich durch die an dieser Stelle in die Vita eingefügte Veronikalegende eine neue Welt des Heils. Die Geschichte will es, dass der todkranke römische Kaiser Tiberius nach dem Wunderheiler Christus schicken lässt. Veronika, Gefährtin des Heilands, berichtet dem Boten Volusianus von der Schuld des Pilatus und von der heilenden Macht des Tuches, in das Christus sein Antlitz gedrückt hat. Symptomatisch für das neue radikale Gemeinschaftsideal der Apostel ist der Verzicht Veronikas auf einen Lohn für ihre in Aussicht gestellte Hilfe. Auf die gut gemeinte Frage des Boten ist ez silber oder golt / oder dikein ander richtum, / den du wollest haben darum? (I, 8014 ff.) antwortet sie: ‚nein. aller richtum gemein, den di erde uf ir treit, ist nicht kein der richeit, di an disme tuche lit. ich will mit dir in dirre zit zu Rome an den keiser kumen und durch siner selde vrumen min tuch brengen alda hin, wan ich weiz wol, ez hilfet in und tut im alle sin leit zurgan, wirfet er sinen gelouben dran.‘ (I, 8017 ff.)
Mit der Nächstenliebe (caritas) und dem Verzicht auf weltliche Güter werden zwei zentrale Glaubensgrundsätze verbalisiert, die im ur-christlichen und mittelalterlichen Denken eine herausragende Bedeutung gespielt haben und als utopische Wunschvorstellung einer besseren Welt stets präsent waren.³² Darüber hinaus wird die Veronikalegende mit der Gottesliebe (Agape) von einem weiteren Ideal des christlich-utopischen Denkens gerahmt. So berichtet Veronika dem Boten ausführlich von ihrer Jagd nach dem Anblick und Antlitz Christi: nulich vor disen tagen, e min herre wurde erslagen, […] nach mines herzen rate – daz mich daruf ie jagete, so wol er mir behagete, daz ich in immer gerne sach – mit stetem vlize ich mich brach, daz ich in dicke und dicke hete in minem blicke, swa ich dar zu mochte kumen. (I, 7957 ff.)
Vgl. dazu Hoffarth, 2016.
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Dieses eindeutig positiv konnotierte Verlangen Veronikas ist Ausdruck einer Umdeutung des antiken Konnexes von Jagd und Begierde. Es knüpft den Bogen zum Beginn der Vita und überführt den Mythos in den Denkhorizont eines entsexualisierten Begehrens. Mit der Heilung des Kaisers ist diese „Umschrift“³³ des Mythos allerdings noch nicht abgeschlossen. So richtet sich der Zorn nun auf Pilatus. Als dieser vor Tiberius gebracht wird, verkehren sich jedoch Feindschaft und Rache urplötzlich in Freundschaft und Minne. secht, do geschach ein wunder: der zorn verswant dar under, daz niman weste, war er quam. der keiser wart im minnesam, wand er ouch uf kein im stunt, als vrunt kein vrunden tunt; mit aller gunst er in entphie. (I, 8111 ff.)
Der listige Pilatus hat sich mit dem Rock Christi gewappnet. In diesen sind die Tugenden des Herrn derart machtvoll eingeschrieben, dass sie den Träger des Kleidungsstückes wie einen Schutzmantel umhüllen. Kurz darauf wiederholt sich die Szene und erst nach einer göttlichen Offenbarung des Geheimnisses kann Pilatus, nun ohne Rock, vor Tiberius geführt und zum Tode verurteilt werden. Das Wunder symbolisiert die eingangs erwähnte Schwellenzeit sowie eine räumliche Schwelle zwischen Immanenz und Transzendenz. Christus gehört beiden Sphären zugleich an. Das verbindende und übergeordnete Element ist die göttliche Liebe, die zeichenhaft von der Erlösungstat auf Erden und der Vollendung des Gottesreiches kündet und so Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtigt. Allein Pilatus ist von der irdischen wie jenseitigen göttlichen Liebe ausgeschlossen. Nach der Ankündigung des Todesurteils nimmt er sich im Kerker mit einem Messer das Leben. Auch über den Tod hinaus bleibt er unfrei und unordentlich. Der in einer Mühle Gezeugte wird mit einem Mühlstein im Tiber versenkt. Dort spielen Teufel ein neckisches Spiel mit der Leiche, sodass er erst in die Rhône und später in einen tiefen Gebirgssee umgebettet werden muss. In diesem Sinne ist Pilatus ein Sinnbild der christlichen U-topia, sprich all dessen, was auf der Schwelle zum Heil keinen Ort auf der Welt haben kann.
Kiening, 2004, S. 56.
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III Die Judas- und Matthiasvita des Passional Die Geschichte vom Leben und Sterben des Judas wird im zweiten Buch des Passional erzählt. Die Vita ist – wie in der Legenda aurea – Teil der Legende des auf Judas nachfolgenden Apostels Matthias. Dies allein mag auf den Umstand verweisen, wie schwer sich das christliche Mittelalter mit Judas und der damit verknüpften Frage getan hat, wie es dazu kommen konnte, dass einer aus dem Kreis der Jünger, also aus der nächsten Nähe des Heilands, diesen verriet. Als Antwort entwirft sie eine Geschichte des zugleich Ausgezeichneten und Ausgegrenzten, des Protagonisten, der dazu auserkoren ist, dem Sohn Gottes den entscheidenden Schritt zum Tode zu bahnen: im Sinne Hyam Maccobys ein Heiliger Henker ³⁴.
In Analogie zur Vita des Pilatus wird auch die Judas-Geschichte einleitend als Einschnitt in die Materie gekennzeichnet. Statt von Matthias soll zunächst von seinem Vorgänger berichtet werden, dem untreuen Judas, der mit schanden hinder streich und uz allen eren weich zu ewiclichem vluche. (II, 34485 ff.)
Von der Ambivalenz des Heilig-Unheiligen ist zunächst nicht die Rede, die Geschichte steht ganz im Zeichen von Fall und Ende. Mit Pilatus verbindet Judas das (hier vorweggenommene) endlose Ende einer ewigen Verfluchung sowie die Tatsache, dass die Handlung durch die Finalität des Bösen geprägt ist.³⁵ Diese (vom Ende her gedachte) Zweckbestimmtheit wird nicht nur zu Beginn der Geschichte angekündigt, sondern spiegelt sich auch im Beginn der Erzählung, in der Geschichte von Judas’ Eltern wider. Durch die genealogische Verortung des Vaters Ruben und die Traumvision der Mutter Cyborea werden Anfang und Ende des jüdischen Geschlechtes umschlossen. Cyborea träumt, wi mir geborn wurde ein sun, der warb so unrechte, daz alle unse geslechte solde von im undergan. (II, 34510 ff.)
Ebd., S. 49. Vgl. Hammer, 2014, S. 190 ff.
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Die Schreckensvision, eine Mischung aus antikem Fatum und christlicher Providenz, öffnet den Raum für „eine schicksalhafte Dimension des Geschehens und trägt gleichzeitig dazu bei, sie zu erfüllen“³⁶.Vielleicht kann man diesen Raum als eigentümliche Verbindung von Hiatus (Spalt, Kluft) und Schwelle (Übergang) denken, eine Öffnung, in die das Alte versinken (undergan) muss, und eine Zone der Transformation, aus der das zu Neuem Gewandelte hervortreten kann. Als prototypischer Vertreter des Judentums und als Garant der christlichen Heilsgeschichte scheint Judas genau an dieser Schnittstelle angesiedelt zu sein.³⁷ Das neugeborene Kind wird aus Furcht vor der Erfüllung der Prophezeiung auf dem Meer ausgesetzt, als dem guten Moyse / geschach vor in der alden e (II, 34557 f.). Die Engführung mit der alten Zeit und dem Propheten Moses findet freilich unter entgegengesetzten Zeichen statt: In der neuen Zeit wird der schlechte Judas die jüdische Gemeinschaft nicht zum Heil, sondern zu Unheil und Untergang führen. Dieser tragische Gegensatz zwischen seligmachendem Versprechen und der Wendung zum Unseligen ist auch für Judasʼ erste Station auf der Insel Scariot bestimmend. Die kinderlose Königin des Landes nimmt sich des an den Strand gespülten Kindes an. Das Schicksal scheint es gut mit ihr zu meinen, sodass sie das fremde Kind in der Hoffnung auf einen rechte[n] erben (II, 34613) als ihr eigenes ausgibt. Der Erzähler berichtet: Nu wart ein clucheit erdacht und mit listen vollenbracht an dem selben kinde. di kunigin was vil swinde dar uf an engem rate. si hiez daz kindel drate schicken heimlich von den wegen und sin wol mit eren pflegen. da bi machte si sich groz. von ir ein mere sich ergoz, wi si swanger were. (II, 34615 ff.)
Wie in der Pilatusvita nimmt das Unheil (jenseits von Providenz und Schicksal) auch hier seinen Ausgang von einer menschlichen List. Dass diese clucheit zudem geschwind (swinde), plötzlich (drate) und im Geheimen (heimlich) ausgeführt
Kiening, 2004, S. 49. Mit Blick auf das komplexe Verhältnis von Judas und Christus formuliert Kiening treffend: „Er nun [Judas], dieser einzelne, repräsentiert im Sinne Girards den impliziten Sündenbock, dessen Geschichte mit jener des expliziten Sündenbocks Jesus so verknüpft wird, dass der Mythos des Opfers des Gottessohns ein Pendant im Gründungsmythos der christlich-jüdischen Differenz erhält.“ (Ebd., S. 51).
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wird, rückt die Tat in die Nähe einer sündhaften (?) Übereilung. Tomas Tomasek hat die theologische Dimension der gâcheit mit Blick auf Hartmanns Gregorius als Jugendsünde des Helden charakterisiert. So nachvollziehbar das Handeln der Königin also zunächst erscheint, so folgenschwer und problematisch ist es auf den zweiten Blick. Dies wird auch dadurch deutlich, dass die Königin sogleich schwanger wird und sich mit der Geburt des legitimen Sohnes die Frage nach der Erbfolge aufs Neue stellt.³⁸ Die Parallelen zu Pilatus sind offenkundig: Judas ist von Natur aus böse. Er macht seinem Bruder mit etelicher nacheit (II, 34664) das Leben schwer, unterliegt an forme und an craft (II, 34657) und nutzt die erstbeste Gelegenheit, um seinen überlegenen Widersacher heimlich zu ermorden. Wie ein Dieb am Leben – der Verweis auf die Kainstat ist augenfällig – flieht er verstohlen und heimlich (duplich II, 34723) nach Jerusalem, wo es ihn – Gleich und Gleich gesellt sich gern – in die Obhut des Pilatus verschlägt. Dort holt Judas und seine Eltern die Vergangenheit ein. Wie Ödipus erschlägt der Sohn zunächst unwissend seinen Vater, um sogleich unwissend die Mutter zu ehelichen.³⁹ Die „Neuaufnahme des Ödipus-Mythos“ wird dabei so umgeschrieben, „dass auf die Vorgeschichte der Passion Christi ein neues Licht fallen kann“⁴⁰. Die Tötung des Vaters ist in eine paradiesähnliche Baumgartenepisode eingewoben, in der Pilatus die Rolle des Verführers und Judas die des Apfel-Diebes zukommt. Der Einbruch des Bösen und Ungefügten in den kultivierten Obstgarten wird zu einer Aktualisierung der Ursünde stilisiert. Die christliche Umschrift des unter der Oberfläche fortlebenden mythischen Substrats will es, dass Judas nach der Aufdeckung seiner monströsen Sünden die Möglichkeit zu Umkehr und Reue besitzt:⁴¹ siner sunden unvuc, die huften sich untz da hin, daz im wart sines herzen sin verseret in harte grozen clagen. (II, 34926 ff.)
Vgl. Tomasek, 1993, S. 43 f. Zu den Parallelen des Ödipus-Mythos vgl. Knapp, 2005, S. 103 ff. Kiening, 2004, S. 48. Einerseits ist es folgerichtig, dass das durch die Mutter herbeigeführte Erkennen von Herkunft und Schuld (wie bei Adam und Eva) ein umfassendes Scham- und Reuegefühl bewirkt. Andererseits markiert genau dies einen Bruch mit Schicksalsmacht und Determination: Judas „behält handlungslogisch und theologisch eine Freiheit, die erzähllogisch und heilsgeschichtlich eine scheinbare ist“. (Ebd., S. 50).
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Während der mythische Ödipus die Monstrosität seiner selbst nicht ertragen kann und sich die Augen (als Medium der Wahrheitssuche) aussticht, wendet sich Judas der Wahrheit und dem Messias zu. Er wird zum Apostel, der Gottes Wort in der Gegenwart predigt und maßgeblich zu einer Verbreitung des Glaubens beiträgt: des maniger bezzerte sich (II, 34959). Judas wird Christus sogar so vertraut, dass er mit den Geldgeschäften zur Speisung der Bedürftigen betraut wird. An dieser Stelle bricht nun seine böse Art wieder hervor. Die Szene spielt mit der Polyvalenz des Wortes heim(e)lich und setzt dem Vertrauen in Judas (er wart Cristo so heimlich II, 34960) das geheime und verborgene, geradezu unheimliche Stehlen des gemeinschaftlichen Besitzes (und ez heimlich verhal II, 34972) entgegen. Die Geldgier des Judas ist dabei nichts anderes als ein Verrat an den utopischen Idealen der Gemeinschaft. So gibt Judas sowohl die Nächstenliebe als auch die Liebe zu Christus preis, dem er aus Mangel an Empathie die Salbung neidet und ihm damit indirekt auch die Anerkennung als Messias entzieht: und da von was im harte leit di verlust und gienc im na, daz Maria Magdalena di salbe uf unsern herren goz. sin zuversicht was des groz: were si verkouft umme gut, er hete sin so vil behut, daz er es were worden vro. (II, 34978 ff.)
Die eigentliche Auslieferung bleibt in der Judasvita eine Leerstelle. Stattdessen liegt der Fokus im Verrat der ihm überantworteten und übergebenen Aufgaben. Mit seiner Gier nach Gewinn nimmt Judas eine solche Schuldhypothek auf sich, dass er diese nicht mehr zurückzahlen kann. Er wirft die 30 Silberlinge vor die Füße der vursten (II, 34988) und erhängt sich, sodass die Eingeweide aus seinem Körper herausbrechen. Der Erzähler setzt diesen unordentlichen Tod nun direkt mit der Schuld(en)metapher in Bezug: di ungevuge leide muste er von rechten schulden so schemelichen dulden an dirre todes wunde. (II, 35002 ff.)
Die Strafe für seine unermessliche Schuld ist die ewige Verdammnis eines von Erde und Himmel geschiedenen Daseins: er solde ouch hangen in der luft […] und zwischen himel und erde sin
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mit den ubeln geisten, die im solden leisten mit ewiclicher marterat, swaz er uf si geborget hat. (II, 35016 – 28)
In dieser christlich-utopischen Ortlosigkeit des ewigen Schwellen-Daseins muss Judas seine Schuld(en) mit einer unendlichen Marter zurückzahlen. Der Ausschluss von der göttlichen Gnade ist nun seinerseits ein Entzug von Mitleid und Nächstenliebe, der die semantische Teil-Bedeutung von borgen im Sinne von Nachsicht haben, jemanden schonen, die Zahlung erlassen in sein unnachgiebiges Gegenteil verkehrt. Der Apostel Matthias verkörpert in vielerlei Hinsicht das ideelle Gegenstück seines Amtsvorgängers. Dies wird auch begrifflich deutlich: Während der Körper des toten Judas als daz ungetruwe vaz (II, 34998) bezeichnet wird, ist Matthias ein genaden vaz (II, 35154), ein Gefäß, das mit der Gnade und Liebe Christi gefüllt ist. Matthias ist also folglich ein vom Messias auserkorener Apostel und damit mit dem Auftrag ausgestattet, die Heilsbotschaft in der Gegenwart zu verkünden. So verschlägt es den Boten nach Mazedonien, wo er von der feindlichen Bevölkerung gefangengenommen und eingekerkert wird. In der Nacht suchen ihn Teufel heim. Doch diese müssen auf der Schwelle zum Kerker verharren und können dem Boten Gottes keine Gewalt antun: do quamen tuvele vil da hin durch iren vientlichen sin, die im erclich erschinen. sie zanneten sere und grinen und torsten doch bi in nicht kumen, wand in was gentzlich benumen di gewalt in der geschicht, daz sie im leides teten icht durch iren vientlichen haz. (II, 35145 ff.)
Der Kerker erweist sich als Wunschraum. Es handelt sich um einen abgesonderten Schwellenraum, in dem sich Immanenz und Transzendenz überblenden und das Unheimliche und Fremde in einen Ort der vertrauten, heimelichen Gottesnähe transformieren. Während der Zugang nach Innen für die Teufel undurchlässig ist, wird durch das Eingreifen und Erscheinen des Messias nun der Zugang nach Außen geöffnet: Jesus, der juncvrouwen kint, mit grozem liechte zu im quam. den heiligen Mathiam
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vil vruntlich er troste, dar nach er in loste von allen banden und keten, die in e bestricket heten nach siner viende willekur. Cristus entsloz im alle tur; do gienc Mathias ouch her vur. (II, 35162 ff.)
Mit der Öffnung des Kerkers öffnet sich auch der öffentliche Raum für das Heilswirken des Apostels. Wer sich nicht augenblicklich zu Christus bekehrt, soll nach den Worten des Wunschmenschen verstoßen werden: prompt öffnet sich ein Hiatus, der die Ungläubigen verschlingt und eine Massenbekehrung nach sich zieht. Die Szene ist geradezu prototypisch für das legendarische Erzählen. Das Eingreifen Gottes in die Immanenz lässt sich mit Agamben als Anwesenheit des messianischen Ereignisses verstehen. Auf diese Weise wird die Gegenwart zum Wunsch nach Vollendung, zum Wunsch nach dem, was im Zeichen des Vollendeten steht.⁴²
IV Schlussbetrachtung am Beispiel der Katharinenlegende des Passional Die umfangreiche und populäre Legende der heiligen Jungfrau Katharina bildet den Schluss des dritten Buches. Ich möchte an dieser Stelle lediglich das Ende der Märtyrerlegende näher betrachten. Vom Henker enthauptet, ergießt sich aus der Wunde Katharinas kein Blut, sondern Milch. Und nachdem der Leichnam von Engeln auf den Berg Sinai gebracht und begraben wird, fließt aus dem Grab heilkräftiges Öl. Das Fließen von Milch und Öl ist keine originäre Zutat der Katharinenlegende. Es handelt sich um eine christliche Heils-Symbolik, die in der Hagiographie auf den gewandelten, in die Gemeinschaft der Heiligen eingegangenen Ausnahmemenschen verweist. Bemerkenswert ist jedoch der Ort der Grablegung. Dieser wird durch den Namen ‚Sinai‘ mit einer mythischen Vergangenheit aufgeladen. Der Ort, an dem das israelitische Volk Zeuge der Offenbarung Gottes wurde und Mose die zehn Gebote erhielt, hat sich durch die Nähe zur fließenden göttlichen Gnade zu einem paradiesischen Wunschort auf Erden gewandelt. Auf diese Weise wird der alttestamentarische Mythos aktualisiert und durch die Heilstat Christi und der ihm nachfolgenden Märtyrerin überformt. Der
Vgl. Agamben, 2006, S. 72 ff.
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Wallfahrtsort ist durch eine Wunschzeit geprägt, in der Vergangenheit und paradiesische Zukunft zugleich gegenwärtig sind. In diesem spezifischen Zusammenspiel von Wunschraum, Wunschzeit und Wunschmensch wird das utopische Element des legendarischen Erzählens greifbar. Der Traum von einer besseren, sündenfreien Welt kann sich jedoch nicht in der Darstellung eines einzelnen Wunschlebens erschließen, er muss von der Gemeinschaft geteilt und in die Welt getragen werden. Dieses utopische Gemeinschaftsideal wird am Ende der Legende in zwei kurzen Pilgergeschichten entfaltet. In der ersten Schilderung wird die Geschichte eines Mönches erzählt, der zwölf Jahre am Grab Katharinas verbringt: stete iagete in die begir nach irme heilictume. in gotelicheme rume begerte ot er ein beinelin von der edelen kunigin, dar nach manigen tac er bat. (III, 689,17 ff.)
Die Parallele zur Veronikalegende ist augenfällig. Auch hier ist die Verbindung von Jagd und Begehren Ausdruck einer Geisteshaltung, die den antiken Eros in eine christliche Liebesvorstellung transformiert hat. Der Wunsch wird dem geduldigen Pilger schließlich erfüllt und so macht er sich mitsamt seiner Reliquie auf den Weg zu seinen Brüdern, um den Glauben zu stärken. Das zweite Beispiel erzählt von einem guten Mann, dessen durchdringende, kräftige Liebe zu Katharina (wan zwischen in die liebe scharf / was in vil langen ziten III, 689,47 f.) mit der Zeit allmählich verblasst. Im Traum erscheint ihm eine Prozession schöner Jungfrauen, doch die Schönste unter ihnen hat ihr Antlitz verborgen. Erst nachdem ihm eine andere Frau den Namen der Schönen mitteilt, erkennt er, dass er die geliebte Katharina und damit sich selbst vergessen hat. Die Erneuerung der Freundschaft ist das Bindeglied zu einer Schlussformel, in der der Erzähler den Bogen zur Gemeinschaft der Rezipienten schlägt und die utopische Kraft der Minne beschwört: von nuwens wart besezzen sin herze mit ir vruntschaft. got, herre, aller tugende kraft, slac min herze an steten haft dur willen dirre vrowen zu dir al unverhowen, uf daz ich muge beschowen, wie du die vrunt dich minnen last. (III, 690,13 ff.)
Auf der Schwelle zum gegenwärtigen Heil
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Zuviel ist nicht genug – Gier und Gleichheit in Morusʼ Utopia 1516, irgendwo im Nirgendwo: Vor etwas mehr als 500 Jahren ist die sagenhafte Insel Utopia von dem englischen Humanisten, Philosophen und Staatsmann Thomas Morus erdacht worden. Sein „wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia“¹ beinhaltet die erste moderne Utopie und gibt dem gesamten Genre seinen Namen; es prägt nachhaltig den europäischen Diskurs über bessere, gerechtere Gesellschaftsmodelle und inspiriert Literaten, Philosophen und Politiker bis in unsere Gegenwart. Somit kann Morusʼ Utopia durchaus zu den kulturellen Grundlagen Europas gerechnet werden. Europa bzw. die Europäische Union, in der wir heute leben, ist in erster Linie als Wertegemeinschaft konzipiert. Dementsprechend werden in Art. 2 EUV sechs Werte benannt, „auf die sich die Union gründet“: die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“². Einer dieser Werte, nämlich die Gleichheit, ist in Morusʼ Utopia von ganz besonderer Bedeutung. Die aequalitas rerum, die umfassende Gleichheit aller Bürger, ist die entscheidende Grundlage des geschilderten utopischen Staates; sie wird zudem als unverzichtbares Prinzip jeder wahrhaft gerechten und glücklichen Gesellschaftsordnung betrachtet. Wie dieses Prinzip hier begründet und auf der fiktiven Insel Utopia konkret ausgestaltet wird, soll nun im Folgenden thematisiert und erläutert werden. Morusʼ 1516 erstmals veröffentlichter Dialog Utopia gliedert sich in zwei Bücher. Das erst nachträglich verfasste erste Buch beinhaltet eine schonungslose, fundamentale Kritik der ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse und Strukturen in den zeitgenössischen europäischen Staaten. Im zweiten Buch wird gleichsam als positives Gegenbild hierzu die fiktive Insel Utopia mit ihrer radikal egalitären Gesellschaftsordnung geschildert. Dialogfiguren sind neben dem Autor Thomas Morus selbst der Antwerpener Stadtschreiber Petrus Aegidius und der fiktive portugiesische Philosoph und Abenteurer Raphael Hythlodeus,
Morus, 2012, S. 7; der vollständige lateinische Titel der Erstausgabe von 1516 lautet: Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reip. statu, deque nova insula Utopia (Morus, 2012, S. 6). Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (Konsolidierte Fassung vom 26.10. 2012), ABl. 2012 C 326/01, S. 17. https://doi.org/10.1515/9783110756944-006
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der erst kürzlich von einer ausgedehnten Entdeckungsreise in die Neue Welt nach Europa zurückgekehrt ist. Der Name „Raphael Hythlodeus“ ist ein sprechender Name: „Raphael“ bedeutet „Gott heilt“, „Hythlodeus“ kann „Feind leeren Geschwätzes“ oder auch „Zerstörer hohler Phrasen“ bedeuten³. Dementsprechend ist es der Figur des Raphael Hythlodeus vorbehalten, radikale, vernichtende Kritik, aber auch kühne Visionen zu formulieren, während ihre Gesprächspartner eher gemäßigte, traditionellere Positionen vertreten. Hythlodeus fungiert in beiden Büchern des Dialogs als Hauptredner. Die Gleichheit aller Menschen wird in Morusʼ Utopia – ausgehend von der philosophischen und religiösen Tradition Europas – in gewisser Hinsicht bereits vorausgesetzt. Alle Menschen sind demnach gleich, insofern sie eben Menschen sind; jeder Mensch ist – philosophisch gesprochen – ein animal rationale, also ein vernunftbegabtes Sinnenwesen, oder – eher religiös formuliert – eine imago Dei, also ein Abbild Gottes⁴. Gleich ist auch dem gegenteiligen Anschein zum Trotz das Ziel aller Menschen, denn ungeachtet ihrer vielfältigen und bisweilen durchaus divergierenden Bestrebungen wollen alle Menschen letztendlich nur das Eine: glücklich sein. Glück, das wussten schon Platon und Aristoteles, ist das telos, das Endziel, das stets nur um seiner selbst willen und niemals als Mittel zum Zweck intendiert wird. Es ist durch autarkeia bzw. sufficientia, also durch Sich-selbstGenügen oder völliges Genügen, charakterisiert⁵. Wer wahrhaft glücklich ist, hat in jeder Hinsicht genug; er hat und empfindet keinerlei Mangel. Dass der Mensch diesen Zustand zumindest im irdischen Leben prinzipiell nur unvollkommen und approximativ erreichen kann, ist evident. Die größtmögliche Annäherung gelingt ihm nach traditioneller, auch in Morusʼ Utopia vertretener Auffassung durch den bios theôrêtikos respektive die vita contemplativa, also durch ein den Wissen-
Bei dem Nachnamen „Hythlodeus“ handelt es sich offenbar um ein Kompositum aus den beiden griechischen Begriffen „hythlos“ und „daios“. Die Bedeutung des Wortes „hythlos“ ist „leeres Geschwätz“, das Wort „daios“ bedeutet gewöhnlich „feindlich“ bzw. „Feind“ oder auch „vernichtend, zerstörend“ (vgl. Passow, 2004, I/1, S. 583; II/2, S. 2041). In der einschlägigen Sekundärliteratur wird allerdings bei der Interpretation des Nachnamens „Hythlodeus“ zumeist die alternative Bedeutung des Begriffs „daios“, nämlich „kundig“ oder „erfahren“, aufgegriffen (vgl. z. B. Surtz/Hexter, 1965, S. 301 und McConica, 2011, S. 39). Diese Bedeutung ist jedoch in der griechischen Literatur kaum belegt; sogar wenn Morus selbst sie gekannt haben sollte, konnte er kaum annehmen, von seinen Lesern in diesem Sinne verstanden zu werden (vgl. ThGL Vol. III, S. 864; Wilson, 1992, S. 33). Daher sind die hierauf basierenden Deutungen des Namens „Hythlodeus“ wenig überzeugend. Vgl. z. B. Porphyrios, Isagoge 2, 2 a; Boethius, Porph. Comm. III, PL 64, 103 a-104 b; Genesis 1, 26 f.; Schlüter, 1974, S. 814– 818. Vgl. z. B. Pl. Smp. 205 a; Arist. EN 1097 a-b; Boethius, Consolatio 3 p 2.
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schaften und der philosophischen Kontemplation gewidmetes Leben⁶. Daher ist die vita contemplativa das Ziel individuellen und kollektiven menschlichen Strebens und Handelns. Die Realisierung der vita contemplativa ist jedoch, wie bereits Aristoteles im Rahmen seiner Kulturentstehungstheorie im ersten Buch der Metaphysik andeutet⁷, nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Zunächst muss der Mensch hierzu in ausreichendem Maße über materielle Güter verfügen, denn wer sich in einer existentiellen Notlage befindet, weil es ihm am Lebensnotwendigen mangelt, kann sich der Welt kaum mit theoretischer Neugier im Sinne des platonisch-aristotelischen thaumazein zuwenden. Zudem benötigt er natürlich genügend Muße, um sich der philosophischen und wissenschaftlichen Kontemplation widmen zu können. Dementsprechend besteht das publicum commodum, also das Gemeinwohl, das jedem Staat als Ziel vorgegeben ist, den Ausführungen in der Utopia folgend offensichtlich darin, die erforderlichen Rahmenbedingungen für die vita contemplativa zu schaffen und sowohl jedem einzelnen Bürger als auch jeder einzelnen Bürgerin gleichermaßen die geistige und kreative Entfaltung in materieller Sicherheit und sozialem Frieden und somit ein wahrhaft menschenwürdiges, glückliches Leben zu ermöglichen. Da der Staat kein Selbstzweck ist, sondern um der Menschen bzw. um der Bürger willen existiert, ist die Orientierung an dem publicum commodum nicht nur eine von verschiedenen Optionen; sie ist vielmehr für eine echte res publica, also für ein Gemeinwesen oder einen Staat im eigentlichen Sinne, konstitutiv. Von diesem Maßstab ausgehend kann jedoch, so Hythlodeus, keiner der zeitgenössischen europäischen Staaten „mit Recht den Namen [einer res publica, also] eines Gemeinwesens für sich beanspruchen“, denn all diese Staaten basieren letztendlich auf dem Prinzip der Gier und erweisen sich deshalb hinsichtlich des Gemeinwohls als destruktiv⁸. Schon Platon, auf dessen Schriften Hythlodeus hier bei seiner Analyse offenkundig rekurriert, sieht in der Gier bzw. der pleonexia die Ursache jeglichen individuellen und staatlichen Fehlverhaltens und Unglücks. Der griechische Begriff „pleonexia“ ist ein aus den Worten „pleon“ und „echein“ gebildetes Kompositum und bedeutet in diesem Kontext wörtlich übersetzt „Mehr-Haben-Wollen“⁹. Die pleonexia resultiert Platon zufolge aus einer innerseelischen Unordnung, die entsteht, wenn ein Mensch in seiner Seele die irrationalen Komponenten, insbesondere die Begierden, herrschen lässt und dem rationalen Seelenteil lediglich eine subalterne Position zuweist. In den europäi Vgl. Arist. EN 1095 b-1096 a; 1098 a; Morus, 2005, S. 21 f.; S. 58; S. 75. Vgl. Arist. Metaph. 981 b; 982 b. Morus, 2005, S. 106. Vgl. Frisk, 2006, II, S. 556; Ast, 1835–38, III, S. 115: „plus habendi […] cupiditas“; Wolgast, 2008, S. 353.
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schen Staaten des frühen 16. Jahrhunderts ist diese Fehlhaltung, wie Hythlodeus konstatiert, von den gesellschaftlichen Eliten ausgehend inzwischen in allen Ständen weit verbreitet. Objekt der Begierde ist primär materieller Reichtum und Besitz, insbesondere – gleichsam als dessen Inbegriff – Gold und Geld. Materielle Güter, die ihrer Natur nach lediglich als Mittel zum Zweck fungieren und dem Menschen dienen sollen, avancieren hier zum Selbstzweck und universellen Maßstab, dem alles, letztendlich sogar der Mensch selbst, untergeordnet wird¹⁰. Das Selbstwertgefühl, das man empfindet, wird ebenso wie die Wertschätzung, die man anderen entgegenbringt, zunehmend von dem jeweiligen Besitz einer Person abhängig. Exemplarisch verweist Hythlodeus diesbezüglich auf das Phänomen, dass ein Mensch weitaus mehr Ehrerbietung erwartet und auch erhält, wenn er, modern gesprochen, mit einem Armani-Anzug bekleidet ist, als wenn er eine billige Latzhose trägt – ganz so, als würde nicht er selbst als Persönlichkeit und menschliches Wesen Achtung und Respekt verdienen, sondern nur der teure Anzug, dessen Besitzer er zufällig ist¹¹. Da es im Wesen der Gier liegt, „unersättlich“¹² zu sein, ist das Streben nach Besitz in diesen Staaten maß- und grenzenlos. Im Gegensatz dazu sind jedoch die zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen stets begrenzt. Die aus der Fehlhaltung des Mehr-Haben-Wollens resultierende punktuelle Generierung massiven Überflusses verursacht daher unweigerlich anderwärts gravierenden Mangel und führt folglich zu einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft in Reiche und Arme¹³. Gier impliziert somit immer das Streben nach permanenter Steigerung der Ungleichheit, zumal die pleonexia, wie schon Platon dargelegt hat, in zweifacher Weise zu verstehen ist: zum einen im Sinne des Strebens nach fortwährender Vergrößerung des eigenen Besitzes, zum anderen im Sinne des Bestrebens, seine Mitmenschen hinsichtlich des materiellen Reichtums sowie des damit einhergehenden Sozialprestiges in zunehmendem Maße zu übertreffen¹⁴. Wer dem Laster der Gier verfallen ist, will also nicht nur mehr haben als zuvor, sondern auch mehr haben als jeder andere. Die hieraus zwangsläufig resultierenden Konflikte werden angesichts der soeben skizzierten schleichenden Entwertung des Menschen in den auf pleonexia basierenden Gesellschaften immer brutaler ausgetragen. Die einflussreichen Wohlhabenden trachten unter skrupelloser Ausnutzung ihrer Machtposition danach, ihr Vermögen auf Kosten der Armen zu mehren. Hierbei sind sie bereit, die ökonomische Ungleichheit gege
Vgl. Morus, 2005, S. 26 – 28; S. 36 – 40; S. 44; S. 68. Vgl. ebd., S. 72 f. Ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 44 f. Vgl. Pl. R. 349 c; 580 c–581 a; 586 a–b; Grg. 493 a–b; Morus, 2005, S. 26; S. 38 – 40; S. 109.
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benenfalls bis zur völligen Verelendung, ja sogar bis zur physischen Vernichtung der Armen zu steigern. Dies illustriert Hythlodeus beispielhaft anhand des Verhaltens reicher Spekulanten bei einer verheerenden Hungersnot, die „viele Tausende von Menschen hinweggerafft hat“: [H]ätte man am Ende dieser Hungersnot die Speicher der Reichen durchsucht, so wäre so viel Getreide zu finden gewesen, dass niemand von der Ungunst der Witterung und der Ertraglosigkeit des Bodens überhaupt etwas gemerkt hätte, wenn man es nur unter diejenigen verteilt hätte, die Entkräftung und Auszehrung dahinrafften.¹⁵
Staatliche Maßnahmen und Institutionen fungieren im Hinblick auf derartige Missstände nur in den seltensten Fällen als Korrektiv, weil die ökonomische Ungleichheit untrennbar mit einer mindestens ebenso gravierenden politischen Disparität verbunden ist. In den europäischen Staaten des frühen 16. Jahrhunderts besteht aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen und der Modalitäten des Wahlrechts eine notwendige Interdependenz von politischer Macht und materiellem Reichtum. Das Recht auf politische Partizipation ist einer äußerst kleinen, exklusiven, begüterten Elite vorbehalten, während der weitaus größte Teil der Bevölkerung – in Morusʼ Heimat England beispielsweise Schätzungen zufolge etwa 95 % der Erwachsenen – von jeder politischen Mitwirkung ausgeschlossen bleibt¹⁶. Folglich können die Reichen ungehindert ihre durchaus amoralischen Methoden „unter dem Rechtstitel des Staates“ und „im Namen der Allgemeinheit“ offiziell legalisieren und selbst die skrupelloseste Ausbeutung der Armen „durch ein öffentlich verkündetes Gesetz als Gerechtigkeit erklär[en]“¹⁷. Angesichts dessen lautet Hythlodeusʼ geradezu vernichtendes Resümee seiner Analyse, die zeitgenössischen europäischen Staaten seien „nichts anderes als eine Art von Verschwörung der Reichen, die im Namen und unter dem Rechtstitel des Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen“¹⁸. Präzisierend müsste man an dieser Stelle allerdings eigentlich von ihrem vermeintlichen Vorteil sprechen, denn wahrhaft glücklich wird unter den geschilderten Bedingungen keiner der Beteiligten. Dass die Armen in den auf dem Prinzip der Gier basierenden Staaten nicht glücklich sind, ist unmittelbar offensichtlich. Schon in rein materieller Hinsicht leiden sie unter einem existentiellen Mangel; es fehlt ihnen oft am Notwendigsten, sodass sie kaum genug zum (Über‐)Leben haben. Unter dem Zwang dieser Umstände wird ihr gesamtes
Morus, 2005, S. 108; vgl. Surtz/Hexter, 1965, S. 564. Vgl. Zippelius, 1994, S. 192. Morus, 2005, S. 108. Ebd.
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Leben auf eine geradezu animalische Existenz reduziert, die nur noch der Sorge um die schiere, physische Selbsterhaltung gewidmet ist – weshalb sie nicht selten von den reichen Verursachern ihrer Notlage überdies noch als unkultiviert und primitiv verachtet werden. Der „Kampf um das tägliche Brot“ lässt ihnen keinerlei Muße, jede Möglichkeit zur geistigen Entfaltung ist ihnen somit verwehrt¹⁹. Daher bleibt auch ihr spezifisch menschliches Bedürfnis nach Wissen, Erkenntnis und Bildung stets ungestillt; die Glück verheißende vita contemplativa ist für sie unerreichbar. Eben jenes spezifisch menschliche Bedürfnis nach Wissen, Erkenntnis und Bildung bleibt jedoch bei den Reichen, also bei den vermeintlichen Profiteuren der skizzierten Gesellschaftsordnung, zumeist ebenfalls unbefriedigt, da die aus der Gier resultierende Fixierung auf das Streben nach materiellem Besitz gewöhnlich auch bei ihnen eine echte und dauerhafte Hinwendung zu wissenschaftlicher und philosophischer Kontemplation verhindert. Wer „alles nach dem Wert des Geldes“ misst, sein Selbstwertgefühl von seinem Besitz abhängig macht und Glück nur mehr als ökonomischen Erfolg definiert, kann die wahrhaft Glück verheißende vita contemplativa nur als ineffizient verachten²⁰. Nicht einmal in materieller Hinsicht können sie – ungeachtet des von ihnen aufgehäuften Überflusses an Besitztümern – ein wahres Genügen erlangen, weil die ihnen eigene Fehlhaltung des Mehr-Haben-Wollens ihrem Wesen nach eine endlose Steigerung des Reichtums intendiert und somit jede Zufriedenheit mit dem bereits Erreichten prinzipiell unmöglich macht. Letztendlich sind daher die Reichen dem gegenteiligen Anschein zum Trotz kaum weniger unglücklich als die Armen²¹. In den auf dem Prinzip der Gier basierenden Staaten ergibt sich somit eine geradezu groteske Situation. Obwohl diese Staaten in ihrer Totalität betrachtet durch massiven Überfluss gekennzeichnet sind und in materieller Hinsicht allenthalben zu viel besitzen, haben doch fast all ihre Bürger in jeder Hinsicht nicht genug. Das edelste, den Menschen als Menschen auszeichnende Bedürfnis nach geistiger Entfaltung, nach Wissen und Bildung bleibt hier infolge der allgemein etablierten, völlig verfehlten Wertmaßstäbe bei Armen und Reichen gleichermaßen ungestillt. Bei den Armen bleiben darüber hinaus häufig auch die profanen aber elementaren materiellen Bedürfnisse des Menschen ganz oder teilweise unbefriedigt. Sogar die wenigen Privilegierten, die in materieller Hinsicht – ge-
Ebd., S. 85; S. 107. Hythlodeusʼ Aussage, es sei „fast überall das Los der Handwerker“, sich „vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein ununterbrochen […] abzumühen“ (ebd., S. 54 f.), ist keineswegs übertrieben; zu Beginn des 16. Jahrhunderts sind Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden täglich in den handwerklichen Berufen durchaus üblich; vgl. Surtz/Hexter, 1965, S. 404; Lüsse, 1998, S. 64. Morus, 2005, S. 44; vgl. ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 73 f.; S. 108 f.
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messen an ihren tatsächlichen Bedürfnissen – zu viel besitzen und damit die existentielle Notlage ihrer ärmeren Mitbürger verursachen, empfinden aufgrund der ihren Seelen innewohnenden Gier zumindest subjektiv stets einen Mangel an materiellen Gütern und haben insofern letztendlich ebenfalls nicht genug. Hierbei ist ihre Einschätzung, wie Hythlodeus mehrfach andeutet, auch objektiv betrachtet keineswegs so unbegründet, wie es zunächst scheint. In einer Gesellschaft, die auf Gier und Egoismus basiert, in der es keine Solidarität gibt und in der der Mensch als Mensch nichts wert ist, hat angesichts der unvorhersehbaren Wechselfälle des menschlichen Lebens keiner in materieller Hinsicht genug, um sich auch nur annähernd sicher zu fühlen. Die Situation eines permanenten Verteilungskampfes korrumpiert hier langfristig alle oder zumindest nahezu alle Beteiligten und nötigt letztendlich sämtliche Mitglieder der Gesellschaft – auch jene, die sich aus persönlicher Überzeugung eigentlich von dem Prinzip der Gier distanzieren – dazu, mit rücksichtslosem Egoismus „für sich selbst [zu] sorgen“, wenn sie nicht gegebenenfalls „trotz noch so großer Blüte des Staates Hungers sterben wollen“²². Es entsteht eine Atmosphäre latenter existentieller Angst und universellen Misstrauens, der sich der Einzelne kaum entziehen kann, und eben jene allgegenwärtige Angst vor zukünftigem Mangel ist wiederum, wie Hythlodeus ausführt, die Hauptursache für die Fehlhaltung der Gier²³. Eine rein individualethische Betrachtung der Problematik erweist sich daher als unzureichend; wer das Phänomen der Gier wirklich begreifen und langfristig beseitigen will, muss auch die Interdependenz gesamtgesellschaftlicher und individueller Entwicklungen berücksichtigen. Die in den europäischen Staaten des 16. Jahrhunderts bestehende Gesellschaftsordnung begünstigt, ja provoziert geradezu die individuelle Fehlhaltung der Gier, die ihrerseits den unveränderten Fortbestand eben jener Gesellschaftsordnung gewährleistet. Angesichts dieses circulus vitiosus ist, wie Hythlodeus betont, eine echte Verbesserung der Situation nicht durch punktuelle Korrekturen, sondern nur durch eine grundsätzliche Reform möglich, die sowohl den Staat in seiner Gesamtheit als auch das einzelne Individuum in den Blick nimmt. Unter Beibehaltung der bisherigen, völlig verfehlten Zielsetzungen, Prinzipien und Wertmaßstäbe könnten hingegen bestenfalls deren gravierendste Konsequenzen gemildert werden, insgesamt bliebe die Lage desolat; eine Realisierung des publicum commodum, die den Staat erst als echte res publica legitimieren würde, wäre weiterhin ausgeschlossen²⁴.
Ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 44 f.
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Entscheidende und unverzichtbare Grundlage einer wahrhaft am Gemeinwohl orientierten Gesellschaftsordnung, die die Rahmenbedingungen für ein glückliches Leben aller Bürger zu schaffen vermag, ist nun, wie bereits angedeutet, Hythlodeus zufolge die aequalitas rerum, also die umfassende Gleichheit aller Bürger, die dem bislang dominierenden Prinzip der Gier als dem Streben nach fortwährender Steigerung der Ungleichheit entgegengestellt wird. Die Formulierung „rerum […] aequalitas“²⁵ wird in den deutschen Übersetzungen der Utopia häufig mit den Worten „Gleichheit des Besitzes“ wiedergegeben und somit auf eine rein ökonomische Dimension reduziert²⁶. Sprachlich ist diese Übersetzung natürlich durchaus vertretbar; sachlich erscheint sie jedoch sowohl im Hinblick auf die an Hythlodeusʼ Ausführungen anknüpfende Replik der Dialogfigur Thomas Morus als auch im Hinblick auf die im zweiten Buch geschilderte utopische Verfassung wenig angemessen. Die Dialogfigur Thomas Morus versteht den fraglichen Ausdruck „rerum aequalitas“ nämlich offenkundig in einem wesentlich umfassenderen Sinne, wenn sie diesbezüglich die Befürchtung äußert, „bei […] Menschen, zwischen denen es keinerlei Unterschied gibt“, werde die Autorität staatlicher Amtsträger schwinden²⁷. Diese Interpretation wird durch die später skizzierte Gesellschaftsordnung des utopischen Staates, die ausdrücklich als Exemplifikation des Prinzips der aequalitas rerum gedeutet wird, bestätigt. Die in der Yale Edition gewählte Übertragung „equality in all respects“ erscheint daher weitaus treffender und wird der Intention des Autors offenbar deutlich besser gerecht²⁸. Bei der aequalitas rerum handelt es sich also um eine umfassende Gleichheit, die insbesondere die Abschaffung des Privateigentums sowie die Aufhebung aller gesellschaftlichen Stände und Standesprivilegien impliziert. Ausgehend von der traditionellen und weithin anerkannten Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind, insofern sie Menschen sind und das gleiche telos anstreben, wird somit in Morusʼ Utopia erstmals mit bis dahin beispielloser Radikalität und Konsequenz die Forderung einer universellen ökonomischen, politischen und sozialen Gleichheit aller dem Staat angehörenden Menschen erhoben und begründet. Wie eine auf diesem Prinzip der aequalitas rerum basierende Gesellschaftsordnung konkret ausgestaltet werden kann, wird dann im zweiten Buch exemplarisch anhand der (fiktiven) Insel Utopia dargelegt, die Hythlodeus
Morus, 1965, S. 104. So z. B. in den Übersetzungen von Heinisch (Morus, 2005, S. 44) und von Ritter (Morus, 2012, S. 111). Morus, 2005, S. 46. Morus, 1965, S. 105.
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im Zuge seiner Reise in die Neue Welt entdeckt hat und auf der eine derartige, radikal egalitäre Gesellschaftsordnung bereits realisiert ist²⁹. Die utopische Verfassung ist ausschließlich auf die Verwirklichung des publicum commodum ausgerichtet; ihr alleiniges Ziel besteht, wie Hythlodeus expressis verbis betont, darin, „allen Bürgern möglichst viel Zeit von der körperlichen Fron für die Freiheit und Pflege des Geistes sicherzustellen“, da hierin auch nach Ansicht der Utopier „das Glück des Lebens [liegt]“³⁰. Bei der zu diesem Zweck als Prinzip der Gesellschaftsordnung zugrunde gelegten umfassenden Gleichheit handelt es sich – platonisch gesprochen – um die isotês geômetrikê, also um die geometrische oder proportionale Gleichheit, die „den Ungleichen jeweils das für sie naturgemäß Gleiche zukommen lässt“³¹. Bestimmte Unterschiede zwischen den Bürgern und zwischen Menschen überhaupt sind demnach nicht nur erlaubt, sondern sogar ausdrücklich geboten, wenn sie in Anbetracht der verschiedenen Bedürfnisse, Fähigkeiten oder Charaktereigenschaften der einzelnen Personen sachlich begründet und angemessen sind. Besonders bekannt und umstritten sind bis heute die ökonomischen Implikationen dieser umfassenden Gleichheit. In wirtschaftlicher Hinsicht wird das Prinzip der aequalitas rerum auf der Insel Utopia nämlich insbesondere durch eine völlige Gütergemeinschaft realisiert. Jegliches Privateigentum ist hier ebenso abgeschafft wie die Geldwirtschaft. Die vorhandenen materiellen Güter werden einfach bedarfsgerecht verteilt, wie Hythlodeus exemplarisch aus Amaurotum, der Hauptstadt der Insel Utopia, berichtet: Die ganze Stadt ist in vier gleich große Bezirke eingeteilt; in der Mitte jedes Bezirkes liegt der Markt für Waren aller Art. Dort werden in bestimmte Gebäude die Erzeugnisse aller Familien zusammengebracht, und die einzelnen Warengattungen werden gesondert auf die Speicher verteilt. Aus diesen wieder fordert jeder Familienälteste an, was er selbst und die Seinigen brauchen, und erhält ohne Bezahlung, überhaupt ohne jegliche Gegenleistung, alles, was er verlangt.³²
Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der gemeinsam erwirtschaftete Wohlstand allen Bürgern gleichermaßen zugutekommt, und „obwohl keiner etwas besitzt, sind doch alle reich“, denn jeder einzelne hat in materieller Hinsicht genug; er kann „jeder Sorge ledig, frohen und ruhigen Herzens leben […] ohne um sein tägliches Brot zu bangen […] [und] des eigenen Auskommens und Glückes
Vgl. Morus, 2005, S. 46 f. Ebd., S. 58. Pl. Lg. 757 d. Morus, 2005, S. 59.
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genauso sicher […] sein wie dessen aller seiner Angehörigen […] [z]umal nicht weniger für die gesorgt ist, die jetzt arbeitsunfähig sind […] als für die, die jetzt arbeiten“³³. Somit ist auf der Insel Utopia die erste der beiden zuvor skizzierten notwendigen Voraussetzungen für die Realisierung der Glück verheißenden vita contemplativa für alle Bürger erfüllt – und zwar nicht nur gegenwärtig, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit auch zukünftig, da es dem Einzelnen aufgrund der hier etablierten Gesellschaftsordnung an nichts Notwendigem fehlen wird, solange nur Wohlstand und Stabilität des Staates erhalten bleiben und „die öffentlichen Speicher gefüllt sind“³⁴. Die Utopier leben in materieller Sicherheit, soweit dies unter Berücksichtigung der conditio humana im irdischen Leben überhaupt möglich ist. Durch das Prinzip der umfassenden Gleichheit wird folglich auch die in den zeitgenössischen europäischen Staaten allgegenwärtige Angst vor zukünftigem Mangel beseitigt, sodass die Hauptursache für die Entstehung der Gier, die ihrerseits ein glückliches Leben unmöglich macht, entfällt. Zur Erwirtschaftung des materiellen Wohlstandes ist, wie bereits angedeutet, auch auf der sagenhaften Insel Utopia Arbeit erforderlich. Um auf diese Arbeit zu referieren, verwendet der Autor gemeinhin die Begriffe „opus“ und „labor“, die schon im klassischen Latein primär die „mechanische […] Arbeit der Handwerker, Tagelöhner [und] Sklaven“³⁵ sowie allgemein die zur Erreichung eines Ziels unumgängliche Anstrengung, Mühe und Strapaze³⁶ bezeichnen. Terminologisch hiervon abzugrenzen ist die andernorts geschilderte Tätigkeit der Gelehrten und Wissenschaftler, die in Morusʼ Werk ausdrücklich nicht als Arbeit bezeichnet wird, sondern eine vacatio, also eine Befreiung von opus und labor, impliziert³⁷. Da Arbeit nun einerseits die für eine Realisierung der vita contemplativa unverzichtbare Muße einschränkt, andererseits aber im Hinblick auf die hierfür ebenfalls unerlässliche materielle Sicherheit unvermeidlich ist, wird sie dem Prinzip der aequalitas rerum entsprechend auf der Insel Utopia allen Bürgern gleichermaßen zugemutet. Diese Regelung erscheint offensichtlich am fairsten. Neben der Landwirtschaft, in der alle unterwiesen werden, erlernt, wie Hythlodeus berichtet, „jeder noch irgendein besonderes Handwerk; das ist in der Regel die Tuchmacherei, die Leineweberei oder das Maurer-, Schmiede-, Schlosser- oder Zimmermannsgewerbe. Es gibt nämlich sonst kein anderes Handwerk, das dort eine nennenswerte Anzahl von Menschen beschäftigte.“³⁸ Eine Berufsausbildung er-
Ebd., S. 106 f. Ebd., S. 106. Menge, 1988, S. 102. Vgl. ebd.; Georges, 1998, Bd. 2, S. 519 f. Vgl. Morus, 1965, S. 130. Morus, 2005, S. 54.
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halten „nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen; diese betreiben jedoch als die Schwächeren nur leichtere Gewerbe“³⁹. Zudem besteht auf der Insel Utopia eine allgemeine Arbeitspflicht; alle arbeitsfähigen Utopier müssen täglich die gleiche, staatlich festgelegte Anzahl von Stunden der handwerklichen Arbeit widmen, um die ökonomische Basis des Staates zu gewährleisten. Hiervon ausgenommen sind lediglich die gewählten Amtsträger, die offenbar während der üblichen Arbeitszeit ihre Amtspflichten erfüllen – und die, falls möglich, häufig sogar freiwillig auf den ihnen erteilten Dispens verzichten, um für ihre Mitbürger als gutes Vorbild zu fungieren –, sowie die litterati, also die Gebildeten, Gelehrten oder Wissenschaftler, „denen […] das Volk […] dauernde Arbeitsbefreiung zum gründlichen Studium der Wissenschaften gewährt“⁴⁰. Insgesamt sind somit Hythlodeus zufolge in einer bevölkerungsreichen Großstadt wie Amaurotum „von der Gesamtzahl der Männer und Frauen, die ihrem Lebensalter und Gesundheitszustand nach arbeitsfähig sind, kaum fünfhundert Menschen von der Arbeit freigestellt“⁴¹. Anders als in den zeitgenössischen europäischen Staaten dient Arbeit daher auf der Insel Utopia „nicht der Hierarchisierung der Gesellschaft“⁴². Die Verpflichtung zur Arbeit ist hier (nahezu) allen Bürgern auferlegt; die wenigen temporären oder dauerhaften Befreiungen von dieser Pflicht sind im Hinblick auf das publicum commodum sachlich begründet und unmittelbar nachvollziehbar. In Anbetracht dessen verliert die Arbeit in der utopischen Gesellschaft das Stigma des Entwürdigenden, das ihr in Europa seit der klassischen Antike vielfach anhaftet⁴³. Sie wird vielmehr, wie Lüsse treffend konstatiert, „zu einer moralischen Größe aufgewertet“⁴⁴. Da dem Prinzip der aequalitas rerum folgend alle Utopier gleichermaßen an dem materiellen Wohlstand des Staates partizipieren und auch bei der Verteilung der Arbeit niemand bevorzugt oder benachteiligt wird, hat – und empfindet in der Regel auch – jeder Einzelne neben der gesetzlichen Verpflichtung die moralische Pflicht, seinen jeweiligen Fähigkeiten entsprechend nach besten Kräften zu der Erwirtschaftung dieses Wohlstandes beizutragen. Der Fleiß im Sinne der freudigen Bereitschaft, seiner diesbezüglichen Verantwortung gerecht zu werden und im Interesse des Gemeinwohls Mühen und Anstrengungen auf sich zu nehmen, ist in der utopischen Gesellschaft hoch angesehen und weit
Ebd. Ebd. S. 57; vgl. ebd., S. 54– 58. Ebd., S. 56 f. Lüsse, 1998, S. 65. Vgl. Hauck, 1950, S. 586 – 588; Chenu, 1971, S. 481. Lüsse, 1998, S. 65; vgl. Surtz/Hexter, 1965, S. 386: „honor of labor“.
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verbreitet⁴⁵. Allgemein verachtet wird hingegen dementsprechend – bezeichnenderweise sogar in der Freizeit – die Faulheit, die, wenn sie zur Verweigerung der geschuldeten Arbeit führt, hart bestraft wird; ganz im Geiste des paulinischen Diktums „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ bleibt jeder, der seine tägliche Arbeitspflicht ohne legitimen Grund nicht erfüllt, rigoros von der zuvor skizzierten Güterverteilung ausgeschlossen⁴⁶. Ungeachtet ihrer unbestreitbaren Aufwertung ist die Arbeit auf der Insel Utopia jedoch ebenso wie der daraus resultierende materielle Wohlstand stets und ausschließlich ein Mittel zum Zweck. Das Ziel des utopischen Staates besteht nicht darin, durch immer mehr Arbeit einen Überfluss an materiellen Gütern zu generieren und im Luxus zu schwelgen. Es besteht darin, unter anderem durch effiziente Arbeit optimale Rahmenbedingungen für die vita contemplativa zu schaffen und jedem Einzelnen das unter Berücksichtigung profaner, unabweisbarer Notwendigkeiten mögliche Höchstmaß an Zeit für seine individuelle geistige Entfaltung zur Verfügung zu stellen. Daher werden Konsum und Produktion hier auf das für ein maßvolles, bescheidenes und an den natürlichen Bedürfnissen des Menschen orientiertes Leben Erforderliche beschränkt. Verbunden mit der auf dem Prinzip der umfassenden Gleichheit basierenden allgemeinen Arbeitspflicht ermöglicht dies die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal sechs Stunden. Diese äußerst geringe Arbeitsbelastung lässt jedem Utopier ausreichend Muße „für die Freiheit und Pflege des Geistes“⁴⁷. Somit ist auch die zweite der beiden zuvor genannten notwendigen Voraussetzungen für die Realisierung der vita contemplativa auf der Insel Utopia für alle Bürger erfüllt. Mit der umfassenden ökonomischen Gleichheit ist in der utopischen Gesellschaft eine ebenso universelle politische Gleichheit verbunden; insofern erweist sich die Insel Utopia als analog gestaltetes Gegenbild zu den zeitgenössischen Staaten Europas. Da, wie allgemein anerkannt wird, alle Menschen gleichermaßen vernunftbegabt sind, ist hier grundsätzlich kein Bürger von der politischen Partizipation ausgeschlossen⁴⁸; Herrschaft in jeder Form bedarf der Legitimation Vgl. Morus, 2005, S. 46; S. 54 f.; S. 106. 2. Thess. 3, 10; vgl. Morus, 2005, S. 54 f.; S. 63; Hauck, 1950, S. 588 f. Morus, 2005, S. 58; vgl. ebd., S. 54– 58. Dem Konzept der geometrischen Gleichheit entsprechend kann ein Utopier allerdings seine bürgerlichen Rechte verlieren, wenn er aufgrund schwerwiegender charakterlicher Defizite als ungeeignet betrachtet wird, für das Gemeinwesen Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt zum einen für jene Personen, denen nach Begehung einer entsprechend gravierenden Straftat neben ihren Bürgerrechten auch ihre persönliche Freiheit entzogen wird und die zur Strafe zu Sklaven erklärt werden, und zum anderen für Menschen, die sich nicht zu einem im weitesten Sinne religiösen Weltbild bekennen und die deshalb als moralisch unzuverlässig und geistig umnachtet eingeschätzt werden (vgl. Morus, 2005, S. 83 f.; S. 98 f.).
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durch das Volk. Das von Hythlodeus skizzierte politische System des utopischen Staates entspricht in seinen Grundzügen einer repräsentativen Demokratie; sämtliche Amtsträger werden in freien und geheimen Wahlen mittelbar oder unmittelbar durch das Volk bestimmt⁴⁹. Hierbei verfügen offenbar alle Bürger über das aktive Wahlrecht, und das passive Wahlrecht für die niedrigeren Staatsämter kommt ebenfalls allen Utopiern gleichermaßen zu. Das passive Wahlrecht für die höheren Staatsämter ist hingegen den litterati vorbehalten, wie Hythlodeus berichtet: „Aus diesem Stande der wissenschaftlich Gebildeten werden die Gesandten, die Priester, die Traniboren gewählt, und schließlich auch der Staatspräsident selbst, den sie in ihrer älteren Sprache ‚Barzanes‘, in der neueren ‚Ademos‘ nennen.“⁵⁰ Diese Einschränkung entspricht dem Konzept der geometrischen Gleichheit, da sie aufgrund der individuell verschiedenen Qualifikation der Bürger erfolgt und da über die Zugehörigkeit eines Menschen zum Stand der litterati wiederum mittelbar das gesamte Volk entscheidet⁵¹. Auch über die Wahlen und die Übernahme staatlicher Ämter hinaus wird auf der Insel Utopia die umfangreiche politische Partizipation aller Bürger bewusst gefördert. Ermöglicht wird dies durch die äußerst dezentrale Struktur des Staates, der aus 54 weitgehend selbständigen, zu einer Föderation zusammengeschlossenen Stadtstaaten besteht⁵². Insbesondere bei grundlegenden Entscheidungen ist die aktive Beteiligung aller Utopier an der politischen Willensbildung verpflichtend vorgeschrieben und die im Europa des 16. Jahrhunderts übliche Geheimdiplomatie ist generell strikt verboten, damit eine angemessene Transparenz politischer Prozesse sichergestellt ist, „das Volk nicht Gefahr läuft, durch eine Verschwörung des Staatsoberhaupts mit den Traniboren von einem Gewaltherrscher unterdrückt zu
Vgl. Morus, 2005, S. 53; S. 101; Surtz/Hexter, 1965, S. 398: „Utopia is a representative democracy with free elections.“ Für einen detaillierten Überblick über die politischen Institutionen der Utopier – sowie auch über ihr Arbeits- und Privatleben, ihr Bildungssystem und ihre sonstigen Einrichtungen und Gewohnheiten – möchte ich an dieser Stelle auf den von Christof Neumann und mir selbst erstellten und im Zuge der Ausstellung „Reif für die Insel? 500 Jahre Utopia“ im Jahr 2016 präsentierten interaktiven ‚Rundgang‘ über die Insel Utopia verweisen, der jetzt unter folgendem Link zugänglich ist: https://www.ulb.hhu.de/die-bibliothek/ausstellungen-events/vorort-ausstellungen/utopia. Morus, 2005, S. 57. Ob die genannten Regelungen bezüglich des Wahlrechts in vollem Umfange auch für Frauen gelten, ist dem Text nicht klar zu entnehmen. Ausdrücklich erwähnt werden einige Frauen, die höhere Staatsämter bekleiden und somit offensichtlich auch dem Stand der litterati angehören (vgl. Morus, 2005, S. 102); abgesehen hiervon sind Hythlodeusʼ Angaben aber zu spärlich und zu unpräzise, um detaillierte Aussagen über die politischen Rechte der Frauen zu ermöglichen. Vgl. Morus, 2005, S. 49.
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werden, und damit die Staatsverfassung nicht geändert wird“⁵³. Die umfassende politische Gleichheit dient somit insbesondere dem Schutz des utopischen Staates vor einer Depravation durch einzelne, dem Laster der Gier verfallene Amtsträger. Als negatives Beispiel hat der Autor hier wohl das Fehlverhalten der zeitgenössischen europäischen Eliten vor Augen, das die Staaten – Hythlodeus‘ Urteil zufolge – zu einer „Art von Verschwörung der Reichen“ gemacht hat⁵⁴. Der philosophisch versierte Leser wird sich angesichts dessen unweigerlich an das schon von Aristoteles zugunsten demokratischer Regierungsformen vorgebrachte Argument erinnert fühlen, dass „[w]ie eine größere Menge Wasser, so […] auch die Volksmenge schwerer verderbbar [ist] als die Wenigen“⁵⁵. Besonders signifikant und im Hinblick auf das Staatsziel von höchster Wichtigkeit ist schließlich die umfassende „Chancengleichheit in der Bildung“, die auf der Insel Utopia realisiert ist⁵⁶. Wenn „das Glück des Lebens“ für den Menschen in seiner geistigen Entfaltung respektive der vita contemplativa liegt, muss ein wahrhaft am Gemeinwohl orientierter Staat allen Bürgern und Bürgerinnen gleichermaßen den Zugang zu Bildung ermöglichen⁵⁷. Frauen sind hierbei dem Konzept der geometrischen Gleichheit folgend auf der Insel Utopia tatsächlich völlig gleichberechtigt, weil sie sich hinsichtlich der diesbezüglich allein relevanten Vernunftbegabung nicht von ihren männlichen Mitbürgern unterscheiden – ein im 16. Jahrhundert durchaus revolutionärer Gedanke, der jedoch der tiefsten, persönlichen Überzeugung des Autors entspricht. In einem an William Gonell, den Tutor seiner Kinder, gerichteten Brief, den Heinrich als „eine beeindruckende Apologie der weiblichen Bildung“⁵⁸ bezeichnet, erklärt Morus im Hinblick auf die Frage, ob Männer und Frauen sich gleichermaßen wissenschaftlichen Studien widmen sollten: „Quorum utrique si hominis vocabulum conveniat, cuius naturam ratio distinguit a beluis, utrique inquam ex aequo convenit peritia literarum qua ratio colitur.“⁵⁹ In seinem eigenen Haushalt lässt er dementsprechend Mädchen wie Jungen eine profunde, an dem Bildungsideal der Utopia orientierte Erziehung zuteilwerden; seine älteste Tochter Margaret hat
Ebd., S. 53. Ebd., S. 108. Arist. Pol. 1286 a. Lüsse, 1998, S. 63. Morus, 2005, S. 58. Heinrich, 1984, S. 37. „They both have the name of human being whose nature reason differentiates from that of beasts; both, I say, are equally suited for the knowledge of learning by wich reason is cultivated.“ (Morus, 1970, S. 122 f.).
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hiervon als erste profitiert und ist daher auch bisweilen „die erste Bürgerin Utopias“ genannt worden⁶⁰. Auf der Insel Utopia wird nun der freie, gleiche Zugang zu Bildung für alle Bürgerinnen und Bürger zunächst durch eine allgemeine Schulpflicht sichergestellt. Die in den Schulen erfolgende Erziehung ist ethisch fundiert; die Sorge der Lehrer gilt, wie Hythlodeus betont, „ebenso der sittlichen Betreuung wie der wissenschaftlichen Ausbildung“ der Schüler⁶¹. Die jungen Menschen erhalten hier somit eine Anleitung zum Erwerb der Tugenden und zur Entwicklung einer sittlich gefestigten Persönlichkeit, die sowohl dem Individuum als auch dem Staat in seiner Gesamtheit den bestmöglichen Schutz vor der zerstörerischen Fehlhaltung der Gier bietet und daher für eine dauerhafte Realisierung der Glück verheißenden vita contemplativa unerlässlich ist. Zudem werden „alle Kinder in die Wissenschaften eingeweiht“⁶². Später werden dem Konzept der geometrischen Gleichheit entsprechend die jeweils begabtesten Utopier mittelbar durch das Volk ausgewählt und dauerhaft von der Arbeit (im Sinne von labor und opus) freigestellt, um sich – auch zum Wohle des Staates – ganz den Wissenschaften zu widmen. Diese Männer und Frauen bilden den Stand der litterati, also der Gebildeten oder der Wissenschaftler. Die litterati könnten nun in gewisser Hinsicht durchaus als privilegiert erscheinen, da es ihnen vergönnt ist, die vita contemplativa gleichsam ‚beruflich‘ zu realisieren. Auch sie müssen jedoch wie alle anderen Bürger einen Teil ihrer Muße im Interesse der Gemeinschaft und des publicum commodum opfern. Zum einen obliegt ihnen die Pflicht, die zuvor genannten höheren Staatsämter zu übernehmen, wenn sie hierfür ausgewählt worden sind; die Möglichkeit, eine solche Wahl abzulehnen, wird nicht erwähnt und besteht somit offenbar nicht. Zum anderen sind sie verpflichtet, „täglich in den frühen Morgenstunden öffentliche Vorlesungen zu halten“, damit auch all jene Menschen, deren spezielle Begabung nicht unbedingt akademischer Natur ist und die deshalb nicht dem Stand der litterati angehören, im Sinne der geometrischen Gleichheit zumindest in dem ihren jeweiligen Fähigkeiten entsprechenden Umfang an wissenschaftlichem Diskurs und philosophischer Reflexion partizipieren können⁶³. Durch die geringe Arbeitsbelastung in den handwerklichen Berufen verfügt hier jeder über genügend Muße, um sich seinen Interessen entsprechend weiterzubilden und sich geistig zu entfalten, und tatsächlich nutzt auf der Insel Utopia, wie Hythlodeus berichtet, „ein großer Teil des Volkes,
Heinrich, 1984, S. 37. Morus, 2005, S. 102; vgl. ebd., S. 68. Ebd., S. 68. Ebd., S. 55.
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Männer wie Frauen […] zeitlebens [seine Freizeit] zu wissenschaftlicher Beschäftigung“ und Kontemplation⁶⁴. Die radikal egalitäre, konsequent auf dem Prinzip der umfassenden Gleichheit basierende Gesellschaftsordnung macht somit das klassische Ideal der vita contemplativa allen Bürgern in dem ihren individuellen Fähigkeiten entsprechenden Grad zugänglich und gewährleistet damit die Realisierung des publicum commodum, die den Staat erst legitimiert. Jeder einzelne Bürger hat hier nach menschlichem Ermessen die bestmöglichen Chancen, glücklich und zufrieden zu werden, also alle elementaren menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen und wahrhaft genug zu haben, soweit dies im irdischen Leben möglich ist, während eine auf dem Prinzip der Gier basierende Gesellschaftsordnung allen Beteiligten, sogar ihren vermeintlichen Profiteuren, nur schadet und letztendlich alle unglücklich macht. Ein auf dem Prinzip der aequalitas rerum basierender Staat ist folglich für alle besser, nicht etwa nur für die Armen. Wenn sich diese Einsicht einst durchsetzen sollte, dann wäre Hythlodeusʼ Reformvorschlag mit Leichtigkeit zu realisieren. Dass dies geschieht, betrachtet die Dialogfigur Thomas Morus als äußerst unwahrscheinlich und charakterisiert dementsprechend die Verwirklichung der utopischen Verfassung in einem zeitgenössischen europäischen Staat eher als frommen Wunsch denn als begründete Hoffnung⁶⁵. Im 16. Jahrhundert hat sich diese Einschätzung als uneingeschränkt zutreffend erwiesen. Und heute? Nun ja: Die politische Gleichheit aller Bürger wird in den Konstitutionen der modernen europäischen Demokratien umfassend gewährleistet. Auch der gleiche, freie Zugang zu Bildung ist im heutigen Europa als Grund- und Menschenrecht garantiert und in ökonomischer Hinsicht wird zumindest das allen Menschen gleichermaßen zukommende Recht auf einen der menschlichen Würde angemessenen Lebensstandard als Menschenrecht anerkannt. Würde Hythlodeus also heute noch einmal nach Europa zurückkehren, dann müsste er wohl – bei aller durchaus möglichen und auch berechtigten Kritik – zugeben, dass wir uns verglichen mit den Verhältnissen des 16. Jahrhunderts den Einrichtungen der sagenhaften Insel Utopia partiell angenähert haben. Vermutlich würde er diese Veränderungen jedoch eher als punktuelle Korrekturen denn als grundsätzliche Reform werten und uns den Vorwurf der Halbherzigkeit machen, da das Prinzip der Gier, des stetigen Mehr-Haben-Wollens, zumindest in ökonomischer Hinsicht und häufig auch darüber hinaus noch immer maßgebend ist – mit all seinen zuvor skizzierten, damals wie heute deutlich sichtbaren, zerstörerischen Konsequenzen. Ganz in seinem Sinne hat ein moderner Nachfahre
Ebd. S. 68 f. Vgl. ebd., S. 108 – 110.
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des Raphael Hythlodeus, der Düsseldorfer Kabarettist Volker Pispers, daher einmal gesagt, auf dem Grabstein des Kapitalismus werde dereinst stehen: „Zuviel war nicht genug!“⁶⁶
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So beispielsweise in seinem Bühnenprogramm „… bis neulich 2010“ im Pantheon-Theater Bonn im Mai 2010.
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Baruch de Spinoza zwischen Realismus und Utopie Universitäten, die auf Staatskosten gegründet werden, werden weniger zur Ausbildung als zur Einschränkung der Talente errichtet. In einer freien Republik hingegen werden Wissenschaft und Kunst am besten gedeihen, wenn jedem, der darum nachsucht, die Erlaubnis erteilt wird, öffentlich zu lehren, und zwar auf eigene Kosten und mit Gefahr seiner Reputation. (Spinoza, TP VIII/49)¹
I Einleitung Der Politische Traktat oder Tractatus politicus, das letzte, unvollendete Werk Baruch de Spinozas (1632 – 1677), beginnt mit einer Kritik an denjenigen Philosophen, welche „gelernt haben, eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie wirklich ist, herunterzureden“ (TP I/1). Dass damit die Verfasser der utopischen „Staatsromane“ (Robert von Mohl) nicht nur der Sache nach („nirgendwo“), sondern wortwörtlich gemeint sind, stellt der Autor als Folge dieses verfehlten Menschenbildes dar: und so ist es gekommen, daß sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe; produziert haben sie nur etwas, das als eine Chimäre anzusehen ist oder das man in Utopia oder in jenem goldenen Zeitalter der Dichter […] hätte errichten können. (TP I/1)
Spinozas Anliegen ist daher strikt anti-utopisch einzuordnen, er will keine Utopie, sondern eine Theorie der Politik entwerfen, die realistischen Ansprüchen genügt. Einen Autor besser verstehen zu wollen, als dieser sich selbst versteht; dieser hermeneutische Anspruch soll hier am Beispiel Spinozas vorgeführt werden: Es gilt, dasjenige utopische Moment an seinem politischen Denken freizulegen, das keineswegs, wie der Eingangsparagraph des Traktats glauben machen will,
Spinozas Werke werden wie folgt im Fließtext zitiert: TP = Tractatus politicus; I, II, III etc. = Kapitel I, II, III etc.; /1, /2, /3 etc. = § 1, § 2, § 3 etc. E = Ethica more geometrico demonstrata; 1, 2, 3 etc. = pars I, pars II, pars III etc.; p1, p2 etc. = Propositio I, II etc.; d1, d2 etc. = Demonstratio I, II etc.; s1, s2 etc. = Scholium I, II etc.; praef = Praefatio. Für den Tractatus politicus werden auch die übersetzungsgeschichtlich relevanten Bezeichnungen Politischer Traktat oder Politische Abhandlung verwendet, für die Ethica dagegen einzig Ethica, um der Verwechslungsgefahr von Textkorpus und Sachgebiet (Ethik) vorzubeugen. https://doi.org/10.1515/9783110756944-007
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gänzlich außen vor gelassen wird, obwohl es der Autor nach eigenem Bekunden aus seinem Denken so vollständig verbannt hat, dass es keiner weiteren als einer polemischen Erwähnung bedarf. Ich werde zeigen, dass Spinoza seine politische Theorie zwischen die Pole Realismus und Utopie einspannt, dem Utopischen eine maßgebliche Funktion für das Gesamtkonzept nicht abzusprechen ist, wobei einerseits die Staatsphilosophie des Hauptwerks (III), andererseits deren genauere Ausarbeitung in der Spätschrift (IV) im Zentrum stehen. Zuvor sind einige Erläuterungen zum zeit- und ideengeschichtlichen Umfeld des Politischen Traktats hinsichtlich der utopischen Staatsentwürfe angebracht (II).
II Der Tractatus politicus im Kontext utopischer Staatsentwürfe Gerade einmal 160 Jahre trennen die Niederschriften der Utopia durch Thomas Morus und der Politischen Abhandlung Spinozas voneinander. Es nimmt daher nicht staunenswert aus, dass Spinoza in dem eben angeführten Zitat die Utopie als den Ort, der nirgends ist, mit der Chimäre, d. h. einem selbstwidersprüchlichen Wesen gleichsetzt. Dieser Kontext markiert die erste Rezeptionsphase des Moreschen Neologismus.² Die Utopie verknüpft sich von Beginn an mit der Vorstellung eines idealen Gemeinwesens, eines besten Staates, bereits im Titel des Moreschen Gründungswerkes De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia. ³ Einen solchen besten Staat gedanklich zu konstruieren, steht im Mittelpunkt der spinozischen Abhandlung. Denn der beste Staat ist nach Spinoza der, welcher seinen Bürger ein Maximum an Sicherheit bietet. Demgemäß ist es Spinoza darum zu tun, die Staatsgeschäfte so zu entwerfen, „daß diejenigen, die sie verwalten, seien sie dabei von der Vernunft oder von einem Affekt geleitet, gar nicht dahin gebracht werden können, sich unredlich zu geben oder schlecht zu handeln“ (TP I/6). Im Voraus sei bemerkt, dass die Dichotomie von vernunft- vs. affektgesteuertem Handeln diejenige ist, die die Abhandlung in das Spannungsfeld von Realismus und Utopie steuert. Im zweiten und dritten Abschnitt wird dies anhand des gleichzeitigen Unterscheidens und In-Beziehung-Setzens von ethischem und politischem Spinoza, von Theorie und Fakt ausgeführt. Zuvor seien noch zwei weitere, als wesentlich zu erachtende Aspekte utopischen Philosophierens genannt, die Spinozas Text mit den klassischen Utopien teilt.
Vgl. Dierse, 2001, Sp. 512; Hölscher, 1990, S. 745. Vgl. Garber, 1990, S. 679.
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Erstens drängt es den Autor in den materiellen Teilen zur Quantifizierung. Für den besten aristokratisch regierten Staat gibt er beispielsweise genaue Proportionen an, die das Verhältnis der Patrizier zur Menge, zu den Syndici oder zu den Senatoren betreffen (TP VIII/11,VIII/13,VIII/22,VIII/30).⁴ Spinoza bezeichnet diese Quantitätsbestimmungen sogar als das „wichtigste Gesetz dieses Staates“ (TP VIII/13). Einem Befund Julien Freunds zufolge steckt die Utopie in der Zahl, gelten quantitative Gesetzmäßigkeiten als sicheres Fundament, auf dem sich der utopische Staat aufbauen lässt: „Das ist ebenso offensichtlich bei Plato wie bei Morus, Fourier, Enfantin oder Cabet.“⁵ Spinoza setzt da auf Quantitäten, wo er Qualitäten misstraut, nämlich in den menschlichen Verhältnissen. Denn es sind die Affekte, die jedem Menschen eine andere Qualität verleihen, wohingegen die Vernunft auf das zielt, worin alle übereinkommen. Die Affekte bringen die Einzelnen zueinander in Gegensatz, sie provozieren den Konflikt, während die Vernunft dasjenige fokussiert, was allen gleichermaßen nützlich ist (TP I/5, II/5 – 6, II/14). Die qualitativen Differenzen einzudämmen, zu kalmieren, ist die Funktion der Proportionalverhältnisse. Zum Zweiten: Die Utopie etabliert den Vorrang der Institution vor der Person. Selbigen Gedanken findet man im Tractatus politicus verwirklicht, er macht sogar den weitaus größten Teil des Textes aus, in dem Spinoza die Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie institutionell formt, wobei auch hierbei die Diskussion teilweise eine Genauigkeit erreicht, die man als pedantisch bezeichnen könnte (TP VI-XI). Der Vorrang der Institution ergibt sich aus ihrer Fähigkeit zur Formierung. Nicht nur Formierung von Regeln, Mustern, Verhaltensweisen, sondern darüber vermittelt der Person selbst. Die Institution greift in die Gesinnung ein. Thomas Nipperdey stellt einen Zusammenhang von institutioneller und personeller Gerechtigkeit her, der spinozistisch anmutet: „Wenn die Ordnung gerecht ist, wird der Einzelne gerecht sein, wenn die Ordnung ungerecht ist, muß der Einzelne ungerecht werden, kann er nicht gerecht bleiben.“⁶ Im Fall Spinozas geben ein weiteres Mal die beiden Pole Affekt und Vernunft den Hintergrund folgender Überlegung ab: Weil alles, was es gibt, gleichermaßen in der Natur ankert, kann der Autor „keinen Unterschied zwischen Begierden, die der Vernunft [entspringen], und solchen, die aus anderen Gründen in uns entstehen, gelten lassen“ (TP II/5). Darüber, ob die Menschen sich von vernünftigen Überlegungen statt von ihren Affekten leiten lassen, kann die Philosophie keine Auskunft geben, sie kann nur vermuten, dass dieser Fall der unwahrscheinlichere
Vgl. Bartuschat, 2014, S. 124, der von Spinozas „mathematischer Pedanterie“ spricht. Freund, 1967, S. 102. Nipperdey, 1962, S. 373 f.
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als der umgekehrte ist, und sie kann sich diese Vermutung von der Erfahrung bestätigen lassen.⁷ Was sie weiterhin kann, ist Institutionen zu entwickeln, die die Einzelnen in einen Zusammenhang einbinden, der so beschaffen ist, dass er sich erhält und stabil bleibt, selbst wenn die Mehrzahl derer, die in ihn eingeht, seiner Gefühle nicht Herr ist. Spinoza will gewissermaßen den seit Polybios und Aristoteles – und durch Niccolò Machiavelli, den Spinoza studiert hat – bekannten Kreislauf der Verfassungen stillstellen. Den seit der römischen Geschichte bekannten Problemen, die mit der Verleihung von Posten auf Lebenszeit verbunden sind, sucht Spinoza auf dem Weg von Rotationsprinzipien und einer Verteilung der Kompetenzen auf eine angemessen große Zahl von Köpfen zu begegnen (TP VII/13 – 14). Nicht nur die politische, auch die ökonomische Verfassung des Staates gerät ins Blickfeld: Gegen die mit wirtschaftlichem Aufschwung einhergehende Gefahr des anschließenden Abschwungs, gemeinhin bekannt als Dekadenz, argumentiert der Autor mit „Gewinnsucht“ an, hinter der sich die Logik des freien Marktes verbirgt (TP X/5 – 6). Da Dekadenz als Effekt von Affekten interpretiert wird, nimmt Spinoza Bernard de Mandevilles berühmte Bienenfabel vorweg.⁸ Die Institution ist derart klug einzurichten, dass die Motivationsgrundlage, also die Frage rational oder emotional, keine Rolle mehr spielt. So weit wie Nipperdey, der den innersten Kern der Person vom institutionellen setting durchformt sieht, geht Spinoza allerdings nicht, wenn er bemerkt, dass z. B. die Räte aus „Männern, die schon ein Alter erreicht haben, in dem man zumeist das Alte und Bewährte dem Neuen und Gefährlichen vorzieht“, auszuwählen seien (TP VII/17). Soweit die Übereinstimmungen des spinozanischen Textes mit der utopischen Tradition. Der Unterschiede sind mehrere: Zuerst fehlt bei Spinoza jeglicher geographische Bezug, wie er die klassischen insularen Utopien auszeichnet. Entsprechend grenzt Nipperdey drei Phasen der Utopieproduktion voneinander ab: Eine erste Phase der Utopie als Wunsch-Raum von einer zweiten der WunschZeit, deren Zeithorizont als potentiell offener allerdings in einer dritten Phase geschichtsphilosophisch überdeterminiert wird. In dieser letzten Phase zerstört sich das utopische Element selbst, indem es in den eschatologischen Messianismus überzeichnet. Das Defizit geographischer Bezüge rückt den Tractatus Politicus in die Nähe der Utopien der zweiten Phase, lebt er doch aus dem uto-
TP I/4: „Als ich mich daher mit der Politik beschäftigt habe, war es meine Absicht, nicht irgend etwas Neues und bis jetzt noch Unbekanntes [zu entwerfen], sondern lediglich das, was mit der Praxis am vorzüglichsten übereinstimmt, auf sichere und zweifelsfreie Weise zu beweisen, nämlich so, daß ich es aus der Verfaßtheit der menschlichen Natur, wie sie tatsächlich ist, herleite.“ Dazu Walther, 1998, S. 295. Vgl. Lauermann, 2005, S. 199 f.
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pischen Geist eines „freien Zukunftsentwurf[s]“.⁹ Zu berücksichtigen ist allerdings die ideengeschichtliche Verschiebung weg von der geographischen, hin zu der abstrakt-allgemeinbegrifflichen Utopie.¹⁰ Zu den Ursachen, welche das Ende der ‚alten‘, geographischen Utopien eingeläutet und den Aufschwung der ‚neuen‘, programmatischen Utopien vorangetrieben haben, zählt der Historiker Reinhart Koselleck die nautische Erkundung der letzten unbekannten Flecken der Erde in der Neuzeit. Die terra incognita schwand dahin. Der Mensch war überall, wenigstens als Entdeckungsreisender. Es gab schlicht nichts mehr zu entdecken, für perfekte Staatswesen war auf den lückenlos kartographierten Weltmeeren keine freie Stelle mehr auszumachen.¹¹ Der Soziologe Niklas Luhmann unterstellt der klassischen Utopie dagegen, an der eigenen Paradoxieträchtigkeit zugrunde gegangen zu sein, „nämlich als Beschreibung eines Ortes, der nirgendwo existiert. […] Die Politik der Nichtintervention in die Politik war offenbar nicht durchzuhalten. Die politische Argumentation mit einem nur fingierten commonwealth wird abgelehnt“¹². Außerdem sieht er die Auflösung gesellschaftlicher Stratifikation und des feudalistischen Patronagesystems, begleitet vom Aufstieg der Bürokratie und der Bildungseinrichtungen, kurz: den Wechsel von ascription (Status) zu achievement (Leistung) als Hintergrundbedingung dafür, dass die klassische Utopie der ersten Phase sich überlebt.¹³ Die gesellschaftliche Realität zeichnet sich in der Moderne dadurch aus, „Momente des Utopischen in das am Staat orientierte politische System selbst“ einzubauen.¹⁴ Eine Utopie wie die Moresche, die die Missstände im realen britischen Königreich im gleichen Maße im Blick hatte wie die glückselige Phantasieinsel selbst, verliert im Wohlfahrtsstaat ihren Gegenpart. Um die Feststellung der Durchmischung expliziter, d. h. räumlicher Utopien, mit impliziten, die zumeist im Gewand politischer Abhandlungen daherkommen, kommt der Utopieforscher nicht umhin.¹⁵ Dementsprechend fallen auch andernorts die Befunde aus: Der vorgegebene enge Rahmen des Utopiebegriffs wird ständig von der Vielfalt seiner Ausformungen durchbrochen, eine Erweiterung des Utopiebegriffs wird daher eingefordert, selbst wenn eine der Vielgestalt des utopischen Textvorrats gerecht werdende Phänomenbestimmung nicht in Sicht
Nipperdey, 1962, S. 365 – 368. Vgl. Hölscher, 1990, S. 752– 764. Vgl. Koselleck, 1982, S. 2 f. Luhmann, 1995b, S. 123 f. Vgl. ebd., S. 124 f. Ebd., S. 126. Hölscher, 1990, S. 747; S. 755 f., am Beispiel von Mores Utopia, Thomas Hobbesʼ Leviathan und James Harringtons Oceana.
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ist.¹⁶ Der nachfolgende zweite und dritte Teil drehen sich daher nicht mehr um die Fragen, ob und inwiefern oder bis zu welchem Grad Spinozas Politik-Theorie dem utopischen Genre zuzurechnen ist, sondern um das bereits wiederholt annoncierte Spannungsfeld zwischen realistischem und utopischem Pol, das hier titelgebend fungiert.
III Die Staatsphilosophie der Ethica Will man Spinozas Denken des Politischen in seinem Kontext verstehen, empfiehlt sich zumeist ein Blick in sein Hauptwerk Ethica, das auch der Traktat eingehend erwähnt (TP I/5). Nun steht die Ethica in der Tradition der von der Antike über die Renaissance tradierten Klugheitslehre und ist entsprechend egologisch verfasst. Spinoza nimmt darin den Einzelnen in Hinsicht auf die ihn determinierenden Umweltfaktoren ins Visier, andere Einzelne kommen nicht als solche in Betracht, d. h. es fehlt ein anderer, der zugleich doppeltkontingenter¹⁷ Alter Ego ist und sich in diesem Sinne von einem Berg oder der Gravitationskraft unterscheidet. Eine Ausnahme erlaubt sich der Text: Der 37. Lehrsatz des vierten Buches, dem Alexandre Matheron besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Hierin thematisiert Spinoza erstmalig Geselligkeit und Gemeinschaftsbildung im Rahmen seines Hauptwerks. Nicht zufällig findet sich die Anmerkung im vierten Buch, dessen Vorwort die Vollkommenheit zum Gegenstand hat, einen Sachbereich also, der in den des besten Staates, den man auch als vollkommensten Staat bezeichnen könnte, hineinreicht. Spinoza diagnostiziert, dass der Sprachgebrauch, etwas vollkommen oder unvollkommen zu nennen, einzig und allein an allgemeinen Musterbildern hängt, die die Menschen gewohnheitsmäßig ausgebildet haben und die ihnen als Vergleichsmaßstab dienen. So betrachtet jemand beispielsweise ein Haus und nennt es vollendet, wenn er sieht, dass es fertig gebaut ist – oder unvollendet, wenn Letzteres nicht der Fall ist. Problematisch wird dieses Procedere dann, „wenn […] jemand ein Werk sieht, desgleichen er noch nie gesehen hat, und nicht den Geist seines Herstellers kennt“, denn in diesem Fall wird er „nicht wissen können, ob dieses Werk vollendet oder unvollendet ist“ (E4praef). Ein solches unbekanntes, d. h. nicht adäquat erkanntes Werk ist aber die Natur, worunter auch die Natur des Dethloff, 1993, S. 99; S. 101; S. 103. Von anderen, insofern sie in den Lehrsätzen zur Affektassoziation nach E3p29 auftauchen, ist das Ego im eingeschränkten Sinne „contingent“ bzw. abhängig. Diese halbierte doppelte Kontingenz kritisiert Luhmann an Parsons. Zu diesem Komplex sowie zur vollentwickelten doppelten Kontingenz siehe Göbel, 2000, S. 88 – 93.
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menschlichen Körpers eingeordnet werden kann, von dem niemand sagen kann, was er alles vermag (E3p2s). Die Natur unvollkommen zu nennen, basiert nicht auf der Erkenntnis derselben, sondern darauf, dass von den Musterbildern erstens eines dem anderen gegenüber bevorzugt wird und zweitens das favorisierte Bild nicht zum beobachteten und mit dem Muster verglichenen Gegenstand, einem beliebigen natürlichen Ding, passt. Zu sagen, die Natur würde etwas verkehrt machen oder sie brächte unvollkommene Dinge hervor, zählt der Autor zu den zahlreichen „Erdichtungen“, derer der menschliche Geist fähig ist. Etwas vollkommen im Unterschied zu etwas Unvollkommenem zu nennen, ist eine mentale Operation, der in der Wirklichkeit nichts entspricht. Spinoza dagegen versteht „unter Realität und Vollkommenheit dasselbe“ (E4praef). Zu sagen, etwas ist vollkommen, läuft auf das Gleiche hinaus, wie einfach nur zu konstatieren, dass etwas ist – und sonst nichts. Die spinozische Vollkommenheit ist eine ohne Gegenbegriff und insofern semantisch trivial bzw. wertlos. Dies deutet darauf hin, dass von Seiten der Ethica kein Beitrag zum Bau eines vollkommenen Staatswesens, wie es die Utopien intendieren, zu erwarten ist. Überraschenderweise verhält es sich jedoch anders. Denn gegen Ende seiner Vorrede macht der Autor eine Kehrtwendung: „Allein, obgleich dies so ist, müssen wir doch diese Wörter [vollkommen/unvollkommen, gut/schlecht] beibehalten“ (ebd.). Ein heuristischer Wert ist ihnen nicht abzusprechen. Spinoza kündigt an, dem Leser „ein Musterbild der menschlichen Natur“ hinzustellen. Das entscheidende Argument ist auch hier eines der Quantitäten: Wenn ich sage, jemand gehe von einer geringeren zu einer größeren Vollkommenheit über und umgekehrt, verstehe ich darunter […], daß seine Wirkungsmacht, insofern sie sich durch seine Natur verstehen läßt, vermehrt oder vermindert wird. (ebd.)
Im Politischen Traktat wird dieses Motiv, wie wir noch sehen werden, fortgesponnen. Zunächst aber zum 37. Lehrsatz. Der 37. Lehrsatz des vierten Buches nimmt einen interpersonellen Standpunkt ein: Das Gut, nach dem ein jeder, der den Weg der Tugend geht, für sich selbst verlangt, wird er auch für andere Menschen begehren und umso mehr, je größer seine Erkenntnis Gottes sein wird. (E4p37)
Die Fähigkeit unseres geistigen Erkenntnisvermögens korreliert mit der unseres körperlichen Affektionsvermögens, wie der Beweis des nachfolgenden Lehrsatzes ausführt (E4p38d). Zusammen mit den beiden anschließenden Lehrsätzen schließt sich der Kreis: Zu seiner Erhaltung bedarf der menschliche Körper der
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Affektion durch viele andere Körper, die mit seinen eigenen Regeln, zu ruhen und sich zu bewegen – Spinozas Ausdruck für etwas, was heutzutage als Homöostase bezeichnet wird¹⁸ – in der Hinsicht übereinkommen, als er nicht zerstört wird (E4p39d). Dieses Modell überträgt der 40. Lehrsatz auf die Gemeinschaft: Wenn die Einzelnen miteinander harmonieren, sich gegenseitig unterstützen, sich in ihrem Gesamtzusammenhang erhalten, so ist dies gut bzw. vollkommen zu nennen (E4p40). Was dies zuwege bringt, besteht darin, nach der Leitung der Vernunft zu leben (E4p40d). Kurz: Die Entwicklung des Affektionsvermögens aller anderen und die unseres eigenen bedingen sich wechselseitig, und korrelativ dazu die unserer Erkenntnisvermögen. Daher strebt der, der erkennt, danach, auch andere zum Erkennen zu bewegen.¹⁹ Der Einsatzpunkt der Politik ist damit gegeben, weshalb Spinoza den auffallend langen Anmerkungsteil dem 37. Lehrsatz hinterherschiebt. Er argumentiert aber nicht finalistisch-teleologisch, er stellt das friedliche und einträchtige Zusammenleben nicht als einen zu befolgenden Zweck hin, dem man sich aufgrund vernünftiger Einsicht zu fügen hat. Denn wenn alle der Vernunft folgen würden, bräuchte es gar keines Staates. Eintracht und Harmonie würden sich ganz von selbst herstellen. Der Einsatz des Politischen liegt darin, dass dem nicht so ist, dass es nichts in der Ethik gibt, was die Menschen auf ihren Vernunftgebrauch verpflichtet, das arkadische Zeitalter folglich ein erdichtetes Märchen ist. Von der Ethik führt kein Weg zur Politik, das politische Feld konstituiert sich als autonomes.²⁰ Setzt man den Beginn utopischer Philosophie bereits in der Antike an, im Goldenen Zeitalter Vergils etwa, dem Land Arkadien und anderen Topien ante Morus²¹, so bricht Spinoza mit der Tradition: Wer sich deshalb einredet, eine Menschenmenge oder diejenigen, die in öffentlichen Angelegenheiten zerstritten sind, könnten dazu gebracht werden, nach einer bloßen Vorschrift der Vernunft zu leben, der träumt vom goldenen Zeitalter der Dichter oder von einem Märchen. (TP I/5)
Im Gegenteil endet Spinozas Hauptwerk Ethica damit, dass erfahrungsgemäß nur einige wenige den Weg der Vernunft beschreiten (E5p42s).²² Gegen die inkriminierten Wunschvorstellungen drängt Spinoza auf Gesetze, Regeln, Vorschriften
Vgl. Cook, 2006, S. 158 – 162. Vgl. Matheron, 2000, S. 317– 319. Vgl. ebd., S. 320 f. Vgl. Garber, 1990, S. 685 – 689. Weshalb Spinoza Schröder, 1987 zufolge nicht den Aufklärern zuzuordnen ist.
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und Institutionen. Es sind jedoch die Einrichtungen selbst, deren Funktionsweise vernünftig ist, d. h. die politische Vernunft ist keine der darin involvierten Subjekte, sondern des – modern ausgedrückt – Funktionssystems Politik.²³ Damit ergibt sich zugleich eine zweite spinozistische Frontstellung, und zwar gegen die utopische Tradition des Philosophenkönigs, die seit der platonischen Theorie (Politeia) und Praxis (Syracus) verführerische Reize ausstrahlt. So diskutiert noch Leo Strauss im 20. Jahrhundert die Utopie als „eine ‚gute soziale Ordnung‘ […], deren Verwirklichung nur durch eine ‚Tyrannis‘ der Philosophen oder Weisen möglich“ wäre.²⁴ Wenn die Philosophen oder Weisen denken, sie sollten herrschen, obwohl oder gerade weil die meisten anderen nicht philosophisch gebildet resp. weise sind, so zeigt dies Spinoza zufolge lediglich an, dass nicht richtig philosophiert wurde und die Weisen nicht weise genug sind. Spinozas Ethik ist keine präskriptive, sie verpflichtet zu nichts. Da dem Unvollkommenen in den Dingen nichts entspricht, entfällt die aristotelische Unterscheidung von Perfektion und Korruption.²⁵ Alle Affekte und Begierden gelten gleich viel, sind gleichermaßen natürlich. Spinoza eliminiert die Unterteilung mentaler Vermögen. Er kennt kein Vermögen der Vernunft, das sich vom Affektionsvermögen unterscheidet; vielmehr gilt: Die Vernunft ist selbst ein Affekt. An die Stelle der Distinktion von Perfektion/Korruption tritt die von Begierden, die sich aus der eigenen Natur ergeben in Abhebung von solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. In der Politischen Abhandlung begegnet diese Unterscheidung wieder als die von homo sui iuris und homo alieni iuris: Außerdem folgt daraus, daß jeder so lange unter dem Recht eines anderen steht, wie er unter dessen Gewalt steht, und daß er nur so weit unter eigenem Recht steht, wie er alle Gewalttätigkeit zurückweisen und einen ihm zugefügten Schaden nach eigenem Gutdünken vergelten kann, d. h. uneingeschränkt formuliert, wie er nach seiner eigenen Sinnesart leben kann. (TP II/9)²⁶
In der Ethica betrachtet Spinoza ausschließlich eine Klasse, diejenigen, welche allein nach den Regeln ihrer eigenen Natur leben und nicht der Gewalt anderer unterstehen. Die Theorie der Gemeinschaft von E4p37 markiert damit nichts anderes als die spinozische Utopie, denn sie gibt Hinweise darauf, wie sich ein Staat ausnehmen würde, in dem alle vernunftgemäß handeln. Sie schreibt diesen Zu-
Vgl. Bartuschat, 1992, S. 244– 246, insbes. S. 245: „Der Staat muß sich als eine Einheit der Individuen erweisen, die unabhängig von einer Übereinkunft der Individuen zu einem Staat ist.“ Strauss, 1963, S. 235. Vgl. Luhmann, 1995a, S. 10 – 17. Vgl. Hindrichs, 2014, S. 40 – 43, sowie Lauermann, 2005, S. 203 f. mit weiteren rechtsgeschichtlichen Verweisen.
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sammenschluss oder dieses Handeln nicht vor, zwingt es dem Leser nicht auf, deduziert kein politisches Modell aus ethischen Grundlagen. Die Anmerkung sagt nichts als dies: Dass es, wo alle vernünftig sind, des Staates überhaupt nicht bedarf, der Friede sowieso besteht, die Politik keinen Raum hätte.²⁷ Dass dem so ist, jemals so war oder je so sein könnte, ist nicht festzustellen, die Idee gehört ins, wie erwähnt, goldene Zeitalter oder Land der Utopier. Trotzdem kann Spinoza sich nicht gegen die Unterstellung wehren, dieser Utopie einen Platz innerhalb seines philosophischen Systems einzuräumen, den des allgemeinen Musterbildes, „auf das wir hinschauen sollten“, wie es in der Vorrede heißt (E4praef). Aufgrund dieser Abgrenzung des Utopischen vom Politischen kristallisieren sich drei Hauptpunkte für die Analyse des Tractatus politicus heraus: Erstens muss die Politik in ihrer eigengesetzlichen Funktionsweise erklärt werden, d. h. es gilt nicht das herauszufinden, „was geschähe, wenn seine [des Staates] Glieder sich allein gemäß den Gesetzen ihrer menschlichen Natur verhielten […], sondern das, was geschähe, wenn er sich selbst gemäß seinen eigenen Gesetzen als Staat verhielte.“²⁸ Spinoza legt die Politik als Wissenschaft eines selbstreferentiellen Systems frei, eine Entdeckung, die nach den Theoriebemühungen Talcott Parsonsʼ und Niklas Luhmanns ausbuchstabiert werden kann.²⁹ Menschliche Moral hilft im politischen Feld nicht weiter; die Politik zu moralisieren, d. h. sich auf die Suche nach dem besten Staat zu machen, kann nur innerhalb dieses Feldes geschehen, unter Einbeziehung seiner Autonomie. Daher nimmt der Politische Traktat die Funktionsweisen monarchischer, aristokratischer und demokratischer³⁰ Institutionen auseinander. Davon handelte bereits der erste Abschnitt. Auch dann, wenn es dem Autor darum geht, auf institutionellem Weg maximal zuträgliche Bedingungen für vernunftkonformes (Staats‐)Handeln zu schaffen, ist damit – und darin liegt nachgerade die Pointe – nichts darüber gesagt, ob die Einzelnen auch tatsächlich Vernunft annehmen. Im Gegenteil ist die politische Kollektivvernunft derartig institutionalisiert, dass sie auf die persönliche, individuelle, einzelne Vernünftigkeit nicht angewiesen ist. Spinoza antizipiert eine Idee Donatien Alphonse François de Sades, besser bekannt als Marquis de Sade, demzufolge das Gesetz seine Übertretung provoziert, d. h. er könnte gut damit umgehen. Zweitens: Das Politische konstituiert sich entlang eines Arguments der Quantitäten, der Machtsteigerung im Gegensatz zur Machtminderung, das in E4p38 anhand der
Vgl. Matheron, 2000, S. 321 f. Ebd., S. 324 f. Es sei lediglich verwiesen auf Parsons, 1963 und Luhmann, 1988 sowie Luhmann, 2000. Der Abschnitt zur Demokratie blieb unausgeführt, ob aus kontingenten Gründen wie Spinozas Tod oder aus innersystematischen, kann hier weder diskutiert noch entschieden werden. Gegen die Relevanz biographischer Einschnitte argumentiert Lauermann, 2005, S. 204 f.
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Affektionsmacht vorbereitet wird. Drittens: Auf die Unterscheidung von homo sui iuris und homo alieni iuris ist zurückzukommen.
IV Die Staatsphilosophie des Tractatus politicus Aus dem Vorangegangenen ist zu ersehen, dass Spinozas Philosophie der Politik trotz ihrer realistischen Selbstausflaggung (TP I/4) ein ideales, genauer idealtypisches Element eignet, konstruiert der Autor doch ein Idealmodell des Kollektivs in Analogie zum idealen Gefühlshaushalt des Einzelnen im Hauptwerk Ethica. Dass beide als verallgemeinerte Musterbilder nach E4praef einzuklammern sind, lässt den heuristischen Wert der Modelle unangetastet. Anders als die Ethica setzt der Tractatus keine allen Einzelnen gemeinsame, d. h. identische und simultane Entwicklungslogik in Richtung eines wie auch immer gearteten Idealzustandes als Möglichkeit voraus. Vielmehr nimmt der holländische Philosoph in seinem letzten Werk den Ausgang von Gruppen und Klassen. Denn nur dann, wenn man nicht alle als gleich ansieht, kann die autonome Rolle der Herrschenden und damit das zentrale Thema politischer Theorie erfasst werden.³¹ Wie kommt es überhaupt dazu, dass die einen sich von den anderen regieren lassen? Spinoza argumentiert auf eine Art und Weise, die ihn als Epigonen der Hobbes’schen Vertragslogik hat erscheinen lassen.³² Es ist jedoch ein nennenswerter Unterschied der späteren politischen Abhandlung zur früheren, dem Tractatus theologico-politicus, dass Spinoza den Kontraktualismus hinter sich lässt. Man beachte dazu, was Hobbes und Spinoza unter der Übertragung von Macht verstehen. Beide gehen von der Identität von Macht und Recht im sogenannten Naturzustand aus, in dem die Rechte des Individuums so weit gehen, wie seine Macht, diese gegenüber der Umwelt durchzusetzen und zu erhalten, reicht. Beide Philosophen demonstrieren dem Leser, dass er oder jeder beliebige andere den Naturzustand verlassen möchte, bietet er doch zahlreiche Probleme und nur suboptimale Ergebnisse auf.³³ Es geht darum, die einzelnen Machtquanten aufzusummieren und einem Einzelnen oder einer Versammlung zu übertragen. Der Vorgang der Übertragung ist jedoch beim späten Spinoza ein gänzlich anderer als bei Hobbes. Hobbes lässt die zu übertragende Macht im Recht aufgehen und konzipiert den Gesellschaftsvertrag als Rechtsverzichtsvertrag, da sich die je individuellen Mächte – gemeint sind das körperliche Tätigkeitsvermögen und die
Vgl. Terpstra, 1995, S. 81. Vgl. Heerich/Lauermann, 1991, S. 113 f., Fn. 26. Vgl. die spieltheoretische Rekonstruktion in Nida-Rümelin, 1996, S. 117– 129.
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Geisteskraft – unmöglich vom Träger ablösen und folglich nicht übertragen lassen.³⁴ Spinoza erklärt konträr dazu den Hobbes zufolge endgültigen und unaufhebbaren Verzicht auf das eigene Recht (und damit auch auf die eigene Macht) für unmöglich (TP III/3, III/8, VIII/4). Verträge, so betont er, können jederzeit gebrochen werden (TP IV/6). Er denkt die Übertragung nicht als rationalen Vertragsschluss, sondern als imaginäre Fiktion. Real verbleibt die Macht bei den Übertragenden.³⁵ Bereits Hobbes denkt sich den Vertragsschluss so, dass nicht Einzelne einander gegenüberstehen, sondern das Individuum der Menge aller anderen. Er folgert daraus, dass der Einzelne zur Zustimmung verpflichtet ist, was die Einwilligung in das zukünftige Handeln des Souveräns einschließt, da die anderen ihm an Macht überlegen sind und ihn andernfalls vernichten könnten. Dieses Argument gilt auch für die, die dem Einen gegenüberstehen, also für alle. Denn jeder steht der Menge der anderen gegenüber, ist aber zugleich ein Teil von ihr. Dies ist ein Paradox, es treibt aber nichtsdestotrotz die Logik der Vergesellschaftung bei Hobbes voran.³⁶ Dass den Vielen mehr Macht eignet als dem Einen, ist die gesellschaftliche Umsetzung des Quantitätsarguments, das bereits in der Ethica durchschlägt. Dort auf die Steigerung der subjektiven körperlichen und geistigen Fähigkeiten ausgerichtet, setzt der Politische Traktat es in das Kollektive um: Wenn zwei auf einmal zusammenkommen und ihre Kräfte verbinden, dann vermögen sie zusammen mehr und haben folglich mehr Recht auf [Dinge in der] Natur als jeder für sich allein. Und je mehr Verbündete so ihre Kräfte zusammengeschlossen haben werden, umso mehr Rechte werden sie alle zusammen haben. (TP II/13)
Während der Zusammenschluss der Vielen zur Einheit sich bei Hobbes mit Notwendigkeit aus der Unerträglichkeit des Naturzustandes ergibt, bleibt er für Spinoza eine Fiktion, die sich allein daraus ergibt, dass es bereits den Staat gibt, der den Vielen die einträchtige Geselligkeit aufoktroyiert, zu der sie durch die Leitung der Vernunft kommen müssten, wenn sie diese ihre Vernunft nur gebrauchen und nicht, wie Spinoza erfahrungsgesättigt erklärt, ihren Leidenschaften folgen würden (TP II/14– 16).³⁷
Vgl. Kersting, 1996, S. 218 – 223. Vgl. Terpstra, 2004, S. 188. Vgl. Heerich, 2000, S. 48 f. Lembcke, 2014, S. 50.
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Wie gesagt, drängt die Rationalität des Hobbes-Modells zur Paradoxie. Anders als sein Vorgänger deckt Spinoza das Paradox nicht zu, sondern spricht es offen an, entfaltet im Fiktionalismus des Als-ob: Im Gegenteil, weil der Körper des Staates wie von einem Geist geleitet sein muß und folglich der Wille des Gemeinwesens als der Wille aller anzusehen ist, ist das, was das Gemeinwesen als gut und gerecht beschließt, so anzusehen, als sei es von jedem einzelnen beschlossen worden. (TP III/5)
Den „Machtkredit“, ohne den der Übergang vom Natur- in den Gesellschaftszustand nicht gelingen kann³⁸, zieht Spinoza zufolge der Staat aus, der die Menschen dazu veranlasst, sich mit anderen zu koordinieren und mit ihnen zu kooperieren, selbst wenn jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.³⁹ Letzteres einzurechnen, macht den Realismus des Politischen Traktats aus. Dazu gehört auch, jede Regierungsform in ihrer Eigenlogik zu rekonstruieren, d. h. Spinoza spricht sich nicht dafür aus, eine spezifische Regierungsform, beispielsweise die Demokratie, unbedingt zu bevorzugen. Er gibt lediglich an, wie eine Demokratie (oder auch: Monarchie, Aristokratie) beschaffen sein sollte, um unter Einrechnung der menschlichen Natur, wie sie ist, nämlich unvernünftig, die Menge trotzdem zu wohlfahrtssteigernden Kooperationen zu vereinigen. Der Aristokratie wird zwar gegenüber der Monarchie der Vorzug erteilt, doch zugleich stellt sich die Monarchie als verkappte Aristokratie dar und ist nur als solche für schlecht zu befinden, also als schlechteste aristokratische Herrschaft (TP VI/5). Die Frage, wie es dazu kommt, dass die einen über die anderen herrschen, kann daher nicht unter Verweis auf das Gedankenexperiment eines Kontrakts im Sinne von Hobbes beantwortet werden, sondern gründet in der unterschiedlichen Verfasstheit der Menschen als unter eigenem oder unter fremden Recht stehend. Marin Terpstra buchstabiert den Unterschied von homo sui iuris und homo alieni iuris (TP II/9 – 11) aus. Der Tractatus politicus nimmt eine Perspektive der natürlichen Macht, die die einen gegenüber den anderen innehaben, ein, wodurch sich die Hobbes’sche Vertragslogik auflöst. Es geht Spinoza um die Relationen zwischen Gruppen und Klassen, welche zuallererst von Machtverhältnissen geprägt sind.⁴⁰ Die Ungleichheiten, die zwischen den Einzelnen im Naturzustand bestehen, bleiben im Staat als Klassenunterschiede erhalten, da der Gesellschaftszustand wie gezeigt als Zusammenschluss vieler zu Einheiten definiert ist.⁴¹ Der
Vgl. Heerich, 2000, S. 39 – 44; S. 47 f. Lembcke, 2014, S. 50. Vgl. Terpstra, 1995, 83 f. Vgl. ebd., S. 84– 86.
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vereinheitlichten Menge, dem Volk, stehen die Regierenden als weitere Einheit, sei diese nun monarchisch oder aristokratisch konstituiert, entgegen.⁴² Wenn manche Gruppen nicht unter eigenem Recht, sondern in der Gewalt anderer stehen, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass es andere geben muss, die das Recht über die erstgenannte Gruppe ausüben, diese somit in ihrer Gewalt haben. Nichts verbürgt jedoch, dass diejenigen, die andere in ihrer Gewalt haben, auch die sind, die im Sinne der Ethica unter eigener Gewalt stehen, d. h. weise sind.⁴³ Dem politisch interessierten Autor Spinoza dünkt nichts unwahrscheinlicher (TP I/5). Terpstra macht den Unterschied zwischen dem ‚ethischen‘ und dem ‚politischen‘ Spinoza daran fest, dass die Theorie der Ethica auf das zielt, was allen gemeinsam ist, worin alle übereinstimmen, worauf sich alle einigen können, was alle einander gleich macht etc.; die historischen Fakten, die der Tractatus Politicus verarbeitet, allerdings auf das Gegenteil deuten, auf die Unterschiede zwischen den Menschen.⁴⁴ Die Dichotomie von Theorie und Fakt wurde hier als die von Utopie und Realismus vorgeführt, d. h. E4p37 bot keine befriedigende, weil eine unrealistische Lösung. Daher machte Spinoza sich an die Ausarbeitung seiner anti-utopischen, fakten-basierten „Politik-Theorie“ (TP I/1). Mit Rückendeckung der Autorität Immanuel Kants gesprochen, ist die politische Philosophie des Holländers, ihren im ersten Teil des vorliegenden Aufsatzes aufgewiesenen Ähnlichkeiten zu den programmatischen Utopien der zweiten Phase zum Trotz, eher ein Ideal denn eine Utopie zu nennen: nach der in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gegebenen Definition bezeichnete ‚Ideal‘ die Idee ‚als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding‘ und somit als das vorbildliche, aber nirgends und nie anzutreffende Exemplar einer Art oder Gattung. Bemerkenswerterweise erfüllten die literarischen Utopien der frühen Neuzeit diese begriffliche Bestimmung Kant zufolge jedoch gerade nicht, obwohl ihre Autoren sie durchaus als individualisierende Darstellungen einer Idee, nämlich der Idee einer vollkommenen Staatsverfassung konzipiert hatten. Ein Motiv für diese semantische Differenzierung zwischen ‚Utopie‘ und ‚Ideal‘ darf man in der Maxime sehen, die Kant 1798 im ‚Streit der Fakultäten‘ seiner Begründung der Möglichkeit des Fortschritts zugrunde legte: der Fortschritt der Menschheit müsse, heißt es dort, als möglich gedacht werden können, ohne daß dabei die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden darf. ⁴⁵
Seinem Untertitel gemäß ist der Politische Traktat ein Werk über die Stabilität von Monarchien und Aristokratien: „Politischer Traktat, in dem gezeigt wird, wie eine Gesellschaft, deren Regierungsform monarchisch oder aristokratisch ist, eingerichtet werden muß, damit sie nicht in Tyrannei verfällt und damit der Frieden und die Freiheit der Bürger unangetastet bleiben.“ Vgl. Terpstra, 1995, S. 88 – 99. Vgl. ebd., S. 100. Hölscher, 1990, S. 775 f.Vgl. ebd., S. 769: Das Ideal nahm in der deutschen Aufklärung die Stelle ein, welche die Utopie erst später besetzte.
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Über die Möglichkeit, dass sich die Menschen jemals ändern, machte sich aber kaum ein Philosoph weniger Illusionen als Spinoza.⁴⁶
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Vgl. ebd., S. 778 – 781: Die Idee der Unabänderlichkeit der conditio humana wird erst im 19. Jahrhundert mittels Geschichtsphilosophie und Szientismus, paradigmatisch kombiniert im Saint-Simonismus, abgelöst.
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Roland Braun
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Baruch de Spinoza zwischen Realismus und Utopie
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Luise Maslow
„…den Vorschriften der Natur folgend, zugleich so weise und so glücklich“ – Fénelons Les Aventures de Télémaque als literarisches Gartenprogramm der Wilhelmine von Bayreuth I Gärten und Utopien In Thomas Morusʼ Utopia findet das Gespräch unter den Protagonisten im Garten auf einer Rasenbank statt. Im Hinblick auf die mittelalterliche Ikonographie der Madonna auf der Rasenbank inmitten des Paradiesgartens muss dies als Hinweis auf das Paradies verstanden werden und nimmt die paradiesischen Zustände auf der Insel Utopia vorweg, auf der außerdem Gärten eine hervorgehobene Stellung im Alltag der Bewohner einnehmen.¹ Hier werden Aspekte aufgegriffen, die die gartenkünstlerische Realität seit der Antike prägen. Der Garten erscheint als angemessener Rahmen für eine ernsthafte Diskussion über eine zweckmäßig organisierte Gesellschaft verbunden mit dem Gedanken an die ideal vorgestellte Welt und dient zugleich als Lebensraum der utopischen Gesellschaften oder ist Bestandteil einer guten Lebensführung.² Im eingehegten Ort des Gartens wird das Verhältnis von Natur und Kultur bzw. das Verhältnis von Natur und Gesellschaft, die meist dichotomisch gedacht werden, in komplexen Sinngebungsprozessen austariert. Der Besuch einer Gartenanlage kann wie das Landschaftserlebnis den Menschen auf überzeitliche Naturgesetze zurückführen, was die außerhalb des Gartens geltenden sozialen Normen infrage stellen, zumindest die Zwänge des Alltags außer Kraft setzen kann. Aufgrund dieses wesentlichen Grundzugs eines Gartens hat Michel Foucault Gärten in seine Liste der heterotopen Orte aufgenommen.³ Als Heterotopien bezeichnet er tatsächlich realisierte Utopien, die sich – im Gegensatz zur Utopie als wesentlich unwirklicher Raum – in einem vom Alltag abgeschlossenen Raum verwirklichen ließen. In der frühen Neuzeit, insbesondere im 18. Jahrhundert, traten andere funktionale Zusammenhänge, z. B. der herrschaftlichen Repräsen-
Vgl. Kallieris, 2012, S. 13. Vgl. Schelle-Wolff, 2013. Vgl. Foucault, 1992, S. 34– 46; S. 38 f. https://doi.org/10.1515/9783110756944-008
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tation, oft hinter dieser Diskurs- und Erlebnisfunktion des herrschaftlichen Gartens zurück. Der Garten wurde „zum sinnlich wahrnehmbaren, gebauten Projektionsraum für Utopie-, Welt- und Identitätsentwürfe“⁴. Im 18. Jahrhundert scheint sich dabei in den literarischen Utopien und den Realisierungen in der Gartenkunst eine vergleichbare Entwicklung „von der Geometrie zur Naturalisierung“⁵ abzuzeichnen. Während die Topographien der Staatsutopien nach dem Utopia-Modell zur Umgestaltung der Natur und zur Geometrisierung des Raumes tendieren, was scheinbar mit der Geometrie des französischen Barockgartens als Ausdruck der absoluten Monarchie identifiziert werden kann, scheinen die utopischen Idealgesellschaften der Naturstaatsutopien den Gesetzen der Natur folgend auf ihre Umgestaltung zu verzichten, wodurch sie analog zum scheinbar naturbelassenen englischen Landschaftsgarten interpretiert werden.⁶ Obwohl die historische Gartenkunstforschung bereits seit den 90er Jahren die Kontinuitäten und Parallelen zwischen den beiden Gartenstilen betont und die politischen und moralischen Implikationen der Stilbegriffe kritisiert⁷, hält sich, wie das Beispiel der an die Gartenkunstforschung anknüpfenden Utopieforschung zeigt, das dichotomische Modell nachhaltig. Dass derartige vereinfachende Kategorisierungen und Teleologien lediglich als heuristisches Instrument eine Berechtigung besitzen, belegt ein Blick auf die gartenkünstlerische Realität. Der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor Verbreitung des Landschaftsgartens auf dem Kontinent, entstandene Felsengarten Sanspareil der Wilhelmine von Bayreuth entzieht sich nicht nur einer klaren stilistischen Zuordnung, indem er geometrische und landschaftliche Gartenpartien verbindet, sondern vereint in seiner ikonographischen Gestaltung verschiedene Utopiekonzepte. Nach Beendigung der (Garten‐)Bauarbeiten deutete Wilhelmine die Anlage durch ein literarisches Programm aus. Mit Fénelons Les Aventures de Télémaque wählte sie keinen geringeren als den populärsten Roman ihrer Zeit, dessen Wirkung erst mit Erscheinen von Rousseaus Nouvelle Héloise (1761) nachließ. Der Telemach fehlt auch heute noch in kaum einer Sammlung
Niedermeier, 2012, S. 329. Saage/Seng, 1999. Dieses dichotomische Modell wurde in Anlehnung an Voigt, 1906, S. 18 von Saage/Seng anlässlich der Tagung „Von der Geometrie zur Naturalisierung“ (1999) aktualisiert. Voigt führte in Bezug auf das Verhältnis des in der Utopie lebenden Menschen zum Herrschen und Dienen, zu Zwang und Freiheit eine analytische Trennung zwischen zwei Typen von Utopieentwürfen durch, indem er als Gegenbegriff zur anarchistischen Utopie, die vom Ideal absoluter persönlicher Freiheit ausgeht, die archistische Utopie, geprägt durch einen starken Staat und eine umfassende Zentralgewalt, kennzeichnete. Vgl. hierzu u. a. Hunt, 1999; Zimmermann, 2007; Schweizer, 2012.
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literarischer Utopien. Mit dem Felsengarten Sanspareil ist damit nicht nur ein aufgrund seiner stilistischen Besonderheit einzigartiges Gartenkunstwerk erhalten, sondern zudem der seltene Fall eines literarischen Gartenprogramms, das durch Quellen aus der Entstehungszeit überliefert ist und dessen Konzeption der Bauherrin zugeschrieben werden kann. Aufgrund der kurzen Bauzeit des Felsengartens Sanspareil, der auch von nachfolgenden Veränderungen weitgehend verschont blieb, bietet sich hier ein einmaliger Blick auf Denk- und Gestaltungsweisen einer Fürstin in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als dem Alltag bis zu einem gewissen Grad enthobener und nach außen abgeschlossener Raum entwickelte der Garten – als Reflexionsraum von Denkmodellen der idealen Gesellschaft und Experimentierfeld für veränderte soziale Umgangsformen – utopisches Potential. Nicht zuletzt durch literarische Semantisierungen regte er neuartige Denk- und Verhaltensweisen an, die schließlich auch zu kulturellem Wandel außerhalb des Gartenraums beitragen konnten.
II „Weiseste Erfinderinn“⁸ oder nur „nachträgliche Gelegenheitsprogrammiererin einer Gartenstaffage“⁹? – Wilhelmine von Bayreuth und Sanspareil Aufgrund seiner gestalterischen Besonderheiten konzentrierte sich die Forschung zu Sanspareil bisher auf die Stellung des Gartens innerhalb der stilistischen Entwicklung der Gartenkunst. Dabei spielte immer auch die Frage nach der Verantwortlichkeit Wilhelmines bei der Planung des Gartens eine Rolle. Auffallend ist, dass die Anlage häufig im Hinblick auf die spätere Entwicklung hin gelesen wird. Das gilt auch für Untersuchungen, die sich auf das literarische Programm konzentrieren. In Kenntnis der Flut von Inschriften und literarischen Anspielungen im sentimentalen Landschaftsgarten und entsprechender Thematisierung in der Garten- und Traktatliteratur Ende des 18. Jahrhunderts erscheint Sanspareil dann lediglich als Vorgriff auf die Zukunft. So kennzeichnete Erich Bachmann, der Sanspareil in den 50er Jahren für Forschung und Tourismus wiederentdeckte, die Anlage auch aufgrund des literarischen Programms fälschlicherweise als „den
Hedenus, 1749, S. 151. Pfeiffer, 1966, S. 221.
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früheste[n] literarische[n] Landschaftsgarten überhaupt auf dem Kontinent“¹⁰. Wilhelmine selbst beschrieb den Ort wie folgt: „Die Lage des Ortes […] ist einzig. Die Natur selbst war die Baumeisterin. Die dort aufgeführten Gebäude sind von sonderbarem Geschmack. Alles ist ländlich und bäurisch. Wir hatten eine recht gute Gesellschaft, und aller Zwang war verbannt“¹¹. Damit weist sie selbst auf den größten Unterschied zum Landschaftsgarten nach englischem Vorbild hin, der „künstlich geschaffene Natur ist, Sanspareil hingegen im Naturzustand belassene Landschaft“¹². Heute wird Sanspareil als Vertreter einer zur englischen parallel verlaufenden Entwicklung verstanden, die sich angeregt durch ein verändertes Naturgefühl in Literatur und Philosophie durch neuartige Kombinationen aus kontinentalen Traditionen entwickelte.¹³ Die Unsicherheit bei der Einordnung des literarischen Programms liegt sicher zum Teil in der noch desideraten Forschung zu literarischen Gartenprogrammen und Inschriftlichkeit im Garten allgemein begründet.¹⁴ Wilhelmines Urheberschaft in Bezug auf das literarische Programm wurde aufgrund einer eindeutigen Zuschreibung nie infrage gestellt. Durch Analyse des vorhandenen Archivmaterials gelangte Gerhard Pfeiffer allerdings zu der Auffassung, Wilhelmine von Bayreuth sei nicht als Initiatorin und maßgebliche Planerin der Gartenanlage, sondern „nur als nachträgliche Gelegenheitsprogrammiererin einer Gartenstaffage und als frauliche Gestalterin der Innenräume der Schlößchen zu betrachten“.¹⁵ Dabei entspricht Sanspareil von Anfang an weiblichen Repräsentationsbedürfnissen und weist zahlreiche Ähnlichkeiten zu
Bachmann, 1951, S. 220. Bachmann bezieht das literarische Programm auf die Thematisierung literarischer Gartenprogramme in Christian Cay Lorenz Hirschfelds Theorie der Gartenkunst (1779 – 1785). Vgl. auch Habiger/Kammerer-Grothaus, 1997. Die Autorinnen beziehen Sanspareils Programm auf Friedrich Ludwig von Sckells Beiträge zur Bildenden Gartenkunst (1818). Außerdem sei Sanspareil „ohne die Grundlagen Rousseauischer Anschauungen nicht denkbar“ (ebd., S. 185). Rousseaus früheste thematisch relevante Ausführungen erschienen erst nach Vollendung der Bayreuther Gartenanlage. In Volz, 1926, S. 174 f. Habermann, 1982, S. 168. Zur stilgeschichtlichen Einordnung Sanspareils vgl. Maslow, 2017. Für einen ersten Überblick vgl. Schweizer, 2008; Becker, 2012; Niedermeier, 2012. Pfeiffer, 1966, S. 221. Sylvia Habermann schloss sich in ihrer Dissertation zur Bayreuther Gartenkunst dieser Auffassung an, vgl. Habermann, 1982, S. 168. In Unkenntnis der neueren Gartenkunstforschung wurde diese Einordnung Pfeiffers jüngst in einer umfangreichen Studie zur Telemachrezeption im deutschsprachigen Raum unkritisch wieder aufgegriffen, vgl. SchmittMaaß, 2018, S. 346 – 353. Auf die Schwierigkeit durch Archivmaterial wie Bauakten und Rechnungen, die eher Auskunft über politische Zuständigkeiten liefern, Kenntnis über die künstlerische Urheberschaft zu erhalten, hat die jüngste Forschung zum künstlerisch tätigen Fürsten hingewiesen. Vgl. Cremer, 2018, S. 35.
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Wilhelmines Bayreuther Eremitage auf, bei der in der Forschung Einigkeit über ihre Federführung herrscht.¹⁶ Zudem wird die Leistung Wilhelmines in Ausblendung oder Unkenntnis der Gestaltungspraxis und den vielfältigen funktionalen Zielsetzungen frühneuzeitlicher Gartenkunst an der möglichst genauen Umsetzung der literarischen Vorlage gemessen.¹⁷ Bei der Analyse überwiegen biographische Interpretationen, die das literarische Programm mal mehr mal weniger überzeugend auf das Leben Wilhelmines beziehen.¹⁸ Durch diese Zugriffe nimmt man sich die Möglichkeit, das Gartenkunstwerk im vielschichtigen Kontext seiner Entstehungszeit zu sehen und die Absichten der Erbauerin zu entschlüsseln. Ansätze, die diesen Versuch unternommen haben, wurden bisher kaum beachtet. Joachim Kröll verankerte bereits in den 50er Jahren Sanspareil als Ausdruck von Wilhelmines Naturgefühl und ihren Moralvorstellungen im zeitgenössischen Diskurs.¹⁹ Sanspareil ist nach Kröll die ideale Verbindung von aufklärerischem Naturbild mit der für Wilhelmine grundlegenden aufklärerischen Morallehre, die sich auch in ihrer Wertschätzung von Fénelons Telemach ausdrückt: „wenn Wilhelmine in Sanspareil Stationen und Gestalten des Buches zu verlebendigen trachtete, so war in solcher Komposition der vollkommene Park geistesgeschichtlich schlechthin gestaltet: er zeigte in nicht zu übersteigernder Weise die Zusammengehörigkeit von Natur und Moral“²⁰. Genauso wie die Untersuchung Krölls wurden auch die bisher umfassendsten Untersuchungen, die das literarische Programm anhand der literarischen Primärquellen im Kontext der literarischen Tradition untersuchen, von der nachfolgenden Forschung bisher nicht zur Kenntnis genommen.²¹ An diese Positionen möchte dieser Beitrag anknüpfen.
Zur Rolle Wilhelmines bei der Entstehung und Ausführung Sanspareils vgl. Maslow, 2017. Vgl. z. B. Schilling, 2007, S. 84– 89. Schilling stellt fest, dass „Wilhelmine sich so manche künstlerische Freiheit herausnahm“ (ebd., S. 87), sodass das entstehende „Potpourri aus verschiedensten Motiven“ (ebd., S. 89) „regelrecht geschichtsbegeistert, aber nicht sonderlich geschichtstreu“ (ebd.) „an den beliebten Roman erinnerte, zumindest an den Stellen, die einem zusagten“ (ebd.). Vgl. z. B. Eberlein, 1960. Eberlein bezieht das Programm auf Wilhelmines Ehekrise zur Entstehungszeit und sieht Wilhelmine als geduldige Penelope, den Markgrafen als verführten Odysseus und Wilhelmines Nebenbuhlerin als verführerische Nymphe Kalypso. Dieser Gedanke wurde von der späteren Forschung häufig wieder aufgegriffen. Allein für den Bezug zur geplanten Hochzeit gibt es quellenmäßige Anhaltspunkte. Vgl. Kröll, 1958. Ebd., S. 44. Vgl. Brunkhorst, 1997; Roberts, 2004.
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III Der Felsengarten Sanspareil Wilhelmine von Bayreuth war ohne Zweifel eine herausragende Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts. Von ihren Eltern als zukünftige Gemahlin des britischen Thronfolgers ausersehen und als solche erzogen und ausgebildet, wurde sie letztendlich mit dem zukünftigen Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth aus einer verwandten Linie der Hohenzollern verheiratet. Immer noch mit königlichen Ambitionen versuchte sie, das kleine Markgrafentum zu einem der intellektuellen und kulturellen Zentren des Reiches auszubauen. Dabei nutzte sie ihr aktives Engagement in Künsten und Wissenschaften: malte, komponierte und spielte Musik, führte Regie und übte Einfluss auf Planung und Ausstattung von Schlössern und Gärten aus. Als 1744 die Verlobung der noch elfjährigen Tochter des Markgrafenpaares, Elisabeth Friederike Sophie, mit Carl Eugen von Württemberg beschlossen wurde, begann ein für das kleine Markgrafentum unvergleichliches Bauprogramm, das neben dem Markgräflichen Opernhaus, welches den UNESCOWeltkulturerbestatus des Bayreuths der Markgräfin Wilhelmine begründet, auch Erweiterungen oder Neubauten von Schloss- und Gartenanlagen umfasste. In diesen Kontext ist auch die Anlage des Felsengartens Sanspareil einzuordnen, der in den nur vier Jahren zwischen Verlobung und Fürstenhochzeit (1744– 48) als einziger neuangelegter Garten ohne Vorgängeranlage in Bayreuth entstand. Die Gestaltung des Gartens ist durch zwei Stichserien (vgl. Abb. 1– 6) und einen Gartenplan aus dem 18. Jahrhundert überliefert (Abb. 7). Der Garten wurde am Fuß der mittelalterlichen Burg Zwernitz angelegt, die sich seit dem 13. Jahrhundert im Besitz der Hohenzollern befand. Sie wurde bewusst in die Gartengestaltung einbezogen (Abb. 1) und erweiterte die Bedeutungsdimension. Die Einbindung des nun sog. Alten Schlosses stellt eine zu diesem Zeitpunkt übliche Zurschaustellung von früher Machtentfaltung und langer Herrschaftskontinuität und damit politischer Legitimation dar und verkörpert das Ideal fürstlicher Ritterlichkeit.²² Ausgangspunkt der Gartengestaltung waren die natürliche Landschaft und die Felsformationen am Fuße der Burg. Wilhelmine knüpfte damit neben der Mode der französischen Eremitage an den antiken literarischen Topos des guten Landlebens an, welcher seit der Renaissance im Garten in Form irregulär erschlossener Waldgebiete (bosco) oder weitgehend naturbelassener Partien
Vgl. Krückmann, 2015.Vgl. außerdem die Forschung zur Inszenierung der Abstammung in der Landschaft. Z. B. Dorgerloh/Niedermeier, 2011. Bereits Hedenus weist auf die lange dynastische Tradition des Ortes hin, vgl. Hedenus, 1749, S. 153, Anm. b).
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(Wildnis, selvaggio) Ausdruck fand.²³ Auch die den Felsenhain umgebenden landwirtschaftlich genutzten Areale wurden, wie auf den zeitgenössischen Stichen zu sehen ist (Abb. 1), als bukolische Landschaft in die Erfahrungswelt des Gartens integriert. Als entrücktes Arkadien, die Ideallandschaft der Ursprünglichkeit, Einfachheit und Freiheit, wird der Garten als Erinnerung an das Goldene Zeitalter, an eine selig entrückt verbrachte Zeit in idyllischer Natur, bei einfachen Menschen, durch ein harmonisches Leben in Liebe und Freiheit zur Utopie.²⁴ Für Wilhelmine war die aufklärerische Morallehre von großer Bedeutung. Sie bestimmte ihr Naturverständnis ebenso wie ihre Ideale von Herrschaft und Gesellschaft. Aufenthalt in der Natur war für sie daher nicht nur Rückzug des Adels ins Idyll im Sinne eines Eskapismus sondern auch Mittel zur Bewahrung und zum Wiedererreichen einer guten Gesellschaftsordnung. Ihrem rationalistischen Naturverständnis der Frühaufklärung entsprechend, demzufolge die Natur Ergebnis der höchsten Vernunft ist und die Gesetze der Natur zugleich auch göttliche Gesetze sind, bedingt eine Übereinstimmung von Natur mit Moral eine der Natur innewohnende gestaltende Kraft, die im Sinne göttlicher Gesetze Wirksamkeit hat.²⁵ Die Frage, wie die utopische Ineinssetzung von Natur,Vernunft und idealem Gemeinwesen zu denken sei, wie die moralischen Kräfte der Natur wirksam werden konnten, wurde im 18. Jahrhundert sehr unterschiedlich beantwortet. Eine Denkrichtung ging davon aus, dass es ausreiche, den Menschen von allen institutionellen Restriktionen zu befreien und allein dem Gesetz der Natur zu unterwerfen, um eine harmonische soziale Ordnung zu erzielen.²⁶ Die Mehrheit der Utopisten der Aufklärung lehnte diese Sichtweise jedoch ab. Mit Platon und Morus waren sie der Ansicht, dass sich die vernünftige Natur nicht unmittelbar, sondern nur mithilfe eines allmächtigen Staates in gesellschaftliche Wirklichkeit umsetzen lasse. Deswegen stand für sie nicht die Abschaffung, sondern die Rehabilitierung herrschaftsstabilisierender Institutionen auf der politischen Tagesordnung.²⁷
Demnach wird das Allgemeinwohl des utopischen Staates durch politische Institutionen gesichert, die frei von jeglicher Korruption sein sollen. Es steht daher nicht der Rückbau politischer Institutionen, sondern die moralische Bildung des
Vgl. Habermann, 1982, S. 165 – 169. Vgl. Müller, 2008. Vgl. Kröll, 1958. Vgl. Saage, 2015, S. 530. Ebd.
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Individuums, insbesondere des Herrschers, im Vordergrund, das frei von privaten Interessen den politischen Institutionen Geltung verschaffen muss.²⁸ Wilhelmines Position offenbart sich durch die weiteren Bedeutungsschichten des Gartens. Inspiriert von den vorgefundenen Felsen, die an importierte Darstellungen und europäische Vorstellungen fremder Landschaften erinnerten, wurde im angrenzenden Felsenhain durch Errichtung chinoiser Staffagen auf den Felsen die Nachbildung einer chinesischen Landschaft en miniature geschaffen (Abb. 3). Als Chinoiserie stellte Sanspareil das fremde Land als utopischen Idealstaat vor.²⁹ Auch der mit niedrigen Kuppeln, zeltartigen Dächern und großen Rundbogennischen versehene Morgenländische Bau (Abb. 2) erinnert an zeitgenössische Beschreibungen ferner Länder und Reiseutopien. Im Sinne einer Vergegenwärtigung von Vergils Arkadien – als Ästhetisierung des Augusteischen Friedens nach einer Epoche von Bürgerkriegen über die Renaissance als antikes Ideal im kulturellen Gedächtnis Europas verankert – oder von Idealstaatsutopien in fremdländischem Gewand werden in der fränkischen Landschaft bei gleichzeitigem verklärendem Rückgriff auf die eigene Herrschaftstradition bereits mehrere Konzepte vorgestellt, die die Rehabilitierung und Stabilisierung herrschaftlicher Institutionen für Harmonie und Konfliktfreiheit einer Gesellschaft voraussetzen.
IV Les Aventures de Télémaque als literarisches Gartenprogramm Hier half die gütige Natur, Des Schöpfers Weisheit, Größ und Stärke, Sophiens Forschen auf die Spur Und wies sich Ihrem Augenmerke. Die weise Fürstinn fand den Wald Im Kleinen eben so gestalt, Wie Telemachs und Mentors Reisen, Wie Telemach der Weisheit Frucht, Mit Trojens Helden, aufgesucht, Warum? Sie gleichet selbst Minervens Bild und Weisen.³⁰
Vgl. ebd. Vgl. Vogel, 1996; Habermann, 1982, S. 169 – 172. Hedenus, 1749, S. 154.
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Mit diesen Worten beschrieb der im nahegelegenen Wonsees ansässige Pfarrer Markus Friedrich Hedenus in einem wohl anlässlich der Fertigstellung des Gartens verfassten Huldigungsgedicht, wie Wilhelmine als „weiseste Erfinderinn“³¹ von der Erscheinung der natürlichen Landschaft zur Initiierung des didaktischen Gartenprogramms inspiriert wurde, gleichsam selbst in der Rolle Minervas, die im populären Roman in Gestalt Mentors den jungen Telemach begleitet. Als Anlass diente ihr vermutlich die geplante Fürstenhochzeit, die zu einem Teil in Sanspareil gefeiert werden sollte. Warum die Festgesellschaft letztlich doch nicht hier Station machte, ist nicht überliefert. Das Gedicht huldigt nicht nur dem Markgrafenpaar als Bauherren, sondern spielt auch auf das Brautpaar an, wodurch es naheliegt, den jungen Carl Eugen mit der Hauptfigur Telemach bzw. als Adressaten des aus dem Kontext der Prinzenerziehung stammenden Programms zu identifizieren.³² Darüber hinaus fasst das Gedicht das literarische Programm zusammen und verknüpft es in zum Teil ausführlichen Fußnoten mit einzelnen Staffagen und Stationen des Gartens. Dieses literarische Programm kam ohne zusätzliche Staffagebauten aus und integrierte gleichsam alle vorherigen semantischen Zuschreibungen im Garten. Als Vorbilder für eine derartige Literarisierung³³ konnten der Markgräfin italienische Renaissancegärten, landschaftlich gestaltete Kreuzwege und Kalvarienberge oder literarisch ausgestaltete Gärten (z. B. der Irrhain des Pegnesischen Blumenordens) und Boskettbereiche des Barock (z. B. das Labyrinth in Versailles mit Themen aus Fabeln Äsops nach Jean de La Fontaine) dienen, die im 18. Jahrhundert durch druckgraphische Werke weit verbreitet waren. Das im Hain eingebettete Ruinentheater (Abb. 3, 4) legt außerdem einen Bezug zur zeitgenössischen Fest- und Aufführungspraxis nahe. Im Kontext von Opernaufführungen und Festlichkeiten wurden Gartenpartien oft vollständig umgedeutet.³⁴ Durch Wilhelmines Engagement nahm die Oper in Bayreuth die Stellung einer Art Leitgattung unter den Künsten ein.³⁵ Außerdem bot sich die Möglichkeit der Anknüpfung an die lokale literarische Tradition. Zwischen den Felsen um die Burg Ebd. Vgl. ebd., S. 151. Demnach ließe sich Telemach mit Carl Eugen, Antiope mit der ihm zugedachten Elisabeth Friederike, Idomenäus mit dem Brautvater und Wilhelmine mit Minerva in der Gestalt Mentors identifizieren. Wilhelmine war mit dem Charakter des Schwiegersohnes nicht zufrieden. Carl Eugen war bekannt für unzählige Liebschaften, Verschwendungs- und Prunksucht. Seine Regierungszeit als Herzog von Württemberg war geprägt durch Despotismus und zahlreiche Affären. Bis zu seinem Lebensende erkannte er nicht weniger als 77 natürliche Söhne an. Die Ehe hielt nicht lange. Elisabeth Friederike kehrte 1756 an den elterlichen Hof zurück. Vgl. Becker, 2012. Vgl. Langewitz, 2015. Vgl. Müller-Lindenberg, 2005; Henze-Döring, 2009.
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Zwernitz ließ sich schon seit jeher keine Landwirtschaft betreiben, wodurch sich Bäume und Gehölz ansiedelten. Der dadurch entstandene Charakter einer der alltäglichen Umwelt enthobenen Insel regte die Fantasie von Literaten an. Der im nahegelegenen Wonsees geborene Humanist Friedrich Taubmann verglich bereits 1604 den Felsenhain mit der Insel Ithaka, der Heimat des Odysseus.³⁶ Die Allegorisierung des Markgrafen mit Odysseus war im 17. Jahrhundert eine auch in Bayreuth übliche Form des Herrscherlobs.³⁷ Bereits in den Jahrhunderten vor Anlage des Gartens war es die Literarisierung, die eine Ästhetisierung der bizarren Natur des späteren Sanspareils ermöglichte. Les Aventures de Télémaque waren im 18. Jahrhundert das Standardwerk der Prinzenerziehung, durch Wilhelmines Großmutter Kurfürstin Sophie Charlotte von Brandenburg auch am Berliner Hof.³⁸ Mit den Conversations sur le livre de Télémaque (1700) beauftragte sie ihren Bibliothekar und Vorleser Isaac de Larrey mit der Niederschrift der Gespräche, die sie mit ihrem Sohn Friedrich Wilhelm im Garten zu Lützelburg – so die im Protokoll geschilderte fiktive Gesprächssituation – anlässlich der Lektüre und Rekapitulation des Telemach führte. Die Konversation sollte die Funktion eines pädagogischen Leitfadens übernehmen.Was Sophie Charlotte, Friedrich Wilhelm, Wilhelmines Bruder Friedrich – der entscheidende Züge seines im Antimachiavell (1740) geschilderten Herrscherideals Fénelons Telemach entlehnte – und Wilhelmine aus dem Werk zogen, waren Kernsätze einer pragmatischen Philosophie und das Pflichtethos eines ‚aufgeklärten‘ Herrschers. Der Abbé de Fénelon, Erzieher des siebenjährigen Enkels und möglichen Thronfolgers Ludwigs XIV., erkannte die Identifikation von Staats- und Eigeninteresse in der Person des Herrschers als Grundübel des Ancien Régime. Da das Warten auf einen Wandel des Sonnenkönigs hoffnungslos schien, setzte er mit der Erziehung des petit prince auf die Zukunft. Begleitet von der in Gestalt des Mentor auftretenden Minerva durchmisst Telemach, auf der Suche nach seinem Vater, die ganze Weite des ethischen Denkens und das ganze Spektrum der antiken Kulturen, um auf diese Weise an verschiedenen Höfen und in der Unterwelt die Ideale und Gefahren des absolutistischen Königtums kennenzulernen.³⁹ Dabei lernen sie
Hedenus erwähnt den Vergleich Taubmanns, vgl. Hedenus, 1749, S. 152, Anm. a). Während er in Bayreuth lebte, wurde Sigmund von Birken damit beauftragt, dem bereits verstorbenen Markgrafen Christian Ernst mit der Beschreibung seiner grand tour ein literarisches Denkmal zu setzen. Der Dichter gestaltete die Kavalierstour analog zur Odyssee: vgl. Birken, 1669. Vgl. Roberts, 2004, S. 95 f. Zur Verwendung des Telemach am Berliner Hof vgl. Bensiek, 1972, S. 186 – 197; Schmitt-Maaß, 2018, S. 117– 127 und S. 322– 339. Zur Textgeschichte, Gattungsfrage, inhaltlichen Ausrichtung und pädagogischen Zielen des Romans vgl. Kapp, 1984.
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auch die beiden utopischen Idealgesellschaften Baetika (eine Naturstaatsutopie) und Salent (ein ideales agrarisches Gemeinwesen, Staatsutopie) kennen. Gute Beispiele werden angepriesen, schlechte getadelt. Auf diese Weise werden die ethischen Grundlagen des absolutistischen Staates erörtert. Auf übliche zeitgenössische Lektüreerfahrungen zurückgreifend (Homer, Vergil, Ovid, Platon) dient die Antike als Folie zur moralischen Unterweisung nach christlichen Idealen und nebenbei zur Vertiefung von Kenntnissen der griechisch-römischen Mythologie. Am Ende der Reise kehrt Telemach als ideales Beispiel eines Fürsten, dessen uneigennütziges Handeln zum Garanten des öffentlichen Wohls werden kann, mit seinem Vater nach Hause zurück. Wilhelmine deutete den gesamten Hain in Sanspareil nach Fénelon als Insel Ogygia der Nymphe Kalypso.⁴⁰ Durch Veranschaulichung eines Herrscherideals wurde ein weiterer Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung erlebbar gemacht. Bauten, Grotten und Plätze des Hains wurden nachträglich entsprechend benannt. Die Benennung der Orte erfolgte durch ovale Schilder (Abb. 5). Das Romangeschehen bildete den Anlass zu Gesprächen. Szenen der Handlung konnten beim Durchwandern der Anlage erinnert, nacherzählt oder nachgespielt werden. Zur Entstehungszeit von Sanspareil war der Roman Allgemeingut und in verschiedensten Umarbeitungen, als Parodie, in pädagogischem, theologischem, staatstheoretischem und galantem Kontext, als theoretische Schrift, Bühnenadaption, Opernlibretto usw. verarbeitet worden.⁴¹ Eine Beeinflussung Wilhelmines durch eine Parodie von Fénelons Roman⁴² scheint möglich, schließlich war die „Imitation von literarischen Werken, aber auch die satirische Gleichsetzung von Für eine genaue Zuordnung der einzelnen Staffagen und Gartenpartien zur Handlung vgl. Roberts, 2004, S. 99 – 111. Roberts folgt nicht der heute von den offiziellen Führern vorgeschlagenen Route, sondern der zeitgenössischen Beschreibung Hedenusʼ. Vgl. Schmitt-Maaß, 2018. Nach Pfeiffer, 1966 war nicht Fénelons Roman, sondern die Télémaque travestie von Pierre Marivaux (1715) Wilhelmines Vorlage. Dem schlossen sich zahlreiche an, u. a. Habermann, 1982, Schmitt-Maaß, 2018. Durch Roberts genauere Analyse der Gartenbeschreibungen und den Vergleich mit den literarischen Vorlagen Wilhelmines muss diese Ansicht modifiziert werden. „Wilhelmine’s goal in designing the garden was fidelity to the natural landscape rather than to a particular text. Her primary literary source was Fénelon, but reinforced with material from Homer, especially at the beginning and the end of the garden. Marivaux’s Télémaque travesti was a minor influence, mainly in its rusticity, its playfulness, and its european setting.“ (Roberts, 2004, S. 112). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Brunkhorst, 1997. Da Marivauxs Travestie von fast pedantischer Werktreue geprägt ist, dem Vorbild fast Abschnitt für Abschnitt folgt, Fénelon und Marivaux zudem viele grundlegende Werte teilten und beide die Notwendigkeit eines gebildeten, verantwortungsbewussten Herrschers sahen, erscheint es unmöglich bzw. unnötig, Wilhelmines Inspirationsquelle genauer zu benennen. Vgl. Whatley, 1977. Für die Anspielung auf lebende Personen bedurfte es nicht der Travestie als Vorlage.
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literarisch-fiktiven Figuren und historisch-tatsächlichen Personen […] beliebtes Gesellschaftsspiel der Markgräfin“⁴³. In dem Fall dient die Travestie in der Literatur wie im Garten „der Reduktion einer übersteigerten Verehrung auf menschliche Dimensionen“⁴⁴. Auf Ogygia muss der Sohn des Odysseus vor allem sinnlichen Versuchungen widerstehen und mit der Hilfe Minervas seine Charakterstärke unter Beweis stellen. Die Nymphe Kalypso setzt im Roman ihre gesamten Verführungskünste ein, damit ihr nicht noch einmal der Geliebte entflieht, wie zuvor der Vater Odysseus. Fénelon betont die verlockende Wirkung der überquellenden Natur und den raffinierten Luxus inmitten der ländlich-natürlichen Einfachheit; Ideen, die sich auch auf die Gartenanlage Sanspareil anwenden lassen. Damit ist, noch ehe Télémaque vor Kalypso flieht, das Bild des üppigen Gartens negativ besetzt. Die wuchernde Natur wird mit ‚wollüstigen Begierden‘ gleichgesetzt, denn die ungezügelte Entwicklung des natürlichen Menschen ist das, was der Erziehungsroman gerade verhindern will. […] Propagiert werden daher Tugend und Selbstbeherrschung.⁴⁵
Am Ende des Hains als gestalterischer Höhepunkt lag hinter einer geräumigen natürlichen Höhle das Ruinentheater (Abb. 3, 4) als Verbindung von Felsen und Architektur. Hier – in der Grotte der Kalypso – verbinden sich nicht nur Natur und Kunst, sondern auch moralisches Programm und Unterhaltung der Hofgesellschaft. Die Konzentration auf die Ogygia-Episode nutzte Wilhelmine, um Kalypso mit im Vergleich zum Roman ansprechenderen Eigenschaften auszustatten. Durch Theater und nahegelegenen grünen Ballsaal als Orte von Musik, Gesang, Schauspiel, Tanz und Dichtung überträgt Wilhelmine ihre eigene Liebe zu den Künsten auf Kalypso. Vielleicht wollte Wilhelmine, dass die Gartenbesucher den Garten als ebensolche sinnliche Versuchung erlebten, wie Telemach Ogygia, um dann geläutert Minerva und der zugedachten Aufgabe, der Suche nach dem Vater Odysseus, zu folgen. Mentor, der durch die amourösen Verwicklungen im Bannkreis der Kalypso die Tugend Telemachs in Gefahr sieht, stürzt am Ende der Episode sich und ihn ins Meer. Zwar wird im Hain nur die Insel der Kalypso dargestellt, doch durch die verschieden – landschaftlich und geometrisch – gestalteten Gartenareale und Semantisierungen, die Einbeziehung der Burg, die Chinoiserie, das morgenländisch gestaltete Neue Schloss und die Einbeziehung der landwirtschaftlich genutzten Umgebung und des Dorfes Zwernitz bot ein Spaziergang reichlich Asso-
Brunkhorst, 1997, S. 54. Ebd. Ebd.
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ziationsmöglichkeiten, um auch die anderen im Roman vorgestellten ethischen Fragen und Staatsprobleme zu erörtern. Die Opposition von wuchernder Natur und geordnetem Garten, die in Fénelons Erzählung anhand von Telemachs Aufenthalt auf Ogygia, der Vorgeschichte des Romans, aufgebaut wird, setzt sich den ganzen Roman hindurch fort, und gipfelt schließlich in einer staatsmännischen Glanzleistung Mentors, der seinen Schützling nach einer längeren Trennung mit einem beispielhaft wohlgeordneten Staatswesen überrascht. Die Reformierung Salents durch Mentor zum idealen Staat soll dem zukünftigen Herrscher alle notwendigen Kenntnisse vermitteln, die ihn dazu befähigen, als idealer Fürst im Sinne des aufgeklärten Absolutismus ein vorhandenes, aber unvollkommenes Staatswesen vernünftig einzurichten und zu regieren, sodass Glück und Wohlstand aller Bürger dauerhaft gesichert sind. Die anhand von Salent beschriebene Art von Garten, wohlbestellte Felder und geordneter Ackerbau, wird zum Inbegriff einer positiven Staatsform unter weiser Regentschaft. Auf diese Weise werden „an der Opposition unterschiedlicher Arten von Gartenbau und Feldbestellung […] erzieherische Ideale versinnbildlicht“⁴⁶. Nützlichkeit, nicht Geometrie oder Natürlichkeit, ist das Selektionskriterium für die Gartengestaltung. Das Erzählen in Kontrasten, bedingt durch die didaktische Absicht, führt dazu, dass der ertragbringende Ackerbau über den Luxus des Lustgartens gestellt wird, jedoch auch der geordnete Garten über die üppige, ungezügelte Natur.⁴⁷ Während der Schifffahrt von Ogygia nach Salent erfährt Telemach jedoch zunächst von einer anderen utopischen Gesellschaft. Der Befehlshaber des Schiffes, das Mentor und Telemach nach dem Sturz ins Meer aufnahm, berichtet von Baetika, einem Land mit schöner, fruchtbarer Natur, liebenswürdigem, unschuldigem Charakter und naturgemäß lebenden Bewohnern, die „ihre ganze Weisheit nur aus dem Studium der einfachen Natur geschöpft haben“⁴⁸. Sie folgen einzig dem Naturrecht als dem Inbegriff aller vernünftigen und der Wesensnatur des Menschen entsprechenden Normen. Diese durch alle gattungstypischen Merkmale der Naturstandsutopie gekennzeichnete Idealwelt kann von Telemach jedoch nicht besucht werden.⁴⁹ Er erfährt von ihr nur aus Erzählung; sie liegt, wie das Goldene Zeitalter, mehr in der Vergangenheit als in der Ferne. Als der SalentEpisode unmittelbar vorausgehendes Modell veranschaulicht Baetika das Ideal eines naturgemäßen, auf kultureller Einfalt und Unschuld basierenden, im Einklang mit der Natur lebenden Gemeinwesens, wie es im fortgeschrittenen, mo-
Ebd., S. 50. Vgl. ebd. Fénelon, 1984, S. 147. Zu Baeitika im Kontext der Tradition der Naturstandsutopie vgl. Baudach, 1993, S. 477– 485.
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ralisch verderbten Kulturzustand zwar nicht wiederhergestellt werden, wohl aber bei der Reformierung als Regulativ dienen kann: Der status naturalis der Bäter, der verderbte status legalis der Salentiner vor Mentors Reform und ihr späterer utopischer status legalis sind damit als Gesellschaftszustände gekennzeichnet, die in einem inneren kulturgeschichtlichen Zusammenhang stehen: Sie repräsentieren die drei Hauptstufen eines allgemeingültigen, auf die kulturell-moralische Entwicklung aller Gesellschaften übertragbaren (und damit auch vom Leser auf seine Erfahrungswelt anwendbaren) geschichtsphilosophischen Denkmodells.⁵⁰
Auch in Sanspareil wird dieser entscheidende Schritt zu einem zukunftsorientierten, dreistufigen Geschichtsmodell vollzogen. Ausgehend von Rückgriffen auf die antike und die eigene dynastische Vergangenheit wird die Möglichkeit einer idealen Gesellschaft in die Zukunft projiziert und mit einer geschichtsphilosophisch begründeten linearen Teleologie verbunden. Durch das entstehende Fortschrittsdenken der Aufklärung wird die Ordnung der Welt nicht mehr als gottgegeben hingenommen, sondern als durch das Individuum veränderbar erkannt. Die aufgeworfene Thematik der dritten Stufe, die Frage, wie Moralität und Glück des vergangenen Naturzustandes in der Kultur der Zukunft wiederhergestellt werden können, wird von Fénelon und Wilhelmine eindeutig, wenn auch im Interesse der didaktischen Wirksamkeit stark vereinfachend, beantwortet. Es gilt, einen der Aufgabe angemessenen Fürsten heranzubilden. Dies „setzt einen ungebrochenen Glauben an die nahezu unumschränkte politische Wirkungsmacht eines vollkommenen Philosophenkönigs, d. h. an die Möglichkeit voraus, jedes Volk zu einem guten und glücklichen machen zu können, sofern nur die richtigen administrativen Maßnahmen dazu ergriffen werden.“⁵¹ In der pädagogischen Funktion, die zur Verwirklichung dieses Ziels beitragen soll, liegt schließlich auch die Nützlichkeit begründet, durch welche sich Sanspareil als fürstlicher Garten legitimiert. Sie begründet keine unmittelbare Nützlichkeit, wie Ackerbau und Gemüsegarten, sondern eine „metaphorische Nützlichkeit, die im Verweisungscharakter bzw. der Sinnbildlichkeit seiner Ordnungsstrukturen liegt“⁵². Nicht nur die literarischen Programme, die alternative Ideale eines Staates und eines Herrschers präsentieren, sondern auch die Struktur des Gartens selbst, bietet einen Gegenentwurf zur höfischen Kultur des 18. Jahrhunderts. Der kleinere Maßstab und die Distanz zum höfischen Zentrum kleinerer Lustschlösser und Gartenanlagen ermöglichte nicht nur kreative architektonische Experimente,
Baudach, 1993, S. 479. Ebd., S. 484. Brunkhorst, 1997, S. 51.
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sondern sie dienten auch als Fluchtort, an dem die sonst bindenden sozialen Normen reduziert werden konnten. Die entlegeneren Anlagen boten Möglichkeiten für soziale Interaktion im kleineren Kreis, in ungezwungenerer, weniger ritualisierter Form in der Natur. Da sonst bindende Formen zeremonieller Bewegung und sozialer Hierarchien außer Kraft gesetzt wurden, forderte der Garten die Initiative der Benutzer, die improvisieren und sich körperlich auf ungewohnte Weise betätigen mussten. Viele Wege waren unregelmäßig angelegt. Der Hain konnte in kleineren Gruppen, paarweise oder allein erkundet werden, in Konversation oder in stiller Erfahrung der Natur. Es gab Plätze im Wald und in den Felsen, in kühlen Höhlen, die zum Essen und Trinken an aus Stein gehauenen Tischen dienen konnten, für die Konversation oder auch zum Lesen in der Einsamkeit des Waldes. Die Gartennutzer mussten in den Felsen gehauene Treppen erklimmen und sich durch schmale Felsspalten bewegen. Den ungewöhnlichsten körperlichen Einsatz erforderte das sogenannte Hühnerloch (Abb. 6). Hier konnte ein den Weg versperrender Felsen nur auf allen Vieren bzw. rittlings passiert werden.⁵³ Zahlreiche Reisebeschreibungen schildern diese Erfahrung, die schnell zu einem obligatorischen Bestandteil des Gartenbesuchs wurde.⁵⁴ Die semantischen Gartenprogramme waren wahrscheinlich notwendig, um den Gartenbesucher zu derartig ungewohnten, von sozialen Regularien außerhalb des Gartenraums abweichenden Aktionen zu bewegen. Sie sollten daher nicht als Bedeutung des Gartens verstanden werden, sondern vielmehr als Bedeutungshorizont, in dem die Gartennutzer Sinn aus ihrer Situation machen und notwendige Aktionen improvisieren konnten.⁵⁵ Mithilfe der illusionsbildenden Kraft von Literatur und Kunst wurde der Gartennutzer zum aktiven Gestalter eines geteilten Gartenerlebnisses und war nicht nur passiver Kunstbetrachter, was neuartige Formen sozialer Kommunikation befördern konnte. Durch das Hühnerloch müssen alle kriechen. Eine für ‚Herrschaften‘ gänzlich ungewohnte und der eingeübten Körperlichkeit zuwiderlaufende Handlungsweise, die in Belustigung und befreiendem Lachen Auflösung gefunden haben dürfte, zugleich aber […] ein Stück körpersprachlich praktizierter Aufklärung mit naturrechtlicher Implikation: Vor der Natur sind alle gleich, die Natur kennt keine Vorrechte. Nicht nur der aufrechte Gang, sondern auch das Sich-Bücken kommt allen zu. […] ein in Stein gefasstes Gleichheitspostulat, das theoretisch, als Anschauung der Felsen, dasteht und
Vgl. Hedenus, 1749, S. 153, Anm. c). Vgl. Köppel, 1997, S. 14. Vgl. Conan, 2007.
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zugleich, bei jedem Sich-Bücken-Müssen der Besucher vor dem Fels, praktische Realisierung erfährt.⁵⁶
So wurde unter der Oberfläche eines aristokratischen Eskapismus, die Idee einer individuellen Freiheit geboren⁵⁷, die einmal gedacht und am eigenen Leibe erfahren, nicht ohne Folgen bleiben konnte.
V Fazit – Gärten als realisierte Utopien? Thomas Nipperdey charakterisierte die Aufklärung als „utopienahe Zeit“⁵⁸. Dass im 18. Jahrhundert einerseits die literarische Utopie einen enormen Aufschwung und andererseits die Gartenkunst eine Konjunktur erlebte, die sich in hohem gattungshierarchischen und gesellschaftlichen Stellenwert niederschlug, ist sicher kein Zufall, sondern gründet sich auf beide Gattungen beeinflussende, ideengeschichtliche Entwicklungen. Die Utopie – als gedachter Entwurf einer Welt – hat in der Zeit der Aufklärung politische Funktion, „erweist sich als Übergang zum Um- und Neuschaffen der Welt; die in ihr vorweggenommene Schöpferkraft des Menschen erfüllt nun das Zeitalter“⁵⁹. Die im Hinblick auf die Zukunft erdachte Utopie verstand sich selbst als Programm; und sie wurde auch so verstanden. Das Beispiel Sanspareil belegt, dass innerhalb der Gartenkunst, genauso wie in der Literatur⁶⁰, mehrere Utopiekonzepte wechselseitig fruchtbar nebeneinander existierten. Anders als die zu Anfang vorgestellte Analogie zwischen landschaftlicher Gartengestaltung und herrschaftsfreier, anarchistischer Utopie vermuten lassen würde, wird im zu großen Teilen naturbelassenen Sanspareil nicht in vorrevolutionärer Gesinnung die Abschaffung des Absolutismus propagiert. Kritik an gegenwärtigen Zuständen und Herrschenden, Vorschläge für Verbesserung und Vorzeigen moralischer Ideale dienen nicht der Abschaffung, sondern der Reform herrschaftsstabilisierender Institutionen. Allerdings wird das Ideal hier in einer Weise „naturalisiert“⁶¹, indem ein Leben „den Vorschriften der Natur folgend, zugleich so weise und so glücklich“⁶² als Folie eines Ideals ange-
Auf diese Weise interpretiert Karl Braun einen Felsengarten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Fichtelgebirge nordöstlich von Bayreuth. Vgl. Braun, 2005, S. 53 – 55. Vgl. Müller, 2008. Nipperdey, 1962, S. 366. Ebd. Vgl. Funke, 1999. Saage, 2015, S. 529. Fénelon, 1984, S. 152.
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dacht wird, wie es die älteren Staatsutopien und die Gartenkunst zuvor nicht kannten. „Wenn die Gesellschaft harmonisch funktionieren und das Glück der Bürger verwirklicht werden soll, muss sie sich der Natur annähern. Identisch mit der Vernunft ist sie die eigentliche Gegenfolie zum Elend und der Zerrissenheit der europäischen Zivilisation.“⁶³ Sanspareil steht fest in einem spezifischen gartengeschichtlichen Traditionszusammenhang. Der Garten ist sowohl Teil der aristokratischen Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung dynastisch-absolutistischer Ansprüche als auch künstlerisch geschaffene Bühne für die Diskussion grundlegender ethischer und sozialer Fragen. Wenn auch bei der Gartennutzung zeitweise das höfische Amusement und Spektakel im Vordergrund gestanden haben mag, kam es Wilhelmine von Bayreuth mit der Initiierung des literarischen Gartenprogramms wohl doch auf mehr an, als auf „die Evozierung einer mythologisch-poetischen Stimmung im Park“⁶⁴. Es liegt im Wesen der Utopie, dass sie aufhört, Utopie zu sein, wenn sie sich als realisierbar erweist. Anders als bei anderen Versuchen der Verwirklichung der Utopie, z. B. bei Idealstadtentwürfen der Frühen Neuzeit, verlieren utopische Konzepte im Garten nicht bei Eintritt in die Wirklichkeit ihre Faszination, indem sie in den Alltag übergehen. Der Garten bleibt dem Alltag enthoben, Experiment unter veränderten Bedingungen, ausschnitthafte Andeutung einer Möglichkeit. Er nivelliert partiell soziale Hierarchien, stellt alternative Ideale vor und fordert Rechte des Menschen symbolisch in der Natur ein. Eigentlich utopische Erfahrungen, zunächst nur im abgeschlossenen, dem üblichen sozialen Umfeld enthobenen Raum des Gartens realisierbar, boten nicht nur Anregungen zur Diskussion grundsätzlicher staatstheoretischer Fragen, sondern hatten durch die körperliche Erfahrung das Potential, von den Besuchern aus dem Garten mitgenommen zu werden. Neue Gartenrituale trugen langsam zu kulturellem Wandel bei, indem sie Kategorien der Erfahrung von Natur, des eigenen Selbst und legitimer körperlicher Aktionen transformieren halfen. Nicht zuletzt verpflichtete das im Garten evozierte Programm „den Besitzer gewissermaßen dazu, die literarischen Schilderungen mit der praktischen Erfahrbarkeit ihrer Versprechungen zu verknüpfen“⁶⁵; wenn nicht in der Führung des gesamten Herrschaftsgebiets, dann zumindest innerhalb des herrschaftlichen Gartens.
Saage, 2015, S. 529. Krückmann, 2012, S. 90. Schweizer, 2008, S. 36.
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VI Abbildungen
Abb. 1: „Prospect von dem alten Schloß zu Sanspareil nach dem Römersberg“
Abb. 2: „Prospect von dem haupt Eremite-Gebaeude zu Sanspareil“
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Abb. 3: „Prospect des Lust Cabinets auf dem Felsen und bey der Höhle Calypse samt einem Theil des Theatri zu Sanspareil“
Abb. 4: „Prospect von dem Theatro zu Sanspareil“
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Abb. 5: „Gespaltener Fels und grüner Tisch (fälschlich als Grotte der Calypso bezeichnet)“
Abb. 6: „Das Sogenannte Hühnerloch zu Sanspareil“
Abb. 7: „Plan von dem Lustschlos Sanspareile im Bayreuthischen“
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Johann Thomas Köppel, Prospect von dem alten Schloß zu Sanspareil nach dem Römersberg, Kupferstich, 1748, Staatsbibliothek Bamberg, V Ec 66. Foto: Gerald Raab. Abb. 2: Johann Thomas Köppel, Prospect von dem haupt Eremite-Gebaeude zu Sanspareil, Kupferstich, 1748, Staatsbibliothek Bamberg, V Ec 67. Foto: Gerald Raab. Abb. 3: Johann Thomas Köppel, Prospect des Lust Cabinets auf dem Felsen und bey der Höhle Calypse samt einem Theil des Theatri zu Sanspareil, Kupferstich, 1748, Staatsbibliothek Bamberg, V Ec 68. Foto: Gerald Raab. Abb. 4: Johann Thomas Köppel, Prospect von dem Theatro zu Sanspareil, Kupferstich, 1748, Staatsbibliothek Bamberg, V Ec 69. Foto: Gerald Raab. Abb. 5: Johann Gottfried Köppel, Gespaltener Fels und grüner Tisch (fälschlich als Grotte der Calypso bezeichnet), Kupferstich, 1793, Staatsbibliothek Bamberg, JH.Top.q.60#2. Foto: Gerald Raab. Abb. 6: Johann Gottfried Köppel, Das Sogenannte Hühnerloch zu Sanspareil, Kupferstich, 1793, Staatsbibliothek Bamberg, JH.Top.q.60#2. Foto: Gerald Raab. Abb. 7: Johann Christoph Bechstatt, Plan von dem Lustschlos Sanspareile im Bayreuthischen, 1796, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Historische Kartensammlung, Mappe006_14.
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Tim Willmann
Mythologie der Vernunft? Zum Utopie-Entwurf im sogenannten ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus I Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus: Der Text und seine visionären Postulate Der Beitrag widmet sich einem kurzen und fragmentarisch überlieferten Text, dessen Entstehung um die Jahre 1796/1797 datiert wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt, publizierte ihn Franz Rosenzweig erstmals 1917 unter dem Titel Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. ¹ Bereits über die Angemessenheit dieses von Rosenzweig gewählten Titels ließe sich diskutieren, setzt das Textfragment doch unvermittelt ein. Der insgesamt agitatorische und bisweilen pathetische Sprachduktus postuliert ohne konzise Argumentation, sondern vielmehr in einer lockeren Reihung und Umdeutung zentraler philosophischer Begriffe eine gesellschaftspolitische Utopie, die durch eine spannungsvolle Synthese von Vernunft und Mythologie erreicht werden soll. Von einem begrifflich elaborierten System oder einem Systemprogramm kann daher nicht die Rede sein. Dieser Gesamteindruck führt dazu, dass sich die Forschungsgeschichte zur Autorschaft dieses Textfragments weit ausdifferenziert hat; als Autoren kommen in der Forschung vorzugsweise Hegel und Schelling, seltener Hölderlin, infrage. Einige Grundüberlegungen² mögen die Problemlage nur skizzieren: Der handschriftliche Befund weist auf Hegel als Autor, wobei der Schreibduktus nahelegt, dass Hegel eine Abschrift angefertigt haben könnte von einer früheren Version, die er möglicherweise zuvor von Schelling oder Hölderlin erhalten hatte. Doch stehen der reißerische Ton sowie ein gewichtiger Teil zu Ästhetik, Mythologie, Dichtung und umfassender Staatskritik hierzu im Kontrast und lassen eher an Schelling als Autor denken. Allerdings ist der gegenüber der Philosophie exponierte Status der Dichtung ein Topos, der mit Hölderlin assoziiert
Rosenzweig, 1917, S. 1– 50, Wiedergabe des Manuskripts S. 5 – 7; im Folgenden „ÄS“ abgekürzt. Vgl. zum Überblick auch Jaeschke, 2016, S. 69 – 72. https://doi.org/10.1515/9783110756944-009
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wird. Die Mehrheit der zahlreichen Einzelstudien zum sogenannten Systemprogramm favorisiert nur einen dieser drei als möglichen Autor dieses Textfragments, wobei die Deutungsmuster häufig von einer je eigenen projektiven Aneignung für den protegierten Philosophen oder Dichter geleitet erscheinen. Pöggelers 1965 aufgestellte These zur Autorschaft Hegels³ wird 1989 in einer umfassenden Arbeit zur Rezeptionsgeschichte und Interpretation des Systemprogramm[s] von Hansen⁴ bestätigt und im Allgemeinen akzeptiert. Zweifel bleiben aber bestehen, die Zuspitzung auf einen einzigen Autor erscheint dem Gegenstand nicht angemessen zu sein und verstellt den Blick für die Synergien mehrerer Autoren dieses einen in Hegels Handschrift überlieferten gedanklichen Entwurfs. Im Zentrum stehen somit die Eigenheiten dieses Textfragments, seine argumentativen Sprünge und Brüche sowie die daraus resultierenden Spannungen, die bis heute zu einer anhaltenden Auseinandersetzung mit ihm geführt haben. Im begrenzten Rahmen dieses Beitrags kann es also nicht darum gehen, die Frage der Verfasserschaft ultimativ zu klären. Stattdessen soll ein strittiger Kerngedanke dieses Textes näher beleuchtet werden, der die Vermittlung von Vernunft und Mythologie und damit von Philosophie und Dichtung als notwendige Bedingung für eine gesellschaftspolitische Utopie reklamiert und daher in hohem Maße fragwürdig erscheint. Am Ende des Beitrages wird ein Ausblick auf Hölderlins Fragment philosophischer Briefe unternommen, das in einigen Grundüberlegungen mit denen der im Systemprogramm geforderten Ideen übereinzustimmen scheint. Jedoch soll Hölderlin nicht als Verfasser des Systemprogramm[s] betrachtet werden. Der problematische Grundgedanke einer Synthese von Philosophie und Poesie zur Bildung einer aus der Aufklärung hervorgehenden neuen Religion wird aber auch bei Hölderlin im utopischen Entwurf eines Sozialzusammenhangs thematisch. Worin besteht die Notwendigkeit einer Synthese von Vernunft und Mythologie? Es ist vor allem Manfred Frank, der die wesentlichen Zusammenhänge erarbeitet hat, in denen eine junge Generation frühromantischer Dichter und Philosophen die zersetzende Reflexionskraft der scheinbar selbstgenügsamen Vernunft kritisiert hat:⁵ Unter diesen Kritikern sind vor allem Hölderlin, Novalis und Schlegel zu nennen, die in jeweils eigensinniger Weise die philosophischen Systementwürfe ihrer Zeit, insbesondere Kants und Fichtes, rezipieren und kritisieren. Denn im Zuge ihrer radikalen Religionskritik zersetze die Vernunft nicht nur die bisherige Wertbasis gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern letzt Vgl. Pöggeler, 1969, S. 17– 32. Hansen setzt die Entstehungszeit des Textfragments für die Zeit zwischen März und August 1795 an, in der Hegel, während seiner Berner Zeit, von der Forschung noch als Kantianer angesehen wird. Vgl. hierzu Hansen, 1989, S. 16. Vgl. Frank, 1982, S. 153 – 216.
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lich auch die Legitimation ihrer selbst. Damit üben die Verfasser im Systemprogramm zugleich eine Kritik an der analytischen Konzeption der Vernunft: Die Vernunft scheint ihrer Fundierung in einem Selbstgefühl entbehren zu können. Die fehlende Rücksichtnahme auf das Selbstgefühl jedes Menschen sei Symptom einer Subjekt-Spaltung in Vernunft und Gefühl zu Lasten des letzteren, sodass die Selbstbegründung der Vernunft fraglich werde.Vor diesem Hintergrund müsse die Vernunft dem Bedürfnis nach einer „neue[n] Mythologie“ oder auch einer „neue[n] Religion“⁶ Rechnung tragen. Doch geht es hierbei nicht um einen Regress in vorkritisches mythisches Denken religiöser Überlieferungen, das die Einsichten der Aufklärung revidieren würde. Stattdessen müsse die Vernunft, so Frank, „vom alten Mythos nur die Funktion transzendenter Legitimation retten“.⁷ Diese „neue Religion“ funktionalisiere das kommunikative Moment der Mythologie im Dienste der Vernunft. Ihre Artikulationsform ist die Dichtung als ästhetisch-praktische Realisierung der Idee der Schönheit und ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Manfred Frank das Systemprogramm sogar als „Gründungsakte des deutschen Idealismus in seiner romantisch-ästhetischen Spielart“⁸. Aus der Vernunft wird eine Wertbasis gesellschaftlichen Zusammenlebens wiedergewonnen und in sowie als Poesie kommuniziert. Die Dichtung vermöge die Ideen der Vernunft zu versinnlichen und ermögliche ein Selbstgefühl jedes Einzelnen mit der gesellschaftspolitischen Wirkung eines sozialen Zusammenhalts. Im Systemprogramm gilt die Poesie folglich als der „höchste Akt der Vernunft“⁹. Indessen bleibt fraglich, inwiefern Poesie ihre eigenen mitunter nicht-diskursiven Qualitäten behaupten kann, wenn sie die höchste Ausdrucksform der Vernunft sein soll.
II Die gesellschaftspolitische Utopie einer „neuen Religion“ Der Überschwang aller dieser Postulate, die das Systemprogramm mehr assoziativ als argumentativ formuliert, verwahrt sich gegenüber einer strengen begrifflichen Durchdringung und werkgenetischen Kontextualisierung, die die Zuordnung zu einem einzigen Autor erlaubte. Daher erscheint es sinnvoller, einige Zusammenhänge zum Verhältnis von Mythologie und Vernunft darzustellen, um sich dem
ÄS, S. 7. Frank, 1982, S. 189. Ebd., S. 153. ÄS, S. 6.
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Textfragment und seinen Forderungen anzunähern: „Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.“¹⁰ Wurden mýthos und lógos anfänglich synonym verwendet, so kristallisiert sich in der nachhomerischen Zeit eine antonyme Verwendung heraus. Der Begriff ‚Mythologie‘ ist ein Kompositum aus mýthos für erdichtete Erzählung und lógos für rationale Argumentation. Der Ausdruck ‚Mythologie‘ verbindet also fiktionalerzählende mit vernünftig-argumentierender Rede. Der Begriff der ‚Mythologie‘ enthält bereits eine kritisch-rationale Distanzierung vom Mythos und von mythischen Erklärungsmustern, insofern deren Wahrheitsanspruch vonseiten der Vernunft als zweifelhaft betrachtet wird.¹¹ Das im Systemprogramm vorgängige Verständnis von Vernunft ist offenkundig von Kants Denken entlehnt. In erkenntnistheoretischer Perspektive definiert er sie als das „Vermögen der Prinzipien“¹². Sie ordnet die Erkenntnisse aus der Synthese von Sinnlichkeit und Verstand über bestimmte Sachverhalte allgemeineren Regeln unter. Ihre eigenen menschlich fundierten Grenzen kann sie nicht zum Übersinnlichen hin überschreiten. Kant zeigt daher, wie sich die Vernunft in Paralogismen und Antinomien verstrickt, sobald sie versucht, auf Unbedingtes zu schließen oder dessen Existenz zu erweisen, beispielsweise Gott. Bereits Kant konstatiert, dass der transzendentale Gebrauch der Prinzipien und Ideen der reinen Vernunft obliege.¹³ Dabei bestimmt Kant die Idee insbesondere als einen alle Erfahrung transzendierenden Begriff aus Notionen, der seinen Inhalt ursprünglich aus den reinen Begriffen des Verstandes bezieht und damit unabhängig von der Sinnlichkeit operiert.¹⁴ Die Bezugslosigkeit zur Sinnlichkeit lässt ihre entworfenen Ideen gegenüber aller Erfahrung als transzendent erscheinen. Einem Vernunftbegriff oder einer Idee kann kein extramentales Korrelat der Erscheinungswelt korrespondieren. Kants Definition der Idee sei im Folgenden als Summe seiner Überlegungen an dieser Stelle zitiert: Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe t r a n s z e n d e n t a l e I d e e n . Sie sind Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft
ÄS, S. 7. Vgl. Matuschek, 2007, S. 524. Kant, KrV, B 356. Vgl. ebd., B 376. Vgl. ebd., B 377.
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selbst aufgegeben, und beziehen sich daher notwendiger Weise auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transzendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung, in welcher also niemals ein Gegenstand vorkommen kann, der der transzendentalen Idee adäquat wäre.¹⁵
Die transzendentale Realität der Vernunftbegriffe respektive Ideen beruht auf der Notwendigkeit des vernünftigen Schlussfolgerns, die Vernunft sieht sich zur Bildung der drei transzendentalen Ideen (psychologische, kosmologische, theologische) getrieben. Insofern erhält der Vernunftschluss ohne empirische Prämissen scheinbar objektive Realität. Die dialektischen Vernunftschlüsse erlauben daher keine die Erfahrung überschreitende Erkenntnisweise, sondern übernehmen nach Kants Bestimmung die Funktion „ r e g u l a t i v e r Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt“¹⁶, nämlich als die drei transzendentalen Ideen von Seele, Welt und Gott. Vor diesem Hintergrund sind Mythenbildungen aller Art überkommen, sie erscheinen als Verworrenheiten dialektischer Vernunftschlüsse aufgrund einer unzulässigen Vermengung mit Inhalten der Erfahrungserkenntnis. Mythenbildungen stellen somit eine nicht-vernünftige, vorkritische Form von Erklärungsmustern dar. Angesichts dieser Zuspitzung erscheint die Forderung nach einer Mythologie der Vernunft als eine anachronistische Synthese zweier Extreme, die die kritische Rückfrage nach einem unsinnigen wissenschaftlichen Regress in längst suspendierte Erklärungsmuster provoziert. Das Systemprogramm aber greift diesen kritisch-rationalen Umgang mit dem Mythos bereits in Form der Mythologie auf und stellt ihre Verwendung nun in den Dienst vernünftiger Ideen. Die Leistungsfähigkeit der Vernunft wird nicht negiert, sie soll vielmehr in einer ästhetisch-praktischen Absicht potenziert werden. Dafür muss sich die Mythologie Kants praktischer Bestimmung der Vernunft fügen. Die Vernunft kann nicht innerhalb ihrer bloß theoretischen Grenzen bleiben, sondern muss sich im Ausdruck freien Willens auf bestimmte Zwecke hin entwerfen und damit praktisch realisieren. Deshalb ist sie als theoretische Vernunft das „Vermögen der Prinzipien“¹⁷, als praktische Vernunft aber zugleich das „Vermögen der Zwecke“¹⁸. Zwecke sind Entwürfe der Vernunft, die aus subjektiver Freiheit praktisch realisiert werden sollen. Ein Zweck enthält die Ursache, eine bestimmte Vorstellung oder Idee wirklich werden zu lassen. Deshalb hat ein Zweck auch den Status eines Postulats. Die Vernunft muss also die Gesamtheit ihrer theoretischen Sätze, ihre
Ebd., B 384. Ebd., B 699. Ebd., B 356. Kant, KpV, A 103.
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Vorstellungen oder Ideen, auf einen Zweck beziehen, um sie in praktischer Absicht begründen zu können. Die theoretische Vernunft fundiert sich in der praktischen Realität ihrer Zweckentwürfe und damit im moralischen Handeln. Allerdings ergibt sich an dieser Stelle ein Hiatus zwischen Praxis und Ästhetik. Das Systemprogramm setzt ein mit den Worten: „eine Ethik.“¹⁹ Danach bezieht es sich explizit auf Kants Ethik und typisiert vor deren Hintergrund den eigenen Entwurf als „vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate“²⁰. Erst an einer späteren, eigens exponierten Stelle wird die Ästhetik thematisch. Das Systemprogramm bleibt die Vermittlung zwischen Praxis und Ästhetik schuldig. Soll der Zweckentwurf aber, hypothetisch betrachtet, gelingen, so müsste die praktische Umsetzung der Idee zugleich moralisch und ästhetisch sein, gewissermaßen als ein von Mythologie durchdrungenes moralisches Handeln, das sich als Versinnlichung vernünftiger Zweckentwürfe realisiert. Derlei Verknüpfungen werden im Textfragment argumentativ nicht erwogen. Zunächst jedoch geht das Systemprogramm von der „erste[n] Idee“ aus, wie es heißt, nämlich von der „Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen“²¹. Die Freiheit des vernünftigen Subjekts ist hier der Grund für das Postulat einer Synthese von Poesie und Philosophie. Sie wird als Zweckentwurf freier vernünftiger Wesen aufgestellt, um praktisch realisiert zu werden, allerdings nur in und als Dichtung. Die praktische Realität einer „Mythologie der Vernunft“²² erweitert somit theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch um die Ästhetik. Es ist eine ästhetisierende oder versinnlichende Komponente der Mythologie gemeint, die den Ideen der Vernunft Realität verleihen soll. So auch vor allem der Idee Gottes. An dieser Stelle des Textfragments wäre einzuwenden, inwiefern Theorie und Praxis sich einem auf eine Ästhetik ausgelegten Gesamtkonzept fügen. Inwiefern kann Poesie ihren Eigenwert und damit ihre begrifflich nicht vollends einholbaren Ausdrucksmöglichkeiten erhalten, wenn sie letztlich höchster Akt der Vernunft sein soll? Die Mythologie der Vernunft wäre dann lediglich eine Einkleidung vernünftiger Ideen in den Ausdruckswert poetischer Formen, ohne dass die Notwendigkeit dafür eingesehen werden könnte. Poesie selbst könnte somit nicht länger zum höchsten Akt der Vernunft erhoben werden, sondern wäre auf einer Ausdrucksebene zu lokalisieren, die ihr Eigenrecht gegenüber diskursiven Artikulationsweisen nicht behaupten könnte. Das beschworene Potential der Poesie verflachte zum formelhaften, begrifflich un-
ÄS, S. 5. Ebd. Ebd. Ebd., S. 7.
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scharfen Ausdruck und stünde der postulierten, revidierten und um Mythologie erweiterten Vernunft entgegen. Wenn nun das Systemprogramm aus der subjektiven Freiheit vernünftiger Wesen eine „Mythologie der Vernunft“²³ als zu realisierenden Zweck entwirft, kann damit aber kein Regress in einen vorkritischen mythischen Aberglauben beabsichtigt sein. Der Ausdruck selbst reflektiert vielmehr die kritische Haltung zum Mythos und fordert einen vernünftigen Ideen genügenden Umgang mit ihm. Nur in diesem Kontext skizzieren die Autoren im Systemprogramm eine Potenzierung von theoretischer und praktischer Vernunft durch die Mythologie, und zwar in einem ästhetischen (möglicherweise performativ gemeinten) Akt der Poesie. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. […] Die Poesie bekömmt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit ²⁴.
Philosophie und Poesie sollen einander wechselseitig ergänzen. Der Mythos leistet die Nachempfindung der Ideen, ohne die Argumentstruktur durchdringen zu müssen. Der „höchste Akt der Vernunft“ besteht in und als Dichtung. Poetische Rede gilt daher nicht als beliebig austauschbares sprachliches Vehikel zum Ideentransport, sie soll vielmehr das Substrat sein, in dem sich die Ideen ästhetisch realisieren. Dies hieße auch, dass die Idee des Göttlichen ästhetisch realisiert werden müsste, um den unterstellten latenten Mangel bloßer theoretischer Reflexion der Vernunft zu überwinden. Die Aufgabe der Poesie soll es sein, sämtliche theoretische Sätze und praktische Postulate der Vernunft sowie alle ihre Ideen zu umfassen und ihnen überhaupt erst ästhetische Realität zu verleihen. Demnach wäre die Poesie die Verwirklichung der Idee des Schönen. Ihre Verwirklichung enthält zugleich die beiden Ideen von Wahrheit und Güte. Die Anleihe an diese platonische Ideentrias ist also in sich selbst synthetisch funktionalisiert: Die Idee der Wahrheit betrifft alle Sätze der theoretischen Vernunft, die Idee der Güte die Zweckentwürfe und Postulate der praktischen Vernunft, und die Idee der Schönheit umfasst beide als Zweckentwurf ästhetischer Realisierung in der Dichtung. Die Poesie soll also von theoretischer und praktischer Vernunft, sowie Wahrheit und Güte, durchdrungen sein und sie gewissermaßen in actu hervorbringen. Die Umsetzung dieses Programms ist die Versinnlichung der Idee
Ebd. Ebd., S. 6 f.
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des Göttlichen in und als Poesie. Dadurch wird ihr zugemutet, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Hiermit zeigen sich zugleich deutliche Bezüge zur frühromantischen Theoriebildung. Sowohl Friedrich Schlegels Konzept einer „progressiven Universalpoesie“²⁵ als auch Friedrich von Hardenbergs Absicht einer „Romantisierung der Welt“²⁶ sind einer vergleichbaren Zusammenführung von Philosophie und Poesie verpflichtet. Im 116. Athenäums-Fragment fordert Schlegel eine Vereinigung aller literarischer Gattungen, die Synthese von Poesie, Philosophie und Rhetorik mit dem politischen Ziel, „das Leben und die Gesellschaft poetisch zu machen“²⁷. Das 116. Athenäums-Fragment formuliert den Kern der frühromantischen Poetologie und wertet dabei die Freiheit der Dichtung und den Dichter gegenüber jeder Theorie entscheidend auf: Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.²⁸
Während das Systemprogramm eher von der Theorie über die Praxis nach moralischen Maßstäben bis hin zur Dichtung aufsteigt, blickt das 116. AthenäumsFragment selbst schon „auf den Flügeln der poetischen Reflexion“²⁹ zurück auf alle überwundene Theorie. Stefanie Roth hat in ihrer umfangreichen Studie über Hölderlins Beziehung zur deutschen Frühromantik dargelegt, inwiefern gerade die junge Dichtergeneration um 1800 aus der aufklärerischen Mythenkritik hervorgegangen ist, um eine Absolutsetzung der Vernunft durch ihre Rückbindung an eine aufgeklärte Form von Mythologie und Poesie zu verhindern. Nur die poetische Philosophie oder philosophische Poesie als Vereinigung von Reflexion und sinnlicher Anschauung vermag die ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘ oder das ‚Eine‘ zu erkennen und zu gestalten. Wird das Erkennen und die Darstellung der Ganzheit, der absoluten Synthese zum Zentrum poetischer Reflexion, wird die Poesie selbst zur Universalwissenschaft, zum vereinigenden Prinzip von Kunst und Leben, Ich und Welt, Sinnlichkeit und Verstand, Realität und Idealität.³⁰
Schlegel, 1958, S. 182. Novalis, 1960, S. 545. Schlegel, 116. Athenäums-Fragment, S. 182. Ebd. Ebd. Roth, 1991, S. 145.
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Es fragt sich nun, warum im Systemprogramm und auch in den Poetologien der Frühromantiker die Dichtung eine derartige Aufwertung gegenüber der theoretischen und praktischen Vernunft erhält. In welcher Hinsicht wird die Poesie funktionalisiert? Und was ist die spezifische Differenz, die ihre Ausdrucksfähigkeiten vor denen der Vernunft auszeichnet? Im Systemprogramm hat Poesie nur als „höchster Akt der Vernunft“ ihre ästhetisch-praktische Realität. Es geht hier also weder um die Suspendierung der Philosophie oder Vernunft noch um die bloße poetische Einkleidung reflexiv gewonnener Einsichten der Vernunft in den Mythos. Denn das Systemprogramm markiert hiermit vielmehr einen entscheidenden Unterschied zwischen logisch-diskursiver Thematisierung von Ideen vermittels einer aus der Vernunft gewonnen Einsicht in die Notwendigkeit poetischen Ausdrucks und deren Verwirklichung in einer konkreten poetischen Sprachhandlung, die als Effekt des höchsten Vernunftakts auf diesen zurückverweist. Die Relevanz der Poesie bestünde gerade in einer eigenen je singulären Ausdrucksform, die allenfalls annähernd aber eben nicht vollkommen rückübersetzbar in ein reflexives Verständnis wäre. Damit verfolgt das Postulat einer Mythologie der Vernunft eine graduelle Synthese von Poesie und Philosophie. Dieser philosophisch-poetische Bereich wäre vonseiten einer logisch-diskursiven Kritik immer dem Vorwurf ausgesetzt, sich einem umfassenden begrifflichen Zugang zu entziehen und dadurch auf den Status vorkritischer Mythenbildung zurückzufallen. Damit würde das Systemprogramm jedoch sein erklärtes Ziel einer aus der Vernunft wiedergewonnenen „neue[n] Religion“³¹ verfehlen. Eine solche Kritik übersieht aber, dass die Notwendigkeit einer Mythologie der Vernunft gerade auf Basis vernünftiger philosophischer Reflexion eingefordert wird. Der philosophisch-poetische Bereich bezeichnet diejenige Schwelle, an dem die vernünftige Reflexion in einen ästhetischen Akt übergehen soll, möglicherweise einem Sprung vergleichbar, der zwar theoretisch thematisiert und eingefordert wird, aber nur ästhetisch-praktisch als Poesie realisierbar erscheint. Hölderlin lässt seinen Hyperion im gleichnamigen Briefroman einen vergleichbaren Gedanken aussprechen: Aus bloßer Vernunft kömmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn blinde Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines möglichen Stoffs. Leuchtet aber das göttliche εν διαφερον εαυτω, das Ideal der Schönheit der strebenden Vernunft, so fordert sie nicht blind, und weiß, warum, wozu sie fordert.³²
ÄS, S. 7. Hölderlin, 1975–2008, Bd. 11, S. 683.
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Das ‚Mehrʻ der Philosophie erscheint hier als Überbietung diskursiver Erkenntnis und infolgedessen als Forderung eines poetischen Ausdrucks, der die Realisierung der Postulate respektive Zweckentwürfe praktischer Vernunft auf das Erreichen des Ideals³³ der Schönheit und dem so begriffenen Göttlichen (des Einen in sich selbst unterschiedenen) ausrichtet. Dort, wo die Aufklärung ihre Grenzen in der theoretischen Vernunft erkennt, wird die Realisierung ihrer Ideen nur als und in Dichtung möglich.³⁴ Vergegenwärtigt man, dass das Systemprogramm eine Fülle von Ideen anführt, erhält die Dichtung somit eine enorme Aufwertung und Verantwortung. Demnach müsste sie eine ästhetische Realisierung der übergeordneten, Wahrheit und Güte umfassenden Idee der Schönheit sein. Diese Ideentrias enthielte bereits alle anderen Ideen in sich, so etwa die Idee der Freiheit, der Menschheit, des ewigen Friedens und Gottes. Doch worin besteht die Motivation zu einer solchen Konzeption? Der praktische Nutzen wird mit Blick auf eine gesellschaftspolitische Utopie formuliert. Ich zitiere die entsprechende Stelle: Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des
Die rein gedankliche Existenz des Ideals der Schönheit gilt Hölderlins Hyperion als Mangel: „Der Mensch, begann ich wieder, der nicht wenigstens im Leben einmal volle lautre Schönheit in sich fühlte, wenn in ihm die Kräfte seines Wesens, wie die Farben am Irisbogen, in einander spielten, der nie erfuhr, wie nur in Stunden der Begeisterung alles innigst übereinstimmt, der Mensch wird nicht einmal ein philosophischer Zweifler werden, sein Geist ist nicht einmal zum Niederreißen gemacht, geschweige zum Aufbaun. Denn glaubt es mir, der Zweifler findet darum nur in allem, was gedacht wird, Widerspruch und Mangel, weil er die Harmonie der mangellosen Schönheit kennt, die nie gedacht wird.“ (ebd., S. 680 f.). Vgl. hierzu auch Frank/Kurz, 1977. Die Autoren dieses Aufsatzes verweisen auf die Defizienz des idealistischen Prinzips des Selbstbewusstseins. Sich selbst völlig transparent enthalte es bereits den Grund seiner eigenen Negation: „Was sich als Verkehrung der Wirklichkeit weiß, wird in dem Augenblick zur Verkehrung seiner Verkehrtheit gezwungen, in dem die Skepsis gegen die Autonomie der Reflexion zu Einsichten führt, welche die fortdauernde Unfreiheit des Faktischen nicht länger als notwendigen Schein der Vernunft verleugnen, sondern diese Leugnung selbst auf das undurchschaut inverse Verhältnis der Reflexion zur Faktizität zurückführen. Die Reflexion sucht den Grund ihrer Täuschung in der spiegelbildlichen Verkehrung ihres Gegenstands. Als reflexive unfähig, ihn positiv darzustellen, erkennt sie sich in ihrer Verkehrung als von ihm abhängig.“ (S. 75) Das Werk der Autoren Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka illustriert exemplarisch die Kritik der Reflexion an sich selbst und deutet auf eine tiefer liegende nichtpersonale Voraussetzung von Vernunft, Selbstbewusstsein und Reflexion im Gefühl.
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Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.³⁵
Dieses Programm klingt phantastisch – und das in der Ambivalenz des Wortsinns: Das Pathos trägt die Suggestionskraft des schönen Scheins der hier entworfenen Ideen. Dadurch aber rückt die Realisierbarkeit dieser gesellschaftspolitischen Vision ins Unerreichbare, Utopische, Illusorische. Das Pathos, von dem diese Ausführungen getragen sind, ist befremdlich, es wird vielleicht verständlicher, wenn man sich die Zielsetzung der gesellschaftspolitischen Vision vor Augen führt. Das Systemprogramm handelt von der Konzeption einer versinnlichten Vernunft als Dichtung. Ihre Realisierung ist an ein Erziehungskonzept universeller Bildung geknüpft, um letztlich einen gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder ermöglichen zu können, der implizit als zerrüttet angenommen worden sein muss. Das Systemprogramm geht damit also von einer gesellschaftlichen Zersplitterung aus und entwirft die Mythologie der Vernunft mit dem Ziel eines herbeizuführenden Sozialzusammenhangs. Vor diesem Hintergrund verwirft das Systemprogramm auch jede Idee des Staates als maschinenhaftes Konstrukt. Stattdessen geht es von der Idee der Menschheit aus, um den Gedanken einer Herrschaft allgemeiner Freiheit und Gleichheit der Individuen zu ermöglichen. Der Ton der folgenden Stelle klingt geradezu anarchisch und verwirft per se jede Staatskonzeption, die vom Ideen-Verständnis des Textfragments als defizitär betrachtet wird: Die Idee der Menschheit voran – will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. ³⁶
Manfred Frank hat darauf hingewiesen, dass der Begriff der Maschine ebenfalls seinen hier vorgängigen Gegenbegriff hervorruft, nämlich den Begriff des Organismus. In einem Organismus enthalte jede Zelle die Idee vom Zweck des Ganzen, während die Teile eines Mechanismus ohne die Idee einer inneren Zweckmäßigkeit funktionieren.³⁷ Und auch Kant stellt fest, dass Dinge, als Naturzwecke
ÄS, S. 7. Ebd., S. 6. Vgl. Frank, 1982, S. 155 ff. Dazu auch S. 155: „Die Kritik am Staat als Maschine appelliert ja […] an den Gegenbegriff des Organismus, d. h. eines Gebildes, in das, wie in die Zelle eines Körpers,
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gedacht, organisierte Wesen seien.³⁸ Mit dem Begriff des Organismus ist also zugleich auch ein konstitutives Verständnis von Natur eingeführt, die in sich als zweckmäßig gedacht wird. Kant gibt folgende Definition: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“³⁹ Durch die Opposition von Organismus und Mechanismus (respektive Maschine) muss aus der Haltung der im Systemprogramm entwickelten Assoziationen jedes Staatsgebilde, sofern man dessen Struktur einem Mechanismus gleichsetzt, als in sich disparates Gefüge seiner Teile erscheinen und daher sein Ungenügen im Vergleich zu den entworfenen Ideen provozieren. Der Staat erscheint den Verfassern dieses Textfragments als in sich zweckloses Räderwerk, also als in sich unvernünftig. Daher ist mit dem unterstellten mechanischen Charakter des Staates auch jede Idee vom Staat unmöglich geworden, insofern sie dem Naturcharakter eines Organismus widerspricht. Die Organisation des Staates müsste dem unterstellten organischen Wesenszug der Natur analog strukturiert sein, um eine legitime Form menschlichen Miteinanders in Form eines utopischen Sozialzusammenhangs begründen zu können. Die Absage an den Staat resultiert also aus einem vorgängigen Verständnis von Natur und ihrer unterstellten Zweckmäßigkeit als Organismus, die der Staat analog nicht erfüllen kann. Die entworfene Utopie ist aber eine Form gesellschaftlichen Miteinanders, das eine innere Zweckmäßigkeit aufweisen soll, indem es den natürlichen Organismus zum Vorbild nimmt. Diese gesellschaftspolitische organische Einigkeit soll als neue Religion den nur mechanischen Staat überwinden. Sie wäre damit die zu realisierende Vision des Konzepts einer Mythologie der Vernunft in und als Poesie.
III Ausblick auf Hölderlins Entwurf Fragment philosophischer Briefe Abschließend möchte ich einen möglichen Bezug zum Werk Friedrich Hölderlins und dessen Funktionalisierung des Mythos skizzieren.⁴⁰ Im Fragment philosoZweck und Idee des Ganzen eingeschrieben sind. Im Gegensatz zum Mechanismus, dessen Federn, Räder und Treibriemen ohne Funktionsverlust ausgetauscht werden können und deren Teile grundsätzlich nicht in sich selbst die Idee vom Zweck des Ganzen enthalten.“ Vgl. Kant, KdU § 65, B 289. Ebd., § 66, B 296. Vgl. hierzu auch Frank, 1990/1991; mit Bezug auf Hölderlins Entwurf Über Religion respektive Fragment philosophischer Briefe, besonders S. 21– 31.
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phischer Briefe unternimmt Hölderlin eine Bestimmung des Religiösen und nennt es einen „höhere[n] mehr als mechanische[n] Zusammenhang“⁴¹. Analog zum Systemprogramm geht es ihm darum, wie Kreuzer konstatiert, die „ethische Bedeutung des ästhetischen Sinns zu begründen und daraus die Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Philosophie, Religion und Poesie zu ziehen.“⁴² Dazu führt Hölderlin die menschliche Freiheit, als Grund aller Ideen (d. h. der reinen Vernunftbegriffe), mit der Idee Gottes zusammen: Die menschliche Freiheit muss ihre Zweckentwürfe auf die Realisierung der Idee Gottes im ästhetischen Sinn ausrichten. Ebendies meint Hölderlins Wendung einer „höhere[n] Aufklärung“⁴³. Darum nennt Hölderlin die ästhetische Realisierung dieser aus der Vernunft entworfenen Idee Gottes auch den „unendlicheren Zusammenhang des Lebens“⁴⁴. Die Postulate oder Zweckentwürfe der praktischen Vernunft werden also in einen ästhetischen Akt überführt, d. h. die Idee Gottes als poetisches Bild verwirklicht. Dieses poetische Bild ist der gemeinsame Bezugspunkt aller Individuen für gelingende Kommunikation. Denn es ist Ausdruck einer geteilten normativen Basis in der Sprache der Dichtung. Hölderlin geht nun einen Schritt weiter und vertritt die Ansicht, dass dieses gemeinsame Schema des Religiösen sowohl episch überlieferbar als auch dramatisch aufführbar sein müsse. Hier veranschaulicht also ein poetisches Bild das Modell eines erneuerten religiösen Empfindens als gesellschaftlichen Sozialzusammenhang. Daher zieht Hölderlin auch den Schluss: „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poëtisch.“⁴⁵ Als Versinnlichung vernünftiger Ideen kann dieses poetische Bild symbolisch die Position des Göttlichen einnehmen. Dann ist es im kantischen Sinne die begrifflich unausdeutbare symbolische Anschauung des Göttlichen.⁴⁶ Religion erhält ihre Verbindlichkeit also über die kommunikative Funktion des Mythos. Er verbindet intersubjektiv und nimmt das Substrat des Religiösen auf, aber nicht als Konstrukt der Begriffe, sondern im poetischen Bild der gemeinsamen Normen und Werte, es sei episch, dramatisch oder lyrisch. In diesem Sinne spricht Hölderlin auch vom „Gott der Mythe“⁴⁷. Damit ist also keine unkritische Rehabilitierung der traditionellen Religion als Versammlung einer Kultgemeinde beabsichtigt, die die Existenz Gottes glaubt. Der Ausdruck ‚Gottʻ ist
Hölderlin, 1975–2008, Bd. 14, S. 45 – 49; S. 46. Kreuzer, 1998, S. XVI. Hölderlin, 1975–2008, Bd. 14, S. 48. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. Vgl. Kant, KdU § 59, B 257. Hölderlin, 1975–2008, Bd. 14, S. 49.
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hier nur die Bezeichnung für das Modell eines religiösen Sozialzusammenhangs, das als gemeinsame Basis gesellschaftlicher Einigkeit gefühlt und in wie auch als Poesie symbolisch angeschaut wird. Damit erhält die Dichtung die politische Funktion, einen als verloren empfundenen Sozialzusammenhang wiederherstellen zu müssen. Ob sie diesen enormen Anspruch einlösen kann, bleibt fragwürdig.
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Dennis Sölch
Philosophie als utopische Existenz: Thoreaus Kritische Theorie I Einleitung Philosophen sind nicht von dieser Welt. Was klingt wie die halb amüsierte, halb resignierte Diagnose derjenigen, die das zweifelhafte Glück hat, mit einem Philosophen verheiratet zu sein, ist eine Erkenntnis, die ebenso weit zurückreicht wie die abendländische Philosophie selbst. Während die Vorstellung eines der Welt entrückten Philosophierens mit Blick auf den in den Brunnen gefallenen Thales von Milet noch als spöttische Kritik an dem Denker vorgebracht wird, der gedankenverloren nicht einmal der Welt vor seinen eigenen Füßen gewahr ist, wird sie bei Platon zum Moment der Selbstaufklärung der Philosophie über ihre eigene Tätigkeit. Ihren prägnantesten Ausdruck findet diese Selbstreflexion in einem der wirkmächtigsten Texte der europäischen Geistesgeschichte überhaupt, nämlich dem platonischen Höhlengleichnis. Das zur Illustration der menschlichen Natur im Hinblick auf Bildung und Unbildung entwickelte Gleichnis skizziert eine Gesellschaft, die prima facie frei scheint von existentieller Not und politischer Unruhe. Das Interesse der Menschen richtet sich auf die äußere Welt, so wie sie ihnen erscheint, und diese ist zugleich Gegenstand der alltäglichen Kommunikation. Die Aufmerksamkeit gilt den Schatten und Geräuschen innerhalb der Höhle und sofern die Menschen miteinander reden, bezieht sich auch die Sprache auf dieses unmittelbar Vorhandene.¹ Entscheidend ist, dass diese unterirdische Welt, Platons Beschreibung zufolge, eine strukturierte und rational geordnete Welt ist. Es ist den Höhlenbewohnern möglich, die Objekte ihrer sinnlichen Wahrnehmung wiederzuerkennen und Vorhersagen darüber anzustellen (απομαντεύομαι), welche Phänomene als nächstes sichtbar werden.² Mehr noch, die soziale Hierarchie innerhalb der Gesellschaft basiert auf der unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit, die empirische Welt möglichst genau zu erkennen und ihren künftigen Verlauf vorherzusehen. Öffentliches Ansehen genießen diejenigen, deren Augenmerk sich auf die Beobachtung der empirischen Phänomene und die nüchterne Beschreibung ihrer regelhaften Ordnung richtet. Diese Ordnung ist freilich eine gänzlich immanente,
Vgl. Platon, Politeia, 515b. Vgl. ebd., 516d. https://doi.org/10.1515/9783110756944-010
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ihre Erklärung eine geradezu positivistische, die sich allein auf das sinnlich Gegebene beruft. Die Frage, ob eine transzendente Entität hinter den Erscheinungen der empirischen Welt existiert und deren Voraussetzung oder Ursache ist, lässt sich aus der Sicht der Höhlenbewohner gar nicht beantworten, und so ist es keineswegs verwunderlich, sondern vielmehr vernünftig und plausibel, dass die Menschen dem Philosophen, der ihnen die Befreiung und den Aufstieg zum Licht verspricht, mit Skepsis begegnen und sich dagegen sträuben, ihren Kopf von der gewohnten Welt abzuwenden, um in eine Richtung zu blicken, die sich bestenfalls schemenhaft abzeichnet. Da sie die Schatten an der Höhlenwand nicht als Schatten wahrnehmen und einen für die relevanten Belange vollkommen funktionalen Begriff von der natürlichen Ordnung ihrer Welt haben, stellt sich unweigerlich die Frage nach dem möglichen Mehrwert jener ‚Befreiung‘ von all dem, was vertraut ist und sich bewährt hat. Auf diese Frage gibt es jedoch keine Antwort, die aus der Binnenrationalität der Höhlenwelt heraus verständlich wäre, sodass der einzelne Mensch nur gegen seinen Willen an einen Ort gebracht werden kann, für den es in seinem bisherigen Leben nicht einmal Worte gibt. Die Befreiung bleibt, wie Heidegger betont, dem Menschen äußerlich;³ sie stellt eine Zumutung dar, weil sie verlangt, das gesamte bisherige Leben ebenso wie die bewährte Ordnung des Denkens hinter sich zu lassen und in seiner Gesamtheit infrage zu stellen. Der mühsame Aufstieg aus der Höhle, der schließlich in die Erkenntnis ihrer Relativität und Bedingtheit mündet, beschreibt, wie Platon hervorhebt, einen Bildungsweg. Der Weg ist gleichsam jener der Philosophie: Wer ihn einschlägt, beginnt damit, ein philosophisches Leben zu führen. Ein solcher Prozess einer geistigen Entwicklung vollzieht sich nicht in Form einer graduellen Aneignung von Wissen, sondern bedeutet eine Revolution des Denkens. Der Mensch, der von seinen Fesseln befreit wird, muss erst den Kopf wenden (περιάγειν), sich also von den vermeintlichen Gewissheiten abwenden, auf deren Grundlage das gesamte bisherige Leben beruht hat. Der Pfad der Erkenntnis bringt kein zusätzliches Wissen, das lediglich quantitativ verschieden wäre von dem bereits Bekannten, vielmehr unterscheidet das entfesselte Denken sich in seinem Anspruch und in seiner Reichweite fundamental von der Binnenrationalität des Status Quo, die nichts außerhalb des selbstevidenten, positiv Gegebenen kennt. Damit ist zugleich gesagt, dass die Entscheidung für die Philosophie, die den Weg aus der Höhle weist, keine rationale Entscheidung ist. Wer sich auf den Entwicklungsprozess einlässt, der kann weder auf allgemein einsichtige Gründe dafür verweisen noch vermag er die Konsequenzen seiner Wahl zu überblicken. Erst im
Vgl. Heidegger, 1988, S. 36.
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Verlaufe des Aufstiegs wird es überhaupt möglich, die bis dahin logisch geschlossene und rational erfasste Welt in ihrer Gesamtheit von einer neuen Warte aus in den Blick zu bekommen und ihre politischen Normen ebenso wie ihre epistemischen Maßstäbe kritisch zu beurteilen. Nur in der Rückschau, nachdem die den Phänomenen zugrunde liegenden Ursachen erfasst worden sind, ist es möglich, die neue Lebenssituation mit der alten abzugleichen und sich aus guten Gründen „glücklich zu preisen“⁴ über die durchgemachte Veränderung. Wenn es also keine vernünftige Einsicht ist, die den Entschluss zu einem philosophischen Leben motiviert, dann beruht die Wahl vor allem auf einer utopischen Hoffnung, auf einer vagen Vorstellung von der Möglichkeit eines anderen Lebens, das wir auf eine noch nicht näher bestimmbare Weise als ein gutes Leben ansehen und das unsere Neugierde weckt. Weil „wir unser ganzes Leben hindurch immer voll sind von Hoffnungen“⁵ und Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen treffen müssen, besteht der wesentliche Schritt auf dem Weg in die Philosophie darin, sich der Herausforderung des Unbekannten zu stellen und sich eine Phase der Ungewissheit und Beschwerlichkeiten bewusst zuzumuten. Der Entschluss, sich auf das Wagnis des Philosophierens einzulassen, ist in gewisser Hinsicht irreversibel. Wer die Höhle einmal gänzlich verlassen und die dortigen Schatten als Schatten erkannt hat, für den ist das Tor zu den früheren Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten versperrt. Es würde nicht bloß eine Weile dauern, bis seine an das Tageslicht gewöhnten Augen sich erneut auf die Dunkelheit in der Höhle eingestellt haben, sondern die Vorstellung, er könne jemals vergessen, dass die Schatten lediglich Schatten sind, und sie wieder für die Wirklichkeit halten, mutet geradezu absurd an. Wer sich auf den mühsamen Weg der Erkenntnis eingelassen hat, ist für ein dauerhaftes Leben unter den Wertmaßstäben des gesellschaftlichen Alltags verdorben. Eine in materieller Hinsicht karge, aber dem Streben nach Weisheit verschriebene Existenz wird der Philosophierende einem unreflektierten Hedonismus in Wohlstand und Luxus stets vorziehen.⁶ Die Normen, an denen sich die eigene Lebensführung orientiert, haben sich im Verlaufe des Aufstiegs in einer Weise verändert, die vorher unvorstellbar scheinen musste. Es entspricht der Natur eines Gleichnisses, mehr Fragen aufzuwerfen, als es selbst zu beantworten vermag. Es wäre wohl auch arg vermessen, vom Höhlengleichnis eine zufriedenstellende metaphysische und soziopolitische Reflexion seiner unausgesprochenen Prämissen zu erwarten, besteht sein Anspruch doch
Platon, Politeia, 516c. Platon, Philebos, 39e. Vgl. Platon, Politeia, 516d.
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lediglich darin, die mögliche Bildung der menschlichen Natur und den stufenweisen Aufstieg zur Erkenntnis zu illustrieren. Gleichwohl stellt uns der sich im philosophischen Leben vollziehende Entwicklungsprozess vor zwei eng miteinander verknüpfte Herausforderungen, die den Philosophierenden bzw. die Philosophie selbst wesentlich betreffen. So stellt sich zum einen die Frage nach der Möglichkeit einer gelingenden Verständigung zwischen dem Philosophen und der Gesellschaft, insofern ja die Prinzipien und Maßstäbe, an denen Ersterer sich orientiert, den übrigen Menschen epistemisch nicht unmittelbar zugänglich sind und ihnen bestenfalls als metaphysische Spekulation, schlimmstenfalls wie ein religiöser Wahn erscheinen dürften. Auf welche Weise kann der „gulf in communication between philosophers and the rest of society“⁷ überwunden werden, um zumindest in einzelnen Menschen die Hoffnung zu wecken, dass der schwierige und in seinen Konsequenzen nicht zu überschauende Weg die Mühe wert ist? Die Frage nach der Anleitung der Gesellschaft zu einem gelingenden Leben scheint umso problematischer, als es den Philosophen gar nicht um eine Durchsetzung dessen geht, was sie als normativen Maßstab für ihr eigenes Leben erkannt und anerkannt haben.⁸ Sie sind zwar dank ihrer Außenperspektive auf die Gesellschaft geradezu prädestiniert für eine politische Führungsrolle, aber keineswegs an der Ausübung von Macht interessiert. Der vernünftige Mensch zwingt seinen Rat niemandem auf und greift nicht zu Gewalt, sondern schweigt im Zweifel lieber und betet, dass seiner Polis Gutes geschehen möge.⁹ Das im Höhlengleichnis angedeutete Ideal sieht also nicht vor, sukzessive alle Menschen gewaltsam zu befreien und sie zum Aufstieg zu zwingen. Wie aber kann der Philosoph auch nur erwarten, durch einen erneuten Abstieg in die Höhle Gutes zu bewirken, wenn aufgrund unterschiedlicher epistemischer Horizonte einer nüchternen argumentativen Überzeugung auf der Grundlage eines geteilten Rationalitätsverständnisses enge Grenzen gesetzt sind? Gehen wir im Anschluss an diese von Platon selbst ins Politische gewendete Perspektive über zu einer die individuelle Entscheidung für ein philosophisches Leben betreffenden existentiellen Sichtweise, stellt sich zweitens die Frage nach der Motivation für den Aufstieg. Der Philosoph kann demjenigen, der bereit ist, ihm zuzuhören, den Aufbruch zwar erleichtern, aber den Entschluss, diesen beschwerlichen Weg zu gehen, vermag er ihm nicht abzunehmen.¹⁰ Hier gilt es näher zu beleuchten, auf welche Weise sich für den Einzelnen die schemenhafte Hoffnung auf die Möglichkeit des Guten zu dem Entschluss verdichtet, das bisherige Sedley, 2010, S. 261. Vgl. Jermann, 1986, S. 198. Vgl. Platon, 7. Brief, 331d. Vgl. Platon, Politeia, 518d.
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Leben hinter sich zu lassen.Wie trägt die Praxis des Philosophierens dazu bei, das Denken und Verhalten innerhalb der bestehenden Ordnung zu überwinden und sich zugleich in der Offenheit dessen zu orientieren, was noch nicht vollständig kategorisiert und durchdrungen ist? Bedeutet schließlich die Erfahrung einer radikalen Wandlung der eigenen Wertmaßstäbe, die eine zunehmende Distanz schafft sowohl zu dem, was bislang vertraut gewesen ist, als auch zu der Gemeinschaft, der wir schon als Kinder angehört haben, nicht notwendigerweise zugleich eine Verlusterfahrung? Ist mithin die Utopie eines Daseins, das nicht nur der Erkenntnis, sondern darüber hinaus der gelebten Übereinstimmung mit der eigenen Erkenntnis gewidmet ist, unweigerlich eine tragische Utopie?
II Ein amerikanischer Platon: Thoreaus Weg aus der Höhle Das platonische Erbe eines philosophischen Ethos, das die herrschende gesellschaftliche Praxis transzendiert, wirkt in der gesamten europäischen Geistesgeschichte fort. Es entfaltet sich in den großen Schulen der antiken Philosophie, nimmt in den Klöstern und Universitäten des Mittelalters und der Neuzeit eine andere Gestalt an und klingt nach in der nomadischen Existenz eines Rousseau oder Nietzsche, um spätestens in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule wieder explizit zu werden. Ihre vielleicht eindringlichste Gestalt gewinnt sie jedoch außerhalb des europäischen Kontinents, nämlich in den Vereinigten Staaten, und zwar bezeichnenderweise gerade zu dem Zeitpunkt, als die politische Unabhängigkeit auch einen immer lauter werdenden Ruf nach philosophischer und kultureller Unabhängigkeit von Europa nach sich zieht. Zwischen 1830 und 1860 nimmt dort mit dem sogenannten Transzendentalismus eine denkerische Haltung Gestalt an, in der die fortwährende Überwindung von Denkmustern und Traditionen geradezu programmatisch wird. Ralph Waldo Emerson, Galionsfigur und Leuchtfeuer des amerikanischen Transzendentalismus, bringt 1837 die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Tage der Abhängigkeit, die lange Zeit der bloßen Aneignung europäischer Gelehrsamkeit, sich dem Ende zuneigen.¹¹ Die Gewohnheit, die Philosophie und Literatur Europas als selbstverständliche Autorität zu akzeptieren und mit ihr einen unhinterfragten Maßstab sowohl für das eigene geistige Schaffen als auch für die Reflexion der eigenen Erfahrung anzuerkennen, unterminiere nicht nur das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sondern münde letzten Endes in eine Reifikation des Men Vgl. Emerson, 1971, S. 49.
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schen, insofern er sein eigenes Dasein nur noch mittels der Begriffe und Kategorien zu deuten vermag, die schlicht gegeben sind. Das vorfindliche Vokabular zeitgenössischer europäischer Philosophie sei ebenso historisch gewachsen wie zuvor jenes der Antike oder des Mittelalters und repräsentiere entsprechend keine universalen Wahrheiten. Es gelte folglich, die geistige Behausung gedanklicher Routinen hinter sich zu lassen, um sich als „ein endlos Suchender“¹² neue und bisher ungeahnte Möglichkeiten der individuellen und kulturellen Selbstauslegung zu erschließen. Diesem Aufruf zu philosophischer Emanzipation folgt auch Emersons Freund und Nachbar Henry David Thoreau, der jedoch eine ungleich radikalere Konsequenz zieht als seine transzendentalistischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Der Aufstieg aus der Höhle der tradierten Denkweisen, so Thoreau, lasse sich nicht allein auf dem Weg der Kontemplation bewerkstelligen. Dies gelte umso mehr, als die eigenen Denk- und Handlungsmuster sich nicht einfach der Umgebung ablesen lassen, sondern qua Sozialisation immer auch dem Philosophierenden selbst eingeschrieben sind und die Reichweite seiner intellektuellen Kritik begrenzen. Gesellschaftliche Normen und Wertmaßstäbe werden zwar auch durch äußeren Druck aufrechterhalten, aber viel nachhaltiger wirkt ihre Internalisierung, die gleichermaßen aus Gewohnheit und dem Bedürfnis nach Anerkennung resultiert und dazu führt, dass der Einzelne „Sklave und Gefangener seiner Meinung von sich selbst“¹³ wird. Die eigene Position kann nicht nach Belieben suspendiert und durch eine neue ersetzt werden, sondern bedarf einer grundlegenden Veränderung des Subjekts, einer Arbeit an sich selbst, die nur auf dem Weg einer Reform des individuellen Lebensvollzugs erreicht werden kann.¹⁴ Symbolisch am vierten Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, verlässt Thoreau sein Elternhaus und zieht in seine selbstgebaute Hütte am Waldensee, wo er die nächsten zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage allein in etwas mehr als anderthalb Kilometern Entfernung vom heimischen Concord lebt. Mit dieser Abwendung von den alltäglichen Routinen und Verpflichtungen geht das Versprechen auf Muße für die eigene schriftstellerische Arbeit einher. Doch schon das Bedürfnis, sich physisch von der Stadt zu entfernen, verweist auf einen tiefer liegenden Grund, der nicht nur Thoreaus individuelles Leben betrifft, sondern exemplarisch ein gesellschaftliches und existentielles Problem anzeigt. „Es gibt nur eine einzige Lebensweise, die von den Menschen als erfolgreich angesehen und gepriesen wird. Warum überschätzen wir eine einzige auf Kosten so vieler
Emerson, 2018, S. 322. Thoreau, 2010, S. 12. Vgl. Sölch/Wackers, 2018, S. 45.
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anderer?“¹⁵ Mit dem Umzug an den Waldensee schafft Thoreau also eine räumliche Distanz zu einer Gesellschaft, die ihn mit ihren vorgegebenen Karrierepfaden, Konfessionen und Glücksversprechen einzuengen droht. Die Privilegierung bestimmter Modi der Lebensführung zu Ungunsten anderer wird dabei nicht als bewusster gesellschaftlicher Konsens oder als das Ergebnis einer kontingenten Entwicklung ausgewiesen, sondern tritt auf in der Gestalt alternativloser Sachzwänge. Die meisten Menschen, so Thoreau, sind ehrlich davon überzeugt, keine andere Wahl zu haben, weil sie sich gar nicht erst bewusstmachen, dass ihre Vorstellung von ökonomischen, ethischen oder politischen Sachverhalten keine objektive Repräsentation einer natürlichen Ordnung ist. Der Einzelne versteht sich als jemand, dem bestimmte Eigenschaften oder Besitztümer zukommen oder fehlen, z. B. als arm oder reich, gebildet oder nicht gebildet, als jemand mit einem mehr oder weniger guten Beruf, kurz: als jemand, der sein Leben und sein Glück danach bewertet, ob er all das hat, was man so braucht. Ein Nachbar arbeitet sich beinahe zu Tode, weil er glaubt, auf teuren Kaffee und Fleisch nicht verzichten zu können, ein Bauer erklärt, vegetarische Ernährung trage nicht zur Knochenbildung bei, während er mit seinem grasfressenden Ochsen das Feld pflügt, und Thoreau selbst muss seine Schneiderin geradezu überlisten, um ein Hemd nach eigenen Vorstellungen zu bekommen, weil der gewünschte Schnitt außer Mode sei und man das zurzeit nicht so trage. Die Normen und Bewertungsmaßstäbe, an denen die Menschen ihr Leben ausrichten, bleiben meist implizit und lassen nicht erkennen, dass etwa das Diktat der Mode keine Schicksalsmacht, sondern eine verkürzte Redeweise für eine Fülle von Ansichten, vorgelebten Kleidungsstilen und Werbebotschaften ist. Hierin zeigt sich das Perfide einer Beschränkung des Denkens auf das vermeintlich positiv Gegebene, d. h. jener verkürzten oder einseitigen Zugänge zur Wirklichkeit, die Marcuse später auf den Begriff eines „Muster[s] eindimensionalen Denkens und Verhaltens“¹⁶ bringt. Ideen und Bestrebungen, die das bestehende gesellschaftliche Universum transzendieren, werden unter Rückführung auf das Vorhandene abgewehrt und lassen ein utopisches Denken aus der Binnenrationalität des Systems heraus sinnlos erscheinen. Wer von den vorgegebenen Wegen der Lebensführung abweicht, wird zwar mit Spott oder Argwohn bedacht, doch scheinen die Menschen unter dem allgemein akzeptierten Diktat vermeintlicher Sachzwänge keineswegs glücklich zu sein. Überall in Concord, so Thoreaus Beobachtung, scheinen seine Mitmenschen
Thoreau, 2010, S. 25. Marcuse, 1967, S. 32.
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„auf tausenderlei sonderbare Art Buße zu tun.“¹⁷ Sie gehen Tätigkeiten nach, die ihnen keine Freude bereiten, um Güter zu erwerben, von denen sie sich die Anerkennung anderer versprechen und deren Besitz mit weiteren Kosten und Verpflichtungen verbunden ist. Ihr Leben bewegt sich entlang vorgegebener und quasi selbstverständlicher Ziele und Zwecke, ohne dass deren Berechtigung und subjektive Bedeutsamkeit infrage gestellt würden. Vor dem Hintergrund einer drohenden Selbstentfremdung angesichts des engen Korsetts vorgegebener Normen sucht Thoreau mit sich selbst ins Reine zu kommen und sich einen Weg zu bahnen „durch den Schlamm der Anschauungen, Vorurteile und Traditionen, der Täuschung und des Scheins, durch all die Ablagerungen, […] durch Kirche und Staat, durch Dichtung, Philosophie und Religion“¹⁸, bis er auf ein Fundament stößt, von dem aus er die unbehaglich gewordene Kultur in toto in den Blick bekommt, um sie auf ihre Angemessenheit für seine eigenen Vorstellungen von einem guten Leben hin befragen zu können. Dem Ausbruch aus den gewohnten Routinen korrespondiert auf der anderen Seite allerdings kein positiv gestecktes Ziel, das als konkretes Ergebnis aus dem Ortswechsel hervorgehen sollte. Der Aufenthalt am Waldensee soll weder als sozialreformerische Blaupause für eine ideale Gesellschaft dienen¹⁹ noch verfolgt Thoreau damit ein Programm der ökonomischen oder ethischen Selbstoptimierung. „Die Kategorien des Besseren, Nützlicheren, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig“²⁰, sind sie doch in erster Linie dazu angetan, die Möglichkeit einer neuen Art und Weise der Lebensführung auf normierte Begriffe und Strukturen zurückzuführen. Sein Leben aus den bisherigen Verankerungen zu lösen und auf eine neue Grundlage zu stellen bedeutet für Thoreau ein „Experiment“²¹ im besten Wortsinne, nämlich ein gezieltes Einlassen auf neue Erfahrungen, deren möglicher Wert sich erst dann erweisen kann, wenn sie erprobt worden sind. Thoreau ist sich im Klaren darüber, dass der Ausbruch aus dem Bekannten sich ebenso als gut wie auch als schlecht erweisen kann. Ihm ist daran gelegen, „bewußt (deliberately) zu leben“²², wohl wissend, dass dieses Leben jenseits der Vertrautheit und der Annehmlichkeiten der Zivilisation auch ein hässliches Gesicht haben könnte. „Wenn es sich als erbärmlich erwies, dann wollte ich seine ganze Erbärmlichkeit kennenlernen und sie der Welt kundtun. War es aber herrlich, so wollte ich es aus
Thoreau, 2010, S. 8. Ebd., S. 108. Vgl. Bollinger, 1995, S. 92. Horkheimer, 1988, S. 180 f. Thoreau, 2010, S. 14. Ebd., S. 100.
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eigener Erfahrung kennen“²³. Da die philosophische Existenz sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie die bekannten Identitätszuschreibungen transzendiert, befindet sie sich prima facie jenseits von Gut und Böse. Die Utopie eines alternativen Lebensentwurfs führt nicht notwendig an einen schönen Ort, sondern erst einmal an einen Ort, der in den gegebenen Anschauungen und Begriffen noch nicht existiert. Erst im Vollzug des Lebens, indem es versuchsweise gelebt wird, mag es vom Subjekt als gelingend bewertet werden, bevor es allmählich vielleicht auch in das Spektrum gesellschaftlicher Normen inkorporiert wird, um dieses idealiter zu erweitern. Sofern damit überhaupt ein Reformprogramm angesprochen wird, ist es jedenfalls ein Programm, das durch den Verweis auf das unmittelbar Mögliche nicht sinnvoll kritisiert werden kann. Entsprechend liefert Thoreau auch keine argumentative Begründung für den Aufbruch an den Waldensee, sondern folgt einfach „einer unwiderstehlichen Stimme“²⁴, deren Quelle ebenso unbekannt bleibt wie das Ziel, an das sie ihn lockt. Dieser Ruf, den der Einzelne vernimmt und der seine Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit des Guten jenseits des Bekannten lenkt, entzieht sich dem Begriff geteilter Rationalität und markiert zugleich den Beginn des philosophischen Lebens. Er ist, mit anderen Worten, eine Spielart jenes Staunens (θαυμάζειν), das am „Anfang der Philosophie“²⁵ steht.
III Vom Wege der Befreiung Mag das Staunen der Beginn der Philosophie sein, so fängt ein philosophisches Leben im eigentlichen Sinne doch erst dort an, wo der Einzelne sich auf dieses Staunen einlässt und offen ist für das Unbekannte, zu dem es ihn führen mag. Obwohl das Experiment einer utopischen Existenz jenseits gesellschaftlich sanktionierter Denk- und Handlungsmuster keinem mit logischer Präzision abgesteckten Verlaufsplan folgt, bedarf es doch der konkreten Schritte und Tätigkeiten. Die Befreiung aus dem Gefängnis der eigenen festgefügten Überzeugungen und Vorurteile geschieht weder im abstrakten Raum interesseloser Kontemplation noch kommt sie allein durch einen Ortswechsel zustande. Wenn die Alternative zum Status Quo sich dadurch auszeichnet, noch nicht als etwas Bestimmtes identifiziert zu sein und innerhalb der gedanklichen und sozialen Struktur eine objektive Bedeutung zu haben, dann kann weder die Alternative selbst noch das
Ebd., S. 101. Ebd., S. 15. Platon, Theaitetos, 155d.
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Verhältnis des Philosophen zur Gesellschaft allein auf dem Weg der Theorie geklärt werden. Die Theorie als Moment der Reflexion und Antizipation ist in den Prozess der Lebensführung eingebunden und untrennbar mit der auf eine neue Lebensform abzielenden Praxis verbunden.²⁶ Da das utopische Experiment als moralisch unentschiedenes stets riskant ist und die Gesellschaft ein berechtigtes Beharrungsvermögen aufweist, kann der Weg ins Neue stets nur vom Einzelnen beschritten werden, bei dem Erkenntnis und philosophisches Werk dann organisch aus der eigenen Lebenserfahrung hervorwachsen. „Der Philosoph ist seiner Zeit voraus, selbst in der äußeren Lebensform.“²⁷ Indem dieses utopische Leben sich aus den gewohnten Routinen herausbewegt und die neuen Erfahrungen mit den eigenen Bedürfnissen und Wertvorstellungen in Beziehung setzt, sprengt es die Grenzen jener Handlungsoptionen und Lebensentwürfe, die innerhalb der bestehenden Gesellschaft angestrebt und realisiert werden konnten. Der Hausbau im Einklang mit dem Verlauf der Jahreszeiten, das tägliche ritualisierte Bad im See, das Fischen, Tagträume, Spaziergänge und Naturbeobachtungen stellen für Thoreau ebenso wie das Führen eines Tagebuchs gleichermaßen praktische und geistige Übungen dar, die sowohl dazu dienen, die Empfindung einer tiefgreifenden Entfremdung von den internalisierten Vorstellungen guter Lebensführung in Richtung größerer Übereinstimmung mit sich selbst zu überwinden als auch Wege, sich die Welt in einer Weise zu eigen zu machen, die nicht den gängigen und allgemeingültigen Kategorien oder gedanklichen Rastern entsprechen.²⁸ Sie erschließen ihm neue Möglichkeiten der Wahrnehmung seiner Umwelt und seiner selbst, lassen ihn bislang verborgener Details und Zusammenhänge gewahr werden und eröffnen ihm neue Ziele und Optionen für intellektuelles oder praktisches Agieren. Weil sich die geistige Orientierung für den Menschen jedoch überwiegend begrifflich vollzieht, gestaltet sich die Arbeit an sich selbst vor allem als eine Arbeit an der Sprache als dem zentralen Mittel der Selbst- und Weltauslegung. Die sich im tätigen Leben vollziehende Erweiterung des Spektrums der eigenen Erfahrung und ihrer Deutung schlägt sich als philosophische Kritik der rigiden gesellschaftlichen Normativität vor allem in Form einer Revision bestehender Kategorien und Begriffe nieder. Insofern begriffliche Unterscheidungen und etablierte Beschreibungen unsere Erfahrungen strukturieren, prägen sie zugleich unsere Ideen von Bedeutsamkeit. Welche Lebensentwürfe wir wählen, welche Entscheidungen wir treffen können, hängt wesentlich davon ab, welche Optionen
Vgl. Horkheimer, 1988, S. 190. Thoreau, 2010, S. 20. Vgl. Sölch/Wackers, 2018, S. 46.
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wir uns überhaupt vorzustellen vermögen. Wir richten uns sprachlich in der Welt ein, bringen sie auf Begriffe und substituieren nur allzu leicht die Begriffe für die Welt selbst. Die sprachliche Erschlossenheit der Welt ist damit sowohl Voraussetzung für die Möglichkeit, sich in ihr denkend und handelnd zu orientieren, als auch Begrenzung der Alternativen, die uns sinnfällig werden. Als soziales Konstrukt zeichnet sich die sprachliche Durchdringung des Vorhandenen gewöhnlich durch eine erhebliche Trägheit, ein geradezu konservatives Verharrungsvermögen aus; die wechselseitige Kontrolle sorgt ebenso wie das internalisierte Wissen um die richtigen und angemessenen Beschreibungen von Situationen dafür, dass etablierte Kategorien und Distinktionen in der Regel nur äußerst langsam modifiziert und an veränderte Verhältnisse angepasst werden. Die räumliche Distanz zur Gesellschaft dient Thoreau also nicht zuletzt dazu, Abstand von den Routinen und Konventionen der alltäglichen Sprache und des gewöhnlichen Handelns zu gewinnen, die nur allzu leicht auch das eigene Handeln bestimmen. Die Präformierung der individuellen Lebensführung durch die geteilte Sprache zeigt sich besonders nachdrücklich im Bereich der Ökonomie bzw. in der Kolonisierung unterschiedlichster Lebensbereiche durch ein Vokabular, das seinen genuinen Anwendungsbereich in wirtschaftlichen Aktivitäten hat. Die Orientierung des Denkens an wirtschaftlichen Maßstäben scheint dabei auch dort unhintergehbar, wo die Tätigkeit selbst eine ökonomische Perspektive nicht zwingend nahelegt. „Diese Welt ist ein Ort des Geschäfts (a place of business).“²⁹ Wenn Thoreau auf dem Feld eine Pause einlegt und in sein Notizbuch schreibt, gehen die Menschen automatisch davon aus, er würde seinen Lohn ausrechnen, und beinahe jede Tätigkeit wird daran gemessen, ob sie finanziell einträglich ist oder nicht. Die ökonomische Verwertungslogik erscheint als natürliche Referenzgröße für zahllose Bereiche des Lebens. Aufgrund ihrer scheinbaren Natürlichkeit geriert sie sich in vielen Situationen leicht als alternativlos und lässt lediglich ein begrenztes Spektrum an Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden. „Über wirtschaftliche Fragen läßt sich leicht reden, aber man wird nicht so leicht fertig mit ihnen.“³⁰ Die Konsequenzen einer solchen Ökonomisierung des individuellen Lebens sieht Thoreau insbesondere in der Aufgabe subjektiver und authentischer Bedürfnisse zugunsten konventioneller Scheinbedürfnisse. Sie beraube den Menschen des vollen Genusses an seinen Tätigkeiten und reduziere die Qualität menschlicher Erfahrung auf das, was in ein marktkonformes Äquivalent übersetzt werden kann. Die unterhinterfragte Übernahme solcher Bedürfnisse führe letztlich in eine selbstverschuldete Abhängigkeit, die
Thoreau, 1973, S. 156 (meine Übersetzung, D.S.). Thoreau, 2010, S. 35.
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den Menschen sogar in seinem Sein beeinträchtigt. Der Mensch, der sich an Objekte bindet, ohne einen ureigenen Bezug zu ihnen zu haben, lässt zu, dass sein Sein durch die Dinge bestimmt wird. „Wenn der Farmer endlich ein Haus besitzt, so ist er deswegen nicht reicher, sondern eher ärmer geworden, denn nicht er hat das Haus – das Haus hat ihn.“³¹ Die Antithese ist nicht einfach Beleg für Thoreaus Vorliebe für das Spiel mit Gegensätzen, sondern die ontologische Beschreibung eines konkreten und anschaulichen Sachverhalts: Wer einen Kredit aufnimmt, um ein Eigenheim zu kaufen, der bindet sich nicht nur finanziell; er legt beispielsweise seinen Wohnort für einen langen Zeitraum fest, ist auf eine berufliche Tätigkeit angewiesen, die ihm eine Rückzahlung ermöglicht, muss sich im Hinblick auf andere Anschaffungen, die zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise sehr viel wichtiger erscheinen, zurücknehmen und schränkt den Raum der Möglichkeiten für die Entfaltung seiner individuellen Natur ein. Damit ist freilich keine fundamentale Besitzkritik ausgesprochen. Thoreau weiß wohl, dass auch die Bindung an ein Haus bereichernd sein kann und dem Subjekt Möglichkeiten eröffnet, die ihm wichtig und sinnvoll erscheinen. Wer jedoch die relativen Vor- und Nachteile nicht für sich abwägt, um ihre subjektive Angemessenheit in den Blick zu bekommen, sondern den Allgemeinbegriff als hinreichende Legitimation betrachtet, versagt sich mitunter die Chance, eventuelle Gründe für sein Unglück zu erkennen. Es gilt folglich, sich frei zu machen von der selbstverständlichen Akzeptanz eines ökonomischen Registers, das einen scheinbar natürlichen Zusammenhang zwischen den Kategorien von Arbeitsteilung, Kapital, Lohn, Fleiß, Gelderwerb, Geschäftstüchtigkeit, Tugend und Glück herstellt. Außerhalb der sozialen und sprachlichen Konventionen vermag die subjektive Erfahrung für Thoreau zum Ausgangspunkt einer terminologischen Revision zu werden. Diese nimmt auf stilistischer Ebene die Form einer Parodie klar definierter Programme für das Erreichen von Karrierezielen und wirtschaftlichem Erfolg an. So ist Thoreaus Sprache durchzogen von Begriffen der Produktion, des Handels und der Profitmaximierung, während er zugleich deren unausgesprochenen Prämissen unterminiert, indem er jene Begriffe, die ursprünglich der Welt des Marktes entstammen, auf Tätigkeiten überträgt, die sich einer wirtschaftlichen Verwertungslogik grundsätzlich entziehen. Besonders dort, wo er sich in seiner Lebensführung dezidiert von den Anforderungen und Erwartungen finanziellen Nutzens abwendet, „spricht er mit der Souveränität und dem kalkulierten Idiom eines klugen Unternehmers, der seinen Markt, seine Umstände und seine beruflichen Inter-
Ebd., S. 40.
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essen sorgfältig beobachtet und bewertet hat.“³² Nahezu beiläufig zeigt sich die Beliebigkeit eines ökonomischen Vokabulars, das prima facie auf alle Aspekte des Lebens übertragbar ist, wenn Thoreau von sich selbst beispielsweise als jemandem spricht, der sich in seinem täglichen Leben „strenge Geschäftsprinzipien“³³ aneignet und aus eigener Berufung gewissenhaft einer Tätigkeit „als Inspektor der Schneestürme und Regenschauer“³⁴ nachgeht. Wiederholt merkt er an, dass seine Leistung sich nicht an der benötigten Zeit messen lasse, sondern dass er geradezu dezidiert langsam arbeite, um sich seiner Tätigkeit gänzlich bewusstwerden und sie genießen zu können. Die spielerische Aneignung und Umdeutung des ökonomischen Vokabulars relativiert dabei den Geltungsanspruch einer Sprache, die jenen verengten Vorstellungen von einem gelingenden Leben zementiert, denen Thoreau zu entkommen sucht. Gleichzeitig bereitet eine solche Strategie der „gezielte[n] Entökonomisierung“³⁵ den Weg für alternative Beschreibungsweisen, aus denen neue Handlungsoptionen hervorzuwachsen vermögen, so etwa wenn Thoreau die Kosten eines Gegenstandes nicht in Dollar, sondern in „Lebenskraft (life)“³⁶ berechnet wissen will und darin sowohl die Zeit für den Erwerb des Geldes als auch die Freude an der entsprechenden Tätigkeit berücksichtigt. Anschaulich zeigt sich hier, wie das Philosophieren darauf abzielt, sich von den verkürzten oder einseitigen Zugängen zur Wirklichkeit frei zu machen, die sich sprachlich niederschlagen und bestimmte Denk- und Handlungsoptionen als objektive Sachzwänge erscheinen lassen. Damit trägt sie dazu bei, auch die gegebene Vorstellung von Rationalität so zu erweitern, dass sie die Erfahrung dessen zulässt, was noch nicht identifiziert, kategorisiert oder reglementiert ist; im Durchmessen des Weges von der Erfahrung zu ihrer Objektivation bildet die Philosophie also „eine Art von rationalem Revisionsprozeß gegen die Rationalität“ selbst.³⁷ Sie gibt gleichermaßen durch die in Form von gesprochener und geschriebener Sprache objektivierten Ausdrucksweisen wie auch durch die Person des Philosophen selbst ein Beispiel und wirkt als ein solches auf die Gesellschaft zurück. Die Vermittlung zwischen dem Nichtbegrifflichen und dem Begrifflichen, der Übergang von der unmittelbaren Erfahrung zum intersubjektiven Ausdruck, vollzieht sich somit in dem und durch das Leben des Philosophierenden.
Neufeldt, 1989, S. 55 (meine Übersetzung, D.S.). Thoreau, 2010, S. 25. Ebd., S. 23. Schulz, 1997, S. 47. Thoreau, 2010, S. 37. Adorno, 1997, S. 87.
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IV Exemplarität des philosophischen Lebens Das Leben außerhalb der Grenzen und der geordneten Strukturen der Gesellschaft ist für Thoreau von vornherein als ein zeitlich befristetes Experiment gedacht. Der Aufenthalt am Waldensee ist keine Flucht, sondern der Versuch, eine mögliche Alternative zu den sozial präformierten Weisen der Lebensführung auszuloten. Die utopische Existenz des Philosophen ist der Welt nie gänzlich entzogen, der Faden zwischen Gesellschaft und dem experimentellen Lebensentwurf des Einzelnen reißt nicht vollständig ab. Thoreaus Hütte liegt weit genug außerhalb des Städtchens, um der geschäftigen Tätigkeit der Leute ebenso zu entgehen wie täglichen Höflichkeitsbesuchen, aber er pflegt weiterhin Freundschaften und verschließt auch dem durstigen Besucher seine Tür nicht. Gelegentliche Spaziergänger zeigen sich neugierig auf den eigenartigen Waldgänger, manch benachbarter Farmer sucht das Gespräch, um Ratschläge zu erteilen, und der ein oder andere findet den Weg an den Waldensee, um für sein eigenes Leben hinzuzulernen. Das Außergewöhnliche und Merkwürdige erregt also von selbst die Aufmerksamkeit der Menschen und bringt sie zum Staunen, birgt also das Potential, anderen den Weg zur Philosophie aufzuzeigen. Was Thoreau mitzuteilen hat, bleibt dabei eng an seine eigenen Erlebnisse gebunden und begegnet uns in der Gestalt eines Ausschnitts aus seiner Lebensgeschichte. Wer allerdings meint, damit ginge weniger Verbindlichkeit oder intersubjektive Gültigkeit einher als mit einer Abhandlung über allgemeine Normen und Lebensgrundsätze, der ist einem grundlegenden Irrtum aufgesessen. Wir tendieren lediglich dazu zu vergessen, so Thoreau, dass „es schließlich immer die erste Person ist, die redet,“³⁸ auch wenn sie das Gewand objektiver Formulierungen anlegt. Worauf aber gründet sich die autoritative Kraft eines persönlichen Ethos, das dem Raum jenseits sozialer Normen entspringt? Dass der Philosoph für die Kommunikation jener aus seiner utopischen Existenz erwachsenen Werte und Perspektiven auf keinen Maßstab verweisen kann, der kraft seiner Objektivität bereits verbindliche Gültigkeit einfordern könnte, zeigt sich beispielhaft in Thoreaus Begegnung mit der Familie des irischen Einwanderers John Field. Die Armut der Familie, in deren Hütte Thoreau Schutz vor einem plötzlichen Gewitter sucht, zeigt sich ihm ebenso unmittelbar wie die Perspektivlosigkeit von Fields Tätigkeit als schlecht bezahlter Torfstecher. Der entfernte Nachbar erweist sich durchaus als aufrichtiger und fleißiger Mensch, doch auch die größte Anstrengung wirft gerade genug für den notdürftigen Erhalt der Hütte und das Essen ab, während sie ihm zugleich die Zeit und Thoreau, 2010, S. 7.
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Muße für seine Kinder raubt. Einzig der verzweifelte Glaube daran, dass ihre Lage sich irgendwann verbessern werde, hält die Familie aufrecht. Aus der eigenen Erfahrung heraus vermag Thoreau Hilfestellung anzubieten, indem er Wege aus der vermeintlichen Alternativlosigkeit von Fields Leben aufzeigt. Problemlos könnte dieser beispielsweise die Selbst- und Fremdausbeutung durch den mühsamen Abbau von Torf aufgeben, wenn er zumindest vorübergehend bereit wäre, auf den Luxus teuren Kaffees und Fleisches zu verzichten. Sobald die Schufterei entfällt, könnte die Ernährung ohnehin einfacher sein und wäre durch Fischen leicht zu ergänzen, während ihm zugleich Zeit und Energie für neue Unternehmungen zuwüchse. Thoreau redet mit Field, „als ob er ein Philosoph sei oder einer zu werden wünsche“³⁹, und gesteht ihm damit gleichsam die Möglichkeit zu, seine bisherige Form der Lebensführung hinter sich zu lassen. Der sowohl finanzielle als auch existentielle Leidensdruck schiene hinreichend groß, um die bloße Hoffnung auf ein erfüllenderes Dasein jenseits des Kreislaufs von abhängiger, körperlich harter Schufterei und bloßer Erhaltung der Arbeitsfähigkeit attraktiv zu machen, doch fallen Thoreaus Argumente nicht auf fruchtbaren Boden, weil sie eine fundamentale Erschütterung des Field’schen Selbstverständnisses bedeuten würden. Schon der Aufbruch aus dem vom Hunger geplagten Irland in die neue Welt war für Field und seine Familie mit der Verheißung auf größeren Wohlstand verbunden gewesen. Die Idee, auf zumindest einen Teil dessen zu verzichten, was für sie unabdingbarer Bestandteil ihrer Existenz in Massachusetts ist, hieße letztlich, ihren gesamten harten und entbehrungsreichen Lebensweg mitsamt seinem Glücksversprechen infrage zu stellen. Ein gelingendes Leben scheint ihnen untrennbar verknüpft mit ökonomischer Prosperität, die sich in bestimmten, vermeintlich essentiellen Konsumgütern niederschlägt und als einzig durch unermüdliche Erwerbsarbeit erreichbar gilt. Thoreaus Vorschläge anzunehmen liefe für Field und seine Frau auf nicht weniger hinaus, als „ohne Kompaß segeln, und sie konnten sich nicht vorstellen, wie sie auf diese Weise in den gewünschten Hafen kämen.“⁴⁰ Die Gewissheit der eigenen Leidensgeschichte und der eigenen Träume wiegt stärker als die Hoffnung auf ein Leben, das in seiner Andersartigkeit ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Obwohl die erfahrungsgesättigte Perspektive desjenigen, der sich vom internalisierten Konformitätsdruck freigemacht hat, konkrete Alternativen aufzuzeigen vermag, bleibt sie Thoreaus Mitmenschen in gewisser Weise fremd. Doch auch wenn die argumentative Überzeugungskraft des Philosophen bei den Mitgliedern der Gesellschaft aufgrund der Inkommensurabilität ihrer in der Lebenspraxis
Ebd., S. 224. Ebd., S. 225.
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verankerten Prämissen nicht verfängt, ist die Möglichkeit der Kommunikation damit nicht aufgehoben. Seine Botschaft hat allerdings nicht die Form einer systematisch verfassten Vorlage für Individual- oder Sozialreform, sondern primär die eines Appells mit dem Ziel, „die Nachbarn aufzuwecken“⁴¹ und zur kritischen Reflexion der je eigenen Lebensführung anzuregen. Daraus resultiert nicht zuletzt auch der stark literarische Charakter von Thoreaus ethischem Werk, insofern es einerseits auf die ästhetische und emotionale Anschlussfähigkeit für die Mitmenschen angewiesen bleibt, um seine appellative Funktion entfalten zu können, und andererseits anschaulich zu machen sucht, welches Spektrum an Gedanken, Motiven und Entscheidungen jenseits dessen möglich ist, was sich in den gegebenen Begriffen des vorfindlichen sozialen Universums ausdrücken lässt. Insofern es gleichermaßen auf die Sorgen und das Interesse seiner Mitmenschen reagiert und an ihr Potential zur Bildung und Selbstreform appelliert, erweist sich Walden durchaus als ein ethisch-existentielles Werk. Obwohl der autobiographische Bericht faktisch ein individuelles Unterfangen schildert, gewinnt er als verdichtete Schilderung einer exemplarischen Lebensführung eine öffentliche, wenn nicht gar politische Dimension.⁴² Die Autorität Thoreaus als Orientierungsgröße für ein gelingendes Leben bemisst sich jedoch nicht an einer privilegierten Erkenntnis, die ihm als Philosoph zuteilwird, sondern ausschließlich an der Kraft des Beispiels, das er selbst zu geben vermag. Das Beispiel fordert zwar unsere Anerkennung als Verkörperung eines gelungenen Lebensentwurfs ein, aber weder rekurriert es für diese Anerkennung auf eine objektive Referenzgröße noch erhebt es Anspruch auf Exklusivität. Die aus der utopischen Lebensweise gewonnene Exemplarität transzendiert damit die strikte Dichotomie von Sein und Sollen. Sie erschließt neue Möglichkeiten des Daseins, ohne sie zur allgemeingültigen Maxime erheben zu können. Obwohl also Thoreau beispielsweise im Falle der Begegnung mit John Field auf die Überflüssigkeit zahlreicher vermeintlicher Annehmlichkeiten verweist, geht es ihm folglich keineswegs um eine grundsätzliche Zurückweisung jeglicher Formen von Luxus. Solange der Einzelne die technischen oder ökonomischen Vorzüge der Zivilisation aus innerer Überzeugung und unter Abwägung ihrer relativen Vor- und Nachteile zu genießen vermag, wäre es vermessen, ihm ein asketisches Ideal zu oktroyieren. In den Worten Marcuses: „In letzter Instanz muß die Frage, was wahre und was falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet werden, das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben.“⁴³ Noch schwerer wiegt Ebd., S. 94. So spricht etwa auch Stanley Cavell von Walden als „a tract of political education“ (Cavell, 1992, S. 85). Marcuse, 1967, S. 26.
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darüber hinaus der Einwand, dass die moralisch aufgeladene Forderung nach einem einfachen Leben analog zu seinem eigenen dazu angetan wäre, eben jenes Gefühl der Entfremdung zu perpetuieren, das gerade den Ausgangspunkt von Thoreaus philosophischem Unterfangen bildet. Wer sich allzu eng an einem Vorbild als einer Norm orientiert, der vermeidet explizit jene philosophische Haltung, die mit der Abkehr vom Gegebenen beginnt. Vielmehr geht es der philosophischen Exemplarität darum, Orientierungspunkte und Narrative bereitzustellen, die das Spektrum des sprachlich vermittelten Selbstverständnisses des Menschen ebenso bereichern wie sein Verständnis der Welt um ihn herum. Gerade weil Thoreau keineswegs den Anspruch hat, das Beispiel seiner Lebensführung zu verallgemeinern und in den Rang einer neuen Norm zu erheben, vermag er anzuerkennen, dass es nicht nur unterschiedliche, sondern partiell inkommensurable Formen authentischer Existenz geben kann. Konkrete Gestalt gewinnt dieser Gedanke in der Person des kanadischen Holzfällers Alek Therien, mit dem Thoreau in den Wäldern von Concord Bekanntschaft schließt und der seine Aufmerksamkeit und sein Interesse weckt, weil er gleichermaßen still und einsam wie auch nahezu ansteckend glücklich ist. Normative Vorstellungen von Nutzenmaximierung oder materiellem Wohlstand, zu denen Thoreau bewusste Distanz sucht, scheinen Therien konstitutionell fremd zu sein; er ist zufrieden, wenn er gerade genug für seinen Lebensunterhalt verdient, hat Freude an jeder seiner Tätigkeiten und lässt die Arbeit gerne ruhen, wenn sich die Gelegenheit zu einem Plausch bietet. Unberührt von äußeren Erwartungen erweist sich der Holzfäller auch bei näherer Betrachtung als „echt und unverfälscht“⁴⁴, ein Unikat, das nahezu idealtypisch Thoreaus eigenem Plädoyer für ein denkbar einfaches und natürliches Leben entspricht. Vor dem geteilten Hintergrund treten jedoch auch die wesenhaften Unterschiede deutlich zutage. So sehr Thoreau gelegentlich versucht, Fragen von gesellschaftlicher oder philosophischer Bedeutung mit ihm zu erörtern, führen die Überlegungen Theriens nie über ihren direkten, individuellen Lebensbezug hinaus. Passagen der Illias, die Thoreau ihm übersetzt, findet er ebenso hübsch wie die seichte Lektüre, die er zum Zeitvertreib an Regentagen schmökert, und an der Anekdote, dass Platons Definition des Menschen als federlosem Zweibeiner durch das Ausstellen eines gerupften Huhns karikiert worden sei, sieht er es als den bedeutendsten Unterschied an, dass sich bei Mensch und Huhn das Knie je in eine andere Richtung beugt. Kurzum, während Therien in jeder Situation seine praktische Lebensklugheit unter Beweis stellt, kann Thoreau „ihn mit keiner Frage je dazu bringen, die Dinge aus einer geistigen Perspektive zu betrachten; das Höchste, was er fassen konnte, war ihre einfache
Thoreau, 2010, S. 161.
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Nutzbarkeit.“⁴⁵ In ausgeprägter Weise exemplifiziert der Holzfäller eine gleichermaßen natürliche und authentische Lebensführung, während ihm zugleich das Bedürfnis nach und das Vergnügen an intellektueller Reflexion wesentlich fremd bleiben. Ein Appell zu mehr Kontemplation verhallt schlicht ungehört, und so bewegt sich Therien gewissermaßen „beyond criticism“⁴⁶, insofern er in vollkommenem Maße all das ist, was er zu sein vermag. Aus Thoreaus eigener Sicht wäre ein solches Leben defizitär, zumindest im Hinblick auf seine Offenheit für intellektuelle und literarische Erfahrungen, doch bedeutet das im Umkehrschluss keineswegs, dass es sinnvoll wäre, die eigenen Ziele und Bedürfnisse an den anderen heranzutragen. Anders als etwa Aristoteles bleibt Thoreau skeptisch gegenüber der Annahme, dass sich die verschiedenen Lebensentwürfe letztlich in einem umfassenden Ideal menschlicher Tugenden zusammenführen lassen. Weil wir nicht davon ausgehen können, dass alle Tugenden notwendig miteinander kompatibel sind, erheben auch gelingende Beispiele und überzeugende Narrative keinen Anspruch auf Universalisierbarkeit, sondern gestehen zu, dass Kompromisse mitunter unausweichlich sind, weil möglicherweise die Realisierung eines Ideals die gleichzeitige Realisierung eines anderen Ideals in demselben Maße ausschließt. Stattdessen scheint es vielmehr wünschenswert, dass „so viele verschiedene Menschen als möglich auf dieser Welt leben“, von denen „jeder möglichst gewissenhaft seinen eigenen Weg finde und gehe“⁴⁷, anstatt den vorgegebenen Pfaden der Eltern oder Nachbarn zu folgen. Eine große Bandbreite authentischer Lebensentwürfe bewahrt den Philosophen vor der Hybris, die einzig seligmachende Sicht auf den Menschen und seine Stellung in der Welt gefunden zu haben, indem sie ihm die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit einer Lebensweise aufzeigt. Darüber hinaus verringert sie zugleich die normative Kraft des restringierenden Status Quo, indem sie den Regeln und Gebräuchen abweichende Beispiele zur Seite stellt, an denen sich die scharfen Kanten ihrer Absolutheit abschleifen. Herausragende Individuen, ungewöhnliche Talente und gesellschaftliche Außenseiter repräsentieren nicht nur, sondern erweitern unsere Vorstellung von Formen der gelingenden Existenz, die wiederum als Ausgangspunkt für die je eigene Suche nach einer authentischen Lebensweise dienen können. Damit einher geht schließlich ein Plädoyer für einen ontologischen Pluralismus, für eine Vielfalt an unterschiedlichen Arten und Weisen, in der Welt zu sein, die nicht auf eine einzige Natur des Menschen reduzibel ist.
Ebd., S. 164. Cafaro, 2006, S. 37. Thoreau, 2010, S. 80.
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V Fazit und Ausblick Jeder noch so einzigartigen und dem Individuum angemessenen Lebensweise wohnt die Tendenz inne, selbst zu einer Institution zu gerinnen. Allein dank ihrer erfolgreichen Verwirklichung steht sie repräsentativ für ein gelingendes Leben, das anderen als Vorbild und verbindlicher Maßstab dienen kann. Mag eine solche Normativität des Faktischen für die Gesellschaft, die Philosophen im Sinne Thoreaus ohnehin meist als merkwürdige Kuriosität beargwöhnt, vielleicht keine unmittelbare Gefahr bedeuten, droht sie zumindest den Philosophierenden selbst zu ereilen. Die Erfahrung des neuen Lebens als einem gelingenden verführt allzu leicht dazu, an den gewonnenen Einsichten und Praktiken der Lebensführung festzuhalten und sich in der neuen Existenz dauerhaft einzurichten. Thoreau ist sich der Gefahr bewusst, dass sein Abenteuer am Waldensee lediglich alte Routinen durch neue ersetzt, und so kehrt er schließlich auch der selbstgebauten Hütte den Rücken, um seinem Leben eine erneute Wendung zu geben. Ebenso wie dem Aufbruch zwei Jahre zuvor liegt diesem Entschluss keine rein rationale und verallgemeinerbare Handlungsmaxime zugrunde, vielmehr ist die Entscheidung geprägt von der Hoffnung, dass ihm die Welt noch mehr zu geben vermag. „Ich verließ den Waldensee aus einem ebenso triftigen Grund wie es jener war, der mich hingeführt hatte; vielleicht in dem Gefühl, daß ich noch verschiedene andere Leben zu leben hätte und für dieses eine nicht mehr Zeit aufbringen könne.“⁴⁸ Die philosophische Existenz eröffnet zwar bis dato unvorstellbare Formen des Lebens und Denkens, ohne den Einzelnen jedoch davor bewahren zu können, von diesen irgendwann wieder eingeengt zu werden. Die Befreiung aus der Höhle gedanklicher wie auch praktischer Routinen stellt also kein einmaliges Geschehen dar, sondern muss immer wieder aufs Neue angegangen werden. Der Aufstieg vollzieht sich nicht aus Notwendigkeit, sondern muss bewusst ergriffen werden, bleibt also auf die unhintergehbare Subjektivität einer „bestimmte[n] Wahl“⁴⁹ angewiesen, um die historische Notwendigkeit des Bekannten in Richtung der Freiheit des Utopischen zu transzendieren. Das philosophische Leben konstituiert sich damit im Spannungsfeld von Beheimatung und Aufbruch, und so korrespondiert dem Motiv des Hausbaus und der Gewöhnung an das Neue in Walden stets auch jenes des Wanderns und des Flanierens, die „im Geist eines unsterblichen Abenteuers“⁵⁰ den Aufbruch in die Offenheit des noch nicht Kategorisierten und Identifizierten tentativ vorwegnehmen. Das Ein-
Ebd., S. 348. Marcuse, 1967, S. 233. Thoreau, 2018, S. 328.
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lassen auf einen bestimmten Weg, sowohl körperlich wie auch geistig, folgt dabei einmal mehr keinen Gründen, die sich rational eruieren und nachvollziehbar begründen ließen. Beim Beschreiten neuer Pfade folgt Thoreau einem „subtilen Magnetismus in der Natur“⁵¹ und vertraut darauf, dass seine Intuition ihm einen Weg weist, den zu gehen es sich lohnt, wenn sie ihn von den öffentlichen und vorgegebenen Routen abweichen lässt. Die Macht, neue Möglichkeiten zu ergreifen, wächst dem Einzelnen dort zu, wo er sich dem sich spontan einstellenden Staunen überlässt und dieser Intuition zumindest versuchsweise zu folgen bereit ist. Die Offenheit für ein verändertes, reicheres Dasein bedeutet jedoch gleichzeitig zu akzeptieren, dass wir immer wieder Vertrautes hinter uns lassen. Hoffnung und Tragik sind Existenzialien, die zumindest im utopischen Dasein des Philosophen offenbar werden. Der Preis, den wir für ein Leben jenseits der restriktiven Kraft der sozialen und geistigen Konvention zahlen müssen, besteht notwendigerweise darin, etwas aufzugeben, etwas loszulassen und Verlust zu erfahren.⁵² Was dann an die Stelle des Vertrauten tritt, entzieht sich jedoch dem bloß kontemplativen Denken. Weder Ziel noch Inhalt jener utopischen Existenz können, über die unmittelbare Sicherung des Lebens hinaus, positiv bestimmt werden, und so mag eine derartige Kritische Theorie „der herrschenden Urteilsweise daher subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos“⁵³ scheinen. Gleichwohl ist sie nötig, um jene Neugierde und Hoffnung zu bewahren, die den Menschen immer wieder über den Status Quo hinausstreben lassen.
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Ebd., S. 337. Vgl. Cavell, 1989, S. 114. Horkheimer, 1988, S. 192.
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Efrat Gal-Ed
Jiddisch: Von exterritorialer Literatur zum Literaturland Mit dem Ausbau der modernen jiddischen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg verband sich die Frage nach Zugehörigkeit: Wie sollte der Zusammenhalt jiddischer Kulturinseln gewährleistet werden? Auf welche Weise haben jiddischsprachige Kulturschaffende teil an den kulturellen Prozessen der herrschenden Kulturen, in denen sie leben? Was muss jiddische Literatur leisten, um der Weltliteratur anzugehören? Anhand von Äußerungen und Handlungen von Literaten und Kulturaktivisten werden in diesem Aufsatz einige Grundzüge ihrer Welt- und Selbstbilder rekonstruiert, und es soll gezeigt werden, wie die ausgreifenden kulturellen Erwartungen auf einen autonom gestalteten historischen Wandel des jiddischsprachigen Kollektivs und seiner Stellung in der Völkergemeinschaft zielten.
I Eksteritoryalishkayt Im September 1922 erschien in Warschau eine neue modernistische Zeitschrift: זשורנַאל ֿפַאר דעם נַײעם דיכטער־ און קינסטלער־אויסדרוק:[ ַאלבַאטרָאסAlbatros. Journal für den neuen Ausdruck des Dichters und Künstlers].¹ Der Herausgeber, der junge Lyriker Uri Zvi Grinberg,² spielte mit diesem Titel auf das gleichnamige Gedicht von Baudelaire an, in dem der Dichter mit dem über Ozeane und Meere majestätisch segelnden Riesenvogel verglichen wird, der, auf dem Boden äußerst ungelenk, von den Matrosen, die ihn gefangen haben, gequält wird. Uri Zvi Grinberg eröffnete seine neue Zeitschrift mit einer “[ „פּראקלאמירוּנגProklamation], in der er
Dieser Aufsatz ist eine modifizierte Fassung meines auf Englisch veröffentlichten „Yiddishland: a promise of belonging“, siehe Gal-Ed, 2021. Für wertvolle Rückmeldungen zur vorliegenden Fassung danke ich Annelen Kranefuss und Klaus Müller-Salget. Im November 1922 erschien das 2. Heft, das laut Mitteilung in der Folgenummer „von der polnischen Zensur wegen Gotteslästerung konfisziert wurde“. Das Heft 3 – 4 erschien 1923 in Berlin. Grinbergs Übersetzung des Titels ins Deutsche lautete „Zeitschrift für Dichtung und Graphik“. Dichter, Essayist und Journalist. 1896 in Biały Kamień, Galizien, Österreich-Ungarn, geboren, schrieb Grinberg zunächst auf Jiddisch. 1924 emigrierte er in das Land Israel und wechselte zum Hebräischen. Er starb 1981 in Ramat Gan. https://doi.org/10.1515/9783110756944-011
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forderte: אין זייער, דיֿכטער־יחידים, ֿפיר ווענט און א בַּאלקן ֿפַאר די היימלָאזע,„ַא בּריק -ֿפרעמדלענדערישער אוּמווָאגלוּנג אין די ֿפַארשידענע צענטערן ֿפוּן יידיש־ֿפָאלקישער עקסטע “.[ ריטָאריַאלישקייטEinen Fußboden, vier Wände und ein Dach für die hauslosen Dichter-Individuen, fremdländisch umherirrend in verschiedenen Zentren ihrer jüdisch-ethnischen Exterritorialität].³ Damit beklagte er, den Begriff ‚exterritorial‘ wortwörtlich denkend, die zerstreute jüdische Existenz außerhalb eines eigenen Territoriums.⁴ Die exterritoriale jiddische Literatur leide, so Grinberg, an einem mit ihrer geographischen Zergliederung einhergehenden Auseinanderdriften.⁵ In der Unbehaustheit dieser Literatur und im Fehlen eines kollektiven Zentrums sah er den Grund für alle künstlerischen Übel, denen er mit seinem Manifest Einhalt gebieten wollte. In expressionistischer Manier ging er gegen „Pseudo-Expressionismus“ und „Schund“ vor, forderte „Erneuerung“, „Aufbruch“ und „Revolution des Geistes“. Den Weg der Befreiung für die „Albatrosse der jung-jiddischen Dichtung“, wie er sie nannte, sah Grinberg in „Gesängen“, „grausam, chaotisch, blutend“, im „freien, nackten Menschenausdruck“.⁶ Mit diesem Ruf nach einer ästhetischen Autonomie, welche die ganze jüdische Lebensordnung revolutionieren und in einen utopisch-ästhetischen Raum überführen sollte, stellte sich dieses Manifest in die Tradition der europäischen Avantgarde.⁷ Wie andere avantgardistische Manifeste sollte auch Grinbergs Proklamation des Neuen als Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen und als Motor eines radikalen Projekts dienen,⁸ in diesem Fall dem Projekt einer jiddischen Moderne,⁹ das wiederum Teil der jüdi-
Grinberg, 1922, S. 3. ‚Exterritorial‘ ist im Jiddischen sowohl in dieser Bedeutung geläufig als auch im völkerrechtlichen Sinn „den Gesetzen des Aufenthaltslandes nicht unterworfen“ (Duden, 1999, Band 3, S. 1142). Mit dieser Meinung war Grinberg nicht allein. 1924 beklagte beispielsweise der Literaturkritiker und damalige Chefredakteur der kommunistischen jiddischen Tageszeitung Der emes [Die Wahrheit] Moyshe Litvakov (1875/80 – 1939) den Umstand, dass das „jüdische Proletariat“, eine „Klasse des exterritorialen Volks“, „wie [eine] Insel unter anderen nationalen Mehrheiten versprengt“ sei, wodurch „die Entwicklung einer nationalen Kultur erschwert“ werde (Litvakov, 1924). Grinberg, 1922, S. 1, S. 3. Vgl. Asholt/Fähnders, 1995, S. xv–xxx; Hjartarson, 2013, S. 5. Vgl. Hjartarson, 2013, S. 64– 68. 1922 gründeten die Dichter Uri Zvi Grinberg, Perets Markish und Melech Ravitch in Warschau die neue Dichtergruppe Khalyastre [Bande]. Jedes ihrer Mitglieder brachte 1922 eine Zeitschrift heraus: Markish Khalyastre, Grinberg Albatros und Ravitch Di vog [die Waage]. Diese kurzlebigen Veröffentlichungen mit ihren manifestartigen Texten konstituierten die Warschauer jiddische Moderne. Vgl. Wolitz, 1991; Cohen, 2003, S. 37– 51. Modernistische Zeitschriften und Sammelbücher begannen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zu erscheinen, darunter Eygns [Eigenes],
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schen Renaissance war.¹⁰ Bei aller Diversität der Entwürfe vertrauten sie alle auf die Fähigkeit großer Segmente des jüdischen Kollektivs, sich zu transformieren und neue Lebensmodi und Gesellschaftsstrukturen zu verwirklichen. Wie die beklagte existenzielle Exterritorialität zu leben sei, welche Auswirkungen sie auf die Entfaltung der jiddischen Kultur und welche Folgen sie für diese Gemeinschaft habe, waren Fragen, die jiddische Intellektuelle weltweit beschäftigten. Bereits im Mai 1922 brachte das New Yorker Monatsheft [ די צוקונֿפטDie Zukunft] einen längeren Essay des Literaturkritikers Shmuel Niger¹¹ über die Frage der auseinander liegenden „Gegenden“ der jiddischen Literatur, in dem er gegen die Auffassung, das jiddische Volk und seine Literatur seien exterritorial, argumentierte: אין דער אמת’ן זיינען מיר אינאיינעם מיט אונזער שפּרַאך און ליטערַאטור און אונזער גַאנצען גייסטיגען מיר זיינען ניט אפּגעריסען פון, מיר שוועבען ניט אין דער לופטען. ה. ד,פארמעגען – פָּאליטעריטָאריַאל געפינען זיך אונטער דעם, מיר ציהען די חיונה פון פארשיידענע בָאדענס, פערקעהרט, נאר,בָאדען , זייערע ַאלעמענס ווירקונגען בעגעגענען זיך. פארשיידענע סביבה’ס,איינפלוס פון פארשיידענע קלימַאטען אין. שטויסן זיך צוזַאמען אדער בעהעפטען זיך אין אונזער ַאלגעמיין נַאציָאנַאלען שַאפען,קומען זיך צונויף , עס בלייבט נאר זייער פאראייניגונג, ָארטיגע קרעפטען,סך הכל ווערען בטל די שורות פון די בעזונדערע ווען עס רעדט זיך וועגען אונזער שפּרַאך אדער ליטערַאטור,זייער אונטערשטע שורה; אבער דאס איז צו איין פיזישער און היסטָארישער,אדער קולטור אינגַאנצען גענומען; טהיילען זייערע זיינען צו איין געגענד ווי צו ַאלע ַאנדערע; טהיילען פון דעם אידישען פָאלק און זיין שַאפען זיינען,סביבה מעהר צוגעבונדען וואס פאר א חלק עס האט אין אונזער גייסטיגער און, וויכטיג צו וויסען, דערפַאר, און עס איז.טעריטָאריעל .ספּעציעל ליטערַארישער נחלה די אדער יענע פון די דָאזיגע טעריטָאריעלע גרופּעס In Wahrheit sind wir zusammen mit unserer Sprache und Literatur und unserem ganzen geistigen Vermögen polyterritorial, das heißt, wir schweben nicht in der Luft, wir sind nicht dem Boden entrissen, sondern im Gegenteil: Wir ernähren uns von verschiedenen Böden, stehen unter dem Einfluss verschiedener Klimazonen, verschiedener Umgebungen. Ihre Wirkungen begegnen sich alle, kommen zusammen, geraten in Konflikt oder vereinigen sich mit unserem allgemeinen nationalen Schaffen. Im Ganzen werden die Reihen der besonderen örtlichen Kräfte hinfällig, es bleibt nur ihre Vereinigung, ihr Endergebnis. Aber dies bezieht sich auf unsere Sprache, Literatur oder Kultur als
Kiew, 1918 und 1920; Der inzel [Die Insel], New York, 1918; Yung-idish [Jung-Jiddisch], Lodz, 1919; Oyfgang [Aufgang], Kiew, 1919; In zikh [In sich, hier: Introspektivismus], New York, 1920 – 1940; Ringen [Ringe], Warschau, 1921– 1922; Glokn [Glocken], Warschau, 1921. Vgl. Biemann, 2016. Vgl. Leo Kenigs Kommentar zur jüdischen Renaissance in seinem einleitenden Artikel „Renesans-motivn“ des von ihm herausgegebenen Hefts Renesans, Nr. 1, 1920, S. 3 – 7. Vgl. ferner Melech Ravitchs Plädoyer für einen transnationalen Verband jiddischer Schriftsteller (Ravitch, 1924). Zum russisch-revolutionären Strang der jüdischen Renaissance vgl. Moss, 2009. Zu einigen jiddischen Manifesten im europäischen Kontext siehe Vakhrushova, 2020. Shmuel Niger, 1883 in Dukora bei Minsk geboren und 1955 in New York gestorben, gilt als der bedeutendste jiddische Literaturkritiker.
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Ganzes. Ihre Teile sind mit einer Gegend, mit einem physischen und historischen Milieu stärker als mit anderen verbunden. Teile des jüdischen Volks und dessen Schaffen sind territorial. Und deshalb ist es wichtig zu wissen, welchen Anteil in unserem geistigen und speziell literarischen Grundbesitz die eine oder andere jener territorialen Gruppen hat.¹²
Shmuel Niger sucht nicht die Einheit von Nation und Staatsgebiet, sondern gebraucht das Attribut ‚territorial‘ im Sinn der Zugehörigkeit zu einem geographischen Gebiet und seiner lokalen Minoritätskultur. Er hebt die besondere Leistung der jiddischen Sprache und Literatur hervor, die in vielfältigen Prozessen des Kulturtransfers in unterschiedlichen Gegenden entstehen und ihre ‚polyterritorialen‘ Komponenten zu einer genuinen Kultur amalgamieren.¹³ Die jiddische Moderne konstituierte sich im Rahmen der jeweiligen hegemonialen Verhältnisse in Form einer Kulturautonomie, die sich als ein Netz geographisch auseinander liegender Kulturräume in alle vier Windrichtungen erstreckte.¹⁴ Diese Fragmentierung verlangte nach einer Formierung von Zugehörigkeit sowohl in den einzelnen Räumen als auch untereinander. Die Kohäsionskraft, den inneren Zusammenhalt, sollte die jiddische Sprache liefern. Bereits 1898 hatte Khayim Zhitlowsky, Sozialist und Pionierdenker der jüdischen Kulturautonomie, den Begriff ‚jiddische Kultur‘ im Sinn einer jiddischsprachigen Kultur verwendet: וועט ער ֿפַארעֿפענטליכן אויף,ַאלץ ווָאס ]…[ ]דער יונגער דור[ וועט אויֿפטָאן אין וויסנשַאֿפט און קונסט די ייִדישע בילדונג וועט ַאלץ ווַאקסן ָאן ַאן אויֿפהער און וועט ווערן ַא, און די ייִדישע קולטור,ייִדיש נָאר אויך, ווָאס וועט צונויֿפבינדן אין איינעם ניט נָאר די געבילדעטע מיט דעם ֿפָאלק,מוראדיקע קרַאֿפט .ַאלע ייִדן ֿפון ַאלע לענדער Alles, was sie [die junge Generation] in Wissenschaft und Kunst vollbringen wird, wird sie auf Jiddisch veröffentlichen; und die jiddische Kultur, die jiddische Bildung, wird
Niger, 1922, S. 308, Hervorhebungen im Original. Mit diesem Essay antwortete er auf die ebenfalls in Di tsukunft publizierte Studie von Bal-Makhshoves „דאס דרום־יודענטהום און די אידישע “טען יאהרהונדערט19 [ ליטערַאטור איןDas Südjudentum und die jiddische Literatur im 19. Jahrhundert] (Bal-Makhshoves, 1922). Der Kulturtransfer war allerdings einseitig, da nur einzelne jiddische Werke in der Zwischenkriegszeit in andere Sprachen übersetzt wurden. Vgl. Gal-Ed, 2016, S. 39. Vgl. „Jiddischland“, Gal-Ed, 2016, S. 44– 55. Bereits auf der 4. Versammlung des Bund (24.– 27. Mai 1901 wurde das nicht auf ein eigenes Territorium gerichtete Programm der „nationalkulturellen Autonomie“ verabschiedet (Aronson et al., 1960, S. 184). Vgl. auch Hiden, 2011–2017 und Gechtman, 2011–2017.
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beständig weiterwachsen und zur gewaltigen Kraft, die nicht nur die Gebildeten mit dem Volk, sondern auch alle Juden aller Länder zusammenbinden wird.¹⁵
1908 gehörte Khayim Zhitlowsky jenem Lager an, das auf der Czernowitzer Sprachkonferenz die Debatte über den Status des Jiddischen forcierte.¹⁶ Zhitlowsky wollte der jiddischsprachigen Kulturgemeinschaft Geltung und Anerkennung nicht zuletzt mit dem Argument verschaffen, dass die jiddische Sprache die organische Verbindung des jüdischen Volks mit der „europäischen Zivilisation“¹⁷ sei. Mit der schließlich errungenen Resolution, die das Jiddische als eine jüdische Nationalsprache anerkannte, wurde dem als ‚verdorbenes Deutsch‘ und ‚Jargon‘ verachteten Jiddischen der Status einer europäischen Kultursprache zuerkannt. Weniger an der Formulierung ideologischer Deklarationen als an der praktischen Dimension der Kulturarbeit interessiert, sprach sich auf dieser Konferenz der Schriftsteller Yitskhok Leybush Peretz für ein Gegenkonzept zum Nationalstaat in Form einer transnational vernetzten jiddischen Kulturarbeit aus und lieferte damit eine erste Blaupause für das spätere ‚Land Jiddisch‘. Den Staat verglich Peretz mit dem Moloch, dem, wie vor Urzeiten die Kinder, kleine und schwache Völker geopfert werden, und forderte: נישט דָאס ֿפַאטערלַאנד! און, איז דָאס מָאדערנע ווָארט! די נַאציָאן, נישט דער שטַאט,“דָאס „ֿפָאלק … נישט גרענעצן מיט יעגער בַּאווַאכן דָאס אייגנַארטיגע ֿפעלקער־לעבּן,אייגנַארטיגע קולטור Das ‚Volk‘, nicht der Staat, ist das moderne Wort! Die Nation, nicht das Vaterland! Und eine eigene Kultur, nicht Grenzen mit Schützen, die das eigene Leben der Völker bewachen…¹⁸
Peretz proklamierte nicht nur die Transformation dieser Machtverhältnisse durch die Entfaltung der jüdischen Kultur in der eigenen Sprache des Volks, Jiddisch, sondern unterbreitete am zweiten Konferenztag den Entwurf einer weltweit vernetzten jiddischen Kulturinstitution, die er „Zentralbüro der Konferenz der jiddischen Sprache“¹⁹ nannte. Das Zentralbüro mit seinen lokalen Niederlassungen in Ost- und Westeuropa sollte durch Gründung und Koordinierung von Verlagen, Bibliotheken, Schulen, Theatern und Künstlerverbänden jiddische Bildung und Kultur fördern und organisieren. Peretz entwarf eine von Mitgliedsbeiträgen fi Zhitlowsky, 1931a, S. 72. Der Essay „Tsyonizm oder sotsyalizm?“ wurde in Idisher arbeyter 6, 1898 erstveröffentlicht. Zur Czernowitzer Sprachkonferenz siehe YIVO, 1931; Goldsmith, 1997, S. 183 – 221; Fishman, 1981, S. 369 – 394; Szeintuch, 2000; Weiser/Fogel, 2010. Zhitlowsky, 1931a, S. 74. YIVO, 1931, S. 75. Ebd., S. 86; Peretz’ Entwurf des Zentralbüros, ebd., S. 85 – 87.
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nanzierte, nichtstaatliche Institution, eine Art transnationales Kultusministerium, das initiierend und koordinierend das Fundament für die fehlende, jedoch notwendige Infrastruktur legen sollte, die den Status jiddischer Kulturschaffender sichern und den praktischen Kulturaufbau vorantreiben und stärken würde. Peretz’ Vorschlag gründete in seiner Überzeugung von der Existenz einer globalen Gemeinschaft aller Kulturnationen, die er metaphorisch als “[ „וועלט־געוועבWeltgewebe] bzw. “[ „וועלט־הַארמָאניעWeltharmonie] darstellte. Demnach erzeuge die jiddische Kultur – je nach Metapher – einen ihr eigentümlichen „Faden“ bzw. „Klang“.²⁰ Peretz’ Weltbild und seine Metaphorik hallen in späteren Äußerungen zum Land Jiddisch und zu Jiddischland nach.²¹ In Czernowitz allerdings stieß sein Vorschlag auf heftige Ablehnung, doch weist der höchst dynamische Ausbau der jiddischen Kulturbewegung nach dem Ersten Weltkrieg Grundzüge seines Sinnkonzepts auf und zeugt von seiner Wirkung als Orientierungsmodell. Etwa für die im April 1918 in Kiew, der Hauptstadt der kurzlebigen ukrainischen Volksrepublik, gegründete Kultur-lige. ²² Nach ihrer Sowjetisierung 1920 konnte sie ihr jiddischistisches Programm nicht mehr verfolgen, wurde jedoch zum Vorbild gleichnamiger Organisationen in anderen europäischen Städten, darunter in Kaunas, Warschau, Bukarest, Paris, Berlin und Amsterdam. Das Weltbild einer globalen Kulturgemeinschaft teilte auch Zhitlowsky, der 1920 konstatierte, dass die Sprache „das Material“ sei, aus welchem das Volk seine ganze Kultur „spinne“,²³ und dass die jiddische Literatur Zentrum und Träger eines neuen „Nationalbewusstseins“ sei, dessen progressive Kraft eine tiefe Verbundenheit mit der übrigen kulturschaffenden Menschheit aufgebaut habe.²⁴ Damit bestimmte er für die jiddische Literatur die Distinktion als Voraussetzung für die Teilhabe an der Weltliteratur. Mit dem Ausbau der eigenen Literatur ging ein Prozess des Sicheinordnens in eine transnationale literarische Gemeinschaft einher.
Peretz, 1947, S. 164, erstveröffentlicht 1911. Zu Peretz’ Konzept der jiddischen Kultur siehe Vakhrushova (in Druck). Ravitch verwies darauf in seinen Memoiren: ייִדישע וועלטפָאלק הָאט, וועלטלעכע,„דָאס מָאדערנע – , די אידעָאלָאגיע איז דָא.ָאנגעהויבן זיך צו געפינען אין די רעמען פון דער נייער וועלט ווָאס ווערט איצט נַײ־געבוירן “.[ יצחק לייבוש פּרץ איז איר אידעָאלָאגDas moderne, säkulare, jiddische/jüdische Weltvolk begann sich im Rahmen der neuen Welt zu finden, die jetzt neugeboren wird. Die Ideologie ist da – Yitskhok Leybush Peretz ist ihr Ideologe.] (Ravitch, 1975, S. 10) und vgl. auch ebd., S. 290. Vgl. Estraikh, 2010 und 2016 und die darin enthaltene Literatur. Mit dem Gebrauch desselben Verbs „spinnen“ rekurriert Zhitlowsky auch sprachlich auf das Weltbild von Peretz. Erstveröffentlicht 1920. Zhitlowsky, 1931b, S. 243, S. 264, S. 275.
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Charakteristisch für die jüngere Generation jiddischer Modernisten war ihre hohe Mobilität. Sie reisten durch Europa, hielten sich zeitweise in verschiedenen Metropolen auf, standen international in Kontakt mit diversen Künstlergruppen und waren mit literarischen Traditionen der umgebenden Kulturen vertraut. Für den jungen Dichter Perets Markish lag in diesem Existenzmodus, dem jiddischen „Wandergeist“, geradezu das Potenzial für eine originelle und zugleich universelle Literatur, wie er 1922 nicht ohne Ironie in Khalyastre bemerkte: ַאן, געבן ַאן אייבערמענטשלעכע, ַאזַא ברָאדיַאגעשַאֿפט,אֿפשר קָאן ַא מָאל ַאזַא אומרויִקער ווַאנדערגַײסט ?אינטערנַאציָאנַאלע קולטור אויף עפּעס ַא ברָאדיַאגישן לשון Vielleicht kann eines Tages ein derart unruhiger Wandergeist, ein derartiges Vagabundentum eine übermenschliche, eine internationale Kultur in vagabundischer Sprache hervorbringen?²⁵
Markish erläuterte seine Vorstellung im Dezember 1924 in einem Vortrag in der Wilnaer Philharmonie: „אפשר אין דער קללה פון אונזער בָאדנלָאזיקייט נעסטיקט זיך די בּרכה “[…] [ פון איבּערבָּאדנקייטVielleicht nistet im Fluch unserer Landlosigkeit der Segen einer Überländlichkeit].²⁶ Der so entstandene „internationale Geist des jüdischen Volks“, so Markish, habe andere Völker und Kulturen befruchtet und sich von ihnen befruchten lassen und er wird מוזן פירן צו, ווָאס איז אויך עלעמענטנווייז אינטערשפּרַאכלעך,אין צונויפפָּארונג מיט דער יידישער שפּרַאך .דער ַאנטפּלעקונג פון דָאס אוניווערסַאלע און ַאלגעמיין מענטשלעכע אין דער ליטערַאטור gepaart mit der jiddischen Sprache, die in ihren Komponenten intersprachlich ist, zur Offenbarung des Universalen und Allgemeinmenschlichen in der Literatur führen müssen.²⁷
Nach Markish haben die besonderen Lebensbedingungen der „Landlosigkeit“ einen Geist geformt, der eigene Überlieferungsprozesse und zugleich Prozesse des Kulturtransfers hervorbringen konnte und sich dabei transnationalisierte. Das Ausdrucksmittel dieses Geistes, das Jiddische, das Markish aufgrund seiner Entstehung im Kontakt zu den Sprachen der umgebenden Kulturen als „intersprachlich“ bezeichnet, eigne sich besonders und müsse eine Literatur hervorbringen, in der nicht Partikulares, sondern Universelles zum Ausdruck komme. Und da Markish in diesen besonderen Lebensbedingungen ein geistiges Potenzial erkannte, wehrte er sich gegen die Forderung von Kritikern, das nationale Markish, 1922, S. 58. In den frühen 1920er Jahren betonte Markish wiederholt die Bedeutung der kulturellen Kontakte (vgl. Vakhrushova, in Druck). S–K, 1924. Ebd.
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Element jiddischer Kunst und Literatur durch Rückbesinnung auf Tradition und Vergangenheit zu betonen. ַאז ער צווינגט אונדז,דער פחד ֿפַאר זעלבסטֿפַארלירן זיך אין דער גַײסטיקער בָּאדנלָאזיקײט איז ַאזוי גרויס , אונדזערע טרַאדיציעס אויף שטריק ֿפון אַײנבילדונג, אונדזער נַאציָאנַאליטעט,צובינדן זיך אונדזער קולטור :פּונקט ווי די בערג־שטַײגער בּינדן זיך צו איינער צום ַאנדערן מיט שטריק אין זייער שטַײגונג איז, ַאז דָאס ווָאס מיר קָאנען צובינדן, ֿפַארגעסנדיק דערבַײ,“ַאזוי ווילן מיר צובינדן צו זיך אונדזערע „איך’ן איז אויסער, איז נישטָא, ווָאס מיר ווילן צובינדן, און דָאס. אין אונדזער שטַײגן זעלבסט,אין אונדז גוֿפא .אונדז Die Angst vor Selbstverlust in der geistigen Landlosigkeit ist so groß, dass sie uns zwingt, unsere Kultur, unsere Nationalität, unsere Traditionen an ein Seil der Einbildung zu binden, genau wie sich Bergsteiger beim Steigen mit einem Strick aneinander binden: So wollen wir unsere ‚Ichs‘ zusammenbinden und vergessen dabei, dass das, was wir zusammenbinden können, uns selbst, unserem Steigen innewohnt. Und das, was wir zusammenbinden wollen, existiert nicht, ist außerhalb von uns.²⁸
Ganz im Sinn der europäischen Avantgarde stellte Markish die Autonomie des kreativen Prozesses gegen die Ästhetisierung des Nationalen und hob dabei die Gegensätze auf: נָאר וועגן שַאֿפן; די ֿפרַאגע איז נישט וועגן זוכן,דערֿפַאר איז די ֿפרַאגע נישט וועגן סטיליזירן און בַאַארבעטן […] . נָאר זוכן און גרָאבן אין זיך זעלבסט.אויסער זיך די טרַאדיציעס אין אונדזער, גרָאבן מיר במילא די ֿפַארגַאנגענהייט,ווַײל זוכנדיק אין זיך זעלבסט . ווַײל זיי זענען אין אונדז,גרַאניט־עפָּאכע ? זייער לעבעדיקסטער רעזולטַאט,ווַײל ווָאס דען זענען מיר אויב נישט זייער לעבעדיקסטער אויסדריק Darum geht es nicht um Stilisieren und Bearbeiten, sondern um Schaffen; es geht nicht um ein Suchen außer sich, sondern um Suchen und Graben in sich selbst. […] Denn sucht man in sich selbst, gräbt man zwangsläufig in der Vergangenheit, in Traditionen unseres Granit-Zeitalters; denn sie sind in uns. Was sind wir, wenn nicht ihr lebendigster Ausdruck, ihr lebendigstes Resultat?²⁹
II Dos land ‚yidish‘ Das Projekt der jiddischen Moderne wurde von engagierten Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, Mäzenen, von parteiübergreifenden und parteigebundenen Organisationen vorangetrieben, deren Vorstellungen von der jiddischsäkularen Kultur sich so stark unterschieden wie die Ideologien, von denen sie Markish, 1924. Ebd.
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geprägt waren. Zentren der jiddischen Minoritätskultur entstanden weltweit, wenngleich sich die große Masse der Jiddischsprechenden im osteuropäischen Raum befand, etwa in Warschau, Wilna, Kiew, Moskau, New York, Buenos Aires und Montreal. Zielgruppe der jiddischen Intelligenz mit ihren Kulturschaffenden und Kulturaktivisten waren vor allem die breite jiddischsprechende Arbeiterschicht und die untere Mittelschicht in den Großstädten. Hauptakteure der Gestaltung der jiddischen Moderne waren die Schriftsteller, die Hauptrolle in diesem Projekt spielte die entstehende jiddische Literatur. Sie verkörperte nicht nur den geographisch fragmentierten Kulturraum, sondern sicherte durch die jiddische Sprache seinen Zusammenhalt: „Sprache und Text wurden zur tragbaren Heimat, kulturschaffende Tätigkeit wirkte gemeinschaftsbildend, und jiddische Schriftsteller sprachen von sich als [ שרַײבער־משפּחהschreiber-mischpoche].“³⁰ Eine äußerst heterogene Familie, deren Mitglieder 1925 über die Frage stritten, welchem der jiddisch-literarischen Zentren – Warschau, New York oder Moskau – die Vormachtstellung zukomme. Es ging „um die Hegemonie in der gesamten jiddischen Literatur, […] um das Hauptzentrum und vor allem um das künftige jiddische Schaffen“, fasste der Publizist Nakhmen Meisel³¹ zusammen und plädierte: ]…[ דָאס פַארלַאנגט. מיר זיינען אויסער מלוכה־גרענעצן און לענדער מיט אונזער יידישן שאפן,פַארפַאלן וועלכע מיר ַאלע דינען און צו, דָאס ַאלוועלטלעכע יידישע שַאפן,די איינהייטליכע יידישע ליטערַאטור .וועלכע מיר ַאלע שטרעבּן Nichts zu machen! Wir sind mit unserem jiddischen Schaffen außerhalb von staatlichen Grenzen und von Ländern. […] Das erfordert eine vereinte jiddische Literatur, ein weltweites jiddisches Schaffen, dem wir alle dienen und nach dem wir alle streben.³²
Mit der Interjektion „farfaln“ [(es ist) nichts (mehr) zu machen] bringt Meisel nicht nur Entrüstung zum Ausdruck, sondern auch die Akzeptanz der besonderen Position dieser außerhalb nationalstaatlicher Grenzen und jenseits von Staatsangehörigkeiten entstehenden jiddischen Literatur. Die Problematik dieser Lage, so Meisel, werde nicht durch ein „Hauptzentrum“ gelöst, sondern erfordere die Vereinigung des jiddisch-literarischen Schaffens, das an verschiedenen Orten der
Gal-Ed, 2016, S. 43. Nakhmen Meisel, geboren 1887 in einem Dorf bei Kiew, gestorben 1966 in Kibbuz Alonim, war Mitbegründer der polnischen kultur-lige und 1924– 1939 Herausgeber der jiddischen Wochenschrift Literarishe bleter. Meisel, 1925, S. 264. Die Debatte erhitzte sich 1926 (etwa Zeitlin, 1926; Bergelson, 1926), doch die Problematik wurde bereits früher (etwa Ravitch, 1922; Niger, 1924) und auch später (etwa Hirschbein, 1928; Ravitch, 1939) thematisiert. Zum Streit siehe Cohen, 2003, S. 113 – 125; vgl. Weiser, 2015.
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Welt stattfindet. Anstelle einer Hierarchisierung sucht Meisel nach einem Zusammenhalt der auseinander liegenden literarischen Felder. Aufgrund der territorialen Dissoziierung des jiddischen Kulturraums wurde das Projekt der jiddischen Moderne ein Gegenentwurf zum europäischen territorialen Zentralstaat,³³ ein aus den Lebensbedingungen der jiddischsprachigen Gemeinschaft entstandener Gegenentwurf. Die jiddische Minoritätsliteratur entfaltete sich weltweit quer durch die verschiedenen Nationalstaaten hindurch und im ständigen Kontakt mit den umgebenden Mehrheitskulturen. Wo sie existierte, war sie fremd, geprägt von der Spannung zwischen kultureller Differenz und transkulturellem Selbstverständnis der Autoren. Das ästhetische Programm, die Bindung an Werte und Modelle der europäischen Moderne, zielte auf die Zugehörigkeit zur Weltliteratur. Doch dazu bedurfte es der externen Stärkung, der Anerkennung der ‚kleinen Literatur‘³⁴ durch eine europäische Institution. Dies erfuhr die jiddische Literatur, als der internationale PEN-Kongress am 20. Juni 1927 dem Antrag des Warschauer jiddischen Journalisten- und Schriftstellerverbands zustimmte und die staatenlose „jüdische Literatur“, auf Hebräisch und auf Jiddisch, als gleichwertiges Mitglied in seine Organisation aufnahm.³⁵ Im Sommer 1926 vermittelte Melech Ravitch, Dichter, Publizist und damals Sekretär des Schriftstellerverbands, den Lesern der Wochenschrift [ ליטערַארישע בלעטערLiterarische Blätter] die Initiative des Verbands mit dem Argument: […] . הָאבן ַא שפּרַאך און ַא ליטערַאטור און – זענען עקסטעריטָאריַאל,מיר זענען ַא ֿפָאלק . אויב נַאציע דַארף זַײן די דערגרײכונג אירע,וועלט דַארף זַײן דָאס ציל ֿפון יעדער ליטערַאטור
Zum Konzept ‚multiple modernities‘ siehe Eisenstadt, 2000. Durch den Schauspieler Jizchak Löwy begegnete Franz Kafka 1911 „der gegenwärtigen jüdischen Litteratur in Warschau“ (Kafka, 1990, [312]). In seinem Tagebuch reflektierte er am Beispiel der jiddischen und tschechischen Literatur das Verhältnis von Kultur, Politik und Nation ‚kleiner Literaturen‘. Kafka erkannte „viele Vorteile der litterarischen Arbeit“, dazu gehörte „der Stolz und der Rückhalt, den die Nation durch eine Litteratur für sich und gegenüber der feindlichen Umwelt erhält“ (ebd., [313]). Am Ende seines Eintrags vom 27. Dezember 1911 listete er unter der Überschrift „Schema zur Charakteristik kleiner Litteraturen“ (ebd., [326]) Stichworte zur Wirkung ihrer besonderen Dynamik auf. In Kafka. Pour une littérature mineure (1975, S. 29) behaupten Deleuze und Guattari: „Une littérature mineure n’est pas celle d’une langue mineure, plutôt celle qu’une minorité fait dans une langue majeure“. Die Autoren beziehen Kafkas Begriff auf die Literatur der deutschsprachigen jüdischen Minderheit in Prag. Damit missachten sie Kafkas expliziten Hinweis, dass sich seine Erkenntnisse auf die gegenwärtige jüdische (hier: jiddische) Literatur in Warschau und auf die tschechische bezögen. Zu dieser Rezeption vgl. Casanova, 2007, S. 200 – 204; Thirouin, 2014 (für diesen Hinweis danke ich Hans-Gerd Koch). Zu Kafkas Begegnung mit dem jiddischen Theater und der jiddischen Literatur vgl. Lauer, 1996. Vgl. Cohen, 2003, S. 70 – 73; Schachter, 2012, S. 3 – 5.
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, ]…[ לָאמיר מוּטיק אויֿפהוֹיבּן די קעפּ אוּן בַאווייזן זיי אין פענסטער.דָאס ֿפענסטער צו איירָאפּע איז ָאֿפן – מסתּמא איז די שטוּב אוֹיך פּוסט, דָאס ֿפענסטער איז פּוסט:איידער מען וועט זָאגן ֿפון יענער זייט Wir sind ein Volk, haben eine Sprache und eine Literatur und – sind exterritorial. […] Welt muss das Ziel jeder Literatur sein, wenn die Nation ihre Errungenschaft sein soll. Das Fenster zu Europa ist offen . […] Lasst uns mutig die Köpfe erheben und sie im Fenster zeigen, bevor man auf der anderen Seite sagt: Das Fenster ist leer, wahrscheinlich ist das Haus auch leer – ³⁶
Wie Markish zuvor sah Melech Ravitch in der universellen Orientierung und in der Öffnung zu Europa den Weg zur Entfaltung genuiner Nationalkultur. Gehen beide Autoren von der Universalisierbarkeit des Partikularen aus? Oder erachten sie sprachgebundene kulturelle Eigenart und den universellen Bestand an Motiven, ästhetischen Formen und Verfahren als komplementär? In Ravitchs Argumentation sind Anklänge an den Wiener Diskurs über die ‚Nationalitätenfrage‘ und an Karl Renners Konzeption einer national-kulturellen Autonomie unüberhörbar. Ravitch überträgt das Wiener Modell des Vielvölkerstaats auf Europa und folgt Renners Auffassung von der Nation als einer „geistige[n] und culturelle[n] Gemeinschaft mit einer nennenswerten Nationalliteratur als Ausdruck dieser Culturgemeinschaft“.³⁷ Eine Literatur, so Ravitch, ist erst dann nationbildend und also „nennenswert“, wenn sie ihre kulturelle Eigenheit bewahrt und zugleich auf die „Welt“ orientiert ist, also weltoffen und auf das Universelle ausgerichtet. Diese Auffassung kommt auch in seinen späteren Reflexionen über diese Zeit zum Ausdruck: אין יענע יָארן – צווישן ביידע וועלט־מלחמות – איז אין פּוילן געווען דער צענטער פון דער ייִדישער דער סימן מובהק פון ַא קולטורפאלק, און דער יסוד פון דעם צענטער איז דָאך די ליטערַאטור.וועלטקולטור .און פאלקסקולטור In jenen Jahren – zwischen beiden Weltkriegen – war das Zentrum der jiddischen Weltkultur in Polen. Und das Fundament des Zentrums ist doch die Literatur, das Kennzeichen eines Kulturvolks und einer Volkskultur.³⁸
Mit der Aufnahme der staatenlosen Literatur in den internationalen PEN-Club erfuhr die beklagte exterritoriale Existenz eine kühne Aufwertung. Die Anerkennung bedeutete so viel wie ein Territorium.³⁹ Das symbolisierte der neue Lan-
Ravitch, 1926, S. 362 f. Zitiert nach Gechtman, 2011–2017. Ravitch, 1975, S. 257. 1938 argumentierte der in New York lebende Schriftsteller und Publizist Borekh Rivkin, die jiddische Literatur sei seit ihren Anfängen ein [ כּמו־טעריטָאריעQuasi-Territorium] (Rivkin, 1938, S. 430).
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desname.⁴⁰ In dieser Bedeutung war ‚Jiddisch‘ ein neuartig gebrauchter Ausdruck. Das Adjektiv, das ursprünglich ‚jüdisch‘ bedeutete, aber auch die jiddische Sprache, und was in ihr geschaffen wird, bezeichnet, wurde 1927 zum Namen eines Landes, das auf keiner Landkarte zu finden ist. Eine Metapher also und zugleich die Geburt eines utopischen Projekts, einer räumlichen Gegenwelt, in der für einige Jahre die Verbindung von kultureller Differenz und kosmopolitischer Weltanschauung nicht nur denkbar, sondern auch lebbar erschien: Eine jiddische Wortrepublik⁴¹ als die Nationalliteratur der Juden. In seinen Memoiren hielt Ravitch fest, dass während der Verhandlungen mit dem PEN aus London die Frage kam, welches Land die jiddischen Autoren vertreten würden? Worauf die Antragsteller antworteten: „Jiddisch“. Mit diesem ahnungsvollen Wort, das auf Englisch (Yiddish) am Ende der Liste der im PEN organisierten Länder stehen würde, wurde die Literatur ohne Land zum Literaturland. Wie sehr das neue Konzept im biblischen Zukunftsdenken verankert war, verrät Ravitchs Darstellung des neuen Lands: ַאז משיח, ַא מָאל, ַאז ַא מָאל, ַאן ָאנזָאג. לויטער גַײסט. ָאן ערדישע גרענעצן,ייִדיש… ַא מיסטעריעז לַאנד און יעדעס ֿפָאלק מיט זַײן לשון. און שלום צווישן ַאלע ֿפעלקער, וועלן ַאלע לענדער זַײן גן־עדנס,וועט קומען און די ייִדישע ליטערַאטור. און יעדע ליטערַאטור – ַא וועלט־ליטערַאטור בזעיר ַאנפּין,און זַײן ליטערַאטור ווָאס ֿפירט די צעקריגטע בעלי־חיים צו שלום,וועט סימבָאליזירן דָאס ייִנגעלע ֿפון דעם נביאס משיח־וויזיע .און גליק Jiddisch … Ein mysteriöses Land, ohne irdische Grenzen, reiner Geist. Ein Vorzeichen, dass eines Tages, wenn der Messias kommen wird, alle Länder Paradiese sein werden und zwischen allen Völkern Friede herrschen wird, und jedes Volk mit seiner Sprache und seiner Literatur, und jede Literatur Weltliteratur en miniature sein wird, und die jiddische Literatur wird den kleinen Knaben der messianischen Vision des Propheten symbolisieren, der die zerstrittenen Tiere zu Glück und Frieden führen wird.⁴²
1937 charakterisierte der Publizist und erste jiddische Kunstkritiker Leo Kenig das Land Jiddisch als “[ „דער טרַאגיש־זיסער ‚במקום‘ פון ַא נַאציָאנַאלן קלימַאט און לַאנדder tragisch-süße ‚Ersatz‘ eines nationalen Klimas und Landes] (Kenig, 1937, S. 51). Das Konzept einer res publica lit[t]eraria ist bereits im 17. Jahrhundert überliefert, etwa im Titel der Zeitschrift Nouvelles de la République des Lettres (1684).Vgl. Pascale Casanovas Definition der „world republic of letters“ als „international literary space“ im Gegensatz zu „world literature“. Casanova argumentiert: „[…] what needs to be described is not a contemporary state of the world of letters, but a long historical process through which international literature – literary creation, freed from its political and national dependencies – has progressively invented itself“ (Casanova, 2007, S. xii). Ravitch, 1975, S. 273 f. Vgl. auch ebd., S. 324. In diesem Kontext nennt Moyshe Knaphais „kosmopolitisch“ und „transnational“ (alveltlekh) als die besonderen Merkmale der „Literatur von Jiddischland“ (1987, S. 172). Ravitch spricht an anderen Stellen von der „ייִדיש־ייִדישער “[ ליטערַאטורjiddisch-jüdischen Literatur] als “[ „ַא וועלט־ליטערַאטור בזעיר־אנפּיןWeltliteratur en miniature] bzw. als Weltliteratur (1975, S. 13, S. 19, S. 111 u. a.).
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Ravitchs Rückgriff auf eschatologische Bildlichkeit zeugt nicht nur von der kulturbildenden Kraft des Transfers, der Verarbeitung traditioneller Quellen durch säkulare Akteure, sondern verweist auch auf den hohen Stellenwert, den diese Kulturarbeit in ihren Augen hatte: Das Land Jiddisch war die zentrale Schöpfung der jiddischen Moderne; ein Projekt, das auf Vervollkommnung angelegt war. In der New Yorker Tageszeitung [ דער טָאגDer Tag] berichtete der Publizist Shmuel Niger seinen jiddisch-amerikanischen Lesern von den Ereignissen in Europa und erläuterte, dass die jiddische Literatur das einzige PEN-Mitglied sei, dem aufgrund seiner exterritorialen Lage das Privileg eingeräumt wurde, nicht nur eine, sondern mehrere Vertretungen einzurichten. Dies wertete er als großen Sieg.⁴³ Gemäß den Vorgaben des PEN wurden zunächst drei jiddische Zentren in Wilna (1927), Warschau (1927) und New York (1928) eröffnet, mit den Vorsitzenden Moyshe Kulbak, Zusman Segalovitsh und Dovid Pinski. Das Warschauer Büro befand sich in einem der Räume des Schriftsteller- und Journalistenverbands in der Tłomackie Straße 13. Unter seinen Mitgliedern waren auch hebräisch- und polnischsprachige Autoren. Der jiddische PEN-Club jedoch nahm nur jiddischschreibende Autoren auf. Nakhmen Meisel berichtet in seinen Memoiren, dass ihr Büroraum, das ‚Territorium‘ der ausschließlich jiddischsprachigen Institution, bald ‚Jiddischland‘ genannt wurde.⁴⁴ Das Neuwort gehörte zunächst nur zum lokalen Literatenjargon. In der Presse sprach man weiterhin vom Land Jiddisch.⁴⁵ Die jiddische ‚Wortrepublik‘ war national und transnational zugleich. Diesen Existenzmodus nannte man alveltlekh bzw. allendish. ⁴⁶ So charakterisierte beispielsweise in einer Begrüßungsrede für Shmuel Niger 1931 in Kaunas der da Niger, 1928. Meisel, 1951, S. 278. Vgl. auch Rozhanski, 1947, S. 245. Beispielsweise in den Literarishe bleter (Warschau) 05.07.1929, S. 515; 25.08.1933, S. 550; 19.07. 1935, S. 464 oder etwa im Folks blat (Kaunas) 06.10.1930, S. 4; 31.03.1931, S. 2. Eine Ausnahme ist Arn Marks Interview mit Zalmen Reyzn über das „jüdische Kuturleben in Amerika“, in dem Reyzn “[ „וועגן דעם גרויסן יידיש־לַאנדvom großen Jiddischland] erzählt, womit der jiddische Kulturraum in Nordamerika gemeint ist (Mark, 1930). Nakhmen Meisel, eine herausragende Gestalt unter den überparteilichen Aktivisten, setzte sich seit 1934 für eine transnationale jiddische Organisation ein, die angesichts der zunehmenden antijüdischen Verfolgung die jiddisch-kulturellen Aktivitäten koordinieren sollte. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff ‚Jiddischland‘, für den es in der jiddischen Presse der 20er Jahre keine textlichen Belege gibt, im Druck häufig und meist in Anführungszeichen auf: darunter in Yidish (Chicago), Januar 1935; Literarishe bleter (Warschau), 23.08.1935, S. 543. Frühere Belege finden sich in literarischen Texten, etwa Leyeles, 1933, S. 55. Min., 1931. Auf dem internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, Paris 1935, stellte sich Shmuel-Leyb Shnayderman als „Bürger des Landes Jiddisch“ vor und erklärte: “.[ „דער בּירגער פוּנם לַאנד יידיש איז דער בּירגער פוּן דער וועלטDer Bürger des Landes Jiddisch ist der Bürger der Welt] (Shnayderman, 1935).
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„דָאס לַאנד ,ווָאס איז malige Gymnasiallehrer Yudl Mark das Land Jiddisch als [das Land, dasאוּמעטוּמיק אוּן אינטערטעריטָאריַאל אוּן פַאראייניקט דָאס גַאנצע יידישע פָאלק“ allgegenwärtig und interterritorial ist und das ganze jüdische Volk vereinigt].⁴⁷ Dieses „interterritoriale“ Literaturland, nun als das ‚Land Jiddisch‘ international anerkannt, wurde in der Presse wie ein Staat behandelt: Es hatte eine Hauptstadt, wenngleich je nach Perspektive eine andere,⁴⁸ einen Präsidenten,⁴⁹ Minister⁵⁰ und Botschafter. So bezeichnete man 1933 den Schriftsteller Daniel „דער בערלינער Charney, Nigers jüngeren Bruder, der einige Jahre in Berlin lebte, als ַ [den Berliner Botschafter von ‚Jiddisch‘].⁵¹ Der gleichnaאמבַאסַאדָאר ֿפון ‚ייִדיש‘“mige Artikel zu Charneys 25-jährigem literarischen Jubiläum schildert die junge Geschichte von Jiddischland und vermittelt das Selbstverständnis seiner Bürger: די פּען־ָארגַאניזַאציע הָאט געמַאכט די ָאפיציעלע התחלה .זי הָאט ַאריינגענומען יידיש ,דָאס לשון פון מיליָאנען יידן ,צעשפּרייטע אויף גָאר די וועלט ,אין דער אינטערנַאציָאנַאלער ליטערַארישער משפּחה, דערהויבּן די יידישע ליטערַאטור צו ַא גלייכבַארעכטיקטער מדרגה ,איר געגעבן ַא תיקון. די וועלט ווייסט :פּונקט ווי ס’איז פַארַאן ַא יידיש פָאלק ָאן ַא בַאשטימטער מלוכה־פָארםָ ,אן ַאן אייגענער זעלבשטענדיקער טעריטָאריע – פּונקט ַאזוי איז דָא ,און ס’לעבּט ַא שפּרַאך מיט ַא ליטערַאטור ,ווָאס הייסט יידיש .און ָאט די דָאזיקע שפּראך ,הָאט נישט קיין בַאשטימטן און ָאפּגעצוימטן וועלט־טייל ,נָאר איז ַא קנין פון מיליָאנען מענטשן אומעטום ,אין ַאלע וועלט־עקן און ווינקלעך ,ווו יידן שפַּארן ָאן. די פּען־ָארגַאניזַאציע הָאט געמַאכט ַאן אויסנַאם .געגעבּן דעם לשון יידיש ַאלע רעכט .געשַאפן ַא לַאנד – יידיש… ָאבּער דָאס ’לַאנד‘ יידיש ,הָאט נָאך פַאר דער ָאפיציעלער ָאנערקענונג פון דער אויסערלעכער וועלט, געהַאט אייגענע ’דיפּלָאמַאטישע‘ פַארטרעטער ,געזַאנדשַאפטן ,בָּאטשַאפטער און גענערַאל־קָאנסולן, ווָאס הָאבן פרייוויליק גענומען אויף זיך די יידישע מלוכה־דינסט ,געשטַאנען אויף דער ווַאך ,אומעטום ,ווו זיי הָאבּן נָאר ָאנגעשפַּארט ]…[ און בּלב ובּנפש טריי געדינט דעם ’לַאנד‘ יידיש. ]…[ דניאל טשַארני ,דער בּערלינער פַארטרעטער פון ’לַאנד‘ יידיש ,הָאט כשר פַארדינט דעם גרעסטן דיפּלָאמַאטישן טיטלַ ,אמבַּאסַאדָאר .שוין 25יָאר ,ווי ער שטייט אין דינסט פון דער יידישער ליטערַאטור, געהָאלפן בּיי דער שווערסטער ַארבעט ,און ַאליין מיטגעבּויט ,מיטגעשַאפן די מָאדערנע יידישע ליטערַאטור. Die PEN-Organisation machte den offiziellen Anfang. Sie nahm Jiddisch, die Sprache von Millionen über die ganze Welt zerstreuter Juden, in die internationale literarische Familie auf, erhob die jiddische Literatur auf eine gleichberechtigte Stufe, zu neuen Ehren.
Min., 1931. Etwa Botoșanski, 1935; Shulman, 1935. In Chicago wurde Dr. Khayim Zhitlowsky als „der Präsident von Jiddischland“ bezeichnet (Yidish 1, Januar 1935). ]„ [der Minister im Land Jiddischדער מיניסטער אין לאנד יידיש“ In Kaunas wurde Shmuel Niger als bezeichnet (Min., 1931). Lewi, 1933. Ravitch bezeichnete noch 1951 den Schriftsteller Joseph Leftwich als „ [PEN-Botschafter von Jiddischland in London] (Ravitch,פ.ע.ן־ַאמבַאסַאדָאר פון ייִדיש־לַאנד אין לָאנדָאן“ 1982, S. 57).
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Die Welt weiß: Wie es ein jüdisches Volk gibt, das keine erwiesene Staatsform, kein eigenes selbständiges Territorium hat, genauso gibt es eine lebendige Sprache und eine Literatur, die Jiddisch heißt. Und diese Sprache hat keinen bestimmten abgegrenzten Weltteil, sondern ist der Besitz von Millionen überall, in allen entlegenen Weltwinkeln, wohin Juden gelangen. Die PEN-Organisation machte eine Ausnahme. Gab der jiddischen Sprache alle Rechte. Brachte ein Land hervor – Jiddisch. Aber das ‚Land‘ Jiddisch hatte noch vor der offiziellen Anerkennung durch die äußere Welt eigene ‚diplomatische‘ Vertreter, Gesandtschaften, Botschafter und Generalkonsuln gehabt, die den jiddischen Staatsdienst freiwillig auf sich nahmen, wohin auch immer sie kamen, Wache standen […] und treuen Herzens dem ‚Land‘ Jiddisch dienten. Daniel Charney, der Berliner ‚Vertreter‘ des ‚Landes‘ Jiddisch, verdient den höchsten diplomatischen Titel, Botschafter. Seit 25 Jahren steht er im Dienst der jiddischen Literatur, er half bei der schwersten Arbeit, die moderne jiddische Literatur hervorzubringen und aufzubauen.⁵²
Freiwillige Mitwirkung war der zentrale Faktor im Projekt der jiddischen Republik,⁵³ die von ihren Akteuren Multifunktionalität verlangte, denn – wie die Wortwahl im Artikel suggeriert – wurde die Republik von den Literaten errichtet, erhalten, vertreten und beschützt. Das nicht-territoriale Land Jiddisch, dessen Bürger sich ihm freiwillig anschlossen, funktionierte als ein transnationaler Kulturraum mit Bildungseinrichtungen, Verlagen, Theatern und Künstlervereinigungen, die auf höchst dynamische Weise vernetzt waren. Schauspieler, Literaten und Wissenschaftler waren vielfach Reisende, die in den verschiedenen Zentren auftraten. Bedeutendes Agens war die jiddische Presse, die lokal und zugleich oft global gelesen wurde und eine wichtige Verdienstquelle für jiddische Autoren bildete. Den New Yorker Tog las man auch in Warschau, und in New York den Wilner tog und die Tshernovitser bleter. In Kolumnen mit literarischen Nachrichten wurde nicht nur lokal berichtet, sondern vor allem über die jiddisch-literarischen Ereignisse in den jeweils anderen großen und kleinen Zentren. Auf diese Weise informiert, nahmen
Lewi, 1933. Vgl. auch Kitai, 1938, S. 159; Shalit, 1939, S. 127, S. 140, S. 145. Dies entsprach auch der Selbstwahrnehmung der Akteure. So wird beispielsweise der Journalist und Übersetzer Moyshe Mikhl Kitai anlässlich seines Besuchs in Kaunas beschrieben: ווָאס ווייס, אינם לַאנד יידיש. ַאקטיווער פריינד פוּן דער מָאדערנער יידיש־וועלטלעכער קוּלטוּר,„קיטאי איז ַא הייסער פילט ער זיך ַא תּושב אוּן דערפַאר איז ַאזוי לייכט בּיי אים צוּ נעמען אין ַא מיטן מיטווָאך דעם רענצל,ניט פוּן קיין גרענעצן “.[ אין הַאנט אוּן זיך ַאוועקלָאזן אויף ַא נסיעהKitai ist ein leidenschaftlicher, aktiver Freund der modernen jiddisch-säkularen Kultur. Er fühlt sich als Bürger im Land ‚Jiddisch‘, das keine Grenzen kennt, und darum fällt es ihm leicht, mitten in der Woche seinen Rucksack zu nehmen und sich auf die Reise zu begeben] (Mink, 1931).
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die Leser Anteil an den Freuden und Enttäuschungen der entfernten, jedoch verbundenen Gemeinschaften.⁵⁴ Die von Nakhmen Meisel herausgegebene Wochenschrift Literarishe bleter bildete die wichtigste Plattform für die diasporische jiddische Intelligenz von Buenos Aires über Berlin bis Johannesburg und war die einzige, die von 1924 bis 1939 in Europa kontinuierlich erschien und weltweit abonniert wurde. Diese Zeitschrift verkörperte die transnationale jiddische Wortrepublik schlechthin.⁵⁵ Selbstvergewissernd waren Nachrichten über Auftritte jiddischer Vertreter auf internationalen Anlässen, etwa die Beteiligung der jiddischen Presse an der internationalen Presse-Ausstellung in Köln im Sommer 1928.⁵⁶ Man zählte 17 Länder, in denen 297 jiddische Periodika erschienen, darunter 44 Tageszeitungen. In der Sowjetunion gab es bei knapp drei Millionen Juden 24 Zeitschriften, in Polen bei knapp drei Millionen 145 Zeitschriften, darunter 19 Tageszeitungen, und in den USA bei vier Millionen 58 Zeitschriften, darunter elf Tageszeitungen.⁵⁷ Die neue Teilhabe an Aktivitäten und Diskussionen des internationalen PEN ließ die Spannung zwischen Nationalismus und Internationalismus, zwischen dem ideellen Land und der konkreten Kulturgemeinschaft deutlich hervortreten. Shmuel Niger widmete der Frage, was National- und was Weltliteratur sei und welche Aufgaben sich für die jiddische Literatur daraus ableiteten, eine Reihe von Artikeln, die er zuerst im New Yorker Der tog, und in erweiterter Form in den Warschauer Literarishe bleter veröffentlichte.⁵⁸ Im ersten Artikel stellte Shmuel
Für Daniel Charney markierte alles Gedruckte die ‚Grenzen‘ des Landes: ,„מיר ]מָארעװסקי װו די זון גײט קײנמָאל,‘ שַאליט און טשַארני[ זענען געװען װעלט־בירגער פון דעם ַאזױ גערופענעם ’ייִדישלַאנד,שַאגַאל װָאס פלעגן, זשורנַאלן און ביכער, אונדזערע ’גרעניץ־סלופּעס‘ זענען געװען די הונדערטער צײטונגען.נישט אונטער פון קובא און, פון ַאפריקע און אױסטרַאליע,אונדז טָאג אײן – טָאג אױס ברענגען גרוסן פון אמעריקע און ַארגענטינע “… װי אױך ַאפילו – פון דער װײטער־װײטער און ביז גָאר נָאענטער ליטע, פון ארץ־ישראל און בירָאבידזשַאן,מעקסיקָא [Wir [Morewsky, Chagall, Shalit und Charney] waren Weltbürger vom sogenannten ‚Jiddischland‘, in dem die Sonne nie untergeht. Unsere ‚Grenzpfähle‘ waren die hunderten Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die uns Tag für Tag Grüße überbrachten, aus [Nord]amerika und Argentinien, aus Afrika und Australien, aus Kuba und Mexiko, aus dem Land Israel und Birobidzhan, wie sogar auch aus dem ganz weiten bis sehr nahen Litauen…] (Charney, 1951, S. 241). Der Schriftsteller Leyb Malekh nennt die Literarischen Blätter ein weltweites “„סיגנַאל־ווייזער [Signal] und fügt hinzu אין די פַארווָארפנסטע, בלעטער‘ אין די ווייטעסטע לענדער.„די לייענער פוּן די ’ליט “.‘ זענען די ַאמבַּאסַאדָארן פוּן ’לַאנד יידיש,[ ווינקלעךDie Leser der Literarishen bleter in den entlegensten Ländern, und den abgelegensten Winkeln sind die Botschafter vom ‚Land Jiddisch‘.] (Malekh, 1935). Nicht alle teilten diese Sicht (vgl. Riger, 1935). Mit Ausstellern aus 43 Ländern wurde die „Pressa“ im Mai 1928 eröffnet und dauerte fünf Monate lang. Anonym, 1928. Der tog, 17., 24. und 31. Dezember 1928; Literarishe bleter, 18. und 25. Januar, 8., 15. und 22. Februar 1929.
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Niger fest, dass in der neuen Situation die jiddische Literatur „das Organ unserer ganzen nationalen Kultur“ sei und man sich nun der „Frage des Universalismus“ stellen solle: ַא נַאציָאנַאלע ליטערַאטור.ַא נַאציָאנַאלע ליטערַאטור קָאן נישט און וויל נישט זַײן קיין געטָא־ליטערַאטור . דריקט אויס איר וועלט־ָאנשויונג, אויף וועלכער ַא נַאציע שפילט אויס איר וועלט־ניגון,דָאס איז די כלי אזוי ווי נַאציע,נַאציָאנַאלע ליטערַאטור און וועלט־ליטערַאטור זענען נישט קיין צוויי גָאר בַאזונדערע זַאכען נַאציָאנַאלע ליטערַאטור דָאס איז ַא געוויסע מדרגה און ַא.און וועלט זענען נישט קיין צוויי בַאזונדערע זַאכן מוז אין איינעם מיט דער נַאציָאנַאלער רָאלע פון דער יידישער.געוויסע פָארם פון וועלט־ליטערַאטור אויב זי איז שוין באמת ַא נַאציָאנַאלע.ווָארט־שַאפונג קלָאר ווערן איר ַאלגעמיין מענטשלעכער ווערט . מוז זי שוין זיין אויך ַא טייל פון דער וועלט־ליטערַאטור,ליטערַאטור Eine Nationalliteratur kann nicht und will nicht Gettoliteratur sein. Die Nationalliteratur ist das Instrument, auf dem die Nation ihre Weltmelodie spielt, ihre Weltanschauung zum Ausdruck bringt. National- und Weltliteratur sind nicht zwei getrennte Sachen, ebenso wie Nation und Welt nicht zwei getrennte Sachen sind. Die Nationalliteratur ist eine bestimmte Stufe, eine bestimmte Form der Weltliteratur. So muss mit der nationalen Rolle des jiddisch-literarischen Schaffens ihr allgemein-menschlicher Wert deutlich werden. Ist sie tatsächlich schon eine Nationalliteratur, so muss sie auch bereits Teil der Weltliteratur sein.⁵⁹
Mit diesen Überlegungen führte Niger die oben erwähnten Ideen von Peretz und Zhitlowsky fort. Laut Niger schöpften Autoren nationalliterarischer Werke aus dem eigenen Volksleben und der Volkstradition, aus der Kultur, in der sie verwurzelt seien. Ihre Werke würden dadurch weder unübersetzbar noch für andere Kulturen unverständlich, denn ihre tiefen Wurzeln gelangten zur Wurzel der ganzen Menschheit, zum universellen Fundament,⁶⁰ “„צו די אוּרקווַאלן פוּן אוּנזער קיוּם [zu den Ursprüngen unserer Existenz]⁶¹. Solche Werke „רעדן צוּ דער מענטשהייט דוּרך “[ זייער פָאלקsprechen zu der Menschheit durch ihr Volk].⁶² Niger scheint von einem archetypischen Bestand an kollektiven Formen und Motiven auszugehen, die in solchen Werken auf kulturspezifische Weise gestaltet werden. Daher seien weltliterarische Werke „verständlich und wertvoll“ für Menschen unterschiedlicher Völker und Kulturen. אויף איר העכסטער,]…[ אין דער טיֿפעניש ֿפון זַײן נשמה איז יעדעס ֿפָאלק דער שורש ֿפון דער מענטשהייט […] מדרגה איז יעדע נַאציע ַא זַײל ֿפון דער וועלט
Niger, 1928, Hervorhebungen im Original. Niger, 1929b, S. 65; Niger, 1929d, S. 5. Niger, 1929d, S. 5. Niger, 1929b, S. 65.
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[…] in der Tiefe seiner Seele ist jedes Volk die Wurzel der Menschheit, auf ihrer höchsten Stufe ist jede Nation eine Säule der Welt […]⁶³
Ähnlich wie Goethe sah Niger in der Weltliteratur vor allem eine kulturübergreifende Rezeption und Kommunikation, motiviert durch Neugierde, Interesse oder Bewunderung.⁶⁴ Neugierde und Interesse hielt er für zeitbedingte Phänomene, getragen teilweise von außerliterarischen Beweggründen. Hingegen begründe die Bewunderung für die literarische Gestalt von Werken jenseits der Grenzen einer Sprache, einer Nation, einer Kultur ihren zeitlosen „Ruhm“ als Weltliteratur.⁶⁵ Für die entstehende jiddische Literatur, die nun Teil der internationalen literarischen Gemeinschaft geworden war, wünschte sich Niger, dass sie nicht nur Neugierde und Interesse erwecke, sondern dass sie mächtige Wurzeln schlage, die „das Fundament der Welt“ erreichen und aus diesen Quellen Werke hervorbringe, denen Bewunderung gezollt würde.⁶⁶ Die Ästhetik jiddischer Werke sollte aus dem Wechselspiel zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen zustande kommen. – Eine frühe Art ‚glocal‘ zu denken. , ווי מיט די,די וועלט וועט זיך גיכער ֿפַאראינטערעסירן מיט אונדזערע נַאציָאנַאל־סֿביֿבהדיקע שרַײבער אין ייִדישן לעבנס־בָאדן, די אין ייִדישע ֿפַארבן אַײנגעטונקטע.ווָאס זענען ָאנסֿביֿבהדיק און ַאנַאציָאנַאל ווי די,אַײנגעווָארצלטע שרַײבער קָאנען גיכער הָאבן אין זיך ֿפַארבָארגן ַאלגעמיין מענטשלעכע ווערטן .ָאנקָאלירנדיקע אויסגעווָארצלטע ייִדישע ליטערַאטן Die Welt wird sich eher für unsere national-lokalen Autoren interessieren, als für jene ohne lokale und nationale Anbindung. Die in jüdische Farben getauchten und in jüdischem Lebensgrund verwurzelten Autoren vermochten eher die allgemein menschlichen Werte zu bergen als die farblosen entwurzelten jüdischen Literaten.⁶⁷
Nigers Reflexionen über die Beziehung der jiddischen Literatur und der Weltliteratur hatten auch einen konkreten Anlass: Das in Genf sitzende International Institute for Intellectual Cooperation schlug dem jiddischen PEN-Club vor, eine Liste der zwanzig besten Werke vorzulegen, die für den internationalen Büchermarkt übersetzt werden sollten. In Warschau, Wilna und New York wurden Kommissionen gebildet, um Vorschläge für die Liste zusammenzutragen. Nakhmen Meisel schaltete sich in die Diskussion mit der Frage ein: מיט וועלכע ווערק
Niger, 1929e, S. 148. Niger, 1929e, S. 147. Darin ähnelt Nigers Auffassung einem wesentlichen Grundzug von Goethes Idee der Weltliteratur, vgl. Lamping, 2010, S. 23, S. 62 f. Niger 1929e, S. 148. Auf Nigers Thesen zur Weltliteratur kann im Rahmen dieses Artikels nur ansatzweise eingegangen werden. Ebd. Niger, 1929d, S. 6 f.
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?[ דַארפן מיר קוּמען צו דער וועלט־ליטערַאטוּרMit welchen Werken müssen wir zur Weltliteratur kommen?].⁶⁸ Wie Niger spricht sich auch Meisel gegen quasi-universelle und für authentisch-jiddische Werke aus: אוּן.מיר ווערן איצט גלייכבַּארעכטיקטע בּירגער אין דער אינטערנַאציָאנַאלער וועלט פוּן ליטערַאטור […] .לָאמיר וויסן ווי ָאפּצושַאצן ָאט די נייע ווענדוּנג אין דער וועלט־ליטערַאטוּר־סביבה , גלאטיקע, נישט די איינפַאכע. ’אוּניווערסַאלע‘ שַאפוּנגען, פּשוטע,לָאמיר זיך נישט יָאגן מיט גלַאטע […] . וועלן אינטערעסירן דָארט, ָאן ַאן אייגענעם פּרצוף־פּנים,ליטערַאריש־ָאפּגעטַאקטע ווערק אוּנזערע אייגנַארטיקן, וועלכע הָאבּן ַאן אייגענעם,צו דער וועלט דַארפן מיר קוּמען נָאר מיט ַאזעלכע יידישע ווערק . פָארם אוּן אינהַאלט, סטיל,כַארַאקטער Wir werden jetzt gleichberechtigte Bürger der internationalen Literaturwelt. Und lasst uns wissen, wie diese neue Wende im weltliterarischen Umfeld einzuschätzen ist. […] Lasst uns nicht voreilig sein mit glatten, einfachen, ‚universellen‘ Werken. Nicht unsere einfachen, literarisch abgeschliffenen Werke, die kein eigenes Gesicht haben, werden dort interessieren. […] Zur Welt müssen wir mit jiddischen Werken kommen, die einen eigenen, einzigartigen Charakter, Stil, Form und Inhalt haben.⁶⁹
Meisel forderte ästhetische wie inhaltliche Verschiedenheit der jiddischen Literatur als Voraussetzung für die Verbundenheit mit anderen Literaturen innerhalb der Weltliteratur. Dieser Anspruch hing mit der unter jiddischen Autoren verbreiteten Auffassung zusammen, dass im Unterschied zu Werken assimilierter, anderssprachiger jüdischer Autoren und neben der hebräischen Literatur die jiddische die Nationalliteratur der Juden sei.⁷⁰
III Jiddischland Mitte der 1930er Jahre war das Neuwort ‚Jiddischland‘ zum geflügelten Wort geworden. Im September 1937 wurde auf dem „Ersten transnationalen jiddischen Kulturkongress“ in Paris die Bedrohung der jungen Wortrepublik durch die Judenverfolgung in Europa thematisiert und nach Auswegen gesucht. Einer der renommierten Kongressdelegierten, der 1886 in Polen geborene und seit 1907 in New York lebende Romancier Yoysef Opatoshu, skizzierte Jiddischland und seine Werte in seiner Begrüßungsrede mit großer Zuversicht:
Meisel, 1929, S. 125. Ebd., S. 125, S. 127. Auf den innerjüdischen ‚Sprachenstreit‘ (Hebräisch-Jiddisch) kann im Rahmen dieses Artikels nicht eingegangen werden. Vgl. Gal-Ed, 2016, S. 328 – 330; Döblin, 1987, S. 84.
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ס’איז געווָארן, ס’איז געווָארן ַאן אידעישער,„אשכנז“ הָאט אויפגעהערט צו זיין ַא געָאגרַאפישער בַאגריף .“„יידישלַאנד ווי צו הָאבן, „ייִדיש־לַאנד“ איז א העכערע מדרגה.]…[ אין ייִדיש־לַאנד גייט קיינמָאל די זון נישט אונטער ער הערט זיך שוין ָאבער אין דער ֿפָאלקס־, עס איז נָאך ַא נייער בַאגריף. פַּאספָּארטן, גרענצן,ַארמייען .סימֿפָאניע ‚Aschkenas‘ hat aufgehört ein geographischer Begriff zu sein, es wurde ein ideeller, es wurde ‚Jiddischland‘. […] In Jiddischland geht die Sonne nie unter. ‚ Jiddischland ‘ steht auf einer höheren Stufe als der Besitz von Armeen, Grenzen und Reisepässen. Der Begriff ist noch neu, aber er ist schon in der Symphonie der Völker hörbar.⁷¹
In Opatoshus Darstellung von Jiddischland finden sich unverkennbare Züge der Vision und der Rhetorik von Peretz, Markish und Ravitch. Auffällig ist Opatoshus Emphase der als räumlich und zeitlich weltumspannend dargestellten Gegenwart der Minoritätssprache. Ziel dieser Akzentsetzung ist es, die Schriftsteller und Leser der kleinen und geographisch fragmentierten Literatur zu stärken und die Bürger des nun existenziell gefährdeten Jiddischland zu ermutigen. 1941, nur vier Jahre später, veröffentlichte der in Ostgalizien geborene und seit 1898 in New York lebende Dichter Moyshe Nadir einen offenen Brief an den im Londoner Exil lebenden Dichter Itzik Manger, in dem er den Tod des Jiddischen und der modernen jiddischen Literatur voraussagte: איז שווערער נָאך ווי דָאס פיזישע, איציק מַאנגער, אונדזער ווערטערן לעבן,אונדזער פַּאפּירן יידיש לעבן .לעבן פון אונדזער פָאלק .און מיר שטַארבן אזוי שווער מיטן טויט פון יעדן יידישן לעזער גייען מיר א קַאפּעטשקע אויף אונדזער אייגענער לויה – אויף דער לויה פון . ווָאס מיר הָאבן דערהויבן פון א שפלער שפחה כמעט־כמעט צו ַא הויכער הַארנטע,דער שפּרַאך וועלכע, שווער איז דָאס ָאפּשטַארבן פון ַא יונגער ליטערַאטור,שווער איז דער טויט פון ַא יונגן מענטשן .הָאט נָאך גָארניט געלעבט . נָאר ַא סך ַא סך טרַאגישער,ניט ווי גריכיש און לַאטיין גייט אויס אונדזער שפּרַאך Unser papierenes jiddisches Leben, unser Wortleben, Itzik Manger, ist noch schwerer als das physische Leben unseres Volkes. Und wir sterben so schwer. Mit dem Tod eines jeden unserer Leser gehen wir Stück für Stück auf unsere eigene Beerdigung – auf die Beerdigung der Sprache, die wir von einer niedrigen Magd beinah zu einer hochrangigen Herrin erhoben haben. Schwer ist der Tod eines jungen Menschen, schwer ist das Sterben einer jungen Li-
Erster transnationaler jiddischer Kulturkongress 1937, S. 26, S. 30 und vgl. Gal-Ed, 2016, S. 53 – 55. Vgl. “[ „די מַאפּע פון יידיש־לַאנדDie Landkarte von Jiddischland] (Kahan, 1945, S. 17– 20); Charney, 1951, S. 241.
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teratur, die noch gar nicht gelebt hat. Nicht wie Griechisch und Latein stirbt unsere Sprache, sondern viel viel tragischer.⁷²
Die Sprache, die durch die Shoah, stalinistische Säuberungen und Akkulturation ihre Sprecher verloren hatte, verkörperte nach 1945 nicht länger ein Territorium und ein Zuhause, sondern die Vergangenheit. Jiddischland verblich zum Gedächtnisort.⁷³ Das in Warschau aufgekommene Neuwort Jiddischland bezeichnete und prägte zugleich eine Gegenwelt zur historisch-politischen Realität, und dennoch war es keine Utopie, sondern gelebte Kultur. Da die Akteure dieses Denk- und Lebensmodus ständig bemüht waren, die Praxis ihrer verheißungsvollen Kulturnation ohne Staat zu vervollkommnen, lässt es sich als ein utopisches Projekt auffassen. Als solches durchlief es vier Phasen:⁷⁴ Vision, Verwirklichung, Institutionalisierung und Zerstörung, die im Fall von Jiddischland von außen kam.
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Nadir, 1942. Im Gegensatz dazu plädiert Jeffrey Shandler für eine nicht geographisch bestimmte Definition: Jiddischland sei „a virtual locus construed in terms of the presence or usage of the Yiddish language“ (2006, S. 33). Diese These von einem Jiddischland als „postvernacular language and culture“ versucht die Relevanz des Begriffs auch dort aufrechtzuerhalten, wo Jiddisch als das Medium der jiddisch-säkularen Kultur aufgegeben wurde und nicht länger als Umgangssprache fungiert. Ich danke Wilhelm Voßkamp für diese Anregung.
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Europäische Utopien und die Post – Briefmarken als Botschafterinnen Europas? I Einleitung Der Kunsthistoriker Aby Warburg sprach hinsichtlich Briefmarken von der „Bildersprache des Weltverkehrs“¹. Die Motive auf Briefmarken wurden gezielt ausgewählt, um politische Botschaften und Ansprüche innerhalb und außerhalb von Grenzen zu versenden. Gerade für die Zeit, in der alle Staaten noch das Postmonopol besaßen², handelte es sich hierbei um „bildliche Objekte mit hoheitlichem Status“³. Sie können deshalb unter anderem auch als „Zeitdokument in einem hegemonialen Diskurs“⁴ betrachtet und analysiert werden. Dies gilt auch für die sogenannten „Europa-Marken“. Diese gaben zunächst die Postverwaltungen der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zwischen 1956 und 1959 als Gemeinschaftsausgaben heraus. Ab 1960 geschah dies im Rahmen der 1959 gegründeten Europäischen Konferenz der Verwaltungen für Post- und Fernmeldewesen (CEPT), der zu Beginn 19 westeuropäische Verwaltungen angehörten⁵. Von 1956 bis 1973 wählten die teilnehmenden Postverwaltungen einen gemeinsamen Entwurf für die Briefmarke aus. Danach entschieden sie, dass den „Europa-Marken“ „künftig […] nur noch einheitliche Themen zugrunde liegen“⁶ sollten, die dann national ausgestaltet wurden. Damit wurde die Herausgabe eines einheitlichen Briefmarkenmotivs in den Staaten der Mitgliedsverwaltungen der CEPT aufgegeben. Die Tradition der „Europa-Marken“ mit einem einheitlichen Thema wird aber bis heute weitergeführt. Die übergeordneten Themen reichen von Skulpturen und Kunstwerken bis zu Geschichte des Post- und Fernmeldewesens⁷ und Brücken im Jahr 2018. Daher endet der Untersuchungszeitraum mit der „Europa-Marke“ von 1973. Er fängt aber
Gabriel, 2019, S. 22. In Deutschland begann die Privatisierung der Deutschen Bundespost beispielweise Ende der 1980er Jahre und die Liberalisierung des Postmarktes wurde vom Europäischen Parlament 2008 beschlossen. Gabriel, 2019, S. 26. Smolarski/Smolarski/Vetter-Schultheiß, 2019, S. 14. Vgl. Rötzel, 1979, S. 58 – 60. Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 64. https://doi.org/10.1515/9783110756944-012
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nicht 1956 an, sondern bereits 1942, da in diesem Jahr der Europäische Post- und Fernmeldeverein, kurz Europäischer Postverein, gegründet wurde. Zu diesem Anlass gaben die Deutsche Reichspost sowie die niederländische und die norwegische Postverwaltung Briefmarken heraus. Hier ist zwar im Gegensatz zu den „Europa-Marken“ von 1956 bis 1973 kein einheitliches Motiv zu finden⁸, dennoch erscheint es sinnvoll, auch die Motive dieser Briefmarken in die Analyse einzubeziehen. Wenn auch nicht koordiniert, waren bereits zu diesem Zeitpunkt von verschiedenen europäischen Postverwaltungen anlässlich der Institutionalisierung europäischer Postzusammenarbeit Briefmarken entworfen worden. Andere nationale Briefmarken mit ‚europäischem‘ Motiv werden hier nicht beachtet. Dies liegt darin begründet, dass diese zum jetzigen Stand der Untersuchung weder einen Bezug zu einem europäischen Postverein aufweisen, noch gemeinsam von mehreren Mitgliedstaaten herausgegeben wurden. So war Italien beispielsweise das einzige Land, das 1967 eine Briefmarke anlässlich des 10. Jahrestages der Unterzeichnung der römischen Verträge herausgab⁹. An alle diese Briefmarken stellen sich nun dieselben Fragen: Welches Bild von Europa vermitteln sie? Welche Visionen oder Utopien verbergen sich hinter den Motiven? Sowohl im Jahr 1942 als auch in den 1950ern standen unterschiedliche Ideen der Organisation Europas zur Debatte – hinter welche stellten sich die Mitgliedspostverwaltungen? Die sogenannten „Europa-Marken“ haben in der Forschung bis jetzt nur vereinzelt Aufmerksamkeit erhalten. Werner Rötzel zeichnet in seinem Artikel aus dem Jahr 1979 im Archiv für deutsche Postgeschichte die Entwicklung der Motive nach¹⁰. Markus Göldner geht in Politische Symbole der Europäischen Integration ¹¹ von 1988 kurz auf die Geschichte um die Herausgabe der Marken ein und integriert dabei die Erkenntnisse aus Albert Hammerschmidts 1966 erschienenem Werk Die Europäische Einigung und ihr Echo in der Philatelie ¹². Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung ist die These, dass die Postverwaltungen sich bei der Auswahl der Motive für die Briefmarken mit Ausnahme der Jahre 1956 bis 1961 darauf beschränkten, eine von der Politik unbeeinflusste Version der europäischen Zusammenarbeit im Post- und Telekommunikationswesen darzustellen. Ein politisches Projekt unterstützten sie nicht. Diese als apolitisch dargestellte Version bestand aus einer Betonung der friedlichen und stabilen Zusammenarbeit sowie deren völkerverbindenden Wirkung und bildete Siehe Fußnoten 17– 19. Vgl. MICHEL Europakatalog 1983, 1982, S. 768. Vgl. Rötzel, 1979. Vgl. Göldner, 1988. Vgl. Hammerschmidt, 1966.
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das Kernstück des öffentlichen Diskurses der Verwaltungen, das sich durchaus als Widerspruch zum Diskurs der Unabwendbarkeit europäischer Integration interpretieren lässt. Daher wird im Folgenden zunächst auf das Selbstverständnis der europäischen Postverwaltungen in Bezug auf politische Europaprojekte eingegangen. Im Anschluss werden die Motive der Briefmarken von 1942, von 1956 bis 1959 und von 1960 bis 1973 auf die Repräsentation Europas hin analysiert und verglichen. Für die Zeit nach 1956 wird auch untersucht, wie sich die Auflage der Ausgaben in ausgewählten Ländern veränderte.
II Europas Postverwaltungen: Technokratie und politische Unabhängigkeit Johan Schot und Vincent Lagendijk führten im Jahr 2008 den Begriff des „technokratischen Internationalismus“¹³ ein, um die Einstellung und das Selbstverständnis von technischen Experten in der Zwischenkriegszeit zu beschreiben. Demnach verhindern politische Interessen den rationalen Aufbau von Netzwerken und sollten somit in der internationalen Zusammenarbeit keine Rolle spielen. Dieser materielle Aufbau von Netzwerken verbinde Menschen und verhindere dadurch Kriege.¹⁴ Das Bild des „technokratischen Internationalismus“ lässt sich in weiten Teilen auch auf Postverwaltungen übertragen. Seit 1874 gab es den Weltpostverein, der in iterativen Verhandlungszyklen das eigene Vertragswerk überarbeitete und ausbaute, um internationale Postbeziehungen zu standardisieren und dadurch zu vereinfachen¹⁵. Sowohl der Weltpostverein als auch die CEPT legten Wert darauf, nicht in ein politisches Projekt integriert zu werden. So wehrte sich der Weltpostverein zunächst Teil des Völkerbundes und später der Vereinten Nationen zu werden¹⁶. Auch im Gründungsabkommen der CEPT heißt es in Artikel 2 „Beziehung zu den internationalen Organisationen“: „1. Die Konferenz ist unabhängig von jeder politischen oder wirtschaftlichen Organisation. 2. Sie übt ihre Tätigkeit im Geist der Bestimmungen des Weltpostvertrags und des Internatio-
Schot/Lagendijk, 2008, S. 197, (meine Übersetzung, S.P.). Vgl. Schot/Lagendijk, 2008. Vgl. Sasse, 1959, S. 7; S. 19 – 21. Vgl. Laborie, 2011, S. 301.
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nalen Fernmeldevertrags aus.“¹⁷ In der derzeit gültigen Version des Abkommens unterscheidet sich der erste Teil des zweiten Artikels insofern, als dass eine Kooperation zum Beispiel mit der Europäischen Union offiziell aufgenommen wurde, wenngleich die Unabhängigkeit weiterhin betont wird¹⁸. Daran lässt sich ein grundsätzliches Festhalten am Selbstverständnis der Postverwaltungen erkennen. Die auf der Grundeinstellung der Unabhängigkeit von Politik aufgebaute Haltung der Repräsentanten der Postverwaltungen bildete die Rahmenbedingungen für deren Handeln, auch hinsichtlich der Ausgabe von Briefmarken.
III Die Briefmarken zum Europäischen Postkongress: Ein Posteuropa ohne Grenzen Im Oktober 1942 trafen sich Vertreter von 17 europäischen Post- und Fernmeldeverwaltungen in Wien. Eingeladen waren sie zum Großteil vom deutschen Reichspostminister, für die von Italien besetzten Gebiete war die Einladung über das italienische Außenministerium erfolgt. Nach nur drei Sitzungen lag ein Abkommen vor, das zur Gründung des Europäischen Post- und Fernmeldevereins mit schlussendlich 13 Mitgliedsverwaltungen führte. Die Vorschriften dieses Vereins mit dem Ziel der „Förderung der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Post- und Fernmeldewesens“¹⁹ traten am 1. April 1943 in Kraft. Anlässlich der Gründung des Postvereins brachten drei Mitgliedsverwaltungen Briefmarken heraus: die Deutsche Reichspost sowie die norwegische und die niederländische Postverwaltung. Sie hatten sich dabei weder im Datum noch im Motiv abgestimmt²⁰. Im Fokus dieser Analyse sollen die Briefmarken der Deutschen Reichspost stehen, auf die anderen zwei wird nun zuerst kurz eingegangen. Die norwegische Briefmarke zeigt den Kopf von Vidkun Quisling neben einem Löwen mit Doppelpfote. Letzteres findet sich auch auf der ersten Briefmarke, die im norwegischen Staat herausgegeben wurde, was dementsprechend für Aufruhr unter den Philatelisten sorgte²¹. Ein Zusammenhang zum Europäischen Postver Amtsblatt des Bundesministers für Post- und Fernmeldewesen, Jahrgang 1960, Nummer 5, 11.01.1960, Verfügung Nummer 6, S. 22. Vgl. Arrangement establishing the European Conference of Postal and Telecommunications Administrations (CEPT), April 2009, S. 1. Europäischer Postkongress, 2013, S. 98. Vgl. Michel-Briefmarken-Katalog. Europa 1965, 1966, S. 723; S. 752. Vgl. Riksarkivet (Oslo), Postens sentralledelse, Postmuseet (PM), Fa – Norgeskatalogen, Fa– 0008, 309 – 310, Europeisk Postforening frimerker, Avisartikler, 12.10.1942.
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ein ist nicht zu erkennen. Hier stehen eindeutig nationale Beweggründe im Vordergrund und der „europäische“ Aspekt des Vereins rückt in den Hintergrund. Die niederländische Briefmarke zeigt den Schriftzug „Europäischer Post- und Fernmeldekongress“ (auf Niederländisch) mit einem Posthorn im Hintergrund²². Im Gegensatz zu der norwegischen Briefmarke ist hier der Bezug zum Europäischen Postverein eindeutig erkennbar, jedoch fehlt eine interpretierbare Vision von Europa. Mit dem Posthorn im Hintergrund fokussiert das Motiv auf die Post, was durchaus die Grundzüge des „technokratischen Internationalismus“ widerspiegelt. Die Deutsche Reichspost gab zwei Briefmarken heraus. Auf beiden ist eine Europakarte zu sehen, die den Kontinent vereint und ohne Grenzen zeigt. Die erste Briefmarke zeigt zusätzlich einen Postboten, der in das Posthorn bläst. Der Postbote ist so groß, wie die Europakarte hoch ist. Das Motiv der anderen Briefmarke besteht aus einem Postboten mit Posthorn auf einem steigenden Pferd. Unter dem Pferd ist ein Globus zu sehen, der so gedreht ist, dass Europa sichtbar ist²³. Beide Marken nehmen auch graphisch Bezug zu Europa und unterscheiden sich in diesem Aspekt zu den vorgenannten. Der vereinte, grenzenlose Kontinent kann als Projektion der Vision der grenzenlosen Kommunikation interpretiert werden, die die internationale Kooperation im Bereich des Post- und Fernmeldewesens prägte. Auffällig ist, dass keine nationalsozialistische Ideologie oder nationalsozialistischen Triumphe abgebildet werden. Einzig die Eicheln am Rand könnten als solche interpretiert werden. Von diesem Standpunkt aus erscheint die Briefmarke vergleichsweise unpolitisch und auf ein geeintes Posteuropa konzentriert. Die hervorgehobene Stellung des Postboten auf beiden Briefmarken könnte als Metapher für die deutsche Vormachtstellung in diesem Posteuropa stehen. Diese wurde unter anderem auch in der Eröffnungsrede des Alterspräsidenten Albrecht aus Finnland deutlich: Der Krieg fegt immerfort über die Welt, und Europa steht in Flammen. Damit ein neueres, glücklicheres, besseres Europa aus diesen Flammen aufsteigen könnte, sind Zusammengehörigkeitsgefühl, Einverständnis und Zusammenarbeit zwischen den Völkern Europas vonnöten. Um diesem Zusammengehörigkeitsgefühl, diesem Einverständnis und dieser Zusammenarbeit den Weg zu bahnen, hat Deutschland seinen Vorschlag zur Gründung des Europäischen Postvereins gemacht.²⁴
Vgl. Michel-Briefmarken-Katalog. Europa 1965, 1966, S. 723. Vgl. Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde), R4701/11631, Europäischer Post- und Fernmeldeverein, Briefmarken, 19.10.1942. Europäischer Postkongress, 2013, S. 22.
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Neben der Hervorhebung der deutschen Rolle wird hier auch noch einmal klar, welche Funktion ein Posteuropa erfüllen sollte: Menschen und Völker sollten zusammengebracht werden. Der Europäische Postverein sollte ein Friedensprojekt mitten im Krieg sein. Da das Projekt aber offiziell ein Projekt der Achsenmächte war und die zwei Partner im Allgemeinen als möglichst gleichberechtigt dargestellt wurden²⁵, ist es fraglich, ob die Briefmarke hier auf ein Ungleichgewicht nicht nur zwischen den Besetzern und den besetzten Staaten, sondern auch zwischen Deutschland und Italien hinweisen sollte²⁶. Für unterschiedliche Rollen der Achsenmächte sprechen auch die hervorgehobene Stellung Deutschlands als Initiator des Postvereins und der Verzicht der Italiener auf die Herausgabe einer Marke zu dessen Gründung²⁷. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Motive der vier Briefmarken, die 1942 im Rahmen der Gründung des Europäischen Postvereins herausgegeben wurden, keine versteckten europapolitischen Botschaften zu vermitteln scheinen. Es wird weder ein Bild eines politischen Europas der damaligen Zeit wiedergeben noch eine Vision hiervon gezeichnet. Für die norwegische und niederländische Briefmarke kann ein Bezug zu Europa generell infrage gestellt werden. Die deutschen Briefmarken beschränken sich eindeutig auf ein Posteuropa und zeigen insbesondere keine nationalsozialistischen Ideen von Europa²⁸. Die Frage ist nun, ob sich dies 1956 änderte.
IV „Europa-Marken“ der EGKS-Mitgliedstaaten: vorsichtig politisch Die Rufe nach einer europäischen Briefmarke kamen häufig aus dem Lager derer, die für ein vereintes Europa kämpften, wie zum Beispiel der Europa-Union. Letztere forderte allerdings eine Briefmarke, die in allen Ländern gültig gewesen wäre. Diese gemeinsame Briefmarke wurde nie Realität, aber in den Jahren 1956 bis 1973 einigten sich die beteiligten Postverwaltungen jeweils auf ein einheitli Vgl. Politisches Archiv (Berlin), R106301, Handakten Wiehl, Aufzeichnung betr. Europäischer Postverein, 24.09.1942, S. 2. Leider ist die Diskussion um das Motiv der Marke in den Archiven bis jetzt nicht aufzufinden gewesen und muss aufgrund der sonst aufgefundenen zerstörten Akten im Hinblick auf den Europäischen Postverein als voraussichtlich verloren angesehen werden. Vgl. MICHEL Europakatalog 1983, 1982, S. 739. Die nationalsozialistischen Ideen für eine „Neuordnung Europas“ waren alles andere als einheitlich. (Vgl. u. a. Grunert, 2012, S. 11).
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ches Motiv, das dann mit dem Aufdruck der nationalen Postverwaltungen und den jeweiligen nationalen Werten versehen wurde.²⁹ Von 1956 bis 1959 erschienen vier „Europa-Marken“ der Verwaltungen der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Im Jahre 1956 liefen sie noch unter dem Namen „Europäische Postwertzeichen“³⁰. Die Verwaltungen legten gemeinsame Themen fest, die anschließend in die nationalen Motive einflossen. So wählten sie zum Beispiel 1958 aus den Themen „Europa garantiert Arbeit und Frieden“, „Wohlstand durch gemeinsame Anstrengungen“, „Wiederbelebung der Wirtschaft durch den Geist der Kooperation“, „Vereinigtes Europa: Eintracht, Stärke und Wohlstand“ und „Vereinigtes Europa: Faktor des Friedens und Quelle des Wohlstandes“ letzteres aus³¹. Sämtliche Vorschläge trugen nun einen politischen Schriftzug und lassen sich sehr gut in den historischen Kontext der sich vertiefenden europäischen Integration im Bereich der Wirtschaft einordnen. Wie wurden diese Themen umgesetzt? 1956 zeigte das Motiv ein Gerüst, auf dem Europa zu lesen und in dessen Hintergrund ein „E“ auf einer Flagge zu sehen war. 1957 entschieden sich die Verwaltungen für einen Baum mit sechs Wurzeln. 1958 wurde ein „E“ mit einer Friedenstaube als Motiv ausgewählt. 1959 fiel die Wahl auf eine sechsgliedrige Kette³². Hier ist ein deutlich politischer Einfluss auf die „Europa-Marken“ zu erkennen. Die Briefmarken spiegelten ein Europa wider, das sich durch Zusammenarbeit wiederaufbaute und wuchs. Es wurde der Zusammenhalt betont und die Friedenstaube kann als Hinweis auf das europäische Friedensprojekt, als das gerade die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl startete, verstanden werden.
V „Europa-Marken“ der CEPT-Mitgliedsverwaltungen: Post und Telekommunikation Ab dem Jahr 1960 übernahm die Europäische Konferenz der Post- und Telekommunikationsverwaltungen die Aufgabe, das Motiv für die „Europa-Marken“ auszuwählen. Am Prozess selbst änderte das wenig: Die beteiligten Verwaltungen Vgl. Rötzel, 1979, S. 58. Amtsblatt des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen, Jahrgang 1956, Nummer 92, 04.09.1956, Verfügung Nr. 464, S. 699. Archives nationales, 19870773_35 (meine Übersetzung, S.P.). Vgl. Rötzel, 1979, S. 59 f.
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kamen zu einem Treffen zusammen. Ein Überthema, das das Motiv repräsentieren sollte, war im Vorfeld festgelegt. Jede Verwaltung reichte einen Vorschlag für das Motiv ein, bevor in mehreren Abstimmungen durch Aussortieren das gemeinsame Motiv bestimmt wurde³³. Die Verwaltungen bemühten sich darum, im Laufe der Jahre einen Vorschlag jeder nationalen Verwaltung auszuwählen³⁴. Insofern kann angenommen werden, dass nicht immer die Passgenauigkeit der Motive zum ausgewählten Thema im Fokus der Entscheidung lag. Die Motive von 1960 bis 1973 waren in chronologischer Reihenfolge die Folgenden³⁵: das Rad einer Postkutsche; 19 Tauben, die wiederum eine Taube bilden; ein Baum mit 19 Blättern; ein Ornament mit den Buchstaben „CEPT“; eine Blume mit 22 Blättern³⁶ und „CEPT“ in der Mitte; ein Zweig mit drei Blättern (für Post, Telekommunikation und Telegraphie); ein „Boot mit geblähten Segeln“³⁷; Zahnräder; ein Schlüssel; ein Bauwerk, das von den Buchstaben „EUROPA“ und „CEPT“ getragen wird; ein Flechtwerk; eine Kette; ‚blinkende‘ Lichter und ein Posthorn mit drei Pfeilen. Auch hier können politische Anspielungen erkannt werden. In einigen Motiven sind sie deutlich zu erkennen: bei der Taube oder dem Bauwerk, bei denen die Verwaltungen zum Frieden in Europa und zum Erhalt und Zusammenkommen Europas beitragen. Bei anderen, etwa dem Flechtwerk, den Pflanzen oder dem Posthorn ist zu bemerken, dass der Fokus deutlich auf der Zusammenarbeit der europäischen Verwaltungen liegt. Hier wird weniger ein Bild von Europa vermittelt, sondern eher auf die Arbeit der CEPT und ihren Beitrag zur Vereinfachung von Kommunikation aufmerksam gemacht. Wenn nicht die Schriftzüge „Europa“ und „CEPT“ auf allen Briefmarken zu sehen wäre, würde man bei manchen Marken vermutlich nicht erkennen, welchen Bezug sie zu Europa oder der CEPT haben. Dazu gehören sicher die Zahnräder, der Schlüssel und die Blinklichter³⁸. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Briefmarken durchaus die Zusammenarbeit der Verwaltungen und deren gemeinsame Anstrengungen für ein geeintes Europa der Post und der Telekommunikation darstellten. Dafür wurden unterschiedliche Symbole benutzt; neben den offensichtlichen Symbolen für die Post und die Telekommunikation waren für Wachstum stehende Bäume
Vgl. zum Beispiel: Bundesarchiv (Koblenz), B257/42152,Wahl des Entwurfes der Europa-Marke 1961, 29.03.1961, S. 588. Vgl. Rötzel, 1979, S. 61. Vgl. ebd., S. 60 – 63. Die Mitgliederanzahl hatte sich von 19 auf 22 erhöht. Rötzel, 1979, S. 62. „Das Motiv symbolisiert eine rege Tätigkeit auf dem Gebiet der Post, des Fernsprechens und des Sattelitenverkehrs.“ (Ebd., S. 63).
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und Pflanzen beliebte Mittel. Sie nahmen aber keinen Bezug auf ein konkretes politisches europäisches Projekt. Es ist auch auffallend, dass zur Darstellung Europas entgegen der deutschen Briefmarken von 1942 keine Europakarte, sondern der Schriftzug „Europa“ oder ein bloßes „E“ in die Motive eingebettet wurde. Dafür ist in den Akten bis jetzt keine Begründung zu finden. Es könnte einerseits daran liegen, dass eine Ähnlichkeit mit den Briefmarken von 1942 verhindert werden sollte, andererseits hätte es auch ob des Kalten Krieges und der damit einhergehenden Teilung Europas und Deutschlands unpassend sein können.
VI Eine kurze Analyse der Entwicklung der Auflagen Neben der Botschaft des Motivs ist die Größe der Gruppe von Bedeutung, die diese erreichen kann. Deshalb befasst sich der folgende Abschnitt mit der Entwicklung der Ausgabenzahl, die hier allerdings nur grob betrachtet werden kann. Neben den sechs Mitgliedern der EGKS, die auch 1956 schon „Europa-Marken“ ausgaben, ist Großbritannien zum Vergleich einbezogen worden. Großbritannien stand (und steht) in dem Ruf, der europäischen Einigung entgegenzustehen. Darüber hinaus war das Motiv der britischen Marke von vornherein immer leicht abgeändert, da die Königin mit abgebildet wurde. Die meisten Länder gaben die Marke in zwei Nennwerten heraus. In allen Ländern erhöhten sich die Preise für das Porto. Die erste „Europa-Marke“ der belgischen Postverwaltung wurde 1956 mit 21,4³⁹ Mio. (2 Francs) und 5,3 Mio. (4 Francs) bis 1973 in beiden Kategorien in der höchsten Auflage herausgegeben. Im Jahr darauf lag die Auflage nur noch bei 6,4 Mio. (2-Francs-Marken) und 2,7 Mio. (4-Francs-Marken). Die Auflagen waren in den folgenden Jahren erheblichen Schwankungen unterworfen, bis sie ab dem Jahre 1969, also dem zehnjährigen Jubiläum der CEPT mit 10,5 Mio. Marken für den niedrigeren Nennwert und 2,75 Mio. für den höheren Nennwert bis 1973 stabil blieben⁴⁰. Die Deutsche Bundespost wählte bei der Bestimmung der Auflagen eine andere Strategie. Sie reduzierte die Auflage von 1956 nach 1957 nicht wesentlich, sondern nur von 68 auf 60 Mio. Stück bzw. von 28 auf 25 Mio. Stück. Im Jahr 1963 wurde das erste Mal der niedrigere Nennwert in einer kleineren Auflage als der höhere Wert ausgegeben, nämlich 30 Mio. und 110 Mio. Marken. Im Laufe der Die Zahlen sind gerundet. Vgl. MICHEL Europakatalog 1983, 1982, S. 83 – 123.
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Jahre erhöhte sich die Auflage des niedrigeren Wertes auf 50 Mio., während die des höheren Wertes auf 73,3 Mio. im Jahr 1973 absank⁴¹. Im Fall von Frankreich kann man den gleichen Rückgang der Auflagen im Vergleich der „Europa-Marken“ von 1956 und 1957 beobachten. Während im Jahr 1956 die Marken zum niedrigeren Wert in einer Auflage von 43,5 Mio. und zum höheren Wert in einer von 13,3 Mio. herausgegeben wurden, waren es 1957 nur noch jeweils 12,6 Mio. und 9,3 Mio. Zudem unterschied sich das in der Republik herausgegebene Motiv 1957 von dem eigentlichen Motiv der „Europa-Marken“: Statt des Baumes fiel die Auswahl auf „zwei Hände mit Zahnrad, Olivenzweig und Ähre“⁴². Bis 1967 stiegen die Auflagen auf 40 Mio. bzw. 10,3 Mio. und pendelten sich in den Jahren 1970 bis 1973 auf einer Höhe von ca. 20 Mio. bzw. 10 Mio. ein. Es fällt auf, dass in den Jahren 1971 und 1973 ein anderes Motiv für die Briefmarken im niedrigeren Wert und damit für die mit einer höheren Auflage verwendet wurde. Zu sehen waren die Basilika in Venedig, der Aachener Dom und das Brüsseler Rathaus.⁴³ In Italien ist für 1956 und 1957 eine ähnliche Entwicklung wie auch in Belgien und Frankreich festzustellen. Die Auflage bricht von 50 Mio. und 15 Mio. auf 18,6 Mio. und 10,1 Mio. ein. Für die Jahre 1958 bis 1960 war sie dann aber wieder auf der exakten Höhe von 1956. Danach nahm die Auflage kontinuierlich ab und pendelte sich ab 1971 auf einer Höhe von 15 Mio. und 8 Mio. ein⁴⁴. In Luxemburg wurden die ersten drei „Europa-Marken“ in drei Nennwerten herausgegeben, bevor es ab 1959 zwei waren. Im Jahre 1957 ging die Auflage im Vergleich zum Vorjahr leicht zurück und wie in Frankreich wurde ein anderes Motiv veröffentlicht. Die höchste Auflage ist für das Jahr 1962 zu verzeichnen (3,1 Mio. und 2,1 Mio.). Danach sank die Auflagenzahl und ab 1968 wurden konstant je 1 Mio. Marken herausgegeben.⁴⁵ Die Zahlen der Auflagen der „Europa-Marken“ in den Niederlanden gingen zwar im Vergleich der Jahre 1956 und 1957 auch um 10 Mio. bzw. 1,5 Mio. zurück, stiegen 1958 aber auch wieder um 16 Mio. und 1 Mio. Marken. 1959 folgte dann allerdings gerade beim niedrigeren Wert eine Verringerung um 24 Mio., wodurch sich die Auflage halbierte. Mitte der 60er Jahre pendelten sich die Auflagen bei rund 30 Mio. und 5 Mio. ein; zu Anfang der 70er Jahre sanken sie wieder. 1973 lagen die Auflagen noch bei 24,6 Mio. und 3,4 Mio.⁴⁶
Vgl. Rötzel, 1979, S. 65. MICHEL Europakatalog 1983, 1982, S. 346. Vgl. ebd., S. 343 – 392. Vgl. ebd., S. 755 – 778. Vgl. ebd., S. 1001– 1015. Vgl. ebd., S. 1157– 1173.
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Die Royal Mail gab in Großbritannien im Untersuchungszeitraum nur in den Jahren 1960, 1961 und 1969 zum zehnjährigen Jubiläum der CEPT eine „EuropaMarke“ heraus. Wie oben schon angemerkt, waren die Motive um die Königin ergänzt worden. Es lässt sich ebenfalls feststellen, dass 1957 drei statt noch wie 1956 zwei Werte herausgegeben wurden und gerade die Auflage der 2-PoundMarke, auf der nur die Queen und das CEPT-Logo zu sehen waren, mit 47,5 Mio. sehr hoch war. Die 4- und 10-Pound-Marken, auf denen die Taube zu sehen war, wurden in Auflagen von 7,6 und 5,4 Mio. herausgegeben. Im Jahr 1969 wurde nur ein Wert, nämlich 9 Pfund, verkauft – in einer vergleichsweise kleinen Auflage von 9,8 Mio.⁴⁷ Der Vergleich der Auflagenhöhen zeigt einen Rückgang in allen Ländern. In vier der sechs Mitgliedstaaten der EGKS wurde die Auflage nach der ersten Ausgabe deutlich reduziert. Dass zwei Länder 1957 andere Motive herausbrachten⁴⁸, steht dem Gedanken der „Europa-Marken“, einheitliche, auf Europa ausgerichtete Botschaften zu vermitteln, entgegen. Das Vereinigte Königreich stellte nach anfänglicher Unterstützung der „Europa-Marken“ die Herausgabe weitestgehend ein. Insofern zeigen diese groben Analysen der Auflagen in den sieben Ländern vorläufig, dass die „Europa-Marken“ im Laufe der Zeit an Präsenz verloren und ihre Bedeutung auch durch die Veränderung der Motive oder durch Nicht-Veröffentlichung eingeschränkt wurde.
VII Fazit Im Hinblick auf die Motive der „Europa-Marken“ zeigt die Analyse, dass Botschaften im Zusammenhang mit einem konkreten europäischen politischen Projekt selten deutlich zu finden sind. Es ist Aufgabe der Betrachtenden, diese zu interpretieren. Dies gilt sowohl für die Zeit des Zweiten Weltkriegs als auch für die Zeit nach 1956. Die stetig sinkende Auflagenzahl und die Abweichungen vom gemeinsamen Motiv bzw. die Nicht-Herausgabe von Briefmarken im Falle des Vereinigten Königreiches trugen wohl nicht zur Wissensdiffusion im Hinblick auf die Zusammenarbeit der Post- und Telekommunikationsverwaltungen oder zu einer Verbreitung einer Idee von Europa bei.
Vgl. ebd., S. 556; S. 566. Die Veränderung war mit den anderen Verwaltungen abgesprochen. Das Ziel war, den föderativen Aspekt der Europa-Marken auszudrücken (vgl. Hammerschmidt, 1966, S. 72).
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Gottfried Gabriel bezeichnete die „Europa-Marken“ als „in die Zukunft weisende Marken“⁴⁹. Göldner sieht diese als ein mögliches Symbol der europäischen Integration, argumentiert jedoch, dass nur eine in ganz Europa geltende Briefmarke die Integration repräsentieren könnte⁵⁰. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges sowie der Neuheit und Vielzahl europäischer Organisationen kann die vergleichsweise stabile, grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Postverwaltungen durchaus als Vision für andere Bereiche angesehen werden. In letzteren hätte man es vermutlich für utopisch gehalten, sich in regelmäßigen Abständen zu treffen und unter teilweiser Ausblendung der geopolitischen Situation zusammenzuarbeiten. So lehnte das italienische Außenministerium die Gründung eines europäischen Postvereins während des Zweiten Weltkriegs zunächst ab⁵¹. Allerdings zeigt die Untersuchung, dass sich die Postverwaltungen im Wesentlichen nur genau auf die Idee eines geeinten Post- und Telekommunikationseuropas konzentrierten – ob 1942 oder nach 1956. Die „Europa-Marke“ als Mittel der politischen Legitimation und des Agenda-Settings im Sinne Smolarskis⁵² beschränkte sich ganz klar auf die eigene europäische Zusammenarbeit. Eine Bemühung, den europäischen Integrationsprozess zu unterstützen, ist mit Ausnahme der Marken von 1956 bis 1959 und eventuell noch der Marke des Jahres 1961⁵³ nicht zu erkennen. Spätestens mit der Aufgabe des gemeinsamen Motivs im Jahre 1973 und dem Übergang zu national ausgestalteten Marken mit einem gemeinsamen, häufig unpolitischen, übergeordneten Thema⁵⁴, kann man auch von einer völligen Abkehr der Repräsentation jeglicher europäischer Zusammenarbeit oder Ideen von Europa sprechen.
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Theokratie in Europa – zeitgenössische französische Utopien: Soumission (2015) von Michel Houellebecq und L’Exil des mécréants (2017) von Tito Topin Im Fokus dieses Beitrages stehen zwei literarische Zukunftsentwürfe französischsprachiger Gegenwartsautoren, die ein theokratisches Europa zeigen: Soumission (2015)¹ von Michel Houellebecq und L’Exil des mécréants (2017) von Tito Topin. Im Vorfeld der Textanalyse ist zunächst eine einführende Bestimmung und Abgrenzung der wichtigsten Begriffe unumgänglich.
I Terminologie: Utopie – Eutopie – Dystopie Der Begriff ‚Utopie‘ – zu Deutsch ‚Nicht-Ort‘ oder ‚Nirgendort‘² – geht bekanntermaßen auf Thomas Morus’ Erzählung Utopia (1516) zurück, mit der er nicht nur einen Neologismus prägte, sondern außerdem den Grundstein für ein literarisches Genre legte, welches dann ab Ende des 18. Jahrhunderts auch so bezeichnet wurde.³ Inhaltlich befassen sich die zugehörigen Texte mit eine[r] unbekannte[n] gesellschaftliche[n] Ordnung […], die sich durch die Negation einer bekannten Gesellschaftsordnung konstituiert. Der ou-topos bedarf eines topos, mit dem er trotz aller Unterschiede genügend Gemeinsamkeiten teilt, um einen Vergleich zwischen beiden gesellschaftlichen Ordnungen nahezulegen⁴.
Im Folgenden zitiere ich aus der Ausgabe der Éditions J’ai lu. Zur Etymologie siehe Schölderle, 2017a, S. 10 – 12. Vgl. Schölderle, 2017a, S. 9; Voßkamp, 2018, S. 77. Zu Morus’ Erzählung siehe Schölderle, 2017a, S. 19 – 49; Voßkamp, 2018, S. 17– 31. Schölderle, 2017a, S. 10 merkt an: „Inwieweit Morus’ Schrift für die Begriffsbildung als Richtgröße dienen kann und soll, ist umstritten. Den Ausgangspunkt bei Morus zu wählen, bietet sich allerdings schon aus ganz pragmatischen Gründen an. Morus war es, der das Wort erfunden hat.“ Siehe zu dieser Frage auch Schölderle, 2017b. Zur Geschichte der Utopie siehe Schölderle, 2017a; Voßkamp, 2018, S. 77– 91. Leiß, 2013, S. 208. https://doi.org/10.1515/9783110756944-013
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Leiß nennt dies auch das „‚Prinzip der zwei Welten‘“⁵. Daraus folgt, dass Utopien sich zwar stets als erfunden⁶ zu erkennen geben, gleichzeitig aber als „realgeschichtliche Resonanzphänomene“⁷ kaum weniger offensichtlich in der Lebenswirklichkeit ihrer Autoren verankert sind. Man kann sie daher beschreiben als „fiktionale, anschaulich gemachte Entwürfe von Gegenbildern […], die sich implizit oder explizit kritisch auf eine historische Wirklichkeit beziehen, in der sie entstanden sind.“⁸ Innerhalb des Genres wiederum gibt es verschiedene Typen von Utopien. Zum einen kann prinzipiell zwischen Raum- und Zeitutopien differenziert werden⁹, wobei „Mischformen […] nicht selten [sind]“¹⁰. Zum anderen gibt es eine „positive“¹¹ und eine „negative Spielart“¹² der Utopie, die sich hinsichtlich der Art des Verhältnisses der zwei Welten¹³ voneinander unterscheiden. Betreffend der Terminologie besteht in der Forschung kein allgemeingültiger Konsens. Folgen möchte ich hier Schölderles logischem Vorschlag, „‚Utopie‘ als Oberbegriff zu fassen und hinsichtlich der beiden Versionen ‚Eutopie‘ (für die positive) und ‚Dystopie‘ (für die negative) zu unterscheiden.“¹⁴ Dabei handelt es sich allerdings nur um eine idealtypische Unterscheidung, denn generell „[sind] Zukunftsprojektionen […] nie eindeutig. Sie liefern mehrdeutige Wunsch- und Schreckensbilder […] auch in den eigentümlichen Verschränkungen“¹⁵. Die beiden Varianten sind weniger als diametrales Gegensatzpaar denn als skalare Abstufung zu verstehen.¹⁶ Tendenziell akzentuiert die Dystopie gegenüber der Eutopie das ge-
Ebd. Daher rührt vermutlich auch die alltagssprachliche Bedeutung des Wortes ‚utopisch‘ „im Sinne von ‚un-wirklich‘ oder ‚nicht-realisierbar‘“ (Schölderle, 2017a, S. 10). Ebd., S. 167 f. Vgl. auch Voßkamp, 2013, S. 15. Voßkamp, 2018, S. 77. Daraus resultiert, dass „[die] Geschichte der Utopie […] eine Geschichte der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften [ist].“ (Schölderle, 2017a, S. 7). Vgl. Doren, 1927; Voßkamp, 2018, S. 78. Voßkamp, 2018, S. 78. Voßkamp weist auf den sukzessiven „Übergang von Raum- und Zeitutopien im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts“ (ebd.) hin. Schölderle, 2017a, S. 137. Ebd. Simanowski, 2013, S. 259 f. spricht auch von einer „hellere[n] und dunklere[n] Kritik am Status Quo“. Siehe dazu auch Leiß, 2013, S. 210. Schölderle, 2017a, S. 137 f. Daneben kursieren weitere Bezeichnungen wie ‚Warnutopie‘, ‚Mätopie‘, ‚negative Utopie‘, ‚schwarze Utopie‘ (vgl. ebd.) oder auch ‚Antiutopie‘ (vgl. Simanowski, 2013, S. 259 f.). Für eine abweichende Definition von ‚Dystopie‘ siehe Seeber, 2013, S. 186. Leiß, 2013, S. 210 versteht die ‚Heterotopie‘ als weiteres „Subgenre der Utopie“. Voßkamp, 2013, S. 16. Simanowski, 2013, S. 261 erläutert dies am Beispiel der digitalen Medien. Siehe dazu Schölderle, 2017a, S. 137.
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sellschaftskritische Moment stärker, bei gleichzeitigem Zurücktreten des konstruktiven Elements.¹⁷ Hinzu kommt, dass verschiedene textinterne (Erzähler, Figuren) und -externe Instanzen (Autor, Leser) zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen können, letztere sind zudem nicht statisch, sondern insbesondere die der Leser können sich diachron verändern.¹⁸ Literaturgeschichtlich ist eine sukzessive Verschiebung von der Eutopie zur Dystopie zu beobachten.¹⁹ Aktuell dominante Themen literarischer Utopien sind laut Schölderle vor allem „Transhumanismus und Enhancement“²⁰: „Im Zentrum stehen […] Szenarien, die mit Hilfe von Innovationen aus der Neuro-, Nano-, Informations- und Biotechnologie eine technische Optimierung des Menschen propagieren.“²¹ Damit verbunden ist ein Wandel des Genres, ging es in der klassischen Utopie doch stets darum, die Grundfehler der Gesellschaft anzuprangern. Diese lagen nach Ansicht der Autoren […] letztlich in den sozialen Bedingungen von Elend und Verbrechen. Mit dieser Perspektive haben Enhancement-Visionen nicht mehr viel gemeinsam. Ihnen fehlt weitgehend die soziale Dimension, und damit ein Kernelement der Utopie: die Sozialkritik.²²
II Terminologie: Theokratie Der Begriff ‚Theokratie‘ geht auf Flavius Josephus zurück²³ und bezeichnet die „Idee der Gottesherrschaft auf Erden“²⁴ bzw. „die beanspruchte oder in Form von Anerkennung erfolgreich realisierte Legitimation einer Herrschafts- oder Regierungsform als Gottesherrschaft“²⁵. Die Theokratie an sich ist „keine konstitutionelle Regierungsform wie Demokratie, Aristokratie, Monarchie oder Diktatur“²⁶, sondern „kann vielmehr jede dieser Regierungsformen überformen“²⁷. In
Vgl. Seeber, 2013, S. 195; Schölderle, 2017a, S. 7. Vgl. Leiß, 2013, S. 209. Vgl. Schölderle, 2017a, S. 159. Seeber, 2013, S. 189 führt dies auf die „erschreckende[] Erkenntnis“ zurück, „dass mögliche Zukunft wegen der Erfolgsdynamik der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation machbare Zukunft sein könnte.“ Schölderle, 2017a, S. 162. Ebd. Ebd. Vgl. Trampedach/Pečar, 2013, S. 5. Zur Begriffsgeschichte siehe ebd., S. 5 f.; Bock, 2013, S. 252– 255. Bock, 2013, S. 255; Trampedach/Pečar, 2013, S. 1. Bock, 2013, S. 255 f. Ebd. Vgl. auch Trampedach/Pečar, 2013, S. 1.
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einem solchen ‚religiösen Staat‘ „[sind] die von Gott etablierten Normen alleiniges Fundament menschlicher Gemeinschaftsbildung“²⁸ und „die offizielle Religion [gestaltet] die Gesetze des Landes“²⁹. Demgegenüber „[gelten] [w]eltliche Gesetze und Traditionen […] als nachranging oder […] sogar als illegitim.“³⁰ Eine solche „Verschmelzung von Religion und Politik war in der Menschheitsgeschichte lange die Norm“³¹. Allerdings „[beruht] der moderne westliche Staat europäischen Ursprungs in seiner Säkularität gerade auf der grundsätzlichen Trennung dieser Bereiche“³². Im Gegensatz dazu „propagiert der institutionalisierte Islam sowohl sunnitischer als auch schiitischer Prägung das theokratische Ideal eines religiös geprägten Staates und eine theokratische durchdrungene Rechtsordnung.“³³
III Soumission (2015) von Michel Houellebecq: Inhalt und Rezeption Der Roman Soumission (2015) von Michel Houellebecq spielt in Frankreich im Jahr 2022/2023.³⁴ Der erzählte Zeitraum umfasst etwa ein Jahr.³⁵ Der Ich-Erzähler François, Junggeselle und promovierter Literaturwissenschaftler, schildert die Zeit unmittelbar vor, während und in den ersten Monaten nach den Wahlen. Im Vorfeld kommt es zu Ausschreitungen und Unruhen, über die die Medien aber nicht berichten.³⁶ Schließlich gehen die drei großen Parteien (Sozialisten, De-
Bock, 2013, S. 255 f. Sie ist also „insofern ähnlich den bestimmte Eigenschaften indizierenden Adjektiven sozialistisch, faschistisch oder kommunistisch.“ (ebd., S. 256). Trampedach/Pečar, 2013, S. 6 f. Joppke, 2018, S. 21. Trampedach/Pečar, 2013, S. 1. Joppke, 2018, S. 21. Bock, 2013, S. 256. Zum ‚säkularen Staat‘ siehe auch Joppke, 2018. Speziell zum Staatslaizismus in Frankreich siehe Nonnenmacher, 2016, S. 174– 177. Bock, 2013, S. 275 f. Bock gelangt in seiner empirischen Studie ferner gar zu dem Ergebnis, „dass in Staaten mit hohen Anteilen muslimischer Bevölkerung große Mehrheiten der Muslime weder eine säkulare, auf der Trennung von Staat und Religion beruhende Rechtsordnung akzeptieren noch einen derart gestalteten Staat anstreben.“ (ebd., S. 271). In den Entwicklungen des sogenannten ‚arabischen Frühlings‘ sieht er (ebd., S. 277) hier eine „Perspektive politischer Hoffnung“. Zum Thema „Staat, Recht und Glaubensgemeinschaft im Islam“ siehe ebd., S. 264– 275. Für eine Inhaltszusammenfassung siehe auch Schneider, 2016, S. 151– 153. Vgl. Asholt, 2016, S. 131. Vgl. Houellebecq, 2015, S. 71.
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mokraten und Republikaner) eine Koalition mit der Muslimischen Bruderschaft ein, um den Sieg des Front National mit Marine Le Pen an der Spitze zu verhindern. Das Vorhaben gelingt – Ben Abbes wird neuer Präsident. Schrittweise macht sich die neue theokratische Staatsordnung im Alltag bemerkbar³⁷: Die Frauen verändern ihren Kleidungsstil³⁸ und dürfen nicht mehr arbeiten, wodurch gleichzeitig die Erwerbslosigkeit zurückgeht, Polygamie wird erlaubt, gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibung verboten, der Wohlstand wächst, die Medien werden gleichgeschaltet und Antisemitismus nimmt zu – dies veranlasst auch François’ aktuelle Liebschaft, eine Jüdin, das Land zu verlassen –, der Bildungsetat wird gekürzt und die Sorbonne zur islamischen, von den Saudis finanzierten³⁹ Universität, die nur noch muslimische Professoren beschäftigt. Dadurch sieht sich der Protagonist mit seiner Entlassung – bei vorzeitigen Pensionsbezügen – konfrontiert.⁴⁰ Die französische Theokratie strebt eine EU-Erweiterung in den arabischen Raum an.⁴¹ Im letzten Kapitel des Buches, das im Konditional gehalten ist, imaginiert der Ich-Erzähler seine Konversion zum Islam, die ihm nicht nur die Rückkehr an seinen Arbeitsplatz, sondern auch ein hohes Gehalt und die arrangierte Vielehe mit jungen Frauen ermöglichen würde.⁴² Houellebecqs Roman stand an der Spitze der Bestsellerlisten in Frankreich, Deutschland und Italien, erschien in über 30 Ländern und entfachte ein über Wochen andauerndes Medienecho.⁴³ Die große Resonanz resultiert wohl zumindest teilweise auch aus der zeitlichen Koinzidenz der Buchveröffentlichung mit den terroristischen Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt, die dazu führte, „dass der Roman mit der Wirklichkeit überblendet rezipiert wurde.“⁴⁴ Asholt beklagt eine im Widerspruch zu dieser großen Reichweite stehende ausgeprägte „Ablehnung Houellebecqs in der französischen Literaturwissenschaft“⁴⁵, außerhalb Frankreichs wachse jedoch seine Beachtung⁴⁶.
Vgl. Hennigfeld, 2019, S. 263. Vgl. z. B. Houellebecq, 2015, S. 298. Vgl. dazu ebd., S. 247– 253. Sick, 2016, S. 94 meint: „Im Versuch, der Satellitenrolle in der EU zu entkommen, wird Frankreich zu einem Satelliten der Scheichs.“ Vgl. Houellebecq, 2015, S. 187– 189. Vgl. ebd., S. 165; S. 305 – 307. Siehe dazu auch Asholt, 2016, S. 129 – 130; Schneider, 2016, S. 170 – 172; Sick, 2016, S. 96; Hennigfeld, 2019, S. 264. Vgl. Leick, 2015. Zum Vergleich der französischen und deutschen Rezeption siehe Komorowska, 2016. Nonnenmacher, 2016, S. 195. Siehe dazu auch Komorowska, 2016, S. 139 – 140; S. 149 – 155; Schneider, 2016, S. 152; Béreiziat-Lang, 2019; Hennigfeld, 2019, S. 251. Asholt, 2016, S. 120. Siehe dazu auch Gazzella, 2017.
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IV L’Exil des mécréants (2017) von Tito Topin: Inhalt und Rezeption Der Roman L’Exil des mécréants (2017) von Tito Topin spielt in einer nicht genau datierten, aber unserer Zeit nah erscheinenden Zukunft. Um den interkonfessionellen Kriegen ein Ende zu setzen, hat sich auf Betreiben amerikanischer Reformierter eine länderübergreifende religiöse Allianz aus Katholiken (Vatikan), Juden (Israel), Sunniten (Saudi-Arabien) und Schiiten (Iran, USA) gebildet.⁴⁷ Die bestehenden Verfassungen wurden durch die religiösen Schriften ersetzt.⁴⁸ Verhütung und Abtreibung sind nun ebenso strafbar wie Homosexualität und gleichgeschlechtliche Ehen, Ehebruch und Scheidung.⁴⁹ Weltliche Feiertage gibt es nicht mehr.⁵⁰ Alle „Ungläubigen“ – Atheisten, Polytheisten und sonstige Andersdenkende – werden verfolgt.⁵¹ Die Strafen reichen von Geldbußen und einer Internierung im Lager bis hin zum Entzug der Nationalität, zur Enteignung und zur Verbannung ins Exil.⁵² Widerstand gegen das theokratische Vorrücken leisten lediglich, trotz ihrer katholischen Tradition, die südeuropäischen Länder Italien, Spanien und Portugal sowie Lateinamerika.⁵³ Sie werden zum Fluchtpunkt aller Verfolgten. Unter diesen befinden sich auch der Protagonist, der französische Journalist Boris, der aufgrund kirchenkritischer Artikel der Regierung ein Dorn im Auge ist, dessen große Liebe, die gebürtige andalusische Designerin Soledad, sowie seine Zufallsbekanntschaft Anissa, eine unverheiratete Schwangere, und der Bankräuber Pablo, der sich ihnen zunächst unfreiwillig anschließen muss, weil sie sein Auto als Fluchtwagen kapern. In Lissabon, wo sie ausschiffen wollen, kommt es schließlich, zeitgleich zum politischen Fall Portugals unter die Theokratie⁵⁴, zum Showdown mit den Verfolgern. Nur Boris, Soledad und das frühgeborene Baby überleben den Hinterhalt des von der Regierung entsandten Attentäters. Gemeinsam mit dem Araber Brahim, der im Flüchtlingslager einen Imbiss betreibt, rauben sie eine Kirche aus⁵⁵ und schlagen sich schließlich bis Vgl. Asholt, 2016, S. 121. Siehe z. B. Asholt, 2016; Komorowska, 2016; Nonnenmacher, 2016; Ritte, 2016; Schneider, 2016; Sick, 2016; Udasmoro, 2018; Hennigfeld, 2019. Vgl. Topin, 2017, S. 113. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 42; S. 113 f. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 50; S. 87; S. 113. Vgl. ebd., S. 69; S. 95; S. 113. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 178 f. Vgl. ebd., S. 183 f.
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nach Kolumbien durch, das noch ein säkularer Staat ist. Doch auch dort können sie nicht lange bleiben, in der letzten Szene des Romans machen sie sich vor den herannahenden theokratischen Truppen auf die Flucht nach Shanghai.⁵⁶ Topins Text hat bisher keine sichtbare literaturwissenschaftliche Beachtung erfahren. Die 2018 erschienene deutsche Übersetzung Tanzt! Singt! Morgen wird es schlechter von Katarina Grän führte die Frankfurter Allgemeine in ihrer „Krimibestenliste im Februar“ 2019 auf Platz neun – die „[a]ntitheokratische Dystopie“⁵⁷ sei „[g]rotesk, voller Anspielungen.“⁵⁸ Bedszent nennt das Werk in Die Tageszeitung junge Welt „einen sehr spannenden, flüssig geschriebenen Roman“⁵⁹ und „[e]ine gelungene Mischung aus den Werken von Raymond Chandler und Anna Seghers“⁶⁰.
V Textanalyse: Vergleichende Bemerkungen Da im Rahmen dieses Beitrages keine erschöpfende Textanalyse möglich ist, beschränke ich mich auf einige vergleichende Bemerkungen zu hier besonders relevanten thematischen Aspekten – wohl wissend, dass dieses Verfahren den beiden Romanen nicht vollends gerecht werden kann. Auf den ersten Blick verfügen Theokratien als solche durchaus über ein eutopisches Potenzial. Religiöse Werte und Regeln können zu einem guten gesellschaftlichen Zusammenleben beitragen. Bei näherer Betrachtung aber treten die dystopischen Elemente stärker hervor, denn gleichzeitig „lässt sich die Theokratie als totalisierender Diskurs charakterisieren. Sein absoluter und umfassender Geltungsanspruch erstreckt sich nicht nur auf die politisch-soziale Ordnung, sondern auch auf die persönliche Lebensführung.“⁶¹ Damit einher geht ein starkes Element der Ausgrenzung und Hierarchisierung. In der Regel „[werden] Nichtanhänger […], falls überhaupt toleriert, auf einen niedrigeren Status verwiesen.“⁶² Auch andere soziale Gruppen, wie z. B. Frauen, sind davon betroffen. Diese ambivalenten Tendenzen spiegeln sich auch in den beiden vorliegenden Romanen wider.
Vgl. ebd., S. 187. O. A., 2019. Ebd., 2019. Bedszent, 2019, S. 10. Ebd. Trampedach/Pečar, 2013, S. 15. Joppke, 2018, S. 21.
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So nennt Béreiziat-Lang Soumission einen „anti-modernen Gesellschaftsentwurf […], der durchaus auch utopische Züge trägt.“⁶³ Dabei weist der Roman eine besonders große „semantische Offenheit“⁶⁴ auf: „die Struktur […] ist uneindeutig, ambivalent, man kann in ihm postmoderne Gleichgültigkeit oder melancholische Antimoderne finden, Spiritualisierung und Islamophobie.“⁶⁵ Isoliert betrachtet, erscheint die Ausgangssituation von Topins Roman eutopisch: An der Idee einer Befriedung der ewig schwelenden Glaubenskriege durch eine internationale interkonfessionelle Annäherung findet sich zunächst nichts Negatives. Doch die Allianz gelingt nur mittels eines gemeinsamen neuen Feindbildes: den Ungläubigen. Dies mündet nicht nur in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, sondern markiert die neuen harten Fronten eines alten Krieges. Für Bedszent manifestiert sich hier die These, „dass radikale Sekten von Gotteskriegern ideologisch gesehen Zwillinge sind, unabhängig davon, zu welchem Gott sie beten, welche Riten und verstaubten Gesetze sie durchsetzen wollen“⁶⁶. Ganz ähnlich zeigt Houellebecq mit seinem Roman die Verwandtschaft zwischen „einer nationalen und einer religiösen Rechten“⁶⁷ auf. Der Autor selbst spricht hier auch von einem „politische[n] Paradox“⁶⁸: Die Muslime sind konservativ in ihren gesellschafts- und familienpolitischen Ansichten. Sie können jedoch nicht rechts wählen, weil die extreme Rechte latent oder offen rassistisch ist und die Einwanderung bekämpft. Sie können aber eigentlich auch nicht links wählen, weil die Linke über Sex, Ehe und Frauen libertäre Meinungen vertritt. Was sollen sie tun? Die Lösung bestünde in der Gründung einer eigenen Partei, der muslimischen Bruderschaft.⁶⁹
Weitere Parallelen impliziert Soumission zwischen katholischem und islamischem Fanatismus⁷⁰ und zwischen westeuropäischem Machismus und islamischer Unterdrückung der Frau⁷¹. Auch bei Houellebecq geht es also letztlich nur vorder-
Béreiziat-Lang, 2019, S. 157. Hennigfeld, 2019, S. 261. Nonnenmacher, 2016, S. 195. Bedszent, 2019, S. 10. Sick, 2016, S. 90. Houellebecq in Leick, 2015, o. S. Ebd., o. S. Für Schneider, 2016, S. 165 wurde die Rolle der Rechten und ihrer Wähler in der Analyse des Romans noch nicht ausreichend berücksichtigt. Encke/Meyer, 2017 weisen den Rechten und der identitären Bewegung eine Schlüsselrolle zu. Z. B. durch „überblendete Debatten um die Rolle des Katholizismus um 1900 und um den Islam 2022, beide verstanden als politische Religion“ (Nonnenmacher, 2016, S. 172). Vgl. Hennigfeld, 2019, S. 269.
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gründig um einen Kampf der Religionen, die eigentliche Opposition besteht zwischen Gläubigen und Ungläubigen.⁷² Daneben gibt es innerhalb der theokratischen Gemeinschaft in beiden Romanen eine weitere Hierarchisierung, die Männer deutlich höher stellt als Frauen.⁷³ Bei Houellebecq wird die Frau durch Arbeitsverbot und Verschleierung ins Private verbannt und zu einer Art ewigen Kindheit⁷⁴ verdammt. Hennigfeld stellt fest, dass hier nicht nur die Männer „schwächlich, skrupellos oder opportunistisch“⁷⁵ sind, sondern trotz der massiven Einschränkungen ihrer Lebenswelt auch „von Seiten der wenigen Frauenfiguren im Roman (Myriam, Marie-Françoise Tanneur, Chantal Delouze) der islamistischen Machtübernahme nichts entgegengesetzt [wird].“⁷⁶ In Topins Utopie scheinen die Rechte der Frauen im Vergleich offiziell (noch) weniger beschnitten: Sie müssen sich nicht verschleiern, zu arbeiten ist ihnen nicht grundsätzlich verboten. Aber sie sehen sich mit Diskriminierungen⁷⁷, Sabotage⁷⁸ und Gewalt⁷⁹ sowie einer extremen Mysoginie konfrontiert: Et dans cette terrible beauté qui est désormais la nôtre, la femme n’a plus sa place. […] elles sont souillées à l’origine, elles raisonnent trop, et elles nuisent à la concentration de nos sujets. […] La femme est la seule erreur de Dieu, qu’Il se pardonne.⁸⁰ Und in dieser schrecklichen Schönheit, die von nun an die Unsere ist, hat die Frau keinen Platz mehr. […] sie sind von Geburt an besudelt, sie debattieren zu viel und stören die Konzentration unserer Untertanen. […] Die Frau ist Gottes einziger Fehler, den er sich vergibt.⁸¹
Vgl. Nonnenmacher, 2016, S. 172. Vgl. für Soumission Udasmoro, 2018, S. 8. Vgl. Houellebecq, 2015, S. 239. Hennigfeld, 2019, S. 264 Ebd. Der Bischof ignoriert sie und führt die Unterhaltung ausschließlich mit ihrem Kollegen (vgl. Topin, 2017, S. 39). Vgl. ebd., S. 42; S. 81. Z. B. wird Anissa zum Opfer, ebd., S. 28: „Quand les prêtres se sont aperçus qu’elle était enceinte sans être mariée, sans connaître le père de l’enfant, ils l’ont fait battre, lui ont retirés ses papiers et interdit de continuer son commerce.“ / „Als die Priester erfuhren, dass sie schwanger war, ohne verheiratet zu sein oder den Vater des Kindes auch nur zu kennen, hatten sie sie verprügeln lassen, ihre Papiere eingezogen und ihr verboten, ihren Handel weiter zu betreiben.“ (Topin, 2018, S. 28). Topin, 2017, S. 42 f. Topin, 2018, S. 44.
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Die Frau wird in dieser theokratischen Gesellschaft zum moralisch minderwertigen Sexobjekt degradiert⁸², sie stellt eine Provokation⁸³ dar. Von den Frauenfiguren Topins leistet die Polizistin Gladys Le Querrec den stärksten Widerstand, indem sie auf die Seite der Ungläubigen wechselt⁸⁴ und dem Bischof die Stirn bietet⁸⁵. Aber auch Anissa und Soledad bleiben nicht passiv, sondern lehnen sich gegen die neue Ordnung auf. Am Bereich Gender⁸⁶ wird beispielhaft der revisionistische Charakter der Theokratien deutlich. Es handelt sich um „anti-progressistische Utopie[n]“⁸⁷. Diese „zeigen, welche fatalen Folgen es haben kann, die Geschichte nicht zu kennen beziehungsweise bewusst zu verdrängen.“⁸⁸ Vor dem Hintergrund dieser theokratischen Dystopie ergibt sich eine Art Binnen-Eutopie: Die heterogene und multi-ethnische Schicksalsgemeinschaft der ungläubigen Exilanten stellt immer wieder unter Beweis, dass es keiner religiösen Gesetze bedarf, um Nächstenliebe zu praktizieren. Besonders eindrücklich ist hier die Szene im Zug, wo eine schwarze Frau ein fremdes weißes Baby stillt.⁸⁹ Zwar stammen die Protagonisten beider Romane aus einer ähnlichen Bildungsschicht – François ist promovierter Hochschullehrer, Boris Journalist –, sie sind aber ansonsten recht verschieden. Topins Hauptfigur ist ein entschlossener Wortführer und impulsiver Mann der Tat. Er setzt sich für seine Mitmenschen ein⁹⁰ und bezieht öffentlich klar Stellung. Sein Widerstand hat einen hohen Preis: Die
Siehe z. B. die folgende Aussage des Bischofs, Topin, 2017, S. 41: „Les femmes ont toujours eu des faiblesses pour les salauds.“ / Topin, 2018, S. 41 f.: „Frauen haben schon immer eine Schwäche für Dreckskerle gehabt.“ Die Polizistin tituliert er gegenüber seinem Assistenten als „pétasse“ (Topin, 2017, S. 42; S. 108) / „Hure“ (Topin, 2018, S. 43) bzw. „Flittchen“ (Topin, 2018, S. 110). Vgl. Topin, 2017, S. 37. Vgl. ebd., S. 61. Siehe ebd., 2017, S. 41: „Je suis ici à titre de policier, monseigneur le ministre, pas de femme.“ / Topin, 2018, S. 42: „Ich bin hier in meiner Eigenschaft als Polizistin, Monseigneur le ministre, nicht als Frau.“ Eine solche entsexualisierte Sicht scheint dem Bischof jedoch unmöglich: „Le prélat posa ses yeux de pieuvre sur les hanches de Gladys, somme sʼil la prenait en flagrant délit de mensonge.“ (Topin, 2017, S. 41) / „Der Prälat heftete seinen blutrünstigen Blick auf Gladys Hüften, als hätte er sie auf frischer Tat der Lüge überführt.“ (Topin, 2018, S. 42). Siehe zum Thema Gender in Soumission z. B. auch Udasmoro, 2018. Béreiziat-Lang, 2019, S. 162. Hennigfeld, 2019, S. 268 f. Vgl. Topin, 2017, S. 29. Z. B. gewährt er Anissa spontan Schutz, indem er sie als seine Frau ausgibt (vgl. ebd., S. 27), wodurch er sich selbst in Gefahr bringt.
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kirchenkritischen⁹¹ Artikel, in denen er nicht nur religiösen Fanatismus, sondern auch Pädophilie anprangerte, haben ihm nicht nur eine Fatwa eingebracht, sondern mutmaßlich auch zur Ermordung seiner Familie durch die Regierung geführt.⁹² Houellebecqs Ich-Erzähler dagegen „zeichnen […] vor allem indifférence und impassibilité aus“⁹³. Er lehnt jegliche Verantwortung für sich selbst oder andere ab⁹⁴ und macht auch von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch. Damit ist er selbst ein Teil des Problems: „François verweigert fast jede Entscheidung. Darin ist er ein prototypischer Vertreter einer ganzen Generation französischer Intellektueller, so die These des Romans.“⁹⁵ Letztlich „[ist] [a]ber auch diese Weigerung, einen (ethischen) Standpunkt zu beziehen, […] – mit Sartre gedacht – eine Wahl.“⁹⁶ Houellebecqs Protagonist ist eine figurgewordene Warnung, „wozu dieses Verhalten im gesamtgesellschaftlichen Kontext führen kann: zum Zusammenfall von Religion und Politik, zur freiwilligen Unterwerfung unter etwas, was man eigentlich als falsch erkannt hat, aber aus Bequemlichkeit oder Opportunismus mitträgt.“⁹⁷ Die unterschiedlichen Figureneigenschaften der Protagonisten schlagen sich auch auf Handlungsebene nieder – während Soumission überwiegend aus Beschreibungen, Reflexionen und Dialogen besteht, ist das Tempo in L’Exil des mécréants deutlich höher. Dadurch erfährt man in Houellebecqs Roman mehr über die politischen Hintergründe und Entwicklungen, die Frankreich in die Theokratie geführt haben. Hier „[geht] [d]ie Islamisierung des ‚Abendlands‘ […] keineswegs terroristisch vor, sondern demokratisch vorbildlich, durch Wahl.“⁹⁸ Ben Abbes wird von dem Erzähler als durchaus sympathisch beschrieben, er gibt sich moderat. Anders bei Topin: Sieht man von dem letzten Kapitel ab, spielt die gesamte Handlung innerhalb weniger Tage, „Näheres über die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe des auf den ersten Blick unwirklichen Szenarios finden sich nicht […]. Die Machtübernahme der Gotteskrieger liegt in der Ver-
Siehe dazu Borisʼ Aussage ebd., S. 50: „Critiquer l’Église, c’est critiquer Dieu, et critiquer Dieu c’est blasphémer… Et la blasphémie… je ne vais pas te faire un dessin…“ / Topin, 2018, S. 51: „Kritik an der Kirche ist Kritik an Gott, und Kritik an Gott ist Blasphemie… Und Blasphemie… ich werde das nicht weiter ausmalen.“ Vgl. Topin, 2017, S. 50 f. Hennigfeld, 2019, S. 262. Und ebenda weiter: „So ist das Wortfeld der lassitude überaus präsent im Roman. […] Immer wieder ist von ennui und seiner latenten Todessehnsucht die Rede.“ Vgl. ebd. Ebd., S. 264. Siehe dazu Asholt, 2016, S. 129. Béreiziat-Lang, 2019, S. 157 nennt ihn einen „Antihelden als Sinnbild einer negativ markierten europäischen Moderne“. Hennigfeld, 2019, S. 264. Siehe dazu Asholt, 2016, S. 129. Hennigfeld, 2019, S. 264. Nonnenmacher, 2016, S. 193.
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gangenheit, erklärt wird sie nicht.“⁹⁹ Auch hier aber haben wohl zunächst Wahlen den Weg zur Theokratie geebnet, bevor die Demokratie abgeschafft wurde.¹⁰⁰ Nun ist ein verbrecherisches Regime an der Macht, mit einem pädophilen¹⁰¹ Bischof an der Regierungsspitze, der nicht einmal vor Mord¹⁰² zurückschreckt. Die gleichgültige Haltung François’ gipfelt in seiner Konversion¹⁰³ – wobei durch den konditionalen Modus offen bleibt, ob diese tatsächlich stattfinden wird. Laut Asholt hat die Entscheidung des Protagonisten, zum Islam überzutreten, mehrere Gründe: Materielle, denn die saudiarabische Sorbonne zahlt unvorstellbar hohe Gehälter und sorgt für luxuriöse Wohnungen […]; sexuelle, denn mit der Polygamie werden auch entsprechende Frauen bereitgestellt, auch für weniger attraktive oder ältere Professoren. Nicht zuletzt aber auch kulturell-ideologische, denn im Vergleich mit dem Werteverfall des ehemals christlichen Abendlandes stellt der Islam verbindliche Normen bereit, die zudem den Vorteil haben, die soziale und sexuelle Hierarchie zu rechtfertigen.¹⁰⁴
Hennigfeld ist überzeugt, dass sich das ganze – im Gegensatz zu seinem Vorbild Huysmans – „ohne religiöses Erweckungserlebnis und aus rein opportunistischen Gründen vollziehen [wird].“¹⁰⁵ Nonnenmacher verwendet den Begriff der „Als-ObBekehrung“¹⁰⁶ und auch für Sick „hat die Konversion des Erzählers etwas Halbherziges.“¹⁰⁷ Dafür spricht ferner, dass „[d]em Protagonisten […] zur Konversion daher gerade kein hermeneutischer Zugang empfohlen [wird], sondern einer, der die rein somatische Empfindung privilegiert“¹⁰⁸. Neben Widerstand und Exil spielt die Konversion als Handlungsoption auch in Topins Roman eine Rolle. So sagt Boris in Kolumbien zu Brahim, als ihm dieser den Einmarsch der theokratischen Truppen meldet: „On ne risque rien, dit-il, on a baptisé le petit, j’ai payé la cotisation à l’Église et toi, tu t’es converti.“¹⁰⁹ / „‚Wir sind nicht in Gefahr‘, sagte
Bedszent, 2019, S. 10. Vgl. Topin, 2017, S. 50. Pablo spricht auch von einer „entourloupe parlementaire“ (ebd., S. 99) / einem „parlamentarischen Trick“ (Topin, 2018, S. 102), durch die die französische Regierung in die Hände der Kirche gefallen sei. Vgl. Topin, 2017, S. 50 f. Vgl. ebd., S. 107– 111. Der Autor wollte sein Werk ursprünglich Conversion nennen, wobei sich der Erzähler zum Katholizismus bekennen sollte (siehe dazu Leick, 2015; Nonnenmacher, 2016, S. 171). Asholt, 2016, S. 129. Hennigfeld, 2019, S. 261. Nonnenmacher, 2016. Sick, 2016, S. 92. Béreiziat-Lang, 2019, S. 161. Topin, 2017, S. 187.
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er, ‚wir haben den Kleinen getauft, ich habe den Beitrag an die Kirche gezahlt, und du, du bist konvertiert.“¹¹⁰ Ganz offensichtlich dient die Konversion als bedeutungslose Schutzmaßnahme, vergleichbar mit der Verkleidung als Pastor, die Boris im ersten Kapitel gewissermaßen als Mimikry einsetzt. Diese verlieren jedoch ihre Wirksamkeit, da Konversionen nicht länger anerkannt werden, haben die Ungläubigen keine Möglichkeit mehr, sich unerkannt unter den Gläubigen zu bewegen – ihnen bleibt nur das Leben im Exil, das Leben auf der Flucht.¹¹¹ Beide Texte arbeiten mit einer Inversion bekannter Sachverhalte. Houellebecq stellt die Statistik auf den Kopf und vertauscht demografische Mehr- und Minderheiten¹¹² und „Topin […] hat die politische Weltkarte schlicht umgedreht: Man ersetze das Frankreich des Buches durch den Sudan und Portugal durch Libyen – schon hat man unsere ‚schöne neue‘ Welt.“¹¹³ Die realen gegenwärtigen Flüchtlingsströme werden hier literarisch umgekehrt. Diese Verfremdung ermöglicht dem Leser einen neuen Blick auf seine eigene Welt. Typisch für Utopien weisen die hier untersuchten Romane einen starken Gegenwartsbezug auf und spiegeln den Zeitgeist wider. Sie entstehen, als das Schlagwort vom „kulturellen Selbstmord Frankreichs“¹¹⁴ in aller Munde ist und „Fragen nach Einwanderung, Migration, nationaler Identität und Religion in Frankreich […] Hochkonjunktur haben.“¹¹⁵ Dieses Klima ermöglicht eine „Rückkehr der Religion (le retour du religieux)“¹¹⁶, wobei gerade „in der Herausforderung durch den politisierten Islam […] das Christentum eine identitäre Funktion zurück[erhält]“¹¹⁷. Allerdings „[sind] [a]n dieser Entwicklung […] keineswegs die Einwanderer oder Muslime schuld: […] [w]as von den 1968ern als Befreiung gefeiert wurde (Kapitalismus, sexuelle Befreiung), hat zum Zerfall von Familie und Nation geführt und ein Vakuum hinterlassen.“¹¹⁸ Houellebecq selbst geht noch weiter, wenn er sagt:
Topin, 2018, S. 188. Vgl. Topin, 2017, S. 187. Vgl. Udasmoro, 2018, S. 3. Bedszent, 2019, S. 10. Hennigfeld, 2019, S. 268. Siehe dazu auch Nonnenmacher, 2016, S. 173. Für eine Zusammenfassung der „[d]iskursive[n] Frontlinien in der öffentlichen Debatte um 2015“ siehe Hennigfeld, 2019, S. 254– 257. Hennigfeld, 2019, S. 254. Vgl. Houellebecq in Leick, 2015; Hennigfeld, 2019, S. 265. Nonnenmacher, 2016, S. 187. Nonnenmacher verweist hier neben der „gewissermaßen ‚postsäkularen‘ Argumentation“ Sarkozys (ebd., S. 174) auch auf die ostdeutsche Pegida-Bewegung (vgl. ebd., S. 187). Eine Ungereimtheit der These von der Rückkehr der Religion ergibt sich meines Erachtens aus der zu beobachtenden wachsenden Anzahl von Kirchenaustritten. Hennigfeld, 2019, S. 265.
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Und der Wunsch nach Unterwerfung ist eine Kraft, die wieder wirksam wird. Die Religion hat dabei die Nase vorn, denn alle anderen Unterwerfungssysteme, Nationalismus, Faschismus, Kommunismus, sind im Abseits der Geschichte gelandet. Sie kommen nicht mehr infrage. Die Aufklärung ist am Ende. Der Humanismus ist tot. Der Laizismus, vor über 100 Jahren erfunden von Politikern, die im Atheismus die Zukunft sahen, ist tot. Die Republik ist tot.¹¹⁹
Theokratische Dystopien wie die von Houellebecq und Topin oder auch die von Sansal¹²⁰, um ein weiteres Beispiel zu nennen, spielen gleichermaßen mit den Ängsten (z. B. vor „Überfremdung“) und Wünschen (z. B. nach einem tieferen Sinn) ihres zeitgenössischen Publikums. Dabei markieren diese Texte gleichzeitig eine neue Phase in der Literaturgeschichte der Utopie, die nach einem langen Verharren bei den technologischen Visionen zu deren sozialkritischen Wurzeln zurückkehrt. Sie zeigen auf, „warum die Trennung von Religion und Staat unbedingt aufrechterhalten werden muss.“¹²¹ Dass Soumission und L’Exil des mécréants als theokratische Zeitutopien in der sehr nahen Zukunft angesiedelt sind, steigert die „Dringlichkeit des Appells“¹²² noch. Auf dem Spiel stehen „nichts weniger als Demokratie, Toleranz, Menschenrechte wie Pressefreiheit, Religionsfreiheit, oder die Gleichberechtigung der Geschlechter.“¹²³ Nicht zuletzt mahnen die theokratischen Utopien, den Status Quo unserer freien Gesellschaft in Europa nicht als selbstverständlich zu betrachten.
Bibliographie Amberger, Alexander / Möbius, Thomas, Hrsg. (2017): Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung. Festschrift für Richard Saage zum 75. Geburtstag. Wiesbaden: Springer. Asholt, Wolfgang (2016): Vom Terrorismus zum Wandel durch Annäherung. Houellebecqs Soumission. In: Romanische Studien 3. S. 119 – 136. Bedszent, Gerd (2019): Fiese Intrigen, drakonische Strafen. Tito Topin entwirft in seinem neuen Roman eine Diktatur vereinigter Gotteskrieger. In: junge Welt. 11. 02. 2019. S. 10. Zitiert nach: https://www.jungewelt.de/artikel/348684.fiese-intrigen-drakonische-strafen.html [Abruf: 07. 07. 2019]. Béreiziat-Lang, Stephanie (2019): „L’alphabet convient aux peuples policés“: Schrift und Anti-Moderne bei Boualem Sansal und Michel Houellebecq. In: Romanische Studien 8. S. 147 – 162.
Houellebecq in Leick, 2015, o. S. Siehe Sansal, 2015. Hennigfeld, 2019, S. 268. Seeber, 2013, S. 193. Er bezieht sich hier auf ein anderes Textbeispiel. Hennigfeld, 2019, S. 265.
Theokratie in Europa – zeitgenössische französische Utopien
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Bock, Wolfgang (2013): Recht und Staat im Islam: Formen der Theokratie? In: Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich. Hrsg. von Kai Trampedach und Andreas Pečar. Tübingen: Mohr Siebeck. S. 251 – 278. Doren, Alfred (1927): Wunschräume und Wunschzeiten. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924 – 1925. Hrsg. von Fritz Saxl. Leipzig/Berlin: Teubner. S. 158 – 205. Encke, Julia / Meyer, Frank (2017): Die Kunstfigur Michel Houellebecq. „Man kann ihn nur aus der Distanz erkennen.“ Julia Encke im Gespräch mit Frank Meyer. In: Deutschlandfunk. 18. 12. 2017. Zitiert nach: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-kunstfigur-michelhouellebecq-man-kann-ihn-nur-aus-der.1270.de.html?dram:article_id=406311 [Abruf: 07. 07. 2019]. Gazzella, Marika (2017): Houellebecqs Roman Soumission. Wertungsprobleme zwischen Trivialund Höhenkammliteratur. In: Philologie im Netz 79. S. 1 – 30. Hennigfeld, Ursula (2019): La France sera islamiste? Dystopien der Freiheit bei Rufin, Houellebecq und Sansal. In: Liberté e(s)t choix. Verhandlungen von Freiheit in der französischen Literatur. Hrsg. von Sieglinde Borvitz und Yasmin Temelli. Berlin: Erich Schmidt. S. 251 – 273. Houellebecq, Michel (2015): Soumission. Paris: Flammarion. Joppke, Christian (2018): Der säkulare Staat auf dem Prüfstand. Religion und Politik in Europa und den USA. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Sonja Schuhmacher. Hamburg: Hamburger Edition HIS. Komorowska, Agnieszka (2016): „Mais c’est d’une ambiguité étrange“: die Rezeption von Michel Houellebecqs Roman „Soumission“ in Frankreich und Deutschland. In: Romanische Studien 3. S. 137 – 169. Leick, Roman (2015): Ich weiß nichts. In: Der Spiegel. 28. 02. 2015. Zitiert nach: https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-132040413.html [Abruf: 07. 07. 2019]. Leiß, Judith (2013): Gattungsgeschichte als Spirale. Die Heterotopie als Möglichkeit utopischen Schreibens in der Gegenwart. In: Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Günter Blamberger und Martin Roussel. Paderborn: Wilhelm Fink. S. 207 – 221. Nonnenmacher, Kai (2016): Unterwerfung als Konversion: Als-Ob-Bekehrungen zu Katholizismus und Islam bei Carrère und Houellebecq. In: Romanische Studien 3. S. 171 – 198. O. A. (2019): Krimibestenliste im Februar: Wer pleite ist, greift gerne nach Geld. In: Frankfurter Allgemeine. 31. 01. 2019. Zitiert nach: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ krimi/die-besten-krimis-im-februar-2019 - 16017967.html [Abruf: 07. 07. 2019]. Ritte, Jürgen (2016): Modernes Dandytum. Michel Houellebecqs Junggesellenroman Soumission. In: Lendemains: Etudes Comparées sur la France / Vergleichende Frankreichforschung (Lendemains) 41/162 – 163. S. 217 – 224. Sansal, Boualem (2015): 2084. La fin du monde. Paris: Gallimard. Schneider, Ulrike (2016): „Il n’y a pas de liberté sans une dose de provocation possible.“ Michel Houellebecqs Soumission oder: Die Widerständigkeit der Fiktion. In: Romanistisches Jahrbuch 67. S. 148 – 178. Schölderle, Thomas (2017a): Geschichte der Utopie. Eine Einführung. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Köln u. a.: Böhlau.
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Schölderle, Thomas (2017b): Thomas Morus und die Herausgeber – Wer schuf den Utopiebegriff? In: Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung. Festschrift für Richard Saage zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Alexander Amberger und Thomas Möbius. Wiesbaden: Springer. S. 17 – 44. Seeber, Hans-Ulrich (2013): Präventives statt konstruktives Handeln. Zu den Funktionen der Dystopie in der anglo-amerikanischen Literatur. In: Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Günter Blamberger und Martin Roussel. Paderborn: Wilhelm Fink. S. 185 – 205. Sick, Franziska (2016): Untergangsphantasien: Goll, Céline, Gracq, Houellebecq. In: Romanische Studien 4. S. 65 – 98. Simanowski, Roberto (2013): Utopien und Dystopien im Internet und die antiutopische Botschaft des Mediums. In: Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Günter Blamberger und Martin Roussel. Paderborn: Wilhelm Fink. S. 259 – 289. Topin, Tito (2017): L’Exil des mécréants. Paris: Manufacture De Livres. Topin, Tito (2018): Tanzt! Singt! Morgen wird es schlechter. Aus dem Französischen übersetzt von Katarina Grän. Heilbronn: Distel. Trampedach, Kai / Pečar, Andreas (2013): Einleitung. Theokratie und theokratischer Diskurs. In: Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich. Hrsg. von dens. Tübingen: Mohr Siebeck. S. 1 – 17. Udasmoro, Wening (2018): Othering and Selfing: Reading Gender Hierarchies and Social Categories in Michel Houellebecq’s Novel Soumission. In: Humaniora 30/1. S. 1 – 9. Voßkamp, Wilhelm (2013): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie der Gegenwart. Einleitung. In: Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Hrsg. von dems., Günter Blamberger und Martin Roussel. Paderborn: Wilhelm Fink. S. 13 – 30. Voßkamp, Wilhelm (2018): Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil. Berlin/Boston: De Gruyter.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Eva Mona Altmann studierte Literaturübersetzen (Diplom) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort war sie anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik tätig und promovierte sich mit einer Arbeit zu Das Unsagbare verschweigen. Holocaust-Literatur aus Täterperspektive. Eine interdisziplinäre Textanalyse. Helmut Brall-Tuchel ist Professor i. R. am Germanistischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Kurator diverser Ausstellungen, Lehrbeauftragter im Studiengang Transkulturalität und Präsident des Institutes für Internationale Kommunikation (IIK). Seine Forschungsgebiete sind die Literatur der höfischen Klassik, die geistliche Dichtung und die Reiseliteratur des Mittelalters und der Renaissance. Sein besonderes Interesse gilt interkulturellen Vorstellungen und Lebensformen: den Gestalten und Sinnbildern des Bösen, der Apokalypse, der Tier-Menschbeziehung, der Wallfahrt und dem Pilgerwesen sowie den Konzepten des Fremden und Wunderbaren. Roland Braun ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2015 promovierte er sich mit einer Arbeit zur Metaphysik und Methode bei Spinoza. Eine problemorientierte Darstellung der „Ethica ordine geometrico demonstrata“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der neuzeitlichen Philosophie, der Systemtheorie und der Kritischen Theorie. Efrat Gal-Ed ist außerplanmäßige Professorin an der Abteilung für Jiddistik des Instituts für Jüdische Studien der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2016 erschien ihre Monographie Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der modernen jiddischen Literatur sowie jüdischen Kulturgeschichte. Christoph Kann ist Professor für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte der Philosophie, insbesondere Antike und Mittelalter, der Erkenntnistheorie, Metaphysik und analytischen Sprachphilosophie. Er verfasste Monographien zur Logik des Mittelalters, zu A.N. Whitehead und zur Sprache der Philosophie. Luise Maslow studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2013 – 2014 war sie wissenschaftliche Hilfskraft an der Graphiksammlung „Mensch und Tod“ der HHU. Seit 2015 arbeitet sie an einem Dissertationsprojekt zum fürstlichen Dilettantismus in der Gartenkunst des 18. Jahrhunderts. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Geschichte der Gartenkunst, Kunst und Literatur des 18. Jahrhunderts und Ikonographie und Darstellungen des Todes. Sabrina Proschmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere Geschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf innerhalb des Forschungsprojektes Infrastrukturen, infrastrukturelle Zusammenarbeit und die Kontinuität in der europäischen Integration: Der Europäische Post- und Fernmeldeverein. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Europäischen Post- und Fernmeldeverein von 1942.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Nina Scheibel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2017 promovierte sie sich mit einer Arbeit zu Ambivalentes Erzählen – Ambivalenz erzählen. Studien zur Poetik des frühneuhochdeutschen Prosaromans. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Historischen Narratologie, Rhetorik und Poetik sowie Lyriktheorie. Volker Sliepen ist Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Von 2019 bis 2021 war er als Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Fachgruppe Mediävistik der Ruhr-Universität tätig. 2019 promovierte er sich an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einer Arbeit zu Struktur und Funktion religiöser Liebe im legendarischen Erzählen am Beispiel der Margareten- und Silvester-Legende. Dennis Sölch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf, wo er sich 2013 mit einer Arbeit zu Prozessphilosophien. Wirklichkeitskonzeptionen bei Alfred North Whitehead, Henri Bergson und William James promovierte. Er war 2016 „William James Scholar in Residence“ am William-James-Center der Universität Potsdam, ist Geschäftsführer der Deutschen Whitehead Gesellschaft und regelmäßiger Lehrbeauftragter an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seine Forschungsinteressen umfassen Prozessmetaphysik, Existenzphilosophie und die Geschichte der amerikanischen Philosophie. Monika Steffens ist Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2016 organisierte sie gemeinsam mit Christoph Kann und Friedrich Karl Unterweg die Jubiläumsausstellung Reif für die Insel? – 500 Jahre Utopia in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Sie ist Herausgeberin des gleichnamigen Ausstellungskataloges. Zudem arbeitet sie an einer Dissertation zu Platons politischer Philosophie. Oliver Victor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. 2020 promovierte er sich mit einer Studie zu Kierkegaard und Nietzsche. Initialfiguren und Hauptmotive der Existenzphilosophie. Seine Forschungs- und Interessensgebiete liegen insbesondere in der Existenzphilosophie und im französischen Existenzialismus, der Geschichte der Philosophie (mit besonderem Schwerpunkt auf der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts), der Anthropologie und der Philosophie des Alter(n)s. Laura Weiß war von 2017 bis Ende 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in der Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters, Literatur des Hochmittelalters, Kulturtransferforschung sowie im Bereich der Kulturellen Grundlagen Europas. Seit Januar 2020 ist Laura Weiß als Referentin im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen tätig. Tim Willmann studierte Germanistik, Philosophie und Jüdische Studien im Bachelor und schloss daran ein konsekutives Masterstudium in Germanistik und Philosophie an. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Abteilung Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zurzeit arbeitet er an einem Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel Poetische Philosophie – philosophische Poesie. Hölderlins späte Gesänge in Differenzlektüren.
Personenregister Adorno, Theodor W. 26 Aegidius, Petrus 87 Agamben, Giorgio 83 Albrecht, G.E.F. 215 Albrecht von Scharfenberg 41 Alexander III. (Papst) 40 Alten vom Berge 38 f. Apollinaire, Guillaume 20 f. Aristoteles 17, 88 f., 100, 108, 180 Asholt, Wolfgang 229, 236 Äsop 131 Augustinus, Aurelius 4, 13 – 20, 22 – 26, 33 f. Bachmann, Erich 125 Baudelaire, Charles 185 Bayreuth, Wilhelmine von 7, 124 – 134, 136, 139 Bedszent, Gerd 231 f. Benjamin, Walter 73 Béreiziat-Lang, Stephanie 232 Bergson, Henri 22 Bloch, Ernst 32 f., 69 f. Blumenberg, Hans 13 Brandenburg, Friedrich Wilhelm von 132 Brandenburg, Sophie Charlotte von 132 Brandenburg-Bayreuth, Elisabeth Friederike Sophie von 128 Brendan 34 Breton, André 21, 24 Cabet, Étienne 107 Campanella, Tommaso 39 Camus, Albert 33 Chandler, Raymond 231 Charney, Daniel 198 f. Conway, John Horton 21
Fichte, Johann Gottlieb 150 Field, John 176 – 178 Flavius Josephus 227 Foucault, Michel 3, 123 Fourier, Charles 107 Frank, Manfred 150 f., 159 Freud, Sigmund 22 Freund, Julien 107 Friedrich der Große 132 Gabriel, Gottfried 222 Goethe, Johann Wolfgang von Göldner, Markus 212, 222 Gonell, William 100 Gottfried von Straßburg 73 Grän, Katarina 231 Grinberg, Uri Zvi 9, 185 f.
202
Hammerschmidt, Albert 212 Hansen, Frank-Peter 150 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 150, 156 Hartmann, Heiko 70 Hartmann von Aue 80 Hedenus, Markus Friedrich 131 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 26, 149 f. Heidegger, Martin 164 Heinrich, Hans Peter 100 Hennigfeld, Ursula 233, 236 Hobbes, Thomas 115 – 117 Höffe, Otfried 20 Hogrebe, Wolfram 21 – 26 Hölderlin, Friedrich 8, 149 f., 156 f., 160 f. Homer 133 Horkheimer, Max 70 Horn, Christoph 17, 20 Houellebecq, Michel 11, 225, 228 f., 232 f., 235, 237 f.
Doren, Alfred 70 Emerson, Ralph Waldo 167 f. Enfantin, Barthélemy 107
Jesus Christus 15 f., 35, 40, 63, 72 f., 75 – 77, 80 – 83 Joachim von Fiore 32
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Personenregister
Johannes Scotus Eriugena 22, 26, 32 Judas Iskariot 35, 72 f., 78 – 82 Kant, Immanuel 118, 150, 152 – 154, 159 f. Kiening, Christian 73 Konersmann, Ralf 21 – 23 Koselleck, Reinhart 109 Kreuzer, Johann 161 Kröll, Joachim 127 Kulbak, Moyshe 197 La Fontaine, Jean de 131 Landauer, Gustav 69 Lagendijk, Vincent 213 Larrey, Isaac de 132 Le Pen, Marine 229 Leiß, Judith 226 Ludwig XIV. 132 Luhmann, Niklas 109, 114
Niger, Shmuel 187 f., 197 f., 200 – 203 Nipperdey, Thomas 107 f., 138 Nonnenmacher, Kai 236 Ödipus 80 f. Odorico von Pordenone 38, 41 Odysseus 132, 134 Olschki, Leonardo 43 Opatoshu, Yoysef 203 f. Otto von Freising 40 Ovid 133 Parsons, Talcott 114 Penning, Dieter 24 – 26 Peretz, Yitskhok Leybush 189 f., 201, 204 Petrarca, Francesco 33 Pfeiffer, Gerhard 126 Pinski, Dovid 197 Pispers, Volker 103 Platon 1, 9, 88 – 90, 107, 129, 133, 163 f., 166, 179 Plotin 22, 25 Pöggeler, Otto 150 Polo, Marco 38, 41 Polybios 108 Pontius Pilatus 72 – 78, 80 Price, Simon 14 Priesterkönig Johannes 5, 39 – 43, 71
Maccoby, Hyam 78 Machiavelli, Niccolò 108 Mandeville, Bernard de 108 Manger, Itzik 204 Mannheim, Karl 32, 69 Marcuse, Herbert 169, 178 Maria 72 Mark, Yudl 198 Markish, Perets 191 f., 195, 204 Matheron, Alexandre 110 Matthias 78, 82 Maupassant, Guy de 24 Meisel, Nakhmen 193 f., 197, 200, 202 f. Mohl, Robert von 105 Morus, Margaret 100 Morus, Thomas 1 f., 4, 6 f., 11, 29, 39, 69, 87 f., 91, 94, 96, 100, 102, 106 f., 112, 123, 129, 225 Moses 79, 83 Mothe-Fénelon, François Salginac de la 7, 124, 127, 132 – 136
Ratzinger, Joseph 20 Ravitch, Melech 194 – 197, 204 Renner, Karl 195 Röcke, Werner 70 Rosenzweig, Franz 149 Roth, Stefanie 156 Rötzel, Werner 212 Rousseau, Jean-Jacques 124, 167 Rupert von Deutz 32
Nadir, Moyshe 204 Nerval, Gérard de 24 Neusüß, Arnhelm 70 Niebuhr, Reinhold 19 f. Nietzsche, Friedrich 23, 167
Sade, Donatien Alphonse François de 114 Sansal, Boualem 238 Sartre, Jean-Paul 235 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 149 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich 150, 156
Queen Elizabeth 221 Quisling, Vidkun 214
Personenregister
Schölderle, Thomas 69 f., 226 f. Schot, Johan 213 Seele, Peter 13 Segalovitsh, Zusman 197 Seghers, Anna 231 Sick, Franziska 236 Smolarski, Pierre 222 Spinoza, Baruch de 7, 105 – 108, 110 – 119 Strauss, Leo 113 Taubmann, Friedrich 132 Terpstra, Marin 117 f. Thales von Milet 163 Therien, Alek 179 f. Thonemann, Peter 14 Thoreau, Henry David 9, 168 – 182
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Tillich, Paul 18 Tomasek, Tomas 70 – 72, 80 Topin, Tito 11, 225, 230 – 238 Vergil
112, 130, 133
Wagner, Hans 23 Warburg, Aby 211 Wirnt von Grafenberg 38 Wittkower, Rudolf 42 Wolfram von Eschenbach 5, 38, 41, 47 – 51, 66 Württemberg, Carl Eugen von 128, 131 Zhitlowsky, Khayim 188 – 190, 201