Zukunftspädagogik: Utopien, Ideale, Möglichkeiten [Reprint 2018 ed.] 9783111600581, 9783111225494


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German Pages 273 [276] Year 1904

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Inhaltsübersicht
Einleitung
Erster Teil. Literarischer Umblick
Zweiter Teil. Praktische Ausblicke
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Zukunftspädagogik: Utopien, Ideale, Möglichkeiten [Reprint 2018 ed.]
 9783111600581, 9783111225494

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Zukunftspädagogik *

Utopien, Ideale, Möglichkeiten

Von

Wilhelm Münch

Berlin Druck und Verlag von Georg Reimer

Inhaltsübersicht. Seite

Einleitung......................................................................................... Erster Teil: Literarischer Umblick.

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1. Das Jahrhundert des Kindes, von Ellen Key ... 7 2. Entwurf eines Unterrichtsplanes auf psychologischer Grundlage, von Paul Lacombe....................................... 42 3. Bemerkungen über Erziehung, von Pierre de Coubertin 59 4. Die neue Erziehung, von Edouard Demolins : . . . 74 5. Schule und Gesellschaft, von John Dewey................. 86 6. Die Erziehung der deutschen Jugend, von Paul Gübfeldt.......................................................................................... 95 7. Die neue deutsche Schule, von Hugo Göring .... 103 8. Der Deutsche und sein Vaterland, von Ludwig Gurlitt 109 9. Emlohstobba, von Hermann Lietz...................................... 115 10. Volksschulen, höhere Schulen und Universitäten, von Julius Baumann.................................................................... 128 11. Deutsche Erziehung, von Fritz Schultze..............................132 12. Sozialpädagogik, von Paul Natorp.................................. 134 13. System der Pädagogik im Grundriß, von Adolf Döring 138 14. Soziale Pädagogik auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage, von Paul Bergemann...................................... 140 15. Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend, von Georg Kerschensteiner ........................................................... 143 16. Erziehung und Erzieher, von Rudolf Lehmann ... 148 17. Ergänzende Bemerkungen....................................................... 152

IV

Inhaltsübersicht.

Zweiter Teil: Praktische Ausblicke. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

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Allgemeine Kennzeichnung und Stellungnahme ... 154 Das Recht der Selbstentfaltung......................................... 158 Die Bedeutung der Lebenssphäre.....................................178 Wandlung unseres Bildungsideals. Verhältnis von Inhalt und Form................................................................. 188 Der intellektualistische Charakter unseres Bildungs­ ideals ......................................................................................191 Der universalistische Charakter unseres Bildungsideals 199 Der transszendente Charakter unseres Bildungsideals 207 Die Zukunft des Humanismus.........................................213 Die Stellung der Kunst im künftigen Erziehungsplan 225 Weibliche Bildung.................................................................238 Lehrerbildung. Universitätserziehung............................ 247 Aufgaben der Schulverwaltung. Zeitbedingungen. . 260

Einleitung. Ter Name Zukunstspädagogik mag die Vorstellung er­ wecken, es solle hier nur spottend gewisser Träume von künftiger Erziehung gedacht werden. 9hm hat ja der Spott, welcher sich einst an die Bezeichnung „Zukunftsmusik" heftete, nicht gehindert, daß die so bezeichnete Kunst sich eine Gegenwart eroberte. Aber allerdings ist der Name im Gebrauch geblieben für allerlei vages Versprechen nnd Erwarten dessen, was sein sollte oder werden soll. Und utopische Zukunftsbilder lassen sich auf dem pädago­ gischen Gebiet in der Gegenwart so wenig vermissen wie in der Vergangenheit. Gleichwohl soll der gewählte Titel hier keineswegs bloß Abwehr des Erträumten und Unmög­ lichen bedeuten. Aber ebensowenig wie um spottende Abwehr handelt es sich um etwas wie prophetische Ankündigung. Ein ganz bestimmtes, wo möglich schneidiges Zukunftsprogramm den mancherlei dargebotenen hinzuzufügen, dünkt mich nicht be­ sonders verdienstlich. Doch das Ohr zu verschließen gegen allerlei Stimmen, die ringsum laut werden, scheint mir auch dann nicht recht, wenn diese Stimmen vielmehr aufregend wirken als wohltuend. Am wenigsten wird es da nahe Münch, Zukunstspädagogik.

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Einleitung.

liegen, wo im eigenen Innern sich Stimmen von ähnlichem Klang vernehmen lassen. Eine vollständige Umschau freilich über das, was von der Erziehung in Zukunft anders gefordert wird, als es jetzt geübt zu werden pflegt, kann unmöglich versucht werden. Un­ möglich in einer Zeit, wo fast jedes Tageblatt seinen Le­ sern gelegentlich oder regelmäßig pädagogische Beiträge bietet, um von der unübersehbaren Literatur der Fachleute selbst zu schweigen. Hier soll vielmehr zunächst nur eine Reihe origineller Vorschläge aus neuer (nicht schlechthin neuester) Zeit beleuchtet werden, bei deren Auswahl und Abgrenzung der Zufall mitgespielt hat, die im ganzen aber wohl allen eigentümlichen Bestrebungen der Gegenwart Aus­ druck geben. Die Abfolge ist nicht etwa die der Zeit, eher die, daß das Kühnste, Radikalste vorangeht und allmählich das Maßvolle und Praktischere zu Worte kommt. Be­ leuchtet allerdings ist das Einzelne großenteils weniger als nur gesichtet, zusammengedrängt und in die Sprache des Berichterstatters umgesetzt, nicht aus Willkür, sondern um es besser überschauen zu lassen. Wenn der Besprechung fremder Schriften eine Reihe eigener Betrachtungen angeschlossen ist, so ist das Verhältnis zwischen jener Reihe und dieser nur ein loses; die Betrach­ tungen sind nicht etwa im ganzen erst durch jene Schriften hervorgerufen worden, sondern sind ihrem wesentlichen Ge­ dankeninhalt nach älter*), aber zu dieser neuen Gestaltung haben allerdings jene Schriften Anregung gegeben. Anzu*) Auf Abschnitte meiner „Neuen Pädagogischen Beiträge" von 1893, die Schrift „Zeiterscheinungen und Unterrichtsfragen" von 1895, den Aufsatz „Einige Gedanken über die Zukunft unseres höheren Schulwesens" von 1898 und weitere Veröffentlichungen hätte ich hier hinzuweisen.

Einleitung.

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regen, das ist denn auch die Bestimmung der ganzen gegen* wärtigen Veröffentlichung; zum Mitdenken über die sich öffnenden (zum Teil auch schon längst offenen) Fragen soll eingeladen und zur Klärung der Probleme mitgewirkt werden. Der Sachkundige wird eben vielfach da erst Probleme sehen, wo dem Unbefangenen die Lösung bereits auf der Hand zu liegen scheint. Der Erfahrene weiß auch, daß selbst gut­ geheißene neue Forderungen in der Wirklichkeit meist nur allmählich und stufenweise sich durchsetzen können, und min­ destens bei uns in Deutschland ist die Vorsicht gegenüber neuen Versuchen größer als der Mut zu irgendwie kühnerer Umgestaltung. Daß unsere eigenen Betrachtungen sich wesentlich dem Gebiet der öffentlichen Schulerziehung zuwenden und aus­ drücklich die heimischen Verhältnisse zum Ausgang nehmen, bedeutet eine weitere Bescheidung, die aber wohl keiner be­ sonderen Rechtfertigung bedarf. Eher mag man Rechen­ schaft dafür fordern, daß hier überhaupt allerlei Schriften von stark revolutionärem Charakter durch Darlegung ihres Inhalts anerkannt und gewissermaßen gefördert werden. Sicher wird man zum Teil darin zu viel Toleranz und Emp­ fänglichkeit sehen. Betonen doch unsere praktischen Schul­ männer gegenwärtig weithin das Bedürfnis nach einer Pe­ riode der Stetigkeit in den erzieherischen Einrichtungen, damit sie sich in die bestimmten Aufgaben einleben können und die Früchte zur Reife kommen sehen. Nun ist die Ab­ sicht in dem unten Folgenden nicht sowohl auf Umkehrung, als auf innere Fortbildung gerichtet. Aber es muß doch auch grundsätzlich der Standpunkt angefochten werden, als ob jede tiefergreifende Änderung an vertrauten Einrichtungen und Gepflogenheiten von vornherein mit Mißmut oder Geringschätzung abgewiesen werden dürfe, als ob man so-

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Einleitung.

gleich Ausgeburten menschlicher Tollheit in dem zu sehen habe, was durch Unbefangenheit des Standpunkts überrascht, auch als ob auf „Dilettanten" zu hören von vornherein unwürdig sei. Das Gebiet der Erziehung ist doch kein solches, auf dem das Mitdenken irgend einem Kreise derjenigen verwehrt werden könnte, die überhaupt zu denken vermögen, und be­ lebende Anregungen von außen her hat die pädagogische Berufswelt in der Vergangenheit oft genug empfangen. Von jedem originellen Einfall sich gewinnen, von jeder zufälligen Strömung sich fortreißen zu lassen, mag Schwäche sein; aber sich von vornherein in sein Fachverständnis zu hüllen, ist noch keine Stärke, ist jedenfalls unweise — ganz abgesehen von den vielen Fällen, wo es unberechtigt ist, da das Fach­ verständnis oft nur Vertrautheit mit technischen Normen oder übernommenen Theorien ist. Die Aufgabe der Erziehung ist an sich unendlich, ihre Bedingungen unvergleichlich kom­ pliziert und keineswegs stetig; das Denken darüber kann nicht zu irgend einer Zeit zum Schweigen verurteilt werden. Bleibt etwa die Menschheit so völlig die gleiche nach ihren Lebensbedingungen und Bedürfnissen, vortretenden Eigen­ schaften und Kräften, Schichten und Zuständen, daß für die Erziehung der hinzuwachsenden Geschlechter kein Wandel in Frage käme? Ist nicht alle Kulturbewegung irgendwie ein­ seitig, sodaß Reaktionen immer wieder nötig werden? Ver­ bindet vielleicht gegenwärtig eine schöne Klarheit über Ziele und Wege die verschiedenen zur Erziehung Berufenen, Eltern, Lehrer, Miterzieher, oder jede dieser Gruppen unter sich? So begreiflich der Wunsch nach Ruhe und Beharren bei den praktischen Fachleuten ist, man darf doch nicht vergessen, daß lange Zeiten hindurch auch zu viel Ruhe, Selbstzufrieden­ heit und Unbeweglichkeit geherrscht hat. Es ist in päda-

Einleitung.

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gogischen Dingen immer viel mehr problematisch als die meisten glauben. Mag man also große Unlust empfinden, solchen Stimmen sein Ohr zu leihen, die durch schrillen Ton, durch leiden­ schaftliche Heftigkeit, durch ungerecht schroffe Kritik wehe tun, und bei Forderungen zu verweilen, die durch Maßlosig­ keit und Einseitigkeit, durch Willkür oder unerträgliche Kon­ sequenzen abstoßen: besser ist es doch, den Unmut zu über­ winden und auch unangenehmen Gegnern ordentlich ins Gesicht zu schauen. Und daß man auch aus unbilliger Kritik wertvolle Anregungen entnehmen kann, wird sich immer wieder bewähren. Es ist aber zum Aufmerken um so mehr Anlaß, je mehr sich gewisse Forderungen verdichten und je bestimmter sich zwischen allem wirr durcheinander Klingenden gewisse gleichartige Töne vernehmen lassen. Im einzelnen freilich strebt das neu Hervortretende vielfach nach verschiedenen Richtungen auseinander, und auch schlechthin neu kann genau genommen nur weniges genannt werden; im Gegenteil, die jetzigen Forderungen fallen, ohne daß es den Verfassern selbst bekannt ist, großenteils völlig zusammen mit solchen, wie sie vor hundert und mehr Jahren erhoben worden sind.*) Jedenfalls aber reihen sich an solche Äußerungen, die wesentlich aus einem leidenschaftlichen Ge*) Ties teils von den Vertretern der Philanthropine, teils schon von Rousseau, teils aber auch von den verschiedensten pädagogischen Theoretikern der Zeit um 1800, sei es E. M. Arndt in seinen Frag­ menten über Menschenbildung, oder Jean Paul in der Levana, oder Organisationstheoretiker wie der Franzose Condorcel oder der Süd­ deutsche Stephani, oder auch Schleiermacher, oder hochfliegende Geister wie Fichte oder tiefsuchende wie Pestalozzi: so ziemlich für jede der jetzt erhobenen Forderungen könnte die frühere Vertretung aufge­ zeigt werden.

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Einleitung.

fühl oder aus einseitigem Gedankengang oder unzulänglichem Beobachtungskreis hervorgegangen sind und die darum als dilettantisch empfunden werden mögen, doch auch solche, deren Urheber als Denker vom Fach anerkannt werden müssen. Und mit alledem soll unsere „Zukunstspädagogik" weder im nebelhaft Fragwürdigen stecken bleiben, noch die besonnene Fortbildung des Bestehenden durchkreuzen, diese vielmehr finden und fördern helfen.

Erster Teil. Literarischer Umblick, l. Die Schwedin Ellen Key ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten unter den schriftstellernden Frauen der Gegen­ wart. Sie hat in den als „Jahrhundert des Kindes" zum Buche vereinigten Studien (deutsch von Francis Maro, Berlin 1902, S. Fischer) das pädagogische Gebiet betreten, wie sie sich zu anderer Zeit über andere wichtige Gebiete unseres Kulturlebens hat vernehmen lassen, immer unerbitt­ lich vordringend, unabhängig suchend, begeistert predigend. Gewissen mächtigen Strömungen der Gegenwart stemmt sie sich entgegen, mit andern geht ihre ganze Seele, treibend noch mehr als getrieben, mit leuchtendem Blick auf neue Ideale. Und manchmal erscheint sie zugleich — es braucht das kein Beweis von Unklarheit oder Willkür zu sein — reaktionär und revolutionär, das eine so entschieden, so leidenschaftlich wie das andere. Das ist eben das Recht der selbständigsten Geister, der sichersten Persönlichkeiten. Was den Körpern im Raume unmöglich wäre, zugleich sich vorwärts zu bewegen und zurück, den freieren Bahnen des Geistes, für den es nicht „drei Dimensionen" gibt, ist solche Bewegung vergönnt; vielleicht muß jedem gesunden Fort-

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Erster Teil.

Literarischer Umblick.

schrittsanspruch ein Maß von rückwärtsziehender Kraft bei­ gemischt sein, denn die natürliche Entwicklung der Dinge ist immer zugleich Auflösung und Neubildung, sodaß die bewußte Weiterbildung vielfach auch Restitution muß sein wollen. Ob das Zusammenbiegen zweier entgegengesetzter Enden leicht gelingen wird, ist eine andere Frage: aber tatsächlich haben die meisten Revolutionen zugleich oder zunächst Restitutionen sein wollen. So also steht die Verfasserin unseres Buches zu dem Gebiet unserer Erziehungsfragen. Rückwärts, weit, weit rückwärts, zum Natürlichen und Gesunden, von dem sich die gesamte Entwicklung unsinnig und frevelhaft entfernt habe, und vorwärts, aufwärts in fo luftige Höhen, wie man nur im Traume sie bewohnt und durchwandelt. Wie hundert­ faches Echo Rousseaus Predigt seinerzeit gefunden hat und nun auch in veränderter Zeit zu finden scheint, schwerlich ist sie irgendwo fo kräftig von neuem laut geworden wie in diesem Buche; ebenso stammend die Sprache, so trotzig der Ansturm, so scharf zugespitzt die Urteile, so rücksichtslos die Neuforderungen — rücksichtslos auch gegenüber dem Menschen­ möglichen. Aber andererseits doch auch zum großen Teil ganz abweichende Grundanschauungen, ganz veränderte Le­ bensstimmung, eine andere Welt der Gefühle, ein anderer Untergrund von Erfahrungen. Und in der Tat viel breitere, reichere Erfahrungen, eine weit innerlichere Berührung mit der Jugend, ein volleres Herz und sehr viel weniger persön­ liche Tendenz. Natürlich auch nicht just so viel Originalität; denn auch auf dem Gebiet der pädagogischen Proteste ist nun so ziemlich „alles Gescheite schon gedacht worden", und bei manchen Stellen ahnt unsere Schriftstellerin nicht, wie oft das von ihr Gesagte schon vorher ausgesprochen und vielleicht sehr gründlich erörtert worden ist.

Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes.

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Vor allem aber ist sie doch von großen geistigen Strö­ mungen der Zeit ergriffen, so voll ergriffen, so reißend fort­ gezogen, wie nicht viele sonstige Zeitgenossen. Darwin und die Evolutionslehre von der einen Seite, Nietzsche und das Bild des Übermenschen von der andern (d. h. hier nicht der entgegengesetzten Seite, denn zwischen Darwin und Nietzsche ist ein sehr verständlicher Zusammenhang), diese beiden haben der Verfasserin die treibenden Grundgedanken eingegeben; diesen Lehren hängt sie mit einer Glaubensfreude an, wie ein Mann es nicht leicht tun wird, wie denn die Frauen — so sehr sie zurzeit die geistige Eigenart des Geschlechts abtun möchten, die Vorzüge samt den Schranken — dennoch auch nach ihrem geistigen Leben innerhalb ihrer Natur zu bleiben pflegen, unbedingter in Ablehnung und Hingabe, unzugänglich allem Zweifel auf dem Standpunkt, wohin sie etwa durch jähen Zweifel gelangt sind, unmutig über jedes Bedenken gegenüber einem beglückenden neuen Glauben, bitter hassend da, wo sie glühend sich begeistern, maßlos verachtend, wenn sie gläubig bewundern. Man muß es immer schwer finden, sich mit Frauen dieses Gepräges per­ sönlich zu verständigen, denen Ruhe und Maß zu fern liegt, die bei höchster Schärfe des Blicks und reifster Entwicklung des Geistes doch von der Natur oder Stimmung des Kindes zu viel bewahrt haben, für die Männer, denen sie im gei­ stigen Kampfe folgen, zugleich antreibend, belebend, befeuernd, aber eben doch auch auf diesem Felde mehr zur Rolle der „Gehülfinnen" berufen als zu neuer Zielsetzung und ruhig selbständigem Einherschreiten. Und gerade das germanische Nordland, von dem aus in den letzten Jahrzehnten so manche überraschende Proteste über unsere Kulturwelt hinsiammten, scheint Frauen mit leidettschaftlichem Trotz nicht minder her­ vorgehen zu lassen wie Männer, oder Frauen von solchem

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Erster Teil.

Literarischer Umblick.

Fühlen heute nicht minder als zu den Zeiten, von denen die Edda Kunde gibt. Ein Buch wie das von Ellen Key findet seiner Natur nach zumeist entweder begeisterte oder völlig abweisende Be­ urteilung: seiner — oder vielmehr der Natur der Leserschaft nach. Entweder von den kühnen Gedanken, den leuchtenden neuen Zielen mit ergriffen oder doch von der Unbedingtheit der Urteile ganz überzeugt zu werden, oder aber von all dem Maßlosen und Negativen, dem Uberkühnen, Unmöglichen, Ge­ träumten sich achselzuckend abzuwenden, auch wohl von der weit­ getriebenen Emanzipation abgestoßen zu werden: das ist das Natürliche für einen Teil des Publikums und für einen andern. Es muß gleichwohl möglich sein, den Wert des Werkes in Ruhe zu wägen, und der Versuch soll im folgenden gemacht werden. Viel Verwirrung und Schaden könnte von einer falschen Würdigung ausgehen, und doch auch viel schätzbare Anregung versäumt werden bei engherziger Ver­ dammung. Daß die Verfasserin Idealen des neuen Sozia­ lismus anhängt, wird heutzutage vielleicht nur wenige von vornherein zu ihren Feinden machen, aber selbst daß sie dem Christentum sich rückhaltlos feindselig zeigt, soll uns nicht zum Verschließen der Ohren veranlassen, zumal das Christen­ tum so manche „Freunde" hat, die ihm weit nachteiliger sind als derartige Feinde; über die neue Predigt von der freien Ehe mag man als einen Traum der Verstimmung hinwegsehen angesichts des wirklich Guten und Schönen, was sonst gefühlt und gesagt wird. Wenn der erste der Aufsätze den barocken Titel führt: „Das Recht des Kindes, seine Eltern selbst zu wählen", so ist das doch nur Einkleidung eines einfachen und ernsten Ge­ dankens, nämlich daß auch dem ungeborenen Kinde gegen­ über eine tiefe Verantwortung der Eltern nicht verkannt

Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes.

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werden sollte, und daß eine Verbindung der letzteren in körperlicher Gesundheit und in veredelnder Liebe eigentlich die Voraussetzung sein müsse, wenn sie jene Verantwortung tragen wollen. Aber damit ist freilich nur der einfache oder sagen wir sogleich der gesunde Kern aus den erhobe­ nen Forderungen und Behauptungen herausgeschält: diese selbst gehen sehr energisch ein auf die physische Seite und schwingen sich auch sehr frei hinaus über alle gegenwärtige Wirklichkeit. Die „zentrale Gesellschaftsaufgabe, um die alle Sitten und Gesetze, alle gesellschaftlichen Einrichtungen sich gruppieren", soll das nachwachsende Geschlecht bilden, „seine Entstehung, seine Pflege, seine Erziehung, es soll den Gesichtspunkt bilden, aus dem man alle anderen Fragen be­ urteilen, alle andern Entschlüsse fassen wird". Eben auch seine Entstehung: „die ganze Menschheit soll zu dem Bewußtsein der Heiligkeit der Generation erwachen". Die Rolle der Sinnlichkeit auch innerhalb der Ehe soll durch idealere Re­ gungen kontrolliert werden; „erotischer Idealismus" soll zur Herrschaft kommen, die Sinnlichkeit zur Liebe erhöht werden, in dem „erotischen Glücksgefühle" sollen andere Momente als die Anziehung der Sinne ihre Bedeutung haben. Man kann sich mit einem gewissen Erstaunen fragen, in welcher Gesellschaftssphäre, in welchem Kulturlande, unter welchem Himmelsstrich die Verfasserin ihre Kenntnis der Wirklichkeit erworben hat, da sie erst fordert, was doch gerade bei ger­ manischen Völkern von je als das Normale gelten durfte. Indessen handelt es sich ihr nicht sowohl um diesen Punkt an sich, als um die Bedeutung des elterlichen Verhältnisses in physisch-psychischer Hinsicht für das Kind. Und da ist ihr denn in der Tat seelische Anziehung mit sinnlicher Ge­ sundheit so sehr allein wichtig, daß die Einrichtung der Ehe dagegen fast alle Bedeutung verliert. Die Ehe ist „nur eine

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Erster Teil.

Literarischer Umblick.

zufällige soziale Form des Zusammenlebens zweier Menschen, das ethisch Entscheidende aber die Art des Zusammenlebens". Die richtige Gesinnung zwischen den Geschlechtern wird ebenso gut außerhalb wie innerhalb der Ehe möglich ge­ funden. „Viele fromme und ernste Menschen ziehen nun für ihr Zusammenleben die freiere Form als die sittlichere vor." Trifft das wirklich schon für „viele fromme und ernste Menschen" der Gegenwart zu? und in welchem Lande? Daß man einen Unterschied aufrecht erhält zwischen ehelichen Kindern und „Kindern der Sünde", erweckt den lebhaften Zorn der Schriftstellerin. Namentlich ist ihr „jede Mutter­ schaft heilig, wenn sie durch ein tiefes Liebesgefühl veranlaßt war und tiefe Pflichtgefühle hervorgerufen hat". Daß auf diesem Gebiete die herrschenden Anschauungen von häßlicher Härte, oft von schwer verantwortlicher Grausamkeit sind, muß man entschieden zugeben; die Konsequenzen der Ver­ fasserin mögen ihr überlassen bleiben. Was nach ihrer Überzeugung statt dessen außerordentlich erhöht werden muß, ist die Verantwortung für die Entstehung einer physisch minderwertigen Nachkommenschaft. „Das Zusammenleben zwischen Mann und Weib ist unsittlich nur, wenn es Anlaß zu schlechter Nachkommenschaft gibt". „Es bedarf des Auf­ räumens mit veralteten Rechtsbegriffen, die wohl einmal ihre Ausgabe als Erzieher zur Sittlichkeit erfüllt haben, jetzt aber der höheren Sittlichkeit im Wege stehn". Daß ein reiner Stammbaum in einem neuen Sinne des Wortes ebenso wichtig für die Ehen der Zukunft werde, wie für die des Adels in früheren Tagen, wird gehofft. Gegen frühe Heiraten wird die Gesetzgebung aufgerufen. Die zehn Gebote für das Zusammenleben in der Ehe „sind nicht vom Religionsstifter, sondern vom Naturforscher zu schreiben". Schlechte Menschenexemplare müssen durch sehr strenge Maß-

Ellen Key, Tas Jahrhundert des Kindes.

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nahmen verhindert werden, ihre Laster, Krankheit oder Schwäche fortzupflanzen. „Des Menschen Geist schwebt nun über den Tiefen und wird allmählich eine neue Schöpfung aus ihnen hervorrufen" (!). Dazu aber muß die Menschheit „die christliche Lebensanschauung verlassen"! Sie muß die­ jenige annehmen, „deren Sieg das soeben vollendete Jahr­ hundert geschaut hat". Der Entwicklungsgedanke wirft Licht auf alles. Man weiß nun, daß der Mensch imstande ist, sich zu erneuen. „Anstatt eines gefallenen Menschen sieht man einen unvollendeten, aus dem durch unzählige Modi­ fikationen in einem unendlichen Zeitraum ein neues Wesen werden kann." Wer heute erklärt, die Menschennatur bleibe sich immer gleich, steht auf derselben Höhe „wie z. B. ein Ichthyosaurus der Juraperiode, der vermutlich auch nicht den Menschen als eine Zukunftsmöglichkeit ahnte"! Es muß also die künftige Entwicklung in solcher Weise beeinflußt werden, „daß sie einen höheren Typus Mensch hervorbringt". Die Kultur soll den Menschen zielbewußt und verantwort­ lich machen auf allen Gebieten, auf welchen er bisher nur impulsiv und unverantwortlich gehandelt hat. Tie natur­ wissenschaftliche Anschauung muß die Menschheit durch­ dringen: dann kann die Bedeutung des Körperlichen wieder erkannt werden. Die ganze antike Liebe zu der Stärke und Schönheit des eigenen Körpers müssen wir wieder erlangen, die ganze antike Ehrfurcht vor der Göttlichkeit der Fort­ pflanzung, vereint mit dem ganzen modernen Bewußtsein von dem seelenvollen Glück der idealen Liebe. „Mann und Weib werden dann wieder vereint und veredelt Eros den Allherrscher anbeten." „Das antike Gefühl für den Herd als einen Altar, für das Liebesleben als einen Gottesdienst" sehnt die Verfasserin zurück. Das Menschengeschlecht soll allmählich „von den Atavismen befreit werden, die vorher-

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Erster Teil.

Literarischer Umblick.

gehende niedrigere Entwicklungsstufen reproduzieren". Jetzt müßten „in den meisten Fällen die Eltern ihre Kinder für deren Dasein um Verzeihung bitten". Mit dem zweiten der Aufsätze „Das ungeborene Ge­ schlecht und die Frauenarbeit" haben wir uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Indem die Verfasserin gegen die heutigen Frauenrechtlerinnen Stellung nimmt, zeigt sie, die sonst so Fortschrittliche, die Selbständigkeit ihres Stand­ punkts, und sicher ist beherzigenswert, was sie am Schlüsse sagt, nämlich „daß es sich an den Individuen, an der Na­ tion, an der Rasse schließlich rächt, wenn die Frauen all­ mählich die innerste Lebenskraft ihres physischen und psychischen Wesens, die Kraft der Mütterlichkeit, zerstören". Der dritte Aufsatz führt den einfachen Titel „Erziehung", und aus ihm vor allem sind die psychologisch-pädagogischen Grundanschauungen der Schriftstellerin zu entnehmen. Im Mittelpunkt steht der große und zuversichtliche Glaube an die Kraft der Selbstentfaltung im Kinde. Und fast alles, was sie in der wirklichen Welt rings um sich von erziehe­ rischen Gepflogenheiten gewahrt, widerspricht dieser Grund­ anschauung und verletzt die natürlichen Rechte und Normen. Rousseaus bekanntes Wort, das Erste, was die Erziehung zu tun habe, sei, zu verhindern, daß etwas getan werde, kehrt hier in allerlei Wendungen wieder. „Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Verbrechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind." „Man sollte endlich einsehen, daß das größte Geheimnis der Erziehung gerade darin verborgen liegt, nicht zu erziehen." „Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen, daß die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das ist Erziehung." „Das eigene Wesen des Kindes zu unterdrücken und es mit dem anderer zu über-

Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes.

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füllen, ist noch immer das pädagogische Verbrechen." Man soll dem Kinde eine schöne Welt schaffen, in der es wachsen kann, soll es darin sich frei bewegen lassen, bis es an die unerschütterliche Grenze des Rechtes anderer anstößt. Und das freilich kann denn als die zweite wichtige Forderung betrachtet werden, die als positive zu jener ersten negativen hinzutritt, ja dieser erst eine vernünftige Gründung gibt: die Gestaltung der Lebenssphäre, der Umgebung mit Sachen und Personen. In Wirklichkeit wird sich diese Gestaltung der Lebenssphäre, in der das Kind aufwächst, fast immer mächtiger erweisen als das ganze System bestimmter, be­ wußter Maßnahmen; in ihr heilt leicht wie in linder Luft vieles von selbst aus, was als Anzeichen von Krankheit zum Vorschein kommen mochte, und durch sie wird in ungünstigem Falle weit mehr verdorben, als all die guten einzelnen Maß­ nahmen aufbauen können. Die ganze Tatsache wird be­ kanntlich innerhalb der englischen Erziehung weit mehr ge­ würdigt als in der kontinentalen. Dabei soll diese regel­ mäßige Lebenssphäre, also zunächst die häusliche, zwar vor allem den Boden bilden für günstige Selbstentfaltung, oder die rechte Luft und Temperatur gewähren, aber doch anderer­ seits auch die nötigen festen Schranken darbieten, wesentlich schon durch die Festigkeit ihrer Ordnungen, durch die not­ wendigen Erfordernisse des Zusammenlebens. In diesem Sinne sagt unsere Verfasserin: „Die Gewohnheiten des Hauses und die vom Hause abhängigen des Kindes müssen unerschütterlich werden wie Naturgesetze (wenn diese Ge­ wohnheiten wirklich von Gewicht sind)". „Man kann die große Notwendigkeit des Lebens, die in der Kindheit ein­ geprägt werden muß, ohne harte Mittel einprägen." Sie führt ferner aus, wie die feste, ruhige Ordnung des Hauses, sein Friede und seine Schönheit „am meisten konstruktiv"

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Erster Teil.

Literarischer Umblick.

wirke, wie Herzlichkeit, Arbeitsfreude, Schlichtheit im Hause Güte, Arbeitslust und Einfachheit im Kinde entwickeln, wie „in der reinen, warmen, klaren Luft, darin Vater, Mutter und Kind sich in Freiheit und Vertraulichkeit bewegen, so­ wohl der rechte Egoismus wie Altruismus fein Wachstum und die Individualität ihre Freiheit" finde. Mit dem Leben des Hauses sollen die Kinder durch Pflichten sowohl wie durch Freuden wahrhaft verbunden werden. Beklagt wird, daß die Eltern ihre Kinder in zu frühen Jahren der Schule ausliefern, daß gegenwärtig vieles durch die Schule geboten werden müsse, was das Haus seinerseits bieten müßte: spielen, Handarbeit, singen, Bilder ansehen, laut lesen, in der Natur umherwandern. Die Schule sollte nicht, wie sie jetzt tut, den besten Teil des Lebens der Kinder in Anspruch nehmen. Dazu freilich müßten die Mütter wieder „von der Außenarbeit und dem Gesellschaftsleben den Kindern zurück­ gegeben werden". „Den Kindern tun wieder ernste häus­ liche Beschäftigungen not, die sie getreulich erfüllen müssen, an Werk- und Feiertagen geordnete Arbeitsgewohnheiten." „In den meisten Fällen sind die Kinder Opfer der Haltlosig­ keit des Hauses. Sie lernen Eigenwilligkeit, ohne wirkliche Freiheit zu besitzen, und leben unter einem Zwang, der doch kein durchgeführter Stil ist." Und so hört man denn die heranwachsende Jugend „viel von ihrer geistigen Heimat­ losigkeit, Einsamkeit und Traurigkeit reden". In Wahrheit wohl weit weniger von dergleichen reden, als es empfinden! Selbstüberwachung und Selbsterziehung der natürlichen Erzieher, in ganz anderem Maße, mit ganz anderem Ernste als dem üblichen, das ist denn die eine, große, durchgehende Forderung. Wiederholt kehrt unsere Schriftstellerin zu der Norm zurück: „A und O der Erziehung ist, das Kind in Frieden zu lassen, möglichst selten unmittelbar einzugreifen.

Ellen Key, Tas Jahrhundert des Kindes.

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nur rohe und unreine Eindrücke fern zu halten — aber alle Wachsamkeit auf die eigene Person, das eigene Leben zu verwenden". Und sie fügt kritisch hinzu: „Wenn es sich um die Fehler des Kindes handelt, siebt man im Hause wie in der Schule Mücken, während man täglich die Kinder die Kamele der Erwachsenen schlucken läßt". Oft ist es nichts anderes als eine ganz „rohe Herrschsucht", die in dem mo­ dernen Erzieher fortlebt und beim Widerstand des Kindes sich aufbäumt. „Ein Kind erziehen bedeutet, seine Seele in seinen Händen tragen und seinen Fuß auf einen schmalen Pfad setzen." „Wenn es ein Feld gibt, auf dem man hundertfach säen muß, um zehnfach zu ernten, so sind es die Seelen der eigenen Kinder." Und dabei gilt es, nicht müde zu werden, nicht mit den vorrückenden Jahren gleich­ gültiger. „Altern ist keine Notwendigkeit, sondern nur eine schlechte Gewohnheit." Die wertvollste Art aber, auf Kinder zu wirken, zu Kindern zu sprechen, ist, „daß man selbst in schöner, hochsinniger, maßvoller Art lebt". Von einem Standpunkt aus, wie ihn Ellen Key ein­ nimmt, ist natürlich etwas wie eine Anlage zum Bösen in den Kindern nicht zuzugestehen. Der Glaube an etwas wie Erbsünde kann nur verderblich wirken. Und daß man dem im Zögling angenommenen Bösen entgegenwirke durch Mittel, die ihrerseits böse sind, ist natürlich die größte Verkehrtheit. Die anscheinenden Fehler sind nur Kehrseiten guter Eigen­ schaften. Gewiß darf das von den Kindern noch weit eher gelten als bei älteren Menschen, und gewiß kommt auch die Erziehung im allgemeinen am weitesten, die möglichst ungern an endgültig übles im Zögling glaubt. Unsere Verfasserin darf sich auf Goethe berufen, der sagt, in jedem Fehler des Kindes sei ein ganzer, unverdorbener Keim zu einem Guten eingeschlossen. Sie darf auch darüber zürnen, Münch, Zukunstspädagogik.

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Erster Teil.

Literarischer Umblick.

wie irrelevante Dinge tatsächlich in gewissen Erziehungs­ sphären als schlimm bekämpft werden. Und in ihrem eige­ nen Sinne ruft sie dann aus: „Das Böse ist ebenso natür­ lich und unentbehrlich wie das Gute, wird zu einem Bösen nur durch einseitige Vorherrschaft". „Aus jeder Untugend die entsprechende Tugend hervorsuchen, daß heißt das Böse durch das Gute überwinden." Also: Eigensinn in Charakter­ stärke, Gefallsucht in Liebenswürdigkeit, Unruhe in Unter­ nehmungslust usw. So erregt denn fast die gesamte übliche Gegenwirkung ihre große Verstimmung, und zwar diese Gegenwirkung da, wo sie aus Zärtlichkeit und Wachsamkeit hervorgeht, nicht minder als sonst. Als das schlimmste aller üblichen Erziehungsmittel werden Ermahnungen be­ zeichnet, und von den Kindern wird das Ungünstigste er­ wartet, „die man mit Ermahnungen und Betstunden duscht, denen man eine Unze Moral in jeden Freudenbecher träufelt". Körperlicher Strafe wird so gut wie jede Berechtigung ab­ gesprochen. „Nur während der drei ersten Lebensjahre ist eine Art Dressur nötig; das Kind ist da in so hohem Grade sinnlich, daß ein leichter physischer Schmerz oder Genuß oft die einzige Sprache ist, die es versteht und folglich das bei einigen (nur bei einigen!) Kindern uneirtbehrliche Mittel, gewisse Gewohnheiten einzuüben." Aber nach diesen ersten Lebensjahren „muß der Gedanke an einen Schlag aus den Möglichkeiten der Erziehung ausgelöscht werden". „Sobald das Kind sich an einen Schlag erinnern kann, ist es zu alt, um ihn zu empfangen." „Die Züchtigung eines Kindes ge­ hört ganz demselben niedrigen Kulturstadium an wie das Prügeln von Frauen" usw. Und was insbesondere die Mädchen betrifft: „Der Vater, der seine Tochter züchtigt, verdient sie einmal gefallen zu sehen, da er selbst ihren Instinkt der körperlichen Heiligkeit verletzt hat"!

Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes.

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Aber auch weit feinere Erziehungsmittel verfallen dem unbedingt verwerfenden Urteil. Dazu gehören die Zeug­ nisse, wie sie in den Schulen den einzelnen Schülern und Schülerinnen gegeben zu werden pflegen. Gegen diese erklärt die Schriftstellerin feit 20 Jahren angekämpft zu haben. Sie geht dabei aber von der Annahme aus, daß der Zweck der Zeugnisse schlechthin der sei, den Wetteifer anzuspornen. Und gerade der Wetteifer zwischen den Zöglingen ist in ihren Augen eine weitere Art von Gift. Sie trifft darin allerdings mit einigen der edelsten Pädagogen zusammen