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German Pages 273 [284] Year 2003
Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Bellers, Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich Bellers • Benner • Geike (Hrg.), Handbuch der Außenpolitik Bellers • Frey • Rosenthal, Einführung in die Kommunalpolitik Bellers • Kipke, Einfuhrung in die Politikwissenschaft, 3. Auflage Benz, Der moderne Staat Bierling, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland Braun • Fuchs • Lemke Tons, Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft Gabriel • Holtmann, Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage Glöckler-Fuchs, Institutionalisierung der europäischen Außenpolitik Jäger • Welz, Regierungssystem der USA, 2. Auflage Kempf, Chinas Außenpolitik Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik, 3. Auflage Lemke, Internationale Beziehungen Lenz • Ruchlak, Kleines PolitikLexikon Lietzmann • Bleek, Politikwissenschaft - Geschichte und Entwicklung Maier • Rattinger, Methoden der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse Mohr (Hrg. mit Claußen, Fäter, Prätorius, Schiller, Schmidt, Waschkuhn, Winkler, Woyke), Grundzüge der Politikwissenschaft, 2. Auflage Naßmacher, Politikwissenschaft, 4. Auflage
Pilz • Ortwein, Das politische System Deutschlands, 3. Auflage Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage Reese-Schäfer, Politische Theorie heute Riescher • Ruß • Haas (Hrg.), Zweite Kammern Schmid, Verbände Schubert • Bandelow (Hrg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse Schumann, Repräsentative Umfrage, 3. Auflage Schumann, Persönlichkeitsbedingte Einstellungen zu Parteien Schwinger, Angewandte Ethik Naturrecht • Menschenrechte Sommer, Institutionelle Verantwortung Tömmel, Das politische System der EU Wagschal, Statistik für Politikwissenschaftler Waschkuhn, Grundlegung der Politikwissenschaft Waschkuhn, Demokratietheorien Waschkuhn, Kritischer Rationalismus Waschkuhn, Kritische Theorie Waschkuhn, Pragmatismus Waschkuhn, Politische Utopien Waschkuhn • Thumfart, Politik in Ostdeutschland von Westphalen (Hrg.), Deutsches Regierungssystem Woyke, Europäische Union Xuewu Gu, Theorien der internationalen Beziehungen • Einführung
Politische Utopien Ein politiktheoretischer Überblick von der Antike bis heute
Von
Prof. Dr. Arno Waschkuhn
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Für Urmeli und Elvis
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-27448-1
INHALTSVERZEICHNIS
I.
WAS
II.
FALLBEISPIELE VON P L A T O N BIS ORWELL 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.
SIND POLITISCHE UTOPIEN?
L 15
P l a t o n (S. 15-37) Christine de Pizan (S. 38-43) T h o m a s Morus (S. 44-55) T o m m a s o Campanella (S. 56-63) Francis Bacon (S. 64-70) Fénelon (S. 71-76) Jean Meslier (S. 77-80) Morelly (S. 81-88) Rétif de la Bretonne (S. 89-94) Louis-Sébastien Mercier (S. 95-100) Robert Owen (S. 101-105) Charles Fourier (S. 106-111) E t i e n n e Cabet (S. 112-116) Claude Henri de Saint-Simon (S. 117-121) Max Stirner (S. 122-127) Pierre-Joseph Proudhon (S. 128-132) Michail Alexandrowitsch Bakunin (S. 133-137) Wilhelm Weitling (S. 138-141) Aldous Huxley (S. 142-153) Karin Boye (S. 154-160) George Orwell (S. 161-177)
III.
U T O P I E K R I T I K UND ZWEIFEL
179
IV.
NEUERE UTOPIEN
195
1. 2. 3. 4. 5. 6. V.
Burrhus Frederic Skinner (S. 196-199) Ernest Callenbach (S. 2 0 0 - 2 0 2 ) Murray Bookchin (S. 203-207) Ursula K. Le Guin (S. 210-213) Sally Miller Gearhart (S. 2 1 3 - 2 1 6 ) Marge Piercy (S. 216-219)
ZUM POLITIKTHEORETISCHEN VON UTOPIEN
Literaturüberblick (S. 245) L i t e r a t u r v e r z e i c h n i s (S. 247) Register (S. 271)
STATUS 221
VORWORT Bekanntlich haben Marx und Engels die Utopien ihrer Zeit zugunsten des wissenschaftlichen Sozialismus als spekulativ abgelehnt, insofern konnte der Zusammenbruch des dogmatisierten Realsozialismus auch nicht das Ende der Utopie bedeuten. Utopien werden hier anders gesehen, nämlich als Modelle sozialen und politischen Theoretisierens, wobei im Unterschied zu vielen Darstellungen auch die Frauenutopien und die prinzipielle Utopiekritik berücksichtigt werden, um das ganze Spektrum des Utopiediskurses einzufangen. Utopien sind nirgendwo (outopia) und doch irgendwo, weil sie implizit Zeitkritik üben, immer schon pfadabhängig sind, sie entwerfen gute bzw. bessere Zukünfte (eutopia) oder sie malen Schreckens- und Furchtbilder an die Wand, sind positive („weiße") oder negative („schwarze") Utopien (Dystopien) oder Anti-Utopien. Aber selbst in den gut und gerecht intendierten utopischen Gemeinwesen möchte man nicht immer leben, weder vituell noch real. Gleichwohl bleiben sie Ordnungsentwürfe, die das soziale und politische Denken anregen. Utopien konstruieren und reflektieren Wirklichkeit auf allen Raum- und Zeitebenen, die uns und den Verfassern jeweils zur Verfugung stehen. Sie sind fast immer Arbeits- und Bildungsutopien und sind ganzheitlich entworfen. Das macht oft ihre Statik und Konfliktfreiheit problematisch, aber sie sind auch dynamisierbar, zum Guten (Freiheit und Gerechtigkeit) und zum Schlechten (totalitäre Zwangsbeglückung). Utopien sind insofern ambivalent zu beurteilen, aber sie dürfen, wie Oscar Wilde es einmal genannt hat, auf keiner (soziopolitischen) Landkarte fehlen. Denn sie bieten immer wieder ein reflexives Stimulationspotenzial und bereiten uns kognitiv vor auf Erfindungen und Entdeckungen. Sie sind konstruktivistische Leistungen, die als Konzepte und Ordnungsentwürfe eine Welt imaginieren, die anders ist als die pure Gegenwart. Sie können damit neue Welten eröffnen und uns mit Prozessen vertraut machen, die nicht unserer alltäglichen Lebenswelt und Handlungspraxis entstammen, aber denk-, jedoch nicht immer wünschbar sind. Andererseits sind in sie Hoffnungen und Sehnsüchte eingelassen, die zur „conditio humana" gehören. Aber auch diese ist kontingent — und das heißt immer auch änder- und gestaltbar, wie es nicht zuletzt an der Genderproblematik deutlich wird. Utopien sind Ausdruck eines Kampfes um Anerkennung und verdeutlichen soziohistorische Tendenzen. Insofern sind Utopien stets auch Gesinnungs-, Besinnungs und Trostbüchlein, die unser Interesse auf der bedürftigen Suche nach Sinn erwecken. Utopien tragen somit auch bei zur komplexen Lebenskunst und -klugheit, vermitteln zivile Tugenden und können uns aufklären über Potenzialitäten (und auch die Abgründigkeiten) menschlich-gesellschaftlicher Existenz. Auf der Suche nach Sinn haben mich wie immer meine Frau und Elvis liebevoll begleitet, auch wenn ich manchmal gedanklich abwesend war und in andere Welten eingetaucht bin. Das kommt dabei heraus, wenn man sich mit Utopien beschäftigt. Ich hoffe, die Leserinnen haben ebenfalls einen Nutzen davon. Arno Waschkuhn
I.
W A S SIND POLITISCHE U T O P I E N ?
„Utopia ist die Vergegenwärtigung des ganz Anderen" (Udo Bermbach) .Nicht nur nachts, auch noch im Wachen wird geträumt" (Ernst Bloch)
Richard Saage, der gegenwärtig wohl wichtigste politikwissenschaftliche Utopieforscher 1 in Deutschland, hebt hervor, dass der Begriff der politischen Utopie heutzutage in der Regel mit einer negativen Bedeutung besetzt sei: „In der Umgangssprache bedeutet das Adjektiv .utopisch' zumeist soviel wie .übersteigert', .unrealistisch', .exzentrisch' etc. Mit ihm wird ein Denken denunziert, das Projekte entwirft, die angeblich scheitern müssen, weil ihr realitätsblinder Urheber die konkreten Voraussetzungen ihrer Verwirklichung nicht berücksichtige." 2 Entweder er will nicht oder er kann nicht. Es wäre dann wohl wenig sinnvoll, sich mit Utopien zu beschäftigen. Aber diese Auffassung ist natürlich irrig, weil es sich um ein Vorurteil im Rahmen der Alltagssprache handelt, die uns wissenschaftlich nie sehr weit führt. In einem anderen Lexikon-Artikel zur Utopie hält Peter Weber-Schäfer fest: Generell bezeichnet der vom Staatsroman des Thomas Morus (1516) abgeleitete Begriff der Utopie „die romanhafte Schilderung oder detaillierte und konkrete Beschreibung einer mit der Realität nicht übereinstimmenden, in sich geschlossenen ökonomischen, politischen, sozialen oder geistig-moralischen Ordnung einer fiktiven Gesellschaft. Sie kann als positive Utopie die idealisierte Schilderung eines unerreichten wünschenswerten Zustandes darstellen oder als negative Utopie vor den unerwünschten Folgen möglicher Entwicklungen warnen. Entscheidendes Kriterium für den utopischen Entwurf ist, dass er auf der bewussten Vernachlässigung eines dem Autor bekannten Realitätsfaktors oder der Verabsolutierung eines in der Realität nur bedingt verwirklichten Faktors beruht und in seiner Intention nicht seine eigene Realisierung, sondern die Errichtung von Maßstäben der Kritik für bestehende gesellschaftliche Zustände anstrebt." 3
1 2 3
Siehe vor allem Saage 1991 (2. Aufl. 2000a) und die vier Bände 2001a (ff.). Saage 2000a, S. 45, Saage 2000b, S. 542. Weber-Schäfer 1985, S. 1056.
2
Politische U t o p i e n
Wir müssen aber auch noch andere Begriffsbestimmungen berücksichtigen, und zwar zunächst im Hinblick auf ein Standardwerk zur Utopieforschung, das zuerst 1937 in englischer Sprache erschienen ist. Es handelt sich um die Arbeit des deutschen Wissenssoziologen Karl Mannheim unter dem Titel „Ideologie und Utopie". Das Gemeinsame und letztlich Entscheidende am Ideologie- und Utopiegedanken sei es, dass man hieran die Möglichkeit des falschen Bewusstseins erleben könne. Wir konzentrieren uns hier auf den Utopiebegriff, wobei für Mannheim ein Bewusstsein dann „utopisch" ist, wenn es sich mit dem „es umgebenden ,Sein' nicht in Deckung befindet". Nur jene „wirklichkeitstranszendente" Orientierung sei als eine utopische anzusprechen, „die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt." 4 Utopien sind keine Ideologien, insofern es ihnen gelingt, die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung — zumindest im Gedankenexperiment — zu transformieren. Utopien sind unter Umständen die Wirklichkeiten von morgen, denn es gehört für Mannheim zur Strukturform des modernen Entwicklungsprozesses, dass im allmählichen Aktivwerden der sozialen Schichten deren geschichtstransformierendes Wirken zunächst nur dadurch zustande kam, dass sie sich stets mit jeweils differenten Formen der Utopie verbanden. 5 Des Weiteren sind die einzelnen Formen der nacheinander auftretenden Utopien in ihrer Eigenart am ehesten dadurch zu verstehen, dass man sie nicht nur als Fortsetzungen voneinander ansieht — das sind sie auch —, vielmehr auch in Betracht zieht, dass sie als einander bekämpfende „Gegenutopien" entstanden waren und sich als solche zu bewähren hatten. 6 Mit anderen Worten steht für Mannheim fest: „Wie eine konkrete Gruppe, wie eine soziale Schicht die historische Zeit gliedert, das hängt wesentlich von ihrer Utopie ab." 7 Ja, man könne „die innerste Struktur eines Bewusstseins nirgends so klar erfassen, als wenn man sein Zeitbild von seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Sinnzielen her versteht. Denn von diesen Sinnzielen und Erwartungen aus gliedert es nicht nur zukünftiges Geschehen, sondern auch die vergangene Zeit." 8 In einer Überblicksdarstellung zum utopischen Denken versucht Jost Hermand zu umreißen, was überhaupt eine echte Utopie ausmache und sie beispielsweise von Phantasien wie dem Schlaraffenland etc. unterscheide. Für ihn ist in zutreffender Weise eine echte Utopie „nur das, was eine soziale Ordnung anvisiert, die nicht rein traumhaft-phantastisch ist, sondern eine realistische Möglichkeit der Verwirklichung enthält und auf eine Gesellschaftsform hinzielt, in der Freiheit und 4 5 6 7 8
Mannheim Mannheim Mannheim Mannheim Mannheim
1985, 1985, 1985, 1985, 1985,
S. S. S. S. S.
169. 177-179. 181. 182. 183.
Was sind politische Utopien?
3
Bindung, Staat und Individuum, einzelpersönliches Glück und Förderung des Gemeinwohls in einem sich wechselseitig verstärkenden Verhältnis zueinander stehen. Das bedeutet, das Utopische schärfer als bisher sowohl von allen Formen der Eutopie, also jenen des rein sensualistischen Schlaraffenlandes, in dem lediglich gespeist und koitiert wird, als auch von allen Formen eines chiliastischen Wunschdenkens, das in ekstatischer Heilserwartung von tausendjährigen Reichen, Gottesstaaten und Heilanden der Endzeit kulminiert, abzugrenzen." 9 Damit haben wir zugleich den griechischen Wortstamm des Utopiebegriffs angesprochen. Denn Utopie meint zweierlei, einmal als eu-töpos bzw. als Eutopie den besten und schönsten Ort, zum anderen, wenn man topos, den Ort, mit ou = nicht kombiniert, dann meint Utopie den „Nicht-Ort", das „Nirgendwo". 10 Generell können wir des Weiteren sagen, dass Utopien Welten oder soziale Gebilde sind, die unter „Ab-Sicht" von der Wirklichkeit, dem Hier und Jetzt, in die Zukunft entworfen werden. Utopien sind denkerweiternde Spekulationen über Möglichkeiten. Diese Projektion ist zugleich eine spezifisch menschliche, denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das die Grenze der gegenwärtigen Realität überschreiten kann, insofern er mutmaßlich das einzige Lebewesen ist, das die Realität bewusst in zwei Teile aufspalten kann: in das Existente und das Andere. Der homo sapiens ist damit gleichsam ein „gespaltener Mensch", der mit Absicht „Bürger zweier Welten" sein kann. Er kann gleichzeitig in der Gegenwart und in einer anderen, von ihm selbst geschaffenen Welt leben. Diese andere Welt kann ganz anders als die gegenwärtige sein, sie kann sogar in mancher oder jeder Hinsicht einen Gegensatz zur Realität darstellen. Die Entwicklung und Verfeinerung dieser außerordentlichen Fähigkeit zum Dualismus ist womöglich sogar der bedeutendste Meilenstein in der noch nicht ausreichend erforschten Entwicklung der menschlichen Kultur. Das fundamentale Spannungsverhältnis zwischen spekulativen Zukunftsentwürfen und der Realität kommt auch darin zum Ausdruck, dass die meisten Autoren von Utopien fast durchweg davon überzeugt sind, dass ihre Utopien gar keine Utopien seien, sondern durchaus realisierbare Programme. Gar nicht so wenige Utopisten kommen auch aus sehr nüchternen und rationalen Berufen oder sind im logischen Denken besonders geschult, manche verfugen auch über eine solide staatsmännische Erfahrung und politische Bildung. Nicht weniger als drei englische Lordkanzler haben beispielsweise Utopien geschrieben: Thomas Morus hat 1516 das berühmte Meisterwerk der „Utopia" geschrieben, das der ganzen Kategorie den Namen gab, Francis Bacon „Nova Atlantis" und Thomas Erskine „Armata". Andere Utopien stehen mit ihren Konzeptionen im Grenzgebiet zwischen Utopie und politischer Theorie und am Anfang der Geschichte utopischen Denkens ist ei-
9 10
Hermand 1974, S. 11. Saage 2000a, S. 46.
4
Politische Utopien
ner der größten politischen Philosophen der Antike, nämlich Piaton, mit seiner „Politeia" anzusiedeln. Fast jede Utopie scheint also ihrem Schöpfer realisierbar und mit den Utopieentwürfen wird in aller Regel ein Grundthema verfolgt und angeschlagen, das wir als die Sehnsucht nach der wahren Gerechtigkeit bezeichnen können. Das Ergebnis ist des Öfteren ein sittenstrenger Staatssozialismus. Ferner findet man die Selbstbescheidung und Mäßigung, den Verzicht auf Luxus in fast allen politischen Utopien. Andererseits neigen nicht wenige Utopien zur Versteinerung, weil der Idealzustand ja bereits gefunden sei und keiner Veränderung bedarf. Utopia hat keine Bewegungsfreiheit mehr, denn der Zenit wurde ja erreicht, der nach Möglichkeit ewig anhalten soll. Wir sind mit den Utopien — besser gesagt: mit den positiven Utopien — zwar zum besten, zugleich aber zum starrsten, unwandelbarsten aller gesamtgesellschaftlichen Formen gekommen. Dazu gehört, dass das Establishment von Utopien, einmal etabliert, nie mehr angetastet werden darf, soll keine Wendung zum Schlechten eintreten. Dem entspricht, dass in den meisten Utopien für Andersdenkende kein Platz ist. Aber selbstverständlich gibt es in der Geschichte des politischen Denkens auch dynamische Utopien, die durchaus Möglichkeiten einer Weiterentwicklung sowie tolerante Verhaltensweisen vorsehen. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner suchen, dann ist Utopia zumeist und in erster Linie eine Gemeinschaft der Gerechten, unbezwinglich und unbesiegbar, aber sich selbst genug. In zweiter Linie aber ist es die Keimzelle der Weltrevolution oder auch Weltreformation bzw. -transformation, die durch symbolisch-beispielhafte Darstellungen heraufbeschworen wird. Für Utopien, die Wirkungen entfalten wollen, ist es erforderlich, dass sie sich mit einer Gesellschaft von Menschen befassen, mit denen wir uns — wenn auch durch eine gewisse Anstrengung unserer Phantasie — identifizieren können und es muss eine möglichst konkrete Beschreibung einer Gesellschaftsordnung gegeben werden. Insofern sind Utopien „Modelle rationalen sozialen Theoretisierens". Jeder Utopist übt implizit Zeitkritik, insofern er die vorherrschenden Tendenzen als negativ kennzeichnet sowie die Gegenwart mit all ihren Institutionen, Gepflogenheiten, Traditionen, ihrer Selbstherrlichkeit und Engstirnigkeit radikal in Frage stellt. Gerade wegen ihrer kritischen Funktionen sind Utopien unverzichtbar und sie sind selbst historisch wandelbar. Soziale und politische Utopien gehören insgesamt zum nicht zu negierenden Arsenal einer rationalen Politikbetrachtung — und es wird sie immer wieder geben, sie werden immer wieder entworfen werden.
Was sind politische Utopien?
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Wir wollen uns unserer bisherigen Bestimmungsversuche noch weiter vergewissern, vor allem im Hinblick auf die Utopiegeschichte. Ulrich Hommes 11 stellt fest, dass Utopien von der Erfahrung der Mangelhaftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ausgehen und den Menschen grundsätzlich die Handlungsfähigkeit zuerkennen, diese Verhältnisse zu verändern. Utopien sind bei Morus, Campanella und Bacon, also in den großen Renaissance-Utopien, auf die wir noch eingehen, Staatsromane, unterbreitet im Stil von Reisebeschreibungen. Es wird bei Utopien dieser Art in der Regel von einem fernen Land berichtet, das eine vollkommene Ordnung des menschlichen Miteinanders verwirklicht hat und es handelt sich zumeist tun ein von der Außenwelt isoliertes und in sich geschlossenes Gemeinwesen. Es werden bei der fiktiven Konstruktion eines besten Staates oder einer besseren Gesellschaft zugleich einzelne Prinzipien übersteigert, so setzt zum Beispiel Morus bei seinem Entwurf sehr stark auf die menschliche Vernunft. Utopien sind darüber hinaus, wie erwähnt, stets auch Zeitkritiken und Gegenbilder zur vorgefundenen Wirklichkeit. Utopien zeigen somit in exemplarischer Weise bestimmte Problemkonstellationen des Politischen und die Besonderheiten zeitgenössischer Unfreiheit auf. Analytisch zu unterscheiden sind negative Utopien (auch Anti-Utopie oder Dystopie genannt) und positiv formulierte Sozialutopien (gelegentlich auch als Eutopie bezeichnet). Abgestellt wird zum einen — bei den negativen Utopien — auf totalitäre Ungeheuer, auf Freiheitslimitierung, Manipulation und Überwachung, bis hin zur Apokalypse, gerade auch aufgrund der Perfektion von Wissenschaft und Technik, zum anderen — bei den positiven Utopien — werden Gerechtigkeit, Freiheit (oder Befreiimg) und Frieden angezielt. Beide Spielarten des Utopischen, wenngleich jeweils anders gewichtet, können so als ein kritisch-normativer Maßstab für die jeweilige Gegenwart fungieren (unter Einschluss in ihr angelegter Zukunftsmöglichkeiten). Utopien sind daher ein Vorgriff auf das Reich der Freiheit oder Unfreiheit. Sie antizipieren das Ende jeglicher Herrschaft und Gewalt oder aber das Ende von Freiheit, verstanden als Möglichkeit der Autonomie. Seitens der Kritischen Theorie 12 werden insbesondere das Vorherrschen der instrumentellen Vernunft sowie ihre technokratischen Implikationen beanstandet. Wenn das „Ganze das Unwahre" ist, bleibt nur noch die totale Negation. Um totalitäre Verirrungen zu vermeiden, sollten nach westlich-liberaler Auffassung politische Utopien keine Endlösungen versprechen bzw. das „Reich Gottes auf Erden" proklamieren und sie sollten sich davor hüten, einen Anspruch zu erheben auf direkte Durchsetzung über revolutionäre Praxis. Dies ist zugleich die Auffassung des
11 12
Hommes 1974. Vgl. zum Übeiblick Waschkuhn 2000.
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Politische Utopien
Kritischen Rationalismus kommen werden.
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, worauf wir am Beispiel von Karl Popper noch zurück-
Wir haben also wieder ein paar Facetten mehr hinzugewonnen, sind aber freilich noch nicht am Ende unserer Begriffsbestimmungen, Umschreibungen und Erläuterungen in Bezug auf den Gegenstandsbereich der politischen Utopie angelangt. Man könnte auch ganz einfach sagen: Utopien wollen uns in die Lage versetzen, auf alles Mögliche gefasst zu sein. Aber diese Bestimmung reicht selbstredend nicht aus, wenngleich sie den Kern der Utopieform bzw. ihrer Botschaft durchaus erfasst. Utopien bedeuten indes wesentlich mehr. Zwar ist es zutreffend, dass man vergebens nach einem verbindlichen, von allen akzeptierten Begriff der politischen Utopie sucht, aber das Ambivalente, Zwiespältige und Vielfaltige, ist auch die Stärke der Utopie. Dies sieht auch Udo Bermbach so, wenn er ausfuhrt: „Der begriffliche Umriss von Utopie ist.. unscharf, sowohl in historischer wie systematischer Hinsicht, aber gerade darin liegt ihre eigentliche Stärke und Überlebenskraft. Die Geschichte des utopischen Denkens war immer auch die Geschichte der sozialen Phantasie mit all ihren denkbaren, teilweise krausen Ausfransungen ... Alles kann zunächst einmal Utopie sein, das Ausmalen konkreter Organisationsmodelle ebenso wie die Beschreibung eines nur umrisshaft erahnten Traumlandes, einer schönen Insel inmitten eines Meeres von realen Hässlichkeiten." Das alles können Utopien sein: Kontrollierte gesellschaftliche Experimente, Beherrschung einer weit voraus greifenden Technik, das Vermeiden bzw. Ausschalten gravierender Individual- wie Gesellschaftskonflikte, die Versöhnung von Mensch, Natur und Technik, die Sicherung des moralisch und technisch-materiellen Fortschritts, die Propagierung einer asketischen Lebensführung wie umgekehrt die Garantie des immer währenden Gartens Eden, in dem der Überfluss die Grundlage eines musischen und sozial rücksichtsvollen Lebens ermöglicht — insgesamt also: „Phantasiebilder und Traumdeutungen, Selbstauslegungen kollektiver Wünsche und Bedürfnisse, häufig Gegenbilder zu dem, was im gegenwärtigen Leben vermisst wird." Das Defizitäre wirkt als „Anstoß und Motor zur Korrektur". Doch es „bleibt die soziale Phantasie eben nicht zwangsläufig beim bloßen Korrigieren stehen; sie kann auch zu positivieren versuchen, was als ein fundamentaler Mangel der konkreten Gegenwart empfunden wird. Aus der Negation des Status Quo gewinnt .. der Entwurf solcher GegenBilder seine schärferen Konturen." 14 „Allen Utopien ist das Spielen mit Möglichkeiten gemeinsam, mit denkbaren Alternativen, die an Vorhandenes anknüpfen, es weiterdenken, ohne die sozialen
13 14
Vgl. zum Überblick Waschkuhn 1999. Bermbach 1992b, S. 143/144.
Was sind politische Utopien?
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Kosten einer unmittelbaren Umsetzung sofort begleichen zu müssen." Stets „entwickelt die Utopie eine eigene, im besten Fall neue Wirklichkeit, und sie spielt mit den Versatzstücken des in ihrer Zeit Vorfindbaren." Das hat die Utopie von jeher für Intellektuelle besonders anziehend gemacht: „Denn hier können sie sich, frei von aller direkten Verantwortung, einem unvergleichlichen Spiel hingeben, können Konstrukteure einer Wirklichkeit werden, die zwar primär ihre eigene ist, die aber doch über Anschlussmöglichkeiten zur Alltagsrealität verfugt." Im utopischen Denken „lassen sich jene Gegensätze und Konflikte des Alltags stillstellen, die diesen oft so mühsam machen; lassen sich die üblichen Etikettierungen der politischen Auseinandersetzung außer Kraft setzen und erweist sich die sonst als Abgrenzungswaffe gepflegte Ideologie als die unbrauchbare Schimäre und Phantasmagorie einer falsch erfahrenen Praxis. Denn das Weiterdenken einer defizitären Wirklichkeit, das Ausmalen utopischer Möglichkeiten ist nicht von vornherein auf eine aus der Realität und deren faktische Segmentierungen bezogene ideologische Zielsetzung eingeschränkt." Vielmehr gilt: „die Phantasie ist frei, der konstruktive Blick findet keinen einengenden Horizont, so lange jedenfalls nicht, wie das Problem der praktischen Umsetzbarkeit außer Acht bleiben darf. Die Utopie als Waffenstillstand zwischen Konservativen und Revolutionären, deren Doktrinen in den Einbänden der heiligen Bücher verstauben", das ist der Kern der Utopie: „die Freisetzung des Kontrafaktischen als das die Utopie folgenlos Bestimmende. Die Utopie macht sich hier etwas zunutze, was in der Realität schon immer vorhanden ist: sie setzt auf die aussortierten Alternativen, aktiviert das, was angesichts vorgeblicher Sachzwänge, aufgrund herrschender Strukturen und Vernetzungen in der kontemporären politischen wie gesellschaftlichen Praxis nicht machbar erscheint. 15 Die Utopie wird demnach „zum Gedankenlabor, in dem die bestehenden Restriktionen ignoriert werden können und stellt so, wenngleich nur im Spiel, das volle Spektrum aller denkbaren Handlungschancen wieder her." Oder aber „sie praktiziert das Gegenteil, reduziert die schier unaushaltbare Komplexität der Wirklichkeit auf ein einzelnes, ihr wichtiges Prinzip oder Ziel, stellt es in singulärer Weise heraus und vereinfacht somit die Voraussetzungen für denkbare Problemlösungen. Wie auch immer: ob Ausschöpfen verloren geglaubter, weil scheinbar unrealistischer Handlungsalternativen oder eine äußerste Reduktion auf ein begrenztes Problemfeld, eine einzige Lösungsstrategie" (und sei es auch aus Gründen der Abschreckung) — immer zeigen sich Anlage und Konzeption einer Utopie darin, dass die existierenden, realpolitischen Eingrenzungen überschritten werden. Das ergibt positiv die Möglichkeit, „auf neue politische Herausforderungen mit neuen institutionellen Antworten aufzuwarten, und es erlaubt, sich neue, vielleicht noch nie dagewesene menschlich-gesellschaftliche Einrichtungen auszudenken; es erlaubt aber vor allem, vorhandene Institutionen miteinander neu zu kombinieren, sie in 15
Bermbach 1992b, S. 144/145.
8
Politische Utopien
unkonventionellen, der Tradition enthobenen Arrangements zusammenzuschließen, sie in Teile und Teilkomponenten zu zerlegen, um aus solchen Teilen — gleich einem Kaleidoskop — ein neues Ganzes entstehen zu lassen. Wenn die Antwort von Politik auf je neue Herausforderungen des gesellschaftlichen Fortschritts weniger darin besteht, jeweils eine neue „Politik" zu entwerfen und auszuformulieren, als vielmehr darin, durch die Neu- und Uminterpretation des schon vorhandenen Arsenals von politischen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen unverbrauchte Problemlösungskapazitäten bereitzustellen und freizusetzen, dann eben sind Utopien jenes Experimentierfeld, auf dem eine uneingeschränkte Institutionenkombinatorik gedanklich durchgespielt werden kann." 16 Und Utopia als die „Vergegenwärtigung des ganz Anderen, als bildhaftes Muster einer kontrafaktisch operierenden Zukunftsvision war ja auch deshalb in all jenen radikalen Sozialbewegungen der europäischen Geschichte von solcher Durchschlagskraft, weil die in Bilder gefasste Organisation des Neuen Jerusalem sich ohne umständliche Interpretationen auch dem einfachen Volke mitteilen konnte." 17 Mittlerweile wissen wir demnach schon ziemlich gut, was soziale und politische Utopien durchgängig charakterisiert und ausmacht. Richard Saage wiederum hat versucht, den Gegenstandsbereich der Utopie analytisch noch etwas präziser aufzuarbeiten und nimmt vier analytische Unterscheidungen in Bezug auf Utopien vor: Erstens ein Utopiemuster, das sich an dem Urtyp der „Utopia" von Thomas Morus orientiert: „Danach sind politische Utopien Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften, die sich entweder zu einem Wunsch- oder Fluchtbild verdichten. Der Stoff, aus dem sie gemacht sind, ist die säkularisierte, gewissermaßen vom Himmel auf die Erde geholte Vernunft. Es handelt sich also um Konstrukte, die uns zeigen, wie die Welt, in der wir leben wollen, sein oder nicht sein soll. Nimmt man ihre Vorläufer in der Antike, insbesondere Piatons „Politeia" hinzu, so wird dieses Verständnis der politischen Utopie seine eurozentrische Ausrichtung nicht leugenen können, wenngleich ihr Geltungsanspruch universalistisch ist." 18 Zweitens, über den ersten Typus hinausgehend, Utopien oder Utopiemuster, die getragen sind vom „Prinzip Hoffnung": Utopien, die gerichtet sind auf das utopische Ideal einer von Ausbeutung und Elend befreiten Welt. Dieser Utopie-Modus „meint jene noch nicht verwirklichten Möglichkeiten des Menschen, die auf die Schaffung einer humanen Lebenswelt hinauslaufen." 19
16 17 18 19
Bermbach 1992b, S. 145/146. Bermbach 1992b, S. 149. Saage 1992a, S. IX. Saage 1992a, S. IX.
Was sind politische Utopien?
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Drittens eine Variante, die „den Ursprung des utopischen Denkens in der vormodernen Sippengemeinschaft verankert, gekennzeichnet durch das Fehlen von Entfremdung und Egoismus." Wenn die Rückkehr zur Urgemeinschaft, wenngleich auf höherer Stufe, nicht literarische Flucht-Fiktion bleibt, sondern mit der Anwendung letzter und äußerster Gewalt erzwungen wird, dann aber sind die inneren Strukturen zugleich, und zwar als Gefahr, auf eine totalitäre Herrschaft hin angelegt. 2 0 Viertens eine Utopiekonzeption, die sich als „gelebte Utopie" 21 kennzeichnen lässt. „Sie versichert sich gleichsam experimentell ihrer Authentizität in den Nischen der Gesellschaft, indem sie — eher diffus —, Alternativen zum Bestehenden erprobt." 22 Selbstverständlich können sich diese vier Utopievarianten auch überschneiden und durchkreuzen. Auch auf die Unterscheidung in positive und negative Utopien wurde bereits hingewiesen. Während die positiven Utopien so etwas wie Herrschaftsfreiheit erzielen wollen und einen Zustand der Harmonie und Gerechtigkeit imaginieren, müssen die schwarzen Utopien, so insbesondere George Orwells 1984, als Warnungen verstanden werden. Dass Orwell den Stalinismus im Zenit seiner Macht vor Augen hatte, ist bekannt. Aber sicherlich sind auch andere totalitäre Ausformungen mitgemeint. Den Protagonisten seines utopischen Staates von „1984" lässt er jedenfalls einen Satz formulieren, den wir nur als ein abstoßendes Schreckensbild verstehen können, wenn ausgeführt wird: „Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt — immer und immer wieder." Damit haben wir das Spektrum politischer Utopien für unsere Zwecke der Einleitung in ausreichender Weise umrissen. Gegenstand sozialer und politischer Utopien sind die Wunsch- und Furchtbilder von Gemeinwesen. Sie enthalten zugleich eine Zeitdiagnose bzw. Sozialkritik, auf die das utopische Denken mit seinen Konstruktionen idealer Gegenwelten oder schwarzer Schreckensvisionen reagiert. Ohne die Gegenüberstellung mit dem, was kritikwürdig erscheint, würde die politische Utopie ihren emanzipatorischen Impetus und damit ein wesentliches Element ihrer Identität verlieren. Ferner werden in der Regel normative Aussagen gemacht über das Gemeinwohlideal selbst und dessen Auswirkungen auf das äußere Erscheinungsbild, zum Beispiel in der Architektur, der Stadt- und Siedlungsplanung usw. — Eine politische Utopie enthält des Weiteren präzise Informationen über die sozialen Voraussetzungen des besten (oder vermeintlich besten) Gemeinwesens und über das Muster seiner politischen Verfassung. Eine entscheidende Rolle spielen 20 21 22
Saage 1992a, S. X. Meißner/Meyer-Kahrweg/Saikowicz 2001. Saage 1992a, S. X.
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Politische Utopien
die Eigentumsverhältnisse sowie die Organisation der Güterherstellung und -Verteilung. Diese Aussagen werden ergänzt um Informationen zur Rolle der Arbeit, der Bedeutung von Wissenschaft und Technik und zur allgemeinen Bedürfnisstruktur. 2 3 Die politische Integration hat in der Regel ein weiteres wichtiges Moment in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Sehr häufig ist die Sexualmoral rigide festgelegt, ebenso die Familienform und die Rolle der Frau. Ein weiterer moderner Utopiestrang betrifft die Frauenemanzipation, die bereits auf Christine de Pizan im 15. Jahrhundert zurückgeführt werden kann und sich gerade heute stark vermehrt hat. Des Weiteren enthalten Utopien Auskünfte über die Institutionen des Willensbildungsprozesses, der politischen Partizipation der Bürger und der Entscheidungsfindung. Auch wird des öfteren ausgeführt, ob politische Eliten vorgesehen sind und wie sie sich rekrutieren. Schließlich enthält jede Utopie mehr oder weniger ausfuhrliche Kommentare zur Erziehung, Justiz, Religion, Kunst und zur Außenpolitik, insbesondere zu Krieg und Frieden. 24 Es gibt hunderte (und mehr) politische Utopien, allein schon die Aufklärung in Frankreich hat etwa vierzig politische Utopien hervorgebracht. Insofern kann in diesem Lehrbuch nur ein repräsentativer Querschnitt behandelt werden. Die analytischen Unterteilungskriterien richten sich im Wesentlichen an der von Richard Saage entwickelten Typenbildung. 2 5 Der Begriff der Utopie bezieht sich, wie erwähnt, auf die 1516 publizierte „Utopie" des Thomas Morus. Vor der Auseinandersetzung mit dem utopischen Denken in der Renaissance bzw. Reformation, also vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, ist zumindest auf Piatons „Politeia" aus der Antike einzugehen, weil er wie kein anderer Vorläufer den utopischen Diskurs der frühen Neuzeit wesentlich beeinflusst hat. Auf der Folie seiner „besten" Organisationsform von Herrschaft können auch die wichtigsten Strukturelemente der „Utopia" des Thomas Morus, ferner des „Sonnenstaates" von Tommaso Campanella und „Neu-Atlantis" von Francis Bacon interpretiert und verdeutlicht werden. Unabhängig davon ist festzuhalten, dass die soziopolitischen Herausforderungen, auf welche jeweils die spezifischen politischen Utopien u.a. von Morus, Campanella und Bacon reagierten, die Konstituierung des neuzeitlichen Staates ist, verbunden mit dem Eindringen kapitalistischer Prinzipien, vor allem in die Sphäre der Landwirtschaft. Diese Utopisten reflektierten in ihren Entwürfen die Frage, wie das Gemeinwesen aussehen solle, das die erkennbaren Missstände der europäi23 24 25
Saage 2000a, S. 49. Saage 2000a, S. 50. Siehe Anm. 1, femer Saage 1997 (Kap. 3).
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sehen Gesellschaft der frühen Neuzeit vermeiden könnte. Zum einen weisen die utopischen Gemeinwesen der frühen Neuzeit eindrucksvolle soziale Errungenschaften auf, die teilweise bis heute nicht verwirklicht sind. Gegen die scholastischen Doktrinen gewandt, öffneten sie sich gegenüber den modernen Naturwissenschaften und reflektierten deren praktische Anwendung als Technik. Gegen die Verschwendungssucht von Adel und Kirche setzten sie das strikte Verbot der Luxuskonsumtion und der Vergeudung materieller Güter. Nicht zuletzt spielten sie — mit Ausnahme Bacons — das Gemeineigentum gegen die kapitalistische Verwertung des Privateigentums aus, und zwar in der Hoffnung, den sozialen Konflikten hierdurch ein Ende zu setzen. Ganz entscheidend für diese Utopien ist es, dass die Menschen als Urheber ihrer eigenen gesellschaftlichen Institutionen dargestellt werden. Zum anderen geht die Vernunft der Einzelnen fast ohne Rest in den utopischen Institutionen auf. Einmal konstituiert, stellen die utopischen Einrichtungen gleichsam eine Superstruktur dar, welcher der Einzelne als Individuum rigoros subsumiert wird. Es trifft zu, dass zum Beispiel der „Sonnenstaat" Campanellas einem riesigen Kloster gleicht, das überdies nach einer strikt militärischen Disziplin funktioniert. Was den Geltungsanspruch der utopischen Konstruktionen dieser Epoche betrifft, so haben wir es mit so genannten „Raum-Utopien" zu tun, d.h., dass in der Darstellung die utopische Gegenwelt durch eine räumliche Distanz — vorzugsweise in Gestalt einer fernen, nur schwer zugänglichen Insel — von den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt ist, denen sie als Alternative dient. Die Utopien der Aufklärung von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Französischen Revolution (unter anderem Fénelon, Morelly, Mercier, Rétif de la Bretonne) nehmen zentrale Elemente ihrer Vorgänger auf, geben ihnen aber eine charakteristische Wende. Ihre Vorbilder in der Renaissance und Reformation können sie in vielerlei Hinsicht nicht leugnen, so bestehen Parallelen im Hinblick auf: • die Kritik der bestehenden soziopolitischen Verhältnisse als Negativfolie der konstruierten Gegenwelt, • die anti-individualistische Stoßrichtung des utopischen Ideals, • die in der Regel auf dem kommunistischen Gemeineigentum basierende Vorstellung einer „gebremsten Ökonomie", die Beziehungen zwischen den Geschlechtern als stabilisierender Faktor des Gemeinwesens, • die Grundstruktur des Regierungssystems, der Religion, der Justiz und der Erziehung sowie die Stellung zu Krieg und Frieden im außenpolitischen Verhalten. Doch diese Kontinuität darf nicht den Blick für bedeutsame Modifikationen des ursprünglichen Utopie-Musters verstellen. War der frühneuzeitliche Staat mit
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seinen starken Institutionen das heimliche Vorbild der politischen Utopien des 16. Jahrhunderts, so beginnen nun die Aufklärungsutopien der absoluten Potestas [also Herrschaft, Macht und Gewalt] des Fürsten den Boden zu entziehen. Es wird jetzt die Herrschaft als solche problematisiert bis hin zu staatsfreien bzw. anarchistischen Utopien. Der wichtigste utopientheoretische Paradigmenwechsel jedoch lässt sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts konstatieren. So ersetzen beispielsweise Morelly und Mercier die utopischen Dimensionen des „Raumes" durch die der „Zeit". Der Ablösung der Raum- durch die Zeitutopie liegt die Prämisse zugrunde, dass die Utopie zum zukünftigen „Telos", zum Ziel des historischen Prozesses avanciert. Die politischen Utopien erheben jetzt mehr und mehr den Anspruch, dass das in die Zukunft projizierte Ziel tatsächlich verwirklicht werden kann, weswegen auch in wachsendem Maße Transformationsstrategien angegeben werden, wie man dieses Ziel erreichen könne. Dem Muster dieser Zeit-Utopien sind auch die wichtigsten utopischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts verpflichtet, wie sie von Saint-Simon, Fourier, Owen, Cabet und anderen entwickelt und formuliert wurden. Aber zugleich zeigt bereits hier ihre Zeitdiagnose, dass sie auf eine welthistorisch neue Herausforderung zu reagieren hatten, nämlich den Prozess der Industrialisierung. Was den politischen Utopien des 19. Jahrhunderts nun auch ihr unverwechselbares Profil verleiht, ist die Aufwertung von Naturwissenschaft und Technik, die zum eigentlichen materiellen Fundament der utopischen Entwürfe wird. Das Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums, das von der Industrialisierung erwartet wurde, macht nicht nur das Luxusverbot der älteren Tradition hinfallig. Es liberalisierte auch den drakonischen Arbeitszwang, der zunehmend durch Konzepte selbstbestimmter Tätigkeit ersetzt wurde. Neu ist auch die Konstruktion von „technischen Staaten". Gleichgültig, ob das utopische Gemeinwesen, genossenschaftlich oder etatistisch (also staatsbezogen) gedacht wurde, gingen die Utopisten nunmehr davon aus, dass der Staat als innen- und außenpolitische Repressionsinstanz seine Zukunft bereits hinter sich habe. Die Herrschaft des Menschen über den Menschen, sogar in ihrer demokratischen Form, werde abgeschafft und durch die Verwaltung von Sachen ersetzt, so die Prognose und Hoffnung. Vor allem wurde der geschichtsphilosophischen Begründung der Zeit-Utopie eine neue Akzentuierung gegeben. Die Triebkraft war nunmehr die angewandte Naturwissenschaft als Technik. Der mit industriellen Mitteln vorangetriebene gesellschaftliche Wohlstand sollte die emanzipatorischen Potenziale erst zur Verfugimg stellen, auf deren Verwirklichung die Sozialutopien des 19. Jahrhunderts spekulierten. Die Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften sollte vor allem durch eine Strategie des Überzeugens erfolgen.
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Die politischen Utopien der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts schreiben das Emanzipationsprojekt ihrer Vorgänger fort. Aber sie radikalisieren es — insbesondere, wenn wir an die bolschewistischen Modernisierungsprojekte und die damit verbundenen Utopien denken (wie z.B. die utopischen Romane A. Bogdanovs „Der rote Planet" und „Ingenieur Menni"). Bogdanovs Mars-Utopie erhob den Anspruch, an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu marschieren. Neu ist freilich, dass er im Bestreben der Menschen, mittels der Technik die Natur zu beherrschen, einen Kampf auf Leben und Tod sieht. Die quasi-militärische Unterwerfung der Natur läuft auf zwei Ziele hinaus: ihre rigorose Ausbeutung im universalen Maßstab und ihre Veränderung nach den Plänen der Menschen. Die Konzeption des „neuen Menschen", seit Piaton ein zentrales Thema aller politischen Utopien, erfuhr im Utopie-Diskurs der Bolschewiki eine radikale Zuspitzung. Nach Trotzki wird der Mensch in der vollendeten kommunistischen Gesellschaft stärker, klüger und feiner, sein Körper harmonischer, seine Stimme musikalischer sein. Zugleich geht das utopische Denken der Bolschewiki über die Standards des 19. Jahrhunderts hinaus, insofern die Gewalt als Mittel der gesellschaftlichen Transformation und die Kosten von abertausend Menschenleben, die der Modernisierungsprozess fordert, ausdrücklich legitimiert werden. Umgekehrt kann man feststellen, dass gerade das sozialistisch-bolschewistische Experiment nach der Oktoberrevolution von 1917 entscheidend zur Entstehung der negativen Utopien mit beigetragen hat. Es stellte sich bald heraus, dass die Masse der Bevölkerung zum bloßen Verfügungsobjekt gesellschaftlicher Planung degradiert wurde. Die Auswirkungen auf das Individuum haben im Osten bereits 1920 Samjatins „Wir" und im Westen Huxleys „Brave New World" (1932) und Orwells „1984" aus dem Jahre 1948 in ihrer Grauenhaftigkeit auszumalen versucht. Häufig übersehen wird dabei der Ansatz von Karin Boye, die bereits vor Orwells „1984" den Überwachungs- und Reglementierungsstaat schilderte unter Hinzunahme einer „Wahrheitsdroge". Sie reiht sich damit in die Dystopien von Orwell und Huxley ein. Das 20. Jahrhundert ist geprägt von zwei Weltkriegen, von den totalitären Systemen des Faschismus und des Stalinismus und von einem erkennbaren Destruktionspotenzial der modernen Technik. Hierauf reagieren die neueren Utopien unseres Jahrhunderts, so Skinners „Futurum II" (1948), Huxleys „Eiland" (1962) und Callenbachs „ökotopia" (1975). Bei allen Unterschieden ihrer utopischen Gegenwelten haben sie eines gemeinsam: die Abkopplung der Utopie von einem geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben, ferner die radikale Dezentralisierung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen sowie die Versöhnung der Technik mit der Natur, der in Sonderheit eine rigorose Ethik des Konsumverzichts und in antizipierender Weise auch die Formel der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) entspricht.
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Ferner werden mehr und mehr feministische Utopien formuliert, die im Kontext der reflektierten Gender-Problematik stehen und Emanzipationsprozesse imaginieren. 26 Insbesondere geht es um die überfallige „Befreiung der Frauen aus Geschlechtsrollenzuweisung, Unterordnung, patriarchaler Projektion, Chancenungleichheit, sexueller Deformierung und Gewalt, Kolonisierung etc." 27 — In den tradierten Utopien werden Mensch und Mann als Synonyme betrachtet; die Frau ist nachgeordnet und überwiegend inferior. 28 Auch in den Utopiemustern des 20. Jahrhunderts gibt es weiterhin Schieflagen. Zwar werden Frauen in der Spätmodeme in den immer noch vorherrschenden androzentrischen Utopien als gleichberechtigt gedacht, aber häufig dominant mit Sexualität identifiziert und/oder auf fürsorgliche Funktionen reduziert. 29 Neue Strömungen, die sich dem „malestream"-Denken widersetzen, wollen dagegen reflexiver vorgehen. Die Utopien werden insgesamt heterogener oder pluraler und sie lassen Raum für Differenzen, „für den Respekt von verschiedenen Lebensformen inklusive der Umwelt und für Dynamik innerhalb der schon bestehenden Idealgesellschaft." 30 Eine reziproke Menschwerdung beider Geschlechter und Herrschaftsarmut über Menschen und die Natur ist auch utopisch keine geringe Sache, die vor allem nicht einfach so — ohne Berücksichtigung der Um- und Zustände — zu bewerkstelligen ist. Dass Männer- und Frauenbilder in komplexer Weise mit Macht und Herrschaft zusammenhängen, liegt ohnedies auf der Hand. Das gilt auch für die Utopiemuster, die bestimmten Gegen-Welten verpflichtet sein wollen. Die in Utopien eingesetzten Kategorien könnten die Konstruktions- und Gestaltungsmuster unserer menschlich-gesellschaftlichen Zukunft sein, auf jeden Fall legen sie schon immer dar, was in der je kurrenten Gesellschaft strukturell und prozessual kritikwürdig ist und zur Veränderung ansteht — wenn nicht heute, so vielleicht schon morgen. Diese Globalisierung von inneren Sinnwelten ist das seinsaufsprengende Potenzial von Utopien, auf die wir weder literarisch noch utopisch verzichten können, allerdings sind die Entwürfe stets der Reflexion und einer Folgenabschätzung — nämlich mit einem nüchternen oder skeptischen Blick auf ihre politisch-praktischen Auswirkungen — anheim gestellt, um zu Modellen rationalen sozialen Theoretisierens zu werden. Denn politische Theorien sind Utopien von sich aus noch nicht; sie müssen sozialwissenschaftlich mit interdisziplinärem Anspruch evaluiert werden, ohne ihre literarisch-narrativen und kreativ-normativen Vorzüge zu unterschlagen. Dieser Aufgabe stellt sich dieses Buch. Die Implementierung hingegen wäre jeweils ein Teil der kollektiven Praxis.
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Einen guten Überblick bietet Roß 1999. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht vgl. Klarer 1993. Roß 1999, S. 26. Roß 1999, S. 96. Roß 1999, S. 101. Roß 1999, S. 239.
II. FALLBEISPIELE VON PLATON BIS O R W E L L
1. PLATON Wir beginnen unsere Darstellung ausgewählter Fallbeispiele mit der politischen Philosophie und Utopie Piatons, die unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten insbesondere in der etwa 374 v.Chr. entstandenen „Politeia" entwickelt ist. 1 Zum besseren Verständnis ist vorauszuschicken, dass in Piatons politischer Philosophie 2 ein anthropologisches Prinzip vertreten wird, nach welchem die Polis — der griechische Stadtstaat bzw. besser: die Polisgesellschaft oder Polisordnung, weil die antiken Griechen noch keine Trennung von Gemeinschaft/Gesellschaft und „Staat" kannten 3 — als der groß geschriebene „Mensch" erscheint. Dieses anthropologische Prinzip diente Piaton als Grundlage seiner Kritik an der zeitgenössischen athenischen Polis (und darüber hinaus), andererseits als fundamentale Kategorie für den Entwurf einer in seiner Sicht idealen politischen Ordnung. 4 In 1
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Für Emst Bloch ist die „Politeia" Piatons nicht nur die erste und berühmteste, sondern auch die kühlste Utopie. In ihr läge mehr eine traurige denn eine vertrauensvolle Stimmung: Das Prinzip „Alles sei gemeinsam", das von Piaton her „zum vornehmsten utopischen Stichwort wurde,... wurde auf die beiden oberen Stände begrenzt; es war ein mönchisches Privileg, keine demokratische Forderung. So ist Zurückhaltung in dieser Utopie, um den Preis allerdings, dass sie die reaktionärste ist, ja überhaupt keine im Märchensinn, im Sinn des Goldenen Zeitalters." Bloch 1985, S. SS4. Ebd., S. 566: „Und lange bevor die Freiheit ihren Staatsroman fand, hat Piatons .Politeia' Ordnung utopisiert." Vgl. insbesondere Höffe 1997, Kersting 1999, Ottmann 2001b, S. 1-110, Weber-Schäfer 1992 (II), S. 1-36, Zehnpfennig 1999. Der antike Politikbegriff ist in spezifischer Weise gemeinschaAsbezogen und verschließt sich einer Dichotomisierung in separate Felder wie „Staat/Gesellschaft" oder „Gemeinschaft/Gesellschaft" Vgl. Weber-Schäfer 2000, S. 12. Die politische Ordnung ist zugleich sakral eingebettet und auch imperial gewaltbereit. Ein immer fragiler Elitenkonsens ist das integrative Erfordernis kollektiver Identitätsbildung und militante Einsatzbereitschaft ihre patriotische Aktionsbasis. Die griechisch-römische Antike und ihre politische Philosophie stehen zwar im Zusammenhang von Stadterfahrongen mitsamt ihrer Ordnungslogik, aber sie thematisieren in paradigmatischer Weise das Politische als den ausschlaggebenden Handlungsraum menschlich-gesellschaftlicher Existenz. Vernunft und Macht, Handlung und Wissen werden in einen normativ-kosmologischen Kontext gestellt, der zuvörderst der „Seelenbesserung" und einer ideell-homogenen Ordnungsstiftung dienen soll vermöge durchdringender Reflexion deijenigen, die dafür geeignet sind bzw. sein sollen. Piaton bricht mit Athen und mit der Demokratie. Eine Stadt, die mit Sokrates den einzig Gerechten verurteilt, diskreditiert sich selbst. Für Piaton soll an die Stelle der korrupten Polis die gerechte Stadt treten. Insofern ändert die „Synthese von Agonalität und Polisbewusstsein, von Exzellenz und Ge-
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seinem Hauptwerk „Politeia" — und dort vor allem in seinem berühmten Höhlengleichnis — hat Piaton dargestellt, wie der Mensch erst dann zu seinem wahren Wesen gelangt, wenn er seine Seele für die transzendente Erfahrung des göttlichen Seins und des höchsten Gutes öffnet — und zwar nach der periagoge, der Abwendung von der Unwahrheit der bloß diesseitigen menschlichen Existenz und durch die Hinwendung zur Wahrheit der Idee. Der Mensch entdeckt durch die Entfaltung seiner wahren Beziehung zu Gott oder allgemein zur Metaphysik seine wahre Natur. Das neue Maß, das für die Gesellschaftskritik gefunden wird, ist nicht der Mensch schlechthin, sondern der Mensch, sofern er durch die Differenzierung seiner Psyche zum Repräsentanten der göttlichen Wahrheit geworden ist. Daraus ergibt sich für den Begründungszusammenhang des platonischen Idealstaates, dass das anthropologische Prinzip ein theologisches Prinzip zur Basis und Voraussetzung hat. Des Weiteren ist vorab festzuhalten, dass bei Piaton die inhaltlichen Bestimmungen seiner Philosophie zunächst und vor allem in seiner Deutung des Lebens und Denkens des Sokrates (469-399 vor unserer Zeit) manifest werden. Von Sokrates wiederum ist die Maxime bekannt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß." Damit ist auch gemeint, dass wir unser „Wissen" dem sozialkommunikativen Umgang mit anderen verdanken. Die sokratische Methode wiederum ist die dialogische Dauerreflexion. Denn er war als Athener Bürger ein Philosoph der Straße, auf den Märkten und anderen sozialen Treffpunkten, kein Akademiker, sondern ein (notabene besitzloser) Philosoph des Alltagslebens, ein Ironiker, bohrender Frager und Vermittler unterschiedlicher Diskurse, dem alles Wissen tentativ (vorläufig) war. Seine Grundfrage war, wie man leben solle und was man wissen könne — ein Philosoph der Lebenskunst und „Seelenbesserung". 5 Seine Sorge richtete sich auf die Seele
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meinsamkeit, welche die Entwicklung der griechischen Kultur bestimmte, ... bei Piaton noch einmal ihre Form. Das Bewusstsein der Gleichheit und Gemeinsamkeit tritt in den Hintergrund. Das Streben nach Exzellenz und Bestleistung rückt noch einmal nach vorn. ... Aus der Polis, die eine Stadt der Gleichen war, wird eine hierarchisch gegliederte Stadt, die aus unterschiedlichen Einzelleistungen und in sich gestuften Bestleistungen zusammengesetzt ist." Gleichzeitig reinigt Piaton den Kanon der Bildung: „Die Mythen der Dichter werden verworfen. ... Statt der Dichter soll der Philosoph der Erzieher sein." Ottmann 2001b, S. 1. Siehe Nehamas 2000, Ottmann 2001a (Kap. XII), Vlastos 2000. Zur Selbststilisieiung des Sokrates siehe Böhme 1988. Siehe auch Bubner 2002, S. 52, wonach der Einzelne ein Wissen des Guten besitzen oder erweiben muss. In diesem Kontext ist „Seelenbesserung" die eigentliche Intention der Dialoge des Sokrates: „Seelenbesserung leistet gesprächsweise eine Art der Selbsterhellung beim Partner, der die Doxa, seine vorläufige Auffassung der Dinge mitbringt, in derselben erschüttert wird und dann ein klareres Verständnis der fraglichen Angelegenheit aufbaut. Belehrt über sich selbst und die Welt, kann er nach dem dialogischen Austausch wieder in seine gewöhnliche Praxis entlassen werden." — Sokrates verhält sich in der Gestaltung Piatons des Öfteren suggestiv, ja manipulativ. Siehe auch Birnbacher 2002.
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und große Teile der Jugend Athens, darunter Piaton, waren von den neuen Ideen begeistert. Die herrschenden Tyrannen hingegen sahen in Sokrates einen Verfuhrer der Jugend und ließen ihn durch Gift hinrichten, wobei Sokrates aus Gründen der Staatsräson den Schierlingsbecher ohne Widerspruch einnahm. Er versagte sich auch die leicht mögliche Flucht, weil er gegenüber den Gesetzen nicht vertragsbrüchig werden wollte, deren Schutz er bis dahin freiwillig genossen habe. Fernerhin war Sokrates von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt und davon, dass jemand, der gut gelebt, d.h. nach Tugend und Wissen gestrebt habe, nach dem Tod eine bessere Daseinsform erreichen werde. Dass die somatischen Fragen in der abendländischen Überlieferung fortlebten, ist insbesondere das Verdienst Piatons, der die Erinnerung an seinen Lehrer wach hielt, indem er ihn in fast allen seinen Werken (jedoch nicht in den „Nomoi") als Hauptsprecher auftreten ließ und der Menschlichkeit, Standhaftigkeit und Furchtlosigkeit sowie dem Gerechtigkeitssinn des Sokrates hierdurch ein unvergängliches Denkmal setzte. Piaton selbst wurde 428/27 v.Chr. als Sohn einer athenischen Adelsfamilie geboren. Nach ersten Versuchen als Dichter wollte er sich der Politik zuwenden. Die Schreckensherrschaft der Dreißig, die er als Jüngling erlebte, stieß ihn ab. Dann war er auch von dem wiederhergestellten Regime der Demokratie enttäuscht, das Sokrates wegen Gottlosigkeit hinrichtete. Aus der Überzeugung, dass alle Gemeinwesen seiner Zeit in schlechter Verfasstheit seien, wandte er sich der Philosophie zu. Er gründete in der Nähe von Athen eine philosophische Akademie und dachte in diesem Kontext über die Verbesserung der Polisordnung nach. Seine Maxime lautete, dass die Verhältnisse sich erst grundlegend zum Besseren wandeln könnten, wenn „entweder das Geschlecht der auf rechte und wahrhafte Weise Philosophierenden an die Herrschaft gelangt oder die Machthaber in den Poleis durch göttliche Fügung philosophisch werden" (Siebter Brief, 326b). Bis zu seinem Tod 347 vor unserer Zeit in Athen widmete sich Piaton der Leitung der Akademie, deren Mitglied bis zu Piatons Tod (349/48 v.Chr.) auch Aristoteles war. Piaton sieht sich als Erbe und Fortsetzer von Sokrates, den er in den meisten seiner Dialoge zum Wortführer macht. Wir können daher durchaus von einer literarisch-philosophischen Kunstfigur sprechen, die wir Platon-Sokrates (bzw. Sokrates-Platon) nennen wollen. Die Dialogform 6 , die Piaton seinem politisch-philosophischen Werk gibt, hat zunächst äußerliche Gründe. Die Arbeiten dienten nämlich nicht dem schulischen Lehrvortrag, sondern waren zur Publikation bestimmt und wandten sich an den gebildeten Laien. Der Dialog dient hier als Medium der Einfuhrung, aber es gibt auch systematische Gründe. Erstens befördert der Dialogcharakter die argumentative Form der platonischen Philosophie, denn der Dialog erlaubt das Ausklammern 6
Vgl. Mittelstraß 1994, S. 42-45 (Dialogisches Denken).
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systematischer Fragestellungen, wo diese nicht bzw. noch nicht befriedigend zu beantworten sind. Der Dialog erlaubt ferner den Vortrag von Meinungen, ferner die Zurückhaltung der eigenen Position. Es besteht auch kein Zwang zur systematischen Vollständigkeit. Der Dialog erlaubt auch die Revision von Positionen im Laufe der Erörterung, ohne dass die vorherigen Teile neu geschrieben werden müssten, des Weiteren einen argumentativen Einsatz der Ironie — und die Dialogform erlaubt in Sonderheit auch ein Ausweichen in Erzählungen und Gleichnisse, die der Veranschaulichung und Erläuterung dienen. Der zweite systematische Grund für die Wahl der Dialogform ist die Art und Weise des platonischen Denkens, die verstanden werden kann als ein argumentatives Handeln. Die Dialoge sind Verständigungs- und begründungsorientiert und verfolgen insofern eine praktische Intention. 7 Insbesondere wird in den Dialogen von Sokrates-Platon immer wieder nach dem Wesen politischer Tugenden gefragt, die den Bürger in der Polis kennzeichnen sollen. Es geht um die Einheit von moralischer und politischer Existenz und um die Erstellung und Einhaltung sittlicher Normen, deren Grundlage darin besteht, dass jeder Mensch nach dem Guten als dem höchsten Lebensziel strebt und so seine Glückseligkeit erreicht. Daher ist der Tyrann, der seine Macht zu Verbrechen benutzt, der unglücklichste von allen Menschen — wie es überhaupt besser sei, Unrecht zu erleiden (wie Sokrates), als Unrecht zu tun. 8 Der Staatsmann soll ein guter Rhetoriker und Erzieher seines Volkes sein. Gerade Athen habe, so die Metapher, die Therapie eines strengen Arztes nötig. So hält der platonische Sokrates den Bürgern unerbittlich das wahre Gute vor Augen. In der Politeia, der Utopie Piatons, geht es vor allem um die wahre und ideale Polisordnung. Die Ausgangsfrage ist: Wie muss ein Staat aussehen, in dem die Gerechtigkeit verwirklicht werden kann, welche Verfassung (politeia) muss er haben? Sokrates-Platon legt dar, dass Herrschaft eine Dienstleistung zum Nutzen derer sei, die sie in Anspruch nehmen. Er setzt sich in den von Piaton gestalteten Dialogen unter anderem mit den Einwänden auseinander, dass Gerechtigkeit der Nutzen des Stärkeren und Ungerechtigkeit (in dieser falschen Sicht) nützlich und daher eine Tugend sei. Für Sokrates-Platon ist die Wirkung der Ungerechtigkeit konsequent zu bedenken: ob es sich nun um eine Polis, ein Heer oder eine Räuberbande handelt, Ungerechtigkeit der Mitglieder erzeuge in jeder Gemeinschaft Zwietracht und führe zu deren Zerfall. Absolute Ungerechtigkeit macht den Einzelnen 7
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Allerdings kann auch gesagt werden, dass Piaton selbst sich bis zur Unkenntlichkeit hinter den dialogischen Texten verschanzt, die mehr Gesprächsberichte sind, so dass jede Interpretation vor erheblichen Authentizitätsrisiken steht. Kersting 1999, S. 10-12. — Fernerhin ist darauf zu verweisen, dass Dialoge mit diskursivem Anspruch nur menschlichen Lebewesen eignen, die über logos verfügen. Damit ist ein metalinguistisches Verhalten impliziert, d.h. eine Verständigung nicht nur mittels bestimmter Zeichen, sondern darüber hinaus in Zeichen über den Zeichengebrauch selbst, also in reflexiver Weise. Das ist auch die Auffassung Demokrits.
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und die Gemeinschaft sogar handlungsunfähig. Gerechtigkeit aber sei die Tugend der Seele, weshalb der Mensch, der sie verwirklicht, zwangsläufig glücklich sei. — Es ist aber noch nicht geklärt, was die Gerechtigkeit selbst sei. Die von Glaukon, einem Bruder Piatons, vorgebrachten Einwände lauten: Ungerechten gehe es in Wirklichkeit häufig besser als Gerechten und die Behauptung, Unrecht zu erleiden sei besser als Unrecht zu tun, sei ein lächerliches Paradoxon. Gerechtigkeit sei eher ein Gut, das wir ausschließlich wegen seiner Folgen liebten — und es genüge bereits der Schein der Gerechtigkeit. Und Adeimantos, ein weiterer Bruder Piatons, gibt zu verstehen: Zwar erzögen die Väter ihre Söhne zur Gerechtigkeit, aber im Grunde sei sie ihnen gleichgültig. Mit diesen (sophistischen) Scheinthesen geben Piatons Brüder dem SokratesPlaton, der um ihre wahre Gesinnung weiß, den Anstoß, eine, besser gesagt: die Verfassimg einer Polisgesellschafit zu entwerfen. Die Frage der Gerechtigkeit wird also jetzt am größeren Objekt der Polis erörtert und geprüft. Sokrates-Platon beginnt sein Gedankengebäude mit den Anfängen des polisgesellschaftlichen Lebens. Ausgangspunkt ist der Mangel als die Ursache, warum sich die Menschen zusammenschließen, denn gemeinsam ist der Lebenskampf leichter zu bewältigen. Um die elementaren Bedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Kleidung besser befriedigen zu können, kommt es bald zu einer Arbeitsteilung. Was über den Eigenbedarf hinaus produziert wird, wird gegen andere Waren eingetauscht. Wird die Polis größer, übernehmen Kaufleute, die sich für schwere körperliche Arbeit nicht eignen, den Warentausch. Markt und Geld entstehen, der Handel weitet sich aus. Mit der Zeit wachsen aber auch die Ansprüche der Bewohner; es tritt eine „Anspruchsinflation" ein und das Verlangen nach Zivilisation, Luxus und Unterhaltung fuhrt zu neuen Berufen, bis der steigende Aufwand die Ressourcen erschöpft und als Ausweg nur die Expansion auf Kosten der Nachbarn bleibt. So wird das menschliche Verlangen, immer besser zu leben, zur Ursache aller Kriege. Für die Kriegführung benötigt man möglichst gute Soldaten und es entsteht das Militär, der Stand der Wächter (phylakes). Das ist das erste große Thema der Staatsgründung und Platon-Sokrates behandelt ausfuhrlich die Natur der Wächter, ihre Erziehung und Lebensführung. Die Wächter sind der tragende Stand der Musterpolis. Aus ihnen geht der Stand der Herrscher (árchontes) hervor, die das zweite große Thema bilden. Zu Regenten werden diejenigen, die unter den Wächtern von Jugend an hervorragen und dem Gemeinwesen am nützlichsten sind. Der dritte Stand, in dem die Bauern und Handwerker (demiurgoi) zusammengefasst sind, bildet hingegen kein eigenes Thema. Er zählt nur als Dienst- und Nährstand, der für den Unterhalt der beiden anderen Stände aufkommen muss. Allerdings können die Demiurgen, sofern sie sich dafür eignen, zu Wächtern aufsteigen, während wiederum schlechte Wärter in den dritten Stand versetzt werden können — es ist also
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ein gewisser sozialer Aufstieg bzw. Abstieg für die Philosophenuntertanen möglich. Für jeden Stand gibt es eine natürliche Disposition in Analogie zur menschlichen Seele. Die Herrscher verkörpern den Vernunft-Teil (logistikon) der Seele, die Wächter den Mut-Teil (thymoeides) der auf die Tapferkeit bezogen ist, die Demiurgen den Trieb-Teil (epithymetikon) der Seele, der merkwürdigerweise als Besonnenheit bezeichnet wird (und zwar im Sinne von Zufriedenheit: sie sollen sich mit dem bescheiden, was ihnen zur Verfügung steht bzw. ihnen zuträglich ist). Jedem Stand ist mithin eine gesellschaftlich-ethische Grundnorm zugeordnet, eine dem Seelenteil korrespondierende Kardinaltugend: den Herrschern die Weisheit, den Wächtern die Tapferkeit und dem dritten Stand die Besonnenheit oder Genügsamkeit. — In der Politeia decken sich demnach anthropologische und politische Ordnung. Die Herrscher sind stets weise und handeln vernünftig, die Soldaten sind tapfer und mutig, der Stand der Demiurgen kann durch Triebverzicht aufsteigen. Jeder Stand insgesamt und innerhalb eines Standes jeder Einzelne trägt entsprechend der jeweiligen spezifischen Veranlagung und Tugendleistung „das Seine" dazu bei, um die Stabilität des Ganzen zu erhalten. Es handelt sich hier also um eine hierarchisch gegliederte, organische Staatsauffassung. Das ist der Normalzustand, die „Gesundheit" des Staates und der Einzelseele. Um sie auf Dauer zu stellen, bedarf es einer umfangreichen Erziehung, die Politeia kann daher — wie fast jede Utopie — auch im Sinne eines Erziehungsprogramms (Paideia) gelesen und verstanden werden. Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang jedoch von einer Erziehungsdiktatur. Bei den Wächtern kommt es neben der körperlichen Ertüchtigung vor allem auf die Bildimg ihrer Seelen durch Dichtung und Musik an — und zwar soll es sich um positive Dichtung handeln. Dichter müssen daher ein zutreffendes Bild vermitteln von einem höchsten Wesen, das gut, unveränderlich und wahrhaftig ist. Unwürdiges Verhalten von Göttern und Menschen oder andere häßliche Dinge dürfen nicht Gegenstand der Literatur werden. Auch ist nur solche Musik zugelassen, welche die Tugend fördert. Die Gymnastik steht erst an zweiter Stelle, denn bereits die gute Seele bildet einen guten Körper aus. Eine gesunde Diät für Leib und Seele macht Ärzte und Advokaten überflüssig, die immer ein Zeichen moralischen Verfalls sind. Die richtige Erziehung wird von Generation zu Generation stets bessere Wächter generieren und zu einer Entwicklung geeigneter Lebensformen beitragen. Zwischen weiblicher und männlicher Natur bestehen im Übrigen für Piaton keine existenziellen Unterschiede, sondern nur graduelle hinsichtlich der Körperkraft. Vom Nützlichkeitsstandpunkt aus muss man auch für die Aufhebung des Privatbesitzes und -lebens plädieren, eine Frauen- und Kindergemeinschaft einführen und für eine geregelte Paarung der Geschlechter eintreten, um eine optimale Qualität und Quantität des Nachwuchses zu erzielen. Das ist einerseits der Kom-
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munismus einer Herrschaftsklasse und andererseits die Idee einer eugenischen Züchtung, die auch heute in modifizierter Form erneut aktuell ist in Bezug auf die Genforschung und Biotechnologie, Cloning, Samenbanken etc. Auf der Suche nach Gerechtigkeit kommt Piaton also in seiner Utopie zu extremen Forderungen. Dazu gehört auch die Institution der Philosophen als Herrscher. Allein der Philosoph ist für Piaton von Natur aus zur Herrschaft berufen, indem er nach dem Wissen der wahren Dinge strebt, die hinter den Objekten existierenden Ideen erschließt und sein Handeln, das ein gutes Handeln ist, hieran orientiert. Das ist seine spezifische Teilhabe am göttlich Jenseitigen, seine participatio an der göttlichen Ratio. Nach dieser Konstruktion des Idealstaates bzw. der Gesamtgesellschaft haben sich die jeweiligen historischen Verfassungen zu bemessen. Herauszufinden ist, wie groß ihr Abstand zum Ideal ist. Nach der üblichen Staatsformenlehre seiner Zeit ist die ideale Verfassung eine Aristokratie als „Herrschaft der Besten". Der Adelsherrschaft am nächsten kommt eine Verfassung wie die spartanische, wo es nicht nach der Geburt (Geburtsadel), sondern nach Verdiensten = Leistungen geht. Die weiteren Formen: Oligarchie (einige wenige herrschen), Demokratie (das „Volk" herrscht) und Tyrannis (ein Einzelner herrscht) entfernen sich in absteigender Linie vom Ideal. Die schlechten Verfassungen (Entartungen oder Parekbasen) gehen aus den besseren hervor, wobei auch Mischverfassungen vorkommen können. Darüber hinaus entspricht jeder Verfassungstypus einem bestimmten Seelenzustand seiner Bürger. Man könnte hier salopp sagen: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient — oder auch die Politikwissenschaft bzw. die politische Philosopie, die es verdient. In der Timokratie verlangen die Bürger nach Ehre (time), in der Oligarchie nach Reichtum, in der Demokratie nach Freiheit, und während bei den Timokraten noch der Mutteil der Seele sozial dominant ist, werden Oligarchen, Demokraten und Tyrannen nur noch vom ungehemmten Triebteil der Seele beherrscht. Der Charaktertypus des „demokratisches Mannes" ist heterogen oder vielfaltig, denn jeder richtet sich seine Lebensweise so ein, wie sie ihm eben gefällt. Damit kommt in gewisser Weise ein Individualismus zum Tragen und insgesamt ergibt sich im Rahmen der demokratischen Polisordnung ein „buntes Kleid", so die Metapher von Sokrates-Platon, in das vielerlei Blumen, womit die Sitten gemeint sind, eingewirkt sind. Das Gesamtgefüge enthält somit vielerlei Verfassungsarten oder Lebensmuster in sich — und vielleicht werden viele, wie es heißt, die wie Kinder und die Weiber auf das Bunte sehen, diese „pluralistische" Verfassung für die schönste halten. Man brauche sich gleichsam nur in der Trödelbude von Verfassungsarten umzusehen und ein Modell auszuwählen. Man sei nicht gezwungen, an der Regierung wesentlich teilzunehmen, so dass sich zunächst die Frage stelle: Ist das nicht eine gar wundervolle und anmutige Lebensweise? Beim ersten Hinsehen verhalte es
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sich wohl so. Dieser Staat sei extrem nachsichtig. Die „buntscheckige" demokratische Verfassung übe sich in einer Nachsicht, die Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt. Es ist keine Frage, dass Sokrates-Platon dieser Ausrichtung skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Die Werte verschieben sich und schließlich erscheint die Haltlosigkeit und Schwelgerei als eine großartige Lebensweise. Geld, Zeit und Mühe werden jetzt eher auf die nicht notwendigen Bedürfnisse gerichtet. Der Einzelne erkenne eine „wahre Rede" nicht mehr, weil er verfuhrbar geworden ist. Er, der demokratische Mann, könne nicht mehr zwischen edlen und schlechten Begierden unterscheiden. Eine „Haltlosigkeit" in der Lebensführung schleicht sich ein, also verlebt er seine Tage immer der aufgeregten Begierde gefallig, bald im Rausch und übermütig, dann wieder trinkt er Wasser und hält magere Kost, bald emsig in Leibesübungen, manchmal auch träge und sich um nichts kümmernd, bald wieder, als vertiefe er sich ganz in die Wissenschaft. Es verhalte sich mithin so, dass irgendeine stringente Ordnung oder Notwendigkeit gar nicht über seinem Leben waltet. Er lebt exzessiv und sprunghaft, was er für frei, anmutig und selig hält. Der demokratische Menschentypus trägt die Muster der meisten Verfassungen und Denkungsarten in sich, ohne sich klar zu entscheiden. Der demokratische Mensch treibt eher dahin, als dass er sein Leben wirklich fuhrt. Im vollkommenen Gemeinwesen hingegen, in welchem die Bürger auch das vollkommene Glück besitzen, gibt es keine Unsicherheit und auch kein Verlangen nach irgendwelchen Änderungen mehr. Konflikt und Wandel sind ausgeschlossen, so dass es sich um statische und geschlossene Gesellschaften handelt, die hier von Piaton proponiert werden. In der Timokratie dagegen wird der Ehrgeiz, der sich zunächst noch auf das Gemeinwohl richtete, allmählich materialistisch und verwandelt die Verfassung in die nächste Abfallstufe der Oligarchie, deren Geldregiment zu einer zügellosen Herrschaft führt und den gesellschaftlichen Staatsverband in Arme und Reiche spaltet. Die Armen und die verarmten Reichen schließlich verjagen die oligarchischen Machthaber und richten eine Demokratie ein. Die Demokratie wird wiederum dadurch zerrüttet, dass der Drang nach Freiheit immer größer und übermächtiger wird, so dass sich im Machtkampf letztlich einer durchsetzt und zum Tyrannen aufschwingt. Das ist die letzte Verfallsstufe und der Tyrann das negative Spiegel- und Gegenbild des zum Herrschen befähigten Philosophen. — Wir erfahren von Piaton nicht, ob sich aus der Tyrannis noch eine weitere Staatsform entwickelt. Piaton sieht also keinen Kreislauf vor, der dadurch gekennzeichnet ist, dass an den Verfallsprozess ein Prozess des Aufstiegs wieder anschließt, um dann erneut abzufallen und aufzusteigen, wie es z.B. bei Polybios in seiner politischen Theorie der Fall ist. Auch Aristoteles wirft bekanntlich Piaton vor, den Entwicklungsprozess der Verfassungen nicht zu einem Kreislauf gerundet zu haben. Es steht jedenfalls fest, dass es sich bei dem Tyrannen als Inhaber der ungerechtesten Herrschaftsform zugleich um den unglücklichsten Menschen handelt. Ferner wird bei Piaton deutlich, dass sein Politeia-Entwurf insgesamt so gedacht ist, dass man ihn zumindest näherungsweise, also approximativ, auch real er-
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reichen kann. Die Realisierung der konzipierten Politeia würde in der Sicht Piatons wohl den idealen Endzustand der Geschichte bedeuten. 9 Wir kommen, ohne hier auf die Einzelheiten eingehen zu können, zu einem Zwischenresümee. Es kann festgehalten werden, dass Piaton die umlaufenden Lehrmeinungen (doxai) über das Glück sorgfaltig dokumentiert und erörtert. Ferner ist in sequentieller Hinsicht darauf zu verweisen, dass die spekulative Gründung der guten Polis im Gespräch — Platon-Sokrates veranstalten gelehrige Diskurse — noch herrschaftsfrei erfolgt. Erst in ihrer Entfaltung als üppige Polis der Zivilisation, die den gesunden, an den Primärbedürfnissen orientierten Poliszustand der rustikalen Idylle überwindet, benötigt sie sodann einen eigenen Kriegerstand und entfernt sich zugleich vom einfachen Leben. Mit dem Konsumanspruch nicht lebensnotwendiger Luxusgüter treten neue Konfliktlinien auf (in der heutigen politikwissenschaftlichen Terminologie: cleavages) und es droht die Degeneration zur korrupten Polis. In diesem Zusammenhang werden die Wächter, die Spezialisten des Kriegshandwerks und der Gewaltanwendung, zur Trägerschicht politischer Macht — und es stellt sich daraufhin die Frage und das Problem ihrer Erziehung. Die urbanisierte Poliskultur, die keine primitive „Stadt für Schweine" ist, wie es bei Piaton heißt, sondern eingerichtet sein soll für voll aktualisierte Lebewesen, ist nicht mehr gleichsam von sich aus stabil. Sie verlässt die natürliche und unreflektierte Gerechtigkeit des frugalen Lebens, das offenbar nicht mehr als attraktiv empfunden wird. Die Polis wird jetzt dynamisiert und somit zur „fiebernden" und „aufgeschwemmten" Stadt. Wir können insofern von bislang drei Stufen der Poleogonie und menschlichen Existenzformung sprechen, aus denen sich die gereinigte Stadt mit den genealogisch entstandenen je dominanten Trägerschichten zusammensetzt: die Bauern, Hirten und Handwerker der gesunden und frugalen Stadt, die Wächter der opulenten Stadt und die philosophischen Regenten, die durch den platonisch-sokratischen Reinigungsprozess aus ihnen entstanden sind. 10 Die zu erreichende vollkommene Polis macht einen neuen Mythos erforderlich. Die Substanz der wahren Polis als Inbegriff der guten Gesellschaft wird nämlich identisch mit dem Erziehungsprogramm für ihre Wächter, aus denen die Herrscher als „Philosophenkönige" hervorgehen. Aus der gereinigten Polis tritt demnach als vierte und finale Stufe die schöne Stadt der Philosophen hervor. 11 Der kognitive, auf Erkenntnis zielende Charakter der „Politeia" darf aber keineswegs als Deskription, als eine Be9 10 11
Gegenüber diesem Gedankenkonstrukt in der Politeia, das ein Ideal aufstellt, ohne emsthaft über die praktischen Verwitklichungschancen nachzudenken, hat Piaton dann in seinen Nomoi (Gesetze), seinem Alterswerk, einen, wenn man so will, realistischeren Standpunkt eingenommen. Weber-Schäfer 1992 (II), S. 13. Weber-Schäfer 1992 (II), S. 13: „Die letzte Entwicklungsstufe des Paradigmas ist.. von der Frage motiviert, ob soziale Bedingungen wenn nicht existent, so doch existenzfähig seien, unter denen die gute Polis der Erkenntnis sich in der realen Polis des konkreten Lebens inkamieren kann."
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Schreibung realer Zustände missverstanden werden (auch wenn es manchmal so klingt), sondern dient als ein kritisch-normativer Maßstab — es ist Piatons Utopie. Die Rettung der korrupten Polis erfolgt durch das Konstrukt einer wahren Ordnung des Guten, die in der Seele des Philosophen Realität angenommen hat und ihn zum Herrschen befähigt. Die gute Polis des platonischen Dialogs ist idealiter angesetzt, während realiter — nämlich in der Zeitkritik — Stufen des Niedergangs behauptet werden aufgrund sich steigender Ungerechtigkeiten im Umgang miteinander. Dieser Verfallsprozess qua Auflösung der Eintracht ist unabwendbar, insofern die Sitten der ehedem eingenommenen politischen Kultur entarten; sie sind mithin einem Vergänglichkeitsgesetz unterworfen, das nicht historisch, sondern anthropologisch begründet wird. Insofern die Politeia vom Paradigma der Polis als Analogon der Seele ausgeht, ist eine Rettung aber bereits vorgegeben: Die guten Seelenteile müssen hochrangig restituiert und institutionell bekräftigt werden. Ein gut regiertes Gemeinwesen ist für Piaton ein „Staat", in dem das sittlich gute Leben des Bürgers im Vordergrund steht. Das Gemeinwesen ist kein Mechanismus zum Ausgleich widerstreitender Interessen, sein Ziel ist vielmehr die Schaffung tugendhafter Bürger. Seine Vorstellungen sind für uns heute teilweise bizarr. Vor allem auch deswegen, weil Piatons Vorliebe den funktional ausdifferenzierten Wächtern gilt, den wahrhaft gerechten Menschen. Piatons gerechte staatlich-gesellschaftliche und expertokratisch bestimmte Ordnung ist die Antwort auf eines der Hauptprobleme der Politik: Wie können Staaten konfliktfrei regiert werden? Piaton jedoch löst das Problem nicht, sondern beseitigt es. Denn im gerechten Staat wird es nach seiner Auffassung keine Konflikte geben; alle werden in der ihnen angemessenen Weise im Hinblick auf das Gemeinwohl homolog denken und gleich fühlen. Damit verbunden ist zunächst die fraglose Anerkennung der Wächter in ihrer Rolle als hauptsächliche Träger politischer Macht. Sie müssen nach Sokrates-Platon wie edle Hunde sein: scharf und schnell im Wahrnehmen und Ergreifen. Selbstredend müssen sie tapfer sein, dem Leibe nach, ebenso jedoch der Seele nach eifrig sein (i.e. der Mut-Teil der Seele). Dieser Themenkomplex führt zur gewünschten Natur des Wächters oder Wehrmannes aufgrund von Erziehung und in diesem soziogenetischen Zusammenhang zur gereinigten Stadt, die im Kontext der einzuführenden oder sich auch kontingent ereignenden Institution des herrschenden Philosophen zur schönen Stadt gerät. Derjenige, der sich wie der edle Hund zum Wächter eignen soll, muss auch noch philosophisch sein von Natur, d.h. lernbegierig und intrinsisch motiviert, um durch Verstehen oder Nichtverstehen das Verwandte und Fremdartige zu bestimmen, denn „lernbegierig" und „philosophisch" seien im Grunde dasselbe. Wenn bei Piaton die Männer als „Hüter der Herde" apostrophiert werden, ist natürlich unter gender-Gesichtspunkten danach zu fragen, wie es sich mit dem
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Pendant des Weiblichen verhält. Für den Sokrates Piatons müssen wir sie prinzipiell in den gleichen Dingen unterrichten. Aber da von Natur aus gewisse Unterschiede bestehen, kommt es auf das einzuhaltende Gesetz über die Art und Weise, Weiber und Kinder zu bekommen und sie aufzuziehen, für die Wächter(innen) ganz wesentlich an. Zur Zeugung müssen nach Möglichkeit gleich starke Männer und Frauen sich vereinigen, institutionell sei eine Weiber- und Kindergemeinschaft zu bevorzugen. Denn kein Kind soll, wie es bei Sokrates-Platon heißt, irgendeinem Manne eigentümlich beiwohnen, so dass auch die Kinder allen gemeinsam sind und weder ein Vater sein Kind kenne noch auch ein Kind seinen Vater. Das geschlechtliche Sichvermischen unterliegt demnach bestimmten Ordnungsstrukturen, die als heilsam erachtet und von den Oberen so angeordnet werden. Hierher gehört auch eine ziemlich abstoßende Passage bei Piaton, denn analog zur Praxis der Tierzüchtung sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten, wie es heißt, am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen — und die Sprösslinge jener Besten sollten aufgezogen werden, die der Schlechten aber nicht. Was Piaton hier propagiert, ist Euthanasie und erinnert in fataler Weise an die Kategorie des „unwerten Lebens" im Dritten Reich. Für Piaton muss dies alles — also die spezifische Zweckausrichtung und Selektion — mit Ausnahme der Führung völlig unbekannt und gewissermaßen ein Staatsgeheimnis bleiben, wenn die Gesamtheit der Hüter so viel als möglich durch keine Zwietracht gestört werden soll. Es werden sonach auch gewisse Feste (so genannte heilige Hochzeiten) eingeführt, an welchen die neuen „Ehegenossen" beiderlei Geschlechts zusammengeführt werden. Die Menge der Hochzeiten wird von den Autoritäten festgelegt nach der Maßgabe, dieselbe Anzahl von Männern zu erhalten, so dass die Polis weder sonderlich größer noch kleiner werden kann. Gleichzeitig wird ein Herrschaftstrick eingeführt, denn das ganze Procedere soll nach einem manipulierten Losverfahren durchgeführt werden, damit bei der Verbindung jeder Schlechtere dem Glück oder Schicksal die Schuld beimesse und nicht den Oberen. Es werden im Weiteren die Aufzucht der Kinder erörtert und die Bestimmungen über erlaubte Kindererzeugung erläutert: Den Jünglingen, die sich wacker im Kriege oder sonstwo gezeigt haben, erhalten eine reichlichere Erlaubnis zur Beiwohnung der Frauen, damit unter diesem gerechten Vorwand zugleich die meisten Kinder von solchen gezeugt werden. Die jedesmal geborenen Kinder nehmen die dazu bestellten Obrigkeiten (gleichsam die Zuchtwarte, und zwar sowohl Männer als auch Frauen) an sich. Die Guten tragen sie in das Säugehaus zu Wärterinnen, die schlechteren aber (sowie die verstümmelten Babys der anderen) werden, „wie es sich ziemt", in einem unzugänglichen und unbekannten Orte verborgen, denn das „Geschlecht unserer Hütte" soll ganz rein bleiben. Die „guten" Kinder werden von den Müttern gestillt, wobei auf alle mögliche Weise verhindert wird, dass irgendeine der Mütter ihr Kleinkind erkennt. Die Frauen sollen zwischen 20 und 40 Jahren gebären, der Mann hat ab dem 30. Lebensjahr bis zum 55. Jahr für das Ge-
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meinwesen zu zeugen. Der Sexualpartner darf nicht frei gewählt werden; erst nach der Fruchtbarkeit seien freiere Kontakte möglich unter Beachtung von Inzesttabus. Dahinter steht bei Piaton immer wieder der leitende Gedanke, dass das größte Übel für den Staat innere Zwietracht bzw. Spaltung ist, das größte Gut hingegen die vollkommene Einheit. Ein Grund für die zu vermeidende Zwietracht und womögliche Uneinigkeit ist der Privatbesitz. Die Begriffe „mein" und „nicht mein" stellen bereits Trennungen dar, in ihnen ist ein Konflikt schon angelegt. Demgegenüber wird von Sokrates-Platon eine staatsorganische Auffassung bevorzugt in Analogie zu dem Beispiel, dass ein Schmerz im kleinen Finger vom ganzen Körper gespürt werde. Die Wächter dürfen weder eigene Häuser haben, auch kein Land oder sonstiges Besitztum, sondern müssten den von den Übrigen als Lohn für ihre Obhut gereichten Lebensunterhalt gemeinsam verbrauchen, wenn sie wahrhaft Hüter sein wollen. Keiner innerhalb dieses Standes hat etwas außer seinem Leibe, alles andere ist gemeinsam. Allein dieses Leben verbürgt für Piaton die Glückseligkeit — und sie seien glücklicher als die Olympiasieger. Auch Kriege werden gemeinschaftlich geführt und die heranwachsenden Kinder werden aus Anschauungsgründen an den Ort des Geschehens mitgenommen. Ferner werden feige Soldaten in den Stand der Handwerker und Bauern strafversetzt. Die Tapferen aber werden besonders geehrt und der Tapfere eines Feldzuges darf küssen, wen er will. Die Einrichtungen und Regeln des Wächterlebens dienen „allesamt dem Zweck, durch radikale Entindividualisierung des Lebens, Denkens und Fühlens der Wächter den Gemeinsinn zu stärken und die Loyalität zu festigen. ... Erziehung und Lebenseinrichtungen nehmen den Wächtern und Wächterinnen 12 alles Differente, Exklusive und Private. Nichts können sie ihr eigen nennen, nichts gehört ihnen ausschließlich, keinen Raum haben sie, wo sie für sich sein können, keinen Menschen haben sie, zu dem sie eine besondere und exklusive Beziehung haben, der ihnen wichtig ist und an den sie ihr Herz hängen könnten. Sie haben kein privates Eigentum und keine Familie, keine Frau und keine Kinder. Mehr noch, sie haben keine Identität, keine unverwechselbare Geschichte, denn da sie weder Vater noch Mutter kennen, haben sie keine Herkunft. — Das Gemeinwesen erzeugt sie und zieht sie auf, gibt ihrem Handeln Sinn und Ziel, wird zum einzigen Inhalt ihres Lebens." 13
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Frauen sind prinzipiell ebenso gut wie Männer zum Wächterstand und zum Regentenamt geeignet. Allerdings ist Piaton keinesfalls als ein „feministischer" Philosoph anzusehen, wie das einige wohlwollende oder übereifrige rezente Interpretinnen noch behaupten wollten. Mit diesem Vorurteil räumt Annas 2000 gründlich auf. Kersting 1999, S. 175.
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Aber ist ein solches Gemeinwesen möglich? Sokrates-Platon stellt zunächst fest, dass der Ausgangspunkt des Gesprächs die Frage der Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit war. Wir suchten die Gerechtigkeit an sich, was sie wohl ist und wie der vollkommen gerechte Mann beschaffen sei. Es habe sich dabei um eine theoretische Erörterung gehandelt, nicht um eine Realitätsbeschreibung. Die im Gespräch aufgestellte Polis sei ein Musterbild zur Prüfung der Wirklichkeit — und man könne schon sehr zufrieden sein, wenn eine staatlich-gesellschaftliche Formation diesem beschriebenen Polis-Modell möglichst nahe käme. Es ist insofern zutreffend, hier von Piatons Utopie zu sprechen. Bedingung für die Verwirklichung dieser herausgearbeiteten Polisordnung aber sei die Herrschaft der wahren Philosophen; hierauf laufe alles hinaus. Der wahre oder eigentliche Philosoph ist ein Liebhaber jeder Erkenntnis und trachtet stets nach der ganzen Weisheit (bzw. Wahrheit), und zwar geht es um das Wesen der Wahrheit, um die Wahrheit selbst. Der Philosoph ist ein Erkennender und verfugt über Einsicht, die anderen aber verfugen nur über Meinungen; sie können das vollkommen Seiende nicht erkennen. Erkenntnis aber ist das stärkste aller Vermögen bzw. Fähigkeiten. Die zur Herrschaft berufenen Philosophen haben die folgenden Eigenschaften aufzuweisen: Sie können das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende erfassen — und das ist das Seiende, das sich über das (dem) Sein erhebt. Zu den erforderlichen Eigenschaften einer philosophischen Natur gehört es, dass einer von Jugend an wissbegierig ist, der durch den Leib vermittelten Freuden weitgehend entsagt und nicht habsüchtig oder kleinlich ist. Aufgrund der Größe seiner Denkungsart hält er die menschliche Existenz nicht für etwas sonderlich Umwerfendes und bewertet den Tod auch nicht als etwas Arges. Eine feige und unedle Natur könne also kein Philosoph sein. Eine philosophische Seele sei bereits in jungen Jahren daran zu erkennen, dass sie gerecht und mild ist, nicht aber unverträglich und roh. Ein Philosoph ist ferner gelehrig und nicht vergesslich in Bezug auf die erworbenen Kenntnisse. Er ist musikalisch und verfugt über ein ebenmäßiges, anmutiges Gemüt, kurzum: er muss eine natürliche Anlage haben dazu, sich leicht hinfuhren zu lassen „zu der Idee eines jeglichen, was wirklich ist". Über diese Eigenschaften verfügten nur sehr wenige (und die vielen anderen, die diese Merkmale nicht hätten, seien dafür nicht zu tadeln). Allein solchen, die über eine philosophische Natur verfügten und durch Erziehung und Alter vollendet seien, sollte man die Polis-Führung überlassen, wie Sokrates es empfiehlt. Dagegen führt Adeimantos an, dass sich die Philosophen doch eher als unbrauchbar für die Staatsgeschäfte erwiesen haben. Zwar könne Sokrates glänzend argumentieren, aber in der Wirklichkeit sähe es doch ganz anders aus. Sokrates antwortet mit einem Bild. Es ist das Bild eines Schiffsherrn, der zwar an Größe und Stärke alle anderen im Schiff übertrifft, im Übrigen aber ist er stur, sieht auch wenig und versteht von der Schifffahrt ebensoviel (bzw. -wenig). Die Schiffsleute sind in sich und wegen des Befehls uneinig; jeder glaubt, er müsse
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steuern, obwohl er die Steuermannskunst nicht erlernt habe. Sie behaupten sogar, man könne sie auch gar nicht erlernen, geschweige denn, sie sei überhaupt lehrbar. Sie würden jeden, der dies behauptet, herunterhauen. So umlagern sie den Schiffsherrn, bittend und alles versuchend, damit er ihnen das Steuerruder übergäbe. Zuweilen aber, wenn sie in der Überredung nicht zum Erfolg kommen, andere jedoch eher, töten sie diese oder werfen sie vom Schiff. Den edlen Schiffsherrn versuchen sie durch Zauberbeeren oder Rausch oder anderswie zu fesseln, um das Fahrzeug zu regieren, und so verbrauchen sie, was sich eben darin findet — und zerstören die mannschaftliche Geschlossenheit. So fahren sie dahin, zechend wie schmausend und schlingernd. Hinzu kommt, dass sie jeden loben und als Meister der Schifffahrt preisen, der es fertigbringt, dass sie ans Ruder kommen, sei es nun durch Überredung oder Gewalt, und jeder, der das nicht tun will, wird von ihnen als unbrauchbar getadelt. — Von dem wahren Steuermann (und das ist natürlich der wahre Staatsmann und Politiker als Philosoph) hingegen wissen sie nicht einmal so viel, dass er notwendigerweise auf die Jahres- und die Tageszeit, den Himmel und die Sterne, auf die Winde usw. Acht geben muss, denn sie scheinen ja zu meinen, es genüge die Kunst und Geschicklichkeit, ans Ruder zu kommen — und dass man nicht beides haben könne, ans Ruder zu kommen u n d die Steuermannskunst zugleich. Sokrates wendet sich nach der Schilderung dieses Bildes an Adeimantos mit der Frage: Wenn nun dergleichen in den Schiffen vorgeht, meinst du nicht, dass der wahre Schifffahrtskundige gewiss nur ein Wetterprophet oder Buchstabenkrämer und unnützer Mensch genannt werden würde von denen, die in so eingerichteten Schiffen segeln? — Das Bild spricht in der Tat für sich, denn es will uns sagen, dass die Unnützlichkeit der Philosophen nur eine scheinbare und vermeintliche ist. Überdies könne keine der bestehenden Staatsverfassungen in der Sicht des Sokrates der philosophischen Natur zusagen. Jedoch wird der wahre Philosoph den besten Staat finden, wie er selbst das Beste ist — dann werde sich zeigen, dass dies das wahrhaft Göttliche ist, alles andere aber nur menschlich (und damit unzulänglich) war. Die erörterte Gründung der Stadt im Gespräch aber komme diesem Ideal schon ziemlich nahe. Unmöglich sei die angedachte und erörterte neue Polisordnung nicht, allerdings wohl nur schwer herstellbar. Aus den Überlegungen folgt insgesamt, dass die vollkommensten Hüter (oder anders gewendet: die Retter der Verfassung) Philosophen sein müssen. Darüber hinaus ist noch ein Größeres als die Gerechtigkeit vorhanden, nämlich die Idee des Guten. Sie sei die größte Einsicht, durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst von ihr Gebrauch machte, nützlich und heilsam werde. Während für die Menge die Lust, das profane Vergnügen, das Gute zu sein scheint, ist es für jene, die mehr wissen, die Einsicht. Es ist aber nun so, dass wir die Idee des Guten als die größte Einsicht nicht hinreichend kennen. Auch Sokrates-Platon macht nur einen ersten Anlauf zu die-
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ser Problematik, indem er einen „Sprössling des Guten" darstellt. Es ist dies die Sonne und das sonnenähnlichste Wahrnehmungsinstrument sei das menschliche Auge. Nur durch die Sonne und das Auge können wir wiederum sehen. — Ähnlich verhalte es sich mit der Seele: Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahreit und das Seiende glänzt, so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, dass sie Vernunft hat. Wenn sie sich aber auf das mit Finsternis Gemischte richtet, auf das Entstehende und Vergehende, so „meint sie nur" und ihr Gesicht verdunkelt sich, so dass ihre Vorstellungen schwanken und sie aussieht, als ob sie keine Vernunft besäße. Auch unsere Augen erscheinen ja im nächtlichen Schimmer fast blind, und erst wenn die Sonne auf etwas scheint, sehen wir es deutlicher. Ähnlich verhält es sich mit der Idee des Guten, die etwas noch Schöneres ist als Erkenntnis und Wahrheit, denn sie ist ihre Ursache. Erkenntnis und Wahrheit sind wie das Licht und das Gesicht, aber sie sind noch nicht die Sonne — und die Sonne ist ein Aufschein für die Idee des Guten. So ist auch die Beschaffenheit des Guten höher einzuschätzen als Erkenntnis und Wahrheit. Denn auch die Sonne verleiht dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden, das Wachstum und die Nahrung (man denke an die Photosynthese in der Biologie). Das Gute selbst ist nicht das Sein und das hierin Erkennbare, sondern es ragt über das Sein an Würde und Kraft noch hinaus. Entscheidend ist also der Blick auf das Eine, auf die Idee des Guten als dem Absoluten hinter dem Relativen. Denn Erkenntnis ist der Aufstieg vom vermeintlichen Wissen zum richtigen Verstehen. Hierfür steht das berühmte Höhlengleichnis im siebten Buch der „Politeia" (514a-519b); es ist eine komplexe Parabel in Bezug auf Bildimg und Unbildung, ein Erkenntnis- und Erziehungsparadigma. Ausgangspunkt ist eine unterirdische Höhle mit einem zum Licht geöffneten Zugang. In dieser höhlenartigen Wohnung sitzen von Kindheit an nebeneinander Menschen, die durch Fesseln am Hals und an den Schenkeln im Zustand der Bewegungsunfähigkeit gehalten werden. Sie können wegen der Fesseln auch den Kopf nicht herumdrehen, sondern nur in eine Richtung, nämlich nach vorn schauen, und zwar gegen eine Wand. Licht haben diese Menschen oder Gefangenen (und das sind natürlich die Unwissenden) von einem Feuer, das von oben und ferne her hinter ihnen scheint. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht ein Weg, dem entlang eine Mauer gezogen ist. Längs dieser Mauer laufen Menschen, die allerlei Arbeitsgeräte, Bildsäulen und Kunstwerke tragen, die über die Mauer hinausragen. Einige dieser Träger hinter der Mauer unterhalten sich, andere schweigen. — Sokrates wird entgegengehalten, dass dies doch ein ziemlich wunderliches Bild sei und merkwürdige Gefangene — und Sokrates antwortet: uns aber ganz ähnliche. Zunächst ist es wohl so, dass solche Menschen von sich selbst und voneinander (und von den Dingen der Welt bzw. ihrer Welt) nur die Schatten gesehen haben, die das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand wirft, auf die sie blicken. Sie erkennen von dem Vorübergetragenen nur das, was über die
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Mauer ragt und als Schatten an die Wand projiziert wird. Von den Menschen, die diese Geräte und Bilder tragen und von der Mauer verdeckt sind, sehen sie nicht einmal dies, also nicht einmal die Schatten. Wenn diese gefesselten Menschen miteinander reden könnten, würden sie das Vorhandene so benennen, wie sie es sehen, und falls ihr Kerker einen Widerhall hätte von drüben her und wenn einer von den hinter der Mauer Vorübergehenden spräche, würden sie denken, dass die Schatten redeten. Von den Geräten und Kunstwerken halten sie nur die Schatten für wahr. Sie wissen es ja nicht anders und sind lediglich im Besitze eines konstitutionell falschen Bewusstseins. Wie können diese Menschen von ihren Fesseln und damit von ihrem Unverstände, von ihrem Nicht-Wissen befreit werden? Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, gleich aufzustehen, sich umzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen — die Höhle öffnet sich ja mit einem Zugang zum Licht hin —, und während er dies unter Schmerzen versucht und nicht gleich richtig sehen bzw. die Dinge erkennen kann, von denen er vorher nur die Schatten sah, so würde er wohl nicht gleich dem glauben, der ihm versicherte, bislang habe er nur lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber sei er dem Seienden näher und ihm zugewandt, er sähe mithin richtiger. — Und was würde er sagen und wie es benennen, wenn man ihm jedes Vorübergehende zeigte. Er würde wohl sehr verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen habe, sei doch wirklicher als das, was ihm jetzt gezeigt werde. Wenn man ihn in das Licht sehen lässt, zu dem der Weg aus der Höhle hinausfuhrt, würden ihm die Augen schmerzen, und er wird wohl zu jenem zurückkehren wollen, was er anzusehen imstande und gewohnt ist, fest davon überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte. Wenn er jetzt mit Gewalt den unwegsamen und steilen Aufgang hinaufgeschleppt und in das Licht der Sonne gebracht wird, wird er widerstreben, Schmerzen haben und, einmal draußen, wegen des grellen Sonnenlichtes nichts von dem sehen können, was ihm nun für das Wahre ausgegeben und gesagt wird. Er wird also nicht gleich davon überzeugt sein. Er wird Gewöhnung nötig haben, um das Oberste zu sehen. Zunächst würde er Schatten am leichtesten erkennen, danach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser (also schattenähnlich, verschwommen). Er würde anfangen, den Himmel und das, was am Himmel ist, am liebsten und leichter bei Nacht zu betrachten, zuletzt und schließlich aber wird er in der Lage sein, die Sonne zu betrachten. Er wird herausfinden, dass sie es ist, die alles ordnet und hinleuchtet in dem sichtbaren Räume und gewissermaßen auch die Ursache ist von dem, was sie früher in der Höhle sahen. — Wenn der aus der Höhle nach oben an das Sonnenlicht Gekommene an die damaligen Mitgefangen denkt, an die Höhle und die dortige Wahrheitssicht, dann wird er jene wohl beklagen und sich glücklich preisen über die Veränderung in seinem Leben. Wenn die dort unten unter sich denjenigen am höchsten schätzen, der das Vorüberziehende am schärfsten sah, am besten behielt und auch am besten voraussagen konnte,
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wann was wie kommt und vorübergeht, so wird er jetzt die dort unten Besten und Geehrten nicht mehr beneiden. Er wird sich eher alles gefallen und über sich ergehen lassen, als wieder so zu leben und solche Vorstellungen zu haben, wie die da unten. Wenn er wieder hinunterginge an seinen Platz, dann würden ihm die Augen voller Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne kommt. Wenn er jetzt wieder mit denen wetteifern sollte, die immer dort gefangen waren, während es ihm noch vor Augen flimmert, dann würde man ihn wohl auslachen, wenn er seine neue Theorie (seine gewonnene theoria oder auch utopia) darzulegen versuchte. Man würde von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen, und es sei wohl wirklich nicht sehr lohnend, selber zu versuchen, dort hinaufzukommen. Man sollte eher jeden umzubringen versuchen, der sie entfesseln und auch hinaufbringen wollte, denn das Ganze bringe nichts und stifte nur Verwirrung. Sokrates erklärt und analysiert nun dieses Gleichnis dem Glaukon gegenüber. Er legt u.a. dar, dass das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge mit dem Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis gleichzusetzen sei. Zwar wisse man nicht, was Gott (und damit die Idee des Guten, Schönen und Wahren) genau ist, aber man muss wohl hinaufgehen (nämlich zum Licht der Erkenntnis), um dieser Idee nahe zu kommen. Man muss mehr sehen und wissen, um vernünftig zu handeln, als die da unten, sei es nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten. — Andererseits erscheint derjenige als lächerlich, der wie im Höhlengleichnis zurückkehrt in das menschliche Elend und den anderen die wahre Ordnung zu erklären versuchte. Die in der Finsternis sehen allenfalls die Schatten des Gerechten (bzw. die dazugehörigen Bilder). Auch gab es zwei Störungserfahrungen der Sinneswahrnehmung: einmal die, wenn man aus der Dunkelheit in das Licht kommt, zum anderen die, wenn man zurückkommt in die Dunkelheit. Ebenso verhalte es sich mit der Seele, und wenn man eine verwirrte und unfähig zu sehende findet, sollte man sich daher nicht darüber mokieren, sondern zusehen, ob sie nicht aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie hinaufgestiegen und gleichsam verblendet ist. Es ist also nicht ganz einfach, die alles in allem notwendige Umlenkung zum Licht herbeizuführen — man bekommt und macht sich Schwierigkeiten. Erziehung ist daher nicht einfach so, blinden Augen ein Gesicht einzusetzen, sondern man muss behutsam und eingedenk der angedeuteten Schwierigkeiten vorgehen. Man muss die ganze Seele ergreifen und umlenken hin zum Guten. Es bedarf somit einer Kunst der Umlenkung, und das ist die durch Philosophie angeleitete pädagogische Praxis. Man muss das Sehenkönnen gleichsam „hineinbilden" und mit Anpassungsschwierigkeiten notgedrungen rechnen. Das Sehenkönnen und Sehenwollen aber muss vorausgesetzt bzw. unterstellt werden. Gewöhnungen und Übungen müssen einsetzen, um Transformationen zu bewirken, wobei über die Qualität der Umwandlung noch gar nichts ausgesagt ist. Die „Reise aufwärts" indes gelingt nur
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den wirklich Guten, aber sie müssen zurückkehren, um die anderen (auch die klugen Bösen) gleichsam „aufzuklären". Das ist die Aufgabe der politischen Philosophen. 14 Die aufgeklärten Zurückkehrer müssen um das Wohl des Ganzen besorgt sein, sonst wären sie als Egoisten wohl eher oben geblieben. Sie müssen altruistisch, nicht selbstsüchtig, vielmehr gemeinwohlorientiert handeln — und das ist schwer. Gerade dem wahren Philosophen (und das ist natürlich dieser Aufsteiger u n d Zurückkehrende) ist es zuzumuten, für die anderen Sorge zu tragen und sie in Obhut zu halten. Er ist von der Liebe zur Weisheit (sophia) durchdrungen und in seinem guten Handeln (eupraxia) auf eine karitative Fürsorge und Fürsorglichkeit für die anderen gestellt. Er ist damit gleichzeitig der wahre Erzieher und er muss an seinen Ausgangspunkt denken, nämlich in das Dunkle zu schauen. Nur so kann er pädagogisch-didaktisch erfolgreich wirken, indem er hieran anknüpft. Er kann die Schattenbilder in der neuen Dimension und Perzeptionsweise erklären; er allein (oder zumindest in herausragender Weise) verfugt über die richtige Theorie und Praxisanleitung. So ist auch das Gemeinwesen zu verwalten, nicht träumend und vermeintlich sehend, sondern wissend, eben durch „Philosophenkönige", die keine „Schattengefechte" führen, vielmehr aufgrund von Kenntnis die richtige Handlungsanleitung herbeiführen, obwohl sie vom eigenen (intellektuellen) Selbstverständnis her, sich hiervon und von den Regierungsgeschäften lieber fernhalten wollen. Dazu werden sie von Sokrates-Platon jedoch aufgerufen und gleichsam hierfür angesetzt. Von den Gerechten ist mithin das Gerechte auch unbedingt zu fordern. Im Gegensatz zu den antik-zeitgenössischen Herrschaftsgepflogenheiten (also in der krisenhaften, real existierenden Polisgesellschaft) haben sie, die wahren Philosophen, zur Amtsführung wie zu einem dringend Notwendigen zu gehen, auch wenn sie selbst von ihrer Natur her dazu nicht unbedingt neigen. Sollen impliziert Können, und nur sie erfüllen diese Leitungs- und Erziehungsaufgabe in Vollkommenheit. Nur dann regieren die „wahrhaft Reichen" (in Bezug auf das geistige Vermögen). Demnach ist nur die „echte Philosophie" dazu geeignet, eine richtige und gerechte Fürsorge für den Staat als Polisordnung aufzubringen. Für Piaton sind die
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Bubner 2002, S. 70 spricht von einem Inteipretationsmonopol des Guten. Der „Philosophenkönig" stößt „bei Mitbürgern weder auf Zustimmung noch auf Enthusiasmus, sondern muss mit dem Widerstand der Höhlenbewohner rechnen. Das kann, wie das Schicksal des Sokrates zeigt, lebensgefahrlich werden. Die Umkehr der gewohnten Weltsicht verlangt den Einzelnen und der Masse offenbar zu viel ab. Eine dialogische Gesamtverständigung reicht nie aus, um den Philosophenkönig überflüssig zu machen. Denn Aufklärung und Bildung allein vermögen unter hiesigen Bedingungen nicht, den geschlossenen Exodus aller Höhlenbewohner aus ihrem Schattenreich zu motivieren." Insofern „verdichtet sich das Inteipretationsmonopol des Guten, das allen Akteuren gerecht wird und deshalb auch für alle verbindliche Geltung beansprucht, zu dem ontologischen Thema einer Idee des Guten, worüber allein ein Philosoph verfügt, der sich so zum Herrscher qualifiziert." Sein Wissen begründet seine Autorität, aber dieses Interpretationsmonopol ist offensichtlich nicht mehr hinterfragbar.
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Philosophen die „wahren Staatsmänner" — und zwar nur sie, weil sie „aufsteigen" und „zurückkehren" sowie dem nous, der göttlichen Vernunft, verpflichtet sind. Soweit das berühmte Höhlengleichnis. Es gibt Interpreten, die in ironischer Sichtweise hier eine Analogie zum Fernsehen erblicken, nämlich in Bezug auf die Bilder aus „zweiter Hand", die von vielen für die wichtigsten Realitätsausschnitte gehalten werden. Allerdings ist man heute nicht mehr gefesselt, sondern sitzt durchaus komfortabel in einer „Wohnlandschaft". Einige ältere unter meinen Studenten wiederum fühlten sich erinnert an die Bewusstseinslage in der früheren DDR. Politisch-philosophische Interpretationen heben hervor, dass die Unvollkommenheit des Menschen die Ursache ist für sein Streben über sich hinaus, so dass die Gleichnisse in der Politeia (und in Sonderheit das Höhlengleichnis) epistemologische Aufstiegsgleichnisse sind. Das Höhlengleichnis „illustriert Piatons Ontologie, die eine Folge von hierarchisch geordneten, sukzessive an Seiendheit, Wahrheit und Vollkommenheit zunehmenden Seinsschichten unterscheidet" 15 und das Gleichnis „macht auch deutlich, dass dem Modell eines vervollkommnungsorientierten Aufstiegs die Elitenbildung eingeschrieben ist. ... Das Höhlengleichnis ist aber auch ein Abbild der platonischen Anthropologie, ein Sinnbild des platonischen Verständnisses von Leib und Seele. Die Höhle ist der Leib, der Körper, in den die Seele, das Unsterbliche und Göttliche inkarniert ist, gefangengehalten wird. Nur wenigen gelingt es, sich aus der körperlichen Gefangenschaft der Seele zu befreien, bereits zu Lebzeiten die Seele aus allem Körperlichen herauszulösen und zu sich selbst und ihren eigentümlichen Gegenständen zu fuhren. Das aber sind die Philosophen." 16 Sie allein sollen im Besitze eines „nicht instrumentalisierbaren Koordinations-, Integrations- und Verwendungswissens sein, das alle privaten und öffentlichen Verrichtungen aufeinander abstimmt". 17 Der Philosophenherrscher ist der in die Meinungsgemeinde herabgestiegene Philosoph mit politisch-praktischer Kompetenz, wobei nicht unbedingt eine metaphysische Deduktion vorliegen muss. 18 Eine Kritik an Piatons Patemalismus des Guten bietet sich gerade unter demokratietheoretischen Aspekten an. Es ist eine Art Metakritik, eine „Kritik der Kritik", insofern Piaton an den Poliszuständen seiner Zeit Kritik übte und ihnen ein ideales Gegenmodell entgegenstellen wollte. Es lassen sich aber jeweils prinzipielle und aktuelle Bezüge herstellen. So kann man beispielsweise sagen, dass Piaton ein Theoretiker der politischen Elite ist und von dieser behauptet, sie verfuge über das „wahre" und das einzig richtige Bewusstsein, was sie zur Erziehungsdiktatur befá-
is 16 17 18
Kersting Kersting Kersting Kersting
1999, 1999, 1999, 1999,
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227. 228. 239/240. 242.
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higt und ermächtigt. Hier legen die Parallelen gerade im Hinblick auf das erst kürzlich abgelaufene Jahrhundert wohl ziemlich auf der Hand. Wir beziehen uns vor allem auf zwei kritische Interpretationen der politischen Philosophie und Utopie Piatons. So stellt Richard Saage 19 fest, dass als Merkmale des platonischen Staatsideals seine Statik sowie die Konfliktfreiheit anzusehen seien. Für Piatons ideales Gemeinwesen sei es ferner charakteristisch, dass es sich in der Beschreibung der politisch herrschenden Kaste und ihrer Institutionen erschöpfe. Ferner zeigt sich bereits anhand der Politeia Piatons, dass Utopien normativ-präskriptive Züge aufweisen, d.h. sie geben vor, was sein soll, und sie schreiben vor, welches Verhalten einzuhalten und welche Bewusstseinsdisposition einzunehmen ist, um das wahre Glück in der utopischen Gesellschaft zu erlangen. Piatons imaginäres Gemeinwesen lebt von der Negation wesentlicher Strukturprinzipien der athenischen Demokratie. 20 Die athenische Polis war durch eine starke innen- und außenpolitische Dynamik charakterisiert, während das platonische Staatsideal statisch ist. Das Gemeinwohl, das bonum commune, geht in diesem Entwurf ohne Rest in der Verwirklichung einer dem Individuum übergeordneten Gerechtigkeit auf. Das Signum der herrschenden politischen Kaste oder Klasse ist ihre Eigentumslosigkeit. Dieser Urkommunismus der tragenden Schicht bei Piaton ist der Kern seiner Antwort auf die Dynamik der athenischen Demokratie. Denn die Politeia ist vollkommen eingerichtet und vermeidet von ihren utopischen Intentionen her vor allem die Zwietracht der Herrschenden. Insofern werden die Kategorien „mein" und „dein" bei der politischen Elite von Anfang an vermieden. In Monogamie und Familienleben sieht Piaton ebenso eine Quelle der Zwietracht. Die politisch irrelevanten Bauern und Handwerker aber können sowohl Privatbesitz als auch diese privaten familialen Formen durchaus haben. Aus der Prämisse der Vermeidung von Zwietracht hat Piaton im Hinblick auf die politisch herrschenden Stände der Krieger bzw. Wächter und die Regenten der Philosophenaristokratie radikale Konsequenzen gezogen, indem er von ihnen nicht nur deren strikte Eigentumslosigkeit hinsichtlich der individuellen Verfugung über persönlichen Besitz fordert, sondern auch die Frauen- und Kindergemeinschaft. 21 Es verwundert auch nicht, dass sich Piaton in der Darstellung des idealen Gemeinwesens auf die politisch herrschende Klasse und ihre Institutionen kapri-
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Saage 1989a, S. 20-35, 42-45, Saage 2000a (Kap. 2). Die athenische Demokratie war realhistorisch ein imposanter Sonderweg und durchaus eine „radikale Demokratie", d.h. dem Entwurf von Piaton in dieser Hinsicht überlegen. Vgl. Hansen 1995. Siehe auch die zahlreichen Studien von Christian Meier 1977, 1993 u. 1995. Siehe ferner Kinzl 1995. Eine scharfe Kritik im Hinblick auf die Stigmatisierung und Exklusion des „Anderen" hingegen entfaltet Cartledge 1998. Er verweist auf die politische Rechtlosigkeit der Frauen, Nicht-Bürger und Unfrauen, die Versklavung vieler Tausender und die kategorische Abwertung der Barbaren und „Menschenfüßler" (Sklaven). Saage 2000a, S. 71, 77/78.
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ziert. 2 2 Die Verteilung zwischen politischer und ökonomischer Macht scheint dabei paradox zu sein: diejenigen, die den Primat der Politik innehaben, sind eigentumslos, und diejenigen, die ihm unterworfen sind, kontrollieren mit der Verfugung über die Produktions- und Eigentumsmittel das gesamte Wirtschaftsleben. Jedoch spricht einiges dafür, dass Piatons Konstruktion nicht so unrealistisch ist. Zwar schloss er die nicht arbeitende, politisch herrschende Elite von der wirtschaftlichen Macht aus. Doch sie kontrollierte uneingeschränkt den militärischen Apparat, den sie jederzeit gegen die für den Krieg völlig unausgebildeten Bürger einsetzen konnte, wenn diese ihnen z.B. die Nahrungsmittelzufuhr verweigern sollten. 23 Bei Piaton gibt es eine unveränderliche Hierarchie der Werte. In ihr nimmt die Arbeit den niedrigsten Rang der akzeptierten und notwendigen Tätigkeiten ein. Es wäre indes falsch, wollte man behaupten, Piaton sei der körperlichen Arbeit mit Verachtung begegnet. Zwar existieren seine Wächter und Philosophen ausschließlich von der Arbeit anderer. Aber in Askese und starker Disziplin lebend, beuten sie sie nicht zu ihrer individuellen Bereicherung und zu persönlichem Vorteil aus. Die physische Arbeit wird von Piaton in ihrer Notwendigkeit für die materielle Erhaltung des Gemeinwesens sehr wohl anerkannt. Piaton wertet sie also weder als bloße Strafe für vergangene Sünden ab, noch überlässt er sie ausschließlich den Sklaven. 24 Der Arbeitsbegriff in seinen unterschiedlichen Wertigkeiten und Schattierungen wird auch in den späteren Utopien noch eine große Rolle spielen. Ferner ist darauf zu verweisen, dass Piaton die Geschichte des utopischen Denkens ohne Technik beginnt, denn er konnte sich kein Gemeinwesen vorstellen, das nicht auf menschlicher Muskelkraft beruhte. Die exakten Wissenschaften wie die Rechenkunst, die Geometrie, Astronomie und Harmonienlehre sowie die Dialektik werden nicht der Naturbeherrschung wegen betrieben, sondern dienen vorrangig als Bildungsmittel philosophischer Gesinnung, als Erkenntnismittel des Seienden. 25 Produktion und Distribution der Güter haben ausschließlich den natürlichen Bedürfnissen des Volkes zu dienen. In der kategorischen Ablehnung hedonistischer Lebensweisen, die auf ein Wohlleben voller Konsum gerichtet sind, werden die frühen Utopisten Piaton folgen. Soziale und politische Utopien versuchen, die Gerechtigkeit zu institutionalisieren, nicht aber ein Schlaraffenland einzurichten. Piaton sah im Luxus das Signum des Niedergangs einer Stadt. Diejenigen, die den Staat regierten, dürften weder arm noch reich sein. Piaton favorisiert eine sta-
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Piaton regelt die Ordnung des Gemeinwesens und den Zugang zu Herrschaftspositionen demnach über Spezialisierung und Professionalisierung. Demgegenüber hat Aristoteles auf eine Nichtspezialisierung und Nichtprofessionalisierung der politischen Aufgabenbewältigung gesetzt, vgl. Münkler 2002, S. 124, Anm. 5. Saage 2000a, S. 78/79. Saage 2000a, S. 84/85. Saage 2000a, S. 88.
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tionäre Ständegesellschaft 26 , in welcher sich kein Stand in den Aufgabenbereich des anderen einmischt. Das Prinzip >Jedem das Seine< fungiert als gesellschaftliches Integrationsprinzip. Allerdings ist der Zugang zu politischer Macht weder von Reichtum noch der Geburt abhängig, weswegen auch der Erziehung eine überragende Bedeutung zukommt. Jedoch werden Pädagogik und Kunst unzweideutig in die Disziplin des Staates genommen. Auch hier werden ihm die Utopisten der frühen Neuzeit überwiegend folgen. Die Kritik von Saage läuft darauf hinaus, dass die politische Utopie Piatons statisch und ständisch geordnet ist, gekennzeichnet durch einen starren utopischen Institutionalismus und starken Anti-Individualismus, der in vielen kollektiven Elementen zum Tragen kommt, so in der Weiber- und Kindergemeinschaft. Dies deckt sich in vielen Teilen mit der berühmten Polemik des kritischen Rationalisten Karl R. Popper in seiner Abhandlung „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", die er in dem ersten Band unter dem bewusst ambivalent gehaltenen Titel „Der Zauber Piatons" [„Zauber" im Sinne von Faszination oder aber als „falscher Zauber"] ausgebreitet hat. 27 Darüber hinaus hat Popper eine grundsätzliche UtopieKritik entfaltet und begründet, worauf wir in Teil III noch gesondert eingehen werden. Popper fuhrt gegen Piaton aus, dass dieser an einen idealen Staat glaube, der keinen Veränderungen mehr unterworfen sei. Seine Philosophie sei spekulativ und gehe davon aus, dass die Veränderung von Übel, die Ruhe aber göttlich sei. Piaton sei polemisch und anmaßend. Sein bestes Gemeinwesen ist ein Kastenstaat und Piaton propagiert eine Herrenklasse oder -rasse als zum Regieren am besten geeignet. Das sei gleichsam eine, wie Piaton es sieht, „natürliche Klassenherrschaft" der weisen Wenigen über die unwissenden Vielen. Nur das kollektive Ganze interessiere ihn, nicht aber das einzelne Individuum. Sittlichkeit und Tugenden werden stets so definiert, dass sie dem Staate dienen. Damit verbunden ist ein Erziehungsmonopol der herrschenden Klasse und Piaton stellt sich in seinen sozialen und politischen Handlungsanweisungen stets so dar, als ob e r der stolze Besitzer der Wahrheit sei. Er hat eine autoritäre Ansicht vom Lernprozess und befürworte in letzter Konsequenz einen Führerstaat. Der kollektivistische Moralkodex ist kaum inhaltlich bestimmt, sondern zumeist ein leerer Formalismus, beliebig ausfullbar mit verschiedenen Wertigkeiten und Inhalten. — Die Erziehung und eugenische Züchtung im Zusammenhang mit dem Gemeinbesitz bis hin zur Kinder- und Weibergemeinschaft sind von oben verordnete Zwangsinstitutionen, nicht freiwillig gewählt durch Übereinkunft. Piatons Erziehungsprogramm hat politische Funktionen: sie zeichnet die Herrscher aus und errichtet eine Schranke zwischen ihnen und den
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Saage 2000a, S. 101. Popper 1992 (I). Zu Popper siehe auch Waschkuhn 1999, insbes. Kap. 7 u. 8 et passim.
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Beherrschten. Im Grunde seien die Philosophenkönige nichts anderes als Medizinmänner oder Scharlatane. — Piaton will eine Philosophenherrschaft begründen, weil er selbst ein Philosoph ist. Die „Politeia" formuliert seinen eigenen Anspruch auf Königsherrschaft, nicht mehr. Er hat Vervollkommungsträume, die unrealistisch und von den politischen Implikationen her gefahrlich sind. Er will den Himmel auf die Erde holen — und das ist eine anmaßende und gefährliche Hybris. Dann liegt es nahe, Menschen nur noch als Mittel, als Mittel zum Zweck zu verwenden, zu funktionalisieren und instrumentalisieren für ein übergeordnet Gutes, von dem offenkundig nur Piaton weiß. Er will einen Reinigungsprozess einleiten, tabula rasa machen. Das sind für Popper insgesamt totalitäre Implikationen. Piaton wolle die Menschen in seiner Sicht glücklich machen, auch gegen deren Widerstreben. Woher wissen wir, dass er sich nicht irrt? — Piaton verlange eine stabile, eine geschlossene Gesellschaft. Die gewünschten institutionellen Ausprägungen sind sakrosankt und nach Möglichkeit nicht mehr veränderbar. Die ganze Theorie ist illiberal und anti-individualistisch. Das Gute ist vorgegeben und nicht mehr frei wählbar. Es ist a priori vorgesehen und vorgegeben, nicht a posteriori aushandelbar. Piaton entwickelt Doktrinen, die abweichende Meinungen als unvernünftig definieren und ausgrenzen. Piaton sehnt sich insgeheim nach der Harmonie von Stammesgesellschaften zurück, er ist — so können wir aus heutiger Sicht sagen — antipluralistisch ausgerichtet (also monistisch) und im Hinblick auf heutige, eher partizipative und kommunikativ-diskursive Demokratievorstellungen, die von Popper allerdings nicht vertreten werden, völlig unzureichend. Gleichwohl entfaltet Piaton in konstruktivistischer Hinsicht ein reiches politiktheoretisches Anregungspotenzial, das orientiert ist an einer philosophisch vermittelten und eudämonistisch zu bevorzugenden Gerechtigkeitsherrschaft — insofern haben Utopien ihre Berechtigung und ihre Faszination. Piaton ist bis auf den heutigen Tag einer der bedeutendsten Philosophen und er hat das römische, das christliche, das islamische und das neuzeitliche Staatsdenken inspiriert. 2 8 Im Utopiediskurs hat Piaton u.a. die „Utopia" von Thomas Morus, „Nova Atlantis" von Francis Bacon und Campanellas „Civitas solis" inspiriert.
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Demandt 2000, S. 106. — Daneben gibt es eine bedeutende, auf Eric Voegelin zurückgehende Ausrichtung in der deutschen Politikwissenschaft, nämlich die normativ-ontologische, die sich bis heute ausdrücklich auf Piaton (und Aristoteles) bezieht. Aber das ist ein anderes Thema. Vgl. Waschkuhn 2002, S. 17f., 28f.
2. CHRISTINE DE PIZAN Man kann sicherlich darüber streiten, ob das „Buch von der Stadt der Frauen (Le Livre de la Cité des Dames)" (1405) von Christine de Pizan (1364-1430) als Utopie zu bezeichnen ist. 1 Aber immerhin war Christine de Pizan die erste Frau, die für und über Frauen und gegen die Verleumdungen der Männer schrieb. Darüber hinaus war sie eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen des späten Mittelalters. Dass Frauen in dieser Zeit schrieben, war für sich schon ungewöhnlich genug, ebenso das hier verfolgte Anliegen, die zugewiesenen weiblichen Rollenmuster, Fremd- und Selbstbilder aufzusprengen. Das Buch hat in der Komposition allegorische und utopische Elemente, die politische Implikationen haben und eine Zeitkritik enthalten. Als erste Frauenrechtlerin kann Christine de Pizan in unserem Kontext jedenfalls nicht ausgespart werden, zumal die feministischen Utopien in unserer Zeit einen starken Aufwind und hier bereits einen frühen Ausgangs- und Anknüpfungspunkt haben. Christine de Pizan wurde in Venedig als Tochter des Mediziners und Naturwissenschaftlers Tommasso di Benvenuto da Pizzano geboren, der als Astrologe in Bologna lehrte, dann aber ein Angebot des französischen Königs Karl V. (des „Weisen") annahm, an seinem Hof, der als ein überragendes intellektuelles Zentrum galt, als Astrologe und Ratgeber tätig zu werden. Nach dem Familiennachzug entdeckte der Vater, dass Christine der Literatur zugetan war und unterrichtete sie fortan in Latein, Philosophie und anderen wissenschaftlichen Fächern. Sie reifte in der Folge zu einer vielseitigen Autorin heran, die mit ihren Publikationen (in Form kostbar gebundener und aufwändig illustrierter Handschriften 2, hierbei unterstützt von adligen Gönnern) sogar ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte 3 . — Mit fünfzehn Jahren (wie damals durchaus üblich) heiratete sie den Notar und königlichen Sekretär Etienne du Castel und gebar drei Kinder. Die Verbindung war ausgesprochen glücklich, so dass sie die Ehe zeit ihres Lebens als ideale Lebensform ansah. Christine de Pizan erfuhr einige Schicksalsschläge, die sie dem kontingenten
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Die Utopie-Frage wird von Zimmermann 1990, S. 29/30, weitgehend positiv beantwortet, wobei sie in Anlehnung an Alfred Dören von „Wunschräumen" spricht, von „ausgegrenzten und in sich abgeschlossenen Räumen", in denen „einige oder viele Menschen leben können, nicht aber alle Menschen leben müssen." Als Buch wurde die „Stadt der Frauen" erst anlässlich ihres Erscheinens in englischer Übersetzung: „The Boke of the Cyte of Ladyes" (1521) gedruckt. Vgl. Hufton 1998, S. 576. Das literarische Spektrum bestand aus religiöser und weltlicher Lyrik, Geschichtsschreibung, Lehrdichtung, Balladen, Biographien, Streitschriften zur Frauenfrage und Stellungnahmen zur politischen Situation Frankreichs.
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Walten und Schalten einer unverfügbaren Fortuna 4 zuschrieb. 5 Ihr Mann starb 1390 an einer Epidemie und zuvor war auch die väterliche Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Ab 1418 bis 1429 ist von ihr nichts mehr zu vernehmen, weil sie sich wegen der blutigen Unruhen von Paris auf das Land zurückzog. Ihr letztes Werk war eine Hommage auf die amazonenhafte und zur Hexe erniedrigten Jungfrau von Orléans, ihre jüngere Zeitgenossin Jeanne d'Are, im Jahre 1429. Die „Ditié de Jeanne d'Are" ist notabene das einzige Werk, das zum Ruhme dieser Frau zu deren Lebzeiten entstand. 6 Christine de Pizan starb ein Jahr später unter uns nicht bekannten Umständen. Wir konzentrieren uns hier auf die „Stadt der Frauen". Mit der Frauenthematik beschäftigte sich Christine de Pizan spätestens seit 1399, wobei sie vorbildliche Frauengestalten hervorhob. Gott hätte niemals ein so „niederträchtiges Wesen" kreiert, wie die Männer die Frauen darstellten und sich über sie verbreiteten. Immer wieder plädiert Christine de Pizan für Tugenden wie Standhaftigkeit und Klugheit und setzt sich für die Prinzipien der Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit ein. Im Ersten Buch der „Stadt der Frauen" schildert sie, wie ihr das Büchlein eines frauen- und ehefeindlichen Autors in die Hände fällt. Es war für sie exemplarisch für viele Männer, die — unabhängig vom Bildungsgrad — offenbar dazu neigen, in ihren Reden, Traktaten und Schriften „teuflische Scheußlichkeiten über Frauen und deren Lebensumstände zu verbreiten" sowie ihnen „alle möglichen Formen des Lasters" zu unterstellen. 7 Ein sie beschleichender Selbstzweifel in Bezug auf ihr Geschlecht führt zunächst zur Lethargie, wird aber auch ironisch durchbrochen. Es naht indes Hilfe in Gestalt dreier gekrönter Frauen — sie stehen für Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und sind eigentlich himmlische Wesen —, die ihr den gemeinsamen Bau einer Stadt für Frauen als „Ort der Zuflucht" ankündigen. In dieser umfriedeten Festung sollen allein berühmte und vornehme Frauen sowie solche wohnen, die es verdienen, gepriesen zu werden. Christine soll den Grundstein zu dieser Stadt legen und sie vollenden. Die Stadt der Frauen soll „von einzigartiger Schönheit und immerwährendem Bestand auf dieser Welt sein". 8 Es werden die Gründe und Motive erörtert, warum Männer immer wieder Frauen diskriminieren. Als eine wichtige Verursachungskapazität wird die eigene niedrige Gesinnung der misogynen Protagonisten hervorgehoben. Jedoch sei die Überlegenheit oder Niedrigkeit von Menschen nicht im Geschlecht begründet, 4 5 6 7 8
Unter dem Titel „Fortune is a Woman" hat Hanna Fenichel Pitkin (zuerst 1984, Neuaufl. 1999) eine gender-orientierte kritische Machiavelli-Studie veröffentlicht. — Zur Rolle von „Geschick, Schicksal, Glück" siehe Heller 1982, S. 414-422. Zimmermann 1990, S. 10/11. King 1993, S. 266. Christine de Pizan 1990, S. 36. Christine de Pizan 1990, S. 43.
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vielmehr im Grade der Vollkommenheit der Sitten und Tugenden. Es werden ferner zahlreiche feminine Exempla aus der Geschichte und literarischen Überlieferung mit der „edlen Frau Vernunft" durchgesprochen. Auch werden die strukturellen Folgen einer geschlechtsspezifischen Erziehung und Bildungsvermittlung diskutiert, wobei den Frauen dieselben Potenziale wie den Männern zuerkannt werden, so dass männliche wie weibliche Intelligenz ebenbürtig seien. Dies wird anhand von Frauen mit einer nachgewiesen großen Gelehrsamkeit oder künstlerischen Kreativität, Erfindungsgabe 9 und Lebensklugheit (prudentia) dokumentiert. Diese gestalteten Erzählungen weiblicher Vorbildlichkeit sollen der moralischen Identitätsbildung dienen, weswegen die „Stadt der Frauen" auch als ein Lese- und Trostbuch sowie anschaulicher Ratgeber apostrophiert werden kann, um das Selbstbewusstsein von Frauen zu stärken. Die erhabene Frau Vernunft beschließt das Erste Buch jedenfalls mit den Worten: „Ich habe, so scheint es mir, genügend Beweise für mein Vorhaben geliefert. 10 Es bestand darin, dir durch lebensnahe Argumentation und Beispiele zu zeigen, dass Gott das weibliche Geschlecht ebensowenig wie das männliche mit einem Fluch belegt hat, wie du in aller Deutlichkeit erkennen kannst und wie es aus den Aussagen meiner beiden Schwestern hier hervorgeht und noch zu vernehmen sein wird. Ich meine, dies müsste genügen, habe ich dir doch bei der Errichtung der Mauern, die die Stadt der Frauen umschließen, geholfen. Nun sind sie fertig und auch schon mit Farbe verputzt. Meine anderen Schwestern mögen hervortreten, und mit ihrer Hilfe und ihrem Rat sollst du den Bau verändern." Ii Das Zweite Buch wendet sich dem Inneren der Stadt der Frauen zu, wobei jetzt die vornehme Frau Rechtschaffenheit die teure Freundin Christine anleitet. Sie bezieht sich auf prophetische Frauen oder Sibyllen, die kundig seien in der Ergründung der göttlichen Absichten. Sie wurden immer wieder zu Unrecht angegriffen oder angeklagt. Des Weiteren wird auf rechtschaffene und liebevolle Ehefrauen eingegangen. So war beispielsweise auch Xanthippe, die Frau des Sokrates, ihrem Mann in unverbrüchlicher Liebe zugetan, obschon sie oft pejorativ karikiert wird und andere Konnotationen erfahren hat. In früheren und heutigen, mithin zu allen Zeiten habe man Frauen große Wohltaten zu verdanken. Natürlich wird zuallererst auf die Jungfrau Maria verwiesen. Auch Moses sei von einer Frau als Findling aus dem Fluss gerettet worden. Weitere edle Frauen gab es ebenso in der heidnischen Vergangenheit, die wie immer erzählend aneinandergereiht werden. Alle Frauen waren jedoch in unterschiedlichen Bereichen und jeweils für sich tätig; sie widmeten sich niemals gemeinsam einer einzigen Sache, wie es jetzt Christine mit der Einrich9 10
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So hat Ceres den Ackeibau und Carmentis das lateinische Alphabet erfundea Es ist im Grunde wie bei Piaton die Konstruktion einer Stadt im Gespräch, ein „Gedankengebäude", vgl. auch Klarer 1993, S. 63. Klarer sieht auch eine postmodernistisch anmutende Gleichstellung von Architektur und Schreiben bzw. die Frage nach „narrativem Raum" und verweist auf weitere ältere Quellen der Bauwerksmetapher. Christine de Pizan 1990, S. 128.
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tung der Stadt der Frauen vorbehalten sei. Jedoch erfahren wir im gesamten Buch kaum etwas über die innere Strukturierung und die Prozesse innerhalb dieser neuen Gemeinschaft, die in vielerlei Hinsicht einem Kloster mit höfischen Akzenten gleicht. Im Dritten Buch geht es um die letzten Dinge und Christine wird nunmehr von der Ehrfurcht gebietenden Frau Gerechtigkeit geholfen und unterwiesen. Der Stadt soll jetzt nämlich die Himmelskönigin zugeführt werden und die Heilige Jungfrau Maria sagt mit großer Freude zu; sie wird die unvergleichliche Herrscherin der Stadt der Frauen. Weitere gesegnete Schwestern und Maria Magdalena werden ihr beigesellt. Der Heiligen Christine, der Namenspatronin Christine de Pizans, wird dabei die ausführlichste Lebensbeschreibung gegeben und steht mit Bedacht in der Mitte dieses Buches. Christine de Pizan hat in der Stilisierung wohl auch zum Teil an sich gedacht und taucht gelegentlich an anderen Stellen der „Stadt der Frauen" auf, wie sie sich auch gerne in die Illustrationen ihrer handschriftlichen Bücher aufnehmen ließ.
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Zum Schluss wendet sich die Christine des Buches und
Mitgestalterin an die Frauen, nachdem die Errichtung der „Stadt der Frauen" vollendet ist: „Ihr Frauen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die ihr Tugend, Ehre und Unbescholtenheit liebt, findet hier eine Bleibe, denn unsere Stadt wurde für alle ehrsamen Frauen gegründet und errichtet." Es handelt sich um eine neue und vollkommene Stadt, die ganz und gar aus dem Material Tugend besteht. Die Stadt soll alle Frauen — mit dem Paradigma der hohen Jungfrau Maria, die trotz der unermesslichen Ehre der Muttergottesschaft sich als Magd Gottes bezeichnete — veranlassen, in Ehrsamkeit, Tugend und Demut zu leben. Auch Geduld gehöre dazu, denn dies sei der Weg ins Paradies. Deshalb sollte sich keine der hier aufgenommenen Frauen „in leichtfertige und völlig unvernünftige Positionen verrennen und in ihnen verharren, und keine von Euch darf sich zu Eifersuchtsszenen, schlechten Gedanken, hochmütiger Rede oder Beleidigungen hinreißen lassen; all dies schadet dem Urteilsvermögen und lässt die betroffene Person beinahe dem Wahnsinn verfallen. Ein solches Verhalten aber ist bei Frauen völlig fehl am Platze und ziemt sich nicht für sie."
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Die sündige Liebe sei zu vermeiden, denn es seien
die Männer, die „Euch einerseits der Schwäche, Leichtfertigkeit und Unbeständigkeit bezichtigen", andererseits aber „sich aller erdenklichen und höchst merkwürdigen Mittel und Betrugsmanöver bedienen, um Euch wie Tiere in Netzen und unter gewaltigen Anstrengungen einzufangen. Flieht, flieht, liebe Frauen, und meidet solche Annäherungsversuche, denn hinter ihrer lächelnden Fassade verbergen sich äußerst gefahrliche, todbringende Gifte."
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Zimmermann 1990, Anm. 31. Christine de Pizan 1990, S. 286-288. Christine de Pizan 1990, S. 288/289.
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Politische U t o p i e n
Die utopisch-metafiktionale Gründung der „Stadt der Frauen" atmet insgesamt „denselben tätigen und positiven Geist, der ihre Autorin beflügelt haben muss, Herrin und nicht Opfer ihrer Umstände zu werden. Mit der Cité des dames schreibt Christine de Pizan das Buch, das aufdeckt, welche falsche Vorstellung von den Frauen jene männlichen Autoritäten der Vergangenheit haben, zu deren Verehrung man sie in ihrer Erziehung angehalten hatte." 15 Sie baut mit dem „Pickel ihres Verstandes" eine Stadt unter Anleitung der drei ätherischen Tugendfrauen als eine neue uneinnehmbare Operationsbasis. Sie verrichtet dabei metaphorisch und auf dem Felde der Literatur „die körperliche Arbeit .., die eigentlich als Aufgabe der Männer galt, auch wenn sie oft von Frauen übernommen wurde." 16 Das Schema der drei Bücher der „Stadt der Frauen" ist geradezu „atemberaubend, ähnlich der Danteschen. Die Teile des Buches und die Teile der Stadt sind ein integrales System, das das Ganze der Vergangenheit umfasst, eine vollkommene Übereinstimmung von Buch, Stadt und Universalgeschichte der Frauheit. — Die Brillanz dieses Schemas ist noch frappierender, wenn man sie mit dem Werk von Christine de Pizans Vorgänger Boccaccio vergleicht, auf den sie sich vor allem stützt. Von den 106 Frauenporträts in Boccaccios ,De mulieribus claris' zieht Christine de Pizan 75 mehr oder weniger direkt heran. (Daneben verwendet sie drei weibliche Charaktere aus Boccaccios ,Decamerone' und bezieht sich auch auf andere Quellen, besonders das Alte Testament und die christliche Hagiographie.) Von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen, hat Christine de Pizan einfach den lateinischen Text des italienischen Gelehrten angezapft, um von berühmten Frauen ein volkssprachlichfranzösisches Porträt geben zu können. Von einem anderen aus hat sie sehr viel mehr getan, denn ihr Umbau der Boccaccio'sehen Struktur ist fundamental: er dient ihrem eigenen, ganz anderen Zweck und kommentiert zugleich Boccaccios Zielsetzung. ... Christines Werk ist systematisch angelegt, ... vor allem pocht sie auf das Universelle und nicht das Exzeptionelle weiblicher Tugend." 17 Christine de Pizan hat „nicht nur Frauengeschichte geschrieben, sondern muss als die erste utopische Autorin der Neuzeit gewürdigt werden. ... Ihr Ansatz, Frauengeschichte zu schreiben, ist fruchtbar, birgt in sich aber den Nachteil, sich am männlichen Diskurs abarbeiten zu müssen. Sie folgt den männlichen Vorurteilen, um sie zu entwerten. Erst Simone de Beauvoir wird 1949 mit ,Das andere Geschlecht' in der Lage sein, diese Haltung der Defensive zu verlassen". 18 Aus heutiger Sicht könnte kritisiert werden, dass Christine de Pizan „patriarchale Unterdrückung (inkl. unglücklicher Ehen) nicht umstösst, dass sie vielfaltige weibliche Sexualität aufgrund der realen Situation nicht bejahen konnte und dass sie sich in diesem Zusammenhang zu ontologischen Bestimmungen der ,Frau' verleiten lässt, 15 16 17 18
King 1993, S. 260. King 1993, S. 262/263. King 1993, S. 264. Roß 1998, S. 127/128.
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die sie sonst bemerkenswerterweise vermeidet. Um dies zu verstehen, müssen die Bedingungen, unter denen sie schrieb — in einem Zeitalter ungleicher Rechtsprechung, nicht vorhandener Verhütungsmittel und dem Ausschluss der Frauen aus Erwerbsleben und Bildungswesen — berücksichtigt werden." 19 Wir können abschließend mit Margarete Zimmermann festhalten, dass Christine de Pizans bleibende Leistung vor allem darin besteht, mit einem imaginären Entwurf auf eine reale Situation geantwortet zu haben, „in der nur wenig Raum für wirkliche Selbstverwirklichung ist, in der ein Bewusstsein weiblicher Identität kaum entstehen kann, weil die männliche Perspektive in allen Bereichen dominiert. Der .weibliche Wunschraum', der im ,Buch von der Stadt der Frauen' entworfen wird, ist ein erster und wichtiger Schritt in Richtung auf eine Befreiung und zeigt Möglichkeiten eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins." 20
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Roß 1999, S. 130. Zimmermann 1990, S. 30.
3. THOMAS MORUS Von der 1516 erschienen Schrift des Thomas Morus mit dem Titel „De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia" leitet sich ein neuer literarischer Typus und eine neue Weise des politischen Denkens her — eben die politische Utopie. Sie hat sonach den Utopien ihren Gattungsbegriff eigentlich erst verliehen. Die „Utopia" des Morus stellt einen epochalen Einschnitt dar, mit ihr hebt eine neue Phase des wirklichkeitstranszendierenden Denkens und der politisch-sozialen Idealbildung an. Denn die Utopia bezeugt insgesamt ein neues Weltverständnis — nämlich dasjenige der Neuzeit. 1 Die Welt ist nicht nur einfach gegeben, sondern sie ist dem Menschen aufgegeben. Die Ordnung der Welt ist nicht etwas, was zu bewahren oder wiederherzustellen ist, sie ist weder in der Heilsordnung — in Schöpfimg, Sündenfall und Erlösung — noch in der Tradition festgelegt und sanktioniert, sondern sie ist vom Menschen durch Vernunft herbeizuführen, ja zu produzieren. Darin liegt das spezifisch Neue und Neuzeitliche der „Utopia", darin unterscheidet sie sich wesentlich vom Weltverständnis des Mittelalters. Es ist, um den vollständigen Titel in deutscher Übersetzung anzuführen, „ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopie, nicht minder heilsam als kurzweilig zu lesen, verfasst von dem hochberühmten Thomas Morus". — Der derart berühmte Engländer Thomas More — Thomas Morus ist die spätere latinisierte Fassung seines Namens — lebte von 1478 bis 1535 und war von Haus aus Jurist. Er war ein sehr erfolgreicher und sehr gut verdienender Anwalt in London, bevor er als gelehrter Jurist und angesehener Bürger in öffentliche Ämter hineinwachsen sollte. Er wurde 1510 Berater des Londoner Bürgermeisters und nahm 1515 an einer Gesandtschaft nach Flandern teil. Auf dieser Reise ist die Utopia entstanden. Aus dem bürgerlichen Dasein steigt er zu Staatsmännern auf: 1517 fungiert er als persönlicher Berater des Königs, 1529 wird er Lordkanzler, d.h. er tritt an die Spitze der königlichen Räte. Thomas Nipperdey hebt mit Recht hervor: „Neben der bürgerlichen Lebenslinie einer vita activa steht, von ihr unterschieden und doch mit ihr verflochten, die zweite Lebenslinie einer vita contemplativa: die humanistische." 2 Morus war ein Gelehrter von Rang, hat Vorlesungen gehalten und eine Reihe von Schriften verfasst, die schon vor der Utopia seinen Ruhm als Schriftsteller begründeten. Mit der „Utopia" ist er dann zu einer Berühmtheit auch in der außerenglischen Bildungswelt geworden. — Der Humanist Morus war eng mit Erasmus von Rotterdam befreundet — ihm ist die „Utopia" gewidmet — und hat mit vielen anderen Humanisten eine umfangreiche Korrespondenz geführt. Zwar ist der Humanismus von Morus kirchenkritisch, aber er ist ein christlicher Humanismus. Wie für alle Humanisten bedeutete auch für 1 2
Nipperdey 1986, S. 181. Nipperdey 1986, S. 194.
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Morus die Reformation einen epochalen Einschnitt in seinem Leben. Er hat mehrere Schriften gegen Luther und die englischen Lutheraner geschrieben. 1532 legte Morus sein Kanzleramt nieder, weil er im Konflikt des Königs mit dem Papst um die Scheidung der Ehe des Königs und in der beginnenden Loslösung der englischen Kirche von Rom nicht auf der Seite des Monarchen stand. Als er den von Heinrich VIII. geforderten Eid auf die Sukzessionsakte von 1534, die den Bruch mit Rom implizierte, nicht leistete, wurde er im Tower eingekerkert. Aufgrund einer falschen Anklage ist er dann in einem Hochverratsprozess zum Tode verurteilt und 1535 hingerichtet worden. Vierhundert Jahre später, 1935, wurde Morus heilig gesprochen. Er ist für die Einheit der Kirche gestorben, nicht für ein Dogma und nicht für das Papsttum als Institution, sondern für den consensus der Gläubigen, denn die veritas, die Wahrheit, ist nicht mehr unbezweifelbar, aber der Konsens der Gläubigen müsse aufrecht erhalten werden, insofern dürfe es keine endgültige Separation von der e i n e n Kirche geben, und die Wahrheit sei nicht möglich außerhalb des Gesprächs mit der in der Kirche lebendigen Tradition.3 Soweit die tragische Biographie des Morus, der allerdings gelassen und im inneren Seelenfrieden gestorben ist, wie uns berichtet wird. Von seinen Werken gehört nur die „Utopia" zur Textsorte des politischen oder staatsphilosophischen Traktats. Sie ist zugleich das wirklich geniale unter seinen Werken, das einzige, das weltgeschichtliche Klassizität gewonnen und eine immerwährende Aktualität errungen hat. Die „Utopia" ist als Dialog angelegt, der in zwei Teile gegliedert ist. Von der Insel Utopia erzählt der Dialogpartner und Hauptredner Raphael Hythlodeus im zweiten Buch, im ersten Buch hingegen wird eine vehemente Kritik der zeitgenössischen politisch-sozialen Verhältnisse in England und Europa vorgetragen. 4 Das erste Buch ist nachträglich verfasst worden — und die dort vorgetragene Zeitkritik ist zweifelsohne auch die des Autors Morus. Diese Kritik entzündet sich daran, dass die Diebe in England immer zahlreicher werden, wobei sich die Frage stellt, ob dafür die Todesstrafe angemessen sei. Diebstahl und Räuberei werden hier — und das ist ganz beachtlich — auf sozialstrukturelle Gründe zurückgeführt: Aufgrund der Transformation vom Ackerbau zur Weidewirtschaft und der Akkumulation von Bodenbesitz war ein frühkapitalistisches Wirtschaftsverhalten entstanden, das einerseits zur Verelendung der meisten Menschen, andererseits zu einer mit „ruchloser Habgier" gepaarten Verschwendungssucht der wenigen Reichen führte. 5 — Raphael Hythlodeus plädiert in diesem Zusammenhang dafür,
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Nipperdey 1986, S. 195/1%. Münkler 1993, S. 595: „Die ,Utopia' ist aufgebaut wie ein Diptychon, ein zweiflügliger Altar, und die beiden Seiten, hier das erste und das zweite Buch, stehen in unmittelbarem Gegensatz zueinander: Wird im ersten Buch die aktuelle Situation in England beschrieben, der innere Verfall der Gesellschaft, die Auflösung der Ordnung, so berichtet Raphael Hythlodeus ... im zweiten Buch von der guten Ordnung im Lande der Utopier." Nitschke 2000, S. 65/66: „Diese schonungslose Kritik am zeitgenössischen England ist von einer so umfassenden Totalität in allen Politikfeldern, dass man Morus bescheinigen kann, erstmals einen
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Politische Utopien
dass man, statt Diebe mit dem Tod zu bestrafen, „lieber dafür sorgen sollte, dass sie ihr Auskommen haben, damit nicht einer in den harten Zwang gerät, erst stehlen und danach sterben zu müssen." 6 Hythlodeus heißt im Übrigen wörtlich „Windmacher" bzw. „Schönredner", aber auch „Feind leerer Worte". 7 Er wird als ein Portugiese eingeführt, der mit dem Weltumsegler Amerigo Vespucci zur See gefahren sei. Seine weiteren Überlegungen fasst Hythlodeus in der Maxime zusammen: „Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu (be)treiben." Und er verweist auf den Gegenstand des zweiten Buches mit den Worten: „So erwäge ich denn oft bei mir die klugen, ja verehrungswürdigen Einrichtungen des Staates der Utopier, die so wenige Gesetze und dabei eine so vorzügliche Verfassung haben, dass der Tüchtige auf Lohn rechnen darf und doch, infolge gleichmäßiger Verteilung des Besitzes, alle Einzelnen an allen Lebensgütern Überfluss haben." 8 Wir hatten in Teil I mit Karl Mannheim festgestellt, dass für Utopien eine Inkongruenz zur geltenden Seinsordnung charakteristisch ist, und dass das utopische Bewusstsein bzw. der utopische Gehalt in der Lage sei, diese Seinsordnung zu sprengen. Diese Seinsordnung wird bei Morus bereits gesprengt, indem er auf die Gerechtigkeit als gleichmäßige Besitzverteilung abstellt. Der Gesprächspartner Morus — er ist im Übrigen nicht identisch mit dem Autor Thomas Morus, so dass hier eine Finte vorliegt — bezweifelt, dass eine vernünftige Lebensordnung auf der Basis einer Gütergemeinschaft möglich sei: „Wie soll denn die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder sich von der Arbeit drückt, weil ihn ja kein Erwerbstrieb anspornt und jeder so im Vertrauen auf den Fleiss anderer faul wird? Aber selbst wenn die Not die Menschen zur Arbeit stacheln sollte, muss nicht beständig Mord und Aufruhr drohen, wenn jede gesetzliche Handhabe fehlt, um das Selbsterworbene als Eigentum zu schützen? Vor allem aber: Wenn erst einmal die Autorität der Obrigkeit und der Respekt vor ihr verschwunden ist, welche Autorität dann überhaupt noch ihre Stelle finden soll unter Menschen, zwischen denen keinerlei Unterschied besteht, das kann ich mir nicht einmal vorstellen." — Raphael Hythlodeus erwidert: „Es wundert mich nicht, dass du so denkst; du kannst dir ja auch kein Bild davon machen oder nur ein falsches. Aber wärest du mit mir in Utopien gewesen und hättest mit eigenen Augen die dortigen Sitten und Einrichtungen gesehen, wie ich, der ich über fünf Jahre dort gelebt habe und gar nicht wieder hätte
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strukturalistischen Ansatz für die Analyse politischer Herrschaft in die prämoderne Debatte eingebracht zu habea" Morus 1964, S. 25. Femer kann man diesen Namen auch als „Possenfeind" oder als „Possenmacher" verstehen. Morus hat dies wohl bewusst offen und zweideutig gelassen, zumal etliche Passagen in der „Utopia" satirisch gehalten sind. Wenn man bei dem Namen Hythlodeus die zweite Bedeutung — Possenmacher, Clown — annimmt, könnte der Name nach Humanistenart ironisch gemeint sein, denn gerade der Possenmacher, der Hofnarr, könnte die Wahrheit aussprechen. Vgl. Nipperdey 1986, S. 308, Anm. 10. Morus 1964, S. 55.
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fortgehen mögen, außer um diese neue Welt hierzulande bekannt zu machen, dann würdest du ohne Weiteres zugeben, nirgends anderswo ein wohl regiertes Volk gesehen zu haben außer dort." 9 — Raphael wird schließlich aufgefordert, mit seiner Beschreibung der Insel Utopia zu beginnen. Hiervon handelt das gesamte zweite Buch, überschrieben: „Die Rede des Raphael Hythlodeus über die beste Staatsverfassimg". Trotz der vermeintlichen Realitätskonstruktion handelt es sich jedoch bei der Utopia um eine literarische Fiktion, die — wie wir wissen — allem utopischen Denken seinen Gattungsbegriff verliehen hat. Utopia ist eine Insel, die ohne Lotsen Fremden kaum zugänglich ist. Überall ist der Zugang zum Lande durch N a t o oder Kunst so stark befestigt, dass selbst gewaltige Truppenmassen von wenigen Verteidigern abgewiesen werden können. In alter Zeit war das Land noch nicht rings vom Meer umgeben. Vielmehr hat erst Utopus, der als Sieger und Gründer der Insel ihr seinen Namen gegeben habe (früher hieß sie Abraxa) und der den rohen und unkultivierten Volksstamm zu der Kultur und Gesittung erst angeleitet hat, die ihn heute vor den meisten Völkern der Erde auszeichnen, das Land erst zur Insel gemacht. Er ließ fünfzehn Meilen des Landes auf der Seite, wo die Halbinsel mit dem Festland zusammenhing, ausstechen. Das kann man wohl als eine Parallele zum englischen Kanal ansehen. Die Insel Utopia hat 54 Städte — übrigens genau so viele wie England und Wales zusammen zu der Zeit. Alle sind geräumig und prächtig; sie stimmen in Sprache, Sitten, Einrichtungen, Gesetzen genau überein. Sie haben alle dieselbe Anlage oder Struktur und, soweit dies die lokalen Verhältnisse gestatten, dasselbe Aussehen. Aus jeder Stadt kommen drei ältere erfahrene Bürger jährlich zur Beratung über gemeinsame Angelegenheiten des Inselreiches in Amaurotum (eine Analogie zur „Nebelstadt" London) zusammen. Das ist die Hauptstadt im Herzen (bzw. „im Nabel") des Landes, auch Menitiranum genannt. Das Ackerland ist den Städten planmäßig zugeteilt und keine Stadt verlangt danach, ihr Gebiet zu erweitern, denn die Ackerbau betreibenden Utopier empfinden sich eben mehr als Anbauer denn als Herren ihres Besitzes. Auf dem Lande besitzen die Utopier Höfe, planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt und mit landwirtschaftlichen Geräten versehen. Auf den Höfen wohnen die Bürger, die abwechselnd dorthin ziehen. Kein ländlicher Haushalt zählt weniger als vierzig Köpfe, außerdem zwei an die Scholle gebundene Hörige. Hausvater und -mutter, gesetzte und gereifte Personen, bilden den Haushaltsvorstand, und an der Spitze von je dreißig Haushaltungen steht ein Phylarch (auch Syphogrant genannt). Aus jedem Haushalt wandern jährlich zwanzig Personen in die Stadt zurück, nämlich diejenigen, welche zwei Jahre auf dem Lande zugebracht haben, es rücken nach einer Art Rotationsprinzip ebenso viele aus der Stadt nach.
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Morus 1964, S. 57/58.
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Ein Phylarch oder Syphogrant steht, wie erwähnt, an der Spitze von je dreißig Haushaltungen. Des Weiteren steht je zehn Syphogranten mitsamt ihren Familienverbänden ein Tranibore (oder Protophylarch) vor. Wie alle übrigen Behörden werden die Traniboren jährlich gewählt, aber man wechselt nicht leicht. Die zweihundert Syphogranten wählen in geheimer Abstimmung einen Fürsten aus vier, vom Volk benannten Kandidaten, die jeweils von einem Viertel der Stadt vorgeschlagen werden. Die Traniboren kommen i.d.R. jeden dritten Tag mit dem auf Lebenszeit gewählten Fürsten zur Beratung zusammen. Der Fürst wird Barzanes oder Ademus genannt und fungiert als Lord Major, ist also Fürst der Stadt und nicht Landesfiirst. Zu den Senatssitzungen werden zwei — jeden Tag jeweils andere — Syphogranten herbeigezogen und kein Antrag wird an demselben Tage debattiert und entschieden, an welchem er eingebracht wurde. — Die Syphogranten ihrerseits fuhren Versammlungen durch und teilen ihre Gutachten und Stellungnahmen dem Senat mit. Auch Angelegenheiten von offensichtlich größerer Bedeutung werden von hier an den Senat, den „großen Rat des ganzen Inselreiches", weitergeleitet. Und man höre und staune: Außerhalb des Senats über öffentliche Dinge zu beraten, gilt aus Angst vor einer Verschwörung als ein „todeswürdiges Verbrechen" und wird entsprechend, also mit dem Tod geahndet. Eine inkludierend-allgemeine, deliberativ-öffentliche Demokratie ist also hier nicht vorgesehen. — Allen Utopiern gemeinsam ist, wie bereits angeführt, die landwirtschaftliche Tätigkeit. Darüber hinaus ist von jedem ein weiteres Handwerk zu lernen. Was sie an Geräten brauchen, die auf dem Lande nicht zu haben sind, fordern sie in der Stadt an und erhalten es unentgeltlich sowie ohne Mühe, denn die meisten von ihnen kommen ohnedies allmonatlich zum Festtag in der Stadt zusammen. Die Utopier arbeiten pro Tag maximal sechs Stunden und verwenden ihre freie Zeit (auch die Pausen) zumeist für literarische Studien. Da sie zudem weniger Arbeitszeit benötigen als andere Völker, kommt es von staatlicher Seite auch zu Herabsetzungen der Arbeitszeit. — In den Städten, die sich alle gleichen, wohnen sie in dreistöckigen Reihenhäusern, vorne haben sie die Straße, nach hinten einen Garten, und die Türen sind zweiflügelig zu öffnen und lassen so jeden hinein — so weit geht die Beseitigimg des Privateigentums. Denn selbst die Häuser tauschen sie alle zehn Jahre um, und zwar nach dem Los. Auf die Gärten legen die Utopier besonderen Wert und es besteht ein Wettstreit der Straßenzüge untereinander um die Pflege der einzelnen Gärten. — Die Kleidung ist, abgesehen davon, dass die Geschlechter sich im Anzüge unterscheiden und ebenso der ledige Stand von dem verheirateten, im ganzen Inselreiche einheitlich und unverändert gleichartig für alle Lebensalter; diese Kleidung ist fürs Auge wohlgefällig, bequem für die Körperbewegungen und besonders für Kälte und Hitze berechnet. Jede Familie fertigt sie sich selbst an und ein Anzug reicht gewöhnlich für zwei Jahre. Das wichtigste und beinahe einzige Geschäft der Syphogranten ist es, dafür zu sorgen, dass keiner müßig herumsitzt, wenngleich nur sechs Stunden gearbeitet
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wird (drei am Vormittag, drei nachmittags nach zwei Ruhestunden). Nach dem Abendessen verbringen sie eine Stunde mit Sport und Spiel, im Sommer in den Gärten, im Winter in jenen öffentlichen Hallen, in denen sie gemeinsam essen. Dort erholen sie sich bei Musik oder im Gespräch. Mit den sechs Stunden Arbeit kommen sie gut aus, da alle arbeiten. 10 Ferner gibt es auch nicht das, was Raphael als Zeitkritik benennt: Müssen doch bei uns, da wir alle Werte nur am Maßstabe des Geldes messen, vielerlei ganz unnütze und überflüssige Gewerbe betrieben werden, die nur der Verschwendung und der Genusssucht dienen — das entfällt also bei den Utopiern. Auch die Syphogranten nehmen sich trotz gesetzlicher Befreiung selber nicht von der Arbeit aus. Im Übrigen genießen dieselbe Befreiung noch diejenigen Bürger, denen das Volk auf Vorschlag der Priester und nach geheimer Abstimmung der Syphogranten dauernde Arbeitsbefreiung zu Studienzwecken gewährt. Enttäuscht einer die Erwartungen, so wird er unter die Handarbeiter verstoßen. Andererseits kommt es nicht selten vor, dass irgendein Handwerksmann seine Nebenstunden so eifrig zum Studieren verwendet, dass er von seinem Handwerk befreit und in die Klasse der literarisch Gebildeten befördert wird. Diesem Stande, in welchem geistig und nicht körperlich gearbeitet wird, entnimmt man Gesandte, Priester, Traniboren und endlich den Fürsten selber. Jede Stadt umfasst (ohne den jeweils zugehörigen Landbezirk mit seinen Haushaltungen) sechstausend Familienverbände, ein familialer Verband mindestens zehn, höchsten sechzehn Erwachsene. Den Überschuss der überfüllten Großfamilien versetzt man in weniger kopfreiche Familien. Wächst die Kopfzahl einer ganzen Stadt einmal über Gebühr an, so gleicht man damit den Menschenmangel anderer Städte des Reiches aus. Sollte die Menschenmasse des ganzen Inselreiches zu stark ansteigen, werden Bürger aus jeder Stadt aufgeboten, die auf dem nächstgelegenen Festland — nämlich überall da, wo die Eingeborenen Überfluss an Ackerland haben und die Bodenkultur brach liegt — eine Kolonie gründen, die ihren heimischen Gesetzen und Gepflogenheiten entspricht. Die indigene Bevölkerung wird hinzugezogen, wenn sie mit ihnen in Gemeinschaft leben will. Mit denen, die wollen, verbinden sie sich zu gleicher Lebensweise und gleichen Sitten und verschmelzen dann leichter mit ihnen, was beiden Völkern dienlich ist. Wer sich dagegen weigert, nach ihren Gesetzen zu leben, den vertreiben sie aus den Grenzen, die sich sich selber stecken. Hier können wir also eine Art des Kolonialismus feststellen. Gegen Widerstrebende wird Krieg geführt, denn sie halten es für einen sehr gerechten Grund zum Kriege, wenn irgendein Volk ein Stück Boden selber nicht nutzt, sondern gleichsam zwecklos und leer besetzt hält. Sollte im Übrigen die
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Zur Erläuterung heißt es, dass bei anderen Völkern etweder die Frauen faulenzen oder, wo die Frauen tätig sind, die meisten Männer, hinzu kommen die Priester und so genannten frommen Ordensbrüder — eine faule Schar! — und die reichen Leute, insbesondere die Großgrundbesitzer, die man Edelleute nennt, ferner die Dienerschaft, die als bewaffnete Tagediebe bezeichnet werden, sodann die kräftigen und gesunden Bettler, die alle möglichen Krankheiten zum Vorwand ihres Müßigganges nehmen.
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gesetzliche Volkszahl der einzelnen Städte (z.B. aufgrund von Seuchen) in Utopia einmal unterschritten sein, so wird durch Remigration aus der Kolonie für Ergänzung gesorgt. Die Utopier lassen nämlich lieber die Kolonie zugrunde gehen, als dass irgendeine von den Städten des Inselreiches Schaden nähme. An der Spitze des Familienverbandes steht der Älteste. Die Frauen sind ihren Männern, die Kinder den Eltern, und so überhaupt die Jüngeren den Älteren Untertan. Die ganze Stadt ist in vier gleich große Quadrate eingeteilt. In der Mitte eines jeden Quartiers befindet sich ein Markt für Waren aller Art. Dort werden in Magazinen und Warenspeichern die Arbeitsprodukte aller Familienverbände zusammengebracht. Dort fordert auch jeder Familienälteste an, was er und die Seinigen brauchen; er erhält ohne Bezahlung und Gegenleistung alles, was er verlangt. Denn warum sollte man ihm etwas verweigern, da doch an allem reichlich genug vorhanden und gar nicht zu befürchten ist, dass einer mehr fordern möchte, als er nötig hat. Habgierig und räuberisch macht j a alle Lebewesen immer nur die Furcht vor künftigem Mangel, nur beim Menschen — und das ist wieder eine Zeitkritik — kommt der Hochmut hinzu, der es für einen Ruhm hält, durch Prunken mit überflüssigen Dingen sich vor den anderen hervorzutun — eine Art menschlicher Schwäche, für die es innerhalb der gesellschaftlichen Verfassung der Utopier überhaupt keinen Platz und auch keinen Anlass gibt. Mit den erwähnten Märkten sind Lebensmittelmärkte verbunden, zu denen Gemüse, Obst und Brot angefahren wird, außerdem auch Fische und Fleisch, diese werden aber auf besonderen Plätzen außerhalb der Stadt vorbereitet. Das Schlachten übernehmen ausschließlich Sklaven, denn die Utopier dulden nicht, dass sich ihre Bürger an das Zerfleischen von Tieren gewöhnen, weil sie glauben, dass diese Gewöhnung das Mitleid, diese menschlichste aller unserer natürlichen Empfindungen, allmählich abstumpfen müsse. — In den Hallen, denen jeweils dreißig Familien zugewiesen sind, versammelt man sich zu den festgesetzten Stunden der Mittagsund Abendmahlzeit. Alle schmutzigen und mühsamen Dienstleistungen werden von Sklaven besorgt. Das Kochen und Zubereiten der Speisen ist Frauensache, und zwar abwechselnd Frauen der einzelnen Familienverbände. Reisen innerhalb Utopias sind unter Auflagen möglich. Jeder kann leicht Urlaub von seinem Syphogranten oder Traniboren bekommen, sofern er nicht unabkömmlich ist. Obwohl sie auf der Reise nichts mit sich führen, fehlt es ihnen an nichts, denn sie sind ja überall in Utopia wie zu Hause. Bleiben sie irgendwo länger als einen Tag, so üben sie dort ihr Gewerbe aus. Wenn einer sich jedoch auf eigene Faust in einem Stadtbezirk herumtreibt und ohne fürstlichen Urlaubsschein ergriffen wird, sieht man ihn als Ausreißer an, bringt ihn in die Stadt zurück und lässt ihn scharf züchtigen. Im Wiederholungsfall wird er sogar in die Sklaverei verstoßen. In den Fluren seiner Heimatstadt kann jeder spazieren gehen, sofern der Hausvater bzw. die Hausmutter dies erlaubt haben. Wohin er auch kommt, nir-
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gends gibt es für ihn etwas zu essen, ehe er nicht so viel Arbeit geleistet hat, als dort üblich ist. Hythlodeus hebt bilanzierend hervor, dass es nirgends eine M ö g lichkeit zum Müßiggang gibt, keinen Vorwand zum Faulenzen. Keine Weinschänke, kein Bierhaus, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Spelunken, kein heimliches Zusammenhocken, sondern überall sieht die Öffentlichkeit dem Einzelnen zu und zwingt ihn zu der gewohnten Arbeit und zur Ehrbarkeit beim Vergnügen. Es gibt keine Armen oder gar Bettler, denn in allen Lebensbedürfnissen herrscht Überfluss, der allen gleichmäßig zugute kommt. Die Verteilung in die einzelnen Bezirke wird vom Senat vorgenommen, was Hythlodeus zu der Bemerkung veranlasst: „So bildet das ganze Inselreich gleichsam eine Familie". 11 Geld benötigen die Utopier nicht und der aus Handelsgewinnen mit anderen Ländern angehäufte Silber- und Goldschatz dient vor allem dem Zweck, im Kriegsfall Söldner im Ausland anzuwerben bzw. die Feinde zu korrumpieren. Im Gegensatz zur hohen Einschätzung von Gold und Silber außerhalb Utopias fertigen die Utopier allerlei niedriges Gerät (wie beispielsweise das Nachtgeschirr) sowie die Ketten und Fußschellen der Sklaven aus diesen Edelmetallen an; den Verbrechern werden goldene Ringe an die Ohren gehängt, goldene Fingerringe angesteckt, die kleinen Kinder werden mit Perlen ausgestattet usw. — So sorgen die Utopier mit allen Mitteln dafür, in ihrem Lande Gold, Silber oder ähnliche Wertgegenstände und Preziosen in Verruf zu bringen. Es wird von Raphael auch von einer Gesandtschaft berichtet, die sich besonders eindrucksvoll herausputzen und die Utopier beeindrucken wollte. Die Gesandten verfehlten diese Wirkung gründlich, denn für die Utopier waren sie mit Dingen geschmückt, die als unanständig gelten, nämlich, wie angeführt, als Strafmittel, Schandmal der Ehrlosen und als Kindertand eingesetzt werden. — Demgegenüber ist das höchste Gut der Utopier ein tugendhaftes, d.h. „naturgemäßes" und angenehmes Leben, das der Vernunft gehorcht und auf wahre Glückseligkeit gerichtet ist — das wiederum sind bekannte Topoi aus der platonischen Philosophie. Etwas kurios ist, dass sich in Utopia die zukünftigen Ehepartner vor der Eheschließung wechselseitig nackt präsentieren, d.h. eine würdige und ehrbare Matrone führt das zur Heirat begehrte Weib dem Freier nackend vor und entsprechend stellt ein ehrenwerter Mann dem Mädchen den Freier nackt vor, also eine Art Peep-Show. Das wird allerdings verständlich, wenn andererseits der Ehebruch streng bestraft wird, nämlich mit härtester Sklaverei. Man muss also vor der Verbindung sehen können, worauf man sich lebenslang einlässt. — Ferner ist, jetzt mehr in politischer Hinsicht, für Utopia kennzeichnend: Wer sich selbst um ein
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Morus 1964, S. 84. — Es ist dies „geradezu eine emphatische Ablehnung jener Theoreme, die Machiavelli zeitgleich formuliert hat", Nitschke 2000, S. 68.
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Amt bewirbt, verliert die Anwartschaft auf alle. 12 Der Verkehr mit den Behörden ist bürgerfreundlich und die Utopier benötigen nur wenig Gesetze, ist doch die stärkste Triebfeder des Staatsmechanismus die Gerechtigkeit. Verträge mit anderen Völkern werden abgelehnt, weil die Gemeinschaft der Menschennatur und ein gegenseitiges Wohlwollen ein funktionales Äquivalent für Bündnisse sei. Den Krieg verabscheuen die Utopier auf das Höchste, gleichwohl führen sie unter bestimmten Umständen, nämlich um ihre Grenzen zu schützen oder um die Gegner, die in das Gebiet ihrer Freunde eingedrungen sind, zu vertreiben, oder aber aus Mitleid mit irgendeinem von Tyrannei bedrückten Volk, das sie mit ihrer Macht vom Joche der Tyrannen und der Sklaverei befreien wollen — und das tun sie allein aus Menschenliebe, so dass Morus hier die „humanitäre Intervention" unserer Tage antizipiert hat. Die religiösen Anschauungen der Utopier sind plural, indem die einen die Sonne, andere den Mond, die einen diesen, die anderen jenen Planeten als Gottheit verehren. Aber der „größte und weitaus vernünftigste Teil des Volkes" glaubt nichts von alledem, sondern nur an ein „einziges, unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die Fassungskraft des Menschen übersteigt, ... dem wir die Schöpfung des Weltalls und die Vorsehimg zuschreiben müssen — und diese Gottheit nennen sie alle übereinstimmend in der Landessprache Mythras" 13 (eigentlich oder ursprünglich ein persischer Sonnengott). Die Priester, notabene auch weiblichen Geschlechts, werden vom Volke in geheimer Abstimmung gewählt, erziehen die Kinder zu sittlicher Tätigkeit und unterstehen keinem öffentlichen Gericht: „nur Gott und sich selber bleibt er (der Priester) überlassen". 14 Aber man darf annehmen, dass auch diese Äußerung von Morus eher polemisch-ironisch 15 gemeint ist. Für Raphael Hythlodeus schließlich ist Utopia die einzige Staats- und Gesellschaftsform, die mit Recht den Namen Gemeinwesen verdient, weil man ernsthaft die Interessen der Allgemeinheit betreibe, insofern es insbesondere kein Privateigentum mehr gibt. Die utopischen Institutionen würde er allen Völkern wünschen; sie seien nach menschlicher Voraussicht von ewiger Dauer. Denn seit sie im Inneren des Staates die Wurzeln des Ehrgeizes und der Parteisucht mitsamt den übrigen Lastern ausgerottet hätten, drohe keine Gefahr inneren Zwistes mehr. In der Sekundärliteratur gibt es mannigfache und völlig verschiedene Interpretationen der „Utopia" von Thomas Morus. 16 Eine sozialistische Ausdeutung (z.B. 12 13 14 15 16
Morus 1964, S. 116. Morus 1964, S. 133. Morus 1964, S. 142. Es kommt nicht von ungefähr, dass Morus' liebster Schrifsteller der griechische Spötter Lukian war, „dessen Dialoge er bewunderte, übersetzte und nachahmte". Herz 1999, S. 47. Zur Wiikungsgeschichte siehe Herz 1999, S. 141-155.
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bei Karl Kautsky) erkennt aufgrund des Gemeineigentums eine Antizipation des Kommunismus 17, eine konservative Interpretation, welche die Katholizität des Autors, des Märtyrers und Heiligen betont und das Werk im Wesentlichen aus der Tradition versteht, begreift die Darlegungen als einen moralischen Appell an das christliche Gewissen der Zeit, während eine historische Einordnung und Bewertung das Werk allein aus dem christlichen Humanismus des beginnenden 16. Jahrhunderts erschließen will. 18 Diese Interpretationen sind bestenfalls partiell zutreffend, im Großen und Ganzen können sie nicht überzeugen. Vielmehr müssen wir die „Utopia" von Morus als das auffassen, wofür sie heute im Wesentlichen steht, nämlich als das Paradigma einer Utopie. Die binnengesellschaftlich undialektische und konfliktfrei-harmonistische Idealkonstruktion des Thomas Morus ist wie die meisten Utopien durch die folgenden Strukturmerkmale gekennzeichnet: Ein sozialer und politischer Wandel findet prinzipiell nicht statt und es besteht offensichtlich ein allgemeiner Konsens in Bezug auf die geltenden Werte und institutionellen Ordnungsmuster. Anders ausgedrückt: Strukturell erzeugte Konflikte fehlen vollständig und es folgt hieraus die soziale Harmonie als utopischer Stabilitätsgrund sowie die negative Sanktionierung von „Abweichlern", sofern es sie überhaupt gibt. — Die Institutionen determinieren die Person und der gute Mensch ist nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis der utopischen Ordnung: der Mensch oder die Person ist sozial-institutionell bedingt. Es handelt sich mithin bei der Utopia des Morus, jedenfalls dem Anspruch nach, um ein vollendetes Institutionengefüge. Dabei geht die politische Struktur Utopias nicht in der Herrschafts- und Machtordnung auf, sondern ist der gesellschaftlich-kulturellen Ordnung unlösbar verflochten; alle sozialen Institutionen sind politisch, der Begriff des Politischen ist soziologisch-universal. Insofern ist die „Utopia" nicht nur ein Staatsroman. Die Konstruktion von Welt im Gedankenexperiment von Morus ist grundsätzlich der vernünftigen Planung und menschlich-gesellschaftlichen Aktivität anvertraut, als Ordnungs- und spezifischer Freiheitsentwurf dem Menschen gewissermaßen „aufgegeben". Allerdings ist die „neue Welt", von der uns berichtet wird und von der wir fragen müssen, ob wir in ihr leben wollen, eine solche der „funktionalen Totalität", und es handelt sich (nach den Kriterien von Popper) um eine „geschlossene Gesellschaft", die rational und anti-kapitalistisch sowie anti-individualistisch gedacht ist. Utopia ist für mich jedenfalls nicht sonderlich attraktiv, auch wenn etliche Pas17 18
Siehe auch Bloch 1985, S. 603: „Die .Utopia' ist und bleibt, mit all ihren Schlacken, das erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume." Nipperdey 1986, S. 181/182. — Seibt 2001 plädiert dafür, Morus aus den Bindungen an seine Zeit heraus zu verstehen. Auch für Nipperdey ist der Anti-Individualismus ein Element mittelalterlicher Tradition. Seibt warnt davor, „die Gedankenwelt der Utopia aus dem historischen Zusammenhang zu ziehen. Man darf Morus sicher nicht nach rückwärts, nicht .mittelalterlich' interpretieren, aber auch nicht einseitig in der umgekehrten Gedankenrichtung" [utopischer Sozialismus], Seibt 2001, S. 27.
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sagen bei Morus durchaus als Satire anzusehen sind und man bis heute in der Morus-Interpretation unsicher ist, ob sich der Autor mit der „Utopia" in jeder Hinsicht identifizieren konnte und wollte. 19 — Wir können die „Utopia" des Morus des Weiteren — in systematischer Hinsicht und in Rücksicht auf den Teilabschnitt II. 1 — in Beziehung setzen zur „Politeia" Piatons 20, zumal in der Utopia festgehalten wird, dass den meisten Utopiern die Werke Piatons im Wesentlichen bekannt seien (auch die politische Philosophie von Aristoteles ist ihnen geläufig). 21 Hythlodeus wiederum kann man sich, wenn man so will, als eine Synthese aus Odysseus und Piaton vorstellen. 22 Es gibt zwischen der „Politeia" und der „Utopia" zahlreiche ins Auge fallende Entsprechungen. Bekanntlich ist die politisch herrschende Kaste bei Piaton durch Eigentumslosigkeit gekennzeichnet. Auch Morus sah den Schlüssel zur Erreichung des idealen Staatszweckes darin, dass die Verfügung über Privateigentum und die daraus resultierenden Antagonismen und Spannungen den Bereich der Politik nicht beeinflussen dürfen. Morus radikalisiert den „kommunistischen" Ansatz Piatons, indem er das Gemeineigentum nicht auf die politische Klasse beschränkt, sondern es in der Sphäre der Produktion und Distribution basiert und gesamtgesellschaftlich ausdehnt. 23 Jedoch kann nicht übersehen werden, „dass Sklavenarbeit nicht unerheblich zur Reproduktion des utopischen Gemeinwesens bei Morus beiträgt." 24 — Cum grano salis finden wir bei Morus eine deutliche und prinzipielle Aufwertung der Arbeit, denn es wird von der fast vollständigen Mobilisierung der Arbeitsressourcen ausgegangen. „Utopia" ist insofern auch eine Arbeitsutopie. Quelle der Arbeitsfreude und Leistungssteigerung aber ist die zu erwartende Muße, die überwiegend für Bildung genutzt wird. Ferner sind die Utopier besonders begabt für technische Innovationen. Aber die Utopier sind mit ihrer geometrischen und uniformen Stadtplanung nicht gerade Naturalisten und auch nicht sonderlich ökologiebewusst, denn auch die Wälder werden rücksichtslos abgeholzt, sofern sie den Utopiern im Wege stehen. Ihr Verhältnis zur Natur ist in-
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Gnüg 1999, S. 29: „Wurde seine ,Utopia' einerseits wie selbstverständlich als Plädoyer für die Abschaffung des Eigentums in der Nachfolge von Piatons ,Politeia' verstanden, schien anderen Interpreten gerade diese so sichere Auslegung sehr zweifelhaft. Der Grund dieser so differierenden Deutung liegt in dem ästhetischen Arrangement der Schrift, in der Thomas Morus selbst als Persona, Person und Maske, auftritt, argumentiert, Gegenargumente hinnimmt. Anders als Piatons Sokrates, der Mäeutiker, Geburtshelfer der Erkenntnis, der in seiner scheinbaren Offenheit die Gesprächsleitung fest im Griff hat, lässt Morus divergierende Argumente vorbringen, ohne schließlich ein klares Urteil zu sprechen. Der Leser selbst wird zur Entscheidung aufgerufen." Siehe Saage 1988a (auch in spätere Bände aufgenommen, z.B. Saage 1989a, Saage 2000a). Morus 1964, S. 107. Morus 1964, S. 17. Saage 2000a, S. 79/80. — Siehe auch Bloch 1985, S. 599: „Morus, der sonst Piatons Idealstaat nicht nachfolgt, entnimmt ihm den vornehmen Kommunismus, macht ihn jedoch aus dem Privileg weniger zum Anspruch aller. Man darf nicht zuletzt auf die Lieben des Christen Morus zur Urgemeinde hinweisen; eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich — von diesem Wort gibt auch dem treuesten Sohn der Kirche kein Papst Dissens." Saage 2000a, S. 83.
Fallbeispiele von Platon bis Orwell: Thomas Morus
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strumentell, die Architektur zweckrational. 25 — Eine klare Parallele zu Piaton ist hinsichtlich der kategorischen Ablehnung hedonistischer Lebensweisen gegeben. Auch die Sexualität wollen Piaton und Morus regeln, jedoch erklärt Morus im Unterschied zu Piaton die monogame Ehe für allgemein verbindlich. — Gegenüber dem Entwurf Piatons hat das politische System bei Morus unübersehbar demokratische Elemente, wenngleich der Staatspräsident autokratische Züge hat. 2 6 In Abhebung von Piaton ist für Morus auch die berufsständisch organisierte Gesellschaft kein Thema mehr, sondern auch hier kommen egalitäre Vorstellungen zum Tragen. Jedoch ist die Schicht der wissenschaftlich Gebildeten, die etwa fünfhundert Personen umfasst, von physischer Arbeit befreit. Die eigentliche Aktivbürgerschaft der Syphogranten ist zwar von der Arbeitspflicht entbunden, macht aber von diesem Privileg keinen Gebrauch. 27 Kriterien der Geburt oder des Reichtums (bei Morus ohnedies ausgeschlossen) spielen beim Zugang zur politischen Macht bei beiden Utopisten keine ausgeprägt selektive Rolle. Zur legitimen Herrschaft sind dann jedoch nur die Besten und Erfahrensten zugelassen. Morus will sogar möglichst allen Gesellschaftsmitgliedern eine wissenschaftliche Ausbildung angedeihen lassen. Insofern ist die Utopia auch eine Bildungsutopie. Freilich ist auch bei ihm eine Kunst und Kultur undenkbar, die Freiräume außerhalb der gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für sich einfordert. Diese Perspektive wirkt für die Utopiekonzepte der frühen Neuzeit gleichsam schulbildend, wie wir bei Campanella und Bacon noch sehen werden. 28 In „Utopia" fungieren die Institutionen und das Gemeinwesen als Ausdruck einer kollektiven Vernunft, die der Ratio der Einzelnen vorgeordnet ist. Die Eigenarten des Individuums werden von den gesellschaftlichen Bedürfnissen überformt. Insofern wird denn auch in dem Bericht des Raphael Hythlodeus außer dem schon lange entschwundenen Insel-Gründer Utopos bezeichnenderweise niemand mit Namen genannt. Die Einzelnen werden generalisiert und sind übersozialisiert, Teile einer sozialen Maschinerie, so dass das Vergnügen der Leser in der Beobachtung ihres Funktionierens besteht, nicht aber darin, sich an den unverwechselbaren Individuen zu erfreuen, die dort leben. 29
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Saage Saage Saage Saage Saage
1992b, S. 2000a, S. 2000a, S. 2000a, S. 2000a, S.
154/155. 97/98. 102. 110. 113 mit Bezug auf Marius 1987, S. 214.
4. TOMMASO CAMPANELLA Der in Stilo (Kalabrien) als Giovan Domenico geborene Tommaso Campanella lebte von 1568 bis 1639. Er gilt in der politischen Ideengeschichte als einer der interessantesten Kritiker und zugleich Vertreter der Staatsräson. Er hat diese Idee bekämpft, wenn es die des europäischen Gleichgewichtssystems war, aber er hat sie positiv eingeschätzt in Bezug auf einen bzw. den christlichen Universalstaat. Er war Dominikanermönch, der sich 1599 an einem (schon vor seinem Beginn gescheiterten) Aufstand gegen die spanische Herrschaft in Süditalien beteiligt hatte und nach dessen Scheitern 27 Jahre in spanischen Kerkern unter Folterungen verbrachte. 1626 wurde er an die Kurie ausgeliefert, die ihn in leichter Haft hielt. 1634 floh er aufgrund neuer spanischer Drohungen und einer Verschwörungsbeteiligung aus Rom nach Paris, wo er den Rest seines Lebens zubrachte und auch Richelieu beriet, dem seine hier zu behandelnde Sonnenstaat-Utopie gewidmet ist. In dieser Utopie „Civitas Solis Idea republicae philosophiae"/„Der Sonnenstaat oder Idee einer philosophischen Republik" (resp. „La Città del Sole", die „Sonnenstadt"), die er 1602 im Gefängnis von Neapel auf Italienisch und später in Latein verfasste und in der vollständigen Fassung 1611 vollendete, hat er die innere Ordnung des von ihm erwarteten Zukunftsstaates beschrieben und die Idee einer bis ins Letzte durchorganisierten Gemeinschaft entwickelt. Hinsichtlich seiner analytisch-politischen Vorstellungen und Fähigkeiten ist festzuhalten, dass er die Schwachstellen des spanischen Staates seiner Zeit deutlich erkannt hat, nämlich den Verfall des Ackerbaus, den demographischen Bruch und das Schwinden der Arbeitsdisziplin infolge der Goldimporte aus der Neuen Welt, andererseits war Campanella von der Unabwendbarkeit der spanischen Herrschaft über ganz Europa überzeugt. Diese Auffassung war quasi die realpolitische Grundlage seines utopischen Programms und seine weiterfuhrende Intention bestand darin, die spanische Herrschaft über Europa und Amerika in eine Vorstufe des vom Papst beherrschten „Sonnenstaates" zu verwandeln. Insgesamt spricht man im Hinblick auf die „Civitas Solis" von einer der bedeutendsten Staatsutopien der frühen Neuzeit. Es handelt sich erneut, wie schon bei Morus, um einen Reisebericht (um ein „Schiffermärchen", wie Ernst Bloch sagt) — ein probates Stilmittel, um Realität vorzutäuschen. Der Gewährsmann und Erzählende ist bei Campanella ein Admiral aus Genua, der von der Insel Taprobana [auch Tapobrane oder Taparbona] und der dortigen Sonnenstadt berichtet (also auch ein „Stadtmärchen"). Von der geographischen Lage her handelt es sich wohl um das heutige Sri Lanka. — In einer weiten Ebene erhebt sich ein gewaltiger Hügel, über den hin der größere Teil der Stadt erbaut ist, und zwar in Kreisform mit sieben Ringen, die nach den sieben Planeten benannt sind. Es handelt sich um hoch ragende Bauten, wie man sie vom Inka-
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Reich her kennt. Von einem zum anderen Ring gelangt man auf vier gepflasterten Straßen sowie durch vier Tore, die nach den vier Himmelsrichtungen weisen. Ein derartiger Aufbau hat natürlich auch strategische Gründe, denn eine solche „vertikale Radialstadt" ist schwer einzunehmen. — Auf dem Gipfel des Berges ist eine große ebene Fläche, in deren Mitte sich ein herrlicher runder Tempel erhebt (und man denkt dabei unwillkürlich auch an den Felsendom in Jerusalem). Hinsichtlich der uns besonders interessierenden Verfassungsstruktur bzw. zum Staatsaufbau wird ausgeführt, dass an der Spitze als oberster Herr ein Priester steht, den sie in ihrer Sprache HÖH nennen, in unserer, so der Genuese, würden wir „Metaphysikus" sagen — das ist der „Sonnenkönig" oder SOL. Er ist das Oberhaupt aller in den weltlichen und geistlichen Dingen und es werden auch alle Streitigkeiten letztlich durch sein Urteil entschieden. Ihm zur Seite stehen drei Würdenträger (oder Triumvirn), PON, SIN und MOR genannt, in unserer Sprache: „Macht", „Weisheit" und „Liebe" — und die merkwürdig abgekürzten Begriffe der drei Würdenträger verweisen auf die richtig ausgeschriebenen Begriffe, nämlich: POTENTIA, SAPIENTIA und AMOR. Diese drei Würdenträger, die dem Sonnenkönig als Troika zur Seite stehen, sind funktional spezifiziert auf bestimmte Aufgabenbereiche: Die Geschäfte der „Macht" betreffen vor allem das Kriegswesen. Zum Ressort der „Weisheit" gehören die Künste und Wissenschaften. Auch besitzen sie im Sonnenstaat nur ein einziges Buch, das sie „Die Weisheit" nennen; in ihm sind alle Wissenschaften in leicht fassbarer Weise dargestellt. Die „Liebe" wird zunächst nicht weiter erörtert oder funktionalisiert, später wird hier vor allem der Bereich der Fortpflanzung thematisiert. Die Amtsperson „Weisheit" sorgt dafür, dass die Mauern der Stadt von innen und außen, von oben und unten mit Gemälden überdeckt sind, die wohl angeordnet alle Wissenschaften reproduzieren, so dass ein Lernen durch Anschauung möglich ist. Die Sonnenstaatlichen beherrschen sogar die Kunst, innerhalb eines geschlossenen Raumes alle meteorologischen Erscheinungen wie Wind, Regen, Donner, Regenbogen usw. hervorzubringen. — Es werden die einzelnen Ausstattungen detailliert beschrieben. Es gibt auch kuriose Beispiele. So finden sich auf der Außenseite des dritten Ringes alle Gattungen der Fische der Flüsse, Seen und Meere, ihre Lebensgewohnheiten und Eigenschaften, die Art und Weise ihrer Fortpflanzung, ihres Lebens und ihrer Entwicklung sowie des Nutzens, den sie für die Welt und für uns haben; ferner auch ihre Beziehungen zu den natürlichen und künstlichen Erscheinungen am Himmel und auf der Erde, so dass ich — so der Genuese — in Erstaunen geriet, als ich Fische sah, die einen Bischof, eine Kette, einen Panzer, einen Schlüssel, einen Stern, ein männliches Glied und die Abbilder dieser bei uns vorkommenden Dinge im Allgemeinen bedeuten. Was an Wissenswertem die Wasserwelt überhaupt aufweist, geht aus der wunderbaren Malerei und aus den Inschriften dort hervor. — Die Soimenstaatler haben Lehrer, die diese gemalte Welt (orbis pictus), all diese Bilder erklären, und die Kinder pflegen noch
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vor dem zehnten Lebensjahr ohne große Mühe, fast spielerisch, alle Wissenschaften zu lernen. Auch dieser utopische Entwurf versteht sich also gleichsam als eine „große Schule", als eine Lemgemeinschaft. Dem Amtsträger MOR („Liebe") obliegt vor allem der Bereich der Fortpflanzung. Er hat dafür zu sorgen, dass Männer und Frauen so miteinander verbunden werden, dass sie den besten Nachwuchs hervorbringen — eine Ausrichtung, die schon von Piaton vertreten wurde. Der Amts- und Würdenträger Mor überwacht mit Hilfe seiner männlichen und weiblichen Beamten alles, was hierzu dienlich ist. Ihm untersteht auch die Säuglingspflege, die Heilkunde, die Heilmittelzubereitung, die Aussaat und die Ernte der Feldfrüchte und des Obstes etc. — im Grunde alles, was zur Ernährimg, Bekleidung und Begattung gehört. — Der Metaphysikus, also der Sonnenkönig, tut alles im Einvernehmen mit den drei genannten Würdenträgern, ohne ihn geschieht nichts, alle Staatsgeschäfte werden sodann von diesen vier Personen durchgeführt, allerdings nach der Maßgabe: „Was dem Metaphysikus gut dünkt, dem stimmen alle einträchtig zu." 1 — Diesen Sachverhalt müssen wir natürlich problematisieren. Man könnte auch formulieren: Der Metaphysikus definiert unumstößlich und ultimativ, was der Konsens ist. Die anderen haben sich dem freiwillig zu fugen, so dass man bereits hier von einem autoritären und zentralistisch strukturierten Ordnungsgefüge sprechen kann. Die Menschen des Sonnenstaates sind aus Indien geflohen und hatten beschlossen, hier gemeinsam ein philosophisches Leben zu fuhren. Alles bei ihnen ist Gemeinbesitz, auch die Frauen — man denke an Piaton, dort aber nur bezogen auf den Wächterstand —; im Sonnenstaat ist alles Gemeinbesitz (hier wieder rigoroser als bei Morus, nämlich auch in Bezug auf die Sexualität), die Verteilung und Regelung liegt jedoch in den Händen der Behörden. Darüber hinaus, berichtet der Genuese, seien alle von einer kaum glaublichen Vaterlandsliebe beseelt. — Die unteren Behörden werden ebenfalls mit Tugendbezeichnungen belegt (z.B. Großmut, Tapferkeit, Keuschheit, Freigebigkeit, Wahrheit, Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Heiterkeit, Fleiß, Nüchternheit). Nomination und Inhalte verschmelzen miteinander. Zu diesen Ämtern wird jeweils derjenige gewählt, der in der Schule und von Kindheit auf zu der entsprechenden Tugend am meisten geneigt gefunden worden ist. Kriminalität und Vergehen kommen nicht vor, allenfalls Verstöße gegen Höflichkeitsund Ehrbarkeitsregeln. Wie bei Morus ist ein oder sind mehrere Handwerke zu erlernen, im Übrigen findet unter den Sonnenstaatlern ständig eine gelehrte Unterhaltung und Disputation statt. Eine Entsprechimg zur Vorstellung eines Philosophenherrschers bei Piaton ist zweifelsohne beim SOL gegeben. Er muss die Geschichte aller Völker kennen, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Religionen und ihre Gesetze, die republikanischen und 1
Campanella 1960, S. 123.
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die monarchischen Einrichtungen, ferner die Gesetzgeber und Erfinder der Künste und Gewerbe, die Ursachen und Gründe der Erd- und Himmelserscheinungen. Ebenso verlangen sie von ihm die Kenntnis aller Handwerke — innerhalb von zwei Tagen lernen sie jeweils die Grundkenntnisses eines Metiers —, außerdem auch der Physik, Mathematik und Astrologie. Nicht so groß dagegen ist ihre Sorge um die Kenntnis der Sprachen, da sie ja viele Dolmetscher haben, die bei ihnen Grammatiker heißen. Vor allem aber muss der Sol, ihr oberster Priester, Metaphysik und Theologie beherrschen, den Ursprung, die Grundlagen und die Beweise aller Künste und Wissenschaften kennen. Da eine so umfassende Bildung selten ist und auch im Sonnenstaat Genies nur selten vorkommen, weiß man im Grunde schon lange vorher, nämlich bereits bei der Erziehung und im Unterricht, wer wohl zum künftigen Sol prädestiniert ist. Allerdings findet sich im Bericht ein Satz, der vieldeutig interpretierbar ist: „Das Amt selbst ist lebenslänglich, sofern sich nicht einer findet, der weiser als jener und zur Herrschaft geeigneter ist." 2 Daneben wird noch bestimmt, dass er zumindest das 35. Lebensjahr erreicht haben muss. Die Sonnenstaatler sind sich gewiss, dass in einem so gebildeten Menschen die Weisheit zum Herrschen eher stecke als bei uns, insofern wir ungebildete Männer zu Herrschern machten, nur weil sie von Fürsten abstammen oder von der gerade herrschenden Partei gewählt wurden: „Unser Sol jedoch, wenn er auch noch so unerfahren in der Herrschaft ist, wird niemals grausam oder verbrecherisch oder tyrannisch sein, weil er so viel weiß." 3 Darüber hinaus weiß er insbesondere um das Wesen der Dinge (das wird allerdings wie bei Piaton nur behauptet). Es wird durchgängig dargetan, dass im Sonnenstaat die Wissenschaften und Handwerke besonders leicht erlernt und erworben werden. Es findet halbjährlich ein Wohnungswechsel statt, die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen etc. — also wiederum ähnliche Utopiemuster wie bei Morus. Die Gattenwahl erfolgt durch den Staat, Vermögen wird gering geachtet, die gesamte Lebensweise und der gemeinnützige Arbeitseinsatz sind Dienst an der Gemeinschaft, so dass hier die fragwürdige Ideologie einer wahren und echten „Volksgemeinschaft" ausgebreitet wird. Darüber hinaus gibt es keine hässlichen Menschen mehr usw. — Im Unterschied zu Morus verfügt man nicht über Sklaven und braucht dennoch nur vier Stunden am Tag zu arbeiten (bei Morus waren es noch sechs). In dieser echten Gemeinschaft sind alle zugleich arm und reich, und es kommt nicht von ungefähr — Campanella war ja Dominikanermöch —, dass die Sonnenstaatler die christlichen Mönche und das Leben der Apostel loben. — In Kriegslisten und -maschinen übertreffen sie alle anderen Völker und sind daher auch immer siegreich. Die Staaten, die unterworfen werden oder sich ihnen freiwillig unterstellen, werden 2 3
Campanella 1960, S. 126. Campanella 1960, S. 127.
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sofort in die Gemeinschaft aufgenommen. Sie erhalten eine Besatzung und Behörden des Sonnenstaates und gewöhnen sich allmählich an dessen Einrichtungen. So wird dieser zum Lehrmeister aller. — An allen Dingen haben die Sonnenstaatler Überfluss (das war bei Morus auf geringerem Niveau auch der Fall) und sie meinen, der ganze Erdkreis müsse dahin gebracht werden, nach ihrer Art und Weise zu leben. Die Sonnenstaatler werden bis zu 100 Jahre alt, manche sogar 200. Vielleicht auch deswegen, weil sie im Trinken äußerst mäßig sind. Allerdings baden sie häufig in Wein und ziehen sich auch deswegen kaum Geschlechtskrankheiten zu. Daneben kennen sie in der Liebe keine brennende Begierde, wie es heißt, sondern nur freundschaftliche Gefühle. Allerdings werden die Sonnenstaatler relativ häufig von der Epilepsie befallen, aber diese Krankheit ist ja das Kennzeichen außerordentlicher Geister (wie beispielsweise Herakles, Sokrates, Mohammed). Jeweils zu Neu- und Vollmond finden Volksversammlungen statt mit weithin affirmativem Charakter und die Rechtsprechung orientiert sich an dem Gesetz oder Prinzip der Wiedervergeltung. Verstöße gegen den Staat und die Staatsautorität werden ohne Erbarmen mit dem Tode bestraft. Zivile Vergehen aus Schwäche oder Unwissenheit werden nur durch Verweise geahndet sowie durch die Verpflichtung zur Selbstbeherrschung oder zur Beschäftigung mit den Wissenschaften und Handwerken, gegen die die Betreffenden gefehlt haben: „Sie verhalten sich deshalb so zueinander, weil sie ja überhaupt Glieder eines Körpers und der eine ein Teil des anderen zu sein glauben." 4 — Es folgen Ausfuhrungen zur Religion, zur Beichte und zum Sühneopfer. Festzuhalten ist, dass der Sol der höchste Priester ist, aber auch die Beamten, besonders die höheren, sind Priester. Weltliche und kirchliche Gewalt sind hier also noch eng verbunden. Im Sonnenstaat werden freiwillige Menschenopfer (und nicht unfreiwillige Tieropfer wie bei den Heiden) erwartet, wobei der Opferbereite zwanzig oder dreißig Tage ohne Nahrung gelassen wird. Überlebt er, hat Gott ihn nicht gewollt. Er wird selbst zum Priester oder aber wird, sofem er das nicht will, mit anderen Ehren oder Wohltaten überhäuft. — Des Weiteren halten sich 24 Priester oberhalb des Tempels auf, deren Hauptaufgabe es ist, die Gestirne zu beobachten, denn Gestirne sind Zeichen des Übernatürlichen. Diese Priester bestimmen die Stunden der Zeugung, legen den Tag der Aussaat, der Ernte und Weinlese fest. Sie sind gleichsam Unterhändler und Vermittler, nämlich das Band zwischen Gott und den Menschen. Sie haben teil an der jenseitigen göttlichen Ratio und aus ihrer Mitte wird meistens auch der Sonnenkönig gewählt. — Die Jahre werden nach der Sonne eingeteilt und die Sonnenstaatler haben auch eine neue Astronomie begründet. Sie glauben, dass die Welt geschaffen wurde und nicht von Ewigkeit her besteht und wohl auch nicht auf Ewigkeit. Vor allem aber verehren sie die Sonne, die ja das Licht der Erkenntnis ist. 4
Campanella 1960, S. 152.
Fallbeispiele v o n Platon b i s Orwell: T o m m a s o C a m p a n e l l a
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Sie sehen die Sonne als Vater und die Erde als Mutter. Die Welt, der Kosmos, sei ein ungeheures Lebewesen. Wir aber leben in seinem Innern wie die Würmer in unserem Bauche. 5 Die weiteren Ableitungen und Grundannahmen sind hier entbehrlich. Auf jeden Fall sind die Sonnenstaatler ein zutiefst gottesfürchtiges Volk. Während sie also zum einen stark religiös orientiert sind, sind sie zum anderen durchaus dem Neuen gegenüber aufgeschlossen, d.h. sie sind führend, was technische Innovationen angeht. So haben sie bereits die Kunst des Fliegens erfunden, und sie erwarten, dass sie bald über Fernrohre verfugen werden, um bislang unentdeckte Sterne zu sehen, und auch akustische Anlagen, mit denen man die Harmonie der Sphären hören könne. Sie haben auch Schiffe, die sich ohne Wind und Ruder fortbewegen. Die Beschreibung eines solchen Schiffes erfolgt am Ende der Erzählung. Zuvor aber wird von dem Genuesen noch herausgestellt, quasi als Summe seiner Eindrücke, dass die Solarier die Freiheit des Menschen voll anerkennen. — Wir müssen uns natürlich in dieser Hinsicht fragen: Was für eine Freiheit und was für ein Gemeinwesen ist das? Während Morus sich eine ganze Insel mit 54 strukturell gleichartigen, symmetrischen Städten ausdachte, reduziert sich der utopische Entwurf von Campanella auf eine Stadt auf einer Insel. Bei Campanella finden wir ferner eine gegenüber Morus gesteigerte Wissenschaftsgläubigkeit. Beide Utopien sind „Schiffermärchen", aber die Sonnenstadt ist administrativ noch viel stärker durchorganisiert und Campanella ist hundert Jahre noch Morus insgesamt autoritärer, strenger und rigoroser als jener, wenngleich er von einer kürzeren Arbeitszeit der Sonnenstaatler ausgeht. Der Sonnenstaat ist wesentlich zentralistischer organisiert und stellt in vielerlei Hinsicht ein Gegenstück zu Morus dar. Im Sonnenstaat drückt sich überdies das beginnende Manufaktursystem aus und das ganze Gebilde hat etwas ingenieurhaft Technisches, die ganze utopische Stadt-Konstruktion wirkt wie eine „personlose Ordnung". Der Staat wird zum höchsten Zweck der Gesellschaft und den Sol haben wir uns als den päpstlichen Weltherrscher vorzustellen 6 — und ohne Frage ist seine Stellung die eines Diktators 7 , wenngleich eines freundlichen, „väterlichen" Diktators (und im Stile eines „Cäsaropapismus"8). — Der Sonnenstaat ist eine ziemlich harte Utopie, insofern keine Wahlfreiheit des Einzelnen besteht und ein totaler Konformismus erwartet wird. Versteht man diese Utopie als Zeitkritik, dann bestand für Campanella in der bisherigen Gesellschaft offenbar nicht zu viel, sondern zu wenig Regierung. 9 Aber immerhin wird nicht mehr wie bei Piaton das
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Campanella 1960, S. 157, 159. Bloch 1985, S. 607: „Statt eines Vorstehers der Utopier, im schlichten Franziskanermantel, mit Getreidekrone, erscheint ein Herrscher, ein Weltpapst." Siehe auch ebd., S. 608/609. Saage 2000a, S. 98/99. Saage 2001a (I), S. 110. Bloch 1985, S. 614.
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Politische Utopien
Volk als politischer Faktor völlig ausgeblendet; das war auch schon bei Morus so. Die frühneuzeitlichen Utopien sehen daher auch Repräsentativorgane (wenngleich mit unterschiedlichen Funktionen, Wertigkeiten und Gewichtungen) vor. In Campanellas Modellstadt aber wirkt ein System der Gewissenskontrolle und der Nachrichtendienste. Der politische Sinn der theokratischen Utopie bei Campanella, dem Dominikanermönch, zeigt sich darin, dass es die Aufgabe der politischen Exponenten, also der Priester, ist, die „Reinigimg des Gewissens" der Einzelnen zu sichern, indem die Handlungsträger der jeweils unteren Ebene ihren Vorgesetzten beichten, jedoch unterliegen diese Informationen gerade nicht dem Beichtgeheimnis, sondern unterrichten den Sol fortlaufend über die Einstellung der Bürger zum Gemeinwesen und versetzen ihn bei womöglich staatsgefahrdenden Tendenzen in die Lage, intervenieren zu können und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. 10 Die Todesstrafe wird entweder vom Volk selbst durch Steinigung, Erschlagen etc. vollzogen oder man stellt dem öffentlich Verurteilten frei, sich selbst umzubringen. Eine individuelle Privatheit ist im Sonnenstaat kaum möglich. So besitzen die Solarier die Wohnungen, Schlafräume, Betten und die anderen lebensnotwendigen Dinge gemeinsam. Nach jeweils sechs Monaten wird von den Behörden festgelegt, wer in diesem und wer in jenem Ring der Stadt, wer in welchem Schlafraum nächtigt usw. — diese Festlegungen werden in alphabetischer Ordnung an den Türpfosten geschrieben. 11 Aufgrund dieser Liquidierung des Privaten 12 und der weitgehenden Reglementierung ist bei Campanella die Grenze zur „negativen" Utopie, die uns ein Furchtbild vorführt, bereits überschritten. Campanella ist mit seinem Bildungsoptimismus zwar dem späthumanistischen Geist verpflichtet, sein Entwurf „weist jedoch einen Rigorismus in der Zwangsbeglückung der Menschen auf, der an die Inquisition denken lässt." 13 Das ausgeprägte Gehorsamsprinzip verhindert die freie Vernunftentfaltung und entmündigt die Bürger geistig, obwohl es sich um eine Lernutopie handelt. Für eine Renaissance-Utopie ist die Ausrichtung jedenfalls über Gebühr restriktiv. Indem das Eigentum abgeschafft ist und die Bürokratie die Güterverteilung vornimmt, „wird der Staat als abstraktes Summum Bonum der Gemeinschaft zum Zweck, dem sich der Wille der .zufälligen' Einzelindividuen unterzuordnen hat." 14 Der Monismus der Macht durch Zentralisierung und die Koinzidenz von Staat und Kirche lässt herrscherliche Urteile und Handlungsvollzüge als durch göttliche Weisung verursacht erscheinen: „Das absolutistische Königtum von Gottes Gnaden wird hier als Optimum imaginiert." 15 10 11 12 13 14 15
Saage 2000a, S. 104/105. Campanella 1960, S. 128, Saage 2000a, S. 114. Saage 2000a, S. 115. Gniig 1999, S. 67. Gniig 1999, S. 69. Gniig 1999, S. 69.
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Die Civitas Solis ist die Inkarnation aller Tugenden und wird „zum Selbstzweck, der die Freiheit der Individuen suspendiert. Wozu bedürfte das Individuum auch der Freiheit im Sinne der Enscheidung und Selbstbestimmung, wenn der allwissende, an sich gute Staat alles bis ins Einzelne für seine Bürger geordnet hat?" 16 Der Ordnungs-"Zwangsrausch" Campanellas lässt sich indes teilweise aus den Zeitumständen und situativ-konstellativen Befindlichkeiten heraus erklären, insofern „Italien gerade seit dem Untergang des Weströmischen Reiches bis zum Risorgimento keine politische Identität findet." 17 Für Campanellas Ordnungs-Utopie bleibt es freilich Ernst Bloch vorbehalten, das in unseren Augen wichtigste Motiv zu benennen. Es ist die „Aufhebung von unbeherrschtem Zufall, Einzelfall, Glücksfall (contingentia, casus, fortuna)", der konstruktivistische Wille und Machbarkeitswahn, „die Dinge aus einem Zentrum her ins Lot zu bringen". 18 Das Wesen der Ordnung manifestiert sich in einer Utopie der „Zufalls- bzw. Situationslosigkeit" und führt zu einem Strenge-Pathos, zu einem sozialen Baupathos, zu einer Art Zwangsharmonie, aufsteigend aus dem mundus situalis gegen contingentia, casus, fortuna. 19 Ordnung wird unabdingbar zu einem gebauten und statisch abgesicherten Raum, allerdings zu einem geschlossenen Handlungs- und Gestaltungsraum für einen bestimmten oder vorentschiedenen Freiheitsinhalt, ohne auf den dynamischen Wandel, auf Offenheit und Prozessualität in der Willenszeit zu achten. 20 Es ist dies in der Tat eine chronische und fatale Konstruktionseigenschaft von Utopien, die sozialwissenschaftlich und sozialphilosophisch immer wieder zu kritisieren ist, worauf wir in Teil III („Utopiekritik und Zweifel") noch näher eingehen werden.
16 17 18 19 20
Gnüg 1999, S. 71. Gnüg 1999, S. 72. Bloch 1985, S. 618. Bloch 1985, S. 619. Vgl. Bloch 1985, S. 620/621. Auch Agnes Heller sieht weder bei Morus noch bei Campanella eine signifikante Spur von Zukunfts- oder Vergangenheitsorientierung, Heller 1982, S. 408. Sie konzediert, dass „sich die Menschen heute (aber auch vor zwei Jahrhunderten) in den Idealstaaten von Morus und Campanella wie in einem Gefängnis fühlen würden. Aber weshalb behaupten wir dann, sie hätten ein Reich der Freiheit konzipieren wollen? Weil sich in der fraglichen Zeit das moderne bürgerliche Individuum mit seiner Subjektivität und Innerlichkeit noch nicht herausgebildet hatte. Berücksichtigen wir das Sein und das Bewusstsein der Menschen von damals, so wird in diesen beiden Utopien tatsächlich eine freie Welt entworfen. Das trifft besonders für Morus zu. Für Campanella muss zu dieser Freiheit bereits einschränkend gesagt werden, dass sie als solche nur in der ihm bekannten und ihn umgebenden Welt begriffen werden kann " Heller 1982, S. 412/413.
5. FRANCIS BACON Francis Bacon lebte von 1561 bis 1626 und war wie Thomas Morus Lordkanzler. Er schrieb seine fragmentarisch gebliebene Utopie „Nova Atlantis" im Jahre 1624. „Neu"-Atlantis deshalb, weil er sich auf die von Piaton (vor allem im „Timaios" [112x-121c] und im „Kritias" [19b-25d]) beschriebene sagenhafte Insel Atlantis bezog und offenkundig hieran anknüpfte während die von Bacon gebrauchte Bezeichnimg „Groß-Atlantis" Amerika meint. — Wissenschaftstheoretisch gilt Bacon als Theoretiker der induktiven Methode, wobei man vom Besonderen, also von empirischen Einzelerkenntnissen, zum Allgemeinen, also zu allgemein gültigen Aussagen kommt. Das soll uns hier nicht weiter beschäftigen. — Während seiner juristischen Staatslaufbahn war gegen Bacon nicht ganz unberechtigt der Vorwurf der Korruption und passiven Bestechlichkeit — Bedienstete seines Hauses hatten Gelder angenommen — erhoben worden, und dieses Thema taucht in seiner Utopie in ironischer Weise des öfteren auf, wenn er von den so genannten „Doppelverdienern" spricht, die zweimal für dasselbe kassieren, was im Hause Salomons, also auf der Insel Neu-Atlantis, nicht gestattet ist. Diese Gesellschaft und Brüderschaft auf einer Insel im Stillen Ozean nennt sich auch die „Gesellschaft der Werke der sechs Tage", jedenfalls was die Leitung und Führung betrifft. Darauf kommen wir gleich zu sprechen. Bacon hielt der gesamten Wissenschaft seiner Zeit vor, dass sie bisher nicht in der Lage war, die Erfindungen zu rationalisieren und Effekte systematisch zu erzeugen. Das ist im Hause Salomons — an der Spitze von Neu-Atlantis stehend — natürlich grundsätzlich anders. Die anwendungsorientierte Wissenschaft und ihr praktisches Wissen werden in seiner technisch-effizienten Utopie in paradigmatischer Weise gewürdigt. Im Hause Salomons sind wie in einem Technologietempel die politische Leitung und die wissenschaftliche Grundlagenforschung konzentriert, werden Erfindungen rationalisiert (ars inveniendi), Effekte und Umstrukturierungen systematisch erzeugt, allerdings auch Tierversuche durchgeführt. Bacon hat insgesamt die Praxisidee in der neuzeitlichen Wissenschaft und die Informations- und Wissensgesellschaft antizipiert. Im Mittelpunkt steht die Verbesserung von Lebensbedingungen und allgemeiner Wohlfahrt, gleichzeitig war Bacon ein Begründer der Ideologiekritik, insofern „Idole" erkenntnishemmend seien. Bacon starb im Zusammenhang mit einem „Experiment". Er fuhr im Winter nach Highgate und kam auf den Gedanken, dass Schnee das Fleisch ebensogut wie Salz konservieren könnte. Er kaufte bei einer Bäuerin ein Huhn, ließ es ausnehl
Allerdings nur nominell, inhaltliche Schnittmengen sind nicht zu erkennen, Saage 2001a (I), S. 149.
Fallbeispiele von Platon bis Orwell: Francis Bacon
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men und stopfte Schnee in den Körper. Von der Kälte wurde er krank und ließ sich im Hause eines Earls in ein good bed bringen, das seit einem Jahr nicht mehr benutzt und so feucht war, dass Bacon nach ein paar Tagen starb. Auch hier also wieder eine tragische Biographie, jedenfalls am Ende. Bei der utopischen Konzeption „Neu-Atlantis" — wahrscheinlich 1624 verfasst und ein Jahr nach Bacons Tod 1627 veröffentlicht — handelt es sich erneut um ein Schiffermärchen, allerdings stilistisch glanzvoller, als es zuletzt bei Campanella der Fall war. Es handelt sich, wie bereits angegeben, um eine technische, auf Effizienz bezogene Utopie — und das hatte auch mit der Zeit und mit Bacon zu tun: „Die immensen Veränderungen der europäischen Gesellschaft von einer feudal-agrarischen zu einer kapitalistisch-industriellen Ordnung waren in vollem Gang. Bacon war vielleicht der erste Philosoph, der das gesamte Ausmaß dieser Umstrukturierung ahnte, und er war ... der Erste, der erkannte, dass diese neue Gesellschaft eine an der Zukunft, an technischem und wissenschaftlichem Fortschritt orientierte Philosophie und Ethik benötigte" 2 , wenngleich er zu einer genuinen wissenschaftlichen Fortschrittsethik im Kontext einer spannungsreichen Instrumentalisierung der Natur mit seiner Instaurierung der Moderne nicht mehr vorgestoßen ist. Wir kommen jetzt zu Neu-Atlantis, wie es uns geschildert wird. Die fremden Besucher, die gestrandet und wie durch ein Wunder gerettet sind, werden zum Haus der Fremden geführt. Die Einheimischen machten einen freundlichen Eindruck und wünschten ihnen Glück. Die Ausgaben der Ankömmlinge werden aus öffentlichen Mitteln bestritten. Seit 37 Jahren seien keine Fremdlinge mehr an diese Küste verschlagen worden. An Gold und Silber ist dem Volke von Neu-Atlantis (wie in Morus' Utopia) nicht gelegen. Die Besucher könnten alles über die hiesige Verfassung erfragen. — Neu-Atlantis heißt in der Sprache der Inselbewohner „Bensalem". Das Land selbst sei wenig bekannt, während man hier über den größten Teil des bewohnbaren Erdkreises durchaus unterrichtet sei. — Das Volk von Neu-Atlantis sei voller Frömmigkeit und Menschenliebe; es sei das glücklichste aller Länder. Die Herkunft des Christentums auf der Insel wird den Fremden ausfuhrlich geschildert 3 : Ungefähr zwanzig Jahre nach der Himmelfahrt des Herrn geschah es, dass das Volk von Renfusa, einer im östlichen Teile unseres Landes gelegenen Seestadt, nachts etwa hundert Schritt vom Gestade eine hohe Lichtsäule erblickte, gleichsam zylindrisch vom Meer zum Himmel gerichtet, auf ihrer Spitze ein großes Lichtkreuz, etwas strahlender noch als der Körper der Säule. Das Volk der Stadt versammelte sich am Strand und stand eine Weile starr vor Staunen. Dann bestiegen die meisten kleine Kähne, um diese erstaunliche Erscheinung aus der Nähe zu betrachten. Siebzig Ruten von der Säule entfernt standen jedoch alle
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Krohn 1994, S. 262. Bacon 1960, S. 184-186.
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fest und vermochten nicht weiterzufahren. Sie konnten sich nur noch im Kreise bewegen, nicht aber näher kommen. Sie standen mit ihren Kähnen wie im Theater herum, um dieses Licht wie eine himmlische Vorstellung zu betrachten. — In einem der Kähne saß jedoch einer der Weisen aus dem Hause Salomons. Dieses Haus oder diese Genossenschaft ist ganz offenbar das Auge dieses Reiches. Er betete zum Himmel, dass diese Erscheinung ein Wunder und Gottes Fingerzeig sei. — Sein Kahn konnte sich sodann als einziger wieder bewegen; er ließ ihn schweigend vortreiben. Die Säule mit dem Lichtkreuz verschwand und verwandelte sich in ein über und über mit Sternen bedecktes Firmament. Auch diese verblassten, schließlich blieb nichts anderes zu sehen als eine kleine Kiste aus Zedernholz, trocken und nirgends von Wasser benetzt, obwohl sie schwamm. Auf ihrer Oberseite, gegen den Weisen zu, wuchs ein kleiner, grüner Palmzweig hervor. — Nachdem jener mit höchster Verehrung die Kiste in seinen Kahn gehoben hatte, öffnete sie sich von selber. In ihr lagen ein Buch und ein Brief, beide auf makellosem Pergament geschrieben und in kostbares Leinen gebunden. Das Buch enthielt sämtliche kanonischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments, sogar die Apokalypse und einige andere Schriften des Testaments, die noch nicht herausgegeben waren. In dem Brief standen die Worte geschrieben: „Ich, Bartholomäus, Diener des höchsten und Apostel Jesu Christi, bin von einem Engel, der mir in glorreicher Vision erschien, aufgefordert worden, diese Kiste den Fluten des Meeres zu übergeben. Und so bezeuge und verkünde ich dem Volke, zu dem Gott diese Kiste zu treiben bestimmt hat: An demselben Tage kommen zu ihm Heil und Frieden und guter Wille von dem Vater und dem Herrn Jesus." — Ferner wird mitgeteilt, dass Gott an diesen beiden Schriftwerken ein weiteres unerhörtes Wunder bewirkte, insofern zu jener Zeit außer den Eingeborenen auf der Insel auch noch Hebräer, Perser und Inder wohnten, die alle in dem Buche und in dem Briefe lasen, als wenn sie in der Muttersprache eines jeden von ihnen geschrieben gewesen wären. Duch dieses Ereignis sei das Land vor der Ungläubigkeit bewahrt geblieben. Wir können hinzufügen, dass die Menschen dort sich seitdem wohl auch als ein auserwähltes Volk betrachteten. Die gestrandeten Besucher erfahren im Weiteren, dass vor neunzehnhundert Jahren die Insel von einem König namens Solamona regiert wurde, der als Gesetzgeber des Volkes wirkte. Er legte jene Einrichtungen für alle Zeiten fest. Auch wurde die Einwanderung von Ausländern unterbunden — auch die Ankömmlinge dürfen nur maximal sechs Wochen bleiben —, denn der König fürchtete (nach einer Sintflut in Amerika) Neuerungen und Sittenverwirrung. Der König gründete auch einen gewissen Orden bzw. eine Gesellschaft, eine Bruderschaft, die das „Haus Salomons" genannt wird, also offenbar vom Namen her nicht auf den Gründer, sondern auf König Salomon der Israeliten bezogen. Das Haus sei eine große Leuchte dieses Landes. — Dieses Haus ist der Erforschung und Betrachtung der Werke und Geschöpfe Gottes geweiht. Das Haus Salomons wird auch das „Kollegium der Werke der sechs Tage" genannt in Anlehnung an die Genesis und ein-
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gedenk der Aufgabe des Hauses, die in der Erforschung und Erkenntnis des wahren und inneren Wesens aller Dinge besteht. Der damalige König verbot jegliche Schifffahrt, obwohl sie vorher sogar über 1500 Schiffe verfügten. Gleichwohl ordnete er an, dass alle zwölf Jahre zwei Schiffe in die verschiedenen Gegenden des Erdkreises geschickt werden. Mit beiden Schiffen sollen jeweils drei Männer der Bruderschaft des Hauses Salomons ausfahren. Ihnen ist aufgetragen, uns von den Einrichtungen und Verhältnissen jener Länder — vor allem von den Wissenschaften, Künsten, Handwerken und Erfindungen — Kunde zu bringen und bei ihrer Rückkehr Bücher, Instrumente und Unterlagen mitzubringen. Die Brüder sollen bis zur nächsten Fahrt in der Fremde bleiben und dann Bericht erstatten — mithin eine geheimdienstliche Tätigkeit zum Zwecke des Wissenstransfers. 4 Die Ankömmlinge dürfen dann in der Stadt und auf dem Anger spazieren gehen. Sie fanden bei den Menschen eine freie Lebensart vor und schlössen mit ihnen Freundschaft. Zwei von ihnen wurden sogar zu einem Familienfest eingeladen. Einer der beiden Fremden schloss auch Freundschaft mit einem jüdischen Kaufmann namens Joabin. Er berichtet, dass unter der Sonne kaum ein so keusches und reines Volk fände wie hier, man könne es gewissermaßen als „Jungfrau der Welt" bezeichnen. Die monogame und heterogene Ehe stehe über allem und die Kinder werden als ein zweites Leben verstanden. — Die nackte Präsentation bei Morus, von der sie gehört haben, billigen sie nicht, denn sie halten es für eine Schande, wenn eine/einer nach einer so intimen Kenntnisnahme abgewiesen werde. Dagegen haben sie eine anständigere Sitte: In der Nähe jeder Stadt gibt es zwei Teiche, die sie die Teiche Adams und Evas nennen, wo es einem von den Freunden des Mannes und ebenso einer von. den Freundinnen der Frau erlaubt ist, die betreffende Person allein beim Bade zu betrachten.5 Der mit dem jüdischen Kaufmann befreundete Fremde wird sogar zu einer persönlichen Audienz bei einem Ehrwürdigen Vater des Hauses Salomons gebeten, der zuletzt vor zwölf Jahren auf Visite weilte. Er war kostbar gekleidet und wurde auf einem Armstuhl ohne Räder nach Art einer Sänfte von zwei Pferden getragen, dahinter folgten die Behörden und Zünfte der Stadt. Der Ehrwürdige Vater segnete schweigend das Volk. Bei der Unterredung mit dem fremden Gast in spanischer Sprache erklärt er sich bereit, die wahre Verfassung des Hauses Salomons zu erläutern. Dadurch erfahren auch wir mehr über die Forschungsstätten und Errungenschaften, über die Struktur der Ämter, über die Dienstleistungen, Sitten und Gebräuche. Als Zweck und Grundprinzip der Gründung des Hauses Salomons wird
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Saage 2001a (I), S. 158. Bacon I960, S. 202.
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vorab definiert: die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen. 6 Die einzelnen Erläuterungen und Detailschilderungen können hier natürlich nicht angeführt oder reproduziert werden. 7 Wir kommen insgesamt auf 36 Ämter mit Spezialaufgaben. Nicht unwichtig ist auch der Schlusssatz der Darlegungen, die als eine Maxime der „scientific Community" im Hause Salomons verstanden werden kann: Es ist bei uns „üblich, genau zu erwägen, was von unseren Erfindungen und Versuchsergebnissen zu veröffentlichen angebracht ist, was dagegen nicht. Ja, wir verpflichten uns sogar alle durch einen Eid, das geheim zu halten, was wir geheim zu halten beschlossen haben. Wenn wir auch einiges davon mit allgemeiner Zustimmung zuweilen dem König oder dem Senat enthüllen, so halten wir anderes doch völlig innerhalb unserer Gemeinschaft." 8 Nova Atlantis ist somit eine Utopie, die der Tendenz nach eine allgemeine Leitungs- und Führungsfunktion von Wissenschaftlern vorsieht. Sozialökonomische Unterschiede werden von Bacon nicht thematisiert, auch wird an keiner Stelle die Verfügung über Privateigentum negativ behandelt. 9 Die große Masse der Bevölkerung tritt nicht sonderlich in Erscheinung. Bacons Utopie ist an einem Schichtungsmodell á la Piaton interessiert. Es sind zwar nicht mehr die Philosophen, die die Richtlinien der Politik bestimmen, vielmehr hochkarätige Naturwissenschaftler — jedoch haben beide das eigentliche Herrschaftsmonopol inne, insofern sie in herausragender Weise für den Staatszweck sorgen. 10 — Mit dem Haus Salomons hat Bacon zugleich das Forschungsinstitut der Zukunft beschrieben 11 und wir können auch hier schwanken, ob es sich bei dieser vollständig wissenschaftsgesteuerten Gesellschaft um eine positive oder negative Utopie handelt. Jedoch muss das prophetische Talent von Bacon anerkannt werden, den er hat die Praxisidee der neuzeitlichen Wissenschaft vorweggenommen. Das Haus Salomons ist eine interdisziplinär organisierte Wissenschaftlergemeinschaft, ein Verbund von Forschungsorganisationen. Mit ihren Erfindungen und Experimenten — teilweise äußerst fragwürdigen Experimenten — können diese szientifischen Experten die Natur verändern und schaffen so die Basis für Reichtum und Entwicklung. Nicht qua Geburt, sondern durch Leistung verfugen sie exklusiv über das für Bacon ent-
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Bacon 1960, S. 205. Bacon 1960, S. 205-214. Bacon 1960, S. 214. Auch wird das Privateigentum nicht für den Sittenverfall verantwortlich gemacht, Saage 2000a, S. 70. Saage 2000a, S. 103. Das „Haus Salomons" war Voibild für die 1654/62 entstandene „Royal Society" in London. Nach diesem Modell wiederum entstanden im 17./18. Jahrhundert zahlreiche naturwissenschaftliche Akademien und noch weit mehr „ökonomische" und „patriotische" Gesellschaften.
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scheidende (Herrschafts-)Wissen. 12 Bacon war zweifelsohne ein Anhänger des technischen Fortschritts, denn Wissenschaft bietet zumindest die Chance, die Abhängigkeit der Menschen von den Naturwidrigkeiten zu verringern, ohne die Herrschaft der Menschen über Menschen zu vermehren. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik wird im Sinne der Steigerung menschlicher Wohlfahrt gesehen. Anders formuliert: „Die Rechtmäßigkeit der Forschung bemisst sich an der Verbesserung der Lebensbedingungen, die sie bewirkt." 13 Die neue Zeit verlangt eine neue Wissenschaft bzw. eine neue Wissenschaftspolitik. 14 Als Maßstab des Wissens gilt, etwas herzustellen. Die Zunahme an operativen Fähigkeiten in der Praxis ist das Ziel von Naturbeobachtungen und Experimenten. Dabei sind rationale und empirische Fähigkeiten miteinander zu verknüpfen, d.h. Experimente sollen nicht zufallig erfolgen, sondern angeleitet durch Theorie. — Die Aufgabe seiner Zeit ist die, so Bacon, mit einem schlecht ausgestatteten Verstand eine verworrene Welt zu durchschauen und für die eigenen Zwecke einzurichten. Die Natur ist demzufolge nicht das objektiv Gegebene, sondern das objektiv Machtbare. Das ist selbstredend ein Fortschrittsoptimismus 15, der heute fragwürdig geworden ist. Die inzwischen geradezu zwanghaft gewordene Verstrickung in den technologischen Fortschritt 16, das sich ausbreitende Bedürfnis nach Alternativen und ökologischen Gestaltungsräumen, die Arroganz der Techniker und Ökonomen konnte Bacon nicht voraussehen. Fortschreitende Computerisierung und Gentechnologie, das weitere Vordringen instrumenteller Vernunft im digitalen Kapitalismus fuhren heute womöglich zu einer neuen Entmündigung und zur Formung des Menschen nach bestimmten Standards. Bacons Trennung zwischen dem herrschenden Subjekt und der beherrschten Realität, die keine ethischen Rücksichten verlangt, ist problematisch geworden. — Die christliche Lehre von der Caritas, der fürsorgenden Liebe aller Menschen untereinander, die für Bacon leitend war und in seiner Utopie zum Ausdruck kommen sollte, ist offensichtlich auch heute utopisch. — Bacon hat in seiner Utopie den Vorschlag gemacht, ethisch problematisches Wissen unter den Wissenschaftlern geheim zu halten. Wir wissen heute im Hinblick auf die Atombombe und den Atomwaffensperrvertrag sowie in Bezug auf 12 13 14 15 16
Hieibei ist entscheidend, dass Bacon über Morus und Campanella hinausgeht, indem er die ethischmoralischen Vorgaben des „guten Lebens" durch das Herrschaftswissen der Naturwissenschaften ersetzt, Saage 2001a (I), S. 162. Krohn 1994, S. 263. — Schwendter 1984, S. 68-73, rechnet Bacon zusammen mit Descartes, Newton und Leibniz zur „ Vieieibande des rationalistischen Diskurses". Krohn 1994, S. 263. Gniig 1999, S. 84: „Ungebrochen ist Bacons Fortschrittsoptimismus, und kaum ein Zweifel kommt ihm an der Kontrollierbaikeit der Forschungsresultate. Ein möglicher Machtmissbrauch des Wissens scheint sich seinen Überlegungen zu entziehen" Die Dialektik des Fortschritts hat in der deutschen Politikwissenschaft — mit als Erster — vor allem Fetscher 1980 thematisiert.
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den Transfer von Plutonium usw., wie wenig wirkungsvoll eine solche Geheimhaltungsabsicht ist. Aufgrund dieser Grundsatz- und Grenzfragen im Lichte der heutigen Problematik ist eine Beschäftigung mit der Utopie Bacons nach wie vor sehr sinnvoll, aber auch im Hinblick darauf, „dass wissenschaftlicher Fortschritt [im naturwissenschaftlichen Sinne, A.W.] keineswegs zwangsläufig eine Verbesserung der sozialen und politischen Struktur einschließt." 17 Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts stellte Marie Louise Berneri fest: „Heute, da die meisten Staaten ihre wissenschaftlichen Universitäten und Forschungsinstitute haben und ein Heer von Wissenschaftlern besolden, ist uns klar, dass eine Gesellschaft mit den Vorrechten, wie Bacon sie schaffen wollte, innerhalb des Staates unmöglich bestehen könnte. Die Existenz einer dualen Macht ist nicht möglich; entweder sind die Wissenschaftler Instrumente des Staates, wie es heute der Fall ist, oder sie beherrschen den Staat, wie es in Bensalem gewesen sein muss. — ,Neu-Atlantis' kann uns kaum begeistern, da wir heute alle in einem Haus Salomon leben und wie Bacon geblendet sind von den Reichtümern und Wundern, die es dort gibt. Uns wird nun allmählich deutlich, dass Wissen und wissenschaftlicher Fortschritt nicht mit menschlichem Glück gleichzusetzen sind, und wir haben den Verdacht, dass die begeisterten Verfechter des Fortschritts in Wirklichkeit nicht am Glück der Menschheit interessiert waren, sondern an der Macht, die dieses Wissen und dieser Fortschritt ihnen gaben. Und genau das ist der Grund, warum Bacon so viel über Ehren, Privilegien und die Macht der Mitglieder des Hauses Salomon erzählt und so wenig über das Glück, das sie den Leuten brachten. Wir sind heute auch eher in der Lage, die Gefahren einer Wissenschaft ohne Bewusstsein (science without conscience) zu erkennen. Der Gedanke, dass die Nutzung der Atomenergie das Ende unserer Zivilisation bedeuten könnte 18, hat die Wissenschaft ihres Heiligenscheins beraubt. Der Wissenschaftler wird nicht mehr als Wohltäter der Menschheit gesehen, sondern nimmt unfreiwillig eine finstere Rolle an, und manchmal kommen ihm selbst Schuldgefühle." 19
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Gnüg 1999, S. 87. In dieser Hinsicht zur „Antiquiertheit des Menschen" immer noch äußerst lesenswert: Anders 1988. Berneri 1982, S. 129/130.
6. FÉNELON Wir machen einen Sprung in das 18. Jahrhundert und konzentrieren uns auf einige utopische Denker im vorrevolutionären Frankreich. Jedoch muss angeführt werden, dass gerade die interessantesten und radikalsten Schriften dieser Zeit oft erst mehr als ein Jahrhundert nach ihrer ursprünglichen Niederschrift im Druck erschienen sind. Vorher waren sie des Öfteren nur in Auszügen bekannt bzw. es zirkulierten lediglich ein paar Kopien. Das erklärt sich auch daraus, dass es sich hier nicht nur um „Flucht-Utopien" handelte, also mehr oder weniger Gedankenspiele entwickelt wurden, sondern es handelte sich — jedenfalls der Tendenz nach und insbesondere ab der Mitte des 18. Jahrhunderts — mehr und mehr um Konzepte, die mit dem utopischen Entwurf einen Anspruch auf Verwirklichung verbanden. Dies wird für die Utopien des 19. Jahrhunderts dann noch prägender. Zum Ende des 17. Jahrhunderts, nämlich im Jahre 1699, hat der Erzbischof François de Salignac de la Mothe-Fénelon, kurz Fénelon (1651-1715) genannt, in seinem Erziehungs-, Bildungs- und Reiseroman „Les Aventures de Télémaque fils d'Ulysse" (Die Suche des Telemach nach seinem Vater Odysseus) das Bild zweier ideal organisierter Gemeinwesen (La Bétique und Salent) geschildert und entworfen. 1 Während das frugale Bétique [auch Baetica/Bätica oder Betica bzw. Böotien] auf Gütergemeinschaft beruht, basiert das marode wie korruptionsanfallige, aber inzwischen erfolgreich reformierte Salent [auch Sálente oder Salento] auf dem Prinzip möglichster Gleichheit. — Fénelons „Télémaque" 2 behandelt generell die Aufgaben und Pflichten eines Monarchen, und zwar in einer Kombination aus Fürstenspiegel und mythologisch-didaktischem Roman 3, von Montesquieu als das „großartigste Buch des Jahrhunderts" apostrophiert. Telemach, auf der Suche nach seinem Vater Odysseus, wird auf seinen Irrfahrten von Mentor, der ihm zugleich Erzieher (und göttlich, nämlich mit Athene [bzw. Minerva] identisch 4 ) ist, begleitet. Uns interessiert insbesondere die Frage, wie die beiden unterschiedlichen Idealstaaten charakterisiert werden.
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Offensichtlich ist das Buch ohne Einverständnis Fénelons erschienen, so dass wir von einem Raubdruck sprechen könnea Fénelon schließt damit gleichsam eine Lücke in Homers Odyssee. Das Buch ist geradezu überfrachtet mit Applikationen aus der griechisch-römischen Mythologie. Man muss schon Homer und Vergil, Ovid und Horaz, Plinius und Livius gelesen haben, um allen Anspielungen und Tropen folgen zu können. — Der siebzehnjährige Goethe hatte insofern bezweifelt, ob die Lektüre in Schulen wirklich geeignet sei, die französische Sprache zu erlernen, da es voller bildhafter Vergleiche und Metaphern sei; man würde dadurch eher seine „manière de parier naturellement" verlieren. Damit steht Mentor für die Wahrheit, gleichzeitig ist er natürlich das Sprachrohr Fénelons.
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Es handelt sich beim arkadisch gezeichneten Betique (im achten Buch) um ein Land mit idealem Klima; Gold und Silber, das reichlich vorkommt, wird gering eingeschätzt. In Analogie zu den Utopiern des Thomas Morus, die aus Gold Nachtgeschirre usw. fertigen lassen, wird es in Fenelons Betique-Utopie benutzt, um Pflugscharen herzustellen. 5 Fast alle Bewohner sind Hirten und Bauern, darüber hinaus duldet man nur Gewerbe, die den wirklich notwendigen Bedürfnissen der Menschen dienen. Sie kennen keinerlei Luxus und leben in Familienverbänden zusammen, ohne ihr Land untereinander aufzuteilen. Die Sitten sind einfach und Laster werden allgemein verabscheut. Richter sind nicht nötig, weil jedem sein Gewissen sagt, was gut oder böse ist. Die judikativen Funktionen, sofern doch einmal vonnöten, werden von den Familienvätern ausgeübt. — Die Bewohner Betiques sind alle frei und gleich. Sie anerkennen keinerlei Unterschiede, die sich nicht auf die größere Erfahrung des Alters und auf außerordentliche Tüchtigkeit gründen. Krieg kennen sie nur zur Verteidigimg ihrer Freiheit — damit ist eine Verurteilung der Kriegspolitik Ludwigs XIV. impliziert. Die Ehen in Betique sind monogam und unauflöslich. „Jeder darf nur eine Frau haben ..., und er muss sie behalten, solange er lebt" 6 , heißt es kategorisch und lakonisch über die Geschlechterbeziehung. Die Frauen sind friedlich, schlicht und fruchtbar; Mann und Frau teilen sich alle häuslichen Aufgaben. Die Nachbarvölker wissen, dass sie von diesem Staat nichts zu befurchten haben und lassen ihn daher in Frieden. 7 — Sie bewundern die Leistungen der Schifffahrt, halten sie aber für eine schädliche Kunst, denn: „Wenn diese Leute ... in ihrem eigenen Lande in hinreichender Menge haben, was suchen sie dann in einem anderen? Sie würden verdienen, Schiffbruch zu erleiden, weil sie den Tod mitten unter Stürmen suchen und in der Absicht, die Habsucht der Kaufleute zu sättigen und den Leidenschaften anderer Menschen zu frönen." 8 Die Berührung mit anderen Völkern, davon sind die Bewohner Betiques überzeugt, würde nur neue Bedürfnisse wecken und so die Erhaltung der Tugend in Frage stellen. — Das Land bildet insgesamt ein großes, in sich geschlossenes System von weithin autarken Hauswirtschaften. Es besteht eine Gemeinschaft an allen Gütern. Jeder nimmt sich seine Nahrung, wo er sie in der freigebigen Natur findet, zumal sie allesamt Vegetarier sind. Ausgehend von einem „natürlichen" Überfluss der Güter, erscheint die Frage der Arbeitsorganisation als bedeutungslos bzw. nebensächlich. Betique ist mithin von den Zwängen der materiellen Reproduktion befreit, benötigt insofern auch nicht den Staat als „Motor" der Ökonomie — es kommt ohne eine staatliche Formation aus 9, auch weil es keine sozialen Antagonismen gibt. Die Hirten- und Bauernidylle hat aber auch religiöse Tiefendimensionen, insofern der Kontakt des Menschen zur Natur als ein Emblem für die lebendige Verbindung zu 5 6 7 8 9
Föneion 1984, S. 145. Föneion 1984, S. 149. Fetscher 1985, S. 511/512. Föneion 1984, S. 152. Insofern irrt Bloch 1985, S. 633, wenn er meint, dass Föneions Glücksland „nur den Thomas Morus" abwandelt, „klassizistisch proportioniert".
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Gott verstanden werden kann. 10 — Während Fenelon hinsichtlich der Strukturen Betiques nach „kommunistischen" Prinzipien verfährt, beschränkt er sich in der Darstellung Salents auf die Verwirklichung des Ideals gleicher Teilung. 11 Hier wird dann auch ein intervenierender Staat benötigt. Mentor, der Freund Telemachs, gibt dem durch die luxuriöse Lebensführung seines Königs zerrütteten Salent (Buch 9-18) eine neue Verfassung, die ebenso wie Betique auf naturgemäßen Grundsätzen basiert. Jedoch wird das Prinzip der Gütergemeinschaft aufgegeben. Die landwirtschaftliche Produktion findet im Rahmen der patriarchalischen Großfamilie statt. Die Arbeitsteilung trägt geschlechtsspezifische Züge: der Mann und die älteren Söhne sind für den Ackerbau zuständig; die Frau und der Rest der Familie bereiten die Speisen zu und melken die Kühe, Schafe usw. 12 — Neben der Landwirtschaft gehört der Handel zur Haupterwerbsquelle, wobei alle Waren frei ein- und ausgeführt werden. — Eine ständische Gliederung teilt das Volk in sieben Klassen, wobei die jeweilige Lebenshaltung einer Klasse durch detaillierte Gesetze genau festgelegt ist. Es handelt sich um eine veredelte Version der Ständegesellschaft13, an deren Spitze der Bluts- und Verdienstadel mit einem Fürsten an der Spitze steht. Jede Klasse ist an der Tragen einer bestimmten Kleidung bzw. Uniform gebunden, Änderungen der einmal fixierten Tracht sind ausgeschlossen. Es ist jedoch ausdrücklich vorgesehen, dass bei Verdiensten um das Gemeinwohl ein Aufstieg innerhalb der Ständehierarchie möglich ist. — Um einer künftigen Bereicherung des Adels zu Ungunsten der Bauern vorzubeugen, darf jede Familie einer jeden Klasse nur so viel Land besitzen, als sie zur Ernährung ihrer Mitglieder benötigt. Im absolutistischen Salent-Entwurf Fenelons greift der Staat ständig regulierend und kontrollierend in die Sphäre der Produktion und der Distribution ein 14; ein sich selbst regulierender Markt ist nicht vorgesehen, wie überhaupt den meisten Utopien dieser und früherer Zeit keine Marktvorstellungen zur Verfugung standen. — Auch die Kulturpolitik ist restriktiv. An Piaton erinnert Mentors Verbot jeder weichlich-femininen Musik. Die Kunst hat sich in den Dienst der sozialen Notwendigkeiten zu stellen. Ein derartiger Kulturutilitarismus ist nahezu allen Utopien zu Eigen, die sich als rigide Erziehungsgesellschaften verstehen. 15 Den Behörden Salents obliegt neben den normalen Verwaltungsgeschäften die Leitung der Sitten sowie der gesamten Lebensführung der Einzelnen. Die Beamten sind also zugleich Sittenwächter, ferner wird die monogame Ehe vom Staat durch Steuer- und Abgabenerleichterung gefördert.
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Schaben 1974, S. 108. Girsberger 1973, S. 193. Fénelon 1984, S. 222, Saage 2000a, S. 158. Saage 2000a, S. 187. Fénelon 1984, S. 216/217, Saage 2000a, S. 160. Girsberger 1973, S. 194.
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Gewiss malt Fénelon in seinem „Télémaque" insgesamt nur zwei distinkte Idealzustände aus und denkt nicht daran, zu ihrer Realisation aufzurufen, jedoch war das Buch bis 1717 verboten, hat dann zahlreiche Auflagen erreicht und auf die Phantasie späterer Denker nicht unerheblich eingewirkt, so auch auf die „Basiliade" von Morelly (siehe II.8). Vor allem Rousseaus Vorstellungen vom „guten Leben" ebenso wie zahlreiche Darstellungen des „guten Wilden" dürften von Fénelon mitbeeinflusst sein. Die negativen Bezüge auf die zahlreichen Kriege und den kostspieligen Luxus der Zeit Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs, liegen — wie bereits erwähnt — auf der Hand. Damit wird zugleich deutlich, dass alle Utopien, die uns in diesem Umraum beschäftigen werden, mehr oder weniger offen eine utopische Kritik an den soziopolitischen Verhältnissen des Ancien régime üben. Alle Utopisten, die im Spannungsfeld zwischen Absolutismus und der weiter reichenden Aufklärung stehen, revoltieren gegen den Staat des Sonnenkönigs, dessen Vorbild auch die meisten anderen Monarchien auf dem europäischen Kontinent nachzuahmen suchten. Sie sind im weitesten Sinne alle „Aufklärungsutopien" und entwickeln Gegenmodelle, insofern der Absolutismus mit Hilfe der Religion alle menschlichen Werte zerstört habe. Selbst die gemäßigten Utopien — so auch der Ansatz von Fénelon — intendieren eine grundlegende Veränderung der Wertehierarchie. Insbesondere polemisieren die Utopien gegen das sozioökonomische Ausbeutungssystem, das dem feudal-absolutistischen Staat zugrunde lag. 16 Diese Utopien „naturalisieren" das Ideal des „besten" Gemeinwesens, wobei Natur und Vernunft ineins gesetzt werden. Es ist die Gegenfolie zum Elend und zur Zerrissenheit der europäischen Zivilisation, die hier aufgezeigt wird. Gleichzeitig wird die anti-individualistische Tradition der bisherigen Gemeinwohlkonzeptionen kontinuiert, denn trotz der egalitären Potenz, die in den Utopien zum Ausdruck kommt, ist diese kollektiv imprägniert, mit anderen Worten: Freiheit und Gleichheit sind der Gesellschaft nicht vorausgesetzt, sondern nur in ihr möglich. 17 — Die uns in dieser Phase interessierenden Utopisten lehnen einen Sozial- bzw. Herrschaftsvertrag ab, wie er in der politischen Ideengeschichte unter anderem von Hobbes, Locke und Rousseau konstruiert wurde. Demgegenüber unterstellen sie eine angeborene und natürliche Neigung der Utopie-Bewohner, sich in das Ganze integrieren zu lassen. Zum Zusammenschluss kommt es, weil die Mängel, denen sich die Einzelnen gegenüber stehen, mit anderen, d.h. im kollektiven Handlungsverbund, leichter zu bewältigen sind. Das Bedürfnis bzw. die „wohltätige Zuneigung", sich wechselseitig solidarisch zu helfen, geht somit in diesen Konzeptionen einher mit dem Progress der menschlichen Vernunft.
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Saage 2000a, S. 128/129. Saage 2000a, S. 145.
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In dieser Hinsicht lassen sich gewissermaßen zwei „Utopie-Schulen" unterscheiden, nämlich einmal die Ausrichtung, die auf das Ideal der bons sauvages, der „edlen Wilden" verweisen, die in einer wohl geordneten Anarchie, also herrschaftsfrei zusammenleben. Die staatsfreie Utopie mit individuellen Handlungsräumen im Rahmen der gegebenen „natürlichen" Sitten und Gebräuche steht quer zur planerischen Rationalität der uniformen und geometrischen Gestaltung des utopischen Raumes, wie wir sie seit Morus und Campanella kennen. 18 In Fenelons BetiqueEntwurf werden hingegen alle Künste der Architektur als unnütz abgelehnt, da die Bewohner überhaupt keine Häuser bauten. Es sei völlig ausreichend, sich lediglich gegen die Unbill der Witterung zu schützen. Auch alle anderen Künste verachten sie als Erfindungen, die der Eitelkeit und Üppigkeit dienen und damit Zwietracht und Korruption befördern. 19 Mit der Ablehnung der geometrischen Gestaltung wird natürlich auch, so die Zeitkritik, die in Stein gefasste Herrschaftsrepräsentation des absoluten Staates abgelehnt. Die andere vom Leitbild des „edlen Wilden" ausgehende Variante, im Übrigen von der Mehrheit der Utopisten der Aufklärung vertreten, setzt sich durchaus für starke Institutionen ein. Die beiden Varianten unterscheiden sich also darin, ob man sich auf die Natur = Vernunft + Herrschaftsfreiheit kapriziert oder aber etatistische = staatsbezogene Orientierungen und Ausformungen verfolgt. Diesem Institutionalismus der zweiten Variante entspricht eine Homogenität in der Besiedlung des Landes, der Sprache, der Kleidung und des Tagesablaufs. 20 Wir haben gesehen, dass auch Fenelon keineswegs auf herrschaftsstabilisierende Institutionen verzichten wollte, denn in seiner Salent-Utopie gibt es zwar Privateigentum, aber seine Nutzung ist staatlich reglementiert; sie findet ihre Grenze im Allgemeinwohl.21 Beide Varianten, die bei Fenelon angelegt sind, weswegen er sich auch für keine entscheidet 22 , wiederum stimmen darin überein, dass in der utopischen Gegenwelt eine „brüderliche Einheit" gegeben sei, die durch nichts zu erschüttern sei. 23 In Bezug auf das Erziehungsziel, mit dem Fenelon Telemach konfrontiert und zur Aufgabe Mentors erklärt, hält Richard Saage fest, dass er durch Belehrung und Erfahrung zum Philosophen reifen solle, was an die Vorgaben der platonischen Politeia erinnert. Die Tugend und Weisheit eines monarchischen Philosophen sei der Garant eines harmonischen Gemeinwesen: „So gesehen, erwartete Fenelon ganz im 18 19 20 21 22 23
Saage 2000a, S. 148-150. Föneion 1984, S. 146. Saage 2000a, S. 150/151. Saage 2000a, S. 154. Allerdings hält er den Salent-Entwurf für leichler realisierbar. Dafür spricht auch, dass Betique geographisch fernab liegt und damit ein entferntes Szenario bildet, während sich die dreiphasige Entwicklung Salents in Süditalien abspielt. Föneion 1984, S. 147. — Ebd., S. 196/197: „Das ganze Menschengeschlecht ist nur eine auf der Oberfläche der Erde zerstreute Familie. Alle Menschen sind Brüder und müssen sich als solche lieben."
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Sinne der Frühaufklärung eine Veränderung des kritikwürdigen Status quo der Gesellschaft seiner Zeit von der Reformfahigkeit aufgeklärter Monarchen an der Spitze des Staates: Nur ihre weitsichtige Strukturpolitik ist in der Lage, das zu verhindern, was er als gesetzlose Anarchie des ,Pöbels' ebenso furchtet wie die Despotie von oben. Doch darf nicht verschwiegen werden, dass Fénelons utopischer Roman mit dem Bätica-Entwurf auch eine gedankliche Perspektive für den Fall bot, dass eine Reform des absolutistischen Staates durch sich selbst scheiterte. An sie knüpfte die revolutionäre Opposition an, als sie im Namen eines naturalisierten Emanzipationsideals dem Ancien Régime den Prozess machte, der mit dessen Liquidierung endete. Insofern kann Fénelon durchaus als ein Wegbereiter der Revolution von 1789 gelten." 24
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Saage 2001a (II), S. 92.
7. JEAN MESLIER Eine weitere, uns in diesem Kontext beschäftigende Utopie ist das so genannte „Testament" des Abbé und späteren Atheisten Jean Meslier, dessen Lebensdaten unklar sind. Er wurde 1664 (oder 1678) geboren und ist 1729 (oder 1733) gestorben. Er blieb zeit seines Lebens im Verborgenen ist nicht an die literarische Öffentlichkeit getreten und hat vermutlich auch seine Heimat, die Champagne, nie verlassen. Auch hat er mit keiner bekannten Person korrespondiert und kein namhafter Zeitgenosse hat von ihm je irgendein Zeugnis abgelegt. Es gibt von ihm auch kein authentisches Porträt oder ein Tagebuch. Sein Leben war wohl in keinster Weise abenteuerlich und auch nicht berichtenswert. 2 Das „Testament" soll Meslier in drei Abschriften hinterlassen haben; es wurde von Voltaire und den Enzyklopädisten entdeckt und zunächst in Auszügen (mit manipulativ zu nennenden Weglassungen) veröffentlicht. Das so genannte Testament ist in einer Gesamtausgabe erst 1864 in Amsterdam im Druck erschienen, und zwar in drei Bänden. Der Abbé Meslier, der vor allem seinen Eltern zuliebe Priester geworden war, wurde zum Atheisten 3 und bekämpfte von nun an die Religion, weil sie die Menschen daran hindert, sich vom Aberglauben frei zu machen sowie von den Bindungen, mit denen ihre Herren sie bedrückt haben. Ja, man sollte „alle Großen der Erde und alle Adligen an den Gedärmen der Priester aufhängen". 4 — Damit geht Meslier weit über die Religionskritik anderer Utopisten in diesem Zeitraum hinaus. Im religiösen Profil der meisten Aufklärungsutopien wird Gott als die Inkarnation der Natur verehrt, die identisch sei mit der Vernunft: In dem Maße, wie sein Wesen den gesamten Kosmos durchdringt, erteilen die Utopisten der Aufklärung dem Offenbarungsglauben und der institutionalisierten Kirche eine klare Absage. Für sie gilt der wohl geordnete Kosmos als einziger Beweis der Existenz Gottes. Hier ist Meslier radikaler und vernichtender: „Eine Religion, die Irrtümer lehrt, die gegen die Gerechtigkeit und Gleichheit gerichtete Missbräuche duldet, die Vorurteile gegen das öffentliche Wohl nährt und die Völker unter das Joch ihrer tyrannischen Könige und Prinzen zwängt, eine solche Religion — so betont Meslier immer wieder — könne nicht wahr sein." 5 Er zog daraus den Schluss auf die Nichtexistenz Gottes. Damit übertraf er die anderen Utopisten dieses Zeitraums, unter denen indes ein Konsens darüber bestand, dass die christlich-katholische Religion nicht länger mehr als die moralische Grundlage der Gesellschaft akzeptiert werden könne,
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Girsberger 1973, S. 122. Mensching 1976, S. 18. Ein utopischer atheistischer Vorläufer ist Bemard Le Bovier de Fontenelle. Siehe zu Fontenelle ausführlich Saage 2001a 01), S. 53-73. Meslier 1970, Bd. 1, S. 19, Fetscher 1985, S. 516. Saage 2000a, S. 136, Meslier 1970-72, Bd. 2, S. 146.
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da sie zu einem Herrschaftsmittel geworden sei. 6 Zahlreiche Utopisten erblickten in der „Natur" einen Beweis Gottes, vertraten also eine undogmatische Vernunftreligion, deren Kern Mercier, den wir im nächsten Abschnitt behandeln, so beschreibt, dass „ein Wilder, der in den Wäldern herumläuft, den Himmel und die Natur betrachtet und sozusagen den einzigen Herrn, den er anerkennt, fühlt, ... der wahren Religion näher (ist) als ein Kartäuser, der in seiner Klause steckt und mit den Trugbildern seiner überhitzten Phantasie verkehrt". 7 Meslier konnte auch mit diesen Religionsvorstellungen nichts anfangen. Das Elend der Bauern und Handwerker kommt für ihn — ökonomisch und herrschaftsstrukturell betrachtet — allein von der Notwendigkeit, zahllose unnütze und untätige Schmarotzer, nämlich die Adligen, Priester und Mönche, Rentiers und andere Reiche, zu ernähren und ihnen ihren Luxus zu ermöglichen.8 So heißt es im „Testament" bei Meslier: „Was wären zum Beispiel die größten Prinzen und die größten Potentaten der Erde, wenn die Völker sie nicht unterhielten? Sind es nicht die Völker, die ihre ganze Größe, ihre ganzen Reichtümer und all ihre Macht ermöglichen? Mit einem Wort: Sie wären nur kleine und schwache Menschen wie ihr, wenn ihr nicht ihnen ihre Größe erhalten würdet. Sie verfügten über keine größeren Reichtümer als ihr, wenn ihr ihnen nicht die eurigen überließet. Und schließlich hätten sie nicht mehr Macht und mehr Autorität als ihr, wenn ihr euch nicht ihren Gesetzen und ihrem Willen unterwerfen würdet." 9 Das Paradies und die Hölle seien nur durch einen kleinen Abstand voneinander getrennt. Die Häuser der Reichen, in denen sich der Überfluss der Güter häuft und in denen man die Freuden und das Entzücken des Paradieses genießt, befanden sich in unmittelbarer Nähe der Behausungen der Armen, in denen materielle Not herrsche und das Elend einer wirklichen Hölle erlitten werden müsse. 10 Ein anderer Missbrauch sei die private Aneignung der Güter und Reichtümer der Erde, statt dass alle in gleicher Weise und gemeinsam sie besitzen sollten, um sie ebenso gemeinsam und in gleicher Weise zu genießen. 11 Die rechtliche Gleichheit müsse mit der materiellen verbunden sein. Dem individuellen Anspruch auf den zur Existenz notwendigen Ertragsanteil habe eine allgemeine Arbeitspflicht zu entsprechen, so dass unter den Mitgliedern der Gemeinschaft keine Müßiggänger mehr vorkämen. Damit aber Produktion und Verteilung in geordneter Weise vonstatten gehen, ist eine strenge Unterordnung der einzelnen Glieder dieses Gemeinwesens 6 7 8 9 10 11
Saage 2000a, S. 136. Mercier 1982, S. 137, Saage 2000a, S. 192. Fetscher 1985, S. 516. Meslier 1970-72, Bd. 2, S. 77, Saage 2000a, S. S. 133. Meslier 1970-72, Bd. 2, S. 64, Saage 2000a, S. 132/133. Meslier 1970, Bd. 2, S. 210, Fetscher 1985, S. 516. — Siehe auch Mensching 1976, S. 45: „Jedem Individuum als quantum discretum der Gesellschaft steht derselbe Anteil jener Güter zu, die die Natur aus sich selbst erzeugt."
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unter die Leitung der Weisesten und Ältesten erforderlich. Auf eine nähere Gestaltung des Wirtschaftslebens lässt sich Meslier indes nicht ein. 12 Mercier geht also über die bürgerliche Kritik am arbeitslosen Einkommen des Adels und der Geistlichkeit hinaus und fordert die Einfuhrung des Gemeineigentums. Dann nämlich werde es keine Hungersnot mehr geben und ein neues goldenes Zeitalter, das Glück eines tausendjährigen Reiches heraufziehen. Meslier möchte zu diesem Behufe die ganze Gesellschaft in sich selbst verwaltende unabhängige communautés agricoles auflösen und verwandelt sehen, womit er auch das Prinzip des Föderalismus gegen den extremen Zentralismus des gerade zu seiner Zeit im Zenit seiner Geltung stehenden Ancien régime ausspielt. 13 Die Angehörigen dieser Gemeinden sollen gleichsam eine große Familie bilden. Allerdings sollten Ehen geschieden werden können, damit das Leiden an unvereinbaren Charakteren aufhöre. Mit dem Verschwinden der Stände und der Besitzunterschiede werde schließlich nur noch wirkliche Zuneigung über eine Verbindung bzw. Trennung entscheiden. 14 In Mesliers kommunistischen Gemeinden übernimmt die Gesellschaft die Erziehung der Kinder. Alle erhalten denselben Unterricht in Sittenlehre, Wissenschaft und Kunst. Wie fast alle Utopisten vertraut auch Meslier auf die absolute Macht des pädagogischen Faktors. 15 Nur aus Feigheit hätten die Menschen die Tyrannei der Fürsten und die ungerechten Zustände ertragen. „Sucht also alle Euch zu vereinigen, solange ihr lebt, Ihr und Euresgleichen, um das Joch der Tyrannei Eurer Fürsten und Könige völlig abzuschütteln; stürzt überall die Throne des Unrechts und der Sittenverderbnis!"16 lautet seine Forderimg. Das erinnert doch sehr an den späteren Aufruf von Marx und Engels: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!". Mesliers „Testament" muss als eines der eigenartigsten Werke des Aufklärungssozialismus verstanden werden. 17 Als elementare Explosion einer ein Leben lang versteckt gehaltenen Empörung gegen die herrschenden Missstände und Lehren ist es beherrscht von einem Radikalismus, wie er sich in den wenigsten sozialen Schriften aus dieser Periode finden lässt. Unerbittlich und emphatisch wird mit den Doktrinen und Zuständen des Ancien régime gebrochen. Der heftigen Haltung des ganzen Werkes entspricht Mesliers flammende Aufforderung zur revolutionären Erhebung, in der er das alleinige Mittel zur Transformation in die neue ideale Ordnung erblickte. 18 Allerdings sind Mesliers Vorstellungen von einer idealen 12 13 14 15 16 17 18
Saage 2001 a (II), S. 247, Girsberger 1973, S. 127/128. Girsberger 1973, S. 127. Fetscher 1985, S. 516. Girsberger 1973, S. 128. Meslier 1970, Bd. 3, S. 377/378, Fetscher 1985, S. 516. Girsberger 1973, S. 122. Girsberger 1973, S. 129.
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Gesellschaft rudimentär ,9 : „Zwar muss seine Gesellschaftstheorie zum utopischen Sozialismus gerechnet werden, aber es gibt keine farbigen Bilder befriedeten Daseins nach der Revolution. Im Gegenteil, Meslier exponiert nur einige unanschauliche Prinzipien einer von Herrschaft befreiten Gesellschaft. ... Ihre Kraft erhalten die gesellschaftstheoretischen Gedanken von der Anklage des Elends, das aus dem nur noch mit Gewalt zusammengehaltenen Feudalsystem unter Ludwig XIV. folgte. Die enorme Ungleichheit der Menschen in diesem System erschien nicht mehr als gottgewolltes Schicksal, sondern wurde als Folge des politischen Geschicks erfahren, mit dem die Mächtigen ihren Reichtum und Einfluss einsetzten und mit dem sie sich oft gegenseitig vernichteten. Vor dem Volk wurde der Unterschied in den Rangordnungen und Ständen der Gesellschaft aber immer noch als von Gott eingesetzte Weltordnung gerechtfertigt. Demgegenüber galt es, den Unterdrückern das Bewusstsein der Gleichheit aller Menschen zu vermitteln, um sie zum Sturz der Herrschenden zu befähigen, die sie immer noch als Wesen höherer Natur zu respektieren hatten." 20
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Für Saage sind sie auch „zu wenig visionalisiert und als das Muster einer aktiven Gesellschaft nicht anschaulich genug geschildert, um den Kriterien einer klassischen Utopie genügen zu können", Saage 2001a (II), S. 246. Mensching 1976, S. 43/44.
8. MORELLY Wir haben bei Meslier festgestellt, dass über sein Leben wenig bekannt ist. Das gilt auch für Morelly — ebenfalls ein Utopist, von dem wir nur wenig gesicherte biographische Kenntnisse haben. Er ist wahrscheinlich um das Jahr 1715 im südlichen Frankreich geboren und war vermutlich Lehrer. Morelly konnte Latein und war mit den großen Autoren des Altertums vertraut. Vor allem aber kannte er wohl aus eigener Erfahrung die materielle Not der Armen. 1 Eine ganze Reihe seiner Arbeiten — „Versuch über den menschlichen Geist oder die natürlichen Prinzipien der Erziehung", „Versuch über das menschliche Herz", „Die Physik der Schönheit" und „Der Fürst, der die menschlichen Herzen entzückt" — führten nicht zu dem erhofften publizistischen Erfolg. Der letzte Titel war als eine Empfehlung für Friedrich den Großen gedacht, von dem sich Morelly (allerdings vergeblich) eine materielle Unterstützung erhoffte. Seine Schriften waren bis dahin wenig originell und lagen auf der Linie der bürgerlichen Aufklärungsliteratur. Enttäuschungen mit einem adligen Gönner und die vergeblichen Versuche, beim preußischen König Unterstützung zu finden, trugen zur radikalen kritischen Wende der politischen Auffassungen Morellys bei. Die Lektüre von de las Vegas' „Geschichte der Inkas, der Könige von Peru" überzeugt ihn schließlich von der „Vernünftigkeit und Natürlichkeit" des Gemeineigentums und davon, dass die Einführung des Privateigentums die Wurzel allen Elends und aller Laster war 2 — ein Grundmuster der politisch-utopischen Literatur. 1753 erscheint von Morelly sein utopischer Staatsroman „Untergang der schwimmenden Inseln oder Königsgesang (Basiliade) vom erlauchten Pilpai", der sich indirekt auf das Aztekenreich in Mexiko bezieht. Es handelt sich um eine etwas chaotische Phantastik, die hier zutage tritt. Im Vorwort der „Basiliade" kennzeichnet Morelly seine Intention: „Ich glaube, es ist nicht schwer herauszufinden, dass Pilpai [es handelt sich um einen persischen Weisen] die Absicht hatte zu zeigen, in welch glücklichen Verhältnissen sich eine Gesellschaft befinden würde, die nach den Prinzipien seiner ausgezeichneten Moral gebildet wäre", und bis auf wenige Abweichungen gleiche es dem am besten verwalteten Land, das es je gegeben hatte, nämlich Peru. 3 — „Morelly unterstellt, dass ursprünglich die Menschen in Familien zusammenlebten, kein Privateigentum kannten und Eintracht unter ihnen herrschte. Als sich die Stämme vergrößerten und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl sich abschwächte, wurde das Privateigentum eingeführt und die Gesetzge-
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Fetscher 1985, S. 516/517. Fetscher 1985, S. 517. Fetscher 1985, S. 517.
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ber festigten es noch. Hätten sie damals am Gemeineigentum festgehalten und lediglich die Verteilung der Arbeiten und Konsummöglichkeiten geregelt, wären der Sittenverfall sowie das zeitgenössische Elend in Frankreich und den anderen zivilisierten Staaten vermieden worden." 4 Das „unbarmherzige Eigentum, die Mutter aller Verbrechen, die den Rest der Welt überfluten, aber war den glücklichen Bewohnern jener idealen Insel unbekannt. Sie sahen die Erde als ihre gemeinsame Nährmutter" an, und die solidarische Brüderlichkeit jener Menschen erstreckte sich sogar auf die Tiere, aus diesem Grunde verzichteten sie auf Fleischnahrung. — Die kleinsten wirtschaftlichen und sozialen Einheiten, von denen Morelly spricht, sind aus Angehörigen der verschiedensten Berufe zusammengesetzt; sie bebauen gemeinsam ein Stück Land und übernehmen alle handwerklichen Arbeiten. Es handelt sich um Kooperativen, die fast autark sein können. Derartige Gemeinschaften und ganze Provinzen dürften sich nach Morelly auch gegenseitig unterstützen, wenn sie einerseits Überfluss haben, andererseits Mängel an bestimmten Gütern verspüren. 5 — Die Basiliade schildert das glückseligste aller Völker, in welchem sich vollkommene Harmonie und allgemeiner Wettbewerb miteinander verbinden, sowohl das Elend als auch der Bereicherungstrieb verschwunden sind. In diesem Kontext wird auch die Arbeit zur puren Freude. „Altruistischer Ehrgeiz" ist der Ansporn zur Arbeit und ersetzt das Profitmotiv der privatwirtschaftlichen Ordnung. 6 Freilich kommt bei Morelly hinzu, dass er auf eine rationelle Gestaltung der Produktion großen Wert legt — eine Idee, die im 19. Jahrhundert vor allem Fourier aufgreift, wenn es um die Vorteile einer assoziierten Arbeitsweise geht. 7 In religiösen Dingen herrscht völlige Glaubensfreiheit: „Morellys Idealmenschen anerkennen ein höchstes Wesen, zu dessen Annahme sie durch die Wunder der Natur gezwungen sind, ohne aber ihren Glauben in bestimmte Dogmen zu bannen." 8 Die Ehe ist, wie bei Meslier, die Folge reiner Neigung und in ihrer Dauer nur an diese gebunden. Die Kunst des Genießens ist im krassen Unterschied zu vielen anderen Utopien bei diesem Volk zu höchster Vollendung ausgebildet. Der asketische Rationalismus z.B. bei Campanella wird in der Basiliade zugunsten der Sinnlichkeit überwunden. Gleichwohl sind Laster unbekannt. Weder Diebstahl, Habsucht noch ein pures Eigeninteresse stören die utopische Harmonie mit hedonistischen Akzentuierungen. Auch ist die Gleichheit verwirklicht, Unterschiede sind lediglich altersbedingt. Diese glückliche Nation wird von einem Fürsten in „immer währender Einmütigkeit" 9 regiert, der auch nur das Wohl seines Volkes im Auge hat, und die fürstliche Familie verfügt insgesamt über ein großes Ansehen 4 5 6 7 8 9
Fetscher 1985, S. 517/518. Fetscher 1985, S. 518. Girsberger 1973, S. 132. Girsberger 1973, S. 147. Girsberger 1973, S. 133. Morelly 1753 (I), S. 41, Saage 2001a (II), S. 146.
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aufgrund ihrer Verdienste in Rücksicht auf das Gemeinwohl. 10 Man könnte auch formulieren: Die gute Qualität der Herrschaft hebt die Herrschaft als solche im Grunde auf. 11 Auch dieser dickleibige utopische Roman Morellys fand nur wenig Resonanz. Um seine soziopolitischen Ideale „deutlicher und präziser zu formulieren" n , schrieb Morelly daher ein zweites Buch über das nämliche Thema, das „Gesetzbuch der Natur", den „Code de la nature" aus dem Jahre 1755. 13 Er will hier den „Geist der Gesetze der Natur" bzw. der „natürlichen Gesetze" endlich kundtun und offenbaren. Allerdings ist der Ausgangspunkt ein anderer, denn in der Basiliade wurde noch ein natürlicher Überfluss unterlegt, während nunmehr eine Knappheit der Güter vorausgesetzt wird. 14 Der „Code de la Nature" erschien ebenso wie die Basiliade anonym und wurde bis 1841 für ein Werk Diderots gehalten. Immerhin konnten zahlreiche Neuauflagen erscheinen, was auf ein erhebliches Leserinteresse, insbesondere bei den unteren Bevölkerungsschichten, schließen lässt 15, während Kritiker sich vor allem am Stil rieben. Im Vergleich zur „Basiliade" aber ist der „Code de la Nature" in systematischer Form vorgetragen und gelangt zu einer konsequenten Architektonik. Morelly sieht die Entwicklung der Menschheit ähnlich wie Rousseau in seinem Zweiten Discours, der im selben Jahr wie der „Code de la Nature" erschien. Freilich stehen bei Morelly Familien und nicht isoliert lebende Einzelne am Anfang der Menschheitsgeschichte. Er ist auch optimistischer als Rousseau, was die „Rückkehr" zu einem natürlichen Zustand der Gesellschaft angeht. 16 Die zivilisatorische Entwicklung ist für ihn nicht Schicksal, sondern Folge eines Irrtums aufgrund unzulänglicher Kenntnisse der früheren Gesetzgeber. Diese Irrtümer seien rückgängig zu machen, insbesondere sei das Gemeineigentum an Boden zu restituieren. 17 Statt das Eigentum zu teilen, müssten die Gesetzgeber sich anheischig machen, nicht das Eigentum, sondern den Gebrauch und die Verteilung der beweglichen Habe zu ordnen. Morelly spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich womöglich eine harmonische Ungleichheit einstellen könnte. 18 Mit dieser Formel der „harmonischen Ungleichheit" versucht er, die Gleichheit der Rechte aller Ge-
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Girsberger 1973, S. 133/134. Saage 2001a (II), S. 146: „Unter der Bedingung, dass er [der Monarch] aufgrund der Abwesenheit von Konflikten und Veibrechen diese Aufgabe [der Repräsentation] ohne Zwangsmittel erfüllen und gleichzeitig auf den freiwilligen Gehorsam aller rechnen kann, behaupten die Bewohner der Insel zu Recht von sich, ein Volk ohne Herrscher (un peuple sans chef) zu sein." Morelly 1753 (I), S. 41. Fetscher 1985, S. 518. Gracchus Babeuf „outete" sich in der Französischen Revolution als „Schüler" des „Gesetzbuches". Saage 2001a (II), S. 145. Fetscher 1985, S. 518. Fetscher 1985, S. 519. Girsberger 1973, S. 143/144. Morelly 1964, S. 121/122, Fetscher 1985, S. 519.
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sellschaftsmitglieder, die für ihn aus dem Naturrecht folgt, mit der Tatsache der Verschiedenartigkeit, der Pluralität der Menschen zu vereinbaren. 19 Diese Verschiedenartigkeit sei ein Hinweis auf die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenschlusses, keineswegs aber ein Indiz für die Legitimität von HerrschaftsKnechtschafts-Verhältnissen. Die Abhängigkeit der Menschen unterschiedlicher Fähigkeiten ist immer eine reziproke. Bei einer Gemeineigentumsordnung kann niemand aus dieser Tatsache für sich Vorteile ziehen, denn alle helfen sich gegenund wechselseitig gern. Dadurch sei die freie Entfaltung der Genüsse eines jeden/einer jeden möglich. Ist die Eigentumsordnung erst einmal in dieser Weise „kommunistisch" geregelt, dann spielt die politische Form nach Morelly nur noch eine untergeordnete Rolle. Auf der Basis des Gemeineigentums könnte auch eine Monarchie mit Tugend und Stabilität verbunden oder ausgestattet sein. Allerdings kennt Morelly in seinem Entwurf keine Erb-, sondern nur eine Wahlmonarchie, die dem Volk jederzeit das Recht vorbehält, eine andere Person an Stelle des amtierenden Königs oder seines erstgeborenen Sohnes vorzusehen. Abschließend skizziert Morelly eine Art Mustergesetzgebung, glaubt aber, dass es unglücklicherweise nur zu wahr sei, dass es in unseren Tagen fast unmöglich sein werde, ein solches Gemeinwesen zu etablieren. 20 Die „geheiligten Grundsätze", die später noch detailliert werden, lauten 21: • Niemand darf etwas anderes als Eigentum haben als das, was seinem gegenwärtigen wirklichen Gebrauch dient. • Alle Bürger werden vom Staat beschützt, erhalten und beschäftigt. Es wird also ein Recht auf Leben bzw. Lebensunterhalt und auf Arbeit festgelegt. • Jeder ist verpflichtet, nach seinen Kräften, Talenten und seinem Alter zum Staatsnutzen beizutragen. Ohne auf die Details der weiteren Ausfuhrungen Morellys einzugehen, bleibt als beachtlich festzuhalten, dass hier erstmals ausführliche Bestimmungen über das Wirtschaftsleben und die Wirtschaftsordnung allen anderen gesetzlichen Festlegungen — in Bezug auf die Verwaltung, die Regierungsform, die Ehe, das Erziehungswesen und die Strafjustiz — vorangehen und als deren Grundlage angesehen werden. In dieser Hinsicht haben sich später vor allem Etienne Cabet und Proudhon auf Morelly berufen. 22 Morelly verficht in seinem „Code de la Nature" — wie schon Piaton und Morus — einen herrschafts- und institutionenbezogenen Utopietypus 23, während die 19 20 21 22 23
Der Sozialphilosoph Michael Walzer spricht in unseren Tagen von einer „komplexen Gleichheit". Walzer 1994, S. 46-50 et passim. Morelly 1964, S. 181, Fetscher 1985, S. 519/520. Morelly 1964, S. 181/182, Fetscher 1985, S. 520. Fetscher 1985, S. 520. Saage 2000a, S. 181, Saage 2001a (II), S. 143.
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„Basiliade" voller Naturenthusiasmus 24 sowie mit diversen Allegorien angereichert war und anarchistische Färbungen erkennen ließ, wobei dieser Typus unabhängig von irgendwelchen Gesetzen auf die Triebharmonie der natürlichen Menschen baute. Der „Code de la Nature" hingegen ist der Versuch einer positiven Gesetzgebung, um gewissermaßen die natürliche Ordnung in der menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen. 25 Denn es bleibt dabei: Der Mensch ist von Natur zur sozialen Existenz bestimmt. Es liegt dies gleichsam im natürlichen Plane beschlossen. Die Spannung zwischen Bedürfnis und Befnedigungsmöglichkeit auf der einen, die unterschiedliche Kräfteverteilung auf der anderen Seite verweisen menschlich-gesellschaftlich auf Arbeitsvereinigung und -teilung und damit auf soziale Organisation. Gleichzeitig wird allerdings auch ein „moralischer Mensch" generiert, der am Wohltun interessiert ist. Wohltun und Dankbarkeit sind daher auch die zentralen ethischen Kategorien im Gesellschaftsmodell Morellys. 26 Im Unterschied zu den anderen kurrenten Utopie-Entwürfen greift Morelly auch wieder auf die Geometrie zurück, wenn es im „Code de la Nature" um den Städtebau geht. Die Städte sind nach einem zweckmäßig ausgedachten Plan angelegt und bieten das Bild vollkommenster Symmetrie und Proportion. Um einen großen zentralen Platz stehen die öffentlichen Magazine und die Versammlungssäle, alle in demselben Stil erbaut. In einiger Entfernung folgen um die Quartiere herum die Ateliers, d.h. die gewerblichen Werkstätten, in denen die kooperative Arbeit stattfindet. Dieser Reihe folgen auch die anderen Gebäude und Einrichtungen bis hin zum Krankenhaus, Altersasyl, Gefängnis und Friedhof. 27 Die mathematische Exaktheit der konzentrischen Kreise, die Symmetrie und Uniformität der Straßen, Gebäude und Stadtteile sind Anknüpfungen an die ältere Utopietradition. In Morellys idealem Staat des „Code de la Nature" ist alles „eingepasst, alles gewogen, alles vorhergesehen in dem wunderbaren Automat der Gesellschaft: Ihre Eingriffe, ihre Gegengewichte, ihre Springfedern, ihre Wirkungen. Wenn man darin Widerstreit von Kräften erblickt, so ist es Schwankung ohne Erschütterung oder Gleichgewicht ohne Gewalt. Alles wird zu einem gemeinsamen Ziel hin fortgerissen, fortgetrieben." 28 Das Eingebundensein der Einzelnen in das Ganze trage zu allem bei, „was unsere Erhaltung, unser Wohlsein und unsere Freiheit begünstigt." Auch die Kleidung ist uniform und im Unterschied zur hedonistisch-ursprünglichen Lebensweise der „Basiliade" erzwingen im „Code de la Nature" strenge Luxusgesetze eine äußerst einfache Lebensführung. Jeder Bürger/jede Bürgerin 24 25 26 27 28
Girsberger 1973, S. 131. Girsberger 1973, S. 138. Girsberger 1973, S. 141/142. Girsberger 1973, S. 149/150. Morelly 1964, S. 94, Saage 2000a, S. 144.
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besitzt ein Arbeits- und ein Festkleid. Niemand aber hat das Recht, seine höhere Stellung durch besonderen Schmuck zum Ausdruck zu bringen — und erst nach dreißig Jahren darf man einen eigenen Kleidungsstil praktizieren. Ebenso besteht Arbeitspflicht, die staatlich sanktioniert und zugeteilt wird. Erst mit vierzig Jahren kann der Einzelne sich seine Tätigkeit selbst auswählen („freiwilliger Arbeiter"), sofern er ohne ein Amt ist. 29 — Im „Code de la Nature" besteht ebenso ein Ehezwang und eine Scheidung ist erst nach zehn Jahren möglich. Eine Wiederverheiratung ist erst nach Ablauf eines Jahres gestattet und an Auflagen geknüpft. So dürfen einmal Geschiedene keine Personen heiraten, die jünger als sie selbst oder als der frühere Ehegenosse sind. Eine dritte Verheiratung ist ausgeschlossen. 30 — Die Familie unterliegt einer patriarchalen Ordnung und selbstredend ist die Erziehung ein Hauptfaktor im utopischen Staatswesen. 31 Die Lehrfreiheit wird einem staatlich festgelegten Plan geopfert. Erziehung, Nahrung und Kleidung sind für alle dieselben. Die ersten Unterweisungen beziehen sich auf die Staatsgesetze, die mit einer allgemeinen Sittenlehre verbunden werden. Die einzige Möglichkeit, die Absichten Gottes zu erfahren, bestehen im „Gesetzbuch der Natur" darin, die „Gesellschaftlichkeit des Menschen" zu verwirklichen. 32 Die berufliche Ausbildung beginnt mit zehn Jahren. Dabei werden Theorie und Praxis miteinander verknüpft. Zur Theorie gehören die fundamentalen Lehren über die Gottheit, die Soziabilität und die Bedeutung der Gesetze. — Ein pädagogischer Utilitarismus „kommt auch in den Bestimmungen über die Wissenschaften und Künste zum Ausdruck. Die Ausübung der freien geistigen Berufe ist ebenso genau geregelt wie die allgemeine Erziehung. Die Zahl der diese Berufe Ausübenden ist für jede Wissenschaft und für jede Stadt fixiert. Ebenso verhindert ein etatistisch festgelegtes Programm, das die Fundamentalsätze der Philosophie für ewige Zeit festlegt, jedes freie Theoretisieren. Die Moralphilosophie hat für Morelly nichts anderes als die Nützlichkeit der Gesetze und des sozialen Lebens zu beweisen sowie die Liebe zur Arbeit zu fördern." 33 — Anders verhält es sich bei den „Natur- und technischen Wissenschaften, deren ,Nützlichkeit' ihnen volle Spekulations- und Lehrfreiheit gewährt. In Analogie zu Campanellas Weisheitsbuch sind sämtliche Wissenschaften in einem universellen Code, einer Enzyklopädie, vereinigt." 34 Auch hier kommt die randständige Behandlung der philosophischen Disziplinen erneut zum Ausdruck, insofern über die Grenzen der einmal festgelegten Dogmen hinaus keine Nachträge erfolgen dürfen, während neue Erfindungen und Erkenntnisse auf naturwissenschaftlichem Gebiet schnell Eingang in die Enzyklopädie finden können. Theoretische Erkenntnisse besitzen offenbar nur noch Wert, sofern sie der praktischen Le-
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Morelly 1964, S. 187/188, Saage 2000a, S. 164. Girsberger 1973, S. 151. Girsberger 1973, S. 152. Morelly 1964, S. 197, Saage 2000a, S. 192. Girsberger 1973, S. 153. Girsberger 1973, S. 154.
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bensgestaltung dienlich sind. Aus dieser Einstellung, die wir schon von Bacon her kennen, erklärt sich auch die Ausnahmebehandlung der Naturwissenschaften. 35 Staatsverbrechen werden streng bestraft. Wer irgend jemanden tötet oder gar versuchen wollte, das Privateigentum wieder einzuführen, wird als wahnsinnig und als Feind der Menschheit betrachtet. Er wird lebenslang in einer Höhle eingesperrt, die (vergittert und von starken Mauern nach außen abgeschirmt) auch sein Grab sein wird. 36 Die politische Organisation in Morellys „natürlicher Gesellschaft" (des Code de la Nature) zeichnet sich durch eine ausgesprochene Dezentralisation aus. 37 An der Spitze des Staatswesens steht ein Staatschef, der in seinen Regierungsfunktionen von einem obersten Senat unterstützt wird. Es folgen die Chefs der verschiedenen Provinzen, der Städte und Stadtbezirke. Jede Stadt besitzt einen besonderen Senat, dem alle Familienväter, die das fünfzigste Jahre erreicht haben, angehören. Hinzu kommen noch die besonderen Räte der einzelnen Städte, die aus den Berufsleitern zusammengesetzt sind, die wiederum in ihrer Vereinigung den Nationalrat bilden. Durch eine stark verzweigte Verteilung der Autorität kann der Zweck der Staatsform, nämlich die Verhinderung einer Tyrannei, durchaus erreicht werden. Überdies ist die ganze Nation an der richtigen Gesetzesanwendung beteiligt und der Staatschef nur der Vertreter der Allgemeinheit; seine Macht ist ihm vom Volke delegiert, das jederzeit befugt ist, ihm diese wieder zu entziehen. 38 Die zwei Utopie-Entwürfe Morellys können hier noch einmal gegenübergestellt werden 39 und miteinander verglichen werden: Die Basiliade malt das Bild der vollendeten Glückseligkeit des natürlichen Menschen. Diese Glückseligkeit ist he35 36 37
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Girsberger 1973, S. 154. Morelly 1964, S. 186. — Girsberger 1973, S. 155, Saage 2000a, S. 189. Girsberger 1973, S. 148: „Das ganze Land gliedert sich in Provinzen, diese in Städte, und die Städte wiederum zerfallen in Stadtbezirke, die je eine bestimmte Zahl von Familien umfassen. Der ganzen Einteilung liegt das Dezimalsystem zugrunde. Jede Stadt besitzt gleich viel Beziike und jeder Bezirk gleich viel Familien, so dass Ordnung und Symmetrie das Ganze beherrschen." Girsberger 1973, S. 155. Für Girsberger steht die Basiliade für „das phantastisch Ungebundene", der Code de la Nature für „das mathematisch Rationale": „Was die allegorische Erzählung der Basiliade implicite an sozialem Gehalte fasst, das wird in logisch-analytischer Form im Code de la Nature demonstriert. Die beiden Formen des Utopismus, der Roman und das System, stehen hier, getragen von demselben Grundgedanken desselben Autors, nebeneinander." Girsberger 1973, S. 130. — Hingegen spricht Saage in Bezug auf die Entwicklung von der Basiliade zum Code de la Nature von einer „Dialektik der Anarchie", insofern ein Umschlag von einem weitgehend herrschaftsfreien fiktiven Gemeinwesen in einen utopischen Leviathan konstatiert werden könne, also von der anarchistischen zur archistischen Utopievariante, Saage 2001a (II), S. 137, 142. Saage spricht auch von einem „individualistischen Vertragsdenken" einerseits und von „utopischen Ganzheitsvorstellungen" andererseits, die bei Morelly zur Konvergenz gelangen, Saage 2001a (II), S. 150. Während die Basiliade ein „glückliches Gemeinwesen" in einem „geschichtslosen Raum" sei, wird im Code de la Nature die depravierte Realität als „notwendige Durchgangsstufe" zur Finalität eines kommunistischen Ideals betrachtet. Damit wird eine Zeit- im Unterschied zur Raumutopie vorweggenommen, wie es in Merciers „2440" noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Saage 2001a (II), S. 152.
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donistisch akzentuiert und beruht nicht zuletzt auf der freien ungebundenen Befriedigung des sinnlichen Menschen und seiner natürlichen Neigungen. Gleichzeitig hat die Basiliade einen anarchistischen Einschlag, zumal es keiner Gesetze noch irgendwelcher Gebote bedarf. Morelly vollzieht hier gleichsam den Schritt vom anarchistischen Kommunismus primitiver Naturvölker und seiner Fundierung in der bloß triebhaften Neigung zum organisierten Sozialismus der entwickelten Menschheit. Die Sinnenfreude der Basiliade und ihr Vertrauen in die Harmonie der natürlichen Triebe weichen einem eher asketischen Rationalismus, der sich aus einem anderen Menschenbild ergibt: In der Basiliade der aus reinem Instinkt das Gute schaffende Naturmensch, der „edle Wilde", demgegenüber im Code de la Nature der gewordene, quasi „künstliche" oder (besser gesagt) sozialisierte Mensch, der nur unter Zuhilfenahme fester Normen und bestimmter Gesetze im gesellschaftlichen Ordnungsrahmen seinen Platz findet. Viele Elemente dieser Utopie sind als Prinzipien in den real entwickelten Sozialismus zwei Jahrhunderte später eingegangen 40, so die Sozialisierung des Eigentums, die allgemeine Arbeitspflicht (bzw. das „Recht auf Arbeit"), die intendierte rationelle Leitung von Produktion und Verteilung, die öffentlich-gleiche Erziehung und der pädagogische Utilitarismus. 41 Wir wissen, was daraus geworden ist.
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Saage kennzeichnet das politische Modell im Code de la Nature als einen „autoritären Hyperstaat", der Jeden liberal zu nutzenden individuellen Freiraum bzw. eine vom Staat ausgegrenzte Sphäre der Privatheitjenseits der, Gesetze der Natur' strikt unterbindet" und „auch nicht durch die dezentrale Struktur des politischen Systems dementiert" wird, Saage 2001a (II), S. 148. Girsberger 1973, S. 156/157.
9. RÉTIF DE LA BRETONNE Rétif de la Bretonne (häufig auch Restif de la Bretonne geschrieben) lebte von 1734 bis 1806 und war ein populärer Vielschreiber und Romancier seiner Zeit mit weit über zweihundert Romanen, darunter vor allem Liebesromane (nicht zuletzt aufgrund seiner sexuellen Obsessionen). Sein Gesamtwerk umfasst 113 Bände mit 5700 Druckseiten. 1 Uns interessieren hier natürlich nur seine politischen Utopievorstellungen. Rétif war kein „Rousseau der Gosse", wie er gelegentlich apostrophiert wird, vielmehr war er in Wirklichkeit ein Anwalt ländlicher und städtischer Genossenschaften mit Gemeineigentum und verfügte über genaue soziologische und ethnographische Kenntnisse. Er stammte selbst aus einer wohlhabenden ländlichen Familie, lernte die Buchdruckkunst, ging wegen einer Liebesaffare nach Paris, wo er zunächst als Drucker, später dann als erfolgreicher Schriftsteller lebte. Ein nicht geringes Vermögen, das er sich zusammengeschrieben hatte, verlor er in der Revolution durch Abwertung. Verarmt wurde er erneut Drucker, unterstützt von seinem Freund Mercier, später wurde ihm eine kleine Pension gewährt und er erhielt eine Schreiberstelle im Polizeiministerium. Rétif ist im Jahre 1806 als armer Mann in Paris gestorben. 2 Rétif versuchte, seine Reformkonzepte mit der Beibehaltung einer halbfeudalen Ständgesellschaft zu kombinieren. Die Inspiration zu seinen Genossenschaftsutopien rührt von seiner Kenntnis der bäuerlichen Genossenschaften in der Auvergne her. In diesen bäuerlichen Gemeinschaften, die kein Privateigentum kannten, wurden „überzählige" Kinder mit einem festgesetzten Betrag ausgezahlt und weggeschickt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht weit besser gewesen wäre, wenn man diese Gelder für die Erweiterung oder Neugründung von Gemeinschaften benutzt und Land hinzugekauft hätte, statt Menschen auf diese Weise von ihrem legitimen Erbe auszuschließen bzw. lediglich finanziell zu entschädigen.3 Rétif hat seine utopischen Vorstellungen geschickt in seine zahlreichen Romane eingefügt. Neben dem Gemeineigentum kennt er auch noch ein „Pekulium", ein persönliches Eigentum, das aus dem verteilten Überschuss der gemeinsamen Produktion — nach Abzug von Steuern etc. — besteht. Hiermit können die einzelnen Personen Bücher und Möbel, ja sogar Grundbesitz außerhalb der Gemeinde kaufen. Allerdings ist es ihnen nicht erlaubt, Lohnarbeiter zu beschäftigen. 4 Etwas merkwürdig ist es, gerade für Aufklärungsutopien, dass Rétif in seinen Werken 1 2 3 4
Saage 2001a (II), S. 199-205. Fetscher 1985, S. 520/521. Fetscher 1985, S. 521. Fetscher 1985, S. 522.
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auch die Einteilung der Bevölkerung in Stände beibehalten will. Er gliedert sie in das einfache Volk, sodann das Bürgertum unter Einschluss von Beamten und Gelehrten qua mittlerer Stand und schließlich die Oberschicht aus Adel, Geistlichkeit und Großbürgertum. Er begnügt sich damit, eine relative Gleichheit innerhalb der einzelnen Klassen anzunehmen. Entscheidend aber sind bei Rétif die Produktivgenossenschaften. Auf dem Lande werden ländliche Genossenschaften errichtet, analog werden in den Städten die Handwerker zunftweise zusammengefasst und in Genossenschaftsbetrieben beschäftigt. Rétifs Organisation der Gesellschaft in einen Komplex zusammenhängender, ineinander greifender Produktivassoziationen nimmt einen Gedanken vorweg, der implizit schon bei den früheren Utopisten des 18. Jahrhunderts vorhanden war, dann aber von den utopischen Sozialisten des folgenden Jahrhunderts zum eigentlichen Ausgangspunkt ihrer Reformen gemacht wird, so bei Owen und Fourier, auf die wir noch eingehen werden. 5 Bei Rétif finden alle Mahlzeiten — egal, ob in der Stadt oder auf dem Dorf— gemeinschaftlich statt, mit der Zeit sollen auch alle Häuser gleich werden. Uniformität ist ja ohnedies ein beliebtes Gestaltungselement utopischer Gemeinschaften. Selbst der Adel wird ähnlich organisiert. Rétif nimmt ihm jedoch alle politischen Befugnisse und belässt ihm nur gewisse Privilegien wie den Offiziersberuf in der Kavallerie und die Zulassung zum Dienst bei Hofe. Ausfuhrlich wird von Rétif beispielsweise die Ausbildung der Seeleute und vor allem der hommes de lettres, der Schriftsteller und Wissenschaftler, beschrieben. In die sehr angesehene Gruppe der Autoren und wissenschaftlichen Experten wird man nur aufgrund eines zum Druck freigegebenen Werkes aufgenommen, das zur Zensur einer Akademie vorgelegt werden muss. Abgewiesene Bewerber können bis zu zehn verschiedene Richter bzw. Gutachter verlangen. In seiner Autobiographie „Monsieur Nicolas" hat Rétif diese strenge Regel aufgegeben und lediglich den Druck „unsittlicher Bücher" noch durch Zensur verhindern wollen. 6 — Zwei hervorragende Akademiemitglieder geben eine Art amtlicher Wochenzeitung heraus, die während der Mahlzeiten verlesen wird und alle Verordnungen, Belohnungen, Strafen, Kriegs- und Friedensbeschlüsse etc. enthält. Eine Zivilgesetzgebung ist überflüssig, da es keine Privathändel, also keine zivilen Streitigkeiten unter den Bürgern gibt. Die Strafrechtspflege wird von zwölf Geschworenen gehandhabt und sehr schwere Strafen werden vom Senat der Hauptstadt verhängt, der auch die Konflikte zwischen den Zünften entscheidet. 7 — Rétif weitet das Pekulium sogar noch aus, also das persönliche Eigentum an Dingen, die zur „Verannehmlichung" des Lebens dienen: „Motiv für diese Abweichimg vom Prinzip des Gemeineigentums ist, dass auf diese Weise der Fleiß, das Streben nach gu-
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Vgl. Girsberger 1973, S. 181. Fetscher 1985, S. 522. Fetscher 1985, S. 522/523.
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ter Leistung gefördert werden soll." 8 Die Anteile am gemeinsam erzielten Überschuss werden nämlich nicht gleichmäßig, quasi nach dem Gießkannenprinzip, vielmehr entsprechend der unterschiedlichen Leistung verteilt. Rétif lässt demnach, vor allem in seiner Autobiographie, ökonomische Ungleichheit zu, so dass man hier von einer Verdiensthierarchie bzw. einer Meritokratie sprechen und sein Utopiekonzept als eine Leistungsutopie kennzeichnen kann. Eine materielle Gleichheit wird von Rétif ausdrücklich nicht gewünscht. Die durch das Institut des Pekuliums gegebenen privaten Belohnungen als Aufmunterungen zur produktiven Tätigkeit will er in die neue Gesellschaft mit hinüber nehmen. Das individuelle Gewinnstreben soll mithin nicht ganz vernachlässigt werden und seiner auf das Allgemeininteresse bezogenen Organisation ergänzend zur Seite treten. 9 Rétif verachtet Nichtstuer und weiß sich darin einig mit dem Verlauf der Geschichte: Früher oder später falle die Klasse der Nichtstuer nämlich der allgemeinen Verachtung anheim, sie werde zum Spielzeug der arbeitenden Schichten. Des Weiteren hält sich Rétif überwiegend an die Muster und Strukturelemente, die wir aus anderen Utopien bereits kennen. So kennt er eine Arbeitspflicht und den Ehezwang. Etwas überzogen, wenn nicht grotesk, wirkt die eingehende Rationalisierung der Erziehung, die bis ins kleinste Detail genauesten Vorschriften unterworfen wird. In der Sorge um die Gestaltung der materiellen Lebensführung geht Rétif sogar so weit, bestimmte Menüs für die einzelnen Wochentage aufzulisten. In der Beurteilung des „einfachen Volkes" aber bleibt Rétif trotz seiner zahlreichen Reformpläne dem 18. Jahrhundert vor der Revolution verhaftet: „Ich gestehe, dass ich jedesmal gezittert habe [schreibt er in „Le Nuits de Paris"], wenn ich die unteren Schichten des Volkes in Bewegung sah ... Es ist von größter Wichtigkeit, seine Zusammenrottung zu verhindern, die Unordnungen, die sie sich gestattet, nicht unbestraft zu lassen. Wenn einmal diese wilde Bestie glaubt, etwas wagen zu können, würde sie alles umstürzen." 10 Es ist noch auf ein paar weitere Aspekte einzugehen. In einer auf den neuen Erdteil Australien bezogenen Utopiekonzeption Rétifs („La Découverte australe par un Homme-volant ou Le Dédale français", 1781) wird nach vielen Forschungsfahrten auf einer Insel der Südsee das Riesenvolk der in Gleichheit und Gütergemeinschaft lebenden „Megapetagonier" [in der Literatur teilweise auch „Megapatagonier"] entdeckt. Dieses Gemeinwesen ist natürlich vorbildlich und es wird von der Konstruktion her deutlich, dass Rétif auf die Organisation der Gesellschaft und ein spezifisches Milieu besonderen Wert legt, um Schlechtigkeiten vermeiden zu helfen. Das war auch schon Morellys Problem. Wie in dessen Basiliade sind Rétifs
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Fetscher 1985, S. 523. Girsberger 1973, S. 182. Zit. nach Fetscher 1985, S. 523.
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Megapetagonier — offenbar und meistenteils Hermaphroditen — an der Glückseligkeit in hedonistischer Zuspitzung interessiert. Sie sind geübt in der Kunst des Genießens. Große Paläste fassen eine Mehrheit von Familien zusammen. Je 25 Häuser, jedes einzelne von 25 Familien bewohnt, bilden ein Quartier, an dessen Spitze ein Quartiermeister steht, dem die Leitung der Produktion zukommt und der jedem Einzelnen die Arbeit zuweist. Die Arbeitszeit beträgt lediglich vier Stunden. Der Nachmittag ist nach der gemeinsamen Mahlzeit öffentlichen Vergnügungen gewidmet und erst am Abend dürfen sich die Bürger in den Kreis ihrer Familie zurückziehen. 11 In der Behandlung des Arbeitsproblems gelangt Rétif zu Ideen, die Fourier im 19. Jahrhundert aufgreifen sollte. Denn eine durch die allgemeine Arbeitspflicht ermöglichte geringe Arbeitszeit sowie die Anpassung der Aufgaben an die individuellen Fähigkeiten und Neigungen, vor allem aber der häufige Wechsel in der Beschäftigimg, gestalten die Arbeit zum Vergnügen und zum Spiel. 12 Das war auch in der Basiliade Morellys der Fall. Ansonsten halten es die Megapetagonier für eine grausame Strafe, einen Menschen zur Untätigkeit zu verdammen. Von der körperlichen Arbeit werden lediglich die Greise befreit, die das 150. Lebensjahr erreicht haben, ferner Jugendliche unter 20 Jahren. 13 Arbeit ist bei Rétif auch deswegen so lustvoll besetzt, weil sie weitgehend autonom, d.h. „ohne Befehle" erfolgt. — In einem, wenn man so will, hedonistischen Sinne ist bei den Megapetagoniern auch das Eheproblem gelöst. Die Ehen werden nämlich nur auf zwei Jahre geschlossen und sind nach Ablauf dieser Frist eo ipso aufgelöst. In der Regel wird danach der Partner gewechselt. Rétif sieht in einer solchen Institution das sicherste Mittel, Ehebruch und unglückliche Ehen zu vermeiden. 14 — Die Erziehung wird im Allgemeinen vom Staate übernommen, was sich schon aus dem Fehlen einer dauernden Ehe ergibt. Kindern, deren Eltern sich nach dem Ablauf der zwei Jahre nicht trennen wollen, dürfen jedoch zu Hause erzogen werden. Die fundamentale Bedeutung der Erziehung kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Stand der Pädagogen hoch angesehen ist. 15 Ihre Arbeit wird dadurch erleichtert, dass in Megapetagonen auch die schwierigsten und abstraktesten Materien von allen problemlos verstanden werden. 16 Darüber hinaus ist die Intelligenz der Einzelnen auf einem hohen Niveau und in der Breite einander angeglichen, so dass selbst die Begabtesten keine vom Rest der Bevölkerung abgehobene Elite darstellen. 17
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Girsberger 1973, S. 184/185. Girsberger 1973, S. 185. Rétif 1979, S. 481, 499, Saage 2000a, S. 165. Girsberger 1973, S. 185. Girsberger 1973, S. 186. Saage 2000a, S. 178. Saage 2000a, S. 187.
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Die administrative Leitung des Gemeinwesens liegt in den Händen der Ältesten, die keine andere Arbeit mehr zu leisten haben. Es sind zumeist Greise ab 150 Jahren, denn die Megapetagonier erreichen ein Alter bis zu 220 Jahren. 18 Auch hier knüpft später Fourer an Rétif an, indem er annahm, dass unter der HeiTschaft der universellen Autonomie die Menschen infolge günstiger Lebensbedingungen ein außerordentlich hohes Alter erreichen werden. Große Probleme gibt es ansonsten auch im Bereich der politischen Administration des Gemeinwesens nicht, insofern eine totale Übereinstimmung, eine Identität von Regierenden und Regierten besteht, die nicht infrage gestellt wird. Als Anhang fügt Rétif der Megapetagonien-Utopie noch den Brief eines Affen an. Dieser Affe, Sohn eines Pavians und einer schwarzen Menschenfrau, übt darin eine heftige Kritik am französischen Staat. Er bricht als Protagonist des „natürlichen Menschen" den Stab über die zivilisierte Menschheit 19, so dass wir hier ebenfalls Parallelen sehen können zum Naturalismus Morellys in der Basiliade. Es geht Rétif hier um die Schaflung eines „neuen Menschen", der frei ist von den „Sozialisationsschäden der europäischen Zivilisation". 20 Das Megapetagonen Rétifs21 liegt „in der Mitte zwischen dem naturalisierten Muster der Bon-Sauvage-Vision einerseits und der geometrischen Gestaltung des utopischen Raumes der älteren Utopie-Tradition andererseits". 22 Auch die eingeführte Technik des fliegenden Menschen wird zur Erschließung des utopischen Raumes eingesetzt. Ebenso verschränkt Rétif neuere Technologien und handwerkliches Können differenzierter Zivilisation mit ländlich-idyllischen Vorstellungen. Im Vordergrund steht die („natürliche" bzw. bedarfsdeckende) Bedürfnisbefriedigung und eine staatsfreie Wirtschaft. Die Effizienz wird erreicht durch eine hohe und strikte Leistungsmoral. 23 Damit verbunden ist eine Abwertung staatlicher Institutionen, die allerdings durch die Etablierung von Eliten kompensiert wird, wenngleich versucht wird, diese mit dem Anciennitäts- und Egalitätsprinzip zu verbinden. 24 Es wird eine klare Reformperspektive eingenommen, denn die „Vollkommenheit der staatlich-gesellschaftlichen Verhältnisse wird als historisches Ziel in die Zukunft projiziert", die Transition von der Raum- zur Zeitutopie in Angriff genommen. 25 Es wird ferner das Recht des Ungleichen zur Geltung gebracht, denn alle Kreaturen sind gleich, als sie alle an der Vernunft — obschon in unterschiedlichem
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Girsberger 1973, S. 186/187. Girsberger 1973, S. 187. Saage 2001a (II), S. 216. Ähnlich angelegt ist Rétifs „L'Andrographe ou idées d'un honnête homme sur un projet de règlement proposé à toutes les nationes de l'Europe pour opérer und réforme générale des mœurs et par elle le bonheur du genre humain" aus dem Jahre 1782. Saage 2001a (II), S. 211. Saage 2001a (II), S. 213/214. Saage 2001a (II), S. 217/218. Saage 2001a (II), S. 221.
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Maße — teilhaben. So gesehen „muss Rétif als einer der ersten Utopisten gelten, die Skepsis gegenüber einem ausschließlich anthropomorphen Fortschrittsglauben erkennen lassen" 26 — und das ist auch nicht eben wenig.
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Saage 200la (II), S. 222.
10. LOUIS-SÉBASTIEN MERCIER Völlig anders gestaltet ist, wie der Titel schon zeigt, der Utopie-Entwurf „Das Jahr 2440" von Louis Sébastien Mercier (1740-1814) aus dem Jahre 1770 (im Druck Amsterdam 1771). 1 Es wird das Paris des Jahres 2440 geschildert, also vom Autor her rd. 670 Jahre später. Auch wir müssten noch weit über vierhundert Jahre leben, um dieses Paris der Zukunft tatsächlich zu sehen. Das wird uns nicht ganz gelingen. Es handelt sich hier also um eine Zukunfts- bzw. um eine Zeitutopie, während die anderen Utopien überwiegend Raumutopien waren, welche die modellhafte utopische Gegenwelt vorzugsweise auf eine ferne Insel verlegten. Wir begeben uns demnach mit Mercier auf eine Zeitreise, aber der Ausgangsort bleibt, nämlich Frankreich resp. Paris. Man könnte auch formulieren, dass wir mit dieser Art Utopie fortan nicht mehr auf exotische Entdeckungen angewiesen sind. Die weite Ferne wird jetzt allenfalls eine zeitliche. Insofern stellt die Utopie „2440" eine signifikante Wende im Utopiediskurs dar. Der Held von Merciers Roman ist, als er nach tiefem Schlaf erwacht, 700 Jahre alt. Er sieht staunend die neue Ordnung in „seinem" Paris, dessen Leben auf eine völlig andere Basis gestellt ist. Was dem allgemeinen Glück im Wege stand, ist im postmodernen Paris verschwunden. Alles ist nach Nützlichkeitserwägungen geordnet und rationalisiert. Die steifen und kostspieligen Trachten des 18. Jahrhunderts sind einer einfachen und bequemen Kleidung gewichen. Die Straßen sind so angelegt und erweitert, dass sie einen starken Verkehr meistern können. Die Bastille als Symbol des Despotismus ist verschwunden. — In der Erziehung und Bildung sind Latein und Griechisch als tote Sprachen erledigt, hingegen sind moderne Sprachen angesagt, insbesondere Italienisch, Englisch, Deutsch und Spanisch. Auch Philosophie und Metaphysik sind so gut wie verschwunden, dafür stehen Physik wie die Naturwissenschaften überhaupt im Vordergrund. Die Sorbonne hat eine völlige Umgestaltung erfahren. Sie wurde in ein großes chirurgisch-anatomisches Institut verwandelt. Theologie und Jurisprudenz sind verbannt. Politikwissenschaft hat es nie gegeben. Der bildenden Kunst kommt nur als Instrument der moralischen Erziehung noch eine gewisse Bedeutung zu. 2 Auch in Merciers idealem Gemeinwesen ist die Institution der Zensur weiterhin eine Selbstverständlichkeit. Die Methode, mit der der Verbreitung von Vorurteilen und den „elenden Schulstreitigkeiten" ein „entscheidender Schlag" versetzt wird, ist von der des An1
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Er war wie Rétif ein Vielschreiber und wurde häufig ebenso trivial eingeschätzt, vgl. Saage 2000a (II), S. 177/178. Sein zwölfbändiges „Tableau de Paris" (ab 1781 veröffentlicht) gilt inzwischen als „eines der wichtigsten sozialkritischen Dokumente über das Paris des Ancien Régime", Saage 2000a (II), S. 182. — Im Übrigen waren Rétif und Mercier lebenslang befreundet und beide Anhänger Rousseaus. Girsberger 1973, S. 199/200.
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cien Régime und späterer gegenaufklärerischer Systeme kaum zu unterscheiden: Der Staat des Jahres 2440 schreckt nämlich nicht vor Bücherverbrennungen zurück, der nur einige Texte der Weltliteratur, wie etwa die Schriften Rousseaus, entgehen. 3 Auch müssen Schriftsteller mit staatlicher Reglementierung rechnen, sofern sie „gefährliche Grundsätze" verbreiten, die der allgemein gültigen Moral entgegen stehen: Sie werden täglich von zwei tugendhaften Bürgern aufgesucht, die so lange „Überzeugungsarbeit" leisten, bis sie ihre „gefährlichen Grundsätze" widerrufen.4 Der volonté générale wird also mithin und repressiv nachgeholfen: „Im vernünftigen Staat des Jahres 2440 hat .. die diskursive Auseinandersetzung keinen Ort, weil der vernünftige Maßstab, der entscheidet, was .richtig' und was ,falsch' ist, als apriori gegeben unterstellt wird." 5 Mercier feiert in seinem in die Zukunft verlegten idealen System vor allem die Naturwissenschaft als Speerspitze der Aufklärung, aber die Erforschung der Natur erfolgt nicht zweckfrei, sondern soll der Menschheit einen Nutzen und Fortschritt bringen. Die Wasserpumpe in Marly, acht Kilometer vom Hof des französischen Königs entfernt, die die Brunnen von Versailles versorgte, habe weniger Wert als das einfache Rad, „das von einem kleinen Bach getrieben wird, um Brot für viele Dörfer zu mahlen oder dem fleißigen Handwerker seine Arbeit zu erleichtern." 6 So ist bei Mercier von Maschinen die Rede, die den Umgang mit schwersten Lasten zu einer Spielerei machen. Auch wird durch Okulieren und Propfen der Bäume die Obsternte systematisch vermehrt. Zu erwähnen sind schließlich die großen medizinischen Fortschritte sowie Weiterentwicklungen in der Optik. 7 — Die alten juristischen und theologischen Bände, die in Kellern aufbewahrt werden, aber haben fur Mercier nur noch eine Verwendungsweise: Im Kriegsfall nämlich werden sie anstelle von Kugeln gegen die Feinde geschossen. Die verheerende Wirkung dieser falschen Dogmen, so Mercier, werde jeden weiteren Kampf überflüssig machen. 8 Nähere Angaben über das Wirtschaftsleben gibt uns der Autor leider nicht. 9 Doch hält er an der Institution des Privateigentums fest und begnügt sich damit, die allzu großen sozialen Unterschiede und ihre schädlichen Folgen durch Luxusgesetze und andere sozialpolitische Maßnahmen zu beseitigen. 10 — Um die Luxurierung der Bedürfnisse zu verhindern, ist in Merciers Paris des Jahres 2440 der Kauf auf Kredit untersagt. Jeder muss seine Bedürfnisbefriedigung so lange auf3 4 5 6 7 8 9 10
Es ist aber auch ein literarischer Anlass für Mercier, die ihm nicht zusagenden Werke aufzulisten und zu indizieren. Dagegen sind in der Bibliothek der empfehlenswerten Werke sämtliche von Rousseau vertreten. Mercier 1982, S. 39, 113/114, Saage 2000a, S. 190, Saage 2001a (II), S. 192. Saage 2001a (II), S. 192. Mercier 1982, S. 274, Saage 2000a, S. 172. Mercier 1982, S. 142-146, Saage 2000a, S. 172. Girsberger 1973, S. 201. Dazu näher indes Saage 2000a (II), S. 186-189, der eine „gebremste Ökonomie" herausarbeitet. Girsberger 1973, S. 201.
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schieben, bis er die gewünschten Güter tatsächlich bar bezahlen kann. 11 In seinem besten Staat wirft man im Übrigen „die heimtückischen Diamanten, die gefahrlichen Perlen und all diese bunten Steine, die die Herzen so hart machen", am besten ins Meer. 12 Die politische Verfassung hält sich in der Mitte zwischen Monarchie und Demokratie. 13 Es ist eine gemischte Verfassung und das ihr zugrunde liegende System der „checks and balances" ruht auf drei Säulen: dem Staatsoberhaupt, der Ständeversammlung und dem Senat. Die Ständeversammlung stellt die gesetzgebende Versammlung, das Parlament, dar. Ein Senat mit einem Oberhaupt, das den Königstitel trägt, sorgt für die Ausfuhrung der Gesetze. Der Thronerbe wird wie ein einfacher Bürger erzogen, um seine Entfremdung vom Volke zu verhindern; diesem Zweck dient auch die Pflicht des zukünftigen Monarchen, im 24. Lebensjahr eine Bürgertochter zu heiraten. Um den Rückfall in den Absolutismus zu verhindern, ist der Monarch von Zensoren umgeben, die jedoch alle mit despotischen Aspirationen erfüllten Berater aus seiner Umgebung vertreiben. 14 Diese Zensoren sind Philosophen und damit die eigentliche Elite, die aufgrund ihrer geistigen Überlegenheit die Richtlinien der Politik gestaltet 15 und aufgrund ihres „Immediatverhältnisses zur Vernunft eine gesamtgesellschaftliche Autorität beanspruchen kann" 16 — obwohl Philosophie ansonsten ja aus den Lehrplänen so gut wie verschwunden ist. Durch die Stände aber bleibt bei Mercier im Wesentlichen das Volk die entscheidende Instanz, da König und Senat den alle zwei Jahre (sie!) zusammentretenden Ständen politisch voll verantwortlich sind. Die Folter ist abgeschafft und das Gemeinwesen ist von der Hegemonie des Friedensgedankens durchpulst, zumal mit der Ersetzung von Despotien durch Republiken die wichtigsten Kriegsursachen eliminiert sind. 17 Ansonsten prangert Mercier insbesondere die religiöse Intoleranz an. Die katholische Kirche versuche ihren morbiden Herrschaftsapparat durch Inquisition und Folter zu konsolidieren. „Die Geschichte der Kannibalen und Menschenfresser ist weniger grässlich als unsere", schrieb er, „Torquemada [der Großinquisitor von 11 12
13 14 15 16 17
Mercier 1982, S. 25, Saage 2000a, S. 171. Mercier 1982, S. 187, Saage 2000a, S. 171. — Die Zeitkritik wird insbesondere in der Einleitung („Zueignungsschreiben an das Jahr 2440") entfaltet. Mercier war der Luxus der Oberschicht sehr zuwider, in Bezug auf das kostbare Porzellan heißt es bei ihm: „Eine Katze kann mit der Bewegung einer Pfote einen schlimmeren Schaden anrichten, als die Verwüstung von 20 Morgen Landes bedeutete", Mercier 1982, S. 300, Saage 2000a, S. 133. Die Oberschicht lasse dreihundert Leute arbeiten, um für zwölf Gäste ein Essen zu geben, Mercier 1982, S. 96, Saage 2000a (II), S. 183. Girsberger 1973, S. 201. Mercier 1982, S. 165, 171, Saage 2000a, S. 185, Saage 2001a (II), S. 191. Hier scheint eine Analogie zur Politeia Piatons zu bestehen, jedoch im Unterschied zur älteren Utopietradition bleiben sie Privatleute und üben die politische Herrschaft keinesfalls direkt aus, Saage 2001 a (II), S. 193. Saage 2001a (II), S. 192. Saage 2001a (II), S. 191.
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Spanien] rühmte sich, mehr als 50.000 Häretiker durch Feuer und Schwert umgebracht zu haben, und überall finden wir die blutigen Spuren der religiösen Blutgier. Ist das jenes göttliche Gesetz, das die Stütze der politischen und moralischen Ordnung sein soll?" Umgekehrt feiert Mercier den antikolonialen Befreiungskampf schwarzer Sklaven in der Neuen Welt emphatisch und stellt fest: „Die Eingeborenen sind wieder in ihre unveijährten Rechte eingetreten, denn es waren Rechte der Natur." 18 Des Weiteren lässt Mercier auch bereits eine erstaunliche Sensibilität für die Gefahren der modernen Technik erkennen. „Man flüstert mir ins Ohr", berichtet der Ich-Erzähler, „dass einige außergewöhnliche und wundersame Geheimnisse ausschließlich den Händen einer kleinen Zahl weiser Männer anvertraut seien, und dass dies Dinge wären, die man aber irgendwann auch missbrauchen könne. Der menschliche Geist hatte, ihrer Meinung nach, das Ziel noch nicht erreicht, zu dem er hinstreben sollte, um gefahrlos von den seltensten und energiereichsten Erfindungen Gebrauch zu machen." 19 Die Elemente der Utopie und Zeitkritik Merciers sind jedoch insgesamt so herausragend und exzeptionell nun auch wieder nicht. Was ist nun das Neue an seiner Utopie? Wir können hier den Ausführungen von Richard Saage folgen. Hiernach ist entscheidend und innovativ, dass das utopische Gemeinwesen bei Mercier eben nicht mehr räumlich entfernt und isoliert ist, wie es Morus durch die Inselgeographie einst prägte. Fremde werden bei jenen Utopien in der Regel nur dann akzeptiert, wenn sie den strengen Kriterien der Inselbewohner genügten: „Diese Restriktion dient dem Ziel, dass die Existenz des utopischen Gemeinwesens der Außenwelt verborgen bleibt. Umgekehrt sind aber die Bewohner der utopischen Insel in der Regel außerordentlich gut über die europäischen Länder informiert" und sie können sich über Kundschafterdienste oder Wissenschafts- und Techniktransfers „alle Errungenschaften des Auslandes für das eigene Gemeinwesen nutzbar" machen, „ohne sich jedoch von dessen schlechten Sitten beeinflussen" und korrumpieren zu lassen. 20 Dieser durch das Insel-Motiv symbolisierten Antithetik zwischen „innen" und „außen" — im Übrigen eine Relation, die auch für die allgemeine Systemtheorie heute prägend ist 21 — entspricht einem Geltungsanspruch, wonach ein in sich statisches Ideal dem historischen Wandel enthoben zu sein scheint resp. zu sein hat. Der Kontemplation des Vollkommenen wird Priorität gegeben vor der Veränderung der Wirklichkeit. Allerdings beginnt sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts 18 19 20 21
Mercier 1982, S. 89, Saage 2000a, S. 140/141. Mercier 1982, S. 146, Saage 2000a, S. 173/174. Saage 2000a, S. 196. Vgl. u.a. Waschkuhn 1987.
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ein folgenreicher Paradigmenwechsel im utopischen Diskurs der Aufklärung abzuzeichnen 22, für den in besonderer Weise Mercier steht. Die Entwicklung wird als ein dialektischer und irreversibler Prozess verstanden. Mercier lässt seinen utopischen Staat aus dem Ancien Régime selbst hervorgehen: „Paris hat sich im Jahre 2440 zwar grundlegend geändert; es handelt sich indes um dieselbe Stadt, in der 1770 die literarische Version des utopischen Traums veröffentlicht wird: Das ideale Gemeinwesen steht nicht mehr außerhalb einer zielgerichteten geschichtlichen Entwicklung, sondern ist in diese als deren Telos eingebunden." So lässt Mercier einen Bürger des utopischen Staates im Jahre 2440 ausführen: „Wir sind aus der Barbarei herausgetreten, in der ihr versunken wart... Nach und nach wurde der Geist herangebildet. Wir müssen noch mehr tun, als wir bisher geschafft haben. Wir haben nicht viel mehr erreicht als die Hälfte der Leiter." 23 Die Verlegung des idealen Gemeinwesens von der Gegenwart des Ich-Erzählers in die Zukunft, vom Raum in die Zeit 24 , verändert das utopische Ideal in seinem Geltungsanspruch. Die statische Vollkommenheit (perfectio) des älteren Utopieideals wird durch die dynamische und unbegrenzte Vervollkommnungsfahigkeit (perfectibilité) des menschliche Geistes verdrängt und mit einem geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben versehen. Es handelt sich gewissermaßen darum, dass nun das Ziel der Utopie „in den Weg hineingenommen" wird, der zurückgelegt werden muss, um die Perfektion zu erreichen. 25 Dass Mercier in der Tat die Wende von der mehr oder weniger kontemplativen Anschauung vollzieht, wird deutlich, wenn er seine eigene Gegenwart als Zeitalter der sterilen Projektmacherei brandmarkt: „Immer Projekte! ... Aber es sei drum: Ich will euch wieder besuchen, wenn alle diese Projekte werden ausgeführt sein." 26 An anderer Stelle bemerkt er: „Die unsere war die Zeit der unzähligen Projekte, die einige ist die Zeit der Ausfuhrung, und ich beglückwünsche euch dazu!" 27 Saage hält fest: „Den von der Natur inaugurierten weltgeschichtlichen Fortschritt im Rücken, wird der utopische Entwurf ... zum politischen Aktionsprogramm." 28 Die Utopisten gehen dazu über, direkte Handlungsappelle an die Leser zu formulieren, wie dies der älteren Utopietradition weithin unbekannt ist. Die Utopie wird zu einem Regulativ und es geht nicht mehr bestenfalls um einen Appell an 22 23 24 25 26 27 28
Auf Morelly und Rétif de la Bretonne wurde bereits hingewiesen. — Saage 2000a, S. 196/197. Mercier 1982, S. 21, Saage 2000a, S. 198. Das gilt auch für das Medium des Traumes, mit welchem auch ein Teil der Subjektivität des Ich-Erzählers zum Ausdruck kommt, Saage 2001a (II), S. 194. Saage 2000a, S. 198/199. Zur „Verzeitlichung der Utopie" siehe auch Koselleck 1985. Mercier 1982, S. 21. Mercier 1982, S. 32, Saage 2000a, S. 199. Saage 2000a, S. 199.
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die Herrschenden, sondern die Utopie selbst will eine Orientierung für das praktische und politische Handeln sein. So schließt Mercier die Möglichkeit der Anwendung offen revolutionärer Gewalt als Mittel des Fortschritts nicht aus, wenn er ausfuhrt: „Gewissen Staaten steht eine Epoche bevor, die aber den Beginn der Freiheit anzeigen wird! Ich spreche vom Bürgerkrieg." Prognostisch zugespitzt an anderer Stelle: „Alles geht in Europa auf eine jähe Revolution hinaus." 29 Die politische Utopie der Aufklärung tritt aus dem langen Schatten der „Utopia" des Morus heraus und es wird ein Trend erkennbar, dass die „Entdecker" des idealen Gemeinwesens auch zu deren Begründern werden wollen. Der passive Geist der Kontemplation sieht sich ersetzt oder erweitert durch die Perspektive des Akteurs, des „Machers". 30 Mercier hat dies als Erster besonders deutlich erkannt und konsequent durchgeführt. In dem Maße, wie er das utopische Gemeinwesen als Ausfluss des individuellen Traumes des Verfassers darstellt, avanciert das erzählende Subjekt gleichsam zum Demiurgen, zum Produzenten der Utopie. So gesehen vollzog Mercier laut Richard Saage (in Anlehnung an Raymond Trousson, den Herausgeber des erst 1971 wieder aufgelegten Romans) die „kopernikanische Wende" in der Utopietradition. Die Utopie ist nicht mehr quasi-objektiv und entrückt, sondern das utopische Gemeinwesen wird „explizit das Resultat des die Zukunft antizipierenden Subjekts". 31 Eine „neue Ordnung" kommt für Mercier erst durch den radikalen Bruch mit der Vergangenheit zum Tragen. 32 Im „richtigen Leben" allerdings distanzierte sich der Philanthrop Mercier vom Tugendterror der Französischen Revolution und wäre beinahe selbst guillotiniert worden. 33 Das zeigt zugleich die Ambivalenz utopischer Ansätze hinsichtlich der Applikation ihrer normativen Vorgaben, worauf wir in der prinzipiellen Utopie-Kritik (= Teil III) noch eingehen werden.
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Mercier 1982, S. 283, 305, Saage 2000a, S. 199/200. Entsprechend begrüßte Mercier die Französische Revolution, jedoch überwarf er sich mit den Jakobinern aufgrund ihrer terroristischen Praxis. Er weigerte sich auch, der Hinrichtung des Königs zuzustimmen, Saage 2000a (II), S. 182. Für Hennis 1977 ist ohnedies die „Versessenheit auf das Realisieren" der entscheidende Grundzug des modernen Utopismus. Saage 2000a, S. 200/201. — Allerdings gibt es einen perplexen Tatbestand: „Doch gerade da er [Mercier] die Zeit als Medium des Fortschritts ästhetisch produktiv macht, überrascht es, dass er nicht die technischen Möglichkeiten seiner Zeit weitergedacht hat. Seine Utopie ist zwar der Struktur nach kinetisch, zukunftsbezogen und stellt so das erste Modell eines Genres dar, aus dem sich die Sciencefiction entwickelt, doch sie bleibt in ihrem inhaltlichen Entwurf z.T. noch hinter den Denkmöglichkeiten derZeit zurück." Gnüg 1999, S. 126. Saage 2000a (II), S. 184. — Allerdings geht es beim Rousseau-Schüler Mercier auch um die Wiedergewinnung „von etwas ursprünglich Verlorenem", vgl. Fohrmann 1986, S. 117. Saage 2000a (II), S. 182.
11. ROBERT OWEN Der utopische Sozialismus im 19. Jahrhundert muss vor dem sozioökonomischen Hintergrund gesehen werden, den uns Ernst Bloch besonders eindrucksvoll schildert: Selbst die schlimmste Zeit der mittelalterlichen Bauernnot werde überboten vom Elend der ersten Fabrikarbeiter. Der Übergang zur Manufaktur war ja bereits bei Francis Bacon und seiner „Nova Atlantis" konzipiert, allerdings positiv ausgerichtet im Hinblick auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Die sozialen Implikationen konnte er nicht erahnen. Bloch stellt hingegen in anschaulicher Sprache fest: „ Die frühen Fabriken waren dasselbe wie Galeeren; ein verhungertes, schlafloses, verzweifeltes Proletariat wurde an Maschinen gekettet. Der Unternehmerprofit kannte weder Schonung noch Pausen, achtzehn Stunden und darüber dauerte die tägliche Arbeit, ein Schmutzwerk ohnegleichen. Niemals war ein so großer Teil Menschen so unglücklich wie in England um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts." 1 Es gab in dieser Zeit indes einige Ansätze, die bis heute immer wieder aufgegriffen werden, die industrielle Entwicklung oder überhaupt die Dynamik der Moderne zu bremsen, zu entschleunigen und umzustellen, damit die sozialen Probleme nicht überhand nehmen. Dazu gehörte der englische Fabrikbesitzer Robert Owen (1771-1858), der zu einem der ersten Utopisten des 19. Jahrhunderts mit föderativsozialistischer Zielsetzung wurde. Engels nannte ihn (im „Anti-Dühring") einen Mann „von bis zur Erhabenheit kindlichen Einfachheit des Charakters" und zugleich einen „geborenen Lenker von Menschen". Bloch skizziert den berühmten englischen Frühsozialisten so: „Unter seinen vielen Schriften ragen hervor ,The Social System', 1820, und ,The Book of the New Moral World', 1836 2; in der ersteren wendet er sich von der patriarchalischen Wohlfahrtseinrichtung hin zum Kommunismus, in der zweiten sucht er ihn seinen Berufskollegen, von der Güte her, zu empfehlen. Aber wenn der Utopist so den Ast absägt, auf dem er als Kapitalist sitzt, so war es phantastisch, von Kapitalisten, die nicht einmal im Nebenberuf Utopisten waren, ein Gleiches zu verlangen. Owen hielt noch das soziale Heil durch Reformen für erreichbar; er verwarf den Streik, sogar den Kampf um politische Freiheiten, er suchte Versöhnung, er erwartete, dass Herzöge, Minister, Fabrikanten aus lauter Einsicht und Menschenliebe dem Kapitalismus absagen." 3 Ganz so spöttisch sollte der britische Sozialreformer und frühsozialistische Aufklärer sowie Visionär Owen indes nicht abgehandelt werden, dessen Nachruhm wahrscheinlich länger währen wird als der von Bloch. Denn die „Owensche Auffassung
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Bloch 1985, S. 647. Es erschien mit insgesamt sieben Teilen in lockerer Folge bis 1844. Bloch 1985, S. 648.
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radikaler Wirtschafts- und Gesellschaftsreform umfasst die gesamte Spanne aller Lebensbereiche und Ordnungen — eine komplette Theorie des Lebens. Sie erstreckt sich von Konzeptionen des familiären Zusammenlebens, des Güteraustausches, der Gemeinschaftserziehung in Genossenschaften bis hin zur Forderung nach urkommunistisch geprägtem Gemeineigentum. Hierin liegt die Eigenheit seiner Haltung, die die entscheidende Basis für reformerisches Gedankengut im Großbritannien des 19. Jahrhunderts bildet." 4 Robert Owen wuchs als Sohn eines Sattlers, Eisenhändlers und Posthalters in Newton, Nordwales auf. Schon früh setzte er sich mit der Religion auseinander, später fand er dann in seinen sozialistischen Idealen eine gerechtere Alternative, weil sie durch die Möglichkeit einer kollektiven Veränderung der Lebensumstände eine moralische Verbesserung der Menschen in Aussicht stellten. 5 — Schon mit zwanzig Jahren leitete er eine moderne Textilfabrik in Manchester, mit 29 Jahren wird er Teilhaber — gleichzeitig heiratete er die Tochter des Besitzers — und alleiniger Gesellschafter der weltgrößten Baumwollspinnerei in New Lanark in Schottland. Seine dort durchgeführte betriebliche Sozialreform muss als vorbildlich eingestuft werden. 1825 veräußert er seine Geschäftsanteile und geht nach Amerika. Dort initiiert er in Indiana ein genossenschaftliches Siedlungsprojekt. Das Projekt scheitert nach einigen Jahren, Owen verliert den Großteil seines Vermögens und kehrt nach England zurück. Bis zu seinem Tode ist er publizistisch tätig. Er wird zum Begründer und zur Hauptfigur zahlreicher sozialer Bewegungen in Großbritannien (u.a. für das Genossenschaftswesen, für die Gewerkschaften und für den Kampf um die Arbeitszeitverkürzung). Mit 87 Jahren stirbt er in Wales in seinem Geburtsort. 6 Einen Tag vor seinem Tod sagte er: „Mein Leben war nicht nutzlos. Ich habe bedeutende Wahrheiten verkündet, und wenn die Welt sie nicht annehmen will, dann hat sie sie nicht verstanden ... Ich bin meiner Zeit voraus." 7 Seine bekanntesten Schriften und zugleich Utopieentwürfe sind das anonym geschriebene „Statement regarding the New Lanark Establishment" (1812), dann unter seinem Namen „A New View of Society or Essays on the principle of the formation of the Human Character" (vier 1813/14 geschriebene Essays, zusammen publiziert 1816), seinen berühmt gewordenen „Report to the County of Lanark" (1815-21) sowie das erwähnte und mehrteilige „The Book of the New Moral World" (1836-1844), womit er eher zum Patriarchen einer Sekte wurde. 8 In seinen zahlreichen Schriften, Broschüren, Artikeln und Flugblättern propagierte Owen mit uner-
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Elsässer 1991, S. 57. Gillies 1995, S. 648. Elsässer 1991, S. 50. Bedarida 1974, S. 30. Bedarida 1974, S. 33. — Seine Schüler gaben ihm den Titel eines „Social Father of the Society of Rational Religionists". Er entwickelte sich zum Spiritualismus und bildete sich ein, mit verstoibenen Personen (wie Shelley und Franklin) zu kommunizieren, ebd.
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müdlicher Energie seine reformistischen Ideen angesichts der verheerenden Auswirkungen des Industrialismus, wogegen es sein Hauptanliegen war, Korrektive zu institutionalisieren. In New Lanark in der Nähe von Glasgow führte er rd. 25 Jahre die größten Spinnereien Schottlands und später Großbritanniens. Er stellte dabei unter Beweis, „dass er zugleich die Profitrate erheblich steigern ... und seiner Zeit weit vorauseilende soziale Maßnahmen treffen konnte: Er beschäftigte keine Kinder mehr unter 10 Jahren, senkte die tägliche Arbeitszeit für Erwachsene auf 10 1/2 Stunden, richtete eine Schule ein und schuf für die Beschäftigten Einkaufsmöglichkeiten zum Kostenpreis." 9 Dies alles gegen den Widerstand seiner Teilhaber. Als Alleininhaber baute er Werkswohnungen und schuf eine Volksküche, ohne die Rentabilität des Betriebes zu beeinträchtigen. Seine sozialpolitischen Vorstellungen machte er durch eine Vielzahl von Vortragsreisen publik. In „A New View of Society" legte Owen dar, dass „man jedermann die Gelegenheit geben müsse, seinen Charakter zu bilden. Dazu seien andere Verhältnisse nötig, dann würden andere Menschen entstehen." 10 Er vertrat eine soziale Milieutheorie: „Da das .moralisch Böse' in der Welt durch die Umwelt verursacht wird, muss die Umwelt verändert werden, um das ,Böse' aus der Welt zu schaffen." 11 Owen ging — auch wegen seiner atheistischen Neigung, die ihm in England zunehmend Schwierigkeiten schuf — nach Amerika und versuchte, in der Neuen Welt seine Vorstellungen und Pläne praktisch umzusetzen. Das Experiment der Musterkolonie „New Harmony" (1825-1828) scheiterte, ebenso die 1834 in seiner Heimat gegründete Siedlung „Queenswood". 12 Mit den communities als Solidargemeinschaften war ihm also kein Erfolg vergönnt. Erfreut hingegen war Owen, als er bei seiner Rückkehr nach Großbritannien den „Owenismus" als Losungswort der Handwerker- und Arbeiterbewegung vorfand. 13 Mit der zwischen 1832 und 1834 erscheinenden Zeitschrift „The Crisis, or the change from error and misery, to truth and happiness" schuf sich Owen ein geeignetes Sprachrohr. Er machte sich für die Errichtung von Arbeitstauschbörsen stark und rief zur Gründung gewerkschaftseigener Produktivgenossenschaften auf. „Im Gefolge der Enttäuschung über die — 9 10 11 12
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Bambach 1986a, S. 386. Fenske 1992, S. 434. Gillies 1995, S. 648. Alle Owen-Kolonien, die sich mehr oder weniger auf ihn beriefen (in Amerika allein 16, in Großbritannien 7), endeten mit einem Misserfolg, Bedarida 1974, S. 44. Sie waren allerdings nicht ganz folgenlos. Zu den Gründungsmitgliedern von „New Harmony" gehörte die erste Frauenrechtlerin der USA, Frances Wright; einer der Söhne Owens, Robert Dale Owen, reformierte als Mitglied der Regierung von Indiana das Eherecht zum Vorteil der Frau und führte die allgemeine Schulpflicht ein. Die Ideen von Frances Wright und Robert Dale Owen, insbesondere zur Gleichberechtigung der Frau und Abschaffung der Sklaverei, fanden schließlich Eingang in das Programm der amerikanischen Demokratischen Partei, vgl. Schuler 2001, S. 135/136. Zwischen 1830 und 1840 waren die Begriffe „Owenismus" und „Sozialismus" geradezu Synonyme, Bedarida 1974, S. 30. Allerdings entfernte sich der „Owenismus" auch von seiner Person, ebd., S. 46.
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vielen zu kurz greifende — Reform Bill von 1832 gewann der Owenismus für kurze Zeit die Züge einer Massenbewegung. Indessen scheiterten bis zur Mitte der 1830er Jahre Tauschbanken, Genossenschaften und Gewerkschaften, die Owen alle drei als zusammenhängendes Transformationssystem der neuen Gesellschaft aufgefasst hatte, sei es an den eigenen Widersprüchen oder an staatlicher Repression — aber zugleich gaben sie, wie auch die kommunitarischen Experimente, für die Arbeiterschaft einen Lernprozess zur Entwicklung autonomer Praxisformen ab." 14 Ernst Bloch wundert sich in Bezug auf den von Owen vertretenen philanthropischen Kommunismus nicht über dessen Scheitern, in Sonderheit, was den von Owen 1832 in London eingerichteten Tauschbasar als Arbeitsbörse („National Equitable Labour Exchange") angeht, wodurch unter Ausschaltung des Handels Produzenten und Konsumenten direkt in Verbindung gebracht sowie der kapitalistisch-betrügerische Tausch und Unternehmerprofit ausgeschaltet werden sollten15: „Es soll jedem Produzenten durch die Errichtung eines großen Magazins ermöglicht werden, die von ihm hergestellten Gebrauchsgüter zu deponieren. Als Entgelt dafür erhält er eine Arbeitsnote, welche auf den Wert der in dem abgelieferten Produkt verkörperten Arbeit lautet und zur Entnahme von gleichwertigen Produkten berechtigt. ... Es überrascht nicht, dass die naive Organisation nach wenigen Jahren zusammenbrach, und zwar auf Grund jener noch vorkapitalistischen Utopie, die von der Verteilung, statt von der Produktion her die Wirtschaft regeln wollte." 16 Radikaler noch war die eigentliche Zukunftsgemeinde von Owen gedacht, wobei er von einem Kollektiveigentum ausging. In seinem besten Gemeinwesen, bestehend aus föderierten Gruppen und Kleingebilden von 300-1000 Personen, die die Erde bedecken, mit kollektiver Hilfsbereitschaft ausgestattet und vermöge subsidiärer Nachbarschaftsethik miteinander vernetzt sind 17, sollte an die Stelle von Misstrauen, Unordnung und Uneinigkeit eine mikroskopische Superstruktur der Ordnung, der Weisheit und des Glücks treten. Statt des hobbesischen bellum omnium contra omnes im Naturzustand und ohne Leviathan werde in der neuen Gesellschaft jedermann für den anderen wahre Nächstenliebe empfinden. 18 Regierungs- und Verwaltungsfiinktionen werden heruntergezont und lebensweltlich ver14 15 16 17
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Bambach 1986a, S. 387. Ähnlich wie der zeitgenössische Nationalökonom S. de Sismondi sah Owen in der geringen Kaufkraft und im damit fehlenden Nachfragepotenzial der breiten Massen eine Ursache volkswirtschaftlicher Krisen, Elsässer 1991, S. 56. Bloch 1985, S. 649. Bloch 1985, S. 650 spricht auch davon, dass in Owens Wunschtraum kein zusammenhängender Großbetrieb steht, sondern „die Internationale .. in föderierte Inseln" zerfalle. — Die Vorstellungsmuster des ökosozialismus, der Alternativ- und Aussteigelbewegung sowie des „small is beautiful"-Denkens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Bloch nicht mehr gekannt. Vgl. u.a. Huber 1985, Glaeßner/Scherer 1986. Owen 1970, Teil V, S. 6, Owen 1968, S. 262, Saage 2000a, S. 219, Bloch 1985, S. 650.
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ankert. Es war nicht in erster Linie das Bestreben Owens, „die Produktion (zu) verbessern, um auf die verbesserte menschliche Lage zu stoßen, er wollte von vornherein das edelste Produktionsmittel: den Menschen verbessern und ihn gereinigt aus dem Fabrikschmutz heben. Von daher die Beschränkung auf kleine, menschlich erfüllbare Lebenskreise; von daher nicht zuletzt Owens pädagogischer Traum im großen sozialen Umfang, der Traum, eine neue Gemeinschaft zu bilden.... Kommen die Verhältnisse in Ordnung, so kommt auch der Mensch in Ordnung, er wird heiter und gut. Diese seine Heilung soll also in kleinen föderierten Gemeinschaften am besten bewerkstelligt werden, ohne Arbeitsteilung, ohne Trennung von Stadt- und Landwirtschaft, ohne Bürokratie ... All dies Gute sollte mit einem Schlage kommen, gegründet werden. Das bisherige Leben war für Owen eine einzige bewegungslose Nacht, das Neue setzt sich unvermittelt dagegen ab." 19 Für Owen sollen in einem auf Altruismus basierenden Gesellschafts- und sozialisierten Wirtschaftssystem „auch alle menschlichen Wertungen und Beziehungen vergegenseitigt werden. ... An die Stelle des individualistischen [= egoistischutilitaristischen] Menschen soll Owens Utopie zufolge der soziale Mensch treten; Kooperation und Vereinigimg in landwirtschaftlich-industriellen Siedlungsgenossenschaften soll das Konkurrenzdenken ersetzen." 20 Die Zukunftsgemeinden wurden von ihm akribisch festgelegt: Mitgliederzahl, räumliche Anordnung des Genossenschaftsdorfes in einem Parallelogramm, Grünanlagen und Gartenstädte, Spielplätze, Erholungsbereiche, Werkstätten, Kommunikationszentren etc., was Friedrich Engels mit ebensoviel Spott wie Verehrung kommentierte („die vollständige Ausarbeitung des Gebäudes für die kommunistische Gemeinde der Zukunft, mit Grundriss, Aufriss und Ansicht aus der Vogelperspektive"). 21 — Darüber hinaus wandte sich Owen „heftiger als je ein Utopist gegen die vorhandene Form der Ehe. Sie war ihm lebenslängliche Geschlechts- und Umgangssklaverei, war die Lüge, welche einen Grenzfall von dauernder Liebe normativ macht und konventionell vortäuscht. Privateigentum, Ehe, positive Religion 22 nannte Owen die Dreieinigkeit des Bösen', alle drei sind Idole, schaffen nur menschliches Unglück. So reproduziert die agrarisch-handwerkliche Grundlage nichts von ihren alten sozialen Formen, trotz der geplanten alten Dorfanlage." 23 Viele seiner Gedanken haben sich sedimentiert, auch aufgrund seiner regen Publizität, „ökotopische" Vorstellungen und alle Experimente gelebter Utopien sowie die neuen sozialen Bewegungen (unter Einschluss der NGOs), also die politischen Netzwerk-Kulturen, können sich auf ihn berufen.
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Bloch 1985, S. 650. Elsässer 1991, S. 55. Elsässer 1991, S. 51, 53, Bloch 1985, S. 649. Gleichwohl hat er im Alter eine kirchenähnliche Institution begründet, außerdem befleißigte er sich schon bald einer messianischen Sprache, wobei seine „Ziviltheologie" auf Barmherzigkeit gründete, Bedarida 1974, S. 34, 40/41. Bloch 1985, S. 649/650.
12. CHARLES FOURIER Charles Fourier wurde 1772 in Besançon geboren und ist 1837 in Paris gestorben. Er träumte von einem Perpetuum mobile aus Wirtschaft und Eros. Seine Idee war es, Sexualität und Arbeit miteinander zu versöhnen, jenseits von jeder Art von Gewalt und Zwang und in einer Umgebung von äußerstem Luxus. Fourier wollte die Dichotomie von Sinnlichkeit und Ökonomie überwinden. Vom freien Markt hielt er nichts, Handel und Ehe hasste er wie die Pest, ebenso Nudeln und Kröten. Pflanzen liebte er über alles, aber er lachte niemals 1 und er liebte Orgien — ein interessanter Mann. 2 Fourier hatte viel Pech. Er wird als jüngstes Kind — ihm gingen drei Schwestern voran — einer wohlhabenden Tuchhändler-Familie geboren, die Mutter ist ängstlich, geizig und bigott, der Vater tyrannisch. Der Vater stirbt, als Fourier neun Jahre alt war. Er blieb gewissermaßen der einzige Mann in der Familie, die sich sonst nur aus Frauen zusammensetzte. Aus diesen persönlichen Erfahrungen ergeben sich drei substanzielle Pfeiler seines Denkens: der Hass auf die Institution der Familie bzw. auf die monogame Ehe, eine Abneigung gegen die Geschäftswelt und die Anziehungskraft der Frauenwelt auf ihn. — Familie und Handel wurden ihm zum Schicksal. Der Vater übertrug ihm im Testament sein Vermögen unter der Bedingung, dass er sich ebenfalls dem Handel widme. Fourier musste seine intellektuellen Interessen unterdrücken, die Ausübung des gehassten Kaufmannsberufes akzeptieren. Er ruiniert sich mit risikoreichen Transaktionen. Auch seiner Mutter gingen aufgrund unehrlicher Interventionen eines Onkels ihre Güter verloren. Fourier ist gezwungen, als Angestellter und Vertreter ständig auf Reisen zu sein. Lyon und später Paris sind die Städte, in denen er das Leben eines einsamen Gastes kleiner Pensionen fuhrt. Überall scheitert er mehr oder weniger. Aufgrund einer kleinen Leibrente nach dem Tod seiner Mutter versucht er, sich aufs Land zurückzuziehen, nach Talissieu, wo seine Familie etwas Boden besitzt. Die Zurückgezogenheit zwischen 1816 und 1820 nutzt er für sein erotisches Hauptwerk „Aus der neuen Liebeswelt", das zu seinen Lebzeiten nicht erscheint, sondern erst 1967. Er verwickelt sich in obskure Liebesbeziehungen zu seinen Nichten. Das Ganze fliegt auf und er verschwindet. Nur in den letzten Jahren seines Lebens, von einer klei-
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Er wird deswegen in Frankreich heute auch der „Buster Keaton der Utopie" genannt. Winter 1995, S. 286. — Fourier hasste alte Städte (wie Rouen), auch Raupen und Spinnen. Er mochte kein schlecht gebackenes Brot und keinen Tee, seine Lieblingsspeise waren Kartoffeln. Er wohnte stets in bescheidenen möblierten Zimmern, die er in ein Gewächshaus verwandelte. Er heiratete nicht und entwickelte eine spezielle Neigung zu Lesbierinnen. — Seine Abneigungen haben aber auch Gründe, denn: „Unsere Spinnen, Kröten und hundertdreißig Schlangenarten, ja selbst das jährlich sich verschlechternde Wetter, seien Spiegel, die Gott den Menschen vorhalte, damit sie endlich erkennen sollen, dass sie mit ihren Zuchthäusern und Henkern auf dem falschen Weg sind." Lenk 1996, S. 18.
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nen Gruppe von Schülern verehrt, konnte er sich der Verbreitung seiner Doktrinen widmen. Er starb im Oktober 1837. Eine Gesamtausgabe seiner Werke wurde erst ab 1966 unternommen. Das Leben Fouriers ist, so kann gesagt werden, sozial gescheitert. Allein und verlassen, ohne Freunde, führte er ein Leben, das er mit der Kritik an der ihn umgebenden Gesellschaft kompensiert, indem er sich eine andere vorstellte. 3 Es gibt bei Fourier ein „Doppelleben" bzw. eine Spaltung der Persönlichkeit, nämlich ein äußerliches Leben, verbittert und an Vulgarität grenzend, und ein inneres Leben, reich und differenziert, das sich in seinen Schriften niederschlägt. 4 Einerseits der „alte starrsinnige Junggeselle, der pünktliche Angestellte, der an den Gasttischen der Handlungsreisenden und in den Balzacschen Familienpensionen zu Hause war", andererseits in einer Person verkörpert mit „dem Visionär, dem Träumer, dem Propheten, der davon überzeugt war, der leidenden Menschheit eine Heilsbotschaft zu überbringen und den sein Schüler Victor Considérant an seinem Grabe , einen Christoph Kolumbus der sozialen Welt und einen Entdecker des universellen Schicksalsgesetzes' nannte. Erst ab 1830 war Fourier, dank der Hilfe seiner Familie und seiner Freunde in der Lage, sich ausschließlich seinem Werk zu widmen." 5 Die wichtigsten Schriften Fouriers sind: „Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen" (anonym 1808 und auf eigene Kosten veröffentlicht), die „Theorie der universellen Einheit" (1822) und die Abhandlung „Die neue industrielle und gesellschaftliche Welt" (1829). Ferner ist eine große Zahl von Artikeln zu nennen, die in der Zeitschrift „La Phalange" erschienen. Dort setzt sich Fourier in polemischer Weise mit den damals konkurrierenden Utopien, unter anderem mit denen von Saint-Simon und Owen auseinander. Seine Werke wurden allerdings kaum zur Kenntnis genommen oder wüst verurteilt. Von seinen Schülern wurden sie später entstellt und zensiert verbreitet, insbesondere im Hinblick auf die erotischen Passagen. Man verschwieg die Erotik und versuchte, Fouriers Ökonomik zu retten, obwohl seine Idee von der Ökonomie nicht ohne Erotik funktionieren kann und vice versa. So scheitern auch die Versuche der Fourieristen, ökonomische Genossenschaften nach den Vorstellungen des Meisters zu gründen. Niemand nimmt seine Hauptschriften ernsthaft zur Kenntnis und diejenigen, die darauf gestoßen sind, halten ihn für einen Irren. 6 — Es ist in der Tat „nicht einfach, ein so extravagantes, unzusammenhängendes und ausschweifendes Gedankengebäude wie das von Fourier zusammenzufassen, das zudem von neuen Wortschöpfungen überschäumt wie auch von Lust an Klassifikationen und Aufzählungen, 3 4 5 6
Fetscher 1986, S. 377/378, Winter 1995, S. 286. Fetscher 1986, S. 378. Bruhat 1974, S. 132. Winter 1995, S. 287.
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von denen manche so merkwürdig sind wie die 72 Typen von Liebesbetrug, die er unterscheidet. Alle diese Züge erschweren jeden Versuch einer Synthese, doch am meisten erschwert dies sein mystischer Hintergrund. Seinem Denken liegt eine mystische Vision der Gesamtrealität zugrunde [heute würden wir von einem Esoteriker sprechen, A.W.], die nicht logisch zu erfassen ist, aber seinem anscheinend so chaotischen Denken Einheit und Zusammenhalt verleiht. Gerade diese mystisch-religiöse Dimension verschafft ihm die absolute Gewissheit, von der seine Schriften Kunde geben. Diesen prophetischen Gehalt betonend, nennt er sich sogar ,Messias der Vernunft'. ... Aus einer mystischen Erfahrung geht die Gewissheit hervor, dass die attraction appassionnée, die die Bewegung der Planeten lenkt — die Harmonie des Himmels —, auch den Lauf der Geschichte bestimmt." 7 Fourier wirft in seinen Texten alle Moralbegrifife seiner Zeit über den Haufen. Seine utopische Welt besteht aus industriellen und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die durch die menschlichen Leidenschaften (passions) in Gang gehalten werden. Zwar ist Arbeit notwendig, aber sie muss eine Lust, libidinös besetzt sein. Telos der menschlichen Gesellschaft ist Luxus und Triebbefriedigung. 8 Um seine Ansichten und utopischen Vorstellungen, seine die Menschheit befreienden Entdeckungen „vor aller Augen beweisen zu können, wartete er auf einen Mäzen, der ein Modell-Phalansterium finanziert — die Gemeinschaftssiedlung von 1620 Personen, die abwechselnd im Gartenbau und in der Industrie tätig sind und in kostensparenden Gemeinschaftswohnungen verköstigt und unterhalten werden. Jeden Mittag Schlag 12 Uhr kehrt er aus seinem Büro nach Hause zurück und erwartet den Kapitalisten, der sein Experiment finanzieren sollte — [jedoch stets vergeblich] bis zu seinem Tode." 9 In seiner „Theorie der vier Bewegungen" („Théorie des quatre mouvements et des destinées générales. Prospectus et annonce de sa découverte") haben die ersten drei Bewegungen — materiell, organisch und instinktiv (animalisch) — als „gemeinsame Triebfeder die Anziehungskraft". Ebenso davon abhängig ist die vierte, die soziale Bewegung. Der Mensch muss der Neigung gemäß handeln, zu der ihn seine Leidenschaften naturgemäß ziehen. Die Gesellschaft befindet sich in ständiger Bewegung, indes weiß der Autodidakt Fourier als „Besitzer des Schicksalsbuches" um die allein gültige „Theorie der universellen Harmonie", die es auch uns 7 8 9
Fetscher 1986, S. 379. Winter 1995, S. 287. Fetscher 1991, S. 60. — Adorno 1966, S. 6 fiel für Fourier ein Vers ein, den Karl Kraus nach dem Tod von Peter Altenberg formulierte: „Ein Narr verließ die Welt, und sie blieb dumm." Der Surrealist André Breton, der 1947 eine „Ode à la Charles Fourier" ersann, warf der Soziologie vor, Fourier verkannt zu haben: „Ich sehe nicht, mit welchem Recht sie Werken wie dem Ihren den Stempel des Unstimmigen und Lächerlichen aufdrückt, Werken, in denen eine Kühnheit, die noch keine Grenzen kennt, wirklicher Humanität dienstbar wird." Fourier 1966, S. 7. Raymond Ruyer hat Fourier (in Analogie zum „Sonntagsmaler") als „sociologue du dimanche", als einen Sonntagssoziologen bezeichnet, Lenk 1966, S. 8.
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ermöglicht, ein Leben in Freiheit, Fülle und Harmonie zu führen. Denn der Kosmos sei auf das „Glück des kleinen Menschen" hin angelegt. 10 Allerdings sei die Bewegung zur Harmonie und dann zum Chaos, um wieder zur Harmonie sich hin zu bewegen, ein Zyklus. In der Gesellschaft lösten sich repressive Epochen mit Phasen einer Befreiung der Leidenschaften ab. Die kapitalistische Gesellschaft ist eine verkehrte Welt (le monde à rebours). Aufgrund seiner Methode des absoluten Zweifels (le doute absolu) und des absoluten Bruchs (lécart absolu) generell und besonders im Hinblick auf die bestehende Zivilisation sind die Widersprüche und konfligierenden Dichotomien — Klassenkampf: Arme gegen Reiche, Generationenkampf: Junge gegen Alte, Geschlechterkampf: Mann gegen Frau — aufzuheben. 11 Neue Wege sind zu beschreiten, weswegen der sprachliche Erfindungskünstler Fourier auch zahlreiche Neologismen einzuführen suchte. Fourier kennt zwölf Grundleidenschaften mit zahllosen Variationen und Kombinationen. Diese reduziert er auf 810 Hauptcharaktere. Für ein harmonisches und freies Zusammenleben ist eine auf Attraktion gründende Assoziation nötig, in der alle Charaktere bei beiden Geschlechtern vertreten sind, also 1620 Personen. Die soziale Grundeinheit einer Assoziation von 1600-2000 Personen beiderlei Geschlechts und jeden Alters nennt Fourier „phalange". Gemeinsame Gebäude (phalanstères) und frei gewählte Aktivitätsgruppen (7-32 Personen, am besten zwanzig) bilden die Grundstruktur: „Individuen mit gleichen Interessen bilden eine Gruppe; Gruppen mit gleichen oder ähnlichen Interessen und Beschäftigungen bilden eine ,Serie'. Eine Serie verlangt wenigstens 3 Gruppen ... und kann bis zu 404 Gruppen umfassen [am besten um 30]". 12 Ziel ist die Entfaltung aller individuellen Leidenschaften, jedoch ist dies abhängig von der ökonomischen Effizienz, weswegen die Produktion und die Konsumtion zu rationalisieren sind. Freie Arbeit in Sympathiegruppen ist sozial produktiver, so können leichter Arbeit (in der Regel ein paar Stunden) und Genuss miteinander verbunden werden 13, wozu die freie Liebe wesentlich gehört. - Die politischen und verwaltungstechnischen Entscheidungen treffen Räte, die aus den Gruppen heraus bestimmt werden. Zusammengehalten wird die Gesamtphalanx durch die gegenseitige Attraktion der Mitglieder. Sechs Millionen Phalangen („Omnarchie") werden die ganze Erde überziehen und in einem wissenschaftlich geplanten „régime sociétaire" zusammenarbeiten — also kleinteilige Globalisierung durch Vernetzung von Myriaden kleiner sozialer Einhei10 11 12 13
Lenk 1966, S. 9. Fetscher 1986, S. 380/381. Fetscher 1986, S. 382/383. — Jeder der Phalansterien sollte an mindestens dreißig verschiedenen Serien aktiv beteiligt sein. Fetscher 1991, S. 58: „Der Zentralgedanke, mühselige Arbeit in travail attractif zu verwandeln, ,Selbstvenvirklichung des Individuums', ist in der Tat die ausschlaggebende große Errungenschaft Fourierschen Denkens." — Im Übrigen weiden bei Fourier die Menschen etwa 144 Jahre alt.
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ten und Kommunen. — Fourier überzieht sein System mit „Märchenglanz" und durchwirkt es mit Menschenliebe: Wechsel im Job und des Partners erhalten die Lust; man ist frei und sinnenfroh. Die Gesellschaft wird dem Lustprinzip angepasst und nicht umgekehrt durch Triebverdrängung organisiert. „Die Lust garantiert den Erfolg und der Erfolg bringt Geld. Geld wiederum bringt Luxus und vermehrt die Lust. Das alles findet in riesigen genossenschaftlichen Vereinigungen statt, die nach Ausmaß und Aussehen dem Schloss von Versailles ähneln." 14 Im Gegensatz zum anderen großen Sozialutopisten seiner Zeit, Robert Owen, und gegen die Traditionslinie der Utopie seit Thomas Morus trat Fourier indes nicht für die „fade Moral" der Gütergemeinschaft 15 und des Egalitarismus ein, sondern proponierte einen „abgestuften Reichtum" im Hinblick auf Privateigentum und Unterschiede im Lebensstandard, denn in der neuen sozietären Ordnung müsse es Nichtübereinstimmung wie Übereinstimmung geben. Der Dissens könne sogar konstitutiver für die Erzeugung sozialer Harmonie sein als eine vorgängig angenommene oder als prästabiliert unterstellte Homogenität. 16 Es ist dies eine Auffassung, die sich erst im 20. Jahrhundert in der Soziologie und in der Pluralismustheorie durchsetzen konnte. 17 — Für Fourier sind insofern die Streitlust (cabaliste), der „Schmetterlings-" oder Veränderungstrieb (papillone) und die Begeisterung (composite) die herausragende Gruppe der sozialen Leidenschaften, die „in der zukünftigen Gesellschaft die Hauptrolle spielen und die bislang in periodischen Explosionen sich äußernde soziale Bewegung rhythmisieren und harmonisieren" sollen. 18 Die von diesen drei sozialen Leidenschaften „dirigierte, stets aufs Neue sich konstituierende Serie ist die ,Kompassnadel' der sozialen Welt. Sie zeigt auf das Wunderland, von dem die Menschheit seit der Vertreibung aus dem Paradies geträumt hat. Wenn einmal die richtige Hierarchie der Leidenschaften etabliert ist, die es erlaubt, die menschlichen Fähigkeiten ad infinitum zu steigern und zu differenzieren, dann — so glaubt Fourier — werden die Menschen den ihnen allen gemeinsamen Grundton entdecken: den Einheitstrieb, der gerade den ganz und gar individualisierten Menschen als einen Teil der Menschheit definiert. Der Einheitstrieb (uniteisme) ist die höchste Verwirklichung aller Bestimmungen, das Zusammenklingen aller Leidenschaften". 19 — Die ,,1'art social" besteht insofern darin,
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Winter 1995, S. 287/288. — Hier ist die Zuschreibung der Gebäude etwas uneinheitlich, denn an anderer Stelle ähneln sie mehr einer Benediktiner-Abtei (Fetscher 1986, S. 382), was auf die unterschiedliche Dimensionalität der Quartiere, auf das Mehrebenenmodell des Gesamtgefüges und die Sequenz von der „einfachen Assoziation" mit Gemeindehaus bis hin zur „Stufe der Harmonie" zurückzuführen ist. Bloch 1985, S. 652 spricht gar von einer „Anomalie in den Utopien", nämlich „ohne vollkommene Abschaffung des Privateigentums". Saage 2001b, S. 107. Hierfür sind bekanntlich u.a. Georg Simmel und Ralf Dahrendorf eingetreten: geregelter Konflikt und genüßlicher Streit können für eine innovative Integration und gesamtgesellschaftliche Dynamik sorgen. Lenk 1966, S. 23. Lenk 1966, S. 27/28.
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„das Zusammenspiel der Leidenschaften nicht mehr dem Zufall zu überlassen, sondern ihre richtigen Proportionen zu finden und sie so zu kombinieren, dass ein soziales Kunstwerk entsteht." 20 Dadurch werden produktive Kräfte frei, die allen bisherigen Gesellschaften völlig imbekannt waren, und „das Glück verliert in der harmonischen Ordnung den Charakter des Exzeptionellen, nur augenblicksweise Aufblitzenden. Es gehört zum Leben derer, die an seiner gesellschaftlichen Konstruktion partizipieren, wie die Luft, die sie einatmen." 21 Fouriers kosmogenetisch eingebettete sozietäre Ordnung („code social") hat fraglos eine Tendenz zur autopoietischen Selbstintegration, so dass allenfalls ein Minimalstaat benötigt wird und die Staats- und Regierungsform sekundär ist. Jeder ist als polyvalentes und multikompetentes „Neigungssubjekt" frei und übt nur die Tätigkeiten aus, in denen er Vorzügliches zu leisten imstande ist. Er verbindet sich mit kleinen Teams assoziativ zu einer bestimmten „Leidenschaftsserie" und kommt in und mit der Gruppe hier und dort situativ, zeitlich wie örtlich befristet bzw. rotierend, zum Einsatz. Personen und Metier sollten sich im ständigen Wechsel befinden. Dafür sei eine etatistische Intervention weder geeignet noch vonnöten. 22 Fourier setzte auf eine „gelebte Utopie", obwohl er keine experimentelle Realisierung des genossenschaftlichen Gemeinwesens erleben durfte. 23 Die soziale Metamorphose als ausdrücklich friedliche, gewaltfreie 24 Transformation werde sich in selbstevidenter Weise ereignen, wenn die Phalanges erst einmal institutionalisiert sein werden. 25 Fourier hat auch mit als Erster auf ökologische Probleme aufmerksam gemacht. 26 Darüber hinaus muss Fourier als wichtigster Utopist gelten, der sich dezidiert für die Frauenemanzipation ausgesprochen hat. Der soziale Fortschritt liegt in der Befreiimg der Frau begründet, umgekehrt werde „der Niedergang der Gesellschaftsordnung durch die Abnahme der Freiheit für die Frau bewirkt". 27 Die von den Philosophen gelehrte zeitgenössische Moral verlange in unerträglicher und beklagenswerter Weise von den Frauen, ihre Gefühle zu unterdrücken und halte ihnen ebenso eine intellektuelle Ausbildung vor. Vor allem die letzte Einlassung Fouriers hätte Christine de Pizan ausnehmend gut gefallen.
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Lenk 1966, S. 35. Lenk 1966, S. 37. Saage 2001b, S. 111. Wenn man sich die vorgeschlagenen Tagesabläufe der Harmoniens ansieht, kann man sehr bezweifeln, ob das so vergnüglich wäre, vgl. Fetscher 1991, S. 69/70. — In den USA entstanden rd. vierzig Phalangen in zehn Bundesstaaten, die im Schnitt keine drei Jahre existierten, die längste konnte sich zwölf Jahre lang halten. Die Assoziationen zerbrachen in Sonderheit daran, dass mehr und mehr Mitglieder glaubten, außerhalb des sozialen Experiments mehr für sich erreichen zu können, vgl. Saage 20001b, S. 114/115. Fourier hatte auch Einfluss auf die deutsche Genossenschaftsbewegung (Otto von Gierke). Für Fourier kann nur das zur Freiheit führen, was man in Freiheit erreicht, Fetscher 1986, S. 383. Saage 2001b, S. 113. Vgl. Fetscher 1991, S. 73/74. Fourier 1966, S. 190. Die „Zusammenfassung" (ebd.) lautet: „Die Erweiterung der Privilegien der Frauen ist die allgemeine Grundlage allen sozialen Fortschritts."
13. ETIENNE CABET Nach den föderalistischen Utopien von Owen und Fourier wenden wir uns den zentralistischen Utopien des 19. Jahrhunderts zu. Ernst Bloch fuhrt dazu aus: „Was Glück statt Elend bringt, braucht nicht selber immer freundlich zu sein. Ebenso ist der Plan, der die Härte des Lebens abzuschaffen denkt, nicht immer weich. Bei Owen und Fourier erscheint das bessere Leben als individuell und föderativ, sein Rahmen ist locker. Die Zentralisten dagegen, die jetzt auftreten, der Industrie näher, machen die Freiheit organisiert, die Solidarität mächtig. Statt in Siedlungen wird in großen Wirtschaftskomplexen gedacht, statt der ,Distriktsräte' Owens taucht ein Verwaltungssystem auf. Man könnte auch sagen: In der Freiheit taucht wieder strengere Ordnung a u f . 1 Der Jurist Etienne Cabet (1788-1856) war für Bloch einer der Ersten, welche die kollektiven Produktionsmittel der Industrie bejahten, jedoch den „Subjektivismus" verneinten, „womit diese gebraucht und verwaltet werden." Er war ebenso „einer der Ersten, der sich derart an Arbeiter wandte und als Sprecher ihrer kraftvollen Zukunft empfunden wurde. Auch er glaubte freilich, glaubte immer noch, dass die Spannung zwischen Arm und Reich auf einer Art Missverständnis beruhe, das sich ohne Klassenkampf beheben ließe. Er vertraute zwar nicht mehr dem Zephir einer humanen Suada, wohl aber hoffte er, dass die Krisen dazu hinreichten, dem Kapitalisten, wenn nicht ins Gewissen, so in den Verstand zu reden. Doch davon abgesehen liegt Cabets Utopie durchaus auf der strengen, unsentimentalen, organisierenden Seite. Seine ,Voyage en Icarie', 1839, liefert nur scheinbar einen neuen Insel- und Siedlungstraum; sein Ikarien war vielmehr modern und komplex. Dieses Sinns verwandte Cabet, im Programm von 1840, zuerst das Wort communiste; Heine führte die Neubildungen communiste, communisme ins Deutsche ein. Keine communites partielles sollen die Erde bedecken, Ikarien ist ein einheitliches, hochindustrielles Gebilde, getragen von einer mächtigen Arbeiternation." 2 Cabet wurde in Dijon in eine burgundische Handwerkerfamilie hineingeboren. Er war Anwalt zur Zeit der Restauration, Mitglied des italienisch-französischen Geheimbundes Carbonari und nach der Julirevolution Generalstaatsanwalt. Er hatte entscheidenden Anteil an der Juli-Revolution und akzeptierte die Errichtung der Juli-Monarchie. Cabets Hoffnung auf eine „aufgeklärte Monarchie" sollte jedoch enttäuscht werden. Trotz einiger Versuche des „Bürgerkönigs" Louis Philippe, „sich des unbequemen Demokraten zu erledigen, war seine Wahl in die Deputiertenkammer aufgrund seiner Popularität nicht zu verhindern. Im Parlament galt er als
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Bloch 1985, S. 654. Bloch 1985, S. 654/655.
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einer der fortschrittlichsten Demokraten des linken Flügels. Seine Kritik an der JuliMonarchie wurde immer schärfer. Er veröffentlichte vor allem in seiner Zeitschrift ,Le Populaire' (gegründet 1833) kritische Stellungnahmen gegen die Regierung und propagandistische Texte für die Republik und die Demokratie. 1832 erschien unter dem Titel ,Histoire de 1830 et Situation présente' seine Geschichte der JuliRevolution, die sich kritisch mit den zeitgenössischen Verhältnissen auseinandersetzte. Das Buch war ein ungeheurer Erfolg. ... Die Monarchie versuchte, den gefährlichen Mann durch Denunziationen, durch einen Prozess und schließlich seine Verurteilung wegen zweier Artikel im .Populaire' unschädlich zu machen. Der zweijährigen Gefängisstrafe zog Cabet eine fünfjährige Verbannung vor. Im Britischen Museum entstanden seine historischen Schriften, u.a. eine populäre Geschichte der Französischen Revolution". 3 Er schrieb im englischen Exil aber auch seine Utopie „Le Voyage en Icarie" („Die Reise nach Ikarien") und kehrte 1839 nach Frankreich zurück. Cabet war nach eigenem Bekunden aufgrund der Lektüre von Morus' „Utopia" vom Republikaner zum „Kommunisten" geworden. 4 Den echten Kommunismus sah er in der ursprünglichen christlichen Gemeinde. Er veröffentlichte den Ikarien-Text zunächst anonym unter dem Titel „Voyages et aventures de Lord William Carisdall en Icarie" als „Übersetzung aus dem Englischen von einem französischen Sprachlehrer", um die Zensur zu umgehen, dann 1840 unter seinem Namen. Das Buch wurde ein Riesenerfolg, vor allem „bei den Kleinbürgern und gebildeten Arbeitern. Es wurde zu ihrem Evangelium, das ihnen ein einsichtiges System und ein in allen Details ausgemaltes Ziel an die Hand gab. Ikarien wurde zum Erlösungsprogramm für alle Leidenden, Cabet zu ihrem Heiland. Es gab Wallfahrten zu ihm wie zu einem Messias. ... Es bildete sich eine ikarische Gemeinde. ... Mit dem Einfluss Cabets wuchs [jedoch] die Kritik von rechts und links. Die rivalisierenden sozialistischen Gruppen hetzten in ihren Organen gegen die Ikarier. Die Juli-Monarchie entwickelte einen immer aggressiver werdenden Antikommunismus und verfolgte in der zweiten Hälfte der 40er Jahre auch die Ikarier trotz ihres Pazifismus und Quietismus. Das Wort .Kommunist' wurde zum ersten Mal im politischen Sprachgebrauch zum Schimpfwort." 5 Die revolutionären Ereignisse 1848 und ihre Verwerfungen 6 zerstörten die Einheit der ikarischen Bewegung (wahrscheinlich 200.000 Personen, Cabet sprach von 400.000 Anhängern) und Cabet sah in Europa keine Chance mehr, das soziale Paradies durchzusetzen. Er rief zur Massenauswanderung nach Amerika auf. Etwa vierhundert Ikarier brachen mit ihm auf und suchten ihr Glück am Roten Fluss in 3 4 5 6
Winter 1986, S. 128. Cabet 1979, S. 511-525. Winter 1986, S. 129/130. Nach dem Juni 1848 frohlockte die Reaktion mit den beiden sich vermischenden Schlachtrufen: „Nieder mit den Kommunisten! Nieder mit Cabet!", Bnihat 1974, S. 191.
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Texas. Das Land entpuppte sich als undurchdringliche Wildnis. Auch das Ikarien in Nauvoo, eine ehemalige Mormonenkolonie am Mississippi in Illinois, geriet zum Flop. Es blieb eine kleine isolierte Gemeinschaft, die nie mehr als dreihundert Mitglieder umfasste. Monotonie und Stagnation führten zu Spannungen, 1856 wird Cabet aus seiner eigenen Gemeinschaft ausgeschlossen, als er das von ihm patriarchalisch geführte Präsidialamt mit einer größeren Machtfulle ausstatten wollte. Wenige Tage später stirbt er in St. Louis im Alter von 68 Jahren. 7 Was machte die Ikarien-Utopie, die rudimentär nicht realisierbar war, in den Grundzügen aus? Cabet hatte vor allem ein Telos, die völlige Gleichheit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, und er hatte ein Vorbild, die „Utopia" von Morus: „Hundert gleichartige Provinzen werden von hundert Hauptstädten aus verwaltet und von der Metropole Ikaria aus regiert. Ingenieure und Beamte regieren eine Fachwelt. Oberste Gebote sind Gleichheit und Gütergemeinschaft. Der Tagesablauf ist ebenso geregelt wie das Eheleben, die Kleidung, die Nahrung und die Erziehung. Individuelle Abweichungen sind nicht vorgesehen. Alle Ikarier arbeiten von pünktlich sechs Uhr morgens bis exakt drei Uhr nachmittags. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen." 8 Dies und Weiteres übersteigt die Üblichkeiten der Erzähltradition und Strukturmuster im Gefolge von Morus nicht sonderlich. Gleichwohl gibt es ein paar Besonderheiten 9 und einen entscheidenden Neuansatz, denn Ikarien basiert auf einem eng verzweigten, hoch modernen Industrienetz mit immensen Fabrikkomplexen und einer Millionenmetropole — und der Lebensstandard ist luxuriös (trägt allerdings den Charakter des Genormten, wie wir noch sehen werden). Im Text Cabets ist Ikarien 10 zunächst ein exotisches Land am fernöstlichen Rand des eurasischen Kontinents. Die ikarische Geschichte vor der Revolution trägt Züge des Ancien Régime, der Restauration und Englands. Die vom Staatsgründer und Nationalhelden Ikar vollzogene Revolution erfolgte unblutig innerhalb von zwei Tagen, wobei offenbar die Revolutionen in Frankreich zwischen 1789 und 1830 gebündelt und auf das Jahr 1782 fokussiert werden. Die ikarische Geschichte erfüllt die mit der Juli-Monarchie gescheiterten Aspirationen der radi-
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Schuler 2001, S. 115/116, 126/127. Schuler 2001, S. 125. Das Dezimalsystem wird diktatorisch eingeführt: „Der Zukunftsstaat, der der organisierten Industrie entspringen sollte, war ausgedacht mit aller Eleganz und Präzision des Dezimalsystems. Ein Diktator sollte den politischen Urmeter schaffen, das Dezimalsystem selber bedeutet übersichtlichste Logik der Ordnung. ... Provinzen und Kommunen werden beherrscht vom Aibeitsgehim ihrer Stadt, zuhöchst von Icara, dem Zentrum, einem völlig durchrationalisierten Kristall." Bloch 1985, S. 655. Im ersten (längsten) Teil werden in minuziöser Weise die Modalitäten des Alltagslebens (Nahrung, Kleidung, Wohnen) geschildert, ferner die soziale und politische Organisation, die Formen der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, die öffentlichen Dienste (Erziehung, Gesundheit, Kultur) und die Religion. Im zweiten Teil wird die Frage der Transformation zum egalitären Kommunismus erörtert. Der dritte (knappe) Teil ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung der Sozietäten Prinzipien und der Cabetschen Lehre.
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kaidemokratischen Republikaner und läuft auf ein gleichheitskommunistisches Gemeinwesen hinaus — wie gesagt, auf einem hohen Niveau. Jedoch mit einem erheblichen Druck auf das Individuum: „Ein hoher luxuriöser Lebensstandard für alle wird auf das Peinlichste durch einen kleinlichen Vorschriften- und Normierungsperfektionismus reguliert. Die moralische Vervollkommnung der Menschen ist in Ikarien auf einer hohen Stufe realisiert. Seine Affekte und Leidenschaften steuert und beherrscht der Ikarier total. Dennoch scheint es notwendig, Moral und Tugend bis zum puritanischen Exzess mit einem Benthamschen Inspektions- und Kontrollperfektionismus zu überwachen. Das industrielle Schlaraffenland ist die Positivfolie des Benthamschen Armenstaates." 11 Der sozialistisch-technologische Gleichheits- und Gerechtigkeitsstaat mit einer überragenden Infra- und Kommunikationsstruktur und einer „Gleichheit im Überfluss" wird vom jungen englischen Lord William Carisdall besucht und bewundert, selbstredend bis hin zur Bekehrung. Die industrielle Revolution ist im Verbund mit hoher Landschaftskultur und ästhetischen Komponenten vollauf gelungen; Zentralisierung und Rationalisierung bestimmen die Produktion und Dienstleistungen. Die Planwirtschaft verfahrt nach der Sequenz: Erst das Notwendige, dann das Nützliche, das Angenehme und Schöne. Trotz gleicher Rechte und Pflichten bleiben die Geschlechtsrollen konventionell, wird die Sexualität in der Erzählstruktur tabuisiert.12 — Alles wird vom Inselzentrum der Metropole aus geregelt und überwacht, damit die Lebensläufe in ruhigen und vorhersehbaren Bahnen verlaufen. 13 Im Grunde wird alles von oben genormt und es wird ebenso für die nötige Internalisierungsleistung und Implementation gesorgt. 14 — Cabets Utopie ist wie die politische Theorie Rousseaus ambivalent und in nuce Ausfluss einer Kleinbürgermentalität. Sie ist auch ein Zwitter: „Philosophisch rückorientiert auf die Aufklärung und die Revolution von 1789, extrapoliert sie die Technik und Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts in die Zukunft." 15
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Winter 1986, S. 130, vgl. Benthams „Panopticon or The Inspection-House", aus unserer Zeit Foucaults „Überwachen und Strafen". Gnüg 1999, S. 144-149. Winter 1986, S. 131. Ebd.: „Die utopischen Mustermenschen aus der Erziehungsretorte sind kleinbürgerliche Ordnungsmonster." Ein solcher Rigorismus hat Kleinbürgern immer schon gefallen, vgl. Winter 1995, S. 132. Winter 1986, S. 134. — Zu einer anderen Ambivalenz siehe Affeldt-Schmitt 1991, S. 122: Cabet „greift zwar zunächst auf die geläufige Raumprojektion zurück — und übergeht dabei die Vorläuferform der Zeitprojektion seines Landsmannes Mercier —, versteht es aber, sie seiner fortschrittlichen, zukunftsweisenden Intention zu assimilieren." Es wird eine beständige Entwicklung als Sonderweg Ikariens erwartet, während die übrige Welt nachhinkt. Insofern kann gelten: „Wenn man die zeitliche Logik des sicher erwarteten Fortschritts mit in Betracht zieht, dann ist Cabets Raumprojektion als verortete Zeit-, genauer Zukunftsprojektion erkennbar. Ikarien ist kein ou-topos, kein statischer Idealraum, sondern zukünftig erwarteter Fortschritt... Zwar nutzt Cabet... noch alte Funktionen des utopischen Raumes wie Regelmäßigkeit und Zentriertheit der Städte als Ausdruck für Ordnung und Idealität der Gesellschaft, aber er variiert sie ins Moderne und entwickelt eine eigene Möglichkeit, den Raum mit der Aufgabe einer Zeitprojektion zu betrauen: die Verortung des Fortschrittshiatus." Ebd., S. 122/123. Affeldt-Schmitt macht auch darauf aufmerksam, dass Ikarien
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Das neue sozialistische Konzept soll sich fur Cabet (im Unterschied zu Babeuf) allmählich und evolutionär, als Ergebnis der Überzeugung der öffentlichen Meinimg durchsetzen. Das Elend soll mittels Vollbeschäftigung aufgehoben werden. Die Grundprinzipien seien praktisch umsetz- und durchführbar: Aufhebung der Ungleichheit, des Eigentums und des Geldes. — Aber die positiv gemeinte Utopie Cabets hat auch extrem negative Tendenzen, die uns prolongiert zum 20. Jahrhundert fuhren: „Obwohl es in Ikarien keine Reichen und keine Armen, keine Berufspolitiker und keine Soldaten, keine Polizisten und keine Gefangnisse gibt, haben wir das seltsam unangenehme Gefühl, dass es viele gemeinsame Züge mit den totalitären Systemen des zwanzigsten Jahrhunderts hat: die grandiose Architektur wie in Mussolinis Italien, die Vorliebe für Uniformen und Disziplin, die Verehrung des toten Diktators Ikar, dessen Bild auffällig an allen öffentlichen Orten ausgestellt ist und dessen Name ständig in Liedern und Ansprachen beschworen wird, rufen schmerzliche Erinnerungen hervor. Wir sind nicht erstaunt, wenn wir erfahren, dass in Ikarien bei der Errichtung des Regimes Bücher verbrannt wurden und dass eine strenge Zensur die Produktion aller Kunstwerke kontrolliert. Vergeblich suchen wir nach einem lebendigen Winkel, wo die Individualität des Menschen sich ausdrücken kann. Cabets Behauptung, dass der Wille des Volkes souverän ist, lässt uns skeptisch, denn er sagt uns nicht, wie eine ganze Nation in jeder kleinen Einzelheit des Lebens übereinstimmen kann." 16 Es ist die überzogene Gemeinschaftsbetonung zu Lasten der Individualität, die immer wieder zu solchen Befürchtungen Anlass bietet, zumal in den Entwürfen so gut wie nie eindeutig ist, wer über die volonté générale interpretatorisch und exekutiv verfugt. Bei Cabet ist das vereinnahmende Gemeinschaftspotenzial deutlich erkennbar, wenn er ausführt: „Was will die Gemeinschaft? — Sie will, dass eine Nation ein Ganzes von gleichmäßig assoziierten, verpflichteten, berechteten freien Personen werde, so dass folglich das Einzelinteresse mit dem Allgemeininteresse zusammenwachse, verschmelze, und einen einzigen gesunden, lebendigen Körper oder Gesellschaftsorganismus bilde. Der Wahlspruch sei: ,Alle für Einen und Einer für Alle'; dies heißt die Solidarität, und ist der schnurstracke Gegensatz zum Individualismus oder zur Vereinzelung und Zersplitterung, die wir heute erleben." 17 Es hätte dies hellhörig machen müssen. 18
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nicht unbekannt ist, sondern auf eine Weise erreicht werden kann, die bereits Züge des modernen Tourismus trägt; auch in Ikarien selbst wird ein Besucherstrom erwartet, ebd., S. 121. Berneri 1982, S. 213. Cabet 1979, S. 517. Auf die „Grenzen der Gemeinschaft" hat Helmuth Plessner 1924 in einer glänzenden Analyse aufmerksam gemacht. Siehe die Neuauflagen Plessner 1981/2001.
14. CLAUDE HENRI DE SAINT-SIMON Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon-Sandricourt, wurde 1760 als Spross eines vornehmen picardischen Adelsgeschlechtes, allerdings einer bereits verarmten Seitenlinie, geboren — im Übrigen eine Familie, die von Karl dem Großen abstammte. Er trat in jungen Jahren in den Militärdienst ein und gelangte mit seiner Truppe als Teil des französischen Expeditionskorps nach Nordamerika zur Unterstützung im Unabhängigkeitskrieg. Diese mehr erzwungene Teilnahme öffnete seinen Geist für die liberalen Werte der siegreichen Bourgeoisie. Es verschlug ihn auch nach Mexiko 1 und nach einigen Abenteuern kehrt er nach Frankreich zurück. 1788 verlässt er, immerhin als Oberst, die Armee. Er stellte sich auf die Seite der Revolution, wovon er sich später distanziert, und verzichtete 1790 auf seine Titel. Er wurde Mitglied populärer und jakobinischer Gesellschaften, änderte seinen Namen in Claude Bonhomme. Saint-Simon entwickelt sich zu einem erfolgreichen Bodenspekulanten (insbesondere als Käufer enteigneter Kirchengüter sowie vom Staat konfiszierten Emigranteneigentums) und reichen Kaufmann und pflegt einen großbürgerlichen Stil. Sein Salon ist der Treffpunkt der Eliten. Bildungsurlaube (in England, Deutschland und der Schweiz) und wissenschaftliches Mäzenatentum schlössen sich an. 2 Er ruinierte sich indes finanziell und ein ehemaliger Diener, ebenfalls Bodenspekulant, bot ihm Unterschlupf. Saint-Simon betrieb Studien in Physik und Chemie und widmete sich ab 1802 im Wesentlichen seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Er wurde zum Sozialphilosophen und Reformer. Hierfür ist er heute bekannt, wenngleich er zu Lebzeiten wenig wissenschaftlichen Erfolg hatte. Nach dem Tod seines Gönners folgten Jahre der Not, des Elends und der Demütigung. 1814 erhielt er von seiner Familie eine bescheidene Rente. Mit seinen Schülern Saint-Amand Bazard und Barthélémy Prosper Enfantin widmete er sich der Erarbeitung und Verbreitung seiner Gedanken. Die letzten zehn Jahre waren im Ergebnis am fruchtbarsten. Er sah als Wissenschaftsphilosoph eine Korrelation von wissenschaftlicher und politischer Revolution/Entwicklung. Auch war er ein großer Anhänger Napoleons aufgrund seiner Ordnungsleistungen. Die Restauration sollte den Übergang finden vom feudalen und theologischen Gefüge zu einem industriellen und wissenschaftlichen System, das eine reüssierende Zukunft verbürge. Ab 1817 geht Saint-Simon vom vorher verfochtenen Wirtschaftsliberalismus ab und entfaltet stärker „sozialistische" Gedanken (dann noch stärker akzentuiert von einigen Schülern, indes auch verbunden mit einer Erlösungsmystik
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In Mexiko schlug er dem Vizekönig vor, einen Kanal zwischen Atlantik und Pazifik zu bauen. Später regte er in Spanien einen Kanalbau an, der den Verlauf des Tajos nutzen und ihn bis Madrid schiffbar machen sollte. Beide Projekte wurden nicht realisiert. Aber es ist nicht zufällig, dass Ferdinand de Lesseps, der Eibauer des Suzekanals, ein alter Saint-Simonianer war. Siehe Sotelo 1986, S. 372. Zu seinen Mitaibeitern zählten Augustin Thierry und Auguste Comte.
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und „Diesseits-Religion", so dass der Weg zur Sekte nicht weit war). Ferner fugt er moralische Dimensionen und emotionale Komponenten hinzu. Sein letztes Buch trägt den bezeichnenden Titel „Nouveau Christianisme" und blieb ein Fragment. Nach einem Suizidversuch zwei Jahre zuvor ist Saint-Simon 1823 in Paris gestorben. 3 Saint-Simon hat seine Theorieansätze und utopischen Ideen sukzessive erarbeitet. Er glüht für Ernst Bloch „noch mehr als Cabet vom Lob des industriellen Lebens. Dafür fasste jedoch Saint-Simon dieses Leben, als tätiges, wieder zu weit, zu ununterschieden: er utopisierte mit dem Arbeiter auch den Unternehmer. ... So setzte er auf eine .arbeitende Klasse' schlechthin, als auf die ,arbeitenden Glieder des Volkes'; zu diesen zählten, weil ihr Profitinteresse immerhin nicht müßig zu sein schien, auch die Kapitalisten, Bauern, Arbeiter, Händler, Unternehmer, Ingenieure, Künstler, Wissenschaftler — alle Typen ohne ererbtes feudales Privileg gehörten bei Saint-Simon zum schaffenden Teil der Menschheit, folglich zu ihrer Zukunft. Saint-Simon durchschaute die Bourgeoisie noch nicht als eigene Klasse, daher schien ihm ... ein friedlicher Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit möglich. Was heute [geschrieben 1938-47] Demagogie ist oder harmonisierende Dummheit des hintersten Stammtisches, war damals noch Geblendetsein durch junges industrielles Up to date, durch die Modernität aller, die mit der Dampfkraft beschäftigt waren, mit Industrie und Fortschritt. Arbeiter und Unternehmer standen gleichzeitig an der Spitze der Entwicklung; so hoben sie sich gleichmäßig ab von der verrotteten Feudalität. Selbst erworbenes Eigentum, ohne Erbrecht, war ein anderes als das überkommene der adligen Grundbesitzer, der Parasiten mit zwanzig Ahnen; Reichtums-Macht auf Grund eigener Arbeit war progressiver als Macht-Reichtum auf Grund feudaler Tradition. Bleibt das Proletariat; doch dieses, in seiner damaligen Schwäche und Unreife, erschien Saint-Simon in der .Réorganisation de la société européenne', 1814 4, noch als gänzlich passiv und unmündig. ,Helden der Industrie' wurden aufgerufen, die das Proletariat aus einem Objekt der Ausbeutung zum ebenso passiven der Beglückung überfuhren sollten — im , Fortgang der industriellen Revolution'." 5 Saint-Simon sieht den Fortschritt in den Kategorien eines naturwissenschaftlichen Experiments 6 und der Gang des menschlichen Geistes, die „marche de l'esprit humain", vollziehe sich unabhängig von kontingenten äußeren Einflüssen, werde von Ort und Zeit nicht gewandelt. Fortschritt ist naturgegeben und hat den
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Bambach 1984, S. 8/9, Bruhat 1974, S. 113/114, Feiten 1995, S. 771-773, Sotelo 1986, S. 372-377. In dieser Schrift fordert Saint-Simon eine europäische Konföderation mit einem europäischen Parlament, das über die allen Europäern gemeinsamen Interessen verbindlich entscheiden solle. Auch hier war er seiner Zeit weit voraus. Bloch 1985, S. 656/657. Bambach 1984, S. 41.
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Charakter der Vorsehung. 7 Hierbei gehört Eigentum zur institutionellen Grundstruktur und das politische Gemeinwesen bekommt die Formgestalt eines „technischen Staates". 8 Piatons Philosophenkönige werden durch technokratische Funktionsträger ersetzt. 9 Allerdings sind sie nicht eigentums- und besitzlos. Für SaintSimon ist das individuelle Recht auf Eigentum daran zu bemessen, welchen Nutzen für die Allgemeinheit die Ausübung dieses Rechtes hat. In seinen Abhandlungen „Du système industriel" (1820-1822) und „Catéchisme des industriels" (1823/24) sah er die industrielle und finanzielle Konzentration für das gesamtgesellschaftliche Wachstum und das Wohlergehen der Menschen als erforderlich an. 10 Der produktiven industriellen Klasse ist auch die Macht im Staate zu übertragen. Als Verteilungsprinzip sollte die Maxime: „Jedem nach seinen Fähigkeiten und Leistungen" gelten. Damit ist ebenso impliziert, dass alle Menschen zur Arbeit verpflichtet sind. Die Bankiers als Verwalter des modernen Wirtschaftslebens nehmen eine Schlüsselposition ein und sollten als Vertreter der Zentralinstitute gleichsam zu öffentlichen Beamten der industriellen Volksgemeinschaft werden. Im Unterschied zu vielen Utopisten beruhen die Vorstellungen Saint-Simons auf dem Prinzip der Ungleichheit, die sich allerdings nach der differierenden Leistungsfähigkeit bemisst. Aufgrund der unterschiedlichen Begabungen plädiert Saint-Simon für eine Dreiteilung der gesellschaftlichen Arbeiter in Industrielle, Wissenschaftler und Künstler, wobei die beiden letztgenannten Korporationen der ersten unterstellt bleiben, die auch als „Erflndiuigskammer" („Chambre d'invention") figuriert. 11 Wissenschaftler und Künstler haben eine eher dienende Funktion, nämlich als Propagandisten der Zukunftsvisionen der neuen Gesellschaft. 12 Arbeit wird im Kontext eines „humanistischen Industriebegriffs" zum Organisationsprinzip der neuen Gesellschaft, die sich aus Produzentenassoziationen und „Kapazitäten" generiert. An die Stelle einer Regierung von und über Menschen soll der Tendenz nach die Verwaltung über Sachen treten, angeleitet von einem „Newtonrat". Für Saint-Simon ist „das Goldene Zeitalter der Menschheit .. nicht hinter, sondern vor uns, in der zukünftigen sozialen Ordnung; was unsere Väter nicht gesehen haben, werden unsere Kinder erreichen; es ist unsere Pflicht, ihnen den Weg zu zeigen". 13 7 8 9 10 11 12 13
Bambach 1984, S. 39. Saage 2000a, S. 267. Saage 2000a, S. 268. Bruhat 1974, S. 120/121. Ferner gibt es eine Prüflings- und Durchführungskammer, so dass Invention und Innovation, Implementation und Evaluation einen Institutionenkreis bilden. Feiten 1995, S. 773. Saint-Simon 1966, V, S. 248. — Damit verbunden ist auch die Vision einer staatsfreien Gesellschaft: „Haben sich einmal die Exponenten der Wirtschaftsgesellschaft, d.h. die Tüchtigsten der produktiven Klasse der .industriels', in den Besitz der Staatsmacht gesetzt, so ist die politische Gewalt nicht einfach neu verteilt, sondern vielmehr in ihrem Wesen verändert: Sie hört auf, ein Herrschaftsmittel zu sein, sie verliert ihren Charakter als Zwangsinstitut. Die Regierung wird aus einer Herrschaft über Personen zur bloßen Administration von Sachen. Die Gesellschaft ordnet ihr Zusammenleben nur ebenso
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Eine breite und in sich geschlossene Klasse des kooperativen Gesamtarbeiters ist eine Schimäre, begünstigt in der Praxis eine neue „Aristokratie" 14 und verrät für Bloch eine „Hass-Liebe zur Feudalität". 15 Der „Prophet der Industrie" ist auch ein „Prophet des zentralisierten Kollektivs"; die „capacité administrative" verlangt eine neue Hierarchie.16 Um „zum Licht und Human-Wert der Gebundenheit zu gelangen", werden Feudalität und Kirche durch Industrie und Wissenschaft ersetzt, an die Stelle religiöser Metaphysik tritt Materialität. Im „neuen Christentum" zeigt sich eine durchorganisierte Humanität mit einem „Industriepapst" an der Spitze. 17 Sozial verträglich sind die Gebote der Friedfertigkeit und Brüderlichkeit im Umgang mit den Ärmsten. Zielvorstellung ist die Verbesserung der moralischen und materiellen Existenz der zahlreichsten Klasse, womit zugleich der „Sozialismus" programmiert ist. 18 Insgesamt ist die Gedankenwelt Saint-Simons zwiespältig ,9 ; sie ist dem Alten wie Neuen verhaftet. Im Kontext des utopischen Sozialismus ist vor allem seine Einsicht entscheidend, dass das Großunternehmen selbst sozialistische Elemente bzw. Tendenzen enthalte. Auch war Saint-Simon autoritären Gedanken nicht abgeneigt, so dass man mit Bloch von einem „gouvernementalen Sozialismus" bei ihm sprechen kann: „Weit steht Saint-Simon hinter der gleichzeitigen Gesellschaftskri-
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rational, wie sie ihre Produktionstätigkeit betreibt. Die Epoche universeller Geltung wissenschaftlicher Prinzipien hebt an." Hofmann 1971, S. 48. Auch die Eigentümer haben gewissermaßen eine treuhänderische persönliche Inhaberschaft an den Wirtschaftsmittein der Nation, aber Eigentum verpflichtet sozial. „Einer so geordneten Gesellschaft stellt sich die Aufgabe der Zukunft: die Aibeitskooperation im Weltmaßstab herzustellen, den Erdball so bewohnbar zu machen, wie es Europa ist, die Weltgemeinschaft auf der Grundlage der Industrie zu verwirklichen." Ebd., S. 51. Die „Aristokratie der Geburt" wird ersetzt durch eine „Aristokratie des Talents". Gleichwohl soll die Eibmonarchie unangetastet bleiben und für das Repräsentativsystem soll das Zensuswahlrecht gelten. In anderen Zusammenhängen verzichtet Saint-Simon auf ein Parlament vollständig. Sein industrielles System bedarf der Republik oder Demokratie nicht; die Gesellschaftsordnung hat Vorrang vor dem Formprinzip politischer Systeme. Vgl. Hofmann 1971, S. 52. Bloch 1985, S. 659. Bloch 1985, S. 659/660. Bloch 1985, S. 660-662. Einige Schüler haben aber auch die Äußerungen Saint-Simons übertrieben oder verfälscht. Enfantin flippte völlig aus und wartete auf eine „Erlöserin" (immerhin feminin gedacht). Saint-Simon war kein genuiner Sozialist, ebensowenig die frühe französische Sozialbewegung. „Unter den Bedingungen der industriellen Unreife und der politischen Restauration musste die französische Sozialbewegung ihre erste Aufgabe darin sehen, die Herrschaft vorindustrieller Mächte zu beseitigen. Um dieses Ziel wollte Saint-Simon noch einmal den einstigen dritten Stand als ganzen scharen. Freilich war es um dessen Einheit, auch in der Übereinstimmung der ökonomischen Interessen, schon geschehen. Saint-Simons Gleichsetzung von industrieller mit .klassenloser' (wenn auch differenzierter) Gesellschaft erwies sich bald als Utopie. Aber Utopie unterscheidet sich gründlich von Ideologie. So, wie sich der gutgläubige Irrtum einer Gesellschaft, die ihre Wirklichkeit noch vor sich weiß, unterscheidet vom interessierten Irrtum einer anderen, die alles, was sie vermochte, schon hinter sich hat." Hofmann 1971, S. 52. Hofmann 1971, S. 46: „Saint-Simon, ein Mann von unruhigem, bewegtem Leben, ein Feuerkopf, stets voller Entwürfe, ist nicht durch eine geschlossene Lehre hervorgetreten. Er ist der große Anreger für die Zukunft gewesen ... Saint-Simons Bedeutung für die Denkgeschichte der sozialen Bewegung liegt vor allem in zweierlei: Er hat den Ansatz zur dialektischen Betrachtung der Geschichte geliefert; und er hat die Idee einer aibeitenden Industriegesellschaft entwickelt. Mit beidem wandte er sich gegen die politisch-gesellschaftliche Ordnung seinerzeit."
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tik Fouriers zurück, aber weit überholt er auch den föderativen Sozialisten in der Ahnung, dass nicht Assoziation, sondern Organisation uns dem Sozialismus näher bringe." 20 — Aber es gibt selbstredend auch völlig andere, konträre Utopiemuster, die in ihrem Gegenmodell keine technokratischen Funktionseliten und am besten keinerlei Organisation benötigen. Es ist dies bei den individuellen Utopisten und Anarchisten der Fall, von denen wir im Folgenden Stirner, Proudhon und Bakunin behandeln.
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Bloch 1985, S. 658.
15. MAX STIRNER Ernst Bloch fuhrt in seiner unnachahmlichen Sprache aus: „Wirkt nicht jenes Leben überhaupt als das beste, das gewaltfrei verläuft? Als sein eigener Herr, unabhängig, ungebunden, wild wachsend, wenigstens nach eigenem Maß wachsend. Selbst Saint-Simon sagte auf dem Sterbebett: ,Mein ganzes Streben fasst sich in dem einen Gedanken zusammen, allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer Anlagen zu sichern.' Jener Vormund, auch jener soziale, erscheint als der beste, der mit einem Schlag nicht mehr vorhanden ist. Die Anarchisten freilich, die diesen Schlag utopisch führen, tragen, alles Trotzes ungeachtet, stets ein kleinbürgerliches Betragen zur Schau. Nicht wegen ihrer überwiegend ebensolchen Herkunft, sondern wegen ihrer unvermittelten Ziele; denn diese wirken oft als aus einer rentierhaft ,unabhängigen' Privatwelt. Stirner, mehr ein wilder Oberlehrer als ein Löwe, hat mit dem Ruf nach dem Ich an sich, nach dem Eigner seiner selbst begonnen." 1 Die Lebensspanne Max Stirners (1806-1856) „reicht von Napoleons Neuordnung Europas, über Restauration, Vormärz und die Revolution von 1848, bis zur post-revolutionären Reaktion. In philosophischer Perspektive überschneidet sich Stirners Lebensweg mit dem Aufstieg Hegels, über dessen wirkungsmächtige Schulbildung bis zur Spaltung und dem langsamen Niedergang der Hegeischen Schule." 2 Der Name Max Stirner ist ein Pseudonym — vielleicht wegen seiner hohen Stirn und seines entsprechenden Spitznamens als Student, außerdem bot Stirner vielen und vielem die Stirn —, denn er wurde als Johann Caspar Schmidt in Bayreuth geboren. Er studierte Philosophie bei Schleiermacher, Marheineke und Hegel, ferner in Erlangen und Königsberg. Er gehörte den bohemehaften junghegelianischen „Freien" um Bruno Bauer an, in deren Umfeld er auch seine zweite Frau Marie Dähnhardt (ihr ist sein Werk „Der Einzige und sein Eigentum" gewidmet) keimen lernte. Ihr Vermögen versetzte ihn in die Lage, seinen Lehrerberuf an einem Mädchenpensionat aufzugeben, allerdings ruinierte sich das Ehepaar bei einer falsch realisierten Geschäftsidee, einem Milchvertrieb in Berlin, woraufhin es bald zur Trennung kam. Stirner kam zweimal in Schuldarrest; sein Leben verliert sich in Not und Dunkelheit. 3 Man sagt — was immer man davon halten mag —, er sei an einem Fliegenstich gestorben, was sich wie ein Scherz Gottes anließe.
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Bloch 1985, S. 662/663. Waszek 1995, S. 854. Waszek 1995, S. 855.
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Die Intention seines Hauptwerks 4 „Der Einzige und sein Eigentum", das 1844 erschien, aber auf 1845 datiert wurde, um die Zensur 5 zu irritieren, ist die radikale Affirmation des einzigartigen Ichs 6 und wird von vielen Interpreten als ein „Klassiker des Anarchismus" eingestuft. In dem mit Goethes Formulierung „Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt" betitelten Prolog heißt es in furioser Weise (am Anfang und am Ende): „Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. ,Pfiii über den Egoisten, der nur an sich denkt!' ... Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache ,des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist — einzig, wie Ich einzig bin. — Mir geht nichts über Mich!". 1 Die beiden Teile „Der Mensch" und „Ich" sind im Aufbau an Ludwig Feuerbachs „Das Wesen des Christentums" orientiert und „widmen .. sich der Analyse der Unterdrückung des Ich bzw. der Entwicklung einer Befreiungsstrategie, durch die das Ich zu sich selbst zurückfinden soll." 8 Alle Religionen und Philosophien, Theorien und Ideologien versuchen, die Person, den Einzelnen, seiner Eigenheit zu berauben, ihn um sein „Eigen-tum" zu bringen. Hingegen ist das einzig Wirkliche die Existenz der Person. Die einzige praktische und wissenschaftliche Revolution müsste darin bestehen, die conditio humana sprachphilosophisch so zu beschreiben, dass das Prädikat (Mensch) dem Subjekt (Person) zuzuordnen ist (nicht etwa umgekehrt), in diesem Sinne dem Einzelnen seine Person als sein Eigentum gehört.9 Das Ich muss jedes Über-Ich als gespensterhaft abschütteln und sich selbst zur Welt- und Wertbegründungsinstanz proklamieren. Das ist der cantus firmus des Stirnerschen Werkes, wobei sein Stil ausgewiesen ist durch eine emotional gefärbte „Verbindung von konsequenter Logik und leidenschaftlicher Rhetorik". 10
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Es ist sein wirklich wichtiges Buch, die anderen Schriften sind weniger ergiebig, allerdings übersetzte Stimer 1847 erstmals Adam Smiths „The Wealth of Nations" ins Deutsche. Das Buch wurde verboten, aber von der Zensurbehörde bald wieder frei gegeben: „Es sei Ausdruck einer beklagenswerten Philosophie und fördere durch den eigenen niedrigen und beschränkten Standpunkt geradezu die religiös-sittliche Ansicht des Lesers", Guggemos 1997, S. 480. In der Tat wussten die zeitgenössischen Leser nicht so recht, was sie mit diesem Werk überhaupt anfangen sollten Waszek 1995, S. 855. Siehe auch Guggemos 1997. Auf die Wirkungsgeschichte wird weiter unten noch eingegangen. Siehe in diesem Kontext insbesondere Laska 1996, 1998 u. 2000. Stirner 1981, S. 3 u. 5. Waszek 1995, S. 856. Rudolph 1996, S. 32. Rudolph 1996, S. 30.
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Das Menschenleben ist ein Kampf um Selbstbehauptung, denn von Geburt an sucht der Einzelne danach, sich herauszufinden und sich zu gewinnen. 11 Stirner lehnt alles Exogene als „fixe Ideen" ab: „Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät z.B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein — Majestätsverbrecher), die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht ,fixe Ideen'? Ist nicht alles dumme Geschwätz, z.B. unserer meisten Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen so genannten Tollen, dass sie heimtückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. ... Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein — das ist beides ein und dieselbe ,fixe Idee'." 12 Der Einzelne ist umstellt von intoleranten Eiferern und Besessenen jedweder Couleur, die etwas Heiliges oder Prinzipielles apodiktisch vertreten. 13 Dies werde je nach Gesellschaft ziviltheologisch sozialisiert und internalisiert 14, und zwar als „Eingegebenes" mit dem Anschein des Absoluten. Bis auf den heutigen Tag existiere eine Gedanken- und Geisteshierarchie, die auf Schimären beruhe. Auch durch den Liberalismus „wurden nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen ,wissenschaftliche' oder allgemeiner statt der ,rohen Sätze' und Satzungen wirkliche Begriffe und ewige Gesetze." 15 Stirner unterscheidet einen politischen Liberalismus (d.i. die Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft), einen sozialen Liberalismus (d.i. der kommunistische Utopismus) und einen humanen Liberalismus (d.i. der Humanismus der Aufklärung), mit denen er gründlich abrechnet. 16 Das Bürgertum 11 12 13
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Stimer 1981, S. 9. Stimer 1981, S. 46/47. Stimer kritisiert in diesem Kontext auch Proudhon, für den das Sittengesetz (la loi morale) ewig und absolut ist, Stimer 1981, S. 50/51. Auch wenn die Schlangenhaut der alten Religion abgestreift werde, käme eine andere religiöse Schlangenhaut als Surrogat zum Tragen. Stirner 1981, S. 70/71: „Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten; man hetzt sie durch die Schule, damit sie die alte Leier lernen, und haben sie diese inne, so erklärt man sie für mündig." Stirner 1981, S. 105. Stimer 1981, S. 106-167.
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sieht im Staat den wahren Menschen, der das Allgemeininteresse verwirklicht: „Sich muss man aufgeben und nur dem Staate leben. Man muss .uninteressiert' handeln, muss nicht sich nützen wollen, sondern dem Staate. Dieser ist dadurch zur eigentlichen Person geworden, vor welcher die einzelne Persönlichkeit verschwindet: nicht Ich lebe, sondern Er lebet in Mir." 17 Die Liberalen werden zu Eiferern der Vernunft und wachen über die „individuelle Freiheit", die sich nur auf Personen als soziale Konstrukte bezieht. Die Einzelnen werden über das Gesetz zu allem Möglichen gezwungen, so dass man nun in aller Form rechtens geknechtet werde. 18 Ferner bedeute freie Konkurrenz, dass jeder gegen andere auftrete und kämpfe. Mit der bürgerlichen Revolution sei nicht der einzelne Mensch frei geworden, sondern der Citoyen — und die Nation trete als ein eingebildetes Ich auf. 19 Der Staat schützt und belohnt die Bürger j e nach Loyalität und die Arbeitenden fallen den Kapitalisten in die Hände. Den sozialen Liberalismus kritisiert Stirner besonders heftig, vor allem in Bezug auf Proudhon, Bruno Bauer und Marx. Hier werde die egalitäre Gesellschaft vergötzt und das Lumpenproletariat fetischisiert. Offenbar sollen wir alle zu „Habenichtsen" werden. Dies sei im Interesse der „Menschheit", für Stirner indes der „zweite Raub am .Persönlichen'. Man lässt dem Einzelnen weder Befehl noch Eigentum; jenen nahm der Staat, dieses die Gesellschaft." 20 — Der humane Liberalismus macht aus dem Glauben an Gott den Glauben an „den" Menschen als regulative Idee „der" Menschheit. 21 Dieser Metamorphose (oder „KulissenVerschiebung") hält Stirner entgegen: „Nur wenn Ihr einzig seid, könnt Ihr als das, was Ihr seid, miteinander verkehren." 22 Der Einzige ist unvergleichlich und nicht subsumierbar; er benötigt kein erhabenes, unerreichbares Ideal — in welcher Form auch immer. „Nicht, wie Ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Aufgabe zu sein, sondern wie ich Mir selbst genüge. Ich bin meine Gattung". 23 Der Drang nach einer bestimmten Freiheit intendiert immer schon den Anspruch auf eine neue Herrschaft, hingegen kann die Freiheit stets nur die ganze Freiheit sein. 24 Man sollte nur aus sich heraus handeln. Wie beim Grenzfall der Genialität ist jede Eigenheit die kreative Kraftquelle. Das Ich ist Anfang, Mitte und Ende. Jeder ist eine Institution für sich. Der Einzelne verrichtet immer Eigenes und nie in abstracto Menschliches. Es geht um die eigenen Lebensentwürfe und Handlungen, die selbst gewählt sind: „Ich bin Mensch, gerade so, wie die Erde
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Stimer 1981, S. 109. Stimer 1981, S. 119. Stimer 1981, S. 121. Stimer 1981, S. 129. Stirner 1981, S. 202: .„Der" Mensch ist der letzte böse .Geist' oder Spuk, der täuschendste oder vertrauteste, der schlaueste Lügner mit ehrlicher Miene, der Vater der Lügea" Stimer 1981, S. 148. Stirner 1981, S. 200. Stirner 1981, S. 176.
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Stern ist. So lächerlich es wäre, der Erde die Aufgabe zu stellen, ein .rechter Stern' zu sein, so lächerlich ist's, Mir als Beruf aufzubürden, ein .rechter Mensch' zu sein." 25 Für Stirner ist jeder Staat eine Despotie, denn er will keine Pflicht und Bindung anerkennen: „Meinen Willen kann Niemand binden, und mein Widerwille bleibt frei." 26 Auch „Gesellschaft", „Volk", „Gemeinwohl" etc. sind Gespenster. Es war die Schwachheit des Sokrates, dass er nach der Verurteilung nicht entfloh, es war sein Wahn, „mit den Athenern noch Gemeinsames zu haben, oder die Meinung, er sei ein Glied, ein bloßes Glied dieses Volkes." 27 Der Einzelne ist der unversöhnliche Feind jeder Allgemeinheit, alles Heilige und seine weltlichen Surrogate sind ihm Fesseln. Alle überpersonalen Allgemeinheitsbegriffe implizieren normative Vorgaben und bekommen früher oder später einen Zwangscharakter. Sie sind deshalb für Stirner als ärgerliche Tatsachen konsequent zu „antiquierteren". 28 Der Maßstab für Reziprozität ist das eigene Ich im klugen und situationsgerechten Handeln. 29 Eine „Gemeinschaft" als bisheriges „Ziel" der Geschichte (und des Utopiediskurses) ist für Stirner unmöglich. 30 Sein Telos ist vielmehr die Selbstbewusstwerdung und Selbstachtung. Wer darüber nicht verfügt, ist lediglich egoistisch, nicht wahrhaft „einzig" und selbstbewusst authentisch, vielmehr eine Charaktermaske, ein „eindimensionaler", exogen bestimmter „Mensch". Stimers verbaler Kampf richtet sich gegen jedwede Heteronomie und ist durchgängig auf Selbsterkenntnis bezogen. Jede politische und soziale Revolution, generiert aus Unzufriedenheit, zielt auf neue Institutionen, während der zivile Widerstand des Einzigen in der „Empörung" 31 als Ausdruck aufrechten Gangs besteht: .„Einrichtungen' zu machen gebietet die Revolution, ,sich auf- oder emporzurichten' heischt die Empörung." 32 25 26 27 28 29 30
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Stirner 1981, S. 199. Stirner 1981, S. 215. Ebd., S. 257: Der Einzelne ist „sich selbst Hüter des Menschlichen" und spricht mit dem Staate nur die Worte: „Geh' Mir aus der Sonne". Stimer 1981, S. 235. Stirner 1981, S. 347. Das gilt auch für den amerikanischen Pragmatismus, der allerdings stärker interaktiv konzipiert und auf Sprache als Metainstitution gerichtet ist, vgl. Waschkuhn 2001. Stirner 1981, S. 348: „Sagen Wir Uns vielmehr von jeder Heuchelei der Gemeinschaft los und erkennen Wir, dass, wenn Wir als Menschen gleich sind, Wir eben nicht gleich sind, weil Wir nicht Menschen sind. Wir sind ,nur in Gedanken' gleich, nur wenn ,Wir' .gedacht' werden, nicht wie Wir wirklich und leibhaftig sind. ... Ich bin Mensch und du bist Mensch, aber ,Mensch' ist nur ein Gedanke, eine Allgemeinheit; weder Ich noch Du sind sagbar, Wir sind ,unaussprechlich', weil nur ,Gedanken' sagbar sind und im Sagen bestehen." — Gemeinschaft ist nur eine Assoziation, ein Verein. Die anderen Subjekte sind entweder interessant oder uninteressant, von Interesse ist der soziale Verbund im kommunikativen Handeln aber nur, wenn eine Multiplikation meiner Kraft herbeigeführt werden kann, ebd., S. 349. Nur in der lockeren Assoziation kann sich der Einzelne tatsächlich geltend machen, ohne verbraucht zu werden, ebd., S. 350/351. Der Begriff des „Eigennutzes" ist nicht ökonomisch zu verstehen, sondern als Bewahrung und Steigemng von „Ich-Identität". Herbert Marcuse, der merkwürdigerweise nicht auf Stimer rekurriert, spricht von der „großen Weigerung". Zu Marcuse siehe Waschkuhn 2000, S. 127-146. Stirner 1981, S. 354. — Auch Christus erwartete kein Heil von einer Änderung der „Zustände", ebd., S. 355. Jeder der alten Christen war ein Empörer, der „zugleich die Lebensquellen der ganzen heid-
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Max Stirners existenzialistisch-utopische Philosophie — also eine wissenschaftlich entwickelte und nicht literarische oder narrative Utopie — ist von Marx und Nietzsche als Herausforderung begriffen, nicht aber widerlegt worden (auch nicht durch den historischen Materialismus). 33 Stirner hat auch Einfluss auf die Literatur und entsprechende Romanfiguren (zum Beispiel Turgenew und Dostojewskij, André Gide und André Breton) ausgeübt. Leider steht er rezeptionsgeschichtlich bis heute unter einem negierenden mainstream-Bann, d.h. er wird auf den epigonalen Anreger verkürzt. Aber Utopien haben womöglich den längeren Atem. Alle „individualistischen" Ansätze 34 können sich auf ihn berufen, jedoch in einem übergreifenden Sinne: Es ist ein durchreflektierter normativer Individualismus, der den Einzelnen nicht nur individuell versteht, sondern durchaus als einen kollektiv wirksamen, sich selbst entwickelnden Handlungsagenten, der die Aufklärung (als „IchAG") umsetzt und sich nicht vereinnahmen lässt: menschliche Selbststeuerung als wahre Autonomie (und nicht als Autopoiese oder Abglanz von Systemen). Der Sinn des Lebens ist das Leben als ein befreites. 35 Alles andere ist unerheblich, es sind bloß Begriffe und Abstrakta; der Rest ist (hoffentlich gelingende) Praxis — hic et nunc. Man muss es nur tun bzw. tun wollen („you can make it, if you really want") und dabei allen Schwierigkeiten in Ataraxie die Stirn bieten.
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nischen Welt abgrub, mit welchen der bestehende Staat ohnehin verwelken musste: er war gerade darum, weil er das Umwerfen des Bestehenden von sich wies, der Todfeind und wirkliche Vernichter desselben; denn er mauerte es ein, indem er darüber getrost und rücksichtslos den Bau .seines' Tempels aufführte, ohne auf die Schmerzen des Eingemauerten zu achten". Insofern hat jeder Revolution eine (kognitive) Empörung voranzugehen, ebd., S. 356. Siehe die Darlegungen von Laska 1996-2000. — Marx hat in dem unveröffentlichten Manuskript „Sankt Max" (das erst 1903 bekannt wurde) bzw. in der „Deutschen Ideologie" (MEW, Bd. 3, S. 9530) einen Verdrängungsversuch (hunderte von Seiten zur „Selbstverständigung") unternommen. Dem „wilden" Dichter und Individualanaichisten John H. Mackay ist Ende des 19. Jahrhunderts die Ausgrabung und Zusammenstellung biographischen und textlichen Materials zu Stimer zu verdanken. Guerin 1967, S. 27/28, hebt hervor, dass Stimer dem Individualismus eine neue Bedeutung verliehen habe. Heute erschienen die Kühnheiten seiner Einsichten in einem neuen Licht, denn es sei das eigentliche Thema der modernen Sozialtheorien, das Individuum aus seiner Entfremdung, der industriellen Versklavung und dem totalitären Konformismus zu lösen. — Die kurrente soziologische Individualisierungsdebatte indes ignoriert Stirners Werk. — Den Einzelnen bringt natürlich noch (zugleich Stirners Zeitgenosse) in existenzphilosophischer Weise Seren Kierkegaard zur Geltung. Stimer 1981, S. 366: „Ein Mensch ist zu nichts .berufen' und hat keine .Aufgabe', keine .Bestimmung', so wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen ,Beruf hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu genießen und zu verzehren, d.h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Äthers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewaltiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Tier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äußern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äußerung besteht und so wenig untätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde ,stille stände', nicht mehr Leben wäre."
16. PIERRE-JOSEPH PROUDHON Ernst Bloch wird dem Anarcho-Sozialisten Proudhon (1809-1865) nicht völlig gerecht, wenn er ausfuhrt, dass dessen „Gesang" ursprünglich noch kraftvoll und rauh klang, jedoch sei sein Text bald kleinbürgerlich geworden. 1 Es stimmt allerdings, dass der Auftakt besonders vehement war, denn die im Titel seiner ersten Denkschrift gestellte Frage: „Qu'est-ce que la propriété?" (1840) wird mit dem berühmten (indes von Jacques Brissot [1780] geborgten) Satz beantwortet: „Eigentum ist Diebstahl!" („La propriété, c'est le vol"). In einem Begleitbrief legte er dar, dass er seine Arbeit dem Ziel der Verbesserung der physischen, moralischen und intellektuellen Existenzbedingungen der zahlreichsten und zugleich ärmsten Gesellschaftsklasse widmen wolle. 2 Pierre-Joseph Proudhon stammt aus kleinen, handwerksproletarischen Verhältnissen. Armut und Unsicherheiten der Lebensbedingungen waren ihm von Kindheit an vertraut. Wie Charles Fourier wurde er „in der an die Schweiz grenzenden Region Franche-Comté geboren, deren typisch kleinbürgerlich-freiheitliche Arbeits- und Lebensformen im 19. Jahrhundert eine besondere soziale, politische und intellektuelle Kultur hervorgebracht haben, in der Utopismus und Anarchismus über Jahrzehnte hinaus einen fruchtbaren Boden finden konnten." 3 Aus finanziellen Gründen war es Proudhon nicht möglich, das Gymnasium zu beenden. Er absolvierte eine Schriftsetzerlehre, die ihm die Gelegenheit zum Lesen bot. Er zog als Lehr- und Wandergeselle von Druckerei zu Druckerei. 1837 wurde ihm ein ausgeschriebenes dreijähriges Stipendium der Akademie von Besançon zuerkannt, wofür er auch das Abitur nachholte. Seine Studien nahm Proudhon in Paris auf und wandte sich mehr und mehr der politischen Ökonomie zu. Die erwähnte Denkschrift „Was ist das Eigentum?" war die Antwort auf eine Preisfrage der Akademie von Besançon, mit welcher Proudhon nachzuweisen suchte, dass die Faktizität des bürgerlichen Eigentums nicht auf eigene Arbeit und gerechten Tausch zurückzufuhren sei, vielmehr auf der unberechtigten Aneignung fremder Arbeit beruhe und durch das kapitalistische Monopol der Produktionsmittelbesitzer ermöglicht werde. Das Eigentum müsse in die Gleichheit des auf eigener Arbeit beruhenden Eigentums aller umschlagen (possession als ein befristetes Besitzrecht). Mit der Umwandlung des Eigentums gehe zugleich eine Negation jeder Autorität, insbesondere des Staates und Gottes, einher und führe zu einer ebenso natürlichen wie harmonischen Ordnung. Die wahre Regierung sei die An-archie, die Nichtherr-
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Bloch 1985, S. 664. Bock 1991, S. 97. Goldschmidt 1995, S. 707/708.
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schaft. 4 — Es folgte 1841 eine zweite Denkschrift („Lèttres à M. Blanqui") sowie 1842 die Studie „Avertissement aux propriétaries", was ihm eine Anklage eintrug, jedoch mit einem Freispruch endete. Proudhon wurde Bevollmächtigter in einem Kohlen- und Transportgeschäft, was ihm ständige Reisen nach Paris ermöglichte. Er lernte dort u.a. Karl Marx, den „wahren Sozialisten" Karl Grün, später auch Herzen und Bakunin kennen. Er wurde von Marx, Grün und Bakunin auf die Philosophie Hegels aufmerksam gemacht, die er in eigenwilliger Weise zu adaptieren suchte. Proudhon entschloss sich unter diesem Eindruck, seine Pamphlete auf eine breitere philosophische Grundlage zu stellen. In seinen 1843 beginnenden Notizbüchern entwarf er eine „Société progressive". Nach einigen Vorversuchen erschien 1846 das zweibändige Werk „Le système des contradiction économiques ou philosophie de la misère". 5 1847 ließ sich Proudhon endgültig in Paris nieder und publizierte zusammen mit Charles Fauvety und Jules Viard die Zeitschrift „Le Représentant du peuple". 6 Der Proudhon vor 1848 war ein kritischer Moralist mit einem blumigen und provokativen Stil. Allen sozialistischen Schulen gegenüber war er jedoch sehr distanziert. Seit Beginn der Revolution wandte sich Proudhon verstärkt praktischen Fragen zu und ersann — neben seinen bisherigen Invektiven — anwendbare Problemlösungen. Seine zweite Kandidatur für die Nationalversammlung war erfolgreich und Proudhon verteidigte argumentativ die Aufständischen. Seine Erfahrungen zwischen Februar 1848 und März 1849 legte er 1849 in der Schrift „Confessions d'un révolutionnaire" dar. Seine weiteren Ideen publizierte Proudhon in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Le Peuple" und kam immer wieder mit den Pressegesetzen in Konflikt. 7 Eine von ihm gegründete „Volksbank" scheiterte, weil er zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Die Banque du Peuple wäre aber offensichtlich auch so gescheitert. Den Staatsstreich Louis Bonapartes gegen die Republik im Dezember 1851 erlebte er bei einem Freigang, wobei es zu einer Begegnung mit Victor Hugo und anderen linken Republikanern kam. Ihr Angebot zur Zusammenarbeit im Widerstand lehnte Proudhon ab. Hingegen versuchte er, Bonaparte für sein Tauschbankprojekt — bereits eine Idee Owens — zu gewinnen. 8 4 5
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Goldschmidt 1995, S. 708/709. Gegen dieses Weik wetterte bekanntlich Marx in „Das Elend der Philosophie" (MEW, Bd. 4, S. 61182). — Proudhon hatte seine Skepsis gegen revolutionäre Aktionen als Mittel der Gesellschaftsreform geäußert und eine Mitarbeit am Marx-Engelschen kommunistischen Brüsseler Korrespondenzbüro abgelehnt. Bruhat 1974, S. 184. Proudhon gab mehrere Zeitschriften heraus, die alle veiboten wurden. Eine gerechte Wirtschaftsordnung bestand für Proudhon darin, das Eigentum zu verallgemeinern, d.h. jeder sollte in beschränktem Umfang Besitzer sein können. Dies könne erreicht werden durch die Abschaffung aller Zinsen und die Proklamation des Rechtes auf Kredit für jedermann. Das Tauschbankprojekt —jeder sollte für den Wert seiner Eingaben Güter oder zinslose Kredite erhalten — scheitelte zwar, änderte aber nichts an der Faszination. So propagierte später der deutsche Finanztheoretiker Silvio Gesell (1862-1930) mit seiner Freigeld-Lehre die These vom zinslosen Kredit. Fenske 1992, S. 432.
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Als dieser sich als Förderer der großkapitalistischen Spekulation erwies, beschränkte sich Produhon in der Folge auf kleinere wissenschaftliche Gelegenheitsarbeiten und auf die Ausarbeitung einiger praktischer Reformprojekte (u.a. für das Eisenbahnwesen). 1858 veröffentlichte er ein umfangreiches Werk gegen die christliche Religion und für eine Religion der Arbeit („De la justice dans la révolution et dans l'église") und schrieb gegen jede Form der Zentralisierung und Autorität an. Der gerichtlichen Verfolgung entzog er sich durch eine vorübergehende Emigration nach Brüssel. 9 Aufgrund einer allgemeinen Amnestie kehrte er 1862 nach Frankreich zurück. — Neben einer merkwürdigen Arbeit über den Krieg (nämlich als ein „göttliches Phänomen") erschien zu Lebzeiten noch die Arbeit „Le principe fédératif' (1863) 10, posthum wurde „De la capacité politique de classes ouvrières" (1865) publiziert. Der sich verbreitende „Proudhonismus" muss insgesamt als eine eklektizistische Weltanschauung angesehen werden, insbesondere charakterisiert durch einen strikten Anti-Klerikalismus und Anti-Autoritarismus. Die Proudhonisten spielten während der kurzen Periode der Pariser Kommune von 1871 noch eine zumindest zahlenmäßig bedeutende Rolle. 11 Danach ging die soziohistorische Entwicklung über sie hinweg. Kleine, in sich konsistente soziale Gruppen als autonome Zentren, bestehend aus Kleinproduzenten, sind für Proudhon das Ferment der Gesellschaft, die aufgrund „gereinigter Konkurrenz" und begrenzten individuellen Besitzrechts von Antinomien befreit und einem solidarischen Interessenausgleich verpflichtet ist. Jede Lenkung von oben steht im Widerspruch zur freien Entfaltung menschlicher Fähigkeiten und der gruppalen Kraft (force collective), die er auch als gruppale Vernunft (raison collecitve) begreift. Proudhon ist primär nicht Nationalökonom, vielmehr als Gesellschaftstheoretiker einer der ersten Soziologen. 12 Im Unterschied zu Saint-Simon und Fourier beschäftigte er sich mehr mit Problemen des Austausches als mit denen der Produktion. 13 — Seine Soziologie baut sich auf drei Ebenen auf, nämlich der Kritik, der Theorie von der Gesellschaft und der politischen Lehre: „Die Kritik am Kapitalismus ist zugleich Kritik an der Gesellschaft des Kapitalismus. Die Beschäftigung mit ihren Widersprüchen bringt die negativen Folgen ihres Wirtschaftssystems ans Licht und den Widerstreit, den es zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen hervorruft." Der Kapitalismus ist darüber hinaus ein wirtschaftlich-gesellschaftliches System. Auch die ökonomische Kritik bezieht sich auf wirtschaftliche Widersprüche, die in Wirklichkeit gesellschaftliche sind. „Ebenso muss die Kritik am Staat weniger eine politische als viemehr eine gesellschaftliche Kritik am politischen Leben sein; das Ziel 9 10 11 12 13
Goldschmidt 1995, S. 710/711. Es ist dies einer der ersten Versuche, den Föderalismus nicht staats-, sondern gesellschaftsbezogen zu verstehen. Goldschmidt 1995, S. 711. Siehe insbesondere Ansart 1994. Bruhat 1975, S. 84.
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darf nicht sein, die Formen staatlicher Verfassung zu analysieren oder die bestmögliche Regierung zu bestimmen, sondern die politischen Strukturen im Rahmen der gesellschaftlichen Totalität ins Auge zu fassen". 14 Proudhon war trotz einer gewissen Pose der Radikalität immer schon auf der Suche nach Kompromissen. Er will jedoch in der letzten Konsequenz seine Ordnungsvorstellungen jenseits des Staates 15 realisieren, wobei das Prinzip der Reziprozität und wechselseitigen Hilfe (Mutualität) für ihn entscheidend ist. 16 Sein Werk „ist durchsetzt mit Kritik an der reglementierenden und unterdrückenden Funktion der Staatsbürokratie, in der er überwiegend einen Störfaktor für die freie Selbstorganisation der Wirtschaftsgesellschaft auf der Grundlage freiwilliger vertraglicher Vereinbarungen sah. Es ging ihm nicht darum, den Staat (und seine Institutionen) frontal zu attackieren, sondern ihn überflüssig zu machen, indem seine Funktionen von der Wirtschaftsgesellschaft resorbiert wurden." 17 Staatssozialistische Konzeptionen, wie beispielsweise die von Louis Blanc, wies er zurück, da sie erneut auf eine autoritäre Unterordnung hinausliefen. 18 Andererseits wollte Proudhon die soziale Integration und fürchtete die Anomie. Föderalismus ist ihm eine Pyramide aus freien Zusammenschlüssen, funktionsspezifisch gestreuten Institutionen und kontrollierender Bürgerpartizipation. 19 Es sei dies —jedenfalls der Tendenz nach — ein Organisationsprinzip (bottom up) auch für die Relationen der europäischen Nationen. Eine föderative Union wie in der kantonalen Schweiz und den Vereinigten Staaten sei ohnedies das einzige und wahrhafte Bollwerk gegen den Despotismus. Aufgrund seiner sozietären Orientierung hielt Proudhon gewaltsame Formen der Transition prinzipiell nicht für zielführend, obwohl er sie faktisch auch für unvermeidbar ansah, und wurde in seiner auf Gerechtigkeit bezogenen Grundausrichtung zum Reformisten und Aufklärer, zum Versöhner und Vermittler, der auf Lernprozesse setzte und weniger auf deterministische Bewegungsgesetze. Die Zukunftsharmonie und utopische Vision besteht bei ihm aus einer in freier Assozia-
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Ansait 1994, S. 19/20. Proudhons Assoziationen als „Aibeiter-Kompanien" sollten den Staat substituieren gemäß dem Motto: „Die Weikstatt wird den Staat ersetzen." Hofmann 1971, S. 60-62. — Auch Kropotkin greift auf das Prinzip der gegenseitigen Hilfe zurück. Bock 1991, S. 103. Bock 1991, S. 104. Ansart 1994, S. 120: Im Föderalismus erobert die Gemeinde, die örtliche und natürliche Menschengruppe, ihre Souveränität zurück; sie hat nämlich das Recht, sich selbst zu regieren, sich selbst zu verwalten, über die verschiedenen Arten ihres Eigentums selbst zu verfügen, Steuern festzusetzen, das Bildungswesen zu organisieren, ihre eigene Polizei zu unterhalten. Sie soll wieder ein wirkliches Zusammenleben entwickeln, was bedeutet, dass Probleme öffentlich debattiert, dass Interessen artikuliert, interne Regelungen diskutiert und ausgewählt werden. Dieser Punkt ist in Proudhons Augen von entscheidender Bedeutung: Es handelt sich nicht nur darum, eine gewisse Einschränkung des Staates durch das Vorhandensein gesellschaftlicher Gruppierungen anzuerkennen, sondern vielfältige Formen der Souveränität und somit die wirksame Freiheit der Gemeinde zu behaupten."
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tion entwickelten und sodann auf Dauer gestellten „entproletarisierten, entkapitalisierten Mitte" 20 — einer indes „pluralen Mitte" — als Gleichgewichtszentrum 21. Proudhon war also gewissermaßen ein „Anarchist der Mitte", wovon es nur wenige Exponenten gibt, zumal er drei heterogene „Leitsterne" hatte: die Bibel, Adam Smith und Hegel. Proudhon war in heutiger Sicht ein Regionalist und früher „Kommunitarist", dem Gedanken der Subsidiarität nahestehend. Allerdings war er auch ein Kleinbürger insofern, als er die soziale und politische Emanzipation der Frau ablehnte und ein ausgesprochener Antisemit war. 22 Damit indes stand und steht er bis heute leider nicht allein.
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Bloch 1985, S. 666. Ansart 1994, S. 124: „Die Spontaneität der verschiedenen Gruppierungen wird nur gesichert, wenn sich zwischen ihnen Gleichgewichtsbeziehungen herstellen, in denen Ausdehnungsbestiebungen jeder Gruppe sich durch die Autonomie der anderen angehalten sehen. Der Föderalismus muss diese Wirklichkeit von Gegensätzen und Kämpfen bestätigen, indem er sie lediglich in ein Gleichgewicht zu bringen sucht: Anstatt dem Leben der Gesellschaft eine erstickende Synthese aufzuerlegen, muss man die volle Entfaltung der Kräfte durch ein Spiel von Gleichgewichtsbeziehungen ohne Hierarchie sicherstellen." Bambach 1986b, S. 395.
17. MICHAIL ALEXANDROWITSCH BAKUNIN Gegenüber Proudhon rief Bakunin (1814-1876) nicht „Mitte" auf, sondern „Unbändiges" — und bei ihm sind Revolution und Romantik noch ein und dasselbe. Von ihm stammt der Satz, die Lust der Zerstörung sei eine schaffende Lust (gemünzt auf die Reaktion in Deutschland) und von hierher war es nicht weit zur gewalttätigen Propaganda der Tat, mit welcher Einzelne durch Austilgung Einzelner den Staat vernichten wollen (wie zum Beispiel bei Errico Malatesta). Das sind im Grunde, modern gesprochen, Anleitungen für den Guerillakampf und Terrorismus. Banditen und Desperados haben ihn fasziniert. Gleichwohl verbinden sich in der anti-etatistischen Theorie Bakunins ein monomanischer Autoritäts- und Machthass mit einer emotional ausgeprägten Freiheitsliebe, die zusammen genommen für seine partiell niedergeschriebene und vor allem im furiosen Sprechen praktizierte anarchistische Utopie konstitutiv sind. 1 Michail Alexandrowitsch Bakunin wurde im Distrikt Toijok geboren. Sein Vater stammte aus einem alten russischen Landadel und war Gutsbesitzer. Bakunin bekam Unterricht von Privatlehrern. Er wurde in die Artillerieschule von St. Petersburg aufgenommen, wo er erstmals die Enge und Unmenschlichkeit der bestehenden Verhältnisse leidvoll erfuhr. 2 1836 gab er seinen Offiziersberuf auf und zog nach Moskau, um Philosophie zu studieren, insbesondere den deutschen Idealismus. Bakunin übersetzte Teile von Schriften Fichtes und Hegels ins Russische. Aufgrund finanzieller Leichtfertigkeit kam es zum Bruch mit dem Elternhaus. Ein Stipendium von Alexander Herzen und dem Publizisten Nikolaus OgarefF erlaubte es Bakunin, seine philosophischen Studien an der Universität Berlin fortzusetzen, wo er mit Linkshegelianern Kontakt bekam und sich u.a. mit dem Schriftsteller Georg Herwegh sowie mit Arnold Rüge befreundte 3 , dem Herausgeber der „Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst". Dort publizierte Bakunin 1842 unter dem Pseudonym (und seinem Decknamen) Jules Elysard einen Aufsatz über die „Reaktion in Deutschland" mit dem berühmten Schlusssatz: „Die Lust an der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust"; hier begann seine revolutionäre Karriere. 4 Bakunin musste von Dresden nach Zürich fliehen, wo er Wilhelm Weitling, den religiösen deutschen Kommunistenfuhrer, traf. Er veröffentlichte anonym 1
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Bloch 1985, S. 667/668. — Ferner kann gelten: Bakunin hat (neben Kropotkin) den Anarchismus in der Welt bekannt gemacht (beide wurden erst im Ausland Anarchisten). Bakunins Name ist gleichsam zum Synonym für Anarchisten (in bedrohlicher Konnotation) geworden: „Ein schwarzbärtiger Mann mit blitzend-wirren Augen, eine Dynamitbombe mit brennender Lunte unter dem Arm — das ist das Schieckens- und Zerrbild, das von Bakunin gezeichnet worden ist", Lösche 1986, S. 434. — Die Personifizierung des Revolutionärs sah Bakunin teilweise in Sergej Netschajew, der später Dostojewski zur Titelfigur seines Romans „Der Besessene" inspirierte, vgl. Solms 1996, S. 116. Henckmann 1995, S. 74. Siehe die philosophischen Briefe an die beiden Freunde in Bakunin 1993. Solms 19%, S. 105/106.
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eine Serie von Artikeln im „Schweizerischen Republikaner". Weitling wuirde verhaftet und vor Gericht gestellt. Der Aufforderung, nach Russland zurückzukehren, entzog sich Bakunin, der immer wieder von russischen Agenten beobachtet und verfolgt wurde, erneut durch die Flucht, wodurch er seinen Adelstitel und die russischen Bürgerrechte verlor. Über Brüssel gelangte Bakunin sodann nach Paris. 5 Hier schloss er enge Freundschaft mit Proudhon und traf auch mit Marx zusammen. 6 Bei Marx vermisste er eine echte Beziehimg zum Volk und zur Idee der Freiheit. Marx sah in Bakunin einen „sentimentalen Idealisten", Bakunin in Marx einen „perfiden und heimtückischen eitlen Menschen". Nachdem Bakunin 1847 in einer Rede vor polnischen Emigranten die Unabhängigkeit Polens von Russland gefordert und zum Aufstand aller slawischen Völker gegen die russische Despotie aufgerufen hatte, musste er nach einer Demarche des russischen Botschafters erneut fliehen. Von Brüssel aus kehrte er beim Ausbruch der französischen Februar-Revolution 1848 jedoch nach Paris zurück. Sein Traum von der Revolution schien sich zu verwirklichen. Von den Barrikaden aus predigte er in rhetorisch-ekstatischer Weise und voller Energie den Kommunismus, die permanente Revolution und das letzte Gefecht. 7 Er tauchte überall dort auf, wo es zu Aufständen kam: in Frankfurt, Berlin, Breslau, Prag und Dresden. In Berlin lernte er auch Max Stirner kennen, in Dresden traf er auf Richard Wagner, der von Bakunin beeindruckt war. 1849 wurde Bakunin in Chemnitz verhaftet, zum Tode verurteilt, später begnadigt, über Österreich nach Russland ausgeliefert, wo er nach mehreren Jahren Kerkerhaft 1857 nach Sibirien verbannt wurde. 8 1861 gelang es ihm, über Japan und die Vereinigten Staaten nach London zu fliehen, von wo aus er sofort eine über ganz Europa verzweigte konspirative Tätigkeit zu entfalten begann. In seinem „Revolutionären Katechismus" aus dem Jahre 1866 forderte er die radikale Auflösimg aller gegenwärtig bestehenden religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen Organisationen und die Neubildung zunächst der europäischen, dann der universellen Gesellschaft auf den Grundlagen der Freiheit, der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Arbeit. 9 Es ist der Wechsel von der Philosophie in die politische Agitation, die jetzt zu seinem Lebenselixier wird. 10 Es begann auch eine erbitterte Auseinandersetzung 5 6 7 8 9 10
Er nannte sich in französischer Korrespondenz jetzt auch M. Bacounine. Henckmann 1995, S. 74, Lösche 1986, S. 435, Solms 1996, S. 106/107. Henckmann 1995, S. 74, Solms 1996, S. 107/108. Dort heiratete er die Polin Antonia Kiriatkowska und erfreute sich der Protektion des Gouverneurs von Ostsibirien, General Nikolai Murajew, vgl. Solms 1996, S. 110. Henckmann 1995, S. 74/75, Solms 1996, S. 109. Bakunin war schon vorher davon überzeugt, eine Mission zu erfüllen. So schrieb er Ende 1837 aus Moskau an seine Schwestern: „Werdet verrückt vor Freude ..., springt, tobt! ... Ich schreibe Euch. Versteht Ihr denn, was das heißt? Ich, Michael Bakunin, der von der Vorsehung Auserkorene, hierher gesandt, um durch weltweite Umstürze die verachtungswürdigen Verhältnisse und Vorurteile zu zerschlagen, um mein Vaterland der Umarmung des D-mus [Despotismus] zu entreißen und es in eine
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mit Marx. Bakunin trat immer wieder für die Revolution aufgrund der richtigen Instinkte des Volkes ein, die in eine brüderliche Vereinigung von unten nach oben mündet. 11 Bakunin erschöpfte sich im Aktivismus. In Italien — er hielt sich 1865/67 in Neapel auf — gewann er neue Ansichten, die in der Avantgarde-Vorstellung in Form „Geheimer Gesellschaften" — Bakunin war ohnedies Freimaurer — gipfelte, wie er bereits eine solchen Geheimbund in Florenz gegründet hatte. 12 1864 nahm Bakunin an der Gründung der I. Internationale teil, wo es zum Konflikt mit Marx und seinen Anhängern kam. Für die geheime revolutionäre Bruderschaft formulierte Bakunin 1866 einen „Katechismus" unter dem Titel „Prinzipien und Organisation der Internationalen revolutionären Gesellschaft". 13 Gefordert wird die ubiquitäre revolutionäre Umwandlung und „radikale Auflösung aller gegenwärtig bestehenden religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen Organisationen und Einrichtungen, und die Neubildung zunächst der europäischen, dann der universellen Gesellschaft auf den Grundlagen der Freiheit, der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Arbeit." 14 1870 stürmte Bakunin an vorderster Front das Rathaus von Lyon. Er wurde festgenommen, von seinen Freunden befreit und floh nach Marseille, erneut um eine Hoffnung ärmer. Auch der Aufstand in Marseille scheiterte, Bakunin floh inkognito auf einem Schiff nach Genua und kehrte deprimiert nach Locarno zurück. Seiner unermüdliche Revolutionstournee, seinem lebenslangen Eintreten für die Utopie, sollte nie ein durchschlagender Erfolg beschieden sein, auch wenn er in das Gelingen verliebt, immer in Bewegung und voller Leidenschaft war. Bakunins anarchistisches Programm und seine zahllosen Aktivitäten 15 mussten zwangsläufig mit den strategischen Absichten und den Hegemoniebestrebungen von Marx und Engels kollidieren. Marx/Engels sahen Begriffe wie „freie Föderation automer Gruppen", „Antiautoritarismus" und „Anarchismus" als realitätsfremde Phrasen an. 16 Kleine soziale Einheiten auf Gemeindebasis, ein von unten sich aufbauendes Gesellschaftsgefüge über Provinzen zu Nationen und von Nationen zu Vereinigten Staaten Europas erachteten Marx und Engels als illusorisch. Seine Ideen und Ansätze plakatierte Bakunin in seiner wortreichen Schrift „Föderalismus, Sozialismus, Antitheologismus" (1867/68) und in Artikeln in der von ihm redigierten Schweizer Zeitung „Egalité". Eine avantgardistische geheime brüderliche
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neue heilige Welt, in eine grenzenlose Harmonie zu verwandeln, ich schreibe Euch!" Bakunin 1993, S. 88. Die neueste Biographie stammt von Grawitz 1999. Solms 1996, S. 111. Solms 1996, S. 113. Bakunin 1978 (III), S. 7-66. Bakunin 1978 (III), S. 8. Stowasser 1995, S. 207: „.Bakunin', so sagte sein Freund Heizen einmal, .hielt den ersten Monat der Schwangerschaft für den neunten'. Diese Anspielung trifft ziemlich genau das, was ihm immer wieder vorgehalten wurde: seine .revolutionäre Ungeduld'. Bei Bakunin musste immer alles heute, hier und sofort geschehen." Solms 1996, S. 114, siehe auch MEW, Bd. 18, S. 327-445.
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Allianz sollte vor allem die von Bakunin 1868 gegründete „Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie" werden. In Marseille arbeitete Bakunin an dem umfangreichen Werk „Das knutogermanische Reich oder die soziale Revolution", das indes wie fast alle Schriften Bakunins fragmentarisch blieb. 17 Ein erster Teil erschien 1871, ein weiteres Fragment („Gott und der Staat") posthum 1882. Gegen Guiseppe Mazzinis Verurteilung der Pariser Commune veröffentlichte Bakunin zwei Streitschriften, womit er insbesondere in Italien und Spanien Anhänger gewann. In Sonderheit Bakunins organisatorische und sektiererische Betriebsamkeit führte schließlich dazu, dass er auf Betreiben von Marx aus der Internationale auf dem Haager Kongress von 1872 ausgeschlossen wurde. 18 Internationale Bruderschaften unterhalb der Internationale waren hiernach kontraproduktiv. 1873 erschien als letzte von Bakunin publizierte Schrift „Staatlichkeit und Anarchie", in welcher der freiheitlich-föderalistische Grundzug der neuen, postrevolutionären Gesellschaft bekräftigt wurde, allerdings rechnete Bakunin nicht mehr mit ihrer baldigen Realisierung. „Skeptisch und müde geworden, zog er sich von agitatorischen Tätigkeiten weitgehend zurück, wenn er sich auch 1874 in Bologna noch einmal an die Spitze eines Arbeiteraufstandes zu stellen versuchte, der jedoch im Keim erstickt wurde. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich schnell; verarmt und vereinsamt starb er 1876 im Krankenhaus eines Freundes in Bern." 19 Er verweigerte zum Schluss jede Nahrung, obwohl er ansonsten ein überaus opulenter Esser war (und nicht nur das). Bakunins Leben und Werk sind sicherlich ambivalent zu beurteilen. 20 Er glaubte fest daran, dass nach Aufhebung aller tradierten Beschränkungen „alles von selbst in Ordnung kommen wird, und Gerechtigkeit, Tugend, Glückseligkeit, Lust und Freiheit augenblicklich ihre Herrschaft auf Erden antreten werden". Er war ein begnadeter polemischer Rhetor: „Er bediente sich der Worte nicht in erster Linie, um zu beschreiben, sondern um zu entflammen und er war ein großer Meister dieser Kunst; selbst heute haben seine Worte ihre aufreizende Kraft noch nicht verloren." 21 Er liebte freie Menschen und ungebrochene Persönlichkeiten, verachtete geistige Sklaverei, brandmarkte Unterdrückung und rebellierte gegen jede
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Bakunin 1978 (I), S. 5-72. — Bakunin sah sein Leben selbst als ein Fragment. Zenker hebt mit Recht hervor: „Wo hätte er auf seiner lebenslänglichen Wanderfahrt die ruhige Muße gefunden, Gedanken ruhig zu entwickeln und in einem Werk, wie es etwas Proudhons Justice' oder Stirners ,Einziger' sind, niederzulegen. Dazu fehlte ihm aber auch die Gabe geistiger Vertiefung und ein fest gegründetes Wissen. Sein Stil hat etwas von seiner hinreißenden demagogischen Beredsamkeit, aber auch sein wissenschaftliches Verfahren erinnert an die schwunghafte und wiederholungsreiche, mehr packende als überzeugende Dialektik des Revolutionsredners. Die Pose muss bei ihm überall das Argument ersetzen." Zenker 1984, S. 104. Solms 1996, S. 115. Ferner Henckmann 1995, S. 75. Hierzu trug auch Bakunins Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts bei, das für ihn nur eine formale Kosmetik war. Es käme nur der ausbeutenden Minorität zugute. Vgl. Zenker 1984, S. 105. Henckmann 1996, S. 75. Siehe auch Berlin 1981, S. 153-163. Berlin 1981, S. 159.
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Form etablierter autoritärer Ordnung, bestand auf Freiheit in harmonischer Solidarität. 22 Seine Texte waren nicht stringent, enthielten jedoch Feuer und Phantasie. „Seine Haltung und seine Lehre waren zutiefst leichtfertig, und im Allgemeinen wusste er das auch und lachte gutmütig, wann immer man ihm auf die Schliche kam." 23 Für Bakunin war es die schlimmste Vorstellung, dass sich der Sozialismus mit dem Absolutismus verbinden könne, die Bestrebungen des Volkes nach ökonomischer Befreiung und materiellem Wohlstand mit der Diktatur und der Konzentration aller politischen und sozialen Gewalten: „Mag uns die Zukunft schützen vor der Gunst des Despotismus; aber bewahre sie uns vor den unseligen Konsequenzen und Verdummungen des doktrinären oder Staatssozialismus ... Es kann nichts Lebendiges und Menschliches gedeihen außerhalb der Freiheit, und ein Sozialismus, der sie aus seiner Freiheit verstieße oder sie nicht als einziges schöpferisches Prinzip und als Basis annähme, würde uns geradewegs in die Sklaverei und die Bestialität fuhren" (1868, in einem Brief an Chassin, Mitglied der Bakuninschen „Fraternité international"). 24 Für ihn ist auch die Diktatur des Proletariats eine Diktatur, die Herrschaft privilegierter Intellektueller ebenfalls eine Herrschaft und damit Unfreiheit. Revolutionäres Subjekt müsse das Lumpenproletariat sein, denn jede Arbeiteraristokratie unterliege über kurz oder lang der Tendenz zur Verbürgerlichung. Grundeinheit der gesellschaftlichen Neuorganisation ist ihm die russische Dorfgemeinschaft (Mir), allerdings in nicht-paternalistischer Form. Daneben stellte er sich den blutigen Vernichtungskampf und Untergang des alten Regimes gerne bildlich aufgrund des rebellischen Ansturms wilder Räuberbanden und Kosaken vor. 25 Er ist durch und durch zwiespältig, denn trotz Deutschen- und Judenhass verfolgte er kosmopolitische Ansprüche. 26 Alles in allem waren das Naturell Bakunins und seine intellektuelle Begabung „eher rhapsodisch-intuitiv und nicht systematisch-konstruktiv".27 Freiheit und Emanzipation waren für ihn vor allem Produkte des aktiven Lebens und kompromisslosen Kampfes. Es sind dies die Charakteristika eines voluntaristischen Radikalismus und Fanatismus, der der verkommenen Realität ein euphemistisches „Dennoch"/„Trotzdem" entgegenhält und ihr eine gerechte Gegenwelt abringen will — da es offenbar nicht anders geht, auch mit beschleunigender Gewalt. Das ist eine Crux apodiktischer Utopien, die wir in Teil III noch erörtern werden. 22 23 24 25 26 27
Berlin 1981, S. 156, 159. Berlin 1981, S. 160. Bakunin wurde auch der „russische Bär" genannt und war insgesamt ein ziemlich wilder Vogel (ganz im Gegensatz zum introvertierten Max Stirner). Zit. nach Bloch 1985, S. 668. Berlin 1981, S. 157: „Wie Weitling ruft er den Bodensatz der Unterwelt und besonders die unzufriedenen Bauern, die Pugatschows und Rasins, auf, sich wie ein neuer Samson zu erheben und den Tempel der Ungerechtigkeit zum Einsturz zu bringen." Lösche 1986, S. 437. Solms 1996, S. 122.
18. WILHELM WEITLING Wilhelm (Christian) Weitling (1808-1871), für Ernst Bloch „einer der letzten rein utopischen Köpfe", hat uns vielleicht „nicht das reichste, wohl aber das sehnsüchtigste, wärmste Bild einer neuen Zeit" gegeben: „Er war als Proletarier geboren, das allein schon unterscheidet ihn von den anderen hier behandelten Weltverbesserern. Auch Proudhon war zwar plebejischer Herkunft, doch er schwang sich bald in die kleinbürgerliche Klasse auf und sprach aus ihr. Der Druckereibesitzer Proudhon sprach aus seinen Kreditsorgen, der Handwerksbursche Weitling sprach aus proletarischem Elend und aus dem dämmernden Bewusstsein seiner Klasse. Demgemäß fehlt auch der Ton des Mitleids, den vornehmere Utopisten so oft gegen die Ärmsten an den Tag legen; bei Weitling kommen Erbitterung und Hoffnung aus eigenem Leid." 1 Weitling wurde als unehelicher Sohn eines Dienstmädchens und eines französischen Besatzungsoffiziers in Magdeburg geboren. Sein Erzeuger war seit dem Russlandfeldzug Napoleons 1812 verschollen und seine Mutter musste ihren Sohn zu fremden Leuten in Kost geben. Immerhin konnte er die mittlere Bürgerschule besuchen. Auch erfuhr er eine intensive religiöse Erziehung. Weitling erlernte das Handwerk eines Damenschneiders und begab sich im Jahre 1826 auf die traditionelle Wanderschaft, die ihn über Hamburg, Leipzig, Dresden und Wien 1835 nach Paris führte. Er lernte die Schriften der französischen Sozialisten kennen und schloss sich einem geheimen „Bund der Geächteten" an, aus dem später der „Bund der Gerechten" hervorging. Er formulierte 1838 in dessen Auftrag und als Mitglied der Zentralbehörde seine erste Schrift, in der die Realisierbarkeit der Gütergemeinschaft veranschaulicht werden sollte. Es ist seine erste Arbeit unter dem Titel „Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte", die zur ideologischen Grundlage des Bundes wurde. Hierin preist Weitling die Gütergemeinschaft als das „Erlösimgsmittel der Menschheit", das die Erde in ein Paradies und zu einem „Familienbund der Menschheit" umwandeln könne. 2 Die Schrift wurde in zweitausend Exemplaren geheim gedruckt und in noch größerer Zahl privat vervielfältigt. Für eine Multiplikation sorgten vor allem die wandernden Handwerksburschen in Frankreich, Deutschland und in der Schweiz. — 1841 ging Weitling für den Bund der Gerechten, dessen Zentrale nach London verlegt wurde, in die Schweiz, um dort als kommunistischer Propagandist zu agieren. Er gab in Genf die Monatszeitschrift „Der Hülferuf der deutschen Generation" heraus, die sodann als „Die junge Generation" fortgeführt wurde. 1842 erschien sein Hauptwerk „Garantien der Har-
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Bloch 1985, S. 670. Haefelin 1991, S. 87. Siehe auch Bambach 1986c, S. 395/396.
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monie und Freiheit" 3. Im ersten Teil stellte er die Entwicklung vom paradiesischen Urzustand zur gegenwärtigen inhumanen Gesellschaft dar, wobei die Missstände auf das Eigentum („die Ursache allen Übels") und das Geld zurückzuführen seien, im zweiten Teil wird dargetan, dass in einer kommunistischen Gemeinschaft der Arbeit und der Güter der gesellschaftliche Idealzustand wiederhergestellt werden könne, notfalls mit Gewalt. 4 — 1843 zog Weitling nach Genf. Er versuchte dort, einen Drucker für sein Werk „Das Evangelium der armen Sünder" zu finden. Aufgrund des Subskriptionsprospektes, in dem die Affinität von Urchristentum und Kommunismus aufgezeigt wurde, wandte sich der Zürcher Kirchenrat an die Staatsanwaltschaft. Es kam 1843 vor dem Zürcher Kriminalgericht zum ersten eigentlichen Kommunistenprozess im deutschsprachigen Raum. Weitling wurde in juristisch fragwürdiger Weise erst zu sechs Monaten, in zweiter Instanz zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die er absaß 5 und nach Preußen deportiert wurde, das ihn nach England abschob. Dort versuchte er, eine „Denk- und Sprachlehre" zu entwickeln, was in der kommunistischen Szene auf Unverständnis stieß. Anfang 1846 traf Weitling in Brüssel mit dem jungen und noch kaum bekannten Karl Marx zusammen, was rasch zu einem unversöhnlichen Streit zwischen beiden führte. Weitling wollte die sofortige kommunistische Revolution, während Marx und Engels zunächst der Monarchie die bürgerliche Republik abringen wollten. 6 In dem 1847 aus dem Bund der Gerechten hervorgegangenen „Bund der Kommunisten" spielte Weitling keine Rolle mehr. Weitling sah sich in der Arbeiterbewegung mehr und mehr isoliert und ging nach New York, wo er einen geheimen „Befreiungsbund" mitgründete. Als Delegierter dieses Bundes ging er im Hinblick auf die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 nach Europa zurück. Er gab in Berlin noch fünf Nummern der von ihm gegründeten Wochenschrift „Der Urwähler" heraus, wurde ausgewiesen, agitierte nicht ohne Erfolg in Hamburg, wo er ebenfalls relegiert wurde und in die USA zurückreiste. In New York gab er von 1850-1855 die „Republik der Arbeiter" heraus und gründete 1852 den „Arbeiterbund", der rd. 5000 Mitglieder auf sich vereinigte. Sein (auch eigenes finanzielles) Engagement mit Mitteln des Bundes für die protokommunistische Kolonie „Communia" scheiterte, auch der Bund kollabierte und die Zeitschrift musste ihr Erscheinen einstellen. — Weitling zog sich 1855 in sein Privatleben zurück, gründete eine Familie (mit innerhalb kürzester Zeit acht Kindern) und arbeitete im New Yorker Einwanderungsbüro. Daneben trieb er technische und astronomische Studien mit teilweise bizarren Vermutungen und absurden Behauptungen. Er wurde immer mehr von materieller Not bedrängt und starb in New York Anfang 1871. 7 3 4 5 6 7
Nach dem Zeugnis Heinrich Heines „lange Zeit der Katechismus der deutschen Kommunisten", vgl. Hofmann 1971, S. 78. Haefelin 1991, S. 89, Bambach 1986c, S. 396. Zu seiner Gefängniszeit siehe u.a. Weitling 1977. Weitling setzte auf die sofortige Aktion, auch war dem Autodidakten Weitling die deutsche Philosophie viel zu abstrakt und zu wenig auf die Realität bezogen. Haefelin 1991, S. 89/90, Bambach 1986c, S. 396.
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Weitling trat immer wieder ein für eine „Republik der Gleichen". Marx fand für Weitlings theoretisches Hauptwerk „Garantien der Harmonie und Freiheit" in Relation zu seinen sonstigen Verrissen sogar ein gewisses Lob, verhöhnte ihn aber später ob seines „utopischen Dünkels". Für Bloch handelte es sich bei Weitling um einen nicht militanten, sondern lyrischen Sozialismus. In „Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte" käme eine naive, kraftvolle und ergreifende Volkssprache zum Ausdruck, „voll von altem Urständ und christlichem Traum", indes mit einer illusionslosen Einschätzung der herrschenden Klasse. Alle Schriften des Proleten Weitling sind christlich eingebettet und entfalten einen besonderen Reiz: „Weitling war kein großer Architekt, aber sein Luftschloss hat besonders humane Maße. Etwas von der guten Hand der Frauen ist darin, ein Stück weiblich-mütterlicher Utopie, welche Krieg und Rohheit, Ausbeutung und Tyrannei aus dem Grund des Herzens verabscheut. Erst recht ist ein Stück Arbeit des Zimmermannssohns in Weitlings Bau enthalten, ein Bestandstück urchristlicher Liebe. ... Weitling suchte eine rote Gewerkschaft des Proleten Jesus, er meinte einen Sozialismus, der sich nicht einmal davor hütet, erbaulich zu sein. Weitlings Traum hat, mit viel Bitterkeit und Reinheit, in ein Gelobtes Land geblickt, als Marx und Engels gerade begonnen hatten, die wirklichen Zugänge dahin zu entdecken und zu eröffnen." 8 Weitling plädierte für eine Gütergemeinschaft. In einer entsprechend eingerichteten Gesellschaft wäre die ungleiche Verteilung von Arbeit und Genuss beseitigt. Die Verwaltung sollte durch Expertenkooptation erfolgen, so dass keine Regierung notwendig sei. Die Arbeitspflicht beträgt 3-6 Stunden, es ist aber auch möglich, zusätzlich zu arbeiten (und dafür Gutscheine zu erwerben für einige „Güter des Angenehmen"). Im politischen Zusammenleben sollte nur die sachliche Befähigimg zu einem öffentlichen Amt qualifizieren. Diese Leistungspersonen werden aufgrund von Wettbewerbsleistungen selektiert und genießen keinen abgehobenen besonderen Status. Allerdings erhalten Erfinder bei der Fähigkeitsauslese ein besonderes Stimmrecht und sind partiell von der Arbeitspflicht befreit. Die Verwaltung sollte eine triadische Spitze haben, bestehend aus den größten „Philosophen" mit vorzüglichen Kenntnissen in der Heilkunde, der Physik und Mechanik. 9 Diese sachliche Autopoiese der Gesellschaft führe dazu, dass die Rolle der anwendungsorientierten Wissenschaften zunehmend zur Geltung käme. Für das Zusammenleben der Völker erhoffte sich Weitling eine Erosion der nationalen Grenzen und eine Menschheitsverbrüderung, unterstützt durch eine Weltsprache. Den Weg zur neuen Gesellschaft aber sieht Weitling in der Revolution, womit jede radikale und progressive Gesellschaftsänderung umfänglicher Art gemeint ist. Das Werk der Befreiung sollte durch die Unterdrückten selber vollbracht werden, wobei er die gewaltsame Form für wahrscheinlicher hielt als die gewaltfreie: „Eure 8 9
Bloch 1985, S. 671-674. Weitling 1974, S. 160. Philosophie wird hier als epistemologisches Konzentrat aller Wissenschaften verstandea
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Hoffnung liegt nur in euerem Schwerte".10 Insofern konzipierte er die dem Umsturz folgende Phase als (zeitlich begrenzte) Diktatur, und zwar als charismatische Einzeldiktatur. Er setzte in diesem Kontext auch auf einen „zweiten Messias", was nicht jeden seiner Leser überzeugte. Auch konnte sich Weitling, der stets auf ein sofortiges Losschlagen drängte n , gut vorstellen, die Umsetzung seiner revolutionären Hoffnungen auch mit Hilfe einer Armee aus Berufsverbrechern zu organisieren. Wie quasi aus einer „Panzerknackerbande" ein neuer Messias herauskommen sollte, muss allerdings ein Rätsel bleiben. 12
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Weitling 1971, S. 155. Haefelin 1991, S. 92: „Seine Annahmen bezüglich der Vorbedingungen, des Zeitpunkts und der Durchführung der ersehnten Revolution bilden die größte Schwachstelle seines Systems, ist er doch der Ansicht, dass der Sprung in die Mustergesellschaft grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt — ungeachtet der jeweiligen ökonomischen und historischen Voraussetzungen — möglich ist. In der Tradition der Aufklärung stehend, glaubt er, dass zur Herbeiführung der Revolution das Überzeugen der Massen durch die Zukunftsvision einer glücklichen Menschheit und Appelle an die Vernunft ausreichea Da er sein Gesellschaftskonzept für sofort realisierbar hält, lehnt er eine Beteiligung der Arbeiterschaft am Kampf für einen bürgerlichen Staat ab. Dies wäre nur ein unnötiger, zeit- und kräfteraubender Umweg." Freilich sieht es in einigen Passagen so aus, dass Weitling die Rolle des „neuen Messias" auf sich zugeschnitten hat, vgl. Haefelin 1991, S. 92/93.
19. ALDOUS HUXLEY In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliert die positive Utopie allmählich ihre Hegemoniefäigkeit auch im Diskurs der europäischen Linken und wird von der negativen bzw. schwarzen Utopie, der Dystopie, abgelöst. 1 Die Entwicklung zu total reglementierten Gesellschaften wird als Schreckensvision an die Wand gemalt. Es kommt in diesem Kontext zu einem sich wandelnden Verhältnis zur Technik und dem mit ihr konnotierten Fortschrittsbegriff. Es wird auch befürchtet, dass die Technik/Technologie instrumentalisiert wird als ein Mittel der Unterdrückung (psychisch, physisch und genetisch). Ebenso erfolgt eine negative Antizipation des Sozialismus nach der Oktoberrevolution 1917, die nicht zum „Reich der Freiheit" führte. Ideologie und Technokrate machen den Einzelnen zu Objekten von repressiver Herrschaft und steuernder Manipulation. Ein bislang nicht gekannter Totalitarismus, in welchem das Individuum psychisch und physisch verkrüppelt, kontrolliert, eingeschüchtert oder still gestellt wird, wird entsprechend ausgemalt und zu Utopien verarbeitet. Dies gilt in unterschiedlicher Weise beispielsweise für Samjatins „Wir" 2 im Osten sowie für Huxleys „Brave New World" und Orwells „1984" im Westen. Aber auch diese Utopien sind gewissermaßen pfadabhängig, denn in ihnen tauchen fast alle Elemente auf, die in der klassischen etatistischen Utopietradition seit Morus bereits eine zentrale Rolle spielten. 3 Die Furchtutopien rekurrieren insofern auf Struktur- und Argumentationsmuster der positiven Utopien. Gleichzeitig wird das utopische Ideal entzaubert und der Gegenstand der Sozialkritik ausgewechselt. An die Stelle der Ausbeutungsmechanismen der realen Gesellschaften treten jetzt die repressiven Mechanismen des utopischen Gemeinwesens selbst, die dialektisch mit kurrenten soziohistorischen Tendenzen verknüpft werden. Zugleich werden die inhumanen Verhältnisse und Entwicklungen auf die normativen Grundlagen selbst bezogen, hierdurch für die Rezipienten problematisiert und als Fanal ausgestaltet. 4 Der Schriftsteller Aldous Huxley (1894-1963) gilt als einer der großen zivilisationskritischen Mahner der 20. Jahrhunderts und als Chronist der Krise des modernen Bewusstseins. Für ihn droht der modernen technologischen Gesellschaft ein Rückfall in die Barbarei, wenn sie es nicht lernte, Technik und Tradition, Spezialisierung und ganzheitliche Lebensformen miteinander zu verbinden. Er schrieb zwei Anti-Utopien: „Schöne neue Welt" (1932) und „Affe und Wesen" (1948). In der „Schönen neuen Welt" warnt er vor einer sterilen konfliktlosen Gesellschaft 1 2 3 4
Saage 2000a, S. 324-330. Saage spricht von einem dialektischen Umschlag zur Epoche der negativen Utopien. Vgl. Meyer 2001, S. 385401. Saage 2000a, S. 329. Saage 2000a, S. 330/331.
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ohne Kreativität und Vergangenheitsbewusstsein, in „Affe und Wesen" 5 wirft der blinde Fortschrittsglauben die eine atomare Katastrophe im Jahre 2108 überlebenden Menschen in ein tierisches Stadium zurück. Huxley wurde 1894 in Godalming in England geboren. Er stammt aus einer der bekanntesten Gelehrten- und Wissenschaftlerfamilien Englands. So war u.a. sein Vater Herausgeber des „Cornhill Magazine" und sein Bruder Julian ein bekannter Zoologe und erster Direktor der Unesco. Aldous Huxley wurde in Eton und Oxford erzogen. Ein Studium der Medizin konnte er aufgrund der Erblindung eines Auges nicht in Angriff nehmen. Er studierte dann mit Erfolg Anglistik und Philosophie. Er arbeitete kurz als Lehrer, sodann als Journalist, Kunstkritiker und Dozent für englische Literatur. Huxley unternahm zahlreiche Reisen und hielt sich mehrere Jahre in Italien und Frankreich auf. Eine Weltreise nach Indien, Japan und Amerika weitete den Blick für die globalen ökologischen Probleme. Amerika, besonders Los Angeles, erschien ihm fremder als Indien. Im leerlaufenden Amüsierbetrieb der materiell übersättigten Stadt deuten sich spätere Themen seiner „Brave New World" an. Dennoch zog Huxley mit seiner Frau, einer Belgierin, in die Staaten und lebte seit 1937 als freier Schriftsteller in Kalifornien. Er lebte dort entweder in der Wüste oder in Hollywood, das ihn gleichermaßen anzog wie abstieß. Er schreibt auch Drehbücher und befreundete sich mit Charlie Chaplin und Orson Welles. In Amerika war er auch des Öfteren als Gastprofessor tätig. Huxleys Romane sind vordergründig vom Pessimismus und der intellektuellen Selbstzerfleischung des Spätbürgertums gekennzeichnet. Indes wird bei näherem Ansehen deutlich, dass Huxley als „man of letters" von viktorianischem Format ist, jedoch ausgestattet mit einem hochmodernen Bewusstsein, der die Krise der Zivilisation mit diagnostischer Schärfe und einem Einsatz für die humane Zukunft analysiert hat. Die wirkliche Revolution könne nur in den Seelen und Körpern der Menschen statthaben. Huxley war vor allem Essayist 6 , Romancier und Kulturkritiker mit einem breiten literarischen Schaffen (so auch Theaterstücke, Stellungnahmen zu Fragen der öffentlichen Moral, Übersetzungen fernöstlicher Weisheiten, Lebensbilder von Künstlern, Selbsterfahrungsberichte über eine Naturheilmethode des Sehens und über Drogenexperimente (mit Meskalin) unter dem Titel „Die Pforten der Wahrnehmung" 7). 1955 stirbt seine Frau, von ihm liebevoll an die Schwelle geleitet. Huxley heiratet wieder und wandte sich mehr und mehr der Erforschung parapsychologischer Phänomene zu. Er verkraftet es auch mit stoischer Ruhe, dass ein Buschfeuer sein Haus mit allen Büchern (6000 Bände) und Papieren vernichtete. Zum Schluss war er ein tiefgläubiger Esoteriker mit einem Hang zum Buddhismus. Huxley war jedoch ein zuversichtlicher Mystiker, der den Menschen im All-
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Huxley 1988, vgl. Meyer 2001, S. 339-345. Huxley 1994c. Huxley 1977.
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gemeinen wenig zutraute, aber unentwegt auf die Kraft des Einzelnen setzte. Er war lebensfroh und zynisch zugleich, aber immer voller menschlicher Würde und Gelassenheit. Wie kein anderer war er an der Vielfalt der Existenz interessiert, und vor allem glaubte er an die Göttlichkeit des Lebens und der Liebe. Er wollte die Welt in allen ihren Zusammenhängen — Körper und Geist, Sinnlichkeit und Intellektualität, Innen und Außen 8 — verstehen lernen, wobei er von einer Kontrapunkt-Theorie ausging, denn man dürfe die Dinge nicht nur von einer Seite betrachten. Er war äußerst gebildet und kultiviert, auch schrieb er ein brillantes Englisch, allerdings war es ihm wohl nicht gegeben, plastische Figuren zu erfinden. In all seinen Romanen wird mehr geredet als gehandelt. 9 Gleichwohl war Huxley ein überaus erfolgreicher Schriftsteller — „Brave New World" wurde in zwanzig Sprachen übersetzt und ist ein grandioser Longseller —, wenngleich er als Essayist stilistisch sicherlich bedeutender war. So hat er nicht ganz von ungefähr neben zwölf Romanen etwa das Vierfache in essayistischer Prosa geschrieben. Immerhin (und das hebt die obige literarische Kritik wieder auf) verstand es Huxley wie nur wenige Schriftsteller, unbeschwert und virtuos mit Ideen zu spielen. 10 Er besaß innerlichen Charme und Integrität, beides ziemlich rare Eigenschaften. 11 Isaiah Berlin hebt hervor: „Vielleicht hat seit Spinoza niemand mehr so leidenschaftlich und klar an den Grundsatz geglaubt, dass nur Wissen allein befreit, und zwar nicht nur Wissen in Physik, Geschichte, Physiologie oder Psychologie, sondern das sehr viel breitere Panorama des möglichen Wissens, das frei zugängliche und geheime Kräfte umfasst, die dieser unendlich aufnahmefähige und alles verschlingende Leser in ständigem Wechsel zwischen Entsetzen und Hoffen unaufhörlich entdeckte." 12 Huxley war zeitlebens Weltverbesserer und Wahrheitssucher, verbunden mit einer „besonderen Sensibilität für die Konturen der Zukunft". 13 Sein literarischer Widerspruch galt dem reduzierten, verstümmelten und entleerten Leben. 14 Er war ein Moralist und dem Rätsel der Realität auf der Spur, deren Paradoxien und Absurditäten er nicht an ein Dogma binden oder einem fixen System subsumieren wollte. Ein Jahr vor seinem Tod erschien seine fast verzweifelt hoffnungsvolle
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Berlin 2001, S. 288. Hemingway urteilte: „Wenn ein Autor sein intellektuelles Gegrübel, statt es in preiswerten Essays abzusetzen, künstlich konstruierten Charakteren, die sich als Romanfiguren besser verkaufen, in den Mund legt, dann ist das vielleicht wirtschaftlich sinnvoll, aber noch lange keine Literatur." Auch Huxleys Freund und Schriftstelleikollege D.H. Lawrence verzweifelte fast an Huxleys intellektuellen Pappkameraden, die immer nur Weisheiten von sich gaben, aber nie richtig zum Leben kamen. Berlin 2001, S. 286. Berlin 2001, S. 288. Berlin 2001, S. 290. Berlin 2001, S. 291. Berlin 2001, S. 294 verweist darauf, dass Huxley wie Tolstoi ein zentrales Thema hatte: das unnatürliche Leben des modernen Menschen.
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Utopie „Eiland". 15 Hier sind Technik und Wissenschaft partnerschaftlich mit der Natur verbunden, ja versöhnt, und es herrscht ein transzendentales Ganzheitsdenken vor. Es wird ein Harmonie-Ideal jenseits der säkularisierten Vernunft verankert, welche das Individuum von der Last des autonomen Ichs befreit im Sinne einer positiven Harmonie. Dies gelingt jedoch nur im Zustand mystischer Erfahrung, die herbeizufuhren der Gebrauch von Drogen ein legitimes Mittel ist. Allerdings ist die pazifistische Eiland-Idylle nicht von Dauer, sondern wird von außen zerstört. Am Ende der „Eiland"-Utopie kommt wieder Huxleys altes Stilmittel, die absurde Antiklimax, zur Geltung: Die endgültige Erleuchtung der Hauptfigur, eines fremden Besuchers, fallt mit der Invasion durch einen benachbarten Diktator zusammen. Die Panzer, die die geglückte Gesellschaft niederwalzen, sind mit amerikanischem Geld geschmiert. Auf der glücklichen Insel wird Öl vermutet. Aldous Huxley starb am 22. November 1963 in Hollywood. Er litt an Zungenkrebs. Seiner zweiten Frau, einer italienischen Violistin und Psychologin, kritzelte er kurz vor seinem Ableben auf den Schreibblock die Worte: „Versuch es mit 100 Mikrogramm LSD, intramuskulär". So geschah es, und der Schlüssel zu seiner Drogenmystik liegt wohl in einem Wort seines Lieblingsdichters William Blake begründet: „Wenn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt sind, wird alles dem Menschen so erscheinen, wie es ist — unendlich." Sein Tod wurde von der Weltöffentlichkeit nur am Rande bzw. mit einiger Verspätung wahrgenommen, weil am selben Tage ein bedeutender, charismatischer Politiker in Dallas/Texas erschossen wurde, der amerikanische Präsident John F. Kennedy. 16 Hinsichtlich Huxleys „Schöner neuer Welt" aus dem Jahre 1932 richten wir uns nach der deutschen Übersetzung, in der die Personen teilweise andere Namen tragen und die Handlung von England nach Deutschland verlegt wurde. 17 — Die Geschichte spielt im Jahre 632 „nach Ford" 18, ist also an den USA und den Prolongierungen von Zukunftsvisionen im dortigen Zivilisationsraum orientiert. Die schöne neue Welt mit ihren Liften und Hubschraubern, mit ihrem Fortschrittsglauben und Glücksversprechen ist unverkennbar amerikanischen Ursprungs. 19 Im ersten Teil wird der Leser in die Gesellschaft der „Sorna-Kultur" 20 eingeführt, im 15 16 17 18 19 20
Huxley 1994b. Schumacher 1992, S. 125. Zur Problematik der Übersetzung/Übertragung von Heiberth E. Herlitschka siehe Bode 1993, S. 144146. Diese neue Zeitrechnung beginnt mit dem Jahre 1908, als Henry Ford mit dem T-Modell den Automarkt überschwemmte und die Fließbandproduktion durchsetzte. 632 nach Ford entspricht unserem Jahr 2540, vgl. Schumacher 1992, S. 127, Anm. 54. Auf Amerika ist die Huxley-Studie Adornos in besonderer Weise bezogen, Adorno 1998. Der Begriff Sorna bezieht sich auf den menschlichen Körper und auf die psychosomatischen Erkrankungen unserer Zeit. Im Roman ist Sorna ein rauscherzeugender Pflanzenextrakt, ein Psychopharmakum, mit dessen Hilfe die Menschen der „schönen neuen Welt" auf eine gleiche Gefühlsund Empfindungsstufe gebracht werden können. Im Hinduismus ist Sorna ein Schlaftrunk. — Der Titel „Schöne neue Welt" verdankt sich im Übrigen einem Shakespeare-Zitat, denn in Shakespeares „Sturm" ruft Miranda aus, als sie nach dem Schiffbruch die Märcheninsel betritt und einer Gruppe von
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zweiten Teil erfahrt man, wie sich die Einrichtungen der schönen neuen Welt auf einen ihr nicht Angehörigen auswirken. Der Roman enthält zahlreiche Haupt- und Seitenstränge mit häufigem Episodenwechsel und ist mit seinen „Schnitten" dem Medium des Films affin. Mit den Mitteln der Satire überwindet Huxley zugleich den Fortschrittsoptimismus der Utopien von H.G. Wells anfangs des 20. Jahrhunderts, gegen die zu polemisieren der Anlass für Huxley war, eine solche Arbeit überhaupt in Angriff zu nehmen. 21 — Das Lebenselixier, ohne das die ganze schöne neue Welt Huxleys nicht hätte funktionieren können, heißt Sorna. Alle nehmen es, denn in Huxleys Ford-Reich fungieren sie als Glückspillen. — Der Leser wird über eine Studentengruppe in die erstaunliche Welt des Jahre 632 nach Ford hineingeführt; es ist das 26. Jahrhundert nach Christus. Alles scheint erreicht: Der Krieg ist für immer gebannt; Arbeitslosigkeit, Armut und Verbrechen sind unbekannt; Krankheit, Einsamkeit und Angst ist der Boden entzogen, das Sterben geschieht schnell und schmerzlos. — Doch fangen wir vorne an, bei der Erzeugimg. Die jungen Leute besuchen die „Brut- und Normenzentrale Berlin-Dahlem" und lernen die biochemischen Prozesse als Voraussetzung kennen, die dem Weltstaat unter dem Wahlspruch „Gemeinschaftlichkeit (community) — Einheitlichkeit (identity) — Beständigkeit (stability)" 22 seine Besonderheit verleihen. Dieser allgemeine Wahloder Leitspruch des ganzen Erdballs wandelt die Parolen der Französischen Revolution um in Richtung auf Gemeinsamkeit, die wiederum die totale Konditionierung aus der Retorte meint. Der Direktor der Brut- und Normenzentrale (BUND) erläutert den Besuchern die verschiedenen Verfahren und den Zweck der einzelnen Abteilungen. Es geht im Ergebnis um die gewünschte Massenproduktion von Menschenwesen in verschiedenen Sorten und um die soziale Festlegung: „Wir prädestinieren und normen auch. Wenn wir unsere Kleinlinge entkorken, haben sie bereits ihren festen Platz in der Gesellschaft." 23 Beabsichtigt ist damit, dass die Menschen ihre unumstößliche soziale Bestimmung lieben lernen: „Tue gern, was du tun musst" ist der Stabilitätsgrund der globalen Gesellschaft. Die Studentengruppe zeigt sich tief beeindruckt, auch wenn ihr nicht alle Details erklärt werden können, denn die kleinen Einzelheiten seien es, die tüchtig und glücklich machten. Gesamtüberblicke hingegen seien
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Einheimischen ansichtig wird: „O WunderlAVas gibt es für herrliche Geschöpfe hierlAVie schön der Mensch ist!/Schöne neue Welt, die solche Bürger trägt!". Allerdings lassen sich auch bei Wells gesellschaftskritische Intentionen aufzeigen. Vgl. Gnüg 1999, S. 163-169, Seeber 1986. Popper zitierte Wells gerne mit der Aussage, dass erwachsene Menschen keine Führer brauchen. Die Interpretation Adornos lautet: „Community definiert einen Stand der Gemeinschaft, in dem jedes Einzelwesen unbedingt dem Funktionieren des Ganzen untergeordnet ist, nach dessen Sinn in der Neuen Welt keine Frage mehr erlaubt oder auch bloß möglich sein soll; Identity die Auslöschung individueller Differenzen, Standardisierung bis in den biologischen Grund hinein; Stability das Ende jeglicher gesellschaftlichen Dynamik." Adorno 1998, S. 100. Huxley 1994a, S. 30.
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für den Geist von Übel. Hingegen könne gelten: „Nicht Philosophen, sondern Hobbybastler und Briefmarkensammler bilden das Rückgrat der Menschheit." 24 Die bio-chemische Fließbanderzeugung und Prädestination des Lebens ist untergliedert in die Kaste der Alphas, Betas, Gammas, Deltas oder Epsilons. 25 Letztere ist die schlechteste der Menschengruppen, ohne jede Intelligenz; es sind die zukünftigen Kulis und Roboter. Die Säuglinge werden im Hinblick auf das angemessene Staatsverhältnis und Kastenbewusstsein geschult, und zwar durch Gewöhnung an unterschiedliche Kleidung, durch Farbimpulse, Schrecksignale und Elektroschocks. Der Aufbau von Feindbildern, genannt werden „Kinderbücher und Blumen", erfolgt in den Neo-Pawlowschen Normungssälen. Hier werden die Säuglinge in ihrem natürlichen Empfinden umgepolt. Freude wird brutal zerstört. Statt dessen wird der Hass normiert, vor allem gegen landschaftliche Schönheiten. Alte Sprachen und Geschichte sind ohnedies überholt. Es gibt keine Literaturerziehung mehr, sondern nur noch Elementarkunde im Sexualverhalten. Bereits im Kleinkindalter werden die Anfangsgründe des Kastenbewusstseins und die weiteren Instruktionselemente aufgrund hypnopädischer Infiltration festgelegt. Unter Hypnopädie oder Suggestopädie wird eine bestimmte Schlaflernmethode verstanden: Einflüsterungen, die -zigmal wiederholt werden, und zwar in der Regel 120 Wiederholungen, dreimal die Woche, dreißig Monate lang. Vor allem soll auch die sittliche Bildung nicht über den Verstand laufen. Diese Methode der frühkindlichen Einflüsterung des Staates wird seit 214 nach Ford mit Erfolg angewandt. — Die Studenten lernen auch die Spielstunden der kleinen Jungen und Mädchen kennen, die auch einfache sexuelle Spiele umfasst. Sodann tritt seine Fordschaft Mustafa Mannesmann auf, der Herr Weltaufsichtsrat. Die Weltaufsichtsräte, abgekürzt WAR, stellen die Exekutive des Weltstaates dar, dem auch der Norm- und Brutdirektor untergeordnet ist. Es gibt insgesamt zehn Weltaufsichtsräte und Mustafa ist der Weltaufsichtsrat für Westeuropa. — Von nun an arbeitet Huxley mit ständigen Raumwechseln und unterschiedlichen Personen. Es tritt als BundAngestellter auch ein gewisser Sigmund Marx auf, der als eine etwas anrüchige Erscheinung dargestellt wird. Der Weltaufsichtsrat Mustafa beginnt mit seiner studentischen Unterweisung. Sie basiert auf dem schönen und wahren Ausspruch Fords des Herrn, nämlich: „Geschichte ist Mumpitz". 26 In den Worten von Mustafa sind geschichtliche und soziokulturelle Erfahrungen nichts wert. Er wischt alles weg: Theben, Babylon, Konossos und Mykenae, Odysseus und Hiob, Jupiter, Buddha und Jesus, Athen und Rom, die er „kleine alte Dreckhäufchen" nennt, ferner Jerusalem, König Lear, Pascal, die Matthäuspassion, Mozarts Requiem, Beethovens Neunte. Diese Dinge seien irgendwo in einem Geheimtresor ar24 25 26
Huxley 1994a, S. 21. Adorno 1998, S. 101: „Das verewigte Klassenverhältnis wird in die Biologie verlegt, indem die Zuchtdirektoren über die Zugehörigkeit zu den mit griechischen Buchstaben registrierten Kasten schon bei den Embryos entscheiden." Huxley 1994a, S. 49.
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chiviert, aber von geringem Wert. Das alles müsse man vergessen, genau wie den Begriff „Familie", das Wort „leibhaftige Mutter" und so etwas wie „trautes Heim". Die Studenten wissen mit diesen widerwärtigen Worten ohnehin kaum noch etwas anzufangen. Das „traute Heim" sei ein „seelischer Kaninchenstall" gewesen, „ein Misthaufen, dampfend von der Reibung zusammengepferchten Lebens, stinkend vor Gefühlen". 27 Ford der Herr — oder Freud der Herr, wie er sich auch nannte, wenn von psychologischen Dingen die Rede war — hatte als Erster die entsetzlichen Gefahren des Familienlebens enthüllt. Damals gab es noch die Einehe und so etwas wie Romantik, einfach grauenhaft. Heute habe man das kleinmütige Eindämmen aller Triebe und Kräfte durch personale Fungibilität endgültig überwunden, denn: „Jedermann ist seines Nächsten Eigentum." 28 — Die Studenten nicken voller Überzeugung. Mehr als 62.000 Wiederholungen zur Schlafenszeit hatten ihnen diesen Spruch als selbstverständlichen und unumstößlichen Grundsatz eingebleut. Früher hatte man noch so etwas Grässliches wie persönliche Freiheit und die Schlafschulen waren tatsächlich verboten. Man hatte so etwas wie Demokratie und das immer wieder beantragte Kastenwesen wurde abgelehnt, als ob es eine andere Gleichheit gäbe als die physikalisch-chemische. Anno Ford einhundertundvierzig begann der Neunjährige Krieg, einhergehend mit dem großen Wirtschaftszusammenbruch. Es gab nur die Wahl zwischen Weltaufsicht und Vernichtung. Es kam zum berühmten Gemetzel im Britischen Museum. Endlich gelangten die Aufsichtsräte zur Einsicht, dass es mit Gewalt nicht ginge. Die zwar langsameren, aber ungleich verlässlicheren Methoden der künstlichen Zeugung, der Neo-Pawlowschen Reflexnormung und der Hypnopädie wurden eingeführt in Verbindung mit einem Feldzug gegen die Vergangenheit: Schließung der Museen, Sprengung der Denkmäler und Einbehaltung aller vor 150 nach Ford erschienenen Bücher. Vorher gab es z.B. Dinge, die man Pyramiden und einen Mann, den man Shakespeare nannte. Es gab das so genannte Christentum, die Ethik und Philosophie des eingeschränkten Konsums. Heute haben wir den Weltstaat, Fordtagsfeiern, Vereinigungssingereien und Eintrachtsandachten. Früher gab es einen so genannten Himmel. Das hielt die Menschen aber nicht ab, ungeheuer viel Alkohol zu konsumieren. Sie spritzten sich Morphium und Kokain. — 178 nach Ford erhielten zweitausend Pharmakologen und Biochemiker große Forschungsmittel aus öffentlichen Geldern, schon sechs Jahre später wurde dann das ideale Rauschmittel bereits fabrikmäßig hergestellt, wie wir es heute kennen: euphorisierend, narkotisierend, angenehme Halluzinationen weckend. Mit Sorna sind alle Vorzüge des Christentums und des Alkohols ohne deren Nachteile gegeben. Man kann damit Urlaub von der Wirklichkeit nehmen, wann immer man will, und dann in den Alltag zurückkehren, weder von Kopfschmerzen noch von Mythologie geplagt. Die Stabilität ist seitdem völlig gesichert. Jetzt musste man nur noch dem Alter beikommen. Heute sind alle 27 28
Huxley 1994a, S. 51. Huxley 1994a, S. 57.
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Symptome des Greisenalters beseitigt und der Charakter bleibt ein Leben lang unverändert. Die Kräfte und Gelüste sind mit sechzig dieselben wie mit siebzehn. Früher zogen sich die Alten zurück, warfen sich der Religion in die Arme und vertrieben sich die Zeit mit Lesen und — horribile dictu — Nachdenken. Außerdem ist heute immer das köstliche Sorna zur Hand.29 Ferner werden zwischendurch ein paar weitere Personen eingeführt. So Sigmund Marx, den wir bereits angesprochen haben. Er ist ein „Alpha plus", also ein Intellektueller, aber irgendetwas stimmt bei ihm nicht ganz. Er besitzt offenbar zu viel kritische Intelligenz, andererseits nur Gamma-Körpergröße (offenbar eine Judenkarikatur 30). Sigmund ist ein Experte für Hypnopädie und in die hübsche Lenina Braun verliebt — man stelle sich vor: verliebt, eigentlich undenkbar! — und das bei allgemeiner Promiskuität. Sigmund platzt geradezu vor Eifersucht, wenn er andere über sexuelle Abenteuer mit Lenina reden hört. Sie reden über sie, als ob sie ein Stück Fleisch wäre. Wie eine Portion Schweinebraten: Nimm sie dir doch. Das Schlimmste aber ist, dass sie sich selbst offensichtlich als ein Stück Fleisch, als ein bloßes Sexualobjekt betrachtet. Aber der Leser hat schon vorher erfahren, dass auch Lenina für Sigmund besondere Gefühle aufbringt, von dem sie eingeladen wurde, eine so genannte Wildenreservation zu besuchen. — Lenina bekommt inzwischen leichte Zweifel am normierten Zuschnitt des Lebens. Sie empfindet vor allem Unbehagen beim Gedanken an den Tod und im Hinblick auf die Tatsache, dass von jeder erwachsenen Leiche über viereinhalb Kilo Phosphor-Pentoxyd wieder aufbereitet werden können, die neue Nutzanwendungen erlauben. Sigmund steht sowieso außerhalb. Seine Einsamkeit verhilft ihm dazu, sich selbst zu finden. Er offenbart sich Lenina gegenüber, die ihn noch nicht verstehen kann. — Sigmund besorgt sich beim Bund eine Reisegenehmigung für das Reservat. Dort werden ihm Vorwürfe gemacht, doch Sigmund ist aufgrund seines erwachenden Bewusstseins zum Kampf gegen das System entschlossen. Der Brut- und Norm-Direktor wiederum gibt, offenbar überwältigt von seiner Erinnerung an Neu-Mexiko, wohin Sigmund mit Lenina reisen will, ein Geheimnis preis. Mit anderen Touristen fahren Lenina und Sigmund in das Indianer-Reservat, wo sie von einem Kustos alles über die dortigen Gebräuche und Besonderheiten erfahren. Sigmund erfahrt auch bei einem Anruf in Berlin, dass man ihn dort voraussichtlich isolieren will. Lenina und Sigmund machen die Bekanntschaft Michels und seiner Mutter Filine. Auf Schritt und Tritt begegnen sie „Wundern", d.h. Dingen, die in ihrer aseptischen Zivilisation nicht mehr vorhanden sind: singende Mütter, Schmutz, Krankheit, Tod, Verwesung. Filine wiederum ist überwältigt, zivilisierte Wesen ihrer alten Welt zu treffen. Michel, der Sohn Filines, ist unter den Wilden immer ein Fremdling geblieben. Zwei heterogene Bücher haben seinen Geist geprägt, ein Leitfaden zur Embryo-Normung und ein Band „Shakespeare", was ihm zur besonderen Erbauung
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Huxley 1994a, S. 234: „Christentum ohne Tiänen — das ist Sorna." Adorno 1998, S. 109.
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wurde und auch seine Emotionen prägte. Sigmund schlägt Michel absichtsvoll vor, mit ihm nach Berlin zu kommen. Michel ist entzückt, zumal auch seine Mutter mitkommen will. Auch kann er weiter in der Nähe der schönen Lenina sein, in die er sich verguckt hat. Der Weltaufsichtsrat gibt die Besuchsgenehmigung sogar persönlich. Im zweiten Teil spitzen sich die Dinge zu. Es kommt zur erwarteten Konfrontation zwischen Sigmund und dem BUND-Direktor. Ferner stellt sich heraus, was der Leser schon lange wusste, der Brut- und Normdirektor ist der Vater von Michel, dem Wilden. Er hatte Filine im Reservat zurück gelassen. Sigmund stellt ihn bloß und der Direktor nimmt seinen Abschied. — Der junge, an die Mutter gebundene und triebgehemmte „Wilde" Michel lernt die Stadt kennen und besucht ein Fühlkino, was ihn unangenehm berührt. Es kommt, wie es kommen musste, zu einem Bruch zwischen alter und neuer Welt. Die „neue Welt" war das Ziel der Michelschen Träume, aber er hält es dort nicht aus. Ein wichtiger Grund ist seine Liebe zu Lenina, die er in reiner Liebe begehrt. Er will sie „edel" und „erhaben" gewinnen, stößt aber nur auf ihre genormten Reaktionen, auf ihre ihn abstoßende, Sorna-verstärkte Sinnlichkeit, mit der sie wähl- und unterschiedslos alle möglichen Männer nimmt, die auch noch ihre sexuellen Vorzüge öffentlich rühmen. Dann stirbt seine Mutter Filine. Zornig wird er, als Kinder — wie es die Norm verlangt — um das Bett der Sterbenden herumstehen, sie mit der blöden Neugier von Tieren angaffen und dabei Süßigkeiten verzehren. Michel verjagt sie. Der Tod seiner Mutter war mit verursacht von Drogen, woraufhin der „Wilde" versucht, das Personal der Moribunden-Klinik daran zu hindern, weitere Rationen zu verteilen. Sigmund, von dem und seiner Liebe zu Lenina kaum noch die Rede war, kommt ihm zusammen mit seinem Freund Helmholtz-Watson zu Hilfe, aber im Grunde mehr durch puren Zufall. In das Chaos greift die Polizei mit Soma-Dampfapparaten und Betäubungspistolen ein. Die drei Aufrührer werden festgenommen. Die Kapitel 16 und 17 bilden sodann das geistige Zentrum des Romans, insofern hier ein ideologischer Disput zwischen Mustafa, Helmholtz, Sigmund und dem Wilden stattfindet. Der Weltaufsichtsrat hebt hervor, dass er sich gegen den Individualismus, auch den eigenen, entschieden habe. Für Mustafa ist die Welt jetzt im Gleichgewicht, Kunst und Träumereien passen einfach nicht mehr in das Bild der Zeit. Auch die Wissenschaft sollte nur noch der alltäglichen Wahrheitssicherung dienen. Für Religion und Gott gäbe es ohnedies keine Begründung. Es sei doch eine allgemeine Glückseligkeit bereits erreicht, da könnten sentimentale Relikte nur noch stören. Wo das Glück gefährdet sei, könne man das Allheilmittel Sorna nehmen. Eine intakte und stabile Gesellschaft könne es nur dann geben, wenn alle Konflikte beseitigt seien. Michel, der scheinbare und von Shakespeare geprägte Wilde (ein Relikt des genuin Menschlichen, indes aufgrund seiner Zer-
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rissenheit mit psychopathischen Zügen), hält dem entgegen: „Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde". 31 — Während Sigmund und Helmholtz auf die Falkland-Inseln verbannt werden, muss sich Michel weiter in der „neuen Welt" aufhalten. Er findet in der Lüneburger Heide einen verlassenen Leuchtturm, den er zu seiner Einsiedelei macht. Hier sucht er sein Leben von Grund auf zu erneuern, kann jedoch Lenina nicht vergessen. Er kasteit und geißelt sich, wobei Lkw-Fahrer zu Zeugen werden und die Nachricht über diesen seltsamen Menschen verbreiten. Reporter tauchen auf und Michel wird gefilmt. Er wird schon bald zur Touristen-Attraktion. Alle wollen diesen merkwürdigen Menschen „live" erleben. Michel bietet ihnen die entsprechende „Show" und löst damit eine sado-masochistische Orgie aus. Auch Lenina ist unter den animierten Zuschauern. Es kommt zu einer allgemeinen Ekstase, bei welcher Michel — aus welchen Gründen auch immer, wahrscheinlich aufgrund neurotischer Projektionen — die angebetete und zugleich ihn irritierende Lenina zu Tode peitscht. Als das generelle Rauschgeschehen abklingt und die Touristen abgezogen sind, erinnert sich Michel an das Vorgefallene. Eine neue Gruppe von Schaulustigen findet ihn tot auf; er hat sich erhängt. Soweit die plane Erzählstruktur der „Schönen neuen Welt". Huxley stellt im Hinblick auf seine Utopie rückblickend fest: „Alles in allem sieht es ganz so aus, als wäre uns die Utopie [inzwischen] viel näher, als irgend jemand es sich vor nur fünfzehn Jahren hätte vorstellen können. Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, dass uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt; das heißt, wenn wir in der Zwischenzeit davon absehen, einander zu Staub zu zersprengen." 32 — Huxleys „Schöne neue Welt" ist eine Wohlstandsgesellschaft, die inhumane Züge codiert. Ihre Anti-Individualität gründet darin, dass das Problem wirtschaftlicher Krisen überwunden ist. 33 Nach den Erfordernissen des Produktionsprozesses können jederzeit normierte Menschen hergestellt und angefordert werden. 34 Insgesamt wird man so genormt, dass man gar nichts anderes tun kann, als was man tun soll. Die Menschen werden zu willfahrigen „Exponenten der kollektiven Totalität, zu der jede Antithese eingezogen ist". 35 Des Weiteren ist man auf permanenten Konsum — in jeder Hinsicht — programmiert. Die konditionierten Kastenwesen sind nichts anderes als Regelbefolgungsautomaten, bei Defekten und Irritationen werden sie mit Sorna zugedeckt, ansonsten als Mängelexemplare exkludiert und in reservierte Areale für marodierende Outsider verschoben, gottlob: ohne dass ihnen größeres Leid geschieht. Mit dem Verlust der persönlichen Freiheit soll eine hedonistische Geschlechtermoral versöhnen, die den engen Rah31 32 33 34 35
Huxley 1994a, S. 236. Huxley 1994a, S. 19. Saage 2000a, S. 333. Saage 2000a, S. 339. Adorno 1998, S. 101.
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men der monogamen Ehe sprengt. In Huxleys utopischem Roman herrscht die Frauen- und Kindergemeinschaft Piatons in radikalisierter und globaler Weise vor. Promiskuität ist die normale Form des Sexualverhaltens.36 Die „schöne neue Welt" kann auf Repressionsmaßnahmen weitgehend verzichten, selbst die Verbannung bzw. Entsendimg in eine Reservation ist eine vergleichsweise weiche Strafe, falls überhaupt. Hier können die Verbannten und Verirrten exiliert als Aussteiger unter sich sein. In der schönen neuen Welt, die hiervon nicht tangiert wird, bleiben alle vermeintlich glücklich. Es ist die „Schreckutopie vom glücklichen Menschen", die Huxley uns vor Augen fuhrt und damit zugleich die Rollenzuweisungen und Verhaltensstile der kapitalistischen Konsumgesellschaft kritisiert. 37 Huxley entwirft in seiner Dystopie eine sterile Welt, in der die Menschen als Serientypen hergestellt und funktional konditioniert werden. 38 Die schöne neue Welt ist eine solche absoluter Verdinglichung 39 und Degradierung. Die Warenwelt hat sich verselbstständigt und die entsubjektiviert-objektivierten Menschen werden zu bestimmten Sorten. Das widerständige Individuum wird bei Huxley aber lediglich zum schlechthin Anderen und nicht näher bestimmt oder konturiert. Das moniert Theodor W. Adorno, wenn er ausfuhrt, dass die Trennung des Bewusstseins von seiner gesellschaftlichen Verwirklichung, „der Ersatz des ,faith in happiness' durch ein unbestimmbar abstraktes ,goal somewhere beyond'" den hypostasierten Zustand bekräftigt, „dessen Symptome ihm [Huxley] unerträglich sind, die Neutralisierung der vom materiellen Produktionsprozess abgespaltenen Kultur." 40 Für Adorno ist die „krude Alternative von objektivem Sinn und subjektivem Glück" als „These der Ausschließlichkeit" der „philosophische Grund für das reaktionäre Fazit des Romans". 41 Nicht umsonst trügen „alle Hauptfiguren, selbst Lenina, Züge von subjektiver Verstörtheit. Das Entweder-Oder ist falsch. ... Huxley weiß von der über den Kopf der Menschen hinweg sich durchsetzenden historischen Tendenz. Sie ist ihm die Selbstentfremdung und vollkommene Entäußerung des Subjekts, das sich zum bloßen Mittel macht, ohne dass ein Zweck überhaupt noch wäre. Aber er fetischisiert den Fetischismus der Ware. Ihm wird der Warencharakter zu einem Ontischen, an sich Seienden, vor dem er kapituliert, anstatt den ganzen Hexenspuk als bloße Reflexionsform, als das falsche Bewusstsein des Menschen von sich selber zu durchschauen, das mit seinem ökonomischen Grunde zergehen müsste. Er gesteht nicht zu, dass ... der total verdinglichte der gegen sich selbst verblendete Mensch ist. Statt dessen hetzt er unanalysierte Fassaden36 37
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Saage 2000a, S. 343/344. Vgl. Fietz 1986, S. 207-213. — Berlin 2001, S. 293: „Indem seine Romane zum Kern (dem faulen Kern, würde er gesagt haben) der zeitgenössischen Erfahrung des Westens vordringen, rufen sie echte Beunruhigung hervor." — Für Adorno ist gar die „Brave New World" ein „einziges Konzentrationslager, das, seines Gegensatzes ledig, sich fürs Paradies hält." Adorno 199S, S. 99. Gnüg 1999, S. 189/190. Gnüg 1999, S. 193. Adorno 1998, S. I I I . Adorno 1998, S. 116.
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Phänomene aufeinander nach Art des .Konflikts zwischen Mensch und Maschine'." 42 Adorno hat Recht, allerdings nicht in Bezug auf Huxley, denn genau die von Adorno eingeklagten Defizite wollte er als solche mit seiner „phantasmagorischen Unmenschlichkeit der Brave New World" aufzeigen, wenn auch nicht mit den Mitteln der kritischen Theorie. Vielleicht ist der Schluss des Romans nicht überzeugend — Huxley konnte sich später auch ein anderes Ende vorstellen (z.B. ein „normales" Reservatsleben für Michel [im Original: John]) 43 —, aber die Dystopie soll zuvörderst im Bewusstsein der Leser aufgehoben werden. Sie oder er sollen den Weg dazu selbst (am besten gemeinsam und einverständlich) finden. Die Unausweichlichkeit der negativen Utopie ist für uns jedenfalls keine beschlossene Sache, denn dazu ist sie zu fiktiv und als Menetekel gedacht Sie sollte insofern nicht reifiziert, also mit der Wirklichkeit verwechselt werden: Es ist eine mögliche und überzeichnete Wirklichkeit, aber sie bleibt gerade darin kontingent. Auch ist es kein Rückfall, wenn Adorno feststellt: Huxley „verurteilt die Brave New World mit dem gleichen gesunden Menschenverstand, dessen Walten in der Brave New World verhöhnt ist." 44 Es ist zwar ein weithin unreflektierter Individualismus, der im Text aufscheint, aber die Darstellung soll die Handlungs- und Reflexionsnöte der Protagonisten veranschaulichen, nicht aber die Zu- und Einrichtungen latent rechtfertigen. Es soll nämlich doch ganz anders werden. Das „verruchte Kontinuum" wollten Adorno und Huxley gewiss beide aufsprengen und es gilt dies ex ovo für alle Utopisten. Der Individualismus — für sich allein [„allein machen sie dich ein"; Ton, Steine, Scherben] und soziohistorisch unvermittelt — reicht sicherlich nicht aus 4S, aber der subkutane bis manifeste Anti-Individualismus in positiven und negativen Utopien muss ebenso erst einmal gewahr und dingfest gemacht werden. Das vor allem ist die beabsichtigte Katharsis von Dystopien.
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Adorno 1998, S. 117. Huxley 1994a, S. 11. Adorno 1998, S. 119. Es kann sogar gezeigt werden, dass Adorno selbst einen normativen Individualismus verficht, vgl. Waschkuhn 2000, S. 49, 77/78.
20. KARIN BOYE Wenn von negativen Utopien, die abschreckend und kathartisch wirken sollen, die Rede ist, wird relativ selten die schwedische Autorin Karin Boye angeführt, obwohl sie Grundelemente und Versatzstücke von Aldous Huxley und George Orwell aufgegriffen oder antizipiert hat. Ihr Roman „Kallocain" ist neben den Gedichten die größte Hinterlassenschaft ihres nur kurzen Lebens. Karin Boye wurde 1900 in Göteborg als Tochter eines Ingenieurs in Göteborg geboren. Sie studierte 1921-1926 an der Universität Uppsala — Griechisch, Nordische Sprachen und Literaturgeschichte — und 1926/27 in Stockholm (Geschichte). Sie schloss sich 1925 der radikalen studentischen Clarte-Bewegung des französischen Pazifisten Henri Barbusse an. Sie war als Lehrerin tätig, hielt Vorträge, schrieb Artikel und Gedichte, gründete und schrieb für Zeitungen. 1928 nahm sie an einer Studienreise nach Russland teil und zeigte sich von der sowjetischen Wirklichkeit enttäuscht. 1931 wird sie Mitglied der Gesellschaft De Nio. 1932/1933 war Boye in Deutschland und wandte sich der Psychoanalyse (theoretisch und als Patientin) zu — ein verzweifeltes Bemühen, ihrer Zerrissenheit und den sie bedrängenden Lebensproblemen beizukommen. Die Daseinsfragen wurden durch ihren Abscheu vor Faschismus und Nationalsozialismus auch äußerlich erschwert. 1933 zieht Boye nach Stockholm, 1940 erschien ihr utopischer Roman „Kallocain", der hier näher gewürdigt werden soll. Es ist ein erschreckender Zukunftsroman über die totalitäre Gesellschaft, der Orwells „1984" aus dem Jahre 1948 unter Verwendung ähnlicher Motive, Instrumente und Stilmittel teilweise noch übertrifft. 1941 nahm sich Karin Boye in einem Wald bei Alingsäs durch Gift das Leben. Eine schöne Würdigung findet sich bei Peter Weiss im dritten Band seiner „Ästhetik des Widerstands". Er schildert sie als eine Frau „von zarter kleiner Gestalt, mit schmalem knabenhaften Antlitz, kurz geschnittenem dunklem Haar, dunklen Augen und stark gezeichneten schwarzen Augenbrauen", die scheu wirkte. Der Dialog wurde dann ausfuhrlicher und war immer wieder auf den Tod bezogen, daneben war Karin Boye immer schon auf Wahrheitssuche. Sie sprach auch vom Verlust des Lebensmuts. Die Sowjetunion und Deutschland hatten ihr die Zuversicht auf ein besseres Zusammenleben genommen. 1 — Boye führt Weiss gegenüber aus, dass sie des öfteren glaubte, etwas erreicht zu haben, jedoch habe sie kurz darauf gleich wieder so empfunden, als habe sie etwas verloren, „auf der Suche nach Erfüllung habe sie nur Entbehrungen gefunden". 2 Dem widerspräche auch das Lob nicht, das „ihr jetzt für das Buch [Kallocain] zuteil wurde, es musste
1 2
Weiss 1981, S. 22. Weiss 1981, S. 24.
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ihr als das Zeugnis eines lügenhaften Betriebs erscheinen, denn die Gestaltung der Unmenschlichkeit, des Grauens in einer totalitären Welt hätte diesen blendenden Ruhm abstoßen müssen." 3 Obwohl sie von der Anlage her ein freudiger Mensch sei und sich mit dem Lebendigen verbunden fühle, habe sie immer schwer daran getragen, wenn es um sie herum finster werde. Die Psychoanalyse sei für sie nutzlos gewesen, ihre Dichtung habe ihr beweisen können, dass die Poesie eine Kraft besäße, „die, wenigstens für einige Augenblicke, den einschnürenden, würgenden, tötenden Ordnungen der Außenwelt überlegen sei." 4 Sie kenne das [wie die Mutter von Peter Weiss], den Zustand, in dem sich alles Gewohnte auflöse, sich alle Wege verlören und kein Gefühl für Richtungen mehr vorhanden sei. 5 Von jeher sei „ihr die Hetze gegen eine Rasse unverständlich gewesen, sie habe nie zwischen Religionen unterscheiden können, im Glauben allein eine poetische Kraft gesehen, gleich für alle Völker." 6 — Im Hinblick auf das Schreiben „sprach sie davon, dass sich am Ende doch nichts festhalten lasse, dass sie aus dem Fließenden nur Unbeständiges herausgreifen könne, zum Bau von Konstruktionen, deren Wesen die Brüchigkeit sei." Andererseits plädierte sie (dezidiert gegen Peter Weiss) nicht für Abhandlungen, sondern für „einen Strom freier Erfindungen", denn „nur das Entstehen einer ganz unabhängigen Welt könne uns den Eindruck von etwas Sinnvollem vermitteln, das andere, das Sichtbare, habe ja seinen festen Standort, und jeder Versuch, es abzubilden, müsse der Kunst widerstreben." 7 — Bei der Übersetzung des „Zauberbergs" von Thomas Mann sei ihr aufgefallen, dass die „Funktionen der Liebe einzig vom Gesichtspunkt des Mannes aus dargestellt" werden, und „dazu noch in einem plötzlichen Umschlagen der Zärtlichkeit und des Begehrens zur Herabwürdigung und Verächtlichmachung der Frau." 8 — Sie war einst auch der „orgiastischen Männerwelt ... mit ihrem Waffengerassel, ihren Befehlsstimmen" erlegen und rechnete es sich zur besonderen Schande an, dass sie im Begeisterungsrausch der Masse im Berliner Sportpalast immer wieder selbst ihren Arm steil erhoben hatte. 9 „Über alles, was von der geistigen Kraft erschaffen worden sei, habe sich der Körper hinweggesetzt und höhnisch und lasterhaft die Eroberungen der Poesie zerfetzt. Sie habe versucht, mit ihrem Buch diese Kluft zu überbrücken, der Versuch sei gescheitert, das Buch habe ihre Leben als Schreibende beendet." 10 Gleichwohl ist es ihr Vermächtnis, denn schon bald darauf wählte Karin Boye (nach mehreren vorangegangenen Versuchen) den Freitod. Sie hatte sich mit ihrem Buch „Kallocain" „hineinversetzt in das letzte nur denkbare Wuchern einer schon zutiefst verunstalteten Realität, und all das, was wir [so Peter 3 4 5 6 7 8 9 10
Weiss 1981, S. 24. Weiss 1981, S. 28. Im Giunde sei Dichtung nur ein Ausdruck von Unstetigkeit und Ängsten, ebd. Weiss 1981, S. 25. Weiss 1981, S. 28. Weiss 1981, S. 29. Weiss 1981, S. 32/33. — Bei Karin Boye kommt hinzu, dass sie eine lesbische Neigung nicht so recht ausleben konnte. Siehe auch Roß 1999, S. 221. Weiss 1981, S. 33. Weiss 1981, S. 34.
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Weiss] im Selbsterhaltungstrieb nicht zu durchschauen wagten, zu etwas unmittelbar Bevorstehendem gemacht." 11 Boye wollte „dieses zur heillosen Vernunft verfälschte Leben nicht mitmachen, der Preis, den sie dafür zahlte, war der Untergang in der Ausweglosigkeit." 12 Im Mittelpunkt von „Kallocain" steht der Chemiker — und (wie alle) „Mitsoldat" — Leo Kall, der in der Chemiestadt Nr. 4 eine Art „Wahrheitsdroge" erfindet. Das Serum Kallocain bringt die Menschen dazu, ihre innersten Gedanken und Gefühle zu offenbaren. Die Menschen des Weltstaats im 21. Jahrhundert (!) leben wegen Kriegsdrohung unterhalb des Erdbodens in verschiedenen Subsystemen oder Organisationseinheiten, die sich nach unten erstrecken. Der Staat wird von einem technisch perfekten Kontrollsystem regiert; in jeder Familie ist ein elektrisches Polizeiauge und eine Abhöranlage sowie eine Hausangestellte, die als Spitzel agiert. Alle Kinder ab dem siebten Lebensjahr werden in Kinderlager verbracht. Viele der unterirdischen Bewohner haben den Drang und heimlichen Wunsch nach Freiheit, frischer Luft und einem unkontrollierten Leben. Sie wollen ihren Mitmenschen vertrauen. Diese staatsbedrohenden Ambitionen werden durch ein Gesetz über die Kriminalität des Gemütes im Sinne staatsfeindlicher Gedanken und Gefühle unter Strafe gestellt. Es können alle verurteilt und wechselseitig denunziert werden — mit dem Ergebnis: Jeder ist schuldig. Der Weltstaat wird von einem ähnlichen und noch mächtigeren Staat, dem benachbarten Universalstaat, angegriffen und besetzt. Der sechzigjährige Kall wird gefangen genommen und schreibt seine Erinnerungen über die zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse nieder. Unter der Kontrolle des Universalstaats widmet er sich weiterhin seinen chemischen Experimenten. Er glaubt nach wie vor daran, dass „Kallocain" potenziell dabei helfen kann, eine neue Welt zu schaffen, obwohl er die Droge auch gegen seine zweite, vermeintlich untreue Frau Linda eingesetzt hatte. Seine Erinnerungsschrift wird durch ein „Machtwort des [offenbar fernöstlichen, A.W.] Zensors" als gefahrlich eingestuft, also sekretiert und im geheimen Archiv des Universalstaates lediglich zu Forschungszwecken aufbewahrt. Soweit der grobe Ereignis- und Handlungsrahmen dieser negativen Utopie, in der ein nahezu omnipotenter Militär- oder Polizeistaat mit einem gigantischen Verwaltungs- und Überwachungsapparat als Zukunftsmodell heraufbeschworen wird. Der Universalstaat ist in dieser Hinsicht noch effektiver als der Weltstaat und übernimmt dessen Rolle noch rigider. Allerdings werden uns die einzelnen Modalitäten nicht mitgeteilt, jedoch ist die Degradierung des Individuums zu einem Regelbefolgungsautomaten unverkennbar. Gleichwohl handeln im Roman retrospektiv ein paar wenige Personen, die die Strukturen im Weltstaat vor der Invasion symptomatisch widerspiegeln. — Nach der Schilderung gab es nur wenige Tages11 12
Weiss 1981, S. 37/38. Weiss 1981, S. 39.
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lichtlizenzen, vor allem für die Dachterrassenbewohner, so dass viele den (auch metaphorischen) Traum hatten, einen Weg nach oben zu finden. Ansonsten konnte jede Stadt innerhalb von zehn Minuten nach oben abgeschirmt werden. Es gab Standardwohnungen und allgemeine Uniformen. Die Distrikte waren durch mit Stacheldraht gekrönte Mauern getrennt und wurden streng bewacht. Die von Kall erfundene Droge soll der Sicherheit des Staates dienen und keinesfalls in private Hände fallen. Die Kinder üben sich in paramilitärischen Spielen und werden ab dem siebten Jahr in Lagern zu disziplinierten „Mitsoldaten" gedrillt. Jeder Bewohner leistet abendlichen Militär- oder Polizeidienst mit nur gelegentlichen Befreiungen. Die Städte waren streng separiert, das proportionale Verhältnis der männlichen und weiblichen Bevölkerung wurde festgesetzt und immer wieder austariert. Diejenigen, die abkommandiert wurden, kehrten nach einem ritualisierten Abschiedsfest nicht mehr zurück, so dass Eltern und Kinder sowie ihre Geschwister, aber auch sich liebende Paare fortan getrennt blieben. Die große Gemeinschaft ist wichtiger als individuell-sentimentale und (alt)romantische Gefühle. Private Gefühle sind überwiegend asozial. Entschuldigungen für soziales Fehlverhalten und entsprechende Selbstbezichtigungen erfolgen über den jeweiligen Lokalsender. In allen Wänden — privat und öffentlich — sind das Polizeiohr und -auge eingebaut, „Horch und Guck" rund um die Uhr im Einsatz. Allerdings waren die meisten davon überzeugt, dass die Geräte des öfteren ausfielen und auch die Überwachung nicht lückenlos oder flächendeckend war. Die Experimente mit der Droge Kallocain in der Versuchsabteilung legen die Ängste, Absonderlichkeiten und Erbärmlichkeiten der Probanden frei. Auch sonst herrscht ein generalisiertes Misstrauen vor, weil permanent die Bildung konspirativer Gruppen befurchtet wird. Mit der Wahrheitsdroge aber wird nichts mehr zu verbergen sein, es könnte prinzipiell jeder verurteilt werden. Die Vollendung des Weltstaates als ein riesiger und heiliger Organismus mit den Einzelnen als Zellen, der Weg vom Individualismus zum Kollektivismus, von der Einsamkeit zur Gemeinschaft, wird dadurch möglich. 13 — Die Wissenschaft im Laboratorium wird zum Dienst für die Polizei jedweder Spielart. Unorganisierte dissidente Gemeinschaftsformen, andere Lebenseinstellungen und Sehnsüchte werden offenbar. Leo Kall und sein Vorgesetzter Edo Rissen werden in einem verschlossenen Flugzeug in die weit entfernte Hauptstadt geflogen. Der übermächtige Polizeiminister war an den Probe-Experimenten interessiert und stellte seinerseits Versuchspersonen zur Verfugimg. Kall sieht auch eine Chance, seinen Chef und Nebenbuhler Rissen, dem er eine Liaison mit seiner Frau Lena unterstellt, zu schaden. Die Sekte der Toren, ein Sammelbegriff für die latenten Abweichler, sei staatsfeindlich, denn sie setze auf persönliche Gefühlsbindungen, die stärker seien als die Bande zum Staat. Dies sei ein erhebliches Sicherheitsrisiko, das von Rissen unterschätzt und herunterge-
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Boye 1978, S. 47.
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spielt werde. Inzwischen war der Polizeiminister zu der Überzeugung gekommen, dass das Kallocain irgendwann alle anderen Untersuchungsmethoden ersetzen könne, zumal dadurch auch Gedanken- und Gesinnungsverbrechen erfassbar wären. Kall verabreicht seiner Frau, die er im Ehebett fesselt, eine Kallocain-Spritze. Die Droge wirkt und sie teilt ihm mit, dass sie ihn töten möchte, weil er nicht in der Lage sei, ihr jetziges Leben zu verändern, er sie nicht retten könne. Beide hätten sie wie alle Angst: „Einsam, völlig einsam sind wir, und doch nicht so wunderbar einsam wie damals, als man jung war." 14 Sie liebe Rissen nicht, aber er habe keine Angst und in seiner Nähe spüre man Geborgenheit, so dass sie ihn hätte lieben können. So hätte Leo sein müssen und deswegen wolle sie ihn töten, um von ihm wegzukommen: „Denn es wird für mich nie einen anderen geben als dich, und doch bist du es nicht. ... Wie kann .. nur so sein ..., dass man etwas sucht, das es nicht gibt? Wie ist es möglich, dass man todkrank ist, wenn man kerngesund ist, wenn alles so ist, wie es sein soll" 15, sprach sie angsterfüllt. Für Leo war alles so, als sei es aus ihm selbst gesprochen; beide waren aus demselben schwachen Stoff gemacht. — Leo Kall zeigt am nächsten Tag Edo Rissen an und hatte vorher mit dem Chef der Polizei einen besonderen Vermerk vereinbart, damit die Anzeige eine besondere Behandlung erfahren konnte, dann könnten nämlich die entsprechenden Richter und Berater organisiert werden — alle Gerichtsverfahren waren ohnedies geheim. Für Kall war Rissen ein schädliches Tier, zugleich aber ekelte ihm vor sich selber und auch die Offenbarungen Lindas wurden von ihm eher als ein Misserfolg eingestuft. Selbst Rissens Beseitigung würde wohl keine Erfolg versprechende Therapie mehr bedeuten. — Linda teilt ihrem Mann, der erstmals richtig zuhören kann, mit, dass sie ihn nicht töten könne. Sie könne nur verzweifelten Träumen nachhängen. Sie beklagt in einem längeren Gespräch, verdeckt von einer Radiosendung, generell den geringen Status als Frau, ferner habe sie sich sehr schwer getan mit der Rolle der Mutter im Geist des Staates. An den Eigenarten der Kinder und ihren Melodien habe sie gemerkt, dass „es unter uns und hinter uns etwas gibt. Dass es in uns schafft. Ich weiß, dass man davon nicht sprechen darf, denn es gehört nur dem Staate. Aber dir sage ich es doch. Sonst ist alles andere sinnlos." 16 — Jetzt will Leo den von ihm angezeigten Rissen wieder retten. Das ist indessen nicht mehr möglich; Kall muss bei Rissen sogar selbst die Kallocaineinspritzung vornehmen. Er hasste Rissen nicht mehr, der ihm früher eher lächerlich vorkam. Jetzt erkannte er in ihm und seinem Auftreten eine eigenartige Würde, die diesen „unsoldatischen, weichen Manne" auszeichnete. Leo Kall fühlte sich selbst verstümmelt, weil er ihn angezeigt hatte, auch wenn er kein überwältigendes
14 15 16
Boye 1978, S. 135. Boye 1978, S. 136. Boye 1978, S. 146/147.
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Mitleid mit ihm hatte. Er hörte ihm mit der gleichen intensiven Aufmerksamkeit zu, wie er zuvor Linda gelauscht hatte, indes mit größerer Angst. Rissen führte unter dem Einfluss von Kallocain nichts Persönliches aus, sondern wandte sich allgemeinen Fragen zu: Es sei traurig, dass alle nicht aufrichtig genug wären, um die Wahrheit hören zu können. „Zwischen Mensch und Mensch könnte eine Brücke bestehen — solange sie freiwillig ist, ja — solange sie als ein Geschenk gegeben und entgegengenommen wird. Ist es nicht sonderbar, dass alles seinen Wert verliert, sobald es aufhört, Geschenk zu sein — sogar die Wahrheit?" 17 Gab es keinen Punkt in der langen Entwicklung der Menschheit, einen anderen Weg zu wählen, statt von zusammengeschweißter Gemeinschaft zu reden und zu rufen von den Seiten des Abgrunds. Kommen wir zu diesem Punkt, wenn der Nachbarstaat verschluckt worden ist oder umgekehrt? Das Kranke sei zur Norm geworden und das Gesunde zum Schreckbild. Die Toren spielten mit Symbolen, denn sie wussten wenigstens, dass etwas fehlte. Wer immer ihn angezeigt habe, er ahnt: „Wenn ich spreche, hören sie sich selbst. Wenn ich mich bewege und da bin, bekommen sie vor sich selber Angst." 18 — Überraschenderweise bekennt sich ein junger Mann aus Rissens Kurs, seinen Chef wegen staatsfeindlicher Gesinnung angezeigt zu haben. Leo spielt den Vorfall herunter. Das Individuum Rissen wird vom Richter in feierlichem Kommandoton zum Tode verurteilt. — Als Leo nach Hause kam, war Linda verschwunden. Sie wollte andere finden, die um die selbstverständliche Zusammengehörigkeit wussten. Er sollte sie nie wiedersehen. Linda und Rissen verkörperten nunmehr in den Augen von Leo eine neue Welt, die existierte und sich durchsetzen wollte. In der grenzenlosen Stille auf der Dachterrasse nahm er jetzt die Weite des Raumes wahr, die sich von Unendlichkeit zu Unendlichkeit erstreckte. Er hatte erkannt, dass nichts unmöglich war. Als er Rissens Frau aufsuchen und seinen Weg finden wollte, brach die Invasion des Universalstaates herein. Leo kauft sich mit seinen Erfindungen ein und empfand keine Reue. Die ersten Jahre waren voller Angst und Grübelei. Er rekonstruierte die feindliche Übernahme. Die Straßen und unteren Teile der Stadt waren vergast worden, Erd- und Luftkämpfe hatte er nicht mitbekommen. Vielleicht waren Linda und Rissen noch am Leben, auch wenn dies unwahrscheinlich war. Leo Kall will sein Leben aber nicht in Verzweiflung verbringen, sein Selbsterhaltungstrieb zwang ihn, „im Blendwerk Trost zu suchen". Er erinnert sich dabei immer wieder an den vieldeutigen Satz von Rissen: „Ich weiß, dass der Weg irgendwo hinführen wird." 19
17 18 19
Boye 1978, S. 153. Boye 1978, S. 155. Boye 1978, S. 167. — Siehe auch (in besseren Zeiten) Sepp Helberger: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel."
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Die Bedeutung des Textes „liegt nicht nur in der Intensität und Schonungslosigkeit der in ihm enthaltenen Mahnung, sondern auch in der Art wie in ihm menschliche Beziehungen geschildert werden. ... Bei Boye werden menschliche Beziehungen erheblich zarter und differenzierter geschildert als bei ihren männlichen Kollegen. Bei ihr gibt es keine Woge hereinbrechender Sexualität, die die Beteiligten mit sich reißt und in Opposition zum Staat stellt, wie dies bei Orwell und Samjatin der Fall ist." 20 Bei ihr „unterbleiben diese Männerphantasien, die hoffen, dass eine angeblich nur hinter Mauern verbannte oder ins Innere unterdrückte Sexualität eine Rettung bringen könnte, indem Frauen sie Männern wieder ermöglichen und Männer damit befähigen, in Opposition zum Staat zu stehen. Boye konzentriert sich demgegenüber auf immer wieder doch versuchte Verbindungen zwischen Menschen und die Sehnsucht, die keine Erfüllung findet" 21 — weder im Buch noch in ihrem Leben.
20 21
Roß 1999, S. 221. Roß 1999, S. 223. Ebd.: „Karin Boye verweigert sich Geschlechterklischees — auch wenn sie einen männlichen Erzähler in den Mittelpunkt stellt. Im Kontrast zu vielen Autoren von Dystopien instrumentalisiert sie ,Frauen' nicht zur Rettung unterdrückter Männer. Die Ehefrau des Erzählers bringt vielmehr eigene Töne in die Erzählung ein". Insofern sind Frauen „etwas an sich", aber sie haben eine „libertäre Akzentuierung, die zukunftsweisend ist"
21. GEORGE ORWELL Der als Eric Arthur Blair geborene George Orwell (1903-1950) — für das Pseudonym entschied er sich 1932 — wurde als zweites Kind einer anglo-indischen Familie in Motihari, Bengalen, geboren. Er wurde in Eton erzogen, diente fünf Jahre bei der Kaiserlich Indischen Polizei in Burma, bevor er als Tramp durch London und Paris zog. Er arbeitete als Tutor, als Angestellter in einem Buchladen, als Tellerwäscher und als Lebensmittelhändler; er kämpfte als Freiwilliger in Spanien gegen Franco, wo er stark verwundet wurde, war Journalist und BBC-Kommentator. Aber vor allem war er Schriftsteller. Hauptsächlich schrieb er literarische Essays und politische Kommentare, die er in Belletristik verpackte, wie beispielsweise „Farm der Tiere". Im Übrigen war Orwell ein Tierliebhaber — und wo immer er sich niederließ, gab es bald eine kleine Menagerie. 1 Durch mehrere Tuberkulose-Anfälle und den Tod seiner Frau früh gealtert, siedelte er mit seiner Schwester und seinem Adoptivsohn auf die einsame schottische Insel Jura über, wo er „1984" vollendete. Drei Monate nach seiner zweiten Eheschließung, wobei ihn seine zweite Frau mehr aus materieller Berechnung denn aus Liebe geheiratet hatte, starb Orwell in einem Londoner Krankenhaus, nicht einmal 47 Jahre alt. Orwell entwickelte eine Sprache ohne jede Dramatik und bevorzugte eine klare Prosa, die auf Tatbestände hinweist. Das gilt insbesondere für seine ersten Romane. In den uns interessierenden Arbeiten der letzten Lebensjahre — „Animal Farm" (1945) und „Nineteen Eighty-Four" (1948) — werden die auch vorher schon vorhandenen kritischen Momente zusätzlich mit dem Imaginativen und Utopischen verbunden. Orwell war von seinem Denken her ein humaner Sozialist und ist zweifelsohne einer der bedeutendsten politischen Schriftsteller Englands. Er hat sich immer wieder mit den sozial Gedemütigten identifiziert und solidarisiert.2 Sein Zorn gegen die Kommunisten, die in seinen späten — und erstmals besonders erfolgreichen — Arbeiten zum Ausdruck kommt, „richtete sich nicht nur gegen ihre Despotie, ihren verschwenderischen Umgang mit Menschenleben sowie ihre Verachtung der Freiheit", sondern auch gegen die durch sie bewirkte „Diskreditierung des demokratischen Sozialismus" 3 . Daneben sind die beiden letzten Arbeiten — insbesondere „1984" — gegen den Totalitarismus als solchen gerichtet, egal welcher Spielart, ob von links oder rechts.
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Crick 1990, S. 66. Henningsen 1974, S. 128. Crick 1990, S. 16. — Für Orwell bestand Freiheit darin, anderen das zu sagen, was sie partout nicht hören (und damit wissen) wollen. Es stand dies als Sinnspruch sogar auf deutschen Zuckerwürfeln.
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Die „Farm der Tiere" wurde von November 1943 bis Februar 1944 geschrieben, ist aber erst 1945, nach dem Kriege, erschienen. Die „Animal Farm" war erstaunlich ironisch, was Biographen Orwells vor allem auf seine erste Frau zurückfuhren. Mit dem Manuskript hatte Orwell jedoch Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden. Es konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen, weil es vorher niemand riskieren wollte, das Buch heraus zu bringen. Denn es wurde als Attacke auf die Mythen des Sowjetkommunismus verstanden und man wollte die UdSSR als Kriegsalliierten nicht unnötig vergrätzen. George Orwell wurde mit „Animal Farm" ein Bestsellerautor, nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Amerika und in anderen Teilen der Welt. Das gilt dann noch mehr für „1984", ebenfalls ein Best- und Longseller. „Animal Farm" erschien im August 1945, in den ersten fünf Jahren wurden in England mehr als 25.000 Exemplare verkauft, etwa das Zehnfache der sonst üblichen Auflagen bei Orwells Büchern. Die größte Überraschung kam aber, als 1946 die amerikanische Ausgabe erschien. Von ihr wurden innerhalb von vier Jahren 590.000 Exemplare verkauft. „Animal Farm", die Satire auf Stalins Verrat an der russischen Revolution, so die amerikanische Interpretation, fand das Interesse und packte die Phantasie breiter Leserschichten genau in dem Moment, als der Kalte Krieg einsetzte. Wir bereits ausgeführt, intendierte Orwell aber mehr, nämlich eine Kritik an jeder Art des Totalitarismus. Man kann sicherlich lange darüber streiten, ob die „Farm der Tiere" eine Utopie darstellt oder nicht. 4 Sie hat aber zweifellos dystopische Elemente und Qualitäten, so dass wir auf dieses großartige Opus nicht verzichten wollen: Auf der von Mr. Jones verwalteten „Herren-Farm" berichtet ein alter Eber, „Old Major" genannt, der bei den Tieren hoch angesehen ist und dessen Tage gezählt sind, von einem Traum. Bevor er der Abendversammlung der Tiere seinen Traum erzählt, resümiert er sein langes Leben für sich und im Allgemeinen. Er stellt (in Analogie zum Naturzustand bei Thomas Hobbes) fest: „Nun, Genossen, wie ist die Natur unseres Lebens? Seien wir ehrlich: Unser Leben ist elend, mühevoll und kurz. Wir werden geboren, wir bekommen gerade so viel Futter, dass uns die Puste nicht ausgeht, und wer von uns dazu geeignet ist, wird gezwungen, bis zum letzten Deut seiner Kraft zu schuften; und just in dem Augenblick, wo es mit unserer Nützlichkeit aus ist, werden wir mit scheußlicher Grausamkeit hingeschlachtet. 4
Orwell selbst sprach von einer „Märchenerzählung" (fairy tale). — Die „Animal Farm" wird unter die literarischen Utopien eingereiht in Fortunati/Trousson 2000, S. 51-54. Ebd., S. 54: „It is entireley possible that... Orwell composed a work that was steeped in the anti-utopian spirit — a work, that is, that speaks of the frailty of human nature and of the impossibility of achieving freedom and happiness on earth. But it is equally possible, and certainly more in keeping with the views that Orwell expressed throughout his life, that he wished to utter a warning against reaction masquerading as revolutioa against tyranny offering itself as equality. What cannot be doubted, however, are the skill and artistry that Orwell brought to his great theme, and which ensure that the book will continue to fascinate and delight readers long after the events [Russian Revolution of 1917] which gave rise to it are forgotten."
Fallbeispiele von Platon bis Orwell: George Orwell
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Wenn es erst einmal ein Jahr alt geworden ist, hat kein Tier in England mehr eine Vorstellung von Muße und Glück. Kein Tier in England ist frei. Das Leben eines Tieres ist Jammer und Sklaverei: das ist die nackte Wahrheit." 5 — Liegt dies in der Ordnung der Natur? Diese Frage sei zu verneinen, weil fast das gesamte Produkt der Arbeit von den Menschen gestohlen wird. „Darin, Genossen, liegt die Antwort auf all unsere Probleme. Sie lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Mensch. Der Mensch ist unser wirklicher Feind." Denn: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das konsumiert, ohne zu produzieren. Er gibt keine Milch, er legt keine Eier, er ist zu schwach, den Pflug zu ziehen, er läuft nicht schnell genug, um Kaninchen zu fangen. Und doch ist er Herr über alle Tiere." 6 Um die Tyrannei der Menschen abzuschütteln, bedürfe es der Rebellion: „Ich weiß nicht, wann diese Rebellion kommen wird, vielleicht in einer Woche oder in hundert Jahren, doch ich weiß ..., dass früher oder später Gerechtigkeit geübt wird." — „Und vergesst nicht, Genossen, nie darf eure Entschlusskraft ins Wanken geraten. Kein Argument darf euch irreleiten. Hört nie auf jene, die euch erzählen, der Mensch und die Tiere hätten ein gemeinsames Interesse. ... Alle Menschen sind Feinde. Alle Tiere sind Genossen. Alles, was auf zwei Beinen einhergeht, ist ein Feind. Alles, was auf vier Beinen einhergeht oder Flügel hat, ist ein Freund. Und denkt auch daran, dass wir in unserem Kampf gegen den Menschen ihm nie gleich werden dürfen. Auch wenn ihr in besiegt habt, verfallt nicht in seine Laster. Kein Tier darf je in einem Haus wohnen, oder in einem Bett schlafen, oder Kleider tragen, oder Alkohol trinken, oder Tabak rauchen, oder Geld anrühren, oder Geschäfte machen. Der Mensch hat nur schlimme Gewohnheiten. Und vor allem darfein Tier nie seinesgleichen unterdrücken.... Kein Tier darf je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich." 7 Old Major kommt schließlich auf seinen Traum der letzten Nacht zu sprechen. Es war ein Traum von der Erde, so wie sie dereinst sein wird, wenn der Mensch verschwunden ist. Und der Traum erinnerte ihn an ein Lied, das schon seine Mutter und die anderen Sauen zu singen pflegten, als er noch ein kleines Schweinchen war. Das Lied heißt „Tiere Englands". Old Major sang es den anderen Tieren vor, die Melodie war mitreißend, ein Mittelding zwischen „Hänschenklein" und „La Cucaracha". Das Lied handelte von der goldenen Zukunft der Tiere. Die zweite Strophe beispielsweise lautet: „Seid gewiss, der Tag wird kommen / Wo der Tyrann Mensch muss geh'n / Und auf Englands satten Fluren / Werden nur noch Tiere steh'n." 8 Die Tiere waren begeistert und sangen das Lied gleich fünfmal hintereinander.
5 6 7 8
Orwell Orwell Orwell Orwell
1982, 1982, 1982, 1982,
S. S. S. S.
10. 11. 12-14. 15.
Politische Utopien
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Kurz darauf starb Old Major. Seine Rede hatte den intelligenteren Tieren auf der Farm zu einer völlig neuen Lebensanschauung verholfen. Man bereitete den Aufstand der Tiere vor. Die Aufgabe, die anderen zu unterweisen und zu organisieren, fiel den Schweinen zu, die allgemein als die schlauesten Tiere anerkannt wurden. Zwei Schweine, Napoleon und Schneeball, arbeiteten die Lehren Old Majors zu einem kompletten Denksystem aus, dem sie den Namen „Animalismus" gaben. Napoleon und Schneeball waren Keiler, alle übrigen Schweine Mastferkel. Unter den Ferkeln fallt vor allem ein kleines fettes Schwein auf, Schwatzwutz genannt, das sich als ein brillanter Redner entpuppen sollte. Es hieß von Schwatzwutz, er könne aus Schwarz Weiß machen. Auch er hatte an der Ausarbeitung der animalistischen Lehre mitgearbeitet und fühlte sich seitdem als ihr Interpret und Propagandist. Die Rebellion kam früher als erwartet. Als Mr. Jones und seine Knechte die Tiere einige Tage lang unversorgt ließen, kam es spontan zum Aufstand, und es gelang, Mr. Jones und seine Leute zu vertreiben. Die Tiere übernahmen die Farm, die jetzt „Farm der Tiere" hieß. Das Farmhaus wurde zum Museum und alle waren der Meinung, dass dort niemals ein Tier wohnen dürfe. Das Lied „Tiere Englands" wurde zur Hymne der Revolution. Die Schweine hatten sich in der Vorbereitung das Lesen und Schreiben beigebracht und teilten den anderen Tieren mit, dass sie die Prinzipien des Animalismus auf sieben Gebote reduziert hätten. Diese sieben Gebote wurden in großen weißen Buchstaben an eine geteerte Scheunenwand geschrieben und den anderen Tieren vorgelesen: Die Sieben
Gebote
1. Alles was auf zwei Beinen geht, ist ein Feind. 2. Alles was auf vier Beinen geht oder Flügel hat, ist ein Freund. 3. Kein Tier soll Kleider tragen. 4. Kein Tier soll in einem Bett schlafen. 5. Kein Tier soll Alkohol trinken. 6. Kein Tier soll ein anderes Tier töten. 7. Alle Tiere sind gleich. 9 Es beginnt die Selbstverwaltung. Das Schwein Napoleon will sich um die Milch kümmern, während Schneeball den Ernteeinsatz leitet. Die Ernte dauerte im Ergebnis sogar zwei Tage kürzer als bei Jones und seinen Leuten. Die Schweine arbeiteten nicht im eigentlichen Sinne, sondern übernahmen die Regie. Alles lief wie am Schnürchen und die Tiere waren so glücklich, wie sie es nie für möglich gehalten hätten. Jeden Sonntag gab es ein Treffen als Generalversammlung. Hier wurde die Arbeit der kommenden Woche geplant, und es wurden Resolutionen einge9
Orwell 1982, S. 25.
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bracht und debattiert. Es waren immer die Schweine, welche die Resolution einbrachten, und in den Debatten waren Schneeball und Napoleon die aktivsten. Sie waren aber selten einer Meinung. Das Treffen endete nach den Abstimmungen stets mit dem Absingen der Hymne „Tiere Englands". Es wurden Lese- und Schreibklassen eingerichtet und alle Tiere bildeten sich entsprechend weiter, wenngleich eine Voll-Alphabetisierung nicht erreicht werden konnte. Für die nicht so intelligenten Tiere wurde der Animalismus auf die einfache Formel gebracht: „Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht." 10 Vor allem die Schafe blökten das Motto stundenlang, ohne es jemals sattzubekommen. — Napoleon nahm neun stramme Welpen ihren Müttern weg und sagte, er werde persönlich für ihre Erziehung haften. Das Geheimnis, wohin die Milch ging, klärte sich bald auf. Sie wurde täglich dem Futter der Schweine beigemischt. Auch das Fallobst und später die reifen Äpfel wurden ihnen eines Tages reserviert. Schwatzwutz, der Propagandist, erläuterte, dass man diese Dinge an sich nehme, um die Gesundheit der Schweine zu erhalten, was besonders wichtig sei, denn: „Wir Schweine sind Kopfarbeiter. Wir wachen Tag und Nacht über eure Wohlfahrt. Um euretwillen trinken wir diese Milch und essen wir diese Äpfel. Wisst ihr, was geschehen würde, wenn wir Schweine in unserer Pflicht versagten? Jones würde zurückkommen!" 11 Und das wollte natürlich niemand. — Tatsächlich kommt es durch Mr. Jones und weitere Menschen zu einem Rückeroberungsversuch der Farm. Die Tiere wehren sich heftig und gewinnen durch eine taktische List von Schneeball, der besonders mutig war und bei der später so genannten „Schlacht am Kuhstall" auch erheblich verletzt wurde. Es bürgerte sich ein, dass den Schweinen, die deutlich klüger waren als die anderen Tiere, die Entscheidung in allen Fragen der Farmpolitik anstand, obwohl ihre Entscheidungen noch durch einen Mehrheitsbeschluss ratifiziert werden mussten. Die Dispute zwischen Schneeball und Napoleon wurden immer heftiger und jeder hatte seine Gefolgschaft. In der Frage des Baues einer Windmühle kam es zu einer folgenschweren Kontroverse. Schneeball propagierte die Windmühle, um einen Dynamo anzutreiben und die Farm mit Elektrizität zu versorgen. Napoleon war kategorisch dagegen. Schneeball beschwor die Bilder phantastischer Maschinen herauf, die ihnen allen die Arbeit abnehmen würden. Napoleon hingegen wollte vor allem die Futterproduktion steigern. Auch in Verteidigungsfragen waren beide uneins. Nach Napoleons Ansicht mussten sich die Tiere Schusswaffen besorgen und in deren Gebrauch üben. Nach Schneeballs Meinung mussten sie zunehmend mehr Tauben aussenden und unter den Tieren der anderen Farmen die Rebellion schüren. — Es sollte jetzt zur Abstimmimg über die Windmühle kommen, und es war nach der Schlussdebatte für die meisten keine Frage, dass Schneeballs 10 11
Orwell 1982, S. 32. Orwell 1982, S. 34.
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glühendes Plädoyer eine deutliche Mehrheit für den Bau der Windmühle erbringen würde. Zur Abstimmung kam es indes nicht, denn plötzlich griff Napoleon ein, indem er neun scharfe und riesige Hunde zu sich rief, die sich auf Schneeball stürzten, der ihnen jedoch knapp entkommen konnte. Er wurde nie wieder gesehen und war damit von der Farm vertrieben. Die Kampfhunde waren ursprünglich die neun Welpen, die Napoleon heimlich aufgezogen und abgerichtet hatte. — Napoleon schafft die Sonntagsversammlungen ab und die Arbeitsverteilung etc. wird fortan von einem Schweine-Sonderkomitee unter seinem Vorsitz geregelt. Die Sitzungen seien geheim und die Entschließungen würden anschließend den anderen mitgeteilt werden. Debatten werde es keine mehr geben. Nach der Schneeball-Vertreibung erklärte der Propagandist Schwatzwutz, er hoffe, dass Jedes Tier hier das Opfer zu würdigen weiß, das Genosse Napoleon bringt, indem er sich diese Extraarbeit aufbürdet. Glaubt nicht, Genossen, dass Führerschaft ein Vergnügen ist! Im Gegenteil, sie bedeutet eine tiefe und schwere Verantwortung. Keiner glaubt unverbrüchlicher als Genosse Napoleon daran, dass alle Tiere gleich sind. Er ließe euch nur allzugerne eure eigenen Entscheidungen treffen. Doch manchmal könntet ihr die falschen Entscheidungen treffen." So, wenn man Schneeball und seinem Windmühlen-Gefasel gefolgt wäre, wobei man von Schneeball inzwischen wisse, dass er ein Verbrecher sei. Auf den Einwand, Schneeball habe in der Schlacht am Kuhstall hervorragend gekämpft, antwortet Schwatzwutz: „Tapferkeit ist nicht genug, Loyalität und Gehorsam sind wichtiger. ... Disziplin, Genossen, eiserne Disziplin! Das ist für heute die Parole. Ein falscher Schritt, und unsere Feinde würden über uns herfallen." 12 Man wolle schließlich nicht Mr. Jones wiederhaben — und auch diesmal erwies sich dieses Argument als unschlagbar. Ein paar Wochen später verkündete Napoleon in seinen Weisungen den Bau der Windmühle. Schwatzwutz erklärte den anderen Tieren im Vertrauen, dass Napoleon in Wahrheit niemals gegen die Windmühle gewesen wäre, er habe sie von Anfang an befürwortet und nur aus taktischen Gründen habe er sich zunächst dagegen ausgesprochen. Die Tiere waren sich nicht ganz schlüssig, was das Wort „taktisch" bedeutete, aber Schwatzwutz sprach wie immer überzeugend, und die Hunde, die ihn zufallig begleiteten, knurrten so bedrohlich, dass sie seine Erklärung ohne weitere Fragen akzeptierten. — Die Tiere arbeiteten wie die Sklaven, insbesondere der Bau des Windmotors stellte eine große Belastung dar. Das Pferd Boxer verdoppelte seine Anstrengungen und arbeitete noch zusätzlich und freiwillig — ein Stachanow-Typ. Dieser „Held der Arbeit" Boxer, der ungemein sympathisch gezeichnet ist, hat politisch zwei für ihn hinlängliche Devisen gefunden, mit
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Orwell 1982, S. 50/51.
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denen er alle Probleme beantwortet: „Ich werde noch härter arbeiten" und „Napoleon hat immer recht". 13 Aufgrund von Verknappungen verkündet Napoleon den Tieren am Sonntag bei der Befehlsentgegennahme, dass er sich zu einer neuen Politik entschlossen habe, nämlich in Handelsbeziehungen zu den von den Menschen geführten Nachbarfarmen zu treten. Es werde Geld gebraucht und ihrerseits müsste ein Großteil der Eier verkauft werden. Ein ansässiger Rechtsanwalt, Mr. Whymer, habe eingewilligt, als Vermittler zwischen der Farm der Tiere und der Außenwelt zu agieren. Die Tiere erkennen insbesondere einen Verstoß gegen das 1. Gebot usw., aber Schwatzwutz hat wieder genügend Erklärungen parat und beschwichtigt die Gemüter. Resolutionen gegen Handel und gegen den Gebrauch von Geld seien niemals gefasst, ja nicht einmal eingebracht worden. Das sei pure Einbildung und wahrscheinlich von allem Anfang an auf Lügen zurückzufuhren, die Schneeball in Umlauf gesetzt habe. — Ungefähr um diese Zeit geschah es, dass die Schweine ins Farmhaus umzogen und dort ihre Residenz aufschlugen. Schwatzwutz erklärte, dies sei absolut nötig, damit die Schweine als Gehirn der Farm einen ruhigen Arbeitsplatz hätten. Es stände auch besser der Würde des Führers an, wie Napoleon fortan tituliert wurde. Dennoch waren einige der Tiere verwirrt, als die Schweine nicht nur ihre Mahlzeiten in der Küche einnahmen und das Wohnzimmer als Freizeitraum benutzten, sondern auch in den Betten schliefen. Als man das vierte Gebot betrachtete, stand geschrieben: Kein Tier soll in einem Bett schlafen mit Leintüchern. 14 An den Zusatz konnte man sich nicht erinnern, aber dort stand es ja geschrieben. Ferner wurde festgelegt, dass die Schweine von nun an eine Stunde später aufstehen würden als die anderen Tiere. Nach einer Sturmnacht liegt die halb fertige Windmühle in Trümmern, wofür Schneeball verantwortlich gemacht und in Abwesenheit zum Tode verurteilt wird. Der Wiederaufbau verlangt noch größere Opfer. Ein harter Winter kommt. Napoleon erscheint nur noch selten in der Öffentlichkeit, sondern brachte die ganze Zeit im Farmhaus zu, das an allen Türen von grimmig schauenden Hunden bewacht wird. Der Vertrag über die Lieferung von Eiern pro Woche wird erhöht. Die protestierenden Hühner, die zum Boykott aufriefen, werden ausgehungert. Die übrigen Hühner finden sich ins Unvermeidliche, der Vertrag wird erfüllt. Immer wenn etwas schiefgeht, wird dies Schneeball zugeschrieben. Er sei von Anfang an der Agent von Mr. Jones gewesen und plante eine Gegenrevolution. Es werden „Mitverschwörer" ausfindig gemacht. Diejenigen, die in der Vergangenheit ein wenig aufbegehrten, werden zur Selbstbezichtigung gezwungen, öffentlich abgeurteilt und von den Hunden getötet. Die Geschichte von Geständnissen und Hinrichtungen setzte sich fort, bis ein Leichenhaufen vor Napoleons Füßen lag und die Luft 13 14
Orwell 1982, S. 51. Orwell 1982, S. 60.
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schwer vom Blutgeruch war, den man seit der Vertreibung von Mr. Jones dort nicht mehr gekannt hatte. Seit Jones die Farm verlassen hatte, war bis heute kein Tier von einem anderen getötet worden. Sie hatten es auf der Farm der Tiere jetzt zu einer Zeit gebracht, wo niemand es wagte, seine Meinung zu sagen, wo überall wilde, knurrende Hunde herumstöberten und man es mitansehen musste, wie die eigenen Genossen in Stücke gerissen wurden, nachdem sie empörende Verbrechen gebeichtet hatten. Die verbliebenen Tiere stimmten das Lied „Tiere Englands" an, aber so langsam und kummervoll hatten sie es noch nie gesungen. Das Lied wurde umgehend durch einen Sondererlass Napoleons abgeschafft. Es sei das Lied der Rebellion, die jetzt abgeschlossen sei nach der Hinrichtung der Verräter. Es wurde durch ein anderes, im Vergleich dazu ziemlich dürftiges Lied ersetzt. — Mit den Hinrichtungen war das vierte Gebot eigentlich nicht zu vereinbaren, aber an der Wand stand jetzt: Kein Tier soll ein anderes Tier töten ohne Grund. 15 Irgendwie waren die letzten zwei Worte dem Gedächtnis der Tiere entfallen, aber das Gebot war offensichtlich nicht gebrochen worden. — Die Tiere arbeiteten noch härter und unter nicht besseren Futterbedingungen als zu Jones' Zeiten. Aber Schwatzwutz las ihnen jeden Sonntag Zahlenkolonnen vor, die bewiesen, dass die Produktion von Futtermitteln jeder Art — j e nachdem — um 200 Prozent, um 300 oder gar um 500 Prozent angestiegen war. Alle Befehle ergingen jetzt durch Schwatzwutz oder andere Schweine. Napoleon bewohnte im Farmhaus von den anderen getrennte Räume und wurde nunmehr als „unser Führer, Genosse Napoleon" tituliert. Er lässt von und um sich einen Kult machen und wird u.a. „Vater aller Tiere" oder „Schrecken der Menschheit" genannt. Die Mühle wird unter Mühen fertiggestellt und bekommt von Napoleon den Namen „Napoleons-Mühle". An eine Nachbarfarm wird Bauholz verkauft. Die Banknoten, die Napoleon erhält, erweisen sich als gefälscht. Aber dieser Umstand fuhrt nicht zu neuen Aufregungen, weil ein anderer Nachbarfarmer mit seinen Leuten die Farm angreift. Sie sprengen die Windmühle in die Luft. Die Tiere waren daraufhin so empört, dass es zu einer wilden, erbitterten und blutigen Schlacht mit einigen Toten auf beiden Seiten kommt. Die Tiere gewinnen mit großer Mühe. Fast jedes Tier trägt eine Verletzung davon. Sogar Napoleon, der die Operationen von der Nachhut aus leitete, wurde die Schwanzspitze von einem Schrotkorn abgezwickt. Die „Schlacht um die Windmühle" wird als großer Sieg propagiert, obwohl viele Tiere skeptisch sind, weil ja die Windmühle zerstört wurde. Aber die Banknotenaffäre war vergessen. Napoleon und seine Leute waren bei den Feiern auf Whisky gestoßen. Nachts wurde Napoleon mit einem alten Bowler von Mr. Jones auf dem Kopf gesehen, wie er rasch einmal um den Hof herumgaloppierte. — Am
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Orwell 1982, S. 78.
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nächsten Tag wurde von Schwatzwutz die Mitteilung gemacht, Napoleon liege im Sterben. Als seine letzte Tat auf Erden habe Genosse Napoleon eine feierliche Anordnung erlassen: Der Genuss von Alkohol sei mit dem Tode zu bestrafen. — Dann besserte sich Napoleons Befinden und er genas bald wieder. Offensichtlich wurde auch der Winkeladvokat damit beauftragt, Broschüren über das Brauen und Destillieren zu besorgen, und in der Nähe des Farmhauses wurde Gerste angebaut. Neben den Geboten fand man morgens den kurz betäubten Schwatzwutz, der von der Leiter gefallen war. In der Nähe lagen eine Laterne, ein Pinsel und ein Topf mit weißer Farbe. Das fünfte Gebot lautete jetzt: Kein Tier soll Alkohol trinken im Übermaß. 16 Der Eiervertrag wurde erhöht, das Futter immer knapper. Trotzdem belegte Schwatzwutz immer wieder anhand von Zahlen, dass es allen weitaus besser ginge als zu Jones' Zeiten. Die wenigsten erinnerten sich an diese Zeiten. Auf der Farm ist inzwischen jede Widerstandskraft gebrochen, die Anpassung und Unterjochung sind perfekt. Die Farm der Tiere wird zur Republik ausgerufen und Napoleon als einziger Kandidat einstimmig zum Präsidenten gewählt. Das Pferd Boxer, ein Arbeitswunder, ist mit seinen Kräften am Ende und wird von Napoleons Clique angeblich in ein Krankenhaus, in Wirklichkeit aber zum Abdecker gebracht. Die Zustände sind für alle herrschaftsunterworfenen Tiere nicht anders als zu Jones' Zeiten, nur die Schweine und die Hunde hatten sich enorm verbessert. Sie leisteten höchst verantwortungsvolle Arbeit, wie Schwatzwutz propagierte; sie wendeten täglich große Mühen auf und erstellten Akten, Rapporte, Protokolle und Memoranden. Anhand der Zahlenkolonnen wurde bewiesen, dass alles immer besser und noch einmal besser werde. Der alte Esel Benjamin rief den Tieren ins Gedächtnis, dass ihr Lebensschicksal nun einmal Hunger, Mühsal und Enttäuschung sei, trotzdem gaben die meisten Tiere die Hoffnung nicht auf. Sie hielten es nachwievor für eine Ehre und ein Privileg, der einzigartigen Farm der Tiere anzugehören. Schwatzwutz befahl eines Tages den Schafen, ihm zu folgen. Kurze Zeit später sah man erst Schwatzwutz und dann die anderen Schweine auf den Hinterbeinen laufen! Es war so, als wäre die Welt auf den Kopf gestellt, und plötzlich blökten alle Schafe wie auf ein Signal hin: „Vierbeiner gut, Zweibeiner bessert 17 — und das immer und immer wieder. — Die Gebote an der Wand waren verschwunden, an ihrer Stelle gibt es jetzt nur noch ein einziges: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher". 18 Die Tiere wunderten sich nicht mehr, als die Schweine die Garderobe von Mr. Jones trugen, dass sie von den Farmern besucht wurden und zusammen soffen, Karten spielten und sich stritten. Die Farm gehörte jetzt den Schweinen und die Anrede „Genosse" wurde abgeschafft. Auch der Schädel von 16 17 18
Orwell 1982, S. 93. Orwell 1982, S. 112. Orwell 1982, S. 113.
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Politische Utopien
Old Major wurde entfernt. Napoleon verkündete den Menschen, dass die Farm jetzt wieder „Herren-Farm" hieße, insofern es ihr korrekter und ursprünglicher Name sei. Die Tiere draußen sahen etwas Sonderbares in den Gesichtern der Schweine. Als kurz darauf beim Kartenspiel die Farmer und die Schweine in Streit gerieten, klangen alle Stimmen im Gebrüll gleich. Die Tiere sahen wieder durch das Fenster und blieben unbemerkt. „Jetzt stand außer Frage, was mit den Gesichtern der Schweine passiert war. Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war." 19 So endet die „Farm der Tiere". Es ist eine Parabel im Hinblick darauf, dass Revolutionen letzten Endes nur eine Verschiebung im Kaleidoskop der Macht herbeifuhren. Alle Ideale der Revoltuion werden verraten. Natürlich kann man sagen, Napoleon ist Stalin, Schneeball ist Trotzki, Old Major ist Marx oder Lenin und so weiter, aber Orwells Intentionen sind — wie gesagt — grundsätzlicher, indem er vor dem Totalitarismus generell warnen will. Das kommt noch akzentuierter und ohne jede Ironie, die bei der „Animal Farm" durchaus gegeben war, in George Orwells letztem Buch und besonders düsterem Werk „1984" (aus dem Jahre 1948, d.h. die letzten beiden Ziffern wurden ausgetauscht) in grandioser und abschreckender Weise zum Ausdruck. „1984" ist vom schwerkranken Orwell auf der schottischen Insel Jura geschrieben worden, und zwar nur unter dem Einsatz starker Medikamente. An diesem Buch schrieb Orwell Tag für Tag, pausenlos. Es sollte seine letzte große Arbeit sein. Das fertige, schwer lesbare Manuskript hat er noch einmal selbst sauber abgetippt. Für die amerikanische Ausgabe wurden Streichungen verlangt, die Orwell nicht akzeptierte. „1984" ist sein packendstes Werk und der Riesenerfolg, den es bis heute gefunden hat, ist wohlverdient. In der früheren DDR war es (wie „Animal Farm") offiziell nicht zu erhalten, obwohl es kursierte. 20 Aber auch mit diesem Buch wollte Orwell gegen alle Totalitarismen anschreiben. Er reduzierte dabei das Herrschaftsmotiv auf die reine Macht. Schon seit Jahren neigte er nämlich der Auffassung zu, dass Diktatoren wie Hitler und Stalin die Ideologie nur dazu diente, ihren unverhüllten Machtmissbrauch zu kaschieren. 19 20
Orwell 1982, S. 119. Von den osteuropäischen Dissidenten wurde Orwell (veibotenerweise) viel gelesen. Lange vor dem Zusammenbruch des dogmatisierten Realsozialismus analysierte beispielsweise Milan Simecka Orwells „1984" mit dem Ergebnis, dass er, selbst in der inneren Emigration befindlich, Winston Smith als seinen Bruder im Geiste identifizieren konnte, denn: „Ich bin in einer Welt verbotener Bücher, veränderter Vergangenheit und allgegenwärtiger Indoktrination aufwachsen", Simecka 1985, S. 298. Er hält das Buch für bewundernswert, weil es sich ein paar Jahrzehnte später mit den historisch-situativen Erlebnisräumen wirklicher Menschen deckt. „1984" vermittelt das Gnindgefühl, inmitten eines Lügenschleiers der zweckgerichteten Wahrheit einer anonymen Macht hilflos ausgeliefert zu sein. Im ganzen Buch werde „das ärmliche Skelett des absurden Geschwätzes enthüllt, das vom gesamten gedanklichen Reichtum der Menschheit übrig bleibt, wenn das Geistesleben einer primitiven, machtorientierten Reglementierung unterworfen wird", Simecka 1985, S. 320.
Fallbeispiele von Platon bis Orwell: George Orwell
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Hauptfigur ist ein 39-jähriger Engländer im London des Jahres 1984 mit Namen Winston Smith. Sein Schicksal zwischen versuchtem Aufbegehren und seiner „Umfunktionierung" zu einem willenlosen Angepassten in dem vom „Großen Bruder" beherrschten Staat Ozeanien ist das Zentrum des Romans. Daneben ist 1984 aber auch eine Liebesgeschichte, wenngleich ohne das große Happy End. — London ist Stützpunkt Nr. 1 der Supermacht Ozeanien, die sich zuerst mit einer zweiten Supermacht Eurasien, dann mit einer dritten Supermacht Ostasien — bzw. abwechselnd mit beiden Mächten in einem permanenten Krieg befindet. Unter der drohenden Allgegenwärtigkeit des Großen Bruders ist die Gesellschaft Ozeaniens in drei Kasten gegliedert. Zur ranghöchsten Kaste gehören die sehr wenigen Mitglieder der sog. „inneren Partei", gefolgt von den zahlreichen Mitgliedern der „äußeren Partei", zu denen auch Smith gehört. Schließlich gibt es noch die rechtlos dahinvegetierende Masse der „Proles", immerhin 85 % der Bevölkerung. Die ozeanische Gesellschaftsordnung beruht auf der Ideologie, dass der Große Bruder allmächtig und stets gegenwärtig und die allein herrschende Partei in jeder Hinsicht unfehlbar ist. — Vier Ministerien überwachen das öffentliche wie auch das private Leben, damit das System nicht einer anderen Ideologie verfalle. Das Hauptfeindbild ist ein gewisser abtrünniger Emmanuel Goldstein und die von ihm vertretene Doktrin des „Goldsteinismus", die als konterrevolutionär eingeschätzt wurde, da sie die Rede-, Presse-, Versammlungs- und Gedankenfreiheit einforderte. Goldstein war der erste Verräter, ein Beschmutzer der Reinheit der Partei und daher ein Volksfeind. Um diese und weitere Feindbilder zu internalisieren, werden regelmäßig so genannte „Hasswochen" veranstaltet. Auch werden die gefangenen Kriegsverbrecher der Feindesstaaten einmal im Monat öffentlich im Park gehängt, was besonders für Kinder immer wieder ein imposantes Schauspiel war. Dass die Kinder auch zur Bespitzelung ihrer eigenen Eltern angehalten werden, gehört ebenfalls zum sozialpsychologischen System des Großen Bruders. Die vier Ministerien sind einmal das Wahrheitsministerium (in der ozeanischen Neusprache „Miniwahr" genannt), in welchem auch Winston Smith in untergeordneter Position arbeitet. Es befasst sich mit dem Nachrichtenwesen, der Freizeitgestaltung, dem Erziehungswesen und den schönen Künsten, und zwar in höchst repressiver Weise. Ferner gibt es ein Friedensministerium (Minipax), das die Kriegsangelegenheiten behandelt, des Weiteren besteht ein Ministerium für Liebe (Minilieb), welches Gesetz und Ordnung aufrechterhält, schließlich ein Ministerium Überfluss (Minifluss), das die Rationierungen berarbeitet. — Überall sind Plakate des Großen Bruders aufgestellt. Sie zeigen das Gesicht eines Mannes von etwa 45 Jahren mit einem dicken schwarzen Schnauzbart und ansprechenden, wenn auch derben Zügen. Die Bildnisse sind so gemalt, dass einen die Augen überallhin verfolgen. „Der Große Bruder sieht dich an!" 21 (Big Brother is watching 21
Orwell 1994, S. 5.
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Politische Utopien
you) lautet die Schlagzeile darunter. Überall sind auch Apparate installiert, so genannte Hörsehschirme, auch Televisor genannt. Sie dienen der Dauerpropaganda und gleichzeitig der Überwachung der Zuschauer. Der Televisor ist also gleichzeitig ein Empfangs- und ein Sendegerät. Des Weiteren ist eine Gedankenpolizei ebenfalls allgegenwärtig, der nichts entgeht, indem sie sich ständig in die Apparate, auch in die Privatapparate zuhause, einschalten kann. Man wusste nie, wann das der Fall ist. Das Zwiedenken („doublethink") und die Wirklichkeitskontrolle ist perfektioniert und das soziale Verhalten reglementiert. Die größte Gefahr bestand darin, im Schlaf zu sprechen. Denn ansonsten ist es für jeden am besten, seine Gefühle zu verschleiern, sein Gesicht zu beherrschen und das zu tun, was jeder tut. Man lebt in Ozeanien zumeist einsam und allein, überwacht und armselig. Es gibt kein Eigenleben, keine Freundschaft und so gut wie keine Liebe. Nur synthetischen Gin gibt es reichlich. Das Wahrheitsministerium ist ein pyramidenartiger Betonbau ohne Fenster, der sich terassenförmig 300 m hoch in die Luft reckt. An der weißen Front sind die drei in schönen Lettern gemeißelten Wahlsprüche der Partei zu lesen 22:
KRIEG B E D E U T E T F R E I H E I T IST
FRIEDEN
SKLAVEREI
U N W I S S E N H E I T IST
STÄRKE
Das Wahrheitsministerium enthält dreitausend Räume und dieselbe Zahl unter der Erde. Winston Smith ist dort ein kleiner Angestellter in der Registrierabteilung. Die Wahlsprüche, die von der Partei für die neue Gesellschaft („Engsoz" = „englischer Sozialismus") festgelegt werden, werden dort propagiert. Smith hat die Aufgabe, altes Archivmaterial (insbesondere Zeitungen) den neuen Deutungen anzupassen, d.h. er bringt das alte Material auf den jeweils neuesten Stand der Parteiwahrheit. Er ist insgesamt ein kleines Rädchen zur Eliminierung von Geschichte und kultureller Tradition im ozeanischen totalitären System, das jede Denk- und Handlungsabweichung ausschließen will. Dabei werden alle Maßnahmen genutzt, so die permanente Überwachung und Bespitzelung, die Indoktrinierung mit Slogans, Frustration (durch Unterdrückung der Sexualität, Kriegspsychose, kalkulierte Mangelwirtschaft und Kanalisierung der aufgestauten Aggressionen), systematische Geschichtsfalschung und Sprachreglementierung („Newspeak", die manipulierende, nichtssagende Neusprache). Auch die gesamte Literatur der Vergangenheit wird allmählich zum Verschwinden gebracht bzw., falls überhaupt, nur noch in Neusprachfassungen vorliegen. 22
Oiwell 1994, S. 7.
Fallbeispiele von Platon bis Orwell: George Orwell
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Winston Smith ist auf der Suche nach starken und wertvollen Gefühlen, die er in dieser Zeit nicht findet. In seiner Wohnung führt er ein Tagebuch das er gegen den Zimmer-Bildschirm hin abgewendet heimlich in einer Nische schreibt. Seinem Diarium vertraut er an: „Nieder mit dem Großen Bruder!" — Das war ein enormes Gedankenverbrechen, für das die Menschen einfach verschwanden, immer mitten in der Nacht. Kein Mensch, der einmal in die Hände der Gedankenpolizei gefallen war, kam schließlich heil davon. Die Abweichler waren praktisch Leichen auf Urlaub. Winston Smith durchstreift auf der Suche nach Sinn auch die Viertel der Proles. Sie sind eigentlich die einzigen, die frei sind, aber unter maroden Umständen. In einem Trödlerladen kauft er einen Briefbeschwerer aus Glas mit einer eingeschlossenen Koralle, weil dieser Gegenstand einer anderen Zeit, einer unverfälschten Vergangenheit angehört. Der alte Mann im Laden, Mr. Charrington, zeigt ihm auch ein Zimmer, das Smith später mieten wird. In dem Zimmer über dem Laden wird er sich mit seiner Geliebten Julia treffen, es soll ihr Refiigium werden. Julia, die ebenfalls im Wahrheitsministerium arbeitet, spielt ihm einen Zettel mit der Aufschrift „Ich liebe Sie" zu. Sie treffen sich unter Beachtung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln, zunächst im schützenden Gedränge am Victory Square, dann irgendwo auf dem Land, schließlich in dem kleinen Zimmer. Eine sehr schöne Liebesbeziehung beginnt. Winston Smith sieht ihre sinnlichen Umarmungen und ihre sich erfüllende Beziehung in einem besonderen Licht. Insofern alles mit Angst und Hass durchsetzt war, war ihre „Umarmung ein Kampf, der Höhepunkt ein Sieg. Es war ein gegen die Partei geführter Schlag. Ein politischer Akt." In Ozeanien ging das Gerücht, dass eine Opposition im Untergrund arbeitete, genannt „Die Brüderschaft". Auch flüsterte man von einem schrecklichen Buch, einer Zusammenfassung aller Irrlehren, dessen Verfasser der Jude Goldstein war und das heimlich zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel und man sprach nur von „dem Buch". Aber man wusste hiervon nur durch vage Gerüchte, kein gewöhnliches Parteimitglied sprach darüber, wenn es sich vermeiden ließ. — Smith fühlt sich zu O'Brien, einem Mitglied der „Inneren Partei" hingezogen, weil er in ihm auch abweichlerisches Denken vermutet. Er musste zur Brüderschaft gehören. Zusammen mit Julia besucht Winston O'Brien, der luxuriös wohnt und sogar über einen Diener verfügt. Auch kann er den Televisor abschalten. Von O'Brien erhält Winston Smith das Buch von Goldstein. Es hatte einen Titel, der da lautete: „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus".23 Dort waren alle Herrschaftsmechanismen und die Funktionen des Zwiesprech dargestellt. Winston Smith wusste jetzt um das „Wie", aber fragte noch immer nach dem „Warum". 23
Die betreffenden Passagen sollten für die amerikanischen Buchclubs gestrichen werden. Orwell bestand indes mit Erfolg darauf.
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Es kommt schließlich, wie es kommen musste. Julia und Winston werden nachts in ihrem Zimmer über dem Laden gestellt, zusammengeschlagen und abgeführt. Der Vermieter Mr. Charrington gehörte zur Geheimpolizei. Winston erwacht in einer gekachelten Zelle ohne Fenster, Tag und Nacht beleuchtet und mit Televisoren an jeder Wand. Er befand sich wahrscheinlich im Liebesministerium und sollte fortan gefolgert und gequält werden. Und zwar von O'Brien, auf den er seine Hoffhungen gesetzt hatte. Zwischen den einzelnen Folterungen erläutert O'Brien die Grundzüge der Herrschaft des Großen Bruders und der Partei. — Ein Wahlspruch der Partei lautete: Wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit. Ferner: Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit. „Es ist unmöglich, die Wirklichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen. Diese Tatsache müssen Sie wieder lernen, Winston. Dazu bedarf es eines Aktes der Selbstaufgabe, eines Willensaufwandes. Sie müssen sich demütigen, ehe Sie geistig gesund werden können." 24 — Die Gehirnwäsche mit den Stufen „Lernen, verstehen und bejahen" nimmt ihren grauenhaften Lauf. Auch Julia wird von Winston verraten, wie sie ihn verraten hat. Wenn die Partei sagt, vier und vier sind fünf, dann sind vier und vier fünf. Das Goldstein-Buch hat O'Brien konzipiert. Die Aktivitäten von Winston Smith und sein Tagebuch waren ihm von Anfang an bekannt. Der totale Zusammenbruch von Winston Smith ist gleichsam vorprogrammiert. Und er erfährt von O'Brien auch das Warum, gleichsam das Herrschaftsmotiv: „Wir geben uns nicht zufrieden mit negativem Gehorsam, auch nicht mit der kriecherischen Unterwerfung. ... Wir .. bringen einem Menschen erst das richtige Denken bei, ehe wir seinen Denkapparat vernichten." 25 Das richtige Denken ist die Liebe zum Großen Bruder. Der Große Bruder ist die Verkörperung der Partei. Die Herrschaft der Partei gilt für immer. „Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen: uns interessiert einzig und allein die Macht als solche ...— nur Macht, reine Macht." 26 — „Eine Diktatur wird nicht eingesetzt, um eine Revolution zu sichern: sondern man macht eine Revolution, um eine Diktatur einzusetzen. Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht." 2 7 Es gibt nichts, was wir nicht machen könnten. Uns interessiert nur die Macht über Menschen. „Macht besteht darin, Schmerz und Demütigungen zufügen zu können. Macht heißt, einen menschlichen Geist in Stücke zu reißen und ihn nach eigenem Gutdünken wieder in neuer Form zusammenzusetzen." 28 Die alten Kulturen erhoben Anspruch darauf, auf Liebe oder Gerechtigkeit gegründet zu sein. Die unselige ist auf Hass gegründet. In un-
24 25 26 27 28
Orwell Orwell Orwell Orwell Orwell
1994, 1994, 1994, 1994, 1994,
S. S. S. S. S.
229. 234/235. 242. 242. 245.
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serer Welt wird es keine anderen Gefühle geben als Hass, Wut, Frohlocken über einen besiegten Feind und Selbstbeschämung. Alles andere werden wir vernichten — und zwar alles. „Aber immer... wird es den Rausch der Macht geben, die immer mehr wächst und immer raffinierter wird.... Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt — immer und immer wieder. ... Und vergessen Sie nicht, dass das für immer gilt. Das Gesicht zum Treten wird immer da sein. Den Ketzer, den Feind der Gesellschaft, wird es immer geben, so dass er immer wieder besiegt und gedemütigt werden kann. ... Es wird sowohl eine Welt des Schreckens als des Triumphes sein. Je mächtiger die Partei ist, desto weniger duldsam wird sie sein." 29 Am Schluss werden Sie diese Welt „begrüßen, sie willkommen heißen, sich zu ihr bekennen." 30 Winston hatte noch entgegnet, dass eine Kultur, die auf Furcht, Hass und Grausamkeit aufbaut, keinen Bestand haben werde. 31 Demgegenüber hält O'Brien fest, dass man schließlich alles kontrolliere. Die Menschen seien unendlich gefügig. Auch auf die Proles oder andere Sklaven sollte man nicht bauen, denn sie seien hilflos wie die Tiere. 32 Die Menschheit ist die Partei. Die anderen stehen außerhalb und sind belanglos. — In der Schlussfolter im berüchtigten Raum 101 werden Ratten (wovor er sich am meisten fürchtete) auf Winston Smith angesetzt [heute sind die Foltermethoden wesentlich grausamer und ausgeklügelter, A.W.] und er bietet an seiner Statt Julia an. Er hat sie und sich gründlich verraten. — Das Buch endet damit, dass Winston die Folterungen überlebt, sich in etwa regeneriert und überraschend entlassen wird. Er ist jetzt ein völlig deformierter, angepasster Mensch. Er trifft auch noch einmal Julia, die ebenfalls draußen ist. Sie haben sich nichts mehr zu sagen, Julia empfindet sogar nur noch Abscheu. Auch Winston ist Julia völlig gleichgültig. Ihre große Liebe ist erloschen und sie sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. „Aber nun war es gut, war alles gut, der Kampf beendet. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder." 33 Das ist der Schlusssatz. — Was kennzeichnet „1984"? In dieser Utopie dient die Abschaffung der privaten Eigentumsverhältnisse der Befestigung der sozialen Ungleichheit im Interesse des Machtanspruchs einer winzigen Parteioligarchie. Zugleich aber ist die verstaatlichte Wirtschaft nicht auf die Erhöhimg der Produktion, sondern auf die Verallgemeinerung des materiellen Mangels festgelegt. Zwar verkünden offizielle Statistiken neue Produktionsrekorde, doch sie werden permanent gefälscht und manipuliert. Die einzige Produktivkraft, wenn man so will, die wirklich funktioniert, ist das technokratisch betriebene System der Bespitzelung
29 30 31 32 33
Orwell Orwell Orwell Orwell Orwell
1994, 1994, 1994, 1994, 1994,
S. S. S. S. S.
246. 247. 247. 248. 273.
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und der Bewusstseinsmanipulation der Herrschaftsunterworfenen. 34 — Die Proles (85 Prozent der Bevölkerung) fuhren ein Leben am Rande des Existenzminimums ohne Bildungs- und Aufstiegschancen. Aber auch die Mitglieder des äußeren Kreises der Partei — wie der tragische Held Winston Smith — leben äußerst kärglich. Soweit er sich genau erinnern konnte, „hatte man nie Socken und Unterhosen besessen, die nicht voll Löcher waren, war das Mobiliar immer schadhaft und wackelig gewesen, waren die Zimmer ungenügend geheizt, die Untergrundbahn überfüllt, die Häuser verfallen, das Brot dunkel, der Tee eine Rarität, der Kaffee schauderhaft, die Zigaretten zu wenig gewesen. Nichts war billig oder reichlich vorhanden außer dem synthetischen Gin." 35 Im Unterschied zur Promiskuität in Huxleys „Schöner Neuer Welt" (die wir „1984" im Zweifelsfall sicher vorziehen würden) herrscht eine Sexfeindlichkeit vor. Innerhalb der staatstragenden Schicht wird ein strenger sexueller Puritanismus erwartet, während es bei den Proles relativ egal ist, wie sie sich in dieser Hinsicht verhalten. Ihre Kinder haben sowieso keine andere Aussicht als harte und mühselige Arbeit, insofern ist die Vermehrung der Proles nicht unerwünscht. Sie spielen keine herrschaftsrelevante Rolle: „Proles und Tiere sind frei". Bei den Parteimitgliedern ging man hingegen von einem Zusammenhang zwischen Enthaltsamkeit und politischer Strenggläubigkeit aus. 36 Am wichtigsten aber ist: Die Mittel zur Herstellung gesellschaftlicher Stabilität reduzieren sich auf die verschiedenen technischen Varianten der Manipulation oder des offenen Terrors. 37 Die vier Ministerien sind Agenturen einer allmächtigen Staatspartei, an deren Spitze ein totalitärer Diktator steht, der unter dem Namen „Big Brother" firmiert. Das entscheidende technische Mittel der Gedankenpolizei ist der Televisor. Darüber hinaus ist die Sprache zu einem Instrument der Macht degradiert. 38 Das Ziel von „Newspeak" besteht darin, das selbstständige kritische Denken zu verunmöglichen und Dissensmöglichkeiten auszuschließen. Aber nicht nur der Geist wird geknebelt, sondern auch der Körper. Die Folterung Winston Smiths im Rattenkäfig ist ein Beispiel für die physischen Qualen, denen ein Mensch ausgesetzt werden kann, das Verhör durch den Großinquisitor O'Brien (für Orwell ein „verrückter Teufel") eine Gehirnwäsche. Für die Herrschaftsschicht, etwa 2 % der Bevölkerung, die der inneren Partei angehören, ist die Macht zum Selbstzweck geworden. 39
34 35 36 37 38 39
Saage 2000a, S. 334. Orwell 1994, S. 57. Saage 2000a, S. 344/345. Saage 2000a, S. 346. Zum Verhältnis von Politik und Sprache bei (Hobbes und) Orwell siehe Waschkuhn 1998b. Saage 2000a, S. 348/349.
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Die Welt gewordene Gegenwelt des Totalitarismus in „1984" ist „die des verdinglichten Bewusstseins. Abgedichtet gegen die Existentialspannungen offener Wirklichkeitsapperzeption ist der Erfahrungsprozess des Menschen auf einen punktuellen Rest zusammengeschrumpft, der die entleerte Person zum Empfänger empiristisch gesteuerter Meldungen macht." 40 Orwells Studie über den Untergang des .letzten Menschen in Europa' [dies war der Orwell vorschwebende Alternativtitel: „The Last Man in Europe"] fanalisiert die etablierte „Bewusstlosigkeit" einer koerziv verordneten Orthodoxie. 41 Aber natürlich will Orwell mit seiner Schreckensvision des Staates von „1984" im Leser Energien freisetzen, die sich gegen eine solche Entwicklung wenden. Es ist eine Warnutopie: Dieses Horrorgemälde, diese schwarze Utopie und Totalapokalypse soll nicht Wirklichkeit werden. Sowohl „Animal Farm" als auch „1984" sind insofern evident als dystopische Lehrstücke konzipiert. Was ist nach den negativen Utopien von Huxley und Orwell noch möglich, kann man überhaupt noch positive Utopien schreiben, die dem utopischen Traum einer befreiten Menschheit neuen überzeugenden Ausdruck verleihen? Dieser Frage werden wir uns im übernächsten Abschnitt (Teil IV) anhand von Beispielen zuwenden (man kann es also! — und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist voll davon), zuvor ist aber eine grundsätzliche und gelegentlich bereits angedeutete Kritik am Utopismus zu berücksichtigen, die uns auch für die neueren Utopien als eine kritische Folie von Nutzen sein kann.
40 41
Henningsen 1974, S. 150/151. Henningsen 1974, S. 151.
III. UTOPIEKRITIK UND ZWEIFEL
Positive Utopien sind nicht immer positiv, negative Utopien nicht immer abschreckend genug. Überdies haben Utopien zahlreiche konstruktive Schwachstellen, gewissermaßen Webfehler, ferner werden die Implikationen utopischer Entwürfe nicht immer adäquat reflektiert, insbesondere im Hinblick auf ihre Gestaltungsansprüche und Umsetzungskonsequenzen. Vor allem von einer liberalen und zivilgesellschaftlichen Perspektive her, die einer offenen Gesellschaft verpflichtet ist, ist daher eine grundsätzliche Utopiekritik ausformuliert worden, die Zweifel daran aufkommen lässt, ob Utopien sozialwissenschaftlich weiterführend sind. Dass Utopien narrative Qualitäten haben und auch Impulse vermitteln können, ist in den bisherigen Darlegungen deutlich geworden. Aber sind es die richtigen Denkanstöße und müssen die Utopiemuster nicht kritisch hinterfragt werden? Es kommt ja bei allen gesellschaftstheoretischen Konzeptionen immer auch auf die nicht-intendierten Nebenwirkungen und defizienten Befunde in der Ausgestaltung und bei den zu erwartenden Prozessabläufen an, die ggf. analysiert, revidiert und korrigiert werden müssen, um die Zielvorgaben tatsächlich erreichen zu können. Woran mangelt es Utopien grundsätzlich und anhand welcher Prämissen können normative Zweifel begründet werden? Wir beziehen uns hier vor allem auf zwei liberal eingestellte Kritiker, die zu den bedeutendsten Analytikern unserer Zeit gehören, wenn es um allgemeine Problemzusammenhänge geht: Karl Raimund Popper und Ralf Dahrendorf. Die Kritik Poppers an Piaton in seiner Streitschrift „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" haben wir bereits skizziert. Jedoch geht der kritische Rationalist 1 Karl Popper über diese auch generell zu verstehende Kritik noch weiter hinaus und wird ebenso detaillierter. Dies gilt insbesondere für seinen Beitrag „Utopie und Gewalt". 2 Für Popper verficht der Utopismus eine falsche Rationalität und unterliege einem trügerischen Denken. Der Utopist sei auf bestimmte Endziele fixiert und entwerfe eine Strategie der Mittel in Bezug auf diese Ziele. Die Grundausrichtung eines idealen Staates oder der richtigen Gesellschaft werde vorgegeben. Diese Auffassung führe über kurz oder lang zur Gewalt. 3 Es werde negiert, dass man über konkurrierende Werte nicht objektiv entscheiden kann, wissenschaftlich lassen sich nur Implikationen und mögliche Folgen bei der Verfolgung und Durchsetzung 1 2 3
Zum politiktheoretischen Überblick hinsichtlich des kritischen Rationalismus siehe Waschkuhn 1999. Popper 1997 in einer von ihm gebilligten Fassung, die früheren Varianten der Studie waren von ihm hingegen nicht autorisiert. Siehe auch Mohawk 2000 im Hinblick auf die westliche Welt.
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bestimmter Werte aufzeigen. Die Entscheidung für Werte obliegt der menschlichen Willensfreiheit. Die utopischen Ziele werden als Grundlage rationaler politischer Strukturen und Aktionen konzipiert, sie sind aber nur dann allgemein umzusetzen, wenn man sich für das Ziel unwiderruflich entschieden hat. Dem Utopisten bleibt einzig und allein die Möglichkeit, seine utopischen Gegner — also diejenigen, die seine persönlichen politischen Zielsetzungen nicht teilen, seiner „Zivilreligion" nicht angehören oder zu ihr nicht bekennen wollen — zu überzeugen, zu überreden oder sonstwie zu überrumpeln. Er muss aber in der Folge mehr tun. Er muss letzthin alle dissentierenden und konkurrierenden Anschauungen ausmerzen und vernichten, denn der Weg zum utopischen Ziel ist lang. Noch mehr erforderlich wird der Einsatz von Zwang, wenn wir in Betracht ziehen, dass der Aufbau der Utopie höchstwahrscheinlich in eine Periode des sozialen Wandels und einer Krisensituation menschlich-gesellschaftlicher Existenz fallen wird. Gerade in solchen Zeiten — der „neuen Unübersichtlichkeit", um einen Ausdruck von Jürgen Habermas zu gebrauchen — ,aber ist es mehr als wahrscheinlich, dass sich auch die Ideen ändern. Trifft dies zu, läuft die ganze Denkweise Gefahr, in sich zusammenzubrechen. Denn wenn wir unsere politischen Endziele ändern, während wir sie anzusteuern versuchen, werden wir schnell merken, dass wir uns im Kreise drehen. Die ganze Methode, zuerst ein politisches Endziel festzusetzen, um dann dessen Verwirklichung vorzubereiten, aber muss vergeblich sein, wenn sich das Ziel im Prozess dieser Verwirklichung ändern kann. So kann sich beispielsweise herausstellen, dass die bereits durchgeführten Schritte de facto vom neuen Ziel wegführen. Gewalt scheint dann das probate Mittel zu sein, was Änderungen in der Zielsetzung noch verhindern kann — und das schließt Propaganda, Unterdrückimg von Kritik und Zerschlagung jeglicher Opposition ein. Dies ginge mit Beteuerungen der Weisheit und Voraussicht der utopischen Planer einher, die den utopischen Entwurf aufstellen und ausfuhren. Die Technologen von Utopia müssen auf diese Weise zugleich allwissend und allmächtig werden, und sei es nur dem Schein nach. Einerlei, wie wohlwollend die Ziele des utopischen Rationalismus auch seien, sie brächten kein Glück hervor, sondern führten letztlich dazu, zum Leben unter der gut gemeinten, aber verhängnisvollen Tyrannei (und sei es auch nur einer Tyrannei der Werte) verurteilt zu sein. 4 Wie immer man es auch dreht und wendet: Die unausbleiblichen Kontroversen um die vermeintlich richtigen Werte oder Ziele bekommen notgedrungen den Charakter religiöser oder sonstwie bekennerhafter Differenzen und entarten zum Glaubenskrieg. In letzter Konsequenz verbleibt für den Utopisten nur die Möglichkeit, seine Gegner mundtot zu machen oder sie zum dogmatisierten Guten zu zwingen. Die spezifische Rationalität seines Handelns besteht darin, den Weg auf das richtige Ziel hin abzusichern und für eine Stetigkeit im Hinblick auf die Zielsetzung 4
Popper 1997, S. 522/523.
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und Zielerreichung zu sorgen. Dies kann aber nur gelingen, wenn man Konkurrenzreligionen jeder Provenienz und Modalität ausschaltet und möglichst auch jede Erinnerung an sie erstickt. Der Einsatz von Methoden der Gewalt zur Unterdrückung anderer Zielsetzungen ist damit geradezu zwangsläufig gegeben. Utopien sind somit geschlossene Gesellschaften und keine offenen. In meinen Worten (A.W.): Utopien verfugen nicht über Liberalität und Ambiguitätstoleranz. — In utopischen Kontexten werde über die Ziele aber nicht diskutiert, sondern sie stünden unverrückbar fest. Utopien laufen daher nach Ansicht Poppers auf ein Denkverbot hinaus. Statt große Fernziele anzupeilen und ihnen unbeirrt entgegenzusteuern, sollte man besser die konkreten Übel bekämpfen, hic et nunc. Keine Generation dürfe künftiger Generationen zuliebe aus finalen Gründen geopfert oder eingeschränkt werden, denn alle Generationen sind vorübergehend und alle können mit Recht den gleichen Anspruch geltend machen, besonders in Betracht gezogen zu werden im Hinblick auf die Bekämpfung von Elend, Not und Ungerechtigkeit. Wir sollten nie versuchen, des einen Elend abzuwägen gegen des anderen Glück, das prophezeit und proklamiert werde. 5 Popper wehrt sich also entschieden dagegen, dass die jeweilige Gegenwart geopfert werde für den hellen Klang und die Herrlichkeit einer Zukunft, zumal sich die Ideen und Wertvorstellungen, wie die Geschichte zeige, ändern und wir auch nie der Zukunft gewiss sein können. Anderslautende Behauptungen wären ein Ausfluss von Hybris mit verhängnisvollen Implikationen und Weiterungen. Poppers Standpunkt ist demgegenüber eine philosophische Haltung, die der Einsicht folgt, dass wir eben nicht allwissend sind und den größten Teil unseres Wissens anderen zu verdanken haben. 6 Über die Verlaufsrichtung und das „Ziel der Geschichte" aber wissen wir nichts und können es auch nicht. Für Popper überbetont z.B. der Marxismus, dem er in jungen Jahren selbst kurz zuneigte, die ökonomischen Bedingungen und Bezüge, vor allem werde der (auch sozial kreative) Individualismus durch ein krudes Klasseninteresse ersetzt, so dass die Marxisten allesamt dazu neigen, die grundlegende Rolle der formalen Freiheit in einer demokratischen Ordnung zu übersehen resp. als gering einzuschätzen. 7 Die Gegenposition von Popper ist eindeutig: „Es gibt kein Fortschrittsgesetz und alles wird von uns selbst abhängen." 8 Der wahre Rationalist ist deshalb geneigt, die Menschen grundsätzlich als gleich (berechtigt) zu betrachten und die Vernunft als das sie vereinende Band. Der Andere ist insofern stets eine potenzielle Quelle vernünftiger Argumentation. 9 Ihn so zu respektieren heißt zugleich, ihm seine Würde nicht zu nehmen.
5 6 7 8 9
Popper Popper Popper Popper Popper
1997, S. 525. 1997, S. 527. 1992 (II), S. 148. 1992 (II), S. 216/217. 1992 (II), S. 264.
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Die utopistische Finalitätsauffassung und Selbstgewissheit sei gewiss eine anziehende, jedoch eine „allzu anziehende Theorie; denn ich halte sie auch für gefahrlich und verderblich. Sie widerspricht sich selbst, wie ich glaube, und sie fuhrt zur Gewalt." 10 Popper selbst hat, wie er konzediert, nur einen „irrationalen Glauben", nämlich den an die Vernunft. 11 Die Vernunft ist für Popper das genaue Gegenteil eines Instruments der Macht und der Gewalt. Sie ist das Mittel, sie zu zähmen. 12 Die utopische Haltung aber ist der vernünftigen entgegengesetzt und selbstdestruktiv. Die idealen Güter kennen wir nur aus unseren Träumen und aus denen der Dichter und Propheten. Sie lassen sich laut Popper nicht diskutieren, sondern nur verkünden. Sie bedürften nicht der rationalen Haltung, hingegen der emotionalen Attitüde des leidenschaftlichen Predigers. Selbst wenn der Utopismus des Öfteren in rationalistischer Verkleidung aufträte, sei er nicht mehr als ein Pseudorationalismus. 13 Popper will keineswegs politische Ideale als solche kritisieren. Aber er wendet sich dagegen, wobei er natürlich nur eine bestimmte Spielart des Utopismus trifft, dass die Gegenwart für vage Zukunftsversprechen geopfert werde. Denn das müsste im Prinzip dazu fuhren, jede künftige Periode der ihr folgenden zu opfern. Das Bestechende oder Faszinierende des Utopismus entstamme der mangelnden Einsicht, dass wir keinen „Himmel auf Erden" schaffen können. Utopien aber würden dies intendieren. Wir sollten besser aufhören, von fernen Idealen zu träumen und für unsere utopischen Planskizzen einer neuen Welt und eines neuen Menschen zu kämpfen. Das könne nur schiefgehen, und zwar in fataler Weise (woran den Intellektuellen [und das sind die meisten Utopisten, A.W.] ein gerüttelt Maß Schuld zukäme). Der Lauf der Geschichte ist nicht vorhersagbar oder planbar. Insofern sind anmaßende Träume der Weltbeglückung aufzugeben und man habe sich einzulassen auf eine bescheidenere, schrittweise Form der Weltverbesserung nach dem Prinzip der flexiblen und anhaltenden Fehlerkorrektur. Die Idee einer utopischen sozialen Planung großen Stils hingegen sei ein Irrlicht, das uns in einen Sumpf lockt. Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, fuhrt uns dazu, die Erde in eine Hölle zu verwandeln — eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können. 14 Zwar enthält jede Utopie, wie wir gesehen haben, eine gehörige Portion Zeitkritik, woran durchaus angesetzt werden kann. Die überschießenden Momente der 10 11 12 13 14
Popper 1997, S. 520. Popper 1997, S. 518. Popper 1997, S. 527. Popper 1997, S. 525. Popper 1987, S. VIII. — Poppers Verhältnis zu Intellektuellen ist ambivalent. Die Zukunft ist offen und wir können sie beeinflussen. „Wir" sind vor allem die Intellektuellen, „also Menschen, die an Ideen interessiert sind; also insbesondere die, die lesen und vielleicht auch schreiben". Die Intellektuellen hätten allerdings „seit Jahrtausenden den grässlichsten Schaden gestiftet": „Der Massenmord im Namen einer Idee, einer Lehre, einer Theorie — das ist unser Weik, unsere Erfindung: die Erfindung von Intellektuellen. Würden wir nur damit aufhören, die Menschen gegeneinander zu hetzen — oft mit den besten Absichten —, damit allein wäre schon viel gewonnen." Popper 1996, S. 246/247.
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Utopie hingegen sind eher zu vermeiden. Die konkrete Handlungsmaxime des kritischen Rationalismus hat Popper folglich so formuliert: „Arbeite lieber für die Beseitigung von konkreten Missständen als für die Verwirklichung abstrakter Ideale. Versuche nicht, mit politischen Mitteln die Menschheit zu beglücken. Setze dich statt dessen für die Behebung von konkreten Missständen ein. ... Aber tue all dies mit direkten Mitteln. Entscheide, was du als das schlimmste Übel in der Gesellschaft, in der du lebst, ansiehst, und versuche geduldig, die Leute zu überzeugen, dass wir es loswerden können. — Aber versuche nicht, diese Ziele indirekt zu verwirklichen, indem du ein fernes Ideal einer vollkommen guten Gesellschaft entwirfst und dafür arbeitest. ... Erlaube deinen Träumen von einer schönen Welt nicht, dich von den wirklichen Nöten der Menschen abzulenken, die heute in unserer Mitte leiden. Unsere Mitmenschen haben Anspruch auf unsere Hilfe; keine Generation darf zugunsten zukünftiger Generationen geopfert werden, zugunsten eines Glücksideals, das vielleicht nie erreicht wird. Kurz gesagt lautet meine These, dass vermeidbares menschliches Leid das dringendste Problem einer rationalen öffentlichen Politik ist, während die Förderung des Glücks kein solches Problem darstellt. Die Suche nach Glück sollte unserer privaten Initiative überlassen bleiben." 15 Diese Handlungsmaxime entspricht Poppers humanitärer Ethik bzw. seinem negativen Utilitarismus, denn Popper geht es nicht um Glücksmaximierung, sondern vorrangig um Leidminimierung. Er will die Leiden der Menschen gering halten und hebt hervor, dass weder Gott, die Natur, die Gesellschaft noch die Geschichte, vielmehr allein die Menschen die Verantwortung für ihre ethischen Entscheidungen tragen (und zwar im Leben und nicht in der Utopie). Nach seiner Auffassung trägt es „zur Klarheit auf dem Gebiet der Ethik wesentlich bei, wenn wir unsere Postulate negativ formulieren, d.h. wenn wir die Beseitigung des Leides, nicht aber die Förderung des Glücks verlangen. In ähnlicher Weise ist es von Vorteil, die Aufgabe der wissenschaftlichen Methode so zu formulieren, dass ihr Ziel die Elimination der falschen Theorien ist ..., nicht aber die Aufstellung voll begründeter Wahrheiten." 16 — Die Grundprinzipien seiner humanitären Ethik, der die Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen zugrunde liegt, fasst Popper (mit impliziter Utopiekritik) in dieser Weise zusammen: „1. Toleranz gegenüber allen, die nicht intolerant sind und die nicht die Intoleranz propagieren. ... 2. Die Anerkennung der Tatsache, dass die sittliche Dringlichkeit ihre Grundlage in der Dringlichkeit des Leidens oder des Schmerzes findet. Aus diesem Grunde würde ich vorschlagen, die utilitaristische Formel ,vermehre die Glückseligkeit, sosehr du nur kannst' (.maximize happiness') durch die Formel vermindere das Leiden, sosehr du nur kannst' (,minimize suffering') zu ersetzen. Ich halte es für möglich, dass
15 16
Popper 1997, S. 523/524. Zit. nach Scheelje 1992, S. 246.
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eine so einfache Formel zu einem der Grundprinzipien ... der öffentlichen Politik gemacht werden kann. (Im Gegensatz dazu scheint es so zu sein, dass das Prinzip .vermehre die Glückseligkeit, sosehr du nur kannst' die Tendenz hat, zu einer sehr gefährlichen Art von wohlwollender Diktatur zu fuhren.) Wir sollten einsehen, dass Leiden und Glückseligkeit vom moralischen Standpunkt aus nicht als symmetrisch behandelt werden dürfen, d.h., die Forderung nach Glückseligkeit ist auf jeden Fall viel weniger dringlich als die Hilfe für die Leiden und der Versuch, das Leiden zu verhindern." 17 Hierzu gehört auch die analytische Trennung in einen „negativen" und einen „positiven" Freiheitsbegriff. So bevorzugt der liberale Utopie-Skeptiker Isaiah Berlin den „negativen" (interventionsabwehrenden, zwangsausschließenden) Freiheitsbegriff („Freiheit wovon" qua Abwehrrecht des Einzelnen) gegenüber einem „positiven", normativ aufgeladenen, inkludierenden Freiheitsbegriff („Freiheit zu", quasi „wohin" mit bestimmten inhaltlichen Implikaten oder Zielen), den er für riskant hält, weil er häufig Wertigkeiten gegeneinander ausspiele bzw. inkommensurable Positionen zur Kohärenz [Gemeinwohl] bringen wolle. Genau das haben „philosophische Monisten, die nach endgültigen Lösungen — nach Ordnung und Harmonie um jeden Preis — verlangen, immer getan und tun es noch." 18 Prinzipiell kommen Menschen an Wahlen zwischen Alternativen nicht vorbei, weil man nicht alles haben könne. Wer aber die pluralen Bereiche der Wahlmöglichkeiten, Gestaltungs- und Handlungsfreiheiten unter Einschluss der Meinungsfreiheit — also die Eckpfeiler des auf Toleranz und Neutralität bedachten Liberalismus — a priori erheblich einschränkt, keine Konflikte und Inkongruenzen zulässt, schädigt die Menschen in einem wesentlichen Sinne. Jedes Prinzip, das Einzigartigkeit für sich beansprucht, birgt in sich Gefahren, wie jedes Extrem zum Selbstwiderspruch durch Fanatismus und zur schließlichen Selbstzerstörung neigt. Wer Freiheit um ihrer selbst willen schätzt, muss einen unveräußerlichen Wesenszug des Menschen darin erblicken, „frei entscheiden zu können, statt bevormundet zu werden; und dass dies der positiven Forderung nach Beteiligung an der Gesetzgebung und am Handeln der Gesellschaft [Teilhaberechte], in der man lebt, ebenso zugrunde liegt wie die Forderung nach einem notfalls künstlich ausgesparten, .negativen' Bereich, in dem jeder sein eigner Herr [und Frau] ist und, soweit dies mit dem Bestand einer organisierten Gesellschaft vereinbar ist, niemandem Rechenschaft für sein Handeln schuldet." 19 Von einem freiheitsorientierten liberalen Standpunkt aus hat auch Ralf Dahrendorf 20 eine soziologische Utopie-Kritik geübt und nach „Pfaden aus Utopia" 17 18 19 20
Popper 1992 (I), S. 289/290. Berlin 1995, S. 52. Berlin 1995, S. 62/63. Zu Dahrendorf siehe Waschkuhn 1999, Kap. 6.
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gesucht. Utopien stellen für Dahrendorf überwiegend Gesellschaften dar, in denen der soziopolitische Wandel fehlt. Die soziale Gestalt von Utopia kenne den unaufhörlichen Fluss des historischen Prozesses nicht und könne ihn wohl auch nicht kennen. Offenkundig sollen Utopien nach Ansicht ihrer Kreatoren mehr sein als eine nur vorübergehende Periode der Sozialentwicklung. Die Schlagworte Huxleys aus seiner „Schönen Neuen Welt" sind auf nahezu alle Utopien anwendbar: Gemeinschaft, Identität, Stabilität. 21 Ein gemeinsames Strukturmerkmal der meisten Utopien ist insofern der fehlende Wandel. Dahrendorf arbeitet aber noch weitere Strukturmerkmale heraus, insgesamt fünf. Diese utopischen Grundzüge sind für ihn zugleich äußerst problematische und fragwürdige strukturelle Bedingungen. Das erste Strukturmerkmal utopischer Konstrukte lautet für Dahrendorf: (1) Utopia wächst nicht aus der bekannten Wirklichkeit nach realistischen
Entwick-
lungsgesetzen. Utopia ist „plötzlich da und wird dableiben, mitten in der Zeit, oder vielmehr irgendwo jenseits der gewöhnlichen Vorstellungen von Zeit". Es ist daher schwierig (wenn nicht unmöglich), „durch rationale Argumentation oder empirische Analyse den breiten Fluss der Geschichte, der hier schneller, dort langsamer fließt, aber stets in Bewegung bleibt, mit dem stillen Dorfteich der Utopie zu verknüpfen". 22 — Ein zweites Strukturmerkmal liegt in der (2) Uniformität derartiger Gesellschaften bzw. es besteht offenbar ein allgemeiner Konsens über die gelten-
den Werte und institutionellen Ordnungen, was zugleich ihre eindrucksvolle (wenngleich kontrafaktische) Stabilität erklärt. 23 Allgemeiner Konsens aber bedeutet implizit das Fehlen strukturell erzeugter Konflikte: „In der Tat machen sich viele Erbauer von Utopien erhebliche Mühe, um ihr Publikum zu überzeugen, dass in ihren Gesellschaften Konflikte über Werte oder institutionelle Arrangements entweder unmöglich oder schlicht unnötig sind. Utopie ist vollkommen — sei es vollkommen angenehm oder vollkommen unangenehm — und infolgedessen gibt es nichts, worüber zu streiten wäre. Streiks und Revolutionen fehlen in utopischen Gesellschaften ebenso auffallig wie Parlamente, in denen organisierte Gruppen ihre gegensätzlichen Machtansprüche anmelden." 24 — Drittes Strukturmerkmal ist offenkundig (3) die soziale Harmonie, die zur Erklärung utopischer Stabilität und Statik heranzuziehen ist. Dissidenten und „Außenseiter", falls diese überhaupt vorkommen (wenn, dann wohl eher aus Zufall), sind insofern auch „nicht Produkte der Sozialstruktur von Utopia und können dies auch nicht sein; sie sind Abweichler, pathologische Individuen, von einer einmaligen Krankheit infiziert". 25 — Das vierte Strukturelement lautet: (4) alle Prozesse, die in utopischen Gesellschaften ablaufen, folgen wiederkehrenden Mustern und vollziehen sich innerhalb und
21 22 23 24 25
Dahrendorf Dahrendorf Dahrendorf Dahrendorf Dahrendorf
1974, 1974, 1974, 1974, 1974,
S. S. S. S. S.
242/243. 243. 243/244. 244. 244/245.
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Politische Utopien
als Teil des Plans des Ganzen. Um ihre Konstruktionen zumindest in gewisser Weise realitätsangenähert zu gestalten (und nicht als bloße Märchen decouvriert zu werden), müssen Utopien natürlich bestimmte Vorgänge und Prozessabläufe innerhalb ihrer Gesellschaften gestatten und zulassen. Der Unterschied zwischen Utopia und einem Friedhof besteht eigentlich nur darin, dass in Utopia wenigstens gelegentlich etwas geschieht. Allerdings offenbar unter einer Voraussetzung: „Diese Prozesse bedrohen den Status quo nicht nur nicht: sie bestätigen und stärken ihn, und nur aus diesem Grunde erlauben die meisten Utopier ihre Existenz. ... Diese geregelten Prozesse sind indes nichts anderes als der Stoffwechsel der Gesellschaft, sie sind notwendiger Teil des allgemeinen Konsenses über Werte und sie dienen zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes. Obwohl einige seiner Teile sich in vorgezeichneten und berechenbaren Bahnen bewegen, bleibt Utopia als Ganzes ein perpetuum mobile". 26 — Schließlich ist (5) Utopia in der Regel seltsam isoliert von allen anderen Gesellschaften, falls von solchen überhaupt in relevanter Weise die Rede ist. 27 Die gemeinsamen Züge utopischer Konstruktionen sind für Dahrendorf aufgrund ihrer Unbeweglichkeit und unwandelbaren Stabilität oder HyperStabilität problematisch, vor allem werden sie von ihm kontrapunktisch eingesetzt, insofern sie alles aufweisen, was modernen dynamischen Gesellschaften eben nicht eignen kann oder sollte. Utopische Gesellschaften nämlich sind „monolithische, homogene Gebilde, freischwebend nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum, abgesondert von der Außenwelt, die ja stets zu einer Bedrohung der gelobten Unbeweglichkeit ihrer Sozialstruktur werden könnte." 28 Derartige Gesellschaften sind nicht existent: „Es liegt auf der Hand, dass es solche Gesellschaften nicht gibt — genau wie offenbar ist, dass sich die Werte und Institutionen jeder bekannten Gesellschaft ständig gewandelt haben. Der Wandel kann rasch oder allmählich, heftig oder geregelt, umfassend oder stückweise vonstatten gehen, aber er fehlt niemals völlig, wo Menschen sich Organisationsformen schaffen, um zusammenzuleben." 29 Gleichwohl hätten sich einige Sozialwissenschaftler bei ihrer Konstruktion sozialer Systeme offenkundig an Utopia orientiert. 30 Demgegenüber ist das von Dahrendorf verfochtene Konfliktmodell der Gesellschaft zu bevorzugen, denn es ist der geregelte und friedlich ausgetragene soziale Konflikt, der als große schöpferische Kraft den Wandel voranbringt, die Gesellschaft dynamisiert. 31 26 27 28 29 30
31
Dahrendorf 1974, S. 245. Dahrendorf 1974, S. 245. Dahrendorf 1974, S. 246. Dahrendorf 1974, S. 247. Gemeint ist der Struktur-Funktionalismus von Talcott Parsons. In heutiger Sicht ist die Kritik von Dahrendorf hieran indes unangemessen, vgl. Waschkuhn 1998a, S. 356ff., 408ff. — Im Übrigen sind die von Dahrendorf angeführten utopischen Stiukturmeikmale unter den Begriff des Monismus zu subsumieren, der wiederum das Gegenbild zum politik- und gesellschaftstheoretischen Pluralismus darstellt. Dahrendorf 1974, S. 261.
Utopiekritik und Zweifel
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Gegenüber der „tatsächlichen Wirklichkeit" ist die „Wirklichkeit Utopias" eine Welt der Gewissheit. Dahrendorf expliziert seine Ausrichtung näher: „Der Gedanke mag unangenehm und störend sei, dass es Konflikt gibt, wo immer wir soziales Leben finden: Er ist nichts desto weniger unumgänglich für unser Verständnis sozialer Probleme. ... Nicht das Vorhandensein, sondern das Fehlen von Konflikt ist erstaunlich und abnormal". 32 Utopia sei „eine Welt der Gewissheit. Es ist das gefundene Paradies; Utopier kennen alle Antworten. Aber wir leben in einer Welt der Ungewissheit. Wir wissen nicht, wie eine ideale Gesellschaftsordnung aussieht — und wenn wir es zu wissen meinen, dann hat unser Nachbar eine ganz andere Vorstellung, weil es keine Gewissheit gibt (die, per definitionem, von allen Menschen in einer Situation geteilt wird), muss es Zwang geben, um ein lebensmögliches Minimum an Zusammenhalt zu gewährleisten. Weil wir nicht alle Antworten kennen, muss es ständigen Konflikt über Werte und politische Ideen geben. Wegen der Ungewissheit gibt es ständig Wandel und Entwicklung. Selbst abgesehen von seinem Nutzen als Werkzeug der wissenschaftlichen Analyse ist das Konfliktmodell wesentlich nicht-utopisch; es ist das Modell einer offenen Gesellschaft." 33 Es geht Dahrendorf bei seiner Kritik nicht um eine „leichte Flucht zur utopischen Ruhe", sondern darum, sich angemessen mit der Komplexität von Gesellschaft auseinander zu setzen; es geht ihm angesichts der Universalität von Herrschaft um demokratietheoretisch begehbare Pfade aus Utopia, insofern Utopien lediglich vorgaukeln, alle Probleme gelöst zu haben. Dahrendorf warnt (mit Bezug auf Popper und zusammen mit ihm) davor, den „Versuchungen großer Entwürfe zu verfallen, die in der Praxis Menschen versklaven, statt sie zu befreien. Utopia ist immer illiberal, denn es lässt keinen Raum für Irrtümer und ihre Korrektur. ... Das Gegenstück zum Utopismus ist ... ein klarer Richtungssinn, der offen bleibt für Zweifel, die eigenen und die der anderen, sich aber leiten lässt von einem Bild der Zukunft, dem erstrebten Ziel." 34 Es ist dies die Meliorationsgesellschaft, die auf schrittweise, verbessernde Reformen setzt. Dahrendorf verbindet hiermit seine Auffassung von Freiheit, die nicht ohne Kontrollen, Regeln des Konflikts und Möglichkeiten des Wandels zu haben ist. Die „neue Freiheit" ist eine öffentlich basierte und gründet auf Bürgertugenden. Freiheit in diesem Sinne bleibt „eine Antwort auf die Tatsache, dass wir in einer Welt der Ungewissheit leben, in der niemand von sich behaupten kann, er habe den Gral der letzten Weisheit gefunden; aber die Verfassung der Freiheit wird morgen anders aussehen müssen als gestern und heute." 35 Es geht um eine Politik des geregelten Konflikts und um eine Sozialökonomik der Maximierung individuel32 33 34 35
Dahrendorf Dahrendorf Dahrendorf Dahrendorf
1974, 1974, 1975, 1975,
S. 261. S. 262. S. 114/115. S. 18.
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ler Lebenschancen, und zwar unter neuen Bedingungen und zur Melioration unseres Lebens. Menschlich-gesellschaftliche Verhältnisse lassen sich verändern und verbessern. Die Meliorationsgesellschaft muss Freiheit bieten und zur Bürgergesellschaft werden. Das setzt voraus: „Während die zentralen Institutionen der Expansionsgesellschaft ökonomisch waren [und sind, A.W.], sind die der Meliorationsgesellschaft politisch, d.h. öffentlich, allgemein und offen." 36 Aufgrund der Unvollkommenheit der Menschen und der Widerständigkeit bestehender Zustände ist eine Applikation schwierig und müsse betont nüchtern eingeschätzt werden: „Wir können die ideale Welt nicht mit einem einzigen Schlag schaffen; wir können sie überhaupt nicht schaffen, und paradoxerweise ist es vielleicht dieser Umstand, der das Leben für uns erträglich macht. Karl Popper hat ja nicht mit Bedauern für piecemeal engineering, schrittweisen Fortschritt, als das angemessene Verfahren des Fortschritts plädiert; er hat es vielmehr getan, weil die entgegengesetzte Methode, utopian engineering, das Ein-für-Allemal, zwar alles verlangt, aber eben dadurch nichts erreicht, oder schlimmer noch, zu illiberalen Pseudolösungen im Gewand von Ideologien endgültigen Erfolges fuhrt." 37 Im Übrigen hat Dahrendorf auch eine (nicht ganz zufällige) prophetische Gabe bewiesen, als er 1975 ausführte, dass Orwells „1984" nicht andauern könne, sollte es stattfinden, da Jeder Autoritarismus die liberale Revolte gegen sich produziert, sozusagen ein neues 1789 im Jahre 1989". 38 Es kommt immer wieder zu einem „Aufstand des Individuums gegen die Versteinerung der Wirklichkeit". 39 Wenn Gesellschaften ihre Fähigkeit zum Wandel verlieren, so „verlieren sie zugleich ihre Bastionen gegen die Zerstörung der Freiheit durch Dogmatisierung des Irrtums".40 Man kann aber Utopien auch ungleich entspannter sehen. Niklas Luhmann hat viele Aufgeregtheiten in seinem Fach nicht nachvollziehen können (und viele haben — vice versa — seine Theorien nicht goutiert). Er hatte stets einen Blick für Konstruktionsverhältnisse, die „Augen" und Beobachtungsperspektiven von Systemen auf vielen Ebenen. Für ihn ist eine Utopie, jedenfalls in der Erstpublikation, bewusst als Paradoxie angelegt. Es handelt sich um die Beschreibung eines Ortes, der nirgendwo zu finden ist. Gleichzeitig entfaltet eine Utopie Wirkungen, die in der Rhetorik der Renaissance für eine Paradoxie veranschlagt werden, nämlich eine Anregung zum Nachdenken über die normal akzeptierten Meinungen. Mit anderen
36 37 38 39 40
Dahrendorf 1975, S. 132. Dahrendorf 1975, S. 137/138. Dahrendorf 1975, S. 60. Dahrendorf 1975, S. 78. Dahrendorf 1975, S. 1975, S. 81. — Siehe auch Dahrendorf 1991a, S. 141: „Geschlossene Gesellschaften dauern nicht an. Sie üben dennoch einen fatalen Reiz für Menschen aus, die die Freiheit nicht ertragen können."
Utopiekritik und Zweifel
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Worten: das vermeintlich Selbstverständliche des Hier und Jetzt wird reflektiert und mit einem ganz Anderen konfrontiert. 41 Auch der kritische Rationalist Hans Albert weist Utopien einen heuristischen Wert zu. Im Kontext einer kritisch-konstruktiven Prüfung aller Problemlösungsversuche mit Hilfe rationaler Argumente und im Rahmen eines erkenntnistheoretischen, sozialen und politischen Pluralismus können Utopien durchaus in sinnvoller Weise eingesetzt werden: „Da sich die Schwächen eingefahrener politischer Problemlösungen am besten im Lichte von Alternativen zeigen, können auch utopisch erscheinende Auffassungen dazu herangezogen werden, solche Lösungen zu kritisieren, da sie zumindest skizzenhaft auf andere denkbare Lösungen hinzuweisen pflegen. ... (Man kann) der Utopie eine analoge Rolle für das politische Denken zuschreiben wie der Metaphysik für die wissenschaftliche Erkenntnis. 42 Auch sie formuliert etwas nach herrschender Auffassung Unmögliches, was aber nach Änderungen der wissenschaftlichen Erkenntnis oder der sozialen Verhältnisse sich unter Umständen doch als möglich erweisen lässt. Zudem drücken sich in ihr nicht selten Wünsche aus, die unter den gegebenen sozialen Verhältnissen nicht erfüllt werden und möglicherweise auch nicht erfüllt werden können. In dieser Hinsicht sind sie weniger wegen der in ihnen angedeuteten positiven Lösungen, als wegen der ihnen innewohnenden Hinweise auf vorhandene konkrete Übelstände von Bedeutung. Die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft im Marxismus enthält kaum irgendwelche realisierbaren Vorschläge zur Lösung sozialer Probleme, aber sie weist kritisch auf das Negativum einer extremen Klassengesellschaft hin, in der große Teile der Bevölkerung in schwer erträglichen Verhältnissen leben." *3 Auch mögen „im sozialen Vakuum des utopischen Denkens .. zwar alle Bedürfnisse miteinander vereinbar und daher alle Wünsche erfüllbar erscheinen, in der sozialen Wirklichkeit aber herrscht der Tatbestand der Knappheit und bestehen damit Beschränkungen für die Bedürfnisbefriedigung, die in einer realistischen Sozialkritik berücksichtigt werden müssen. Wer die Sozialphilosophie nicht dem Irrationalismus ausliefern will, kann daher utopisches Denken nur in realistischer Vermittlung sozialkritisch wirksam werden lassen. Nur auf dem Hintergrund realer Möglichkeiten lässt sich eine rationale Beurteilung der gegebenen sozialen Verhältnisse bewerkstelligen, nicht auf der Basis einer abstrakten Möglichkeit, die dem Wunschdenken entstammt. Eine rationale Sozialkritik kann also das Problem der Realisierbarkeit nicht außer Acht lassen. Sie kann zwar die vorliegenden Zustände durchleuchten und dabei Missstände identifizieren, aber sie darf nicht den Eindruck erwecken, es gebe keine Einschränkungen für die simultane Behebung 41 42 43
Luhmann 1994. Albert verdankt diesen Gedanken einem Hinweis von Paul Feyerabend. Albert 1991, S. 208/209.
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Politische Utopien
aller Mängel und für die Realisierung einer fehlerfreien Sozialordnung und einer Gesellschaft ohne Schwächen." 44 Albert lehnt sowohl einen unfruchtbaren Alternativ-Radikalismus als auch einen kognitiven wie normativen Modell-Platonismus mit guten Gründen ab. Der Modell-Platonismus besteht in der Vorstellung, „man müsse das Gegebene an einem absolut guten Zustand messen, einem Idealzustand, der Vision einer guten Gesellschaft, wie sie sich aus einer ohne Rücksicht auf Realisierbarkeit vollzogenen moralisch-politischen Spekulation ergeben könne, und dann versuchen, durch praktische Politik die Abweichungen der gegebenen Verhältnisse von diesem Zustand mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu eliminieren, um den Idealzustand herbeizuführen. Dieser absolut gute Zustand liegt aber de facto immer jenseits dessen, was wir aufgrund unseres beschränkten Wissens und der beschränkten Macht realisieren können." 45 Man wird sich dazu entschließen müssen, auf die Realisierung der absolut guten Gesellschaft zu verzichten, denn: „Es kommt nicht darauf an, ein abstraktes Ideal zu realisieren, sondern von der konkreten Situation her zu argumentieren, d.h. zum Beispiel: tatsächlich vorliegende Schwächen unseres sozial-institutionellen Gefuges, unserer Traditionen, Institutionen, Denkweisen und Methoden zu lokalisieren und einer Kritik im Lichte des vorhandenen sozialen Wissens zu unterwerfen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass man sich zur Aufdeckung konkreter sozialer Übelstände an einem abstrakten Ideal einer vollkommenen Gesellschaft orientieren müsse. Dieser Irrtum ist analog zu dem im Bereich der Erkenntnistheorie, dass man, um Irrtümer aufzudecken, die volle Wahrheit bzw. ein Kriterium der Wahrheit haben müsse. De facto ist man dagegen im Bereich der Wissenschaft genötigt, sich ohne ein solches Kriterium durch Versuch und Irrtum [trial and error] an die Wahrheit heranzutasten, ohne sie jemals genau zu keimen. Die Methodologie der Realwissenschaften kennt daher nur eine relative Bewährung von Theorien, die prinzipiell immer provisorisch ist.... Die Fiktion, man brauche .. nur auf ein in abstracto entworfenes Ideal zurückzugreifen, ist einer tatsächlichen Lösung nicht sehr förderlich. Es kommt vielmehr darauf an, unter Verwendung unseres sachlichen Wissens Lösungen zu erfinden und sie praktisch auszuprobieren, Lösungen, von denen wir durchaus annehmen dürfen, dass sie auch bei vorläufiger Bewährung sich später einmal als revisionsbedürftig erweisen können." 46 Ferner ist ein absolut gesetzter Alternativ-Radikalismus unergiebig und befriedigt allenfalls Emotionen. Im Hinblick auf tatsächliche Realisier- und Umsetzbarkeit wird man in kritisch-konstruktiver Weise „davon ausgehen müssen, dass die Gesellschaft keine tabula rasa ist, die man auf politischem Wege mit beliebigen 44 45 46
Albert 1991, S. 209/210. Albert 1976, S. 79. Albert 1976, S. 81.
Utopiekritik und Zweifel
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Mustern versehen kann, sondern dass jede politische Aktion einen Eingriff in mehr oder weniger stark strukturierte soziale Situationen involviert und dass man daher gut daran tut, das institutionelle Apriori in Rechnung zu stellen, durch das diese Situationen geprägt sind, nicht weil es sich hier um unabänderliche soziale Tatbestände handeln würde, sondern weil darin auf jeden Fall Einschränkungen für mögliche Änderungen liegen, die eine realistische Politik berücksichtigen muss. Die einer politischen Entscheidung vorhergehende Alteraativ-Analyse muss die Struktur der jeweiligen Ausgangssituation berücksichtigen, wenn sie auf die Bestimmung realisierbarer Alternativen abzielt." 47 Man wird sich aber im politischen Denken ebenso wie in der wissenschaftlichen Erkenntnis immer wieder mit den tradierten sozialen Strukturen kritisch auseinandersetzen müssen. Man wird sie „als überkommene und teilweise institutionell verfestigte Versuche der Lösung sozialer und politischer Probleme ansehen, angesichts deren man sich zu fragen hat, inwieweit sie sich bewährt haben und wo ihre Schwächen und Nachteile liegen. Gerade ein solches Vorgehen erfordert aber die ... Konstruktion realistischer Alternativen und die Heranziehung des dazu relevanten nomologischen Wissens, denn zur Verbesserung politischer Problemlösungen ist eine komparative Analyse erforderlich. Geht es um Probleme, für die dauerhafte Lösungen auf längere Sicht zu finden sind, dann müssen institutionelle Alternativen miteinander verglichen und für die Konstruktion und Ausarbeitung dieser Alternativen muss auf das vorhandene sozialtechnologische Wissen zurückgegriffen werden." 48 Es ist bei der Methode der kritischen Prüfung (auch von Utopien) insoweit analytisch zu fragen: „Was würde geschehen, wenn diese oder jene Maßnahmen ergriffen würden? Unter welchen Umständen könnte dieser oder jener Effekt erzielt werden? Welche Nebenwirkungen wären unvermeidlich, wenn man dieses oder jenes Ziel oder diese oder jene Zielkombination erreichen wollte?" 49 Wir müssen einen reflektierten Zweifel an der Realität und an den utopischen Entwürfen resp. Gegenmodellen gleichermaßen üben und hegen. Herrschende Lehren sind ebenso nach Möglichkeit immer wieder in Zweifel zu ziehen, denn unser Wissen und unsere Theorien sind stets nur tentativ. Zweifel ist aber keine Dauerhaltung, sondern ein immer wieder zu überwindender Zustand im Übergang zu einem neuen, quasi-selbstverständlichen Netz von handlungsbestimmenden Bedeutungen und Gewohnheiten, worauf u.a. der Pragmatiker Charles Sanders Peirce aufmerksam gemacht hat. Auch der Neo-Pragmatiker Richard Rorty verweist immer wieder auf den produktiven Zweifel, vor allem im Hinblick auf die Fragwürdigkeit eines „abschließenden Vokabulars". Unsere besseren Möglichkeiten und ihre Entdeckung sind aktuell wie potenziell stets von der Evolution, neuen Metaphern und der Revolution unseres Weltbildes abhängig. 47 48 49
Albert 1991, S. 213. Albert 1991, S. 213/214. Albert 1991, S. 214.
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Das bedeutet keineswegs einen Verzicht auf Normativität. Diese muss aber konkretisiert und kontextualisiert werden. Positive Utopien sollten liberal sein, was bislang viel zu selten ist, und einer prozessual offenen Gesellschaft eingeschrieben sein. Sie müssen einen komplexen zivilgesellschaftlichen Tugendkranz (civic virtues) im Verbund mit institutionellen Erfordernissen entwickeln. Hierfür hat unter anderem Ralf Dahrendorf wichtige soziologische Vorarbeiten geleistet. 50 Eine aktive Bürgergesellschaft muss vor allem „in den Köpfen und Herzen und vor allem in den Verhaltensgewohnheiten der Menschen Wirklichkeit werden". 51 Vor diesen Internalisierungs- und Habitualisierungsleistungen aber liegen Anrechte und Zugangschancen, um überhaupt Optionen wahrnehmen zu können. Diese wiederum bedürfen einer Tiefenstruktur, die als Wertbindungen oder freiwillige und einverständliche Zugehörigkeiten bezeichnet werden können. Dahrendorf spricht in diesem Zusammenhang lieber von Ligaturen und sieht eine besondere Problematik darin, dass offene und dynamische Gesellschaften mit ihrer Mobilität „dazu neigen, Ligaturen aufzulösen, während geschlossene Gesellschaften diese zum Dogma, zum Herrschaftsinstrument erheben. Es gibt sozusagen ein Übermaß an Bindungen ebenso wie einen schwer erträglichen Mangel, und das Dilemma hat viel zu tun mit dem Thema der Freiheit." 52 Ligaturen müssen gestiftet werden und sich verbreiten, dazu bedarf es des Bürgersinns und der Freiheitsliebe, der politischen Teilnahme und der engagierten Toleranz. Es ist (im Unterschied zu den meisten — monistischen — Utopien) die Vielfalt zu ermutigen. Aber auch zum ewigen Frieden und zur Weltgesellschaft gehören Institutionen. 53 Aber nur offene Gesellschaften erlauben es, viele Wege einzuschlagen. Dazu gehört auch die legitime Differenz, nämlich ohne Angst verschieden sein zu können. 54 Diese Differenz nicht zuzulassen oder zu negieren bzw. aufgrund von gemeinschaftsfanatischen Harmonie- und Homogenitätsvorstellungen überhaupt nicht zu erwarten, ist das utopische Hauptmanko. Utopien und ihre Schöpfer tendieren dazu, Heterogenität zu beschädigen, weil sie es für ein destabilisierendes Integrationsrisiko halten, dafür aber eine statische Friedhofsruhe eintauschen und in ihren utopischen Gesellschaftsmodellen eine strukturelle Ereignislosigkeit evozieren. Alle Antagonismen sind aufgehoben oder werden machtvoll entschieden. Spannungsmomente tauchen weitgehend nur von außen her auf oder, wenn endogen, von subjektiven Abweichlern, deren nonkonformistisches Aufbegehren indes chancenlos ist. Ihre individualistische „Gegenutopie" wird im utopischen MakroZusammenhang marginalisiert, intermediäre Gegengewichte sind ohnedies nicht vorgesehen.
50 51 52 53 54
Siehe auch Egle 2002. Dahrendorf 1991b, S. 257. Dahrendorf 199 la, S. 147. Dahrendorf 1998, S. 50. Siehe Adorno, Ges. Schriften, Bd. 4, S. 116.
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Utopien, die ein befreites Leben versprechen, sind an obiger Kritik zu bemessen. Sie müssen zivile Tugenden und Institutionen in pluraler Weise miteinander verbinden 55 und insgesamt eine anständige Gesellschaft 56 konzipieren, um uns zu überzeugen. Auch die Dystopien fordern mit ihrer moralisch-politischen Botschaft als Gegenappell eine solche Ausrichtung ein. In dieser Hinsicht sind jedoch alle bislang behandelten Utopien — auch und gerade diejenigen, die sich als positive verstehen und keine Lenkimg, Unterdrückung oder „Versklavung" der Bevölkerung, sondern ihre Besserstellung und insgesamt eine soziopolitische Melioration beabsichtigen — defizient oder unterkomplex. Sie liefern, selbst ihre einzelnen Gestaltungs- und Argumentationsmuster einmal zusammen genommen, keinen hinreichend komplexen Gesamtentwurf für die uns vorrangig interessierenden Zielwerte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, den wir — bei allem Anregungs- und Warnpotenzial — politisch-praktisch und demokratietheoretisch unbedenklich aufgreifen könnten oder der uns zumindest in die Lage versetzte, gleichsam aus einem Angebotskorb von Möglichkeiten das situativ Passende auszuwählen und darüber deliberativ zu befinden und zu beschließen. Utopien sind offenbar jeweils ein Fall für sich und damit hoch kontingent. Ob dies auch für die neueren Utopien seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die aus ihr abzuleitende „Realdialektik" gesagt werden kann, gilt es jetzt zu prüfen. Auf jeden Fall bieten sie „nach Orwell" in unterschiedlicher Weise ein paar neue Paradigmen auf — die Aufhebung von Aggressionen sowie die Akzentuierung von Ökologie und Frauenemanzipation.
55 49
Einen solchen Ansatz weide ich an anderer Stelle entfaltea Siehe dazu auch das Schlusskapitel, insbesondere die dortige Anm. 49. So reicht es für Avishai Margalit 1997 nicht aus, gerechte Institutionen zu haben, sondern wir benötigen für eine „Politik der Wttide" alltagspraktisch wie sozialethisch eine anständige Gesellschaft (decent society), die darauf verzichtet, andere zu demütigen. Für Margalit kann eine Gesellschaft nur dann anständig sein, wenn ihre hegemoniale Kultur keine entwürdigenden Kollektiworstellungen enthält, die von den sozialen Institutionen aktiv und systematisch benutzt werden, ebd., S. 201.
IV. NEUERE UTOPIEN
Auch nach den schwarzen Utopien sind zahlreiche weitere Utopien erschienen. Dieser Literaturtypus der sozialen und politischen Utopie ist offensichtlich nicht umzubringen. Die Utopien seit der Mitte des 20. Jahrhunderts reagieren dabei — wie es zu erwarten stand — auf neue Problemlagen und üben eine andere Art der Zeitkritik. Eine neue Problemlage ist zweifelsohne die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit. Ein weiteres Krisensymptom, auf das utopisches Denken reagiert, ist der sich immer mehr steigernde Massenkonsum, der als „amerikanische Lebensart" bestimmte Gegenreaktionen provoziert, zumal der westliche Lebenszuschnitt in erheblicher Weise auf dem materiellen Elend des Restes der Welt beruht. 1 Eine weitere Herausforderung ist die Frauenemanzipation. Es häufen sich von Frauen geschriebene Utopien, die utopische Gemeinwesen ohne patriarchale Zwänge bzw. auch völlig ohne das andere Geschlecht konzipieren, wenngleich das von der Feministin Valeri Solanas 1968 vorgelegte „Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer" sicherlich nur ein Extrem ist. 2 B.F. Skinners „Futurum Zwei", Ursula K. Le Guins „The Dispossessed" (dt. „Planet der Habenichtse") und Emest Callenbachs „ökotopia", um nur drei wichtige neuere Utopien zu nennen, gehen über die implizite verzweifelte Hoffnung der schwarzen Utopien hinaus und entwerfen neue Gegenbilder einer besseren Welt. Sie können darüber hinaus als postmaterielle Utopien verstanden werden. 3
Aggressionsfreie
Gesellschaft
Bei B.F. Skinners „Futurum Zwei. Die Vison einer aggressionsfreien Gesellschaft" ist das Neue vielleicht noch nicht so deutlich. Hier soll das Glück angestrebt werden, indem Konflikte vermieden werden (die es in älteren Utopien von vornherein 1 2 3
Saage 2000a, S. 356/357. Saage 2000a, S. 357/358. Saage 2000a, S. 358.
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höchst selten gab), desgleichen sind kritische Einstellungen verpönt. Es werden — und jetzt wird es schon innovativer — auf das Verhalten bezogene Sozialtechniken verwendet, die den Menschen konditionieren, aber selbstredend nicht zum Hass. Die Aggressionsfreiheit soll technisch erzeugt werden und nicht über die Vernunft geleitet sein. 4
1. BURRHUS FREDERIC SKINNER Der Verhaltenspsychologe B.F. Skinner (1904-1990) — Professor in Minnesota, Indiana (Bloomington) und schließlich in Harvard — hat in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk „Wissenschaft und menschliches Verhalten" aufgrund experimenteller Befunde (überwiegend mit Tauben, aber auch mit geistig Behinderten) darauf abgestellt, dass beim Aufbau positiven Verhaltens die „Verstärkung" (reinforcement) des Verhaltens (bzw. ihr Entzug) von grundlegender Relevanz ist, wobei von einem Stimulus-response-Modell ausgegangen wird. Für Skinner kommt es in diesem Kontext auf intermittierende Verstärkerprogramme (schedules) ganz wesentlich an, um löschungsresistente Verhaltensmuster zu generieren. Berühmt geworden ist in Sonderheit die „Skinner-Box" (auch „Problemkäfig"), ein Experimentierkäfig zur Untersuchung von Lernvorgängen bei Tieren. Heute gilt der auf menschlich-gesellschaftliches Verhalten bezogene behavioralistische Ansatz Skinners — insbesondere bezogen auf Verhaltenssteuerung und programmiertes Lernen — aufgrund der „kognitiven Wende" in den Sozialwissenschaften als überholt, obschon einige Neuorientierungen („kognitiver Behaviorismus") sich wieder verstärkt auf ihn berufen. Uns interessiert hier sein einziger Roman und zweites Buch, nämlich „Futurum Zwei/Waiden Two. Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft", die für die meisten Kritiker dystopische Elemente darbietet, während Skinner dies etwas anders sieht. 5 Singuläre praktische Umsetzungsversuche hat es u.a. 1967 und 1973 in Twin Oaks (Virginia) 6 und nahe Hermosillo in Mexiko gegeben. Allerdings nur von etwa dreißig (wechselnden) Personen, während in der Utopie Skinners jeweils ca. eintausend Menschen zugrunde gelegt werden, die ohne Streit konstant zu4
5 6
Saage 2000a, S. 355 u. 358/359: „B.F. Skinners Sozialutopie .Futurum Zwei' erschien 1948, also ein Jahr vor Orwells ,1984'. Während Onvells schwarze Utopie im Zuge der Entstehung des kalten Krieges sofort die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde Skinners Vision einer ,aggressionslosen Gesellschaft' erst 12 Jahre nach ihrer Veröffentlichung ein Bestseller. ... [vor allem in Bezug auf „Futurum Zwei":] „Wer das unverwechselbare Profil der positiven Sozialutopien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bestimmen sucht, ist auf den ersten Blick erstaunt über das Maß an Kontinuität, das sie mit der älteren Tradition zu verbinden scheint: Das Signum ihrer Positivität ist das befriedete Zusammenleben der Individuen in einem konfliktfreien Gemeinwesen." Einer der schärfsten Kritiker Skinneis war Noam Chomsky. Siehe Kinkade 1973.
Neuere Utopien: Von Skinner bis Piercy
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sammen leben sollen. Für Skinner bleibt es dabei, dass kleinformatige Gemeinschaftsformen enorme Vorteile haben. Es kommt — so Skinner in einem Kommentar rd. dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Waiden Two" — vor allem auf den Zusammenhang zwischen Gütern und Verhaltensweisen an: „Das ist der Grund, warum es zur Verblüffung der amerikanischen Touristen Menschen auf der Welt gibt, die glücklicher sind als wir, obwohl sie weit weniger besitzen. Inflation wird als das ernsteste Problem unserer Zeit betrachtet: Man führt sie, was nicht unrichtig ist, darauf zurück, dass man mehr ausgibt als man hat. In einem experimentellen Gemeinwesen können diejenigen Verstärker, die unnötiges Ausgeben fördern, geändert werden. Auch im Hinblick auf die Umweltverschmutzung sind kleine Gemeinwesen am besten imstande, Materialien wieder nutzbar zu machen und verschwenderische Verteilungsmethoden zu unterbinden. Die Grundlagenforschung hat ferner ergeben, wie wichtig es für jedermann ist — ob alt oder jung, Mann oder Frau —, Güter nicht nur zu empfangen, sondern sich auch an deren Hervorbringimg zu beteiligen. Das heißt nicht, dass wir alle wie die Ameisen gemäß dem protestantischen Arbeitsethos schuften sollen. Es gibt viele Wege, Arbeit zu sparen, aber sie dürfen nicht... dazu benutzt werden, Arbeitskräfte auszuschalten und der Arbeitslosigkeit damit Vorschub zu leisten. Wir können ohne weiteres einen passablen jährlichen Arbeitslohn für jedermann errechnen, indem wir die Gesamtsumme, die die Amerikaner alljährlich verdienen, durch die Anzahl der Arbeitsuchenden dividieren. Jedoch bedeutet das für viele eine Herabsetzung des Lebensstandards, die wahrscheinlich, wie die Dinge liegen, undurchführbar ist. In einem kleinen Gemeinwesen hingegen würde jedes Mitglied einen Job haben, weil die Arbeit ebenso wie die Entlohnungen unter die Arbeitenden verteilt werden könnten." 7 Hinzu kommt: „Ein paar hochindustrialisierte Länder können nicht für alle Zeiten der übrigen Welt gegenübertreten und gleichzeitig die Umwelt so ausbeuten und verderben, wie sie es tun. Eine Art der Lebensführung, bei der jedermann nur einen fairen Anteil an den Gütern der Welt für sich in Anspruch nimmt und dabei dennoch das Leben genießt, wäre ein wesentlicher Schritt zum weltweiten Frieden." 8 Skinner hat in seiner Sichtweise eine Denationalisierung (nach unten) antizipiert, die sich heute indes in anderer Weise einstellt: „Ein Staat, der auf Grund von repressiven, formalen, logischen und sozialen Kontrollen existiert, die auf physischer Macht beruhen, bewegt sich nicht notwendig im Rahmen zivilisatorischer Entwicklung; und obwohl ein solcher Staat gewiss seine Rolle in unserer Entwicklung gespielt hat, sollten wir uns doch bereit finden, auf eine andere Bühne überzuwechseln." 9
7 8 9
Skinner 1983, S. 10/11. Skinner 1983, S. 15. Skinner 1983, S. 15.
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Politische U t o p i e n
Die großen kulturellen Umwälzungen hätten nie in der Politik begonnen. Wir benötigen „keine neue politische Führerpersönlichkeit oder eine neue Regierungsform, sondern weitere Erkenntnisse über menschliche Verhaltensweisen sowie neue Wege, solche Erkenntnisse bei Entwürfen kultureller Praktiken anzuwenden. — Es wird heute weithin erkannt, dass sich in der amerikanischen Lebensart bedeutende Wandlungen vollziehen müssen. Nicht nur, dass wir dem Rest der Welt nicht mehr ins Gesicht sehen können, wenn wir die Umwelt so ausplündern und zerstören, wie wir es tun, wir können nicht einmal vor uns selbst bestehen, solange wir die Macht der Gewalt und das Chaos, in dem wir leben, hinnehmen. Die Wahl ist klar: Entweder wir tun gar nichts und erlauben einer elenden und wahrscheinlich katastrophalen Zukunft, uns zu überwältigen, oder wir nutzen unsere Kenntnisse vom menschlichen Verhalten dazu, eine soziale Umwelt zu schaffen, in der wir produktiv und kreativ leben, ohne die Aussichten aufs Spiel zu setzen, dass es den nach uns Kommenden möglich sein wird, ebenso zu leben. Etwas in der Art des Modells ,Waiden Two' wäre dazu kein schlechter Anfang." 10 — Das ist die Frage. B.F. Skinners „Waiden Two" — „Waiden I" stammt von Henry David Thoreau, nämlich: „Waiden, or Life in the Woods" [mit „subjektutopisch"-individualistischen Akzentuierungen n ] — beruht, wie erwähnt, auf Techniken der Verhaltenssteuerung, und zwar durch angewandte Lernpsychologie und operantes Konditionieren. Ferner soll es sich bei der utopischen Gesellschaft — die weder zeitlich noch räumlich entfernt ist, sondern gleichsam um die Ecke in nächster Nähe liegt — um Netzwerke kleiner, kooperativer, umweltschonender Gemeinwesen handeln, technisch und kulturell hochstehend. Es werden also Utopiemuster von Huxley (ohne Sorna) sowie Owen und Fourier kombiniert, ferner kommen tradierte amerikanische und israelische Kibbuz-Vorstellungen hinzu. Eifersucht, Neid und Unglück sind unbekannt, statt dessen gibt es entgegen gesetzte Emotionen, insbesondere Selbstbeherrschung, Wahrhaftigkeit und Toleranz durch ethisches Training, schöpferische Reflexion, intrinsische Motivation, lebenslanges Lernen (fehlt bei Huxley völlig) und positive Milieubildung. Darüber hinaus werden gegenüber materiellen Gütern und Erfordernissen die kulturellen Bedürfhisse deutlich aufgewertet. 12 Es gibt keine Strafen, sondern positive Anreize und eine unterstützende Pädagogisierung sowie Sozialexperimente zur Ausformung von Lebenskunst und Verhaltenscodes. Die Familie wird aufgelöst zugunsten einer (indes nicht sexuell zu verstehenden) Gruppengemeinschaft (Huxleys Welt hingegen war eine hedonistische Single-Gesellschaft mit selbstverständlicher Promiskuität, während bei Skinner die Sexualität monogam angelegt ist), angeleitet durch Sozialmanager und -planer für persönliches und kulturelles Verhalten. Die Kinder werden von den 10 11 12
Skinner 1983, S. 16. Schwarz 1986, S. 220. Saage 2000a, S. 373.
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Eltern getrennt und primär von der Kommune erzogen. Die Mutterverbindung wird anfanglich anerkannt, dann kommen immer weitere Bezugspersonen hinzu („mother love" wird zur „Community love"). 13 Alles funktioniert ziemlich reibungslos zum Vorteil aller. Bei politischen Wahlen wird eine kollektive Stimme für das jeweilige kleine Gemeinwesen abgegeben, etwa 700 Einzelstimmen gebündelt, festgelegt vom Politik-Manager. Das ist kein Problem, weil alle dieselben Interessen haben. Spätestens hier beginnen unsere neuerlichen Zweifel, weil eine Art Erziehungsdespotie befürwortet wird, wobei die Kulturingenieure und die weiteren Eliten offenbar keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. Eine Individualisierung außerhalb von Gruppennormen findet in den Futurum-Gemeinschaften nicht statt. An die Stelle von Intelligenz und Initiative werden degradierter Instinkt und organisierter Zwang gesetzt. Futurum Zwei stellt ein Mirakel an reibungsloser Koordinierung dar, „reibungslos wie ein Ameisenhaufen". 14 Die kommunitaristischen Einheiten sind verhaltensdeterminiert und vernichten die persönliche Willensfreiheit. Führung ist nötig, denn das Volk ist nicht in der Lage, außerordentliche Experten angemessen zu beurteilen, die wiederum den Willen des Volkes gewissenhaft ermitteln können, ja diesen sozusagen „veredeln". Eine Demokratie kann nach Auffassung des Apologeten Frazier im Roman in Futurum II nicht die beste Staatsform sein, weil sie nicht genügend die Tatsache berücksichtige, dass der Mensch auf Dauer von seinem Staat bestimmt werde und der Mensch durch die Umgebung geprägt werde, hierfür aber müsse es eine planende Erziehungs-Sonderkaste geben. — „Unsere Mitglieder tun praktisch immer das, was sie tun wollen ...; aber wir sorgen dafür, dass sie genau das tun wollen, was für sie und die Gemeinschaft das Beste ist. Ihr Verhalten ist vorgeschrieben und doch sind sie frei." 15 Es handelt sich geradezu um eine „Verbesserung der Schöpfungsgeschichte". 16 Auf sein Futurum Zwei blickend, führt der „Guru" und Protagonist Frazier aus: „Dies sind alles meine Kinder. ... Ich liebe sie." 17 Das erinnert fatal an den DDR-Staatssicherheitschef Erich Mielke mit seinem Diktum: „Ich liebe doch alle Menschen." Offenbar ist Liebe vor allem die Anwendung positiver Verstärkungen zum richtigen Verhalten. Liebe ist demnach Bevormundung und Verhaltensdressur. Die Menschen sind weithin Regelbefolgungsautomaten und befinden sich in einem „freiwilligen Parademarsch". Ob man in dieser „schönen neuen Welt" leben möchte, muss insofern stark angezweifelt werden. Utopie 13 14 15 16 17
und
Ökologie
Schwarz 1986, S. 227. Skinner 1983, S. 229. Skinner 1983, S. 266. Skinner 1983, S. 267. — Schwarz 1986, S. 222: „Alles blüht und gedeiht. Es herrschen Wohlstand, Eintracht und Heiterkeit.... Böses Blut, üble Nachrede, gehässige Empfindungen sind entweder veiboten oder verschwunden. Das alles klingt fast zu großartig, um überzeugend zu seia" Skinner 1983, S. 269.
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Hinsichtlich der utopisch-ökologischen Ausrichtung („Ökotopia") beschränken wir uns ganz bewusst auf zwei Autoren, die zum selben Thema zwei konträre Positionen vertreten und symbolisieren: Ernest Callenbach und Murray Bookchin. Während Callenbach die Ideenwelt der neuen sozialen Bewegungen aufgreift, steht Bookchin dem anarchistischen Denken nahe, beide gleichermaßen mit konkreten Hippie-Elementen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
2. ERNEST CALLENBACH Der amerikanische Autor und Filmwissenschaftler Ernest Callenbach (geb. 1929) rekurriert auf Gedanken der Friedens-, Naturschutz- und Umwelt- sowie Alternativbewegung im Westen der USA, den Feminismus und die Vorstellungen sexueller Befreiung und kompiliert diese Elemente „in einer ästhetisch jedoch eher pedantischen Weise zu einer literarischen Fiktion". 18 „Ecotopia" („ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999") wurde von Callenbach selbst verlegt (California at Berkeley 1975), nachdem er bei seiner Verlagssuche nicht erfolgreich war. Eine kürzere Fassung „First Days in Ecotopia" war 1974 in der „American Review" publiziert worden; „Ecotopia" erschien dann in New York 1977 (in deutscher Übersetzung 1978). Innerhalb von zehn Jahren wurden in den USA bereits stattliche 300.000 Exemplare verkauft. Über die literarischen Qualitäten des Werkes streiten sich die Geister, aber das große Publikumsinteresse spricht eine deutliche Sprache: Es traf offenbar den Geist der Zeit und wurde zu einem Kultbuch. Die Erzählstruktur ist relativ einfach und wird überwiegend in Tagebuchform vorgenommen: Der Reporter William Weston, unser Gewährsmann, unternimmt im Jahre 1999 eine sechswöchige Reise in die 1980 sezessionierten ehemaligen Weststaaten der USA ]9 , die bis dahin in der freiwilligen Isolation lebten, um das Länderexperiment „ökotopia" durchzufuhren. Seit ihrer Unabhängigkeit ohne Wunsch nach Wiedervereinigung ist Weston der erste Amerikaner, der ökotopia aus journalistischem Interesse besucht. Er ist nicht unbedingt wohlwollend eingestellt („ihre politische Organisation mit diesen verfluchten Weibern an der Spitze"), wird aber während seines Aufenthaltes natürlich bekehrt und bleibt dort, zumal er sich in die einheimische Marissa Brightcloud verliebte.
18 19
Gnttg 1999, S. 225. Der neue Staat umfasst in etwa die Bereiche der ehemaligen Bundesstaaten Washington, Oregon und Northern California, siehe Böker 1988, S. 74.
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Er findet viel Erstaunliches vor: Allgemein ein freundlicher und direkter Umgangston (mit langen Augenkontakten und häufigen körperlichen Berührungen), kommunale Gratis-Fahrräder und die totale Abschaffung von Privatautos, dafür elektrische bzw. batteriebetriebene Kleinbusse (zum Nulltarif), ebensolche Taxis (auch Wassertaxis), Elektro-Liefer- und Lastwagen sowie Magnetschwebebahnen (mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 360 km/h), mit Grünpflanzen ausgestattete Züge, die Legalisierung von Marihuana, allgemeine Recycling- und Wiederverwendungspraktiken, natürliches Bauen, geothermale Energiegewinnung, Sonnen- und Meereskraftwerke, kaum Reklame etc. — Die Wolkenkratzer der Konzerne in San Francisco sind in Wohnbauten verwandelt worden, verbunden mit vielen zierlichen Brücken auf vielerlei Ebenen. Die Innenstadt ist wieder belebt, zumal eine 20 Stunden-Arbeitswoche eingeführt wurde. Alles ist an einem stabilen Gleichgewicht und an der Kombination von Arbeit und Spiel orientiert. Die Städte sind in Nachbarschaften oder Gemeinden aufgefächert, zahlreiche neue Kleinstädte sind entstanden. Laute Straßen, Autos, Tankstellen, Supermärkte sind verschwunden, dafür stehen überall Bäume, viele Pflanzen und Blumen, ferner ist selbst in der City ein fröhliches Zwitschern der Vögel zu hören. So werden die Ökotopianer wohl auch mit der Stille fertig, die den New Yorker Besucher besonders irritiert. Ökotopia ist dezentralisiert und erfasst in dieser Hinsicht alle Aspekte des Lebens. Ebenso konnte eine Bevölkerungsreduzierung erreicht werden, um die allgemeine Lebensqualität zu erhöhen. Es besteht offenbar ein ökologischer Grundkonsens, auch das soziale Leben wurde vitalisiert. Die Bewohner sind überwiegend Fußgänger , Freizeitsportler und vor allem der Musik sehr zugetan. Die Sexualität ist extrem frei (Bett-, nicht Lebenspartner) und unverkrampft bis hin zur Promiskuität und den unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen. Daneben existiert, ebenso signifikant, ein ausgesprochener Baumkult, auch ist Holz das bevorzugte Baumaterial. Die ansonsten reichlichen Kunststoffe sind selbstredend alle biologisch abbaubar. Was indes (nach den etwas ermüdenden Berichten) erstaunt, sind die rituellen Kriegsspiele, um Konkurrenzhaltungen auszuleben. 20 Frauen sind hieran nur als Zuschauerinnen beteiligt, weil sie sich lieber auf den Wettkampf um die politische Führung einlassen. Die Präsidentin Vera Allwen steht der Survival Party vor, der mehrheitlich Frauen angehören. Sie ist an Kooperation und Biologie orientiert, während die rückständige oppositionelle Progressive Party [also eine Ironie mit dem Holzhammer] für überholte männliche Tendenzen steht: Individualismus, Leis20
Femer berührt es merkwüridg, dass (Kallenbach auf der Jagd besteht, das Verspeisen von Wild zu favorisieren scheint und die Bewohner eine bevorzugte Kleidung aus Leder und Fell tragen lässt, vgl. Hermand 1986, S. 259. Auch ist es interpretativ fraglich und vieldeutig, warum Callenbach den Farbigen eigene Stadtviertel einräumt, so dass im Ergebnis eine Rassentrennung auf freiwilliger Basis besteht.
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tungsdenken und ähnliche Einstellungen. 21 Weitere Einzelheiten und Schilderungen sind entbehrlich, da sie keine Überraschungen mehr bieten. Zur Bilanz des Ansatzes von Callenbach ist auszuführen, dass die befreite Sinnlichkeit in seinem Konzept durchaus von männlichen Wunschphantasien geprägt ist (vor allem in Bezug auf die Krankenschwester Linda und ihre Massagetechniken) 22 . Das Lebenskonzept Callenbachs ist teilweise sehr oberflächlich gezeichnet und von einer Zurücksetzung „höherer Künste" durchzogen. 23 Auch ist der Umgang mit der Natur in vielerlei Hinsicht anthropozentrisch. Der Entwurf ist stark an kalifornischen Outdoors ausgerichtet und verallgemeinert bzw. unterlegt vielfach die amerikanische Badestrandwelt. Auf Unterhaltungs-Videos und Kabelfernsehen verzichten die ökotopianer mitnichten, so dass man insgesamt diesen Eindruck gewinnt: Callenbachs Öko-Typen entpuppen sich „zwar als immens glückliche und auch ökologisch höchst verantwortungsbewusste Menschen, als wahre Spurensucher und Pfadfinder eines besseren Lebens, denen es jedoch letzten Endes an der Dimension der Tiefe, der Gefühlsverstrickung, der Verletzlichkeit gebricht. ... Immer wieder fragt man sich, warum diese Menschen alles so lässig, ja geradezu fahrlässig betreiben ...? Sie haben zwar einen gewissen Sinn für Schönheit, sind aber zu faul oder zu hedonistisch, ihre ästhetischen Bedürfnisse in gesamtgesellschaftliche Schönheitsvorstellungen umzusetzen. Sie lieben zwar die Natur, gehen jedoch recht unachtsam mit ihr um, indem sie dauernd in ihr herumtollen müssen, anstatt sie auch einmal in Ruhe zu lassen. Sie sind zwar recht zärtlich, ja geradezu liebevoll zu ihren Mitmenschen, ohne jedoch mehr von ihnen zu verlangen als sexuelle Relaxationen. Ebenso halten sie es mit der Arbeit, der Verwaltung und ähnlichen Dingen. Nichts erregt sie so tief, dass sie sich wirklich voll dafür einsetzen würden. Weder die großen Leidenschaften noch die intensiven Anstrengungen stehen bei ihnen im Vordergrund, sondern Verhaltensweisen, die sich eher als ,hobbyistisch' charakterisieren lassen." 24 Callenbachs Utopie ist daher wohl eher als ein stark romantisierendes und insgesamt etwas unbedarftes Zeitdokument von kumulierten subkulturellen und alternativen Lebensstil-Vorstellungen der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu rezipieren.
21 22 23 24
Callenbach 1978, S. 113. Gnüg 1999, S. 227. Heimand 1986, S. 258. Hermand 1986, S. 261/262.
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3. MURRAY BOOKCHIN Der 1921 in New York in der Bronx geborene Murray Bookchin war in den dreißiger Jahren ein radikaler Aktivist in der amerikanischen Arbeiterbewegung und entwickelte sich als Autodidakt über zahlreiche Protestkampagnen und Bürgerbewegungen (von marxistisch und antinuklear bis grün) zu einem unentwegten linksalternativen Sozialtheoretiker und Collegelehrer, der für seine sozialökologischen Utopieentwürfe in eigenwilliger Weise aus dem reichen Fundus historischer Exempla und Mythenbildungen schöpft und sich immer wieder des anarchistischen Ideenpools 25 bedient. Die für ihn typische Emphase kommt in dem Credo aus dem Jahre 1967 (in ohnehin bewegten Zeiten) zum sinnfälligen Ausdruck: „Unser Sein ist Werden, nicht Stasis. Unsere Wissenschaft ist Utopia, unsere Realität heißt Eros, unser Verlangen heißt Revolution." 26 Neuen Lebensformen gilt Bookchins Hauptinteresse mit einer ausgeprägten Abneigung gegen Hierarchien, Zwang und Konsum sowie assoziiert mit einer sozialen Phantasie, die auf Individualität, Autonomie und Willensstärke gründet und gemeinschaftsbezogen auf Fürsorglichkeit und Mitgefühl rekurriert. Wissenschaft und Technologie sollen von einem poetisch-visionären Denken durchdrungen werden, das die einseitige instrumentelle Vernunft aufhebt und die soziale und natürliche Dimensionalität zu einer neuen holistischen Synergie verbindet. Anarchismus ist für Bookchin eine Ausrichtung, die den subjektiven Faktor am allerwenigsten vernachlässigt habe: „Anarchisten haben den subjektiven Problemen der Revolution vermutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als jede andere revolutionäre Bewegung. Historisch gesehen handelt es sich beim Anarchismus um eine freiheitliche Volksbrandung, um ein Aufwühlen des gesellschaftlichen Unterbewusstseins, das zurückreicht bis zu den frühesten Kämpfen der Menschheit und Autorität und das seither unter vielen verschiedenen Namen aufgetreten ist. Doktrinären Losungen fühlt er sich minimal verbunden. Infolge seiner aktiven Sorge um Probleme des Alltags hat sich der Anarchismus schon immer vorrangig um Fragen des Lebensstils, der Sexualität, der Gemeinschaft, der Frauenbefreiung und der zwischenmenschlichen Beziehungen gekümmert. Im Brennpunkt seiner ganzen Anstrengungen hat immer das einzig sinnvolle Ziel gestanden, das eine Revolution haben kann: Die Erneuerung der Welt dergestalt, dass der Mensch zum Selbstzweck und das Leben zu seiner erhabenen, ja herrlichen Erfahrung wird. Die meisten radikalen Ideologien haben dieses Ziel an die zweite Stelle gesetzt. In den meisten Fällen haben derartige Ideologien, indem sie Abstraktheiten über das Volk
25 26
Siehe Bookchin 1996/98 u. 1998. Bookchin 1977, S. 135.
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verkündeten, die Menschen zu Mitteln degradiert — ironischerweise im Namen ,des Volkes' und ,der Freiheit'". 27 Die Begriffe „Ökologie" und „Umwelt" werden von Bookchin in einem weiten Sinne appliziert, nämlich als eine radikale soziale Ökologie (innen/außen). Die ökologische Perspektive liefere den Nachweis, „dass Ausgewogenheit in der Natur durch organische Vielfalt und Komplexität entsteht, nicht durch Einförmigkeit und Einfachheit." 28 ökologische Stabilität meint eine dynamische Einheit in der Vielfalt, nicht eine einmal fixierte und unveränderliche Homogenität. 29 Plurale Lebensformen und Wechselbeziehungen begründen den ökologischen Leitsatz, einem hohen Maß an natürlicher Spontaneität Raum zu geben. 30 Damit ist für Bookchin unweigerlich eine nicht-hierarchische Sichtweise verbunden. Auch eine ganzheitliche Sicht impliziert hingegen einen Reichtum des Besonderen, eine Logik der Differenzierung. 31 Kooperation sei demnach eine organische Verschmelzung von Identitäten, und zwar ohne die individuelle Einzigartigkeit aufgeben zu müssen. 32 Freiheit, Bewusstsein, Selektivität, Optionalität und Selbstbindung hängen eng zusammen. Hierfür spricht auch die immense Vielfalt an Staaten und staatsähnlichen Formen sowie die Plurivalenz sozialer Bindungen. Die hebräischen und hellenischen Mentalitäten haben uns geneigt gemacht, Hierarchie als rational zu universalisieren. Demgegenüber will Bookchin in seinen nicht-literarischen, aber appellativen Utopieentwürfen das historische Subjekt einer wirklich freien Gesellschaft begründen, indem er aus der Vergangenheit herauskristallisiert, was die Zukunft seiner Ansicht nach wieder benötigt. Ethische Interaktionen und Diskurse sollen die ökonomisierung des Lebens zurückdrängen, denn grundsätzlich kann gelten: „Jeder Appell an das menschliche Bewusstsein, ob an Klassenbewusstsein oder persönliches Bewusstsein, ist ein Appell an die Kreativität des Geistes und ein Ausdruck des Glaubens an das Gute im Menschen. Marx, der ,Materialist', Hegel, der .Idealist', Kropotkin, der .Ökologe', und Fourier, der .Utopist', sie alle haben sich auf dieselbe Reise der Hoffnung begeben, sie alle teilten den Glauben an die Macht der menschlichen Vernunft, eine freie Gesellschaft zu errichten. Keine Instanz stand höher als die Souveränität des Denkens und der Einsicht." 33 Die Potenzialität des freien autonomen Individuums und seiner Vergesellschaftung besteht darin, seinem materiellen Leben eine Form zu geben, die ökologisch, rational und kunstvoll 34 , nicht als Staats-, sondern als Lebenskunst auszugestalten ist. Eine soziale Matrix ist vonnöten, um Vernunft, 27 28 29 30 31 32 33 34
Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin
1977, 1977, 1985, 1985, 1985, 1985, 1985, 1985,
S. S. S. S. S. S. S. S.
18. 39. 37. 39. 48/49. 79. 187. 188/189.
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Wissenschaft und Technik auf eine neue Grundlage zu stellen. Eine libertär-symbiotische Rationalität und ökologische Sensibilität sind ihre konstruktivistischen Verursachungskapazitäten als ein politisches Unternehmen, das in projektiver Hinsicht die vermeintlich „dritte Natur" von Autorität und Herrschaft selbstbewusst ablegt. 35 Die Wiedergewinnung des Konkreten geht aus der Erkenntnis hervor, „dass die so genannte ,menschliche Natur' ein biologisch verankerter Prozess der Vergesellschaftung ist, in dem Kooperation, gegenseitige Unterstützung und Liebe natürliche und kulturelle Attribute sind." 36 Die „Zivilisation" habe das Terrain der Freiheitsmöglichkeiten und Lebenschancen erweitert, wenngleich in ambivalenter, kapitalistisch imprägnierter Weise: „Zwar hat die .Zivilisation' ihre Ansprüche auf Rationalität nicht eingelöst, für das willensstarke Individuum bot sie jedoch durchaus einen Nährboden, indem sie dem Wollen in der Gestaltung des sozialen Lebens und der Kultur einen hohen Rang einräumte. ... Tragischerweise hat die ,Zivilisation' Willenskraft mit Kontrolle, Herrschaft und Autorität assoziiert und in der archaischen Welt mit der göttergleichen Übermenschlichkeit des absoluten Herrschers verbunden. ... Aber diese Verdingung der Individualität an die Herrschaft, die in der .Zivilisation' so zwingend erscheint, ist sicherlich nicht die einzige Form individueller Kreativität." 37 Gerade die sozialistischen und kommunitären Utopisten betrieben oft eine Art der qualitativen „Sozialwissenschaft"; sie „kennzeichnete nicht ihr Mangel an Realitätssinn, sondern ihre Sittlichkeit, ihre Leidenschaft für das Konkrete, ihre Verherrlichung der Lust. ... Vor allem verweigerten sie sich der Vorstellung, dass menschliche Wesen letzten Endes Maschinen sind, dass ihre Gefühle, ihre Freuden, ihre Vorlieben und Ideale sich im Rahmen einer Kultur würden begreifen lassen, die das Quantitative als die authentische Wahrheit betrachtete. Sie standen damit in eindeutiger Opposition zu einer maschinenorientierten Massengesellschaft." 38 Auch war es beispielsweise Fourier und nicht etwa Marx, „der den berühmten Satz zu Papier brachte, dass der soziale Fortschritt daran zu messen sei, wie eine Gesellschaft ihre Frauen behandle." 39 Fouriers Gemeinschaftsvorstellung sollte eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft der Menschheit werden, nicht die Gemeinschaft einer Elite. Er war für Bookchin auch einer der ersten sozialen Ökologen des radikalen Denkens, denn für ihn „war die Betonung von Vielfalt und Komplexität auch eine Frage des Prinzips, eine methodologische und soziale Kritik, die er gegen das mechanische Weltbild des 18. Jahrhunderts richtete." 40 Viele Utopien blieben zutiefst autoritär; „andere, wie die von Cabet, durch und durch asketisch und patriarchalisch, und noch andere, wie die Vision von Saint-Simon, waren weit35 36 37 38 39 40
Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin Bookchin
1985, 1985, 1985, 1985, 1985, 1985,
S. S. S. S. S. S.
313. 328. 338/339. 341/342. 348/349. 351.
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hin technokratisch und hierarchisch. Robert Owens .utopischer' Sozialismus war sicherlich am pragmatischsten und programmatischsten. ... Wie die meisten Utopisten und Sozialisten seiner Zeit war er streng asketisch und ethisch ein Utilitarist". 41 Demgegenüber spricht sich Bookchin mit Verweisen auf Herbert Marcuse für eine neue Sinnlichkeit aus, ferner dafür, dass der utopische Dialog fortgeführt werden müsse, um die Abstraktionen der Sozialtheorie aufzuheben: „Die Erfahrung und die Phantasie müssen in ihrer ganzen Fülle, sei es als Drama, als Roman, als Science Fiction, als Dichtung oder Beschwörung der Tradition wieder zum Leben erweckt werden, um zu suggerieren und zu stimulieren." 42 Es ist die Vorstellungskraft des Einzelnen zu stärken und in den öffentlichen Raum einzubringen als „Rückgewinnung von Verfügungsgewalt": „Es gibt keine Reise nach ,innen', die nicht auch eine Reise nach ,außen' ist, und keinen .inneren Raum', der darauf hoffen kann, ohne einen sehr greifbaren .öffentlichen Raum' zu überleben. Aber öffentlicher wie innerer Raum werden zu bloßem leeren Raum, wenn er nicht strukturiert wird und Substanz verliehen bekommt. Er muss eine institutionelle Form bekommen, nicht anders als unser eigener hoch integrierter Körper, der ohne Struktur nicht existieren könnte. Ohne Form und Ausdruck kann es keine Identität, keine Definition und keine Besonderheit geben, aus der die Vielfalt entspringt. In der Diskussion von Institutionen ist nicht wirklich die Frage, ob es sie geben sollte oder nicht, sondern welche Form sie annehmen sollten — libertär oder autoritär."43 Eine ökologische Gesellschaft muss an einer Rekommunalisierung ihrer Handlungssphären und Entscheidungsbereiche interessiert sein, und auf höherer Ebene „scheint die föderative Kommune, zusammengesetzt aus vielen kleinen Kommunen, die besten Züge der ,Polis' in sich aufnehmen, ohne die ethnische Borniertheit und politische Exklusivität, die entscheidend zu ihrem Verfall beitrugen. Diese größeren oder föderativen Kommunen, durch Ökosysteme und Bio-Regionen miteinander verbunden, müssen kunstvoll in ihre natürliche Umgebung eingepasst werden." 44 Kommunen, Kollektive und Affinitätsgruppen sowie ihre direkten Aktionen könnten sich als stilbildend für die Gesamtgesellschaft auswirken. Dezentralisierung und die Ausbildung neuer kommunitärer Formen entfalten überdies eine lebensweltliche und integrative Kraft, die dem Einzelnen als einem sozialen Wesen am besten entspreche, seiner Selbstbestimmung und Selbstorganisation am meisten entgegenkomme. 45
41 42 43
44 45
Bookchin 1985, S. 352/353. Bookchin 1985, S. 355. Bookchin 1985, S. 359. Unter „autoritäi" versteht Bookchin alle auf Hierarchie und Herrschaft bezogenen Sozialformen, also auch Gerontokratien, Patriarchate, Klassenbeziehungen und Eliten bis hin zum Staat, „insbesondere in seiner sozial parasitärsten Form des Staatskapitalismus", vgl. Bookchin 1985, S. 384/385. Bookchin 1985, S. 371. In einem Epilog verweist Bookchin auf die praktischen Versuche der Diggers, Levellers, Ranters und ihrer zeitgenössischen Nachfahrea Bookchin 1985, S. 377.
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In Kontinuität hierzu (und in der Argumentation etwas weniger esoterisch als früher 46) plädiert Bookchin heute nach wie vor für eine explorative politisch-ethische Erneuerung der nicht-parochialen Stadtgesellschaft als Bürgerkommune 47 , die in anhaltender Opposition steht zur Staatsmacht, die per se korrumpiere. Allein die radikale, basisbezogene und partizipatorische Demokratie könne als bürger- und menschengerecht angesehen werden. 48 Konföderative Vernetzungen zwischen Gemeinden, Städten (mit ihren Stadtteilen bzw. Quartieren plus Nachbarschaften) und Regionen (Kantonen49) reichten aus, um Interdependenzvorteile zu genießen sowie Formen der Versammlungs- und Rätedemokratie zuzulassen. Die Wirtschaft ist überwiegend zu kommunalisieren und auf fairen, bedürfnisorientierten Austausch zu stellen. Es könnte dies für Bookchin der Beginn einer neuen sozialökologischen Geschichte sein, gekennzeichnet durch eine partizipatorische Evolution innerhalb von Gesellschaftswelten und im Einklang mit der Natur. Der Nationalstaat wird auf diese Weise entbehrlich, wie Zentralinstanzen eigentlich überhaupt nicht mehr benötigt werden, sondern nur noch einige stets abrufbare Funktionsstellen (i.e. nach dem Rotationsprinzip) und lediglich ein paar wenige, da sozialtechnisch unentbehrliche Koordinationsgremien, wobei die Städte und ihre Umkreise sich zu Quasi-Staaten ausformen. Entscheidend bei diesem munizipalen Entwurf 50 , der ideengeschichtlich und soziohistorisch an Prozesse vor der Genese des souveränen Nationalstaates anknüpft, sind Kooperation, lokale Gerechtigkeit und die Ausbildung ziviler Tugenden im direkten Umgang miteinander. Wie spekulativ auch immer, hat Bookchin damit immerhin den in den meisten Utopien zum Vorschein kommenden Anti-Individualismus transponiert zugunsten eines normativen Individualismus, der heute in vielen Disziplinen auf unterschiedliche Weise wieder stärker zur Geltung kommt. 51
46 47
48 49 50 51
Die „esoterischen" Teile habe ich hier im Wesentlichen ausgespart; sie finden sich zuhauf vor allem in Bookchin 1985. Parochial ist ein Begriff aus der politischen Kulturforschung. Damit ist gemeint, dass allgemein keine politische Systemsicht vorherrscht, sondern es gibt eine parochiale, nur auf die eigene unmittelbare Umwelt bezogene politische Kultur und damit eine so genannte „Kirchturmpolitik", die nicht über die Dorf- oder Gemeindegrenzen hinausblickt und sich auch nicht mit anderen Sphären austauschen will. — Zur Bürgeikommune siehe neuerdings den politikwissenschaftlichen Ansatz von Bogumil/Holtkamp 2002. Bookchin 1995. Die schweizerische Landsgemeinde und der Kanton Graubünden haben für Bookchin erhellenden Charakter. Zu einer sozialökologischen (und daher eher immanenten) Kritik siehe Clark 1998. Ein normativer Individualismus wird auch in der Rechtsethik bei von der Pfordten 1996 u. 2001 vertreten. Hier geht es um Fragen nach dem gerechten Recht. Der Grundsatz lautet: „Politische Entscheidungen sind dann und nur dann ethisch gerechtfertigt, wenn sie sich letztlich auf die betroffenen Menschen zurückführen lassen." Pfordten 2001, S. 437 u. öfter.
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Politische Utopien
Utopien
von
Frauen
Es gibt für die heutigen feministischen Utopien bzw. Utopien von Frauen einige Vorläufer. 52 Auf Christine des Pizans „Stadt der Frauen" (1405) sind wir bereits im Kapitel II.2 eingegangen, ebenso im Kapitel 11.20 auf Karin Boyes „Kallocain" aus dem Jahre 1940. Es sind dies signifikante Eckpunkte innerhalb eines Rahmens von (und überwiegend auch für) Frauen geschriebener Utopien, der gegenwärtig durch neue Entwürfe zunehmend erweitert und aufgrund von Wiederentdeckungen auch diachron mehr und mehr angereichert wird. Auch bei den „Verheißungen der Aufklärung" wurden die Frauen eher ausgespart und „selten als eigenständige Individuen gedacht". 53 Eine deutschsprachige „Ausnahme" bildete die Gelehrtentochter Sophie Gutermann, verheiratet: Sophie von la Roche (1731-1807). In ihren „Erscheinungen am See Oneida" (1798) beschreibt sie eine ideale ländliche Gemeinschaft und die Entstehung einer neuen Stadt in Amerika. Das Zusammenleben beruht auf dem integrativen Medium der Freundschaft moralisch gleichwertiger Menschen auf der Basis des heterosexuellen, monogamen Paares bzw. der Kleinfamilie. In Sonderheit aber grenzt sie sich „von Armut und Klassendenken und den europäischen, vor allem den französischen nachrevolutionären Verhältnissen scharf ab". 54 Sophie von la Roche hat überdies wie beispielsweise auch Rahel Levin-Varnhagen (1771-1833) oder Bettina (besser: Bettine) Brentano-von Arnim (1785-1859), im Übrigen eine Enkelin von Sophie von la Roche und von ihr weltoffen erzogen, literarische Salons geführt und damit am geistig-kulturellen Leben nicht nur teilgenommen, sondern alle drei Frauen haben gegen die unaufhaltsam heraufkommende Zeit- und Arbeitsmoral sowie die anhaltende männliche Dominanz über die galante Freundschafts- und Geselligkeitskultur in selbstbewusster Weise neue weibliche Freiräume vorbereitet. Bettine von Arnim war darüber hinaus auch sozialpolitisch tätig. In der angloamerikanischen Welt ist femer auf Margareth Cavendish (16231673), Sarah Scott (1723-1795), Mary Shelley (1797-1851) und Mary Bradley Lane (Ende des 19. Jahrhunderts, Lebensdaten nicht mehr bekannt) zu verweisen. 55 Der „Frankenstein" (1818) von Mary Shelley, Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft 56 und des Anarchisten William Godwin, ist besonders interessant. 57 Es ist nicht nur ein Gruselroman, sondern eine spöttische Kritik gegenüber dem schaffend-streberischen Mann und seinem Pathos, eine Abrechnung mit patriarchalem 52 53 54 55 56 57
Vgl. Roß 1999. Roß 1999, S. 131. Roß 1999, S. 142 Roß 1999, S. 174-202. Siehe Hufton 1998, S. 610-613. Klarer 1993, S. 67-76, Massari 1989.
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Weltbeherrschungswahn, der maskulinen Selbstherrlichkeit und einer männlich konnotierten instrumenteilen Anwendungsgier von Wissen. 58 Shelley, eine Protagonistin der englischen Romantik, wendet sich damit „gegen eine technokratisch mechanistische Naturauffassung, wie sie Francis Bacon in seinem ,Nova Atlantis' propagierte". 59 Der Roman rechnet überdies auch mit dem Sendungsbewusstsein von Utopien ab. 60 Mary Bradley Lanes „Mizora" (1890) ist sodann die erste Konzeption einer funktionierenden Gemeinschaft, die nur aus Frauen besteht. Auch die Erzählerin der „Mizora"-Abenteuergeschichte ist eine Frau, eine aus Sibirien geflohene regimekritische russische Prinzessin. 61 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt neben der bereits behandelten Schwedin Karin Boye zunächst vor allem die Amerikanerin Charlotte (Perkins) Gilman (1860-1935) in Betracht. 1911 erschien als Serienroman „Moving the Mountain" in ihrer radikal-feministischen Zeitschrift „The Forerunner". Ihre Arbeiten sind zwar von Edward Bellamy und seinen utopisch-sozialistischen Intentionen beeinflusst, aber setzen andere Akzente. 62 Gilman setzt auf Lernfähigkeit und Bewusstseinsveränderungen und betrachtet das Individuum als lebendigen Teil eines Gemeinwesens. Der Transformationsprozess zu mehr Lebenschancen und Empathie bringen insbesondere die Frauen voran; sie sind die Trägerinnen der sozialen Erneuerung im vagen Rahmen eines freiheitlichen und lebensfrohen Sozialismus, den Gilman aber nicht konsequent entfaltet oder durchhält. 63 In „Herland" (1915) — es folgt noch eine Fortsetzung „With her in Ourland" (1916) — schildert Gilman eine ausschließlich aus Frauen zusammengesetzte Gemeinschaft: „Heterosexuelle Bindungen und Familienstrukturen sind durch die Schwesterlichkeit der Frauen ersetzt. Mütterlichkeit wird von ihrer Reduktion auf die Betreuung der eigenen Kinder durch Frauen befreit." 64 Biologisch und zwecks Geburtenkontrolle werden nur wenige Frauen Mutter — und zwar durch Parthenogenese (Selbstbefruchtung). Sie bringen auch nur Mädchen zur Welt. Wie bei Piaton ist die Familie abgeschafft, die Kinder wachsen in der Gemeinschaft auf. 65 Die Gilmansche Herland-Utopie ist ebenfalls konfliktfrei, was z.B. in den Utopien von Ursula K. Le Guin und Marge Piercy relativiert und problematisiert wird. 66 Die Herland-Frauen "haben die Dichotomien der Geschlechtscharaktere aufgehoben, indem sie sich zu zivilisierten, optimal an die Umwelt angepassten und schwesterlichen Menschen entwickelten. Die Frauen in Herland sind Mittelpunkt ihrer eigenen Welt — was zu aufschlussreichen Wahrnehmungsunterschieden und zu Verständigungsproble58 59 60 61 62 63 64 65 66
Roß 1999, S. 182. Siehe femer Gnüg 1999, S. 170-174. Gnüg 1999, S. 174. Roß 1999, S. 188. Roß 1999, S. 189-193. Roß 1999, S. 203. Zur Kritik (vor allem wegen eines starken US-Zentrismus) siehe Roß 1999, S. 208/209 u. 216/217. Roß 1999, S. 210. Gnüg 1999, S. 177. Roß 1999, S. 211.
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men mit den männlichen Besuchern fuhrt, die aufgrund der Verhältnisse in der patriarchalen Außenwelt Mensch und Mann gleichsetzen". 67 Die Herländerinnen sind zwar den Männern überlegen, schließen diese aber nicht prinzipiell aus, wenn sie es gelernt haben sollten, gemeinschaftlich und sozialproduktiv statt zerstörerisch zu handeln. Herland ist insofern eine auf Freundschaft basierende Gesellschaft, „in der die Frauen die Fülle ihrer jeweiligen Anlagen entwickeln können, in der Konkurrenzkampf, Militarismus, Ausbeutung abgeschafft sind. Hier gibt es weder das schutzbedürftige, verzärtelte Weibchen noch die verhärmte, sich abrackernde Frau." 6 8 In Bezug auf die neueren Utopien von Frauen konzentrieren wir uns im Folgenden auf Ursula K. Le Guin, Sally Miller Gearhart und Marge Piercy.
4. URSULA K. LE GUIN Ursula K. Le Guin wurde am 21. Oktober 1929 in Berkeley als Tochter der Schriftstellerin Theodora Kroeber und des Anthropologie-Professors Alfred L. Kroeber geboren. Sie erwarb den Magistergrad an der Columbia University und heiratete 1953 den Geschichtsprofessor Charles A. Le Guin. Sie ist eine überaus vielseitige Autorin und hat rd. 20 Romane und dreizehn Kinderbücher (u.a. „Tom Mouse") geschrieben, neben Essays, Rezensionen, Übersetzungen und weiteren publizistischen wie akademischen Aktivitäten. Wir konzentrieren uns hier für unsere Belange auf „The Dispossessed" aus dem Jahre 1974 mit dem bezeichnenden Untertitel „an ambiguous Utopia". Die Utopie "The Dispossessed" (dt. „Planet der Habenichtse") 69 spielt etwa im 10. Jahrtausend und handelt von zwei unterschiedlichen Zwillingsplaneten. Vom Planeten Urras war rd. 170 Jahre zuvor eine Gruppe Freigeister als Neusiedler auf den Mond Anarres abgeschoben worden. Sie errichteten dort eine Gemeinschaft nach den Grundsätzen ihrer Leitfigur Odo, die notabene weiblichen Geschlechts ist. Hier sind Frauen und Männer völlig gleichberechtigt und im Wesentlichen im Kampf ums Überleben vereint. Die zwanzig Millionen Annaresti, die dem Odonismus als Zivilreligion verpflichtet sind, wollten endlich das woanders nicht mögliche Experiment einer libertären Anarchie und eines nicht-autoritären Kommunismus bzw. Egalitarismus wagen. Es handelt sich um eine nicht profit-,
67 68 69
Roß 1999, S. 212. Gnüg 1999, S. 181. Hieran schließt ihr Hainisch-Zyklus an, der hier allerdings nicht zu behandeln ist, weil wir exemplarisch für Utopien und nicht werkumfassend vorgehen
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sondern bedarfsorientierte Gemeinschaft ohne Geldwirtschaft und ohne Staat oder Regierung, die indes im Ganzen von einer syndikalistischen Produktions- und Distributionskoordination geleitet und verwaltet wird. Es ist, nüchtern betrachtet, nicht mehr als eine bürokratische Mängelverwaltung, die hier stattfindet, denn die Umraumbedingungen und die selbstgewählte Isolation lassen nur wenig Entwicklungschancen zu. Leben und Arbeit sind mühsam („viel Arbeit, wenig Brot") und die Annaresti sind formell, aber nicht wirklich frei. Die organische, innovationsfeindliche Gemeinschaftsideologie und die sich einspielende Verhaltenskonformität, die jede Subjektivierung als „Egoisierung" brandmarkt und marginalisiert, wird von fast allen mental geteilt, jedoch ist die Praxis der tatsächlichen Lebensverhältnisse defizient, freudlos und enttäuschend. Gesamtgesellschaftlich bleibt alles karg und öde, auch sind die sozialen und kulturellen Lebensformen nach der Aufbauarbeit von sieben Generationen wenig enthusiasmierend und die Stagnation ist unübersehbar. Die realutopische Gesamtsituation ist und bleibt aufgrund der Verkrustungen und durchzuhaltenden Selbstgenügsamkeit prekär. Ganz anders verhält es sich auf dem Mutterplaneten Urras mit einer Bevölkerung von 1000 Millionen. Dieser Planet ist fragmentiert, beherrscht von einer Supermacht A-Io, herausgefordert vor allem vom staatlichen Hauptrivalen Thu. Auch der Rat der Weltregierungen mit außerplanetarischen Botschaften wird vom Staate A-Io dominiert. A-Io ist ein kapitalistisch-neoliberaler Staat mit einer besitz- und profitorientierten Gesellschaftsordnung, insgesamt eine elitäre Männerwelt mit plutokratisch-oligarchischen Strukturen. Die Landschaften sind herrlich, weil A-Io mittlerweile ökologiebewusst geworden ist, die Städte sind beeindruckend. Auch das Wohlstandsniveau und die reiche Warenwelt sind imponierend, aber es ist zugleich auch (und unter der Oberfläche noch viel mehr) eine Armutswelt, denn die Lage der unteren Klassen ist desolat und erniedrigend. Die soziale Ungleichheit ist dramatisch zugespitzt, jedoch sind die Herrschaftsstrukturen relativ stabil und manifest, gestützt auf Militär und Geheimpolizei. A-Io ist auch stets kriegsbereit und setzt ohne Unterlass alle Mittel ein, den imperialistischen Vorsprung zu sichern und auszubauen. Der antagonistische Staat Thu auf Urras ist keine attraktive Alternative. Er wird von einem sozialistischen Zentralpräsidium geführt. Der Einzelne gilt nichts, die Strukturen sind ebenso „archistisch", also herrschaftsbezogen, und es ist gleichfalls eine Geldwirtschaft in Geltung. Thu spielt insofern in Bezug auf den Textanteil des Buches auch nur eine untergeordnete Rolle. Der Stellvertreterkrieg um Benbili bezieht sich auf Entwicklungsländer. Die Grundstrukturen und Attribute von Anarres und Urras/A-Io, die uns am meisten zu interessieren haben, können schematisch wie folgt gegenübergestellt werden: 70 70
Seeber 1988, S. 163.
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A narr
es
Freiheit Besitzlosigkeit Gleichheit Emanzipation der Geschlechter Herrschaftslosigkeit mutual aid keine Staatsformen Frieden Gemeinschaftsleben unfruchtbare Umwelt relativ niedriges Technologieniveau
Urras/A-Io Unfreiheit Besitz, Reichtum Ungleichheit Rollendenken Herrschaft survival of the fittest rivalisierende Staaten Krieg individuelles Leben und Familienleben fruchtbare, kultivierte Natur hochentwickelte Technologie
Ursula K. Le Guin arbeitet stilistisch mit einigen Zeitschnitten und Intervallen sowie zahlreichen Kontrastierungen, aber die eigentliche Romangeschichte ist relativ leicht zu rekonstruieren: Der Genius und Zweifler Shevek vom Exil-Planeten Anarres, offenbar der größte lebende Physiker, kommt mit seinen wissenschaftlichen Ideen wegen der sozial dominanten Mediokrität auf seinem Heimatplaneten kaum zum Zuge, so dass er sich nach vielen Querelen und einigen Skrupeln, nach längeren Durststrecken und existenziellen Nöten zur riskanten Ausreise zum Planeten Urras entschließt, um seine Forschungen im produktiven (gleichwohl interessenbesetzten) Expertenaustausch fortsetzen und zum Ziel fuhren zu können. A-Io ist an den Ergebnissen aus strategischen und ökonomischen Gründen besonders interessiert, umhätschelt und überwacht den herausragenden Wissenschaftler. Shevek entwickelt mehr oder weniger elaboriert eine Allgemeine Temporaltheorie, behält indes die einschlägigen Formeln noch für sich, die technologisch dazu geeignet wären, binnen kurzem ein interstellares, zeitüberwindendes Kommunikationsnetzwerk zwischen den bislang neun bekannten Welten zu installieren und für alle möglichen Zwecke zu nutzen. Diese theoretischen Einsichten sollten jedoch nach dem Willen Sheveks nicht zur Waffe oder zum Geschäft werden, sondern dem allgemeinen Wohl der Menschheit dienen. Diese Intention ist unter den obwaltenden Umständen nirgendwo adäquat umsetzbar. Shevek glaubt durchgängig an die authentische Willensfreiheit und an die menschliche Solidarität, scheitert damit aber auf beiden Planeten. Er verbrüdert sich auf Urras schließlich mit den Unterprivilegierten; ihre gewaltfreie Großdemonstration, bei welcher Shevek als Redner auftritt, wird von A-Io brutal beendet und mit zahlreichen Menschenopfern wird jede Form des zivilen Widerstandes aggressiv niedergeschlagen. Shevek flieht, überantwortet seine Entdeckungen einer außerplanetarischen Botschafterin der Erde und gelangt (in Begleitung eines neugierigen Außerplanetariers, der dem Gründungsmythos von Odo erneut vertraut) auf den Mond Anarres zurück, weiß aller-
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dings nicht genau, was ihn dort künftig erwartet. Die Leserinnen erfahren auch nicht mehr, was aus ihm und seinen inzwischen öffentlich gemachten Forschungsresultaten negativ oder positiv wird. Aufgrund dieses offenen Endes bleibt ein Schimmer Hoffnung, während der Tenor des Buches resignativ und allenfalls moralisch-appellativ ist. 71 Ein Happyend wird bewusst ausgespart. Der Protagonist Shevek erleidet eine Art patriarchaler Unterdrückung, so dass die Erzählstrukturen Ursula Le Guins nicht aufdringlich-plakativ, sondern in durchaus subtiler Weise geschlechtsbewusst sind. 72 Die Schilderungen von A-Io sind insofern krass und anklagend, da Frauen im Wesentlichen nur als Mütter oder Sexualobjekte vorkommen. Der sozialethische „Held" Shevek hingegen hat bisexuelle und betont feminine Züge, was auch in seiner langen und gezopften Haarmähne zum Ausdruck kommt. Seine Partnerin und Biologin Takver auf Anarres wird des öfteren in enger Verbindung mit der Natur, gewissermaßen „ökofeministisch" dargestellt. 73 Dass Ideen des Anarchisten Pjotr Kropotkin („gegenseitige Hilfe", Mutualität) der Anarres-Inspiratorin Odo zugeschlagen werden (wobei wohl auch Emma Goldman mitgemeint ist), ist eine hübsche Pointe; der immer wieder geschilderte Realitätseinbruch wiederum hebt viele Übersteigerungen auf. Die Unterschichten von A-Io entsprechen in der Aufbereitimg weithin den proles bei George Orwell. 74 Man kann Le Guins mehrdimensionaler wie kritischer Utopie (als philosophischer Science Fiction) ein Plädoyer für die freie Selbstverwirklichung des Individuums entnehmen, das allerdings auf soziale Einbettungen und Wertbindungen angewiesen ist, die sich indes nicht repressiv auswirken, sondern die Kreativität steigern helfen und die Kooperation universalistisch ausweiten sollten, gerade auch im (nicht nur natur-) wissenschaftlichen und sozialreformerischen Bereich.
5. SALLY MILLER GEARHART Die 1931 geborene Sally Miller Gearhart ist Professorin für Sprach- und Kommunikationswissenschaften an der San Francisco State University. Sie hat zusammen mit Susan Rennie auch die Abhandlung und das Kartenwerk „A Feminist Tarot" (1976) verfasst. Wir kaprizieren uns hier auf ihre zentrale feministisch-lesbische
71 72 73 74
Le Guin schätzt den Ausspruch von Shelley: „The great instrument of moral good is the imagination." Des Weiteren schätzt sie Virginia Woolf sehr — und am meisten hasst Le Guin menschliche und „wahrscheinlich" kosmische Dummheit. Klarer 1993, S. 106/107. Klarer 1993, S. 116. Seeber 1988, S. 154.
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Utopie „The Wanderground. Stories of the Hill Women" aus dem Jahre 1979 (dt. „Das Wanderland" im Verlag Frauenoffensive, München 1982). Es handelt sich um einen durch verschiedene Erinnerungen, Rückblenden und Episoden 75 stilistisch und zeitlich uneinheitlichen Bericht 76 über die Entstehung, Entwicklung und Veralltäglichung einer eher locker gekoppelten und selbstgenügsamen Frauengemeinschaft („Wanderground") in Amerikas naher Zukunft, die sich von patriarchaler Unterdrückung durch die Flucht auf das Land befreite. Die vorherigen repressiven Zustände werden dokumentiert und im Kontrast hierzu das kulturelle Gegenmodell ausgemalt, das zu einer harmonischen Interaktion von Frau und Natur führt und auf männlich konnotierte Technologien (hierin eingeschlossen: Bücher! 77 ) im Überlebenskampf vollkommen verzichtet. 78 Die „kollektive Erinnerung" als das sie gemeinsam Verbindende der Frauen ist nicht verschriftlicht, sondern wird rituell und sprachlich reproduziert (auch vermöge einer neuen Sprache) durch periodische Zusammenkünfte in so genannten „Erinnerungsräumen", wobei „remember-guides" die schicksalhaften Erfahrungen an die jüngeren Mädchen weiter vermitteln. Hierdurch wird eine organisch-epistemische Gemeinschaft geschaffen, die aufgrund des obwaltenden Grundkonsenses ohne bemerkenswerte politische Organisationsstrukturen auskommt. Der einzige Ort, in dem Männer noch Macht und sexuelle Potenz besitzen können, ist die dem Niedergang geweihte Stadt, in der die Frauen zu immer verfugbaren Sexualobjekten und Geburtsmaschinen, zur Hure oder Hausfrau, degradiert werden. 79 In den weiblichen Sphären außerhalb der Stadtgrenzen werden (aufgrund einer „Revolte der Mutter Erde" als 75 76 77 78
79
Einige wurden als Short stories vorab publiziert. Es gibt allerdings keinen Berichterstatter, der die Frauen besucht, sondern die Autorin wendet sich direkt an die Leserinnen. Sigrid Wiegel kommentiert dies zugespitzt so: „Bei der Konzentration auf die Rettung der Erde haben sie ihren Kopf verloren (sprich Intellekt, Bücher), ihr Ich (sprich Individualität) abgestreift und ihre Sexualität vergessen", Wiegel 1984, S. 107. Dafür sind die hill women in Analogie zum Archetyp der Amazonen absolut fit. Sie können weite Strecken unter Wasser schwimmen, mit den Tieren und den Bäumen sprechen, schwere Lasten ohne Berührung transportieren, sich mit dem Wind fortbewegen, über weite Entfernungen bewusstseinsmäßig miteinander kommunizieren etc.; all diese Dinge sowie die okkulten und metaphysischen Fähigkeiten (die im Roman mit zahlreichen neuen Termini versehen werden) haben sie erworben, nachdem sie sich ihrer natürlichen Umwelt öffneten und den Kontakt mit den gewaltbereiten Stadtmännern und ihrer Zivilisation vermieden. Sicher bleiben die Frauen aber nur außerhalb der dystopischen Stadt jenseits des Gefahrenlandes in den von ihnen rund um die Uhr bewachten Einfriedungen. — Die deutschen Übersetzerinnen haben angemerkt, dass das Wort „sin" der HügelFrauen in etwa dem englischen Wort „mind" entspricht: Es bedeutet u.a. Sinn, Gemüt, Herz, Seele, Verstand, Geist, Erinnerung, Gedanken. Diese Aspekte wirken zusammen, wenn die Frauen z.B. sin-Kontakt aufnehmen. Das Wort „weven" (im Englischen „mindstretch") wiederum wird häufig mit dem sin-Kontakt synonym verwendet: Es ist immer ein Umhüllen, nie ein Eindringen (sie!), setzt immer die Einwilligung der anderen Person voraus. Ist die andere Frau zur Kommunikation bereit, vereinigen beide ihre Kommunikationsfelder, öffnen sich völlig füreinander, machen alle Erfahrungen, Gefühle, Ideen, Erinnerungen, Phantasien füreinander zugänglich, was sowohl nicht-verbale wie auch verbale Kommunikation beinhaltet. — Entscheidend ist, dass jedes Hören (über die Fern-Ohren) auch ein Sprechen ist, wie alle befreiten Frauen über ein verständigungsorientiertes mediales Gedankensprechen verfügea Die Wanderland-Frauen informieren sich nach wie vor über die Zustände in der Feindesstadt, indem sie abwechselnd einige von ihnen (auf freiwilliger Basis) als Männer verkleidet dorthin schicken.
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dea ex machina und einer hierdurch verursachten Freisetzung von Energie 80) die Männer impotent, verlieren ihre Maschinen, Instrumente und Gewehre alle Funktionen, hier haben die Unterdrücker keine Herrschaftsgewalt mehr inne und ihre (direkten wie strukturellen) Vergewaltigungen ein Ende. Gearharts utopischer Roman kennt keine Hauptfiguren oder Heldinnen, sondern es werden mosaikartig rd. zwanzig verschiedene Frauen in unterschiedlichen Situationen dargestellt, die zu sich finden. Eine alle übergreifende und sie verpflichtende Frauenideologie wird indes nicht entwickelt, es wird also eine gewisse Diversität beibehalten. So treffen sich auch einige der Frauen gegen Schluss des Buches mit „Genties" aus der Stadt, das sind nicht-gewalttätige Männer, die sexuell nicht an Frauen interessiert sind. Insgesamt wird eine nicht unbedingt an den konkreten Individuen orientierte neue weibliche, kommunitär-kooperative und herrschaftsfreie Kultur vorgestellt, die keine überragenden Protagonistinnen benötigt, sondern als „womanpower" von innen her kommt („intra-personal energy flow") und nur entsprechend zu evozieren war. 81 Erinnerung (remembering) und Vergessen (dismembering) sowie Neubeginn im Einklang mit der Natur gehen in der utopischen Ausgestaltung Gearharts eine eigenwillige produktiv-fiktionale Symbiose ein, die männliche Leser exkludiert. 82 Gearhart entwirft in Ihrer ökofeministischen Utopie „nicht nur eine Vision einer ländlichen Frauengemeinschaft ohne Männer, sondern auch eine utopische weibliche Poetik, die sich grundlegend von männlicher Textproduktion unterscheiden soll. Sie kehrt dabei zu einer antiken Auffassung einer Einheit von Lyrik und Geschichte zurück, in der Erinnerung zu einem Konzept utopisch anmutender weiblicher Ausdrucksform stilisiert wird. Ihre Verwendung von Erinnerung (remembering) erscheint wie ein Wortspiel auf ,re-membering' — das ,Wiederzusammensetzen der Glieder', indem sie ,Erinnerung' als Konzept antiker poetischer Produktion (Mnemosyne) in einer sehr geschlechtlichen und körperlichen Art und Weise besetzt. Erinnerung ist in ihrem Roman Teil einer allgemeinen rückläufigen Bewegung in Richtung einer primitiven, ökologischen und daher für Gearhart kraftvollen Existenz. Das poetische Mittel des .remembering' ist eine der Strategien, mit der patriarchale Macht beseitigt (,dismember') werden soll." 83 Das Motiv des remembering wird zusammen mit dem vorherrschenden Konzept der Oralität in den sexuell besetzten Fruchtbarkeitsmythen weiter variiert. 84 Frauen sind insbesondere dazu 80
81 82 83 84
Diese Auffassung hat die Kritik vieler Feministinnen hervorgerufen, die lieber ein emanzipatorisch-endogenes Erstreiten gesehen hätten als ein exogenes „Geschenk". — Bei Gearhart heißt es: „Die Erde sagte endlich ,nein'. Es gab keinen Sturm, kein Erdbeben, keine Flutwelle, keinen Vulkanausbruch, keinen besonderen Augenblick, der dieses Ereignis kennzeichnet. Es wurde nur sichtbar, dass es geschehen war, dass es überall geschehen war." Gearhart 1982, S. 174. Keulen 1991, S. 52/53, 72/73. Klarer 1993, S. 92, 97. Klarer 1993, S. 91. Klarer 1993, S. 91/92.
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fähig, sich zwischen den materiellen Dingen und den geistig-spirituellen Bereichen zu bewegen. Parapsychologie, Telepathie und Informationsvermittlung unter Einschluss der Pflanzen und Tiere sowie die von Gearhart überstrapazierten Bilder zur Dialektik von Vergewaltigung und Impotenz in Bezug auf die Männer, die die Liebe und das Leben nicht wirklich lieben, verleihen dem Buch eine eigentümliche, teilweise peinlich-pathetische und überschwänglich esoterische Aura. Die von Männern über Jahrhunderte hinweg verfemten Frauen sind die einzige Hoffnung auf das Überleben der Erde. Sie sind Lerngefährtinnen auf der Suche nach ihrem freien unabhängigen Selbst. Inzwischen gehören die meisten Frauen und die in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Männer wohl nicht mehr derselben Spezies an. Auch die sanften Männer (gentles) sind es nicht gewohnt, Macht zu teilen. Hinsichtlich der Geschlechterproblematik ist eine Separierung beider Welten offenbar unabdingbar. Allerdings werden auf der Basis einer strikten Gleichheit und Nichtdiskriminierung eine Aussöhnung und komplexe heterarchische Interaktionen nicht vollends ausgeschlossen. Allerdings scheint die radikal- und spirituell-feministische Autorin (sowie im „richtigen Leben": „bekennende Lesbe") Gearhart eher pessimistisch zu sein 8S, dass sich die misogynen Männer jemals ändern werden, während für eine weitere ökologische Feministin, nämlich Marge Piercy, die Sache nicht völlig hoffnungslos ist.
6. MARGE PIERCY Die Katzenliebhaberin und politisch engagierte sowie äußerst produktive Schriftstellerin Marge Piercy wurde am 31. März 1936 in Detroit geboren und jüdisch erzogen. Sie ist in dritter Ehe mit dem Autor Ira Wood verheiratet, mit dem sie 1997 auch einen kleinen Buchverlag gründete (Leapfrog Press). Hier soll vor allem ihr Roman „Woman on the Edge of Time" (1976/77) gewürdigt werden (dt. „Frau am Abgrund der Zeit", 2. Aufl. 2000). In dem Roman wird die Slum-Bewohnerin und katholische Amerikanerin mexikanischer Herkunft, Consuelo Ramos („Connie"), zum zweiten Mal nach drei Jahren in eine Nervenklinik eingeliefert. Im Zusammenhang mit der ersten Einlieferung hatte sie ihre kleine Tochter Angelina zur Adoption freigestellt86, diesmal hatte sie den Zuhälter ihrer schwangeren Nichte Dolly, Dolores Campos, mit einer Flasche im Gesicht verletzt, um sie vor seinen Angriffen zu schützen. Damit waren ihre Chancen gering, jemals wieder eine bürgerliche Existenz zu führen. Nach Ansicht des Klinikpersonals und der Außenwelt war sie „menschlicher Abfall auf dem Weg 85 86
So bleibt auch die Frage offen, ob die „Wanderland"-Frauen die Erde werden retten können. Später wird suggeriert, sie könnte irgendwie im utopischen Dorf aufgenommen worden sein.
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zur Müllhalde" 87 ; aber sie ist auch eine „Fangperson", denn sie hat Kontakt mit einer „Sendeperson" aus dem Jahre 2137. Es ist Luciente, ein junger Mann mit einem Indiogesicht, der sich sodann als Frau entpuppt. Männlich/weiblich sind in seiner/ihrer Zeit und an seinem/ihrem Ort offenbar keine besonders wichtigen Kategorien oder Unterscheidungskriterien mehr. Luciente lebt in dem 600 Seelen-Dorf Mattapoisett in Massachusetts und beschäftigt sich mit Pflanzengenetik. Jeder hat dort einen eigenen Platz zum Leben, das Milieu ist bäuerlich-ökologisch geprägt 88 und autarkiebezogen. Offensichtlich gibt es keine großen Städte mehr. Man habe viel von Gesellschaften gelernt, die einmal primitiv genannt wurden, aber hoch entwickelt waren in sozialer Hinsicht. 89 Gleichwohl herrscht im Hintergrund ein ständiger Krieg oder zumindest eine latente Bedrohung. Luciente ist ein Zeitreisender, der mit Connie telepathisch Kontakt aufnehmen kann — und vice versa. Es kommt beiderseits zu entkörperten, virtuellen Zeitreisen in die jeweilige Gegenwart des anderen. Allerdings kann es sich auch um Halluzinationen bei Connie handeln, deren armseliges Leben reflektiert wird 90, das von Ausbeutung und Erniedrigung — vor allem durch Männer und den Leidensdruck der sozial unterprivilegierten, nichtweißen Frau — geprägt ist, obwohl es ihr immerhin auch möglich war, fast zwei Jahre an einem College zu studieren.91 Die Zeitreisen sind mentale Fluchtpunkte und imaginieren andere Welten. Sie geben ihr auch Kraft, ihr depraviertes Leben durchzuhalten. Sie erfahrt von Luciente und ihren Freunden viel über die neuen Lebensformen und erhält emotionalen Beistand. Luciente kommuniziert insbesondere auch mit seiner Katze Tilia. Die Kinder werden genetisch gemixt; die Embryos werden aus der Retorte, dem Brüter, geboren, natürliche Geburten kommen nicht mehr vor. Jedes Kind hat drei „Mütter" (auch Männer, die ebenso zu stillen in der Lage sind) bis zum 12. Lebensjahr, danach kommen Tantenpersonen als ausbildungsbezogene Betreuer in Betracht, sodann Koordinationspersonen nach dem Rotationsprinzip. Eine Flucht Connies aus der Nervenheilanstalt in Rockover auf dem Land missglückt. Sie wird nach New York in eine experimentelle Klinik gebracht, in der aufwändige neurologische Versuche getestet werden. Connie wird dort zum Objekt gemacht, aber ihren Willen kann man nicht ganz brechen. Sie kommuniziert immer wieder mit Luciente, der Verständigungsbarrieren mittels eines „Kenners" überbrücken kann, ein ArmbandComputer, der seine Identitätsmerkmale und das Wissen der Vergangenheit gespeichert hat. Überwiegend aber nutzt Connie die Kontakte zu Zeitreisen in die Zukunft. Einmal landet sie aus Versehen mit einem solchen Unterfangen bei einer 87 88 89 90 91
Piercy 2000, S. 34. Damit ist allerdings kein genereller Technikverzicht verbunden. Piercy 2000, S. 150. Diese Reflexionen erfolgen zwar in literarischer Form, aber es besteht ein Überhang des Inhaltlichen unter Vernachlässigimg des eleganten und gekonnten Stils. Die eingenommene Perspektive liegt im Grande auf der Linie von Michel Foucault, vgl. hierzu Burwell 1997, S. 131-163. Untergründig ist das Buch auch eine Art Bildungsroman, vgl. Ferns 1999, S. 211.
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anderen weiblichen Person in der Mega-City New York. Die redebereite Gildina lebt als zum Kontraktsex auf Zeit verpflichtete Partnerin in einem überwachten Appartmenthaus ohne Fenster. An der Unterordnung und Entsubjektivierung der Frauen hat sich wenig geändert und hier herrscht eine dystopische Welt vor, nämlich eine ständische resp. klassengespaltete, nach Ebenen und Kasten geordnete Mehrebenengesellschaft, in der die multinationalen Unternehmen die Welt beherrschen, was zu extremer sozialer Ungleichheit fuhrt. Sowohl hier als auch im Dorf Luzientes kommen politische Strukturen kaum vor und es überwiegen Schilderungen der alltäglichen Lebenswelt. 92 Die Reichen leben in dieser stadtbezogenen und negativen Utopievariante nicht mehr auf der Erde, sondern in Raumstationen. Sie werden etwa 200 Jahre alt, die Armen in der dicken Luft der Erde hingegen werden nicht viel älter als 40 Jahre und werden besonders gerne auch als Organspender genutzt. Connie hat wenig Chancen, der Anstalt zu entkommen, auch der Kontakt zu Luciente wird schwächer und schwächer. Ihr von Repressionen gekennzeichnetes Leben, in dem jede Spur des Glücks schnell von den Anglos und der eigenen Verwandtschaft getilgt wird, hat ihr den Eindruck verschafft, dass sie sich in einem permanenten Krieg befindet, der indes nicht zum Selbsthass fuhren darf. Ihre letzte Widerstandshandlung, die sie für immer in die Nervenheilanstalt in Rockover verbannt, ist eine raffinierte Vergiftung der vier sie manipulativ operierenden Ärzte, die mit den Eingriffen an ihr und weiteren Probanden wissenschaftlichen Ruhm erwerben wollten durch neue implantierende Verfahren zur permanenten Ruhigstellung von gewaltbereiten Abweichlern. Es konnte Connie jedoch gelingen, in die Ärzte-Kaffeemaschine beim Operationsraum das schnell wirkende Gift einzuträufeln, das sie während eines genehmigten Freiganges (der indes keine erhoffte weitere Möglichkeit zur Flucht bot) zum Thanksgiving Day im Gärtnereibetrieb ihres erfolgreich angepassten und arrogant gewordenen (früher durchaus rebellischen) Bruders Luis an sich gebracht hatte, der auch immer wieder die Einwilligungen zu ihren klinischen Behandlungen gegeben hatte. Wahrscheinlich konnte es derweil aufgrund der Turbulenzen auch noch Sybil gelingen, aus der Anstalt zu fliehen und bei studentischen Frauengruppen unterzutauchen, die an ihren esoterischen Heilkünsten Interesse zeigten. Die Anstaltsfreundin Sybil scheint zugleich einen neuen, zum Kampf bereiten Frauentypus zu versinnbildlichen: groß, aggressiv, sexuell abstinent und mit allen Attributen ausgestattet, die Männer (als stupid white men) dazu veranlassen, Frauen als „Hexen" zu bezeichnen, was wiederum auf bestimmte Traditionslinien im Geschlechterkampf verweist.
92
Im positiven Utopiesegment von Lucientes Mattapoisett werden diskursive und deliberative Entscheidungsmodi bevorzugt, was durch die Kleinheit der (familienähnlichen) Gemeinschaft ermöglicht wird, die zugleich bei Piercy so stilisiert ist, dass sie genügend Raum lässt für individuelle Entfaltung. Individual- und Sozialethik sind hier weitgehend kongruent. Allerdings gibt es keine Hinweise Uber die Extensität der jeweiligen Entscheidungen, die offenbar lokal gebunden bleiben. Es sind auch kaum Ausführungen zu möglichen Vernetzungen gegeben. Es scheint im Gegenteil eine ständige Drohkulisse jenseits der Dorfgrenzen zu bestehen. Im Übrigen hat sich auch die ursprünglich lange Zeit uibane Autorin Piercy in ihrer zweiten Lebenshälfte für die Landflucht entschieden
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Das Buch ist durchzogen von Reflexionen, Rück- und Vorblenden, die trotz der vielen Schnitte für die Leserinnen in einem kohärenten Sinnkontext stehen, das immerwährende Scheitern von Lebensentwürfen aus überwiegend strukturellen Gründen betreffend. Der Roman enthält überaus restriktive Tendenzen, aber auch emanzipatorische bzw. revolutionäre Appelle. Im Zusammenhang mit den zahlreichen Zeitreisen, die auch zur kritischen Gegenüberstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft genutzt werden, kommen erkenntnistheoretische und utopische Grundfragen in monologischer und diskursiver Weise zum Tragen. Hierbei fallen vor allem zwei Sentenzen ins Auge, die auch unseren Utopiediskurs zum Abschluss bringen können: „Letzten Endes kommt das, was wir sehen, .. aus uns selbst" 93 und: „Vorstellen können wir uns alles, was wir wollen. Aber tun müssen wir was Reales". 94
93 94
Piercy 2000, S. 401. Piercy 2000, S. 420. — Siehe auch die prinzipielle Folgerung von Ferns 1999, S. 235/236: „For Utopia ... constantly reproduces features ... both of its predecessors, and the society to which it proposes an alternative; it, too, repeatedly falls short of what it might be; in looking to the future, it all to often re-enacts the past And yet at the same time, it is still capable of pointing the way, however hesitantly, toward something new. In looking at its failures, we may perhaps learn more about our own tendency to repeat the past, whether that tendency is rooted in personal psychology, our broader socialization, or simply the narratives in which we find ourselves taking part To recognize a narrative is the first step toward deciding whether or not we wish to participate in it, and then looking for ways to be part of another story — and in this context Utopia provides innumerable examples from which we may learn. While Utopia may tell the same story over and over again, one of its lessons is that it does not always have to be repeated."
V. Z U M POLITIKTHEORETISCHEN STATUS VON UTOPIEN
„Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird." (Heinz von Foerster) „Ideen sind Surrogate des Kummers" (Marcel Proust)
Utopien sind kulturelle Erfindungen und faszinierende Ordnungsentwürfe. Sie haben eine fiktionale Identität (auch Finalität) und stellen uns eine andere Welt oder generell verschiedenartige Welten als existent vor, different zu der Welt, wie wir sie kennen, wenn auch nicht gänzlich neu, aber mit divergierenden Gewichtungen. Soziale und politische Utopien sind Neuarrangements von Strukturen und Funktionen, sie entinstitutionalisieren die fragwürdigen Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Gegenwart, institutionalisieren neue Modalitäten und Verhaltensweisen, begründen symbolische Neucodierungen, erweitern die Perspektivität und Tendenzen des Bisherigen, machen uns kontingenzbewusst und auf Anderes neugierig, und dies überwiegend in anschaulicher, nur selten in allzu phantastischer Weise — die meisten utopisch-multiplen Welten sind gar nicht so fern, auch deswegen interessieren sie uns besonders und erregen unsere Aufmerksamkeit. Die utopischen Gemeinwesen stiften Eintracht und Harmonie, stehen vor allem ein für eine („weiche" oder „starke" bzw. „harte") gesamtgesellschaftliche Integration, aber wir müssen jeweils fragen: Um welchen Preis? Wir können und sollen also entscheiden, ob wir die utopische Ordnung für sinnvoll halten und ob wir darin leben wollen. Das ist im Grunde bei mir hinsichtlich keiner der behandelten Utopien in uneingeschränkter Weise der Fall, insgesamt überwiegt dann doch eher die Skepsis in Bezug auf die utopischen Offerten. 1 Auch sind die Schreckens- und Warnutopien wohl oft nicht schrecklich genug. Die „schöne neue Welt" von Hux-
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Aber vielleicht liegt es auch daran, dass ich mit meiner Zeit und meinen Entfaltungschancen zufrieden und darüber hinaus ein überwiegend glücklich eingestimmter (und das heißt: angstfreier) Mensch bin.
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ley wird zumindest einigen Lesern gar nicht so schlecht gefallen, obwohl sie als dystopisch zu evaluieren ist. Utopien implizieren stets Zeitkritik und wollen Tendenzen verhindern, andere Entwicklungen und Selbstbindungen stimulieren. Sie stellen damit den gegebenen Verhältnissen kein gutes Zeugnis aus. Als Ordnungsentwürfe sind Utopien Modelle von Gesellschaften und Exempla eines rationalen sozialen Theoretisierens. Sie können im günstigsten Fall die Optionen erheblich erweitern, im Mahnbereich gewisse Auswüchse und desaströse Prozesse verhindern helfen. Utopien sind ein Vorgriff auf das Reich der Freiheit oder Unfreiheit, sind Wunsch- oder Furchtbilder. Utopien haben also stets einen normativen Anspruch, sind daher nicht einfach nur Erzählungen, vielmehr Reflexionsangebote. Ihre Deskriptionen sind auf etwas bezogen, was noch nicht ist. Auf jeden Fall aber wird es anders sein als heute, allerdings nicht als Trugbild, vielmehr in Pfadabhängigkeit zur Gegenwart. Die raumversetzte Präsenz oder die zeitlich verschobene Antizipation von utopischen Gesellschaftsmodellen haben die Intention, für die Jetztzeit entweder adaptiert oder aber durch Einsicht verhindert zu werden. Jedenfalls geht der Utopiediskurs unaufhörlich weiter, denn offenkundig kann und will man auf Utopien nicht verzichten: Wer Utopien sammelt, braucht eine große Bibliothek. Oscar Wilde irrte sich nicht, als er 1891 feststellte: „Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick." 2 Das „Land Utopia" ist räumlich und zeitlich variabel und auch seine Topographie zeigt ein weites Spektrum, denn es reicht von der subregionalen Gemeinschaftsidylle bis hin zur vernetzten Weltgesellschaft oder planetarisch sogar darüber hinaus. Auch der Eigenrhythmus und der Leseeindruck von Utopia ist unterschiedlich: oft statisch und manchmal fad (mit dem sozialen und kulturellen Charme einer Jugendherberge), nur hin und wieder etwas dynamischer; des öfteren (wenn man die Utopiemuster erst einmal kennt) durch Redundanzen auch gehoben langweilig, gelegentlich etwas vitaler werdend und zum Teil auch phantastisch, zumeist mit einem Glücksversprechen und einer Erlösungssehnsucht 3 verbunden, entweder durch 2 3
Siehe Oscar Wilde, The Soul of Man Under Socialism, in: Hesketh Pearson (Hrsg.), De Profundis and other writings, Harmondsworth 1973, S. 34. Richard Rorty empfiehlt im Übrigen sowohl das Kommunistische Manifest als auch das Neue Testament zur Pflichtlektüre für junge Menschen. Beide Dokumente seien eine inspirierende Lektüre, wenngleich ihre Prophezeiungen und Weissagungen gescheitert seien. Es seien aber Manifestationen einer Hoffnung, nämlich dass „wir eines Tages bereit und fähig sein werden, den Bedürfnissen aller Menschen mit jenem Respekt und jener Rücksichtnahme zu begegnen, die wir den Bedürfnissen derer entgegenbringen, die uns am nächsten stehen, die wir lieben." Noch besser allerdings wäre es, wenn wir ein neues Dokument zur Verfügung hätten, „das den Kindern Inspiration und Hoffnung vermittelt und dabei weder mit den Mängeln des ,Neuen Testaments' noch denen des .Kommunistischen Manifests' behaftet ist. Es wäre gut, wenn wir einen reformistischen Text ohne die apokalyptische Prägung dieser beiden Bücher besäßen — einen Text, der nicht behauptet,,alles' müsse erneuert werden, Gerechtigkeit könne ,nur erreicht werden durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung'. Es wäre gut, wenn wir ein Dokument besäßen, das die Einzelheiten einer diesseitigen Utopie erläutert,
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den Abbau von Spannungen sowie im Hinblick auf Gleichheit und Gerechtigkeit, bei den Dystopien durch Normierung und Freiheitsrestriktion. Ein prozessual offenes Wechselspiel von Macht und Gegenmacht kommt nicht vor, sondern die Verhältnisse und Verlaufsformen sind entschieden, mithin als Struktur- und Funktionsgefuge ultrastabil und bewegungsarm. Wir sind gewissermaßen nach Zielerreichung am Ende der Geschichte, der evidenzaxiomatische Konstruktivismus hat sein abschließendes Realmodell gefunden. In jedem Fall versprechen Utopien mehr Eindeutigkeit und wollen Ambivalenzen aufheben, die Ordnung soll inhaltlich und strukturell erst anders konturiert werden und dann als selbstevident in immerwährender Geltung sein — literarisch und politiktheoretisch als Vorbild oder zur Abschreckung. Es lösen sich diese gängigen Dichotomien im weiteren Verlauf des Utopiediskurses aber auch allmählich auf, d.h. die politischen Elemente und sozialen Module utopischer Textsorten und Praktiken werden pluraler und heterogener sowie je nach Interpretation und Zuordnung zu Mischverfassungen kombinierbar. Nachdem wir fast dreißig Utopien in den Blick genommen haben, lässt sich zur näheren sozialwissenschaftlichen Evaluation und politiktheoretischen Würdigung resümieren: • Alle Analogisierungen und Implementationen von elitären Utopiemustern im Anklang an die Politeia Piatons monopolisieren Herrschaft und hierarchisieren diese. Es sollen Philosophen, Wissende und Erlauchte an der Spitze des Distributivsystems stehen und dessen Regeln bestimmen (Paternalismus des Guten, verbunden mit einem Interpretations- und Erziehungsmonopol). Widerstreitende Forderungen 4 und Gegenmachtbildungen sind nicht vorgesehen, in Dystopien praktisch sinnlos. Positive Utopien sind oppositionsfrei, negative Utopien ebnen die Differenzen ein bzw. hermetisieren sie in fest gefugten Schichten oder Kasten und traktieren alle Abweichler physisch und psychisch in repressiver Weise.
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ohne zu behaupten, dass diese Utopie mit einem Schlag und fertig in Erscheinung treten werde, sobald nur diese oder jene .entscheidende' Veränderung zustande gebracht — das Privateigentum abgeschafft oder Jesus in unser aller Herzen eingezogen sei. Kurz, es wäre am besten, wenn wir ohne Prophetien und ohne Ansprüche auf ein höheres Wissen um die Kräfte, die die Geschichte lenken, auskommen könnten - wenn sich großzügige Hoffnung ohne solche Beteuerungen erhalten könnte." Rorty 1998, S. 11 u. 28/29. Die Gegenforderungen können unterschiedlichster Art sein. Sie lassen sich nach Michael Walzer prinzipiell zu drei Generalformen analytisch ordnen: „Gegenforderung I: Das dominante Gut, was immer es sei, ist so umzuverteilen, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft oder zumindest eine breite Allgemeinheit in seinen Besitz gelangen — Implikation: das Monopol ist ungerecht. — Gegenforderung II: Es muss dafür gesorgt werden, dass alle Sozialgüter eine autonome Verteilung erfahren — Implikation: die Dominanz eines einzelnen Gutes ist ungerecht. — Gegenforderung III: Das gegenwärtig dominante Gut muss durch ein anderes, von einer anderen Gruppe monopolisiertes Gut substituiert werden — Implikation: die bestehende Herrschafts- und Sozialstruktur ist ungerecht." Walzer 1994, S. 40.
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• Bei Morus ist die Konformität/Uniformität sehr weit getrieben und wird auf Sklaven nicht verzichtet. Es ist eine Welt der funktionalen Totalität ohne Wandel, im Ganzen eine Arbeits- und Bildungsutopie. Die zwei weiteren Renaissance-Utopien sind hierzu im Wesentlichen isomorph. Campanellas Sonnenstaat ist überdies zentralistisch und paratotalitär organisiert. Es ist eine theokratische und harte Utopie, die allerdings aufgeschlossen ist fur technische Innovationen. Noch mehr ist Bacon dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtet, bei ihm fallen politische und szientistische Leitung zusammen. • Im vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts, wobei die wichtigsten Schriften zumeist erst sehr viel später im Druck erschienen, hat Fénelon zwei unterschiedliche Utopiemodelle vorgestellt: Bétique ist frugal-arkadisch und egalitär angelegt, Salent hingegen ist ständisch und absolutistisch-etatistisch organisiert, verfügt jedoch der Realisierungsidee nach über einen aufgeklärten Monarchen. Der Abbé und spätere Atheist Meslier übte im Rahmen des utopischen Sozialismus scharfe Religions- und Sozialkritik, forderte Gemeineigentum, trat für föderale kommunistische Gemeinden ein und rief zur Revolution auf. Auch Morelly befürwortet das Kollektiveigentum und Kooperativen. In seiner Basiliade wird die Produktion rationalisiert und die Sinnlichkeit forciert, im durchkalkulierten und mehr autoritären „Code de la Nature" wird eine dezentrale und plurale Ordnung „harmonischer Ungleichheit" entworfen, beruhend auf einer positiven Gesetzgebung und unterstützt durch anwendungsorientierte Wissenschaften. Rétif de la Bretonne war ein Anhänger von Genossenschaften mit einem Zuschuss an individuellem Gewinnstreben, versehen mit einer klaren Reformperspektive, während sein Freund Louis-Sébastien Mercier die Zeit- und Zukunftsvorstellungen revolutioniert, indem er seine Utopie in das postmoderne Paris des Jahres 2440 verlegt. Es dominieren die Naturwissenschaften, damit ist jedoch nicht unbedingt eine größere Liberalisierung verbunden. Mercier übt sogar eine gewisse Technikkritik, er tritt für religiöse Toleranz ein und proponiert Anerkennungs- und Befreiungskämpfe. Noch entscheidender aber ist, dass er die Raum- durch die Zeitutopie ersetzt (bzw. ergänzt und hierdurch den Utopiediskurs umgestellt) hat, wodurch die Utopie untergründig (und immer stärker) mit Aktionsprogrammen und Handlungsappellen ausgestattet wird. • Robert Owen hat im 19. Jahrhundert seine utopisch-sozialistischen Ideen im Betrieb resp. in Form von Siedlungen schrittweise praktisch erprobt („gelebte Utopie"). Er hat insbesondere erheblich dazu beigetragen, dass Sozialreformen gegen die Auswüchse des industriellen Kapitalismus initiiert und soziale Bewegungen stärker beachtet wurden. Owen geriet zwar tendenziell zum Guru, in politiktheoretischer Hinsicht hat er jedoch den ökosozialismus und föderative kleine Gemeinschaften/Lebenskreise ohne staatliche Lenkung propagiert. Heutige politische Netzwerk-Kulturen können sich auf ihn berufen. Charles Fourier hat ähnlich gedacht — seine Utopien ereigneten sich ausschließlich in seiner Phantasie, die Um-
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setzungsversuche seiner Schüler scheiterten in der Praxis —, freilich polemisierte er auch gegen Owen und sprach sich überdies dezidiert für die Frauenemanzipation aus. Im Unterschied zu Owen hielt er den Egalitarismus für zu wenig differenziert, proponierte dagegen einen „abgestuften Reichtum" und nahm insgesamt auch pluralistisches Gedankengut vorweg. In Sonderheit wollte er die Dichotomie von Sinnlichkeit und Ökonomie überwinden, jedoch waren seine erotischen Vorstellungen und die mystisch-religiösen Hintergrundannahmen sehr bizarr. Die kleinteilige Globalisierung von Myriaden kleiner sozialer Einheiten („small is beautiful") ist indes eine Idee, die von alternativen Gruppen und „Aussteigern" (auch im Zusammenhang mit freier Liebe) immer wieder gerne adaptiert wird. • Neben den föderalistischen Utopien von Owen und Fourier wurden von Cabet und Saint-Simon im 19. Jahrhundert zentralistische Utopien formuliert. Cabet bejahte die kollektiven Produktionsmittel der Industrie und wollte zugleich die Arbeiterschaft stärken. Sein Ikarien führte zu einer ikarischen Bewegung, die in Amerika experimentell scheiterte. Die an Morus angelehnte Konzeption wird zu einem modernen Industrienetz mit einer Millionenmetropole als Steuerungszentrum heraufgezont, von Fachleuten technischer Provenienz regiert und organisiert. Es handelt sich um einen dem „Fortschritt" verpflichteten sozialistisch-technologischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsstaat auf hohem Niveau („Gleichheit im Überfluss", ohne Eigentum und Geld), der das Individuum normiert und in nuce totalitär ist. Der parasozialistische Adlige Saint-Simon steigert die industrielle Akzentuierung noch, inkludiert Arbeiter und Unternehmer sowie alle Professionen ohne ererbtes feudales Privileg im technischen Staat einer industriellen Volksgemeinschaft. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt bekommt gar den Charakter einer Vorsehung und führt als Substitution von Herrschaft zur reinen Administration von Sachen. Ungleichheit aufgrund von Leistungsdifferenz wird befürwortet, ebenso die Hierarchie, jedoch ist das politische Formprinzip nebensächlich, weil für SaintSimon vorrangig die industrielle Dynamik sozial prägend (und klassenaufsprengend) wirkt. Eine gut organisierte und arbeitende Industriegesellschaft benötigt für ihn im Grunde auch keinen Staat mehr. • Ohne technokratische Funktionseliten und mit möglichst wenig Organisation wollten hingegen die individuellen Utopisten und Anarchisten auskommen. Max Stirner kapriziert sich auf die Existenz der Ich-Person als der einzigen Welt- und Wertbegründungsinstanz, die empört jedes Über-Ich von sich weist. Das Leben ist Selbstbehauptung und Personen sind mehr als bloße soziale Konstrukte. Der Einzelne ist nicht subsumierbar und eine Institution für sich. Selbstbewusstwerdung und Selbstachtung sowie der Widerstand gegen jedwede Heteronomie sind Ausdruck aufrechten Gangs. Menschliche Selbststeuerung ist für Stirner die wahre Autonomie (und nicht die Autopoiese von Systemen). Der Anarcho-Sozialist Proudhon wollte das Eigentum verallgemeinern und trat für Tauschbankprojekte ein. Er wandte sich gegen jede Form der Zentralität und Autorität. Kleine, in sich
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konsistente Gruppen als autonome Handlungszentren sind für Proudhon das Ferment der Gesellschaft. Seine Soziologie richtete sich auf eine Ordnung jenseits des Staates, die auf die Prinzipien der Reziprozität und (wie bei Kropotkin) der wechselseitigen Hilfe gestellt ist. In der anti-etatistischen Theorie Bakunins, die er vor allem im furiosen Sprechen entfaltete, steht die Revolution obenan, um mittels autonomer Gruppen eine universelle und föderalistische Gesellschaft zu konstituieren, die Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit und Arbeit ein für alle Mal miteinander versöhnt. Die schlimmste Vorstellung für Bakunin war es, dass sich der Sozialismus mit dem Absolutismus verbinden könne („Staatssozialismus"), und auch die „Diktatur des Proletariats" blieb für ihn eine Diktatur. Der Autodidakt und Handwerksbursche Wilhelm Weitling forderte die Gütergemeinschaft als Erlösungsmittel der Menschheit. Vor allem hob er auf die Affinität von Urchristentum und Kommunismus ab. Eine Regierung sei prinzipiell überflüssig, die postrevolutionäre Verwaltung sollte durch Expertenkooptation erfolgen. Er erhoffte sich überdies eine Erosion der nationalen Grenzen und eine Menschheitsverbrüderung, unterstützt durch eine Weltsprache. Etwas merkwürdig berüht indes die Vorstellung, die revolutionären Hoffnungen seitens einer Armee aus Berufsverbrechern einlösen und bewerkstelligen zu wollen. • Mit Aldous Huxley in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt die Epoche der negativen Utopien. Seine „Brave New World" ist dank der Soma-Droge und totaler Konditionierung nahezu konfliktfrei und absolut stabil. Der hedonistischen Wohlstands- und Konsumgesellschaft sind stark inhumane Züge inhärent, die im Verlust der persönlichen Freiheit zentrieren. Huxley setzte als Autor hingegen kontrapunktisch auf die Kraft des Einzelnen. Karin Boye steht mit ihrem utopischen Roman „Kallocain" zwischen Huxley und Orwell. Unmenschlichekit und Totalitarismus werden grausamer und bedrückender. Das Serum Kallocain wird als Wahrheitsdroge instrumentalisiert. Insgesamt werden die Einzelnen zu Regelbefolgungsautomaten degradiert und es herrscht ein generalisiertes Misstrauen vor. Dennoch bestehen Zweifel und vor allem Frauen werden in der Schilderung libertär akzentuiert. Die Arbeiten des humanen Sozialisten George Orwell richteten sich wie bei Boye gegen jede Art des Totalitarismus. Die „Farm der Tiere" ist eine ironische Parabel Orwells im Hinblick darauf, dass Revolutionen letzten Endes nur eine Verschiebung der Vorzeichen von Macht bedeuteten, sie aber keineswegs aufzuheben imstande seien. „1984" ist das letzte und besonders düstere Werk Orwells, das einen Überwachungs- und Folterstaat mit ständiger Gehirnwäsche ausmalt. Die (Einheits-)Partei hat immer Recht und das richtige Denken ist die Liebe zum diktatorischen Großen Bruder. Das ganze (auch noch wirtschaftlich marode) System gründet auf Hass und Menschenverachtung; das einzige Herrschaftsmotiv und ihr einziger Zweck (als Selbstzweck der Parteioligarchie) ist pure Macht über Menschen, sonst nichts. Damit hatte die Warnutopie (mit immer wieder bestürzenden Realitätsentsprechungen) ihren Zenit gewonnen.
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• Die anders gelagerte prinzipielle Utopiekritik (u.a. von Karl Popper, Isaiah Berlin und Ralf Dahrendorf) zeigt die illiberalen Tendenzen utopischer Entwürfe auf, die in letzter Konsequenz zur Gewalt und zum Glaubenskrieg bzw. zur Zwangsbeglückung in Bezug auf das dogmatisierte Gute führen. Utopien sind überwiegend monistisch angelegt resp. geschlossene Gesellschaften und verfugen über keine (bzw. viel zu wenig) Ambiguitätstoleranz und geregelte Konfliktaustragung. • Die neueren Utopien beziehen sich auf Aggressionsfreiheit, Ökologie und Frauenemanzipation. Es entstehen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts neue, positiv intendierte Gegenbilder zur Wirklichkeit mit postmaterieller Ausrichtung. Bei Skinners „Futurum Zwei" ist dies noch nicht so deutlich. Er verwendet Sozialtechnologien zur Verhaltenssteuerung anstelle von Vernunft und Einsicht, um ein aggressionsloses Miteinander in einem befriedeten Gemeinwesen zu erreichen. Kleinformatige Gemeinschaftsformen können am besten für soziale Gerechtigkeit sorgen. Kulturelle Praktiken und lebenslanges Lernen seien innovativer als politische Personen oder Regierungsformen. Im Grunde kombiniert Skinner einige Versatzstücke und Grundelemente von Owen, Fourier und Huxley (ohne Drogen). Allerdings trägt Skinners Modell auch dystopische Züge, weil eine Art Erziehungs- und Kulturdespotie zum Vorschein kommt, die sich als eine Melioration der Schöpfungsgeschichte versteht, ökotopia von Callenbach ist ein etwas unbedarftes subkulturelles Konglomerat aus Argumentations- und Handlungsmustern im Kontext der neuen/alternativen sozialen Bewegungen (mit Drogen), jedoch ebenfalls mit einigen irritierenden Tendenzen (rituelle Kriegsspiele). Der ökologische Anarchist Bookchin, ein Protagonist des normativen Individualismus, lehnt Hierarchien, Zwang und Konsum ab. Auf diese Weise gelangt er zu einem pluralen Ansatz und einer libertären Differenzierungslogik, die Kreativität und Lebenskunst, Vielfalt und Komplexität sowie eine neue Sinnlichkeit synergetisch zu verbinden sucht. Dies könne am besten in einer nicht-parochialen Stadtgesellschaft als Bürgerkommune auf der Basis einer Versammlungsdemokratie erfolgen. • Frauenutopien — im Wesentlichen von und für Frauen — gehen zurück bis auf Christine de Pizan im Spätmittelalter. Eine negative Utopie im 20. Jahrhundert war Karin Boyes „Kallocain". Von den neueren feministischen Utopien ragen die Romane von Le Guin, Gearhart und Piercy heraus. Bei Ursula K. Le Guin ist in „The Dispossessed" die Leitfigur, bezogen auf den Gründungsmythos, einer neuen, nicht-autoritären Siedlungsgemeinschaft (ohne Geldwirtschaft, ohne Staat oder Regierung) auf dem Mond Anarres eine Frau namens Odo, sind hier Frauen und Männer endlich völlig gleichberechtigt. Ansonsten ist die Stagnation unübersehbar. Le Guin geht in ihrer Schilderung geschlechtsbewusst und gleichzeitig unaufdringlich vor. Hingegen verfolgt Sally Miller Gearhart einen feministisch-lesbischen Ansatz. Ihr Gegenmodell stellt ab auf eine harmonische Interaktion von Frauen untereinander und zur Natur. Männer haben nur noch eingeschränkte Macht in einer dystopischen, dem Niedergang geweihten Stadt. Marge Piercy wie-
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derum nimmt in ihrem Roman „Frau am Abgrund der Zeit" virtuelle Zeitreisen vor. Das utopische Dorf des Jahres 2137 ist ökologisch geprägt, männlich/weiblich sind keine besonders wichtigen Unterscheidungskriterien mehr, die Kinder kommen aus der Retorte. Aber es gibt auch Mega-Cities, die eine dystopische, von Multis beherrschte Welt extremer sozialer Ungleichheit darstellen, während die Reichen ohnedies nicht mehr auf der Erde, sondern in Raumstationen wohnen. Politische Strukturen spielen in diesem Kontext keine wesentliche Rolle, während im positiven, dörflichen Utopiesegment diskursive und deliberative Entscheidungsmodi vorherrschen, die indes lokal gebunden bleiben. Die Postulate der drei Feministinnen, die geschlechtliche Nichtdiskriminierung betreffend, sind in der westlichen Welt de iure realisiert oder auf dem Wege, noch besser angegangen und umgesetzt zu werden, auch wenn die faktischen strukturellen Benachteiligungen nach wie vor nicht unerheblich sind.
Schlussüberlegungen
Wenn wir die meisten Forderungen der behandelten Utopien in substantieller Hinsicht (unter Vernachlässigung von Arabesken) einmal Revue passieren lassen, so zeigt uns eine nüchterne Bilanz, dass die meisten utopischen Desiderata, die aus ihrer Zeit heraus zu verstehen sind, im demokratischen Wohlfahrtsstaat westlich-liberaler Prägung zum größten Teil durchaus erfüllt worden (resp. durchaus zugelassen und erweiterungsfähig) sind (hinsichtlich der sozialstaatlichen Komponenten im Übrigen in Europa mehr denn in Amerika). Allerdings mit der zentralen Ausnahme, dass das Privateigentum nicht abgeschafft, das Gemeineigentum nicht eingeführt wurde. Wo dies im Hinblick auf die Produktionsmittel durch Kollektivierung (und die Ersetzung des Marktes durch den Plan) weitestgehend der Fall war wie im Realsozialismus, sind die gewünschten Wirkungen nicht eingetreten und haben soziopolitische Folgeprobleme evoziert mit dem hinlänglich bekannten Ergebnis der fast vollständigen Implosion dieser Staats- und Gesellschaftsformationen aufgrund der Vernachlässigung des subjektiven Faktors. Der Realitätstest ist gründlich misslungen und muss daher auch nicht unbedingt aufs Neue versucht werden. Allerdings weiß man auch nicht, wie lange sich der demokratische Wohlfahrtsstaat noch wird halten können — und der höchste Wert der liberalen Demokratie, nämlich die Freiheit des Individuums, wird von Utopien ohnedies so gut wie nie anbegehrt. Das autonome Ich, Liberalität und Pluralität gehören nicht zu den konstitutiven Bedingungen und Grundlagen von Utopien, deren Telos die Vergemeinschaftung ist, die von Eliten in Gang gebracht und ihrer Fürsorge anheim gestellt ist, der Idee nach natürlich zum besten allgemeinen Nutzen. Die Legitimation dieser Denker und Lenker ist in jeder Hinsicht unbestritten, in Dystopien ist ein nonkonformistisches Ausbrechen chancenlos und muss als subjektivistische Abweichung exkludiert oder diszipliniert werden. Andererseits können die
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Angepassten auch nicht sozial scheitern, durch Regelbefolgung und um den Preis der Leistungsmarionette qua übersozialisiertes Ich sogar aufsteigen. Konkurrierende Deutungen kommen nicht mehr vor, denn in Utopien gibt es entweder keinen Grund oder keine Chance, ein Gegenbewusstsein auszubilden und sozialaktiv umzusetzen, zumal die Sphären der Öffentlichkeit und der Erziehung bzw. Sozialisation begrenzt und reglementiert, die Handlungskorridore eingeengt sind, aber nicht immer als limitiert empfunden werden, obwohl sie keine substanziell nennenswerte Wahl mehr zulassen. Personale und systemische Identität werden einander affin. Verantwortbares freies Handeln findet unter der Glasglocke der verhaltenskonditionierenden und sanktionierten Gemeinschaftlichkeit nicht mehr statt oder führt zu Risiken, die man besser vermeidet, um sich nicht zu diskreditieren oder unter einen Rechtfertigungszwang gegenüber dem Kollektiv zu gelangen, der in Dystopien meistenteils zur Selbstbezichtigung und Deformation fuhrt. Um eine destabilisierende Zwietracht nicht aufkommen zu lassen, wird Diversität negativ sanktioniert, gleichzeitig alternierende Konkurrenz niedrig gehalten. — Der „Höhlenausgang" bleibt für viele verborgen, so dass sie sich in den obwaltenden Verhältnissen irgendwie einzurichten und dabei kognitiv zu arrangieren haben mit dem, was ist. Die Utopien präsentieren sich als unwiderstehlich und erscheinen im Ganzen als nicht mehr wandelbar. Der utopische Status quo hat eine Vernünftigkeit für sich und kann oder sollte eo ipso nicht mehr transzendiert werden, obwohl die Utopieschöpfer genau dies im Hinblick auf die Seinswirklichkeit ihrer perennierenden Gegenwart mit ihrem Entwurf gerade initiiert haben und den Wandel als vollzogen betrachten, aber nach dem gleichsam heroischen Gründungsakt und den zielerreichenden grundstürzenden Veränderungen ist offenbar in der Folge friedlich-harmonischer Stillstand gegeben und es werden partout keine neuen Horizonte mehr eröffnet oder zugelassen. Das ist zugleich der autopoietisch „blinde Fleck" utopischer Systeme 5 ; diese Gesellschaften und ihre Akteure unterliegen keinen ergebnisoffenen Prozessen mehr, sondern bleiben soziohistorisch fixiert („und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute"). 6 5
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Klaus von Beyme stellt in Bezug auf die Systemtheorie fest: „Wo die Systemtheorie zur Autopoiese weiterentwickelt wurde, haben ihre Vordenker an der moralischen Kälte der Theorie auf die Dauer kein Vergnügen gefunden", Beyme 2000, S. 54. Das gilt ceteris paribus auch für die Rezeption einiger Utopien und ihrer Konstruktionsmuster. Die utopischen Entwürfe übersehen weithin den dialektischen Charakter sozialer Prozesse, in die jeder „Neue Mensch" — selbst der genoptimierte — unweigerlich eingebettet ist: „Er muss Mensch bleiben und mit anderen Menschen, auch Vorfahren und Nachkommen, leben, ferner mit Tieren und Dingen, die nicht Menschen sind. Er unterliegt damit den Einschränkungen des Menschseins in Gesellschaft: Es kann ihm nicht alles gleich gültig, gleichgültig sein. Er muss vorziehen und zurücksetzen, also werten. Er muss, zweitens, mit anderen teilen. Auch wenn er, in einer geklonten Menschenwelt, alle genetischen Merkmale mit anderen teilt, kann er doch nicht alle äußeren Dinge und alle sozialen Beziehungen mit allen anderen teilen. Aus der Knappheit der Mittel, aus den Unterschieden in Zeit und Raum, erst recht aber aus dem Prozess des Wertens ergibt sich Ungeteiltes, auch Individuelles. Der Mensch muss sich drittens, mitteilen Er kann aber nicht allen alles sagen, zeigen, zu spüren geben — und was er selbst wahrnimmt, ist nur ein winziger Ausschnitt des sozialen Lebens. Aus der Begrenztheit seiner kommunikativen Fähigkeiten ergibt sich die Teilung der Welt in eine offenbare und eine ver/geborgene. Schließlich muss der Mensch handeln und damit das, was bisher unbestimmt war, be-
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Bei den meisten Utopien ist es in unseren Augen problematisch, dass die vorausgesetzte oder eingespielte soziale Kontrolle in den entworfenen Gemeinwesen die Entfaltung kritischer Intelligenz verhindert. Die utopischen Gesellschaften regenerieren sich fortan ohne Neuschöpfungen, ohne sozial relevante Differenzen oder politische Abweichungen; den hier inkludierten sozialen Wesen obliegt der zu internalisierende Nachvollzug einmal eingerichteter und sie von Komplexität entlastender Institutionen im Denken, Sprechen, Erleben und Handeln, das in der Regel eher ein mimetisches und motivationsfreies Verhalten ist. Warum sollte man das als richtig Empfundene auch aufgeben, zumal die positiven Utopien offenkundig stabil und erfolgreich sind, daher die fremden Besucher ja auch immer wieder bekehren oder zumindest beeindrucken, während bei den negativen Utopien (signifikant ohne Besucher) psychische oder staatsterroristische Umstände (Indoktrination und „friendly fire") die Willensfreiheit marginalisieren und die platonischen Philosophenherrscher zur macht- oder harmoniebesessenen Führungsclique mutieren, die das Gemeinwohl in freiheitsvemichtender Weise vorab definieren mit gesamtgesellschaftlich fatalen Implikationen. Auch diese Konstruktionsmuster sind bekanntlich im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts erprobt worden, hoffentlich zur anhaltenden Belehrung des 21. Jahrhunderts — aber auch hier kann man sich nicht sicher sein, weil ideologisierte und hegemoniale „Empire"-Versuche unterschiedlicher Provenienz und Denomination in der Menschheitsgeschichte immer wieder und auf allen Ebenen unternommen werden, neue Technologien und Entgrenzungen zu veränderten Rahmenbedingungen führen, in der Utopie wie in der Realität.
stimmen. Da er in Gesellschaft handelt, kann er aber nur mit bestimmen. Seine Macht bricht sich an der Macht der anderen und an der Macht dessen, was ihm bereits qua Herkunft vorgegeben, also bestimmt ist. Deshalb führt jeder Versuch des Bestimmenwollens ins Unbestimmte und zeitigt ungewollte Folgen. — Die vier Grundvorgänge des Zusammenlebens — werten, teilen, mitteilen und bestimmen (präferieren, identifizieren, kommunizieren und determinieren) — spannen sich jeweils zwischen zwei Polen, ob diese nun als Individuen, als Gruppen, als Eigenschaften oder als Vorgänge selbst verstanden werden. Es sind dialektische Prozesse. Sie bringen immer auch das Gegenteil dessen hervor, was ihnen — genetisch oder intentional — einprogrammiert wurde. Sie tragen ihre eigenen Grenzen in sich und begrenzen sich gegenseitig." Hondrich 2001, S. 168/169. Selbst in einer Gesellschaft von Heiligen in einem vollkommenen und musterhaften Kloster würden sich bekannte soziale Vorgänge einstellen: „Wer auch nur ein bißchen schneller arbeitet, kürzer betet, mehr isst oder sich unfreundlicher mitteilt, als es die höchsten moralischen Regeln vorsehen, wird zum Außenseiter (und möglicherweise zum Nukleus einer abweichenden Gemeinschaft)." Ebd., S. 174. Abstoßung/Anziehung (auch unter Liebenden), Spannungsverhältnisse, Formen und Facetten von Inklusion/Exklusion, abweichendes Verhalten und Normverstöße können nicht einfach eskamotiert werden und gehören zur Dynamik und Ambivalenz sozialer Prozesse unbedingt hinzu. Die Macht des Handelns bricht sich stets „an der Widersprüchlichkeit der Werte, der Widersetzlichkeit der anderen, der Untergründigkeit des Beziehungslebens. — Ihren stärksten Widerpart aber hat menschliche Macht in der Zeit. Jedes Bestimmenwollen gilt nur zum Zeitpunkt der jeweiligen Gegenwart." Die „ständigen Bewegungen und Gegenbewegungen des sozialen Lebens im Fluss der Zeit" bewahren das soziale Leben zugleich vor Eindämmungen und Erstarrungen, ebd., S. 177/178. Flux (und nicht das immer gleich bleibende Sein) ist das Ursprüngliche. Im Gegensatz zur traditionellen Sicht muss das Seiende als temporäre Stabilisierung von verschiedenen gleichzeitig stattfindenden Prozessen konzeptionalisiert werden So Kratochwil 2001 (mit Bezug auf Whitehead und Rescher), S. 207/208.
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Die angesprochenen neueren Utopien, die überwiegend ökologische und (vom Anspruch her) feministische Utopien sind, wobei diese Anliegen bereits partiell Eingang in die konkrete gegenwärtige Politik gefunden haben, können ebenfalls nicht unbedingt als individualistische Entwürfe interpretiert werden, insofern Über-Ich-Kategorien wie Natur und (das weibliche) Geschlecht mit der neuen normativen Gemeinwohlhomogenität verwoben (und teilweise mit einem naturmythischen Ganzheitsdenken angereichert) werden, keine Diversität der Distributionskriterien mehr zulassen — wie immer kraft besserer und überlegener Einsicht, wie das gute Leben denn nun zu beschaffen sein habe. Das individuelle wird vom sozialen Bewusstsein beherrscht, allerdings kommen auch Elemente einer reflexiven Skepsis hinzu. Die feministischen Utopien sind zugleich immer noch stark maskulin besetzt, wenngleich mit latenter Anklage. Es sind moralische Utopien, die zur Läuterung aufrufen. Ihre literarisch-romanhafte Form ist gekonnter stilisiert und der Handlungsbogen wird spannender dargeboten; sie sind nicht mehr ganz so gelehrsam und im Erzählduktus deutlich weniger langweilig oder sperrig als einige ihrer Vorformen. Es ist nach meiner Auffassung jedoch mehr denn je an der Zeit, die Utopieentwürfe noch stärker mit wissenschaftlicher Expertise auszustatten. Hier könnten nomologisches und sozialtechnologisches Wissen mit Normativität und Ethik im Hinblick auf elaborierte Ordnungsentwürfe verbunden werden. Dies geht natürlich zu Lasten narrativer Komponenten, die ohnedies in die Science Fiction-Sparten abwandern, jedoch für politiktheoretische Konzeptualisierungen kaum noch etwas hergeben. Unsere abschließenden Reflexionen sind insofern Dispositionen für politische Utopien in sozialwissenschaftlicher Hinsicht und verlassen bewusst den literarischen Utopiekorpus, der erbaulich, aber für unsere Belange defizent ist. Niklas Luhmann hat in seinen systemtheoretischen Überlegungen zum politischen System der Gesellschaft im Kontext seiner autopoietischen Hinwendung darauf hingewiesen, dass „Autopoiesis heißt: dass alle Einheiten, die das System benötigt, durch das System selbst produziert werden. ... In einem strengen Sinne ist ein System nur dann perfekt autonom, wenn es die eigene Negation enthält. Es muss, anders gesagt, auch für den Fall der Selbstnegation sorgen können. Das kann jedoch nur in der Form einer Paradoxie 7 geschehen. Für das politische System ist die dafür geschaffene Semantik mit dem Stichwort der .Utopie' verbunden."8 Schon die Utopia-Metapher ist paradox: Nirgendwo ist irgendwo. Für Luhmann ist es signifikant, dass Paradoxien Anlässe bieten für die „Suche nach kreativen Problemlösungen, das heißt: nach solchen, die sich unter den jeweiligen Zeit7
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Jedes gesamtgesellschaftliche Gefüge ist durch Paradoxien gekennzeichnet. Willke 1996, S. 688, stellt beispielsweise fest: „Dass der Staat Schutz vor Gewalt durch die Monopolisierung von Gewalt leiste, ist die nach wie vor grundlegende der paradoxen Begründungen des Staates." Luhmann 2000, S. 126.
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umständen bewähren. Und nur so kann man auf einem Konzept für die autopoietische Autonomie des politischen Systems bestehen, das die Negierbarkeit aller in der Autopoiesis des Systems produzierten Operationen und Strukturen mit impliziert." 9 Die Utopie ist gleichsam „in das politische System eingezogen und unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung die Form, mit der das System sich selber erklärt, dass es steuernd die Umwelt gestalten kann, ohne doch in ihr operieren zu können." 10 Utopien sind insofern in systemtheoretischer Sicht eingebaute und mitkommunizierte Negationen zu allem, was von den Zeitumständen jeweils aktuell vorliegt, um dadurch die Selbststeuerung und Eigenreflexion im Hinblick auf ein Kontingenzbewusstsein zu befördern, letzthin — praktisch gewendet — das Immunsystem einer Gesellschaft zu stärken und/oder das politische System offen zu halten für Umstellungskapazitäten im Lichte von Möglichkeitshorizonten. Utopien bedeuten generell das resonanzfähige Durchspielen von Möglichkeiten des Daseins und Denkens. Im Grunde ist die Allgemeine Systemtheorie selbst die wissenschaftlich elaborierteste Form der Utopie unserer Zeit. 11 Sie erfüllt zwar kaum literarische und emphatische Ansprüche, aber sie verwendet in überreichem Maße durchaus utopische Topoi. Eine Analogie zu Utopien besteht prima facie bereits in der Vernachlässigung des menschlich-subjektiven Faktors. Jedenfalls argumentieren systemtheoretische Ansätze von ihrer Perspektive her in „subjekt-enthobener" Weise. Ferner ist, vor allem in der Kritik, immer wieder die Entsprechung der begriffs- und systemlogischen Konzeptualisierungsversuche zur Wirklichkeit problematisiert und infrage gestellt worden. Hinzu kommt, dass Systemtheorien (vor allem bei Niklas Luhmann) die Kategorie der Potenzialität stark machen, nämlich als „Zukunftshorizont" und „Reservoir" von systemischen Aktionsmöglichkeiten. Theoriebautechnisch bestehen wie in Utopien eigene Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven für Systeme, spezielle Strukturbildungsmöglichkeiten, funktionale Äquivalente, neue Kontingenzen und neue Chancen der Selektion, die vorrangig dazu genutzt werden, das Immunsystem zu stärken und ein selbstreferenzielles Prozessieren voranzubringen, so dass operativ stets anschluss- resp. steigerungsfähige Kommunikationszusammenhänge angenommen und ebenso proponiert werden. Dieser immer wieder beschworene Verweisungsreichtum und Möglichkeitshorizont neuer Genierungen hat zweifelsohne utopische Dimensionen. Es sind aber zugleich kontrafaktische und damit ebenfalls der Utopie affine Annahmen, denn gerade Luhmann neigte in seinen berühmten lakonischen Kommentaren („pessimistischer Realismus") und 9 10 11
Luhmann 2000, S. 130. Luhmann 2000, S. 406. Dieser Gedanke wurde erstmals angeführt in Waschkuhn 1990. Zu einem politikwissenschaftlichen Überblick über die Hauptetappen der Systemtheorie siehe auch Waschkuhn 1987, ferner Waschkuhn 2002, S. 110-116 zu den letzten Entfaltungen von Luhmann.
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Nebenbemerkungen immer wieder dazu, die Realität als überaus widerständig (um nicht zu sagen: rückständig) zu perzipieren, denn: „Alles könnte anders sein — und fast nichts kann ich ändern." 12 Luhmanns Theorie jedoch läuft auf eine Autologie im Hinblick auf Systeme hinaus, wobei Bewusstsein, Leben und Gesellschaft homologisiert werden, so wie es sich Utopien immer schon wünschten. Die Paradoxien-Rhetorik und die re-entryAnnahmen begründen im Ganzen eine onto-theologische Systemphilosophie der Potenzialitäten in einem imaginären Raum. 13 Ebenso wie Utopien vernachlässigt Luhmann „Sinnzusammenbrüche" und verkürzt Widersprüche funktionalistisch im Sinne einer Aktivierung des Immunsystems und einer Verbesserung der systemischen Adaptationsfahigkeit. 14 Was die systemtheoretischen Ansätze in ihrer Vielfalt anlangt, besteht ein Defizit darin, dass sie mit wenigen Ausnahmen (der frühe Talcott Parsons, Richard Münch) zu wenig handlungstheoretisch basiert sind. 15 Diese Defizienz teilen sie mit zahlreichen utopischen Entwürfen. Auch die systemtheoretischen Ansätze gelangen zum Teil zu paramythischen Annahmen, die daraus resultieren, dass der methodologische Individualismus aufgegeben wird. Dies wird anhand des Topos der Emergenz besonders deutlich. Hierunter werden Eigenschaften eines Systems verstanden, die sich nicht aus den Eigenschaften seiner Elemente selbst erklären lassen, sondern neue Ebenen und Emergenzniveaus konstituieren: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, denn die selektive Verknüpfung im systemischen Kontext ist hiervon unabhängig und steuert sich selbst. Systeme gewinnen hierdurch eine Systemidentität und subjektivieren sich, indem sie Eigensinn generieren. Im Unterschied zu Utopien, die weitgehend statische Gebilde sind, wird hier immerhin eine Prozessualität eingebaut, denn generell kann in den Worten von Helmut Willke gelten: „Sinnhafte Systeme sind dadurch ausgezeichnet, dass sie ihre Strukturen und Prozesse selbstbewusst verändern können, indem sie zunächst ausgeschlossene Möglichkeiten — die aber in Formen symbolischer Repräsentation virtuell erhalten geblieben sind — reaktivieren und realisieren. Dies ist das Emergenzniveau psychischer und sozialer Systeme." 16 Zwar lassen sich aus der Aggregation von Individualdaten keine weiter gehenden Aussagen über Systemreferenzen gewinnen, jedoch das sollte auch nicht dazu verführen, den seiegierenden Systemen einen substanziellen Charakter zuzuweisen und die Handlungsrela-
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Luhmann 1975, S. 44. — Andererseits entsprechen Luhmanns Evolutionsannahmen in seiner polykontexturalen Theorie selbstreferenzieller, autopoietischer Systeme durchaus dem Typus des Optionshandelns, wie er sich im Okzident als ein spezifisches Projekt der Moderne herausgebildet hat, vgl. Vollrath 1987. Bühl 2000, S. 246. Siehe Stäheli 2000. Vgl. Waschkuhn 1987. Willke 2000, S. 143.
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tionierungen auf der Systemebene zu verdinglichen. Selbstreferenzielle Funktionslogiken sind immer nur Beobachtungsperspektiven und damit beobachterrelativ. Die semantischen Figuren sind heute überdies weltgesellschaftlich auszuweiten. Das normative Konstrukt der Weltgesellschaft stiftet neue Erwartungshorizonte und kommunikative Zusammenhänge im Maximalbereich. 17 Ihre sinnvolle Ausgestaltung zur Weltdemokratie ist fürwahr ein Unterfangen, das utopischer Phantasie — vor allem im Hinblick auf eine zivilgesellschaftliche Umstellungsfahigkeit — und zugleich einer guten Passung („goodness of fit") bedarf. Die Zukunft bleibt unbestimmt und wird von Möglichkeitsprojektionen überblendet. 18 Werte und Präferenzen sowie Entscheidungsprämissen können sich aufgrund verdichteter Interdependenz ändern. Der Verlust von sozialer und ethischer Einbettung gehört insofern zu den unvermeidbaren Kosten funktionaler Differenzierung und einer sich beschleunigenden Demokratisierung. 19 Änderungen müssen auf Neubeschreibungen hinauslaufen, wobei man auf Skripts aus kognitiven und sozialkommunikativen Gründen immer wieder angewiesen ist. Dazu gehören auch Reflexionen über Zielvorstellungen, die die Zukunft markieren sollen. Sowohl komplexe politische Theoriebildung als auch utopische Konzeptualisierung haben sich mithin wechselseitig zu beobachten und darauf zu achten, Differenzierung und Integration in möglichst zwangloser und indeterministischer Weise zu einer politisch-praktischen Kompatibilität zu verhelfen, wofür sich analytisch kein holistisches, sondern ein plurales Mehrebenenmodell anbietet, das offen und dynamisch bleibt vermöge der Anerkennung und Nutzung systemischer Teilrationalitäten, aber auch eine gerichtete Variabilität des Gesamtzusammenhangs im Sinne einer Kombination von Autonomie und Kontext (resp. Spezifikation und Universalität) unter Beibehaltung von Heterogenität und Differenz zulässt. Die hochmodernen Bedingungen im globalen Zeitalter allerdings sind besonders kompliziert, denn es gibt kaum noch Gewissheiten, vor allem aber keine Linearitäten und keine Letztzuständigkeiten in den unterschiedlichen Sozialkontexten, Zeithorizonten und Politikrahmungen. Hier kann der „overlapping consensus" eingesetzt werden, der von unterschiedlichen umfassenden Lehren und Werthaltungen abstrahiert und sich auf kongruente Teilschnittmengen kapriziert. Diesen übergreifenden Konsens müssen wir jeweils konstruieren und zum Leben bringen, weil er nicht von vornherein in 17
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Damit werden auch raumbezogene Zentralismen transzendierbar, feiner kommt es in multipler Weise zu heterarchischen, konnexionistischen und netzartigen Verknüpfungen von Kommunikationen, vgl. Luhmann 2000, S. 220/221. Insofern kann man sich auch Utopien nicht mehr als isolierbar vorstellen und wir sind auch nicht mehr auf privilegierte Gewährsleute und exklusive Berichterstatter angewiesen. Utopische Entwürfe können jetzt auch per Internet in das weltweite Netz gestellt und dort von Millionen Nutzern abgerufen werden. Luhmann 2000, S. 147. Luhmann 2000, S. 149.
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uns ist oder einfach vom Himmel fällt. Er beruht auf einem moralischen Empfinden und gründet auf Zustimmung zu Auffassungen, die die politische Konzeption und institutionelle Grundstruktur 20 mit bestimmen. Aufgrund des expliziten und intrinsisch motivierten Bejahens der Einzelnen bleibt der übergreifende Konsens auch weitgehend stabil: „Jede der Auffassungen unterstützt die politische Konzeption aufgrund ihrer eigenen Vorzüge um ihrer selbst willen." 21 Der transversale overlapping consensus, wie ihn John Rawls begründete, ist mithin endogen basiert und nicht exogen verschrieben oder von oben oktroyiert. Der durch diesen Grundkonsens als Gedankenfigur maßgeblich geprägte Bereich des Politischen ist allgemeiner und dadurch zugleich enger konfiguriert als das komplexe Gesamtspektrum der besonderen umfassenden vernünftigen und dispersen Auffassungen in den jeweiligen sozialen und lebensweltlichen Sphären. Der konsentierte normative Gesamtzusammenhang ist somit ein systemischer und ebenso pragmatischer Mechanismus zur Reduktion von Komplexität, der den normativen Individualismus aufgreift, um hiervon überindividuelle Werte abzuleiten. Individuelle und politische Logiken werden kompatibel situiert und auf relative Dauer gestellt. Der overlapping consensus ist insofern eine sphärenübergreifende Metainstitution zugunsten einer wohlgeordneten Gesamtgesellschaft. Er ist aber immer auch Teil der umfassenden privaten Lehren. Zugleich anerkennen diejenigen, die die politische Konzeption vertreten, andere Werte und Tugenden an, die zu weiteren Bereichen des nicht politischen Lebens gehören. Insofern gehören Respekt und Toleranz zusammen. Gleichzeitig können bestimmte Themen von der politischen Tagesordnung genommen und als ein für alle Mal ausgeschiedene Institutionen betrachtet werden, wie zum Beispiel Leibeigenschaft und Sklaverei. Der overlapping consensus ist demnach dynamisierbar und einem Progress verpflichtet; er ist jeweils ein gegenwartsbezogener tentativer Behelf für den öffentlichen Vernunftgebrauch. Damit ist in westlicher Traditionslinie ein „liberaler Republikanismus" verbunden. Er ist wiederum ein Konstrukt, das heute dabei ist, eine politiktheoretische Hegemonie zu gewinnen. Der Begriff meint insbesondere die Hinwendung zu den öffentlichen Angelegenheiten in freiheits- und gerechtigkeitsorientierter Weise. 20
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Es sind dies die Essentials qualifizierter Demokratie (vgl. Koller 1996, Steinvorth 1996). Hierbei stehen die Grund- und Menschenrechte sicherlich obenan. Ferner (und hierin bereits eingeschlossen) sind zu den Grundelementen und -erfordernissen zu rechnen: Die Freiheit (bzw. Freizügigkeit) der Person, Glaubens-, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit, Freiheit der politischen Betätigung, Eigentums- und Vertragsfreiheit. Des Weiteren bzw. komplementär: Gleichheit vor dem Recht, gleiche Behandlung nach sachangemessenen Kriterien bei der Beweibung um Ämter und öffentliche Stellen, gleiches Wahlrecht, Gleichheit in der Chance, einen Arbeitsplatz zu finden, der den Lebensunterhalt sichert. Ich hebe unter politikwissenschaftlichen und demokratietheoretischen Gesichtspunkten noch hervor: Parlamentarismus und Mehrparteiensystem, Aneikennung der Mehrheitsregel, Oppositionsrecht und Minderheitenschutz, organisierte Interessenvielfalt und geregelte Konfliktaustragung, sozialstaatliche Mindestgarantien. Man könnte noch hinzunehmen: Eine stärkere Vertikalisierung der Gewaltenteilung durch variables Gestalten von Föderalismus/Dezentialisierung/Subsidiarität und die Einführung/Stärkung direktdemokratischer Volksrechte. Rawls 1998, S. 236. — Es handelt sich also um Bedeutungsschnittmengen.
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Für diesen Entwurf, der auch in politischen Utopien zum Tragen kommen sollte, können als signifikante Topoi angesehen werden: Citizenship, bezogen auf die Mitgliedschaft in (resp. Zugehörigkeit zu) einer selbstbewussten politischen Gesellschaft als einem freien Gemeinwesen und ausgestattet mit einem aktiven Bürgersinn — Intentionen und soziokulturelles Wissen, Sprach- und Werte- sowie eingelebte Traditionsgemeinschaften — tolerante Anerkennung (recognition) von Alterität und autonomen Lebenssphären — Chancengleichheit im gesellschaftlichen Verkehr und fairer Wettbewerb — Rechtsegalität und Gesetzestreue sowie distributive Equität (Angemessenheit) — Leistungsethik und Glücksstreben — Verbesserungsdrang und prozeduralistische Vernunft — Selbstorganisation und öffentliche Kommunikation — Machtbegrenzung und Gewaltenteilung — Amtsethik und Verfassungskultur — Kompromissbereitschaft — Gemeinwohl als Konstrukt. Zielwert ist die Homologie von privaten und öffentlichen Freiheiten. Hierbei muss vor allem das zivilgesellschaftliche Integrationsmedium der Solidarität elargiert werden, zumal Solidarität immer schon (nämlich in reziproker Hinsicht) etwas mit Selbstachtung zu tun hat. Republikanische Solidarität im Zusammenhang mit inklusiver Gemeinschaftsbildung zielt über partikulare Solidaritätsformen hinaus auf eine universalistische Moral (Weltethos), von der wir noch weit entfernt sind. Einen sozialphilosophisch und auch politikwissenschaftlich belangvollen utopischen Weltentwurf mit synergetischen und (vom Begründungs- und Handlungszusammenhang her anders als systemtheoretisch zu perzipierenden) emergenten Qualitäten für das 21. Jahrhundert hat insbesondere Otfried Höffe formuliert. 22 Es ist eine Vision oder konkrete Utopie, die wissenschaftlich formuliert und nicht narrativ ist. Im Unterschied zu den behandelten Utopieentwürfen, die stets eingeschränkt segmentär ausfallen und im Entwurf auch kaum jemals übernational riskiert werden, wird hier ausdrücklich eine universalistische Perspektive eingenommen, gleichwohl von einem legitimatorischen Individualismus ausgegangen — das ist sogar die eigentliche Pointe der Konzeption Höffes. Für ihn bilden sich in übergeordneter Sicht und schon seit längerem (spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg) vor allem drei Dimensionen aus, die einen neuen Handlungsbedarf begründen, den das bisherige gute Modell der Politik, die Demokratie als Einzelstaat, nicht mehr für sich allein zu bewältigen vermag: eine globale Gewalt-, eine globale Kooperations- sowie eine Gemeinschaft von Not und Leid, die unabweisbar Antworten und Entwürfe im Rahmen eines universalen Rechts- und Demokratiegebots evozieren. Höffes hierauf bezogene Vision für das 21. Jahrhundert ist eine ethischphilosophische Konzeption, der im Hinblick auf die Weltrepublik eine umgestülpte Hierarchie unterlegt wird. Ferner werden von ihm zivile Tugenden vorausgesetzt, die zu Weltbürger-Tugenden elaboriert werden.
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Höffe 1999.
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Die umgestülpte Hierarchie besteht darin, dass Höffe die Weltrepublik 23 lediglich als komplementär und nicht in zentralistisch vereinnahmender Weise als übergeordnet versteht, ferner die Nationalstaaten keinesfalls eliminieren, sondern in ihrer Substanz — nämlich im Sinne des bürgerlich-demokratischen Verfassungsstaates mit dem Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit als ultima ratio — im Wesentlichen bewahrt wissen will. Sein basaler Ausgangspunkt ist jedoch (noch weiter zurückgehend) ein legitimatorischer Individualismus 24: der freie und autonome Einzelne mitsamt seinen Gefühlen, Bedürfnissen, Meinungen, Wertungen, Wünschen und Hoffnungen, ausgestattet mit dem Recht zur offenen Weltbegegnung und der Fähigkeit zu voice und exit, wird zum Maß aller Ordnungskonstruktion. Der Aufbau der Weltrepublik ist demnach prinzipiell von unten nach oben (bottom up) gestaltet: das Individuum, Familie und soziale Gruppen, (Aus-)Bildungs- und Sozialisationsinstanzen, lokale und regionale (also subnationale) Einbindungen, Öffentlichkeit als Erfahrungs- und Handlungsraum, nationale Mitgliedschaft/Zugehörigkeit/Bürgerschaft (citizenship) und Verfassungspatriotismus. In diesem Modell eines Mehrebenensystems folgen Bundesstaaten und womöglich Makro-Regionen wie die Europäische Union, die als intermediäre Instanzen verstanden werden. Was im Weiteren zunächst erreicht werden könnte, sind konföderale Assoziationen der großregionalen Zwischeneinheiten. Aus den kontinentalen oder subkontinentalen Unionen oder von den Bundes- und Zentralstaaten direkt ausgehend kann sich nach diesem Stufenaufbau eine Weltrepublik generieren lassen, unterstützt durch zahlreiche Regimeformen und Hilfsorganisationen in einzelnen Politikfeldern. Während tradierte Territorialtheorien den Staat ganz oben als Steuerungszentrum anordnen, das Individuum hingegen ganz unten (top down-Perspektive), hat die umgestülpte Hierarchie viele Spitzen, letzthin müsse es sich handeln um die Gesamtheit der entscheidenden Subjekte, der natürlichen Individuen. Höffe hält die Gesamtentwicklung für eine insgesamt demokratische, da keine autokratische Gesellschaft sich der Suggestionskraft von Demokratien und ihren komparativen Kooperationsvorteilen auf Dauer entziehen bzw. ihnen widerstehen könne. Die zivilen Tugenden wiederum sind eingepasst in das Konzept einer föderalen und subsidären Weltrepublik, die strikt komplementär agiert und kein eigensinnig anmaßender Leviathan ist.
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Politisch-institutionell ist von Höffe 1999 vor allem ein Weltparlament aus zwei Kammern vorgesehen, nämlich zum einen ein Welttag als Bürgerkammer, zum anderen ein Weltrat als Staatenkammer. Die Ausführungen hierzu sind allerdings spärlich, so dass gerade hier von einer Explikationslücke gesprochen weiden muss. Ein normativer Individualismus wird auch in der Rechtsethik bei Pfordten 1996 u. 2001 vertreten. Hier geht es um Fragen nach dem gerechten Recht. Der Grundsatz lautet: „Politische Entscheidungen sind dann und nur dann ethisch gerechtfertigt, wenn sie sich letztlich auf die betroffenen Menschen zurückfuhren lassen." Pfordten 2001, S. 437 u. öfter. — Ich verwende legitimatorischen und normativen Individualismus synonym, A.W.
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Entscheidend ist also ein legitimatorischer oder normativer Individualismus und die soziokulturelle Einbettung in ein Spektrum anspruchsvoller Tugenden. 25 Zu den Kardinaltugenden als Ermöglichungsgrund der Weltrepublik zählen nach Höffe: Rechtssinn und Zivilcourage, Gerechtigkeitssinn und Toleranz, Staatsbürgersinn, Gemeinsinn, Besonnenheit, Gelassenheit und Klugheit. Man sollte m.E. auch die Wahrhaftigkeit hinzu nehmen. 26 Während die Antike auf kontextangemessene personale Erfordernisse im Sinne einer Individualethik ausgerichtet war, stellt sich die Rechts- und Sozialphilosophie seit der Neuzeit auf eine Tugend der Form um, kapriziert sich auf Institutionen und Gesetze. Statt einer kleinräumigen Kooperations- und Gemeinschaftsanthropologie, die Rousseau revitalisieren wollte, manifestiert sich im mainstream der Neuzeit und als ihr Signum eine dynamisierende Konflikt- und Kompetitivanthropologie, die neuartige Ordnungsreflexionen und Konstruktionsleistungen erfordert. Hinzu tritt das Postulat der Menschengleichheit, das sich in soziopolitischen Anerkennungskämpfen mehr und mehr materialisiert. 27 In der Hochmoderne werden sämtliche Institutionen neu gestaltet und gewinnt auch das Tugendspektrum an Komplexität bei schwindender allgemeiner Verbindlichkeit. Ambiguitätstoleranz und der Verzicht auf illegitimen Gewalteinsatz zugunsten friedlich-argumentativer Konfliktaustragung und -regelung, kurzum ein verhandlungsdemokratischer Interessenausgleich via faire Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse sind für eine gemeinwohlorientierte Zivilisierung unabdingbar. Diese Tugenden und ihre Formierung sind auch auf der Weltebene vonnöten, um die Überbewertung von globalen Zwangsinstitutionen zu relativieren. Welt-Gesellschaftsbürgerinnen sind alle rechtsfähigen Wesen und die Weltbürger-Tugenden sollen zugleich ein Widerlager bilden zum aggressiven Nationalismus/Fundamentalismus und einem strengen, hermetischen Kommunitarismus. Nach dem Modell Höffes muss und soll eine ebenso sozial- wie umweltverträgliche Entwicklung für alle Menschen und Vergemeinschaftungsformen statthaben. Dazu werden soziale internationale Mindeststandards und Rahmenrichtlinien sowie eine übernationale Berufungsinstanz, mithin eine Weltjudikative, benötigt. Eine subsidiäre Weltbank, die Erhaltung der natürlichen Umwelt, der zivilisa-
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Zur neuen Tugenddiskussion vgl. u.a. Dagger 1997, O'Neill 1996, Sandel 1995, Walzer 2000. Die prosozialen und in nuce auch multikulturell verträglichen Tugenden als die zu postulierenden Eigenschaften des Weltbürgers sind im Grunde nicht sonderlich neu: Höffe steht vor allem auf den Schultern von Aristoteles und Kant. Gleichwohl sind seine Applikationen synergetisch raffiniert und bemerkenswert anschlussfähig, weil er ausdrücklich keine Homogenität vorsieht und auch keine Vollkommenheit des Einzelnen oder der institutionellen Ausprägungen anstrebt, vielmehr die Differenz als pluralen Ausweis des Eigenständigen und sinnfälligen Ausdruck des Besonderen explizit zulässt. Im 21. Jahrhuiviert werden als die letzten Bastionen und institutionellen Ausformungen geschlechtsungleicher bzw. sexuell spezifischer Inklusion/Exklusion sogar das Militär und die Ehe geschleift. Generell kann gesagt (Schwinn 20001, S. 218) werden, dass im 18. Jahrhundert die rechtliche, im 19. Jahrhundert die politische, im 20. Jahrhundert die soziale und im 21. Jahrhundert die sexuelle Gleichberechtigung institutionalisiert wurde.
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torischen Infrastruktur und des Weltkulturerbes sind weitere Grunderfordernisse, wobei Bewahrung und Ausbau mit einer reflektierten Folgenabschätzung zu verbinden sind. Die föderale Weltrepublik ist aber im Ganzen gewissermaßen nur das krönende Dach mannigfach und subsidiär gestufter staatlicher Zuständigkeiten im Sinne einer vertikalen Gewaltenteilung und Kompetenzzuweisung. Dieser zukunftsbezogene, nicht-triviale und komplexe Bezugsrahmen ist zugleich ein sehr optimistisches Leitbild, bei aller virtuellen Kontingenz ist Höffes Entwurf einer komplexen Weltordnung jedoch eine faszinierende regulative Idee. 28 Allerdings müssen auch uns durchaus ansprechende Visionen dieser Art mit einiger Skepsis betrachtet werden. Zumindest dürfte es sehr lange dauern, bis sie sich in institutioneller Weise konturiert haben sowie ihre Werte und Tugenden internalisiert sein werden. Für diese sich generierende Interdependenz und Ko-Evolution ist immer auch eine intrinsische Motivation der Handlungsträger vonnöten. Womöglich ist hierfür das Leben aller Einzelnen viel zu kurz. Auf diesen Umstand hat vor allem Odo Marquard immer wieder hingewiesen. 29 Der ironische Skeptiker, teilweise vergleichbar mit dem amerikanischen Neopragmatisten Richard Rorty 30, hat es sich (auch gegen utopischen Überschwang) zur Aufgabe gemacht, die Unvermeidlichkeit von „Üblichkeiten" („Abschied vom Prinzipiellen") aufzuzeigen und insofern das „Unvollkommene" zu verteidigen („Apologie des Zufalls"), denn: „Die Menschen sind endlich. Sie sind seinsmäßig nicht so gut gestellt, dass sie es sich leisten könnten, das Unvollkommene zu verschmähen." 31 Die skeptisch-moralische Tradition spätestens seit Montesquieu bietet in Sonderheit drei Sinnorientierungen an 32: den Sinn für Gewaltenteilung und Zweifel, fürs Usuelle (gegen absolute Orientierungen 33) und die Bereitschaft zur eigenen Kontingenz (gegen den „Unsinn der direkten Sinnintention"). Man müsse „ablassen vom Unsinn der Verachtung der .kleinen' Sinnantworten". 34 Das Leben mit dem Schicksalszufälligen 28 29 30 31 32 33
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Es ist ohnedies prinzipiell festzuhalten, dass ohne Individuen in Gesellschaft und ihren Gestaltungswillen kein Staatsgebilde jemals hätte ausgeformt werden können. Siehe u.a. Marquard 1981, 1986 u. 1995. Siehe zu Rorty auch Waschkuhn 2001, S. 137-163. Marquard 1995, S. 10. Marquard 1986, S. 7-10. Marquard 1986, S. 7/8: „Skepsis ist Usualismus, der Sinn fürs Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten. Denn — das macht die Skepsis geltend — für absolute Orientierungen (für die absolut richtige Einrichtung des absolut richtigen Lebens, die auf absoluter Wahrheitsfindung beruht) leben wir nicht lange genug: unser Tod ist stets schneller als diese absolute Orientierung. Darum bleiben wir unvermeidlich überwiegend — ich betone: nicht nur, aber überwiegend — das, was wir schon waren: also unsere Vergangenheit, zu der das Übliche gehört, das, was gilt, weil es schon galt. Unser Leben ist zu kurz, um uns aus dem Üblichen — den vorhandenen Sitten, Gewohnheiten, Traditionen — ins Absolute oder sonstwohin beliebig weit davonzumachen. Die Skepsis wird zur Moralistik, indem sie diese Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten — der mores — in Rechnung stellt: große oder gar absolute Sprünge sind nicht menschlich." Eine schöne philosophische Umschreibung von „Pfadabhängigkeit"! Anders gewendet: „Zukunft braucht Herkunft" (Marquard 2003). Marquard 1986, S. 48. — Die Üblichkeiten im Rahmen einer „Kultur des unsensationellen Sinns" schützen auch vor der absoluten Verzweiflung: „Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie gerade noch immer etwas zu erledigen haben"; wir müssten insofern auch aufhören mit dem „Unsinn des Per-
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ist geradezu unsere soziohistorische Normalität. Hingegen führe die Forderung, „nur das Vollkommene zu akzeptieren,... zu Entmutigungen und zu Sinnlosigkeitsgefuhlen: zur Leugnung des Guten im Unvollkommenen, zur Infernalisierung des Vorhandenen. Der Ausschließlichkeitsanspruch des Perfekten negativiert das Imperfekte" 35, das im sozialen und politischen Leben unumgänglich ist — und nicht einfach utopisch-konstruktivistisch aufgehoben werden kann. Utopien haben zweifelsohne ihren Rang als normative Gedankenexperimente und als konstruktivistische Entwürfe möglicher Wirklichkeiten, die sich kritisch zur Faktizität verhalten. Hierin ist aber immer wieder auch die Hybris des uneingeschränkten Machens und verordnenden Gestaltens von Realität unter Einschluss der soziopolitischen Umstände — insbesondere Strukturen und Institutionen, aber auch sozialanthropologische Befindlichkeiten — eingelassen, hierbei in anmaßender Weise zielend auf einen „neuen Menschen", den man nur entsprechend zu sozialisieren habe. Menschen sind aber nicht einfach Epiphänomene von Strukturen; sie sind prinzipiell und aktuell weder handlungsvollkommene Individuen noch Regelbefolgungsautomaten, sondern in ihrem Denken, Sprechen und Handeln stets ergänzungsbedürftige soziale Wesen, insofern der Einzelne nie über genug Informationen verfugen kann und schon deswegen immer schon auf Kommunikation gestellt bzw. auf einen möglichst fairen Austausch im Geben und Nehmen verwiesen ist. Der pädagogische und exekutive Horizont reichen jedenfalls nicht aus, das Soziale und Politische in seiner Komplexität zu erfassen. Insoweit ist das gängige Vorurteil nicht ganz unberechtigt, dass Utopien in gewisser Weise „lebensfern" sind. Jeder Utopismus hat starke normativ-präskriptive Züge und betrachtet die Gesellschaft als ein Artefakt. Überdies sind Utopisten bei ihren Entwürfen und Erwartungen ä tout prix in das Gelingen verliebt, denn die narrativen soziopolitischen Konstrukte sollen Blaupausen für funktionierende Realitätsmodelle sein. Für Wilhelm Hennis ist die Versessenheit auf das Realisieren sogar der entscheidende Zug des modernen Utopismus. Damit fallen das moderne (vornehmlich naturwissenschaftlich geprägte) Wissenschafts- und das utopische Denken im Grunde zusammen. 36 Hennis ist diesem Gedanken auch in seiner beeindruckenden Studie
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fektionismus" und ablassen vom „Unsinn der Bindung der Lebensbejahung an den absoluten Sinnbeweis", Marquard 1986, S. 48/49, 50-53. Marquard 1986, S. 50. Hennis 1977. Siehe ferner Wagner 1969: Die moderne Wissenschafitswelt beruhe auf dem Fortschrittsglauben und dem utopischen Denken, das ihm metaphysisch entspricht: „Die Utopien spiegeln denselben Willen zur Macht, denselben demiurgischen Geist, dieselbe Inversion der Natur und dieselbe Tendenz zur Kontrolle, Isolierung und Autonomie, die das wissenschaftliche Denken durchdringen", Wagner 1969, S. 45.
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„Die Vernunft Goyas und das Projekt der Moderne" nachgegangen. 37 Er bezieht sich auf Goyas Graphik Nr. 43 der satirisch zu verstehenden Caprichos gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Gezeigt wird ein (dem Künstler ähnlicher) Mensch, der über einem Tisch schläft bzw. über diesen verzweifelt hingestreckt und dabei von spukigen Fratzen und nächtlichem Getier umstellt ist. Der Titel lautet: „El sueño de la razón produce monstruos" — der „Traum der Vernunft" gebiert Ungeheuer. Nicht die aufklärerische Vernunft wird vom „peintre philosophe" Goya diskreditiert (wenngleich ein schlichtes „Erwachen" wohl kaum reicht, um den Spuk zu verbannen), aber die Vernunft als solche ist gefährdet und in selbstreflexiver Weise aufklärungsbedürftig. Denn mit der Moderne wird die praktische Vernunft 38 — spätestens seit Francis Bacon und René Descartes — von der technisch-instrumentellen Vernunft, einem Herstellungswissen (poiesis) verdrängt (bzw. was man dafür hält) und kann mit dem Begriff des „Projektes" (auch in sozialer und politischer Hinsicht) am besten erfasst werden. 39 Es ist die auch von Friedrich von Hayek („Irrtümer des Konstruktivismus") 40 mit Bezug auf Goyas Darstellung gegeißelte konstruierend-technische Vernunft 41 , die zu meinen scheint, wir könnten Recht, Staat, Wirtschaft und Sitten ingenieursmäßig entwerfen, durchkonzipieren und technisch steuern. 42 Für Hennis ist hier insgesamt eine unangemessene Hochmut (superbia) im Spiel, die eben auch für Utopien gilt, nämlich eine durchaus „realisierungsversessene Vernunft", die geradezu zwangsläufig zur „Ent-Täuschung" führen muss (auch mit Blick auf eine Universalsprache oder einen allgemeinen Konsens). Damit sind Gesichtspunkte in der Radierung Goyas in ein Bild gebannt, die auch von der Utopiekritik erfasst wurden, aber sie können notabene nicht für alle Utopien gelten. Für die Hochmoderne wäre nach meiner Auffassung auch im Utopiediskurs ein „kontextualistischer Universalismus" 43 zu bevorzugen, der auf einem normativen Individualismus aufruht sowie zivile Tugenden und institutionelle Erfordernisse miteinander kombiniert. Darunter ist zu verstehen, dass im Unterschied zum kommunitaristischen Denken, dem viele Utopien in nuce verpflichtet sind, und im Anschluss an den philosophisch-theoretischen und republikanisch eingefärbten 37 38 39 40 41 42 43
Hennis 2000. Siehe auch die u.a. hierauf bezogene Würdigung von Ulrich Raulff 2003 zum achtzigsten Geburtstag von Hennis. Zum Profil von Hennis femer Waschkuhn 1998, S. 108-114, 534-537 und 541/542, Waschkuhn 2002, S. 18, Anm. 82. Siehe Hennis 1977. Hennis verweist auch darauf, dass ebenso die spanische Wirtschaftsgeschichte das 18. Jahrhundert als Epoche der Projektmacheiei (projectionismo) thematisiert, und zwar durchaus verbunden mit einer gewissen Distanzierung, was die hispanische politische Kultur anlangt. Zu Hayek und sein Gegenkonzept der „spontanen Ordnung" siehe auch Waschkuhn 1999, S. 85-105. Bei unserer Durchmusterung der Utopien hat sich gezeigt, dass vor allem Campanella, Bacon, Cabet und Saint-Simon auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt setzea Hennis 2000, S. 355/356. Vgl. Waschkuhn 1998, S. 522 u. 566, Waschkuhn 2002, S. 102. Damit kann auch eine hermeneutische Rationalität (Kersting 1999a, S. 52) bzw. ein gradualistischer Meliorismus diskursiver Vernunft (Skirbekk 2002) verbunden werdea
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„politischen Liberalismus" von John Rawls (mit seiner Konzeption des „overlapping consensus") und der liberalen Idee der „komplexen Gleichheit" von Michael Walzer ein Ansatz am weitesten greift, der auf Letztbegründungen und Absolutheitsansprüche verzichtet, aber sich nicht gleichzeitig auf einen kulturellen Relativismus reduzieren lassen will. 44 Kontextualität und Universalismus müssen auch angesichts des „Faktums des Pluralismus" nicht als unaufhebbare (und damit politisch-praktisch unfruchtbare) Dichotomien begriffen werden. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass kulturspezifische Manifestationen in besonderer Weise prägend und Universalien nicht ohne Weiteres komplett vorhanden sind, jedoch können universelle Werte und Nonnen definiert und vereinbart, also deliberativ erschlossen, konsentiert, normativ-diskursiv kreiert und so schrittweise (unterstützt durch Anerkennungskämpfe) generiert und erweitert werden, wie dies eindrucksvoll bei den Grund- und Menschenrechten geschehen und noch immer der Fall ist. Allerdings müssen diese evolutionären Universalien und ihre Modi im Hinblick auf künftige Handlungsausrichtungen auch jeweils analytisch-realistisch passend und anschlussfahig sein, um in die überkommenen wie normativ-reziproken Praktiken und Gewohnheiten einer politischen Gemeinschaft einzugehen resp. übergreifende Regimebildungen zu ermöglichen. Dabei können unterschiedliche Rationalitäten in differenten Sphären durchaus beibehalten werden, insofern sich die Institutionalisierung eines größeren, nicht umfassenden Werterahmens und spezifizierte Einzelwerte in den jeweiligen Handlungsbereichen multipler soziokultureller Welten überhaupt nicht gegenseitig ausschließen, weil es sich ersichtlich nicht um Fragen einer binären Logik handelt, die für komplexe soziale Zusammenhänge ohnedies völlig unangemessen ist. 45 Allerdings ist kaum eine Utopie — wie wir gesehen haben — genuin liberal oder individualistisch ausgeprägt 46 und auch nur in bestimmten Grenzen wirklich tolerant. Konsequent pluralistische Utopien im Sinne „offener Gesellschaften" existieren praktisch nicht, zumeist sind die Utopien sogar monistisch organisiert, verzichten in der Regel auf intermediäre Instanzen und verfugen bestenfalls über eine herrschaftsstabilisierende „repressive Toleranz". 47 Hier liegen die größten Defizite im Utopiediskurs. Die „Einheit in der Vielfalt" unter Beibehaltung von legitimen Konflikten, die geregelt, argumentativ und friedlich im Rahmen eines gemein44 45 46
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Das werde ich in neueren Abhandlungen explizieren (eine hierauf bezogenes Manuskript trägt den Arbeitstitel: Denationalisierung und zivile Tugenden). Siehe auch Kaesler 1998. So Nipperdey 1975, S. 116 in Bezug auf Morus: „Die Kraft der objektiven Ordnung formt die Person bis in ihren Kern, sie ist es eigentlich, die den Menschen zu dem macht, was er ist. Weil die Ordnung gerecht, vernünftig und gut ist, ist auch der Einzelne gerecht, vernünftig und gut." Bei Morus wird ein durchstrukturiertes (54 strukturell völlig übereinstimmende Städte!) und „vollendetes Institutionengefiige" imaginieit. Auch hinter positiv intendierten Utopien kann die „Dämonie der Macht" lauem und sie sind auch nicht gefeit vor einer Harmonisierung durch (freiwilligen) Zwang und soziale Kontrolle. Negative Utopien kennen ohnehin nur Zwangsinstitutionen.
Zum politiktheoretischen Status von Utopien
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schaftsrepräsentativen Minimalkonsenses auszutragen sind, wie es jedem vernünftigen Pluralismuskonzept zugrunde liegt, ist jedenfalls keine besonders ins Auge fallende Eigenschaft von Utopien. Sie nehmen den auf die Würde des Einzelnen bezogenen Anspruch nicht genügend ernst, ohne Angst verschieden sein zu können, sondern wollen vornehmlich für Harmonie und Eintracht sorgen, ohne die Konsensualisierungs- und Vermittlungsprozesse in differenzierter Weise, wozu auch das Recht auf Abweichung gehört, zu bestimmen. 48 Utopien respektieren nicht unbedingt Minderheitspositionen, es sei denn, diese machen sich in einem messianischen Utopieentwurf, der als realisiert fingiert wird, in sozial dominanter Weise anheischig, der Welt ihr besseres Modell als selbstevident zu demonstrieren, das die noch nicht Bekehrten über kurz oder lang aus Einsicht akzeptieren werden, denn Utopien sind zumeist „Welten der Gewissheit". Das sind der volonté générale Rousseauscher Prägung nachempfundene und verpflichtete ziviltheologische Momente, die fur Utopien in toto — im Guten wie im Bösen — kennzeichnend sind und ihre Ambivalenz ausmachen. Damit wird zugleich deutlich, dass sie komplexe und empirisch informierte politische Theorien nicht suspendieren, wohl aber sich auf diese von der Fragestellung und vom Themenfeld her stimulierend auswirken können. Dies vor allem dann, wenn sie normativ und zeitkritisch den alteuropäischen Topos einer „guten Gesellschaft" reaktivieren und zukunftsfahig ausgestalten. Dazu reichen narrative Formen nicht mehr aus, sondern politische Utopien müssen in der Summe und Intensität vor allem sozialwissenschaftlich noch besser fundiert und elaboriert werden, um eine paradigmatische Qualität zu gewinnen. 49 Utopien haben vor allem dann eine Zukunft, wenn sie in unaufdringlicher und konstruktiver Weise darauf abstellen und ebenso in der Performanz motivierend wie verstärkend darauf hinwirken, dass der moralische Sinn für Fairness und Gerechtigkeit interaktiv umzusetzen und einzubringen ist, also nicht einfach elitär 48 49
In den meisten Utopien herrscht eine eingeschränkte Öffentlichkeit vor und abweichende Meinungen werden auch nicht unbedingt toleriert. Über öffentliche Dinge außerhalb des Senats und der Volksversammlung zu beraten, galt Morus sogar als ein „todeswürdiges Verbrechen". Hierfür bietet sich folgendes prosoziales Tableau ziviler Tugenden und institutioneller Grandstrukturen an: Achtung, Ambiguitätstoleranz, Anerkennung, Angemessenheit, Aufmerksamkeit (moral awareness), Austausch, Autonomie, Deliberation, Differenz, Diskursivität, Distanz, Emanzipation, Empathie, Engagement, Flexibilität, Freiheit, Freundschaft, Frieden, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Gewaltenteilung und Gewaltverzicht, Gleichheit, Handlungskompetenz, Institutionen, Integration, Integrität, Interaktion, Inteidependenz, Interessen und Ironie, Kommunikation, Komplementarität, Kompromiss, Konfliktfähigkeit und Konfliktregelung, Konsens und Kontrolle, Kontextsensibilität, Kooperation, Kreativität, Kritik, Lebenschancen, Loyalität, Mitgliedschaft, Offenheit, Öffentlichkeit, Optionen, Partizipation, Personalität, Phantasie, Pluralität, Rationalität, Reflexivität, Rechte, Reform, Regelverständnis, Responsivität, Reziprozität und Reversibilität, Schadensvermeidung, Selbstachtimg, Selbstbestimmung, Sinn, Situationslogik, Solidarität und Subsidiarität, Symbol, Transparenz, Urteilskraft, Verantwortung, Verfahren, Verfassung, Verhandlung und Vermittlung, Verstehen und Verständigung, Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Wandel, Wertbindungen, Wissen, Würde, Zivilgesellschaft, Zukunft und Zweifel. — Es können dies Meikposten für gehaltvolle Utopien sein bzw. Kriterien, die darüber entscheiden, ob es sich um positive Utopien oder nicht doch um Dystopien handelt, wenn zu viele der angeführten Attribute und Ausdrucksfoimen fehlen bzw. als defizient zu evaluieren sind.
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oder systemisch verschrieben werden kann. Es muss insbesondere eine Solidaritätsausweitung 50 („Solidarität unter Fremden") und eine empirisch informierte Humanentwicklung 51 stattfinden, um erweiterungsfähige vernünftige und menschengerechte utopische Gehalte zu konkretisieren. Utopien müssen sich demnach im Kontext des alltagspraktischen sozialphilosophischen Pragmatismus und „liberalen Republikanismus" vermehrt auf einen kontrollierten demokratischen Experimentalismus einlassen 52 , um als Modelle rationalen sozialen und politischen Theoretisierens heuristisch stilbildend wirken zu können. Hauptaufgabe politischer Theorien wie auch Utopien ist es nun einmal, praktische Politik und komplexe Ordnungsmodelle zu integrieren, Erneuerungen anzuregen und für die Umsetzungsversuche Solidarität in den Köpfen und Herzen der Menschen zu stiften.
50 51
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Siehe insbesondere Brunkhorst 2002, ferner den Diskussionband von Bayeitz 1998. Vgl. Welzel 2002. Hiernach ist unter Humanentwicklung die empirisch bestätigte Sequenz aus drei Erfordernissen (Wohlstand — Wertewandel — Freiheit) zu verstehen, die zur Generierung und Stabilisierung von Demokratien führen: ( 1 ) wachsende ökonomische Ressourcenverfügung, (2) ethisch-emanzipatorische Selbstentfaltungsansprüche und (3) institutionell-humanrechtliche Freiheitsgarantien. Die gesellschaftlich offerierten Freiheitsgrade, Handlungsoptionen und Gestaltungsspielräume sind immer wieder auf die Stellung des Menschen zu beziehen, um Selbstvertrauen, wechselseitige Achtung und Kooperation zu befördern. Die empirischen Befunde und die hieraus abgeleiteten Annahmen lauten: Freiheitspräferenzen und generalisiertes soziales Vertrauen korrelieren positiv, unterstützt durch Selbstachtung, Verhaltenstoleranz und spontanes Engagement. Die Chancen einer Kontinuierung der Humanentwicklung werden im Wertewandel, in der Wissensgesellschaft und in der Globalisierung gesehen, hierdurch werden die Menschen kreativer, innovativer, kritischer und umweltbewusster und es steigt ebenso im Generationenwechsel die abstrakte Denk- und Problemlösungsfähigkeit („kognitive Mobilisierung"). Hierin liegt für Welzel ein immenses zivilisatorisches Potenzial beschlossen, das durch einen emanzipatorischen Wertewandel und aufgrund von Wissensakkumulation zur Lösung der wichtigsten Menschheitsfragen beitragen könne. Welzel stützt sich insbesondere auf Weltwertestudien sowie auf Freiheitseinschätzungen von „Freedom House". Die Daten beziehen sich auf 66 Länder, decken alle Kulturräume dieser Erde ab und können als repräsentativ für immerhin 80 Prozent der Weltbevölkerung gelten, so dass damit zugleich ein universeller und kulturübergreifender Anspruch erhoben wird. Siehe u.a. Brunkhorst 1998, Brunkhorst/Niesen 1999, Joas 2000, Waschkuhn 2001 u. 2002.
LITERATURÜBERBLICK
Der herausragende deutsche Utopieforscher ist zweifelsohne Richard Saage. Es ist insbesondere auf seine Arbeit „Politische Utopien der Neuzeit" (2. Aufl. 2000a) sowie auf die vier imposanten Bände „Utopische Profile" (2001a f f : 2001-2003) zu verweisen. Geradezu „klassisch" sind natürlich des Weiteren die Analysen und Kommentierungen des Philosophen Ernst Bloch aus seinem Opus „Prinzip Hoffnung". Die einzelnen Utopien sind selbstredend am besten im Original bzw. in Übersetzung zu lesen, bevor man sich auf Sekundärliteratur bzw. unser Lehrbuch kapriziert. Die drei Renaissance-Utopien von Morus, Campanella und Bacon sind beispielsweise in einer preisgünstigen Taschenbuchausgabe erschienen (Klaus J. Heinisch 1960 und öfter, zuletzt 1996). Eine günstige Anthologie wurde u.a. von Helmut Swoboda (1978) herausgegeben. Zu den sozialistischen Ansätzen vgl. insbesondere die zwei Bände von Walter Euchner (1991) und die siebzehn Bände von Jacques Droz (1974-1984) in Auszügen. Zu Frauenutopien siehe u.a. Margarete Keulen 1991, Mario Klarer 1993 und Bettina Roß 1998. Überblicke über Utopien und die Utopieforschimg insgesamt vermitteln neben den einschlägigen Arbeiten von Richard Saage insbesondere: Klaus Berghahn/Hans Ulrich Seeher (1986), Gregory Claeys, Lyman Tower Sargent (1999), Vita Fortunati/Raymond Trousson (2000), Arnhelm Neusüss (1986), Mary Ellen Snodgrass (1995) und Wilhelm Voßkamp (1985). Zur prinzipiellen Utopiekritik vgl. u.a. Hans Albert 1976/1991, Isaiah Berlin 1995, Ralf Dahrendorf 1974/1986, Wilhelm Hennis 1977/2000 und insbesondere Karl R. Popper 1997. Zu den einzelnen Utopisten siehe die Anmerkungen zu den thematischen Kapiteln sowie das umfängliche Literaturverzeichnis und ebenso das Register des vorliegenden Bandes. Weitere detaillierte Angaben und Hinweise sind im InternetZeitalter wohl nicht mehr vonnöten, allerdings sollte man sich weniger auf Suchmaschinen (die beste ist immer noch „Google") verlassen und mehr die einzelnen erreichbaren wissenschaftlichen Bibliotheksverzeichnisse mitsamt Bestellmöglichkeiten nutzen, denn genaues Lesen und kommentierendes Exzerpieren der unverzichtbaren Lektüre ist immer noch sinnvoller als bloßes Downloaden und Kopieren.
LITERATURVERZEICHNIS
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REGISTER A
Adorno, Theodor W. 108, 146f., 152f. Albert, Hcms 189ff. Alternativ-Radikalismus 190f.
B
Babeuf, François 116 Bacon, Francis 3, 64-70, 101, 209, 224, 241 Bakunin, Michail 129,133-137,226 Barbusse, Henri 154 Bauer, Bruno 122f. Beauvoir, Simone de 42 Bellamy, Edward 209 Berlin, Isaiah 144, 152, 184, 227 Bermbach, Udo 6fF. Berneri, Marie Louise 70, 116 Beyme, Klaus von 229 Blake, William 145 Blanc, Louis 131 Bloch, Ernst 56, 63, 72, 101, 104,112, 118,120, 122,128,138, 140 Boccaccio, Giovanni 42 bon sauvage 75,88,93,150f. Bookchin, Murray 203-207, 227 bottom up 131 Boye, Karin 154-160,208f., 226f. Brentano-von Arnim, Bettine 208 Breton, André 108, 127
C Cabet, Etienne 84,112-116,205,225 Callenbach, Ernest 195,200-202,227 Campanella, Tommaso 11,56-63,75, 86,224 Cavendish, Margareth 208 Chomsky, Noam 195 Christine de Pizan 38-43,111, 208,227 Considérant, Victor 107
D Dahrendorf, Ralf 179,184-188, 192, 227 Descartes, René 241 Diderot 83 Dystopie 142, 152f., 177, 226ff.
E
Emergenz 233 Engels, Friedrich 101, 105,135, 139f. Erasmus von Rotterdam 44 Erskine, Thomas 3
F
Fénelon 71-76, 224 Feuerbach, Ludwig 123 Fichte, Johann Gottlieb 133 Foerster, Heinz von 221 Foucault, Michel 217 Fourier, Charles 82, 90, 92f., 106-111, 112, 121, 128, 130, 198, 204f., 224f., 227 Französische Revolution 76,100 Frauen-Utopien 208-219, 227f. Freiheit 184, 187f., 192
G
Gearhart, Sally Miller 213-216,227 Gesell, Silvio 129 Gilman, Charlotte 209f. Godwin, William 208 Goldman, Emma 213 Grün, Karl 129
H Habermas, Jürgen 180 Hayek, Friedrich von 241
272
Politische Utopien
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 122, 129, 132f., 204 Heine, Heinrich 112,139 Hennis, Wilhelm 240f. Hermcmd, Jost 2f., 202 Herzen, Alexander 129,133 Hobbes, Thomas 74, 162 Höffe, Otfried 236-239 Höhlengleichnis 29fF. Hommes, Ulrich 5 Hondrich, Karl Otto 229f. Hugo, Victor 129 Humanentwicklung 244 Huxley, Aldous 142-153, 185, 198, 221f, 226f.
Mann, Thomas 155 Mannheim, Karl 2 Marcuse, Herbert 126,206 Margalit, Avishai 193 Marquard, Odo 239f. Marx, Karl 125, 127, 129, 134fF„ 139f„ 204 Mercier, Louis-Sébastien 78, 95-100,224 Meslier, Jean 77-80,224 Modell-Platonismus 190 Montesquieu 239 Morelly 74, 81-88, 93, 224 Morus, Thomas 3, 72, 75, 44-55, 113f., 224f., 243 Münch, Richard 233
J
N
K
Negativer Utilitarismus 183 Nietzsche, Friedrich 127 Nipperdey, Thomas 44f. Normativer Individualismus 236f., 241
Kersting, Wolfgang 33 Kierkegaard, Soren 127 Komplexe Gleichheit 242 Kontextualistischer Universalismus 241 Kratochwil, Friedrich 230 Kritischer Rationalismus 183 Kropotkin, Peter A. 131, 133, 204, 213, 226
Orwell, George 142,154, 160,161-177, 188, 213, 227 overlapping consensus 234f., 241 Owen, Robert 90,101-105, 107, 110, 112, 129f., 198, 206, 224f., 227
Jeanne d'Arc 39
o
L
P
Lane, Mary Bradley 208f. Le Guin, Ursula K. 195, 209, 210-213, 227 Legitimatorischer Individualismus 236fF. Levin-Varnhagen, Rachel 208 Liberaler Republikanismus 235f., 244 Locke, John 74 Luhmann, Niklas 188, 23 Iff.
Paradoxie 188f.,231ff. Parsons, Talcott 186,233 Peirce, Charles Sanders 191 Piercy, Marge 209, 216-219, 227f. Pizan, Christine de 38-43, 111,208,227 Piaton 4, 15-37, 75, 119, 152, 179, 209, 223, 230 Plessner, Hellmuth 116 Popper, Karl 36f„ 146,179-184, 188, 227 Proudhon, Pierre-Joseph 84, 124f., 128132, 134, 138, 225f. Proust, Marcel 221
M Mackay, John H. 127 Malatesta, Errico 133
273
Register
R Rawls, John 235, 242 Rétif de la Bretonne 89-94,224 Richelieu 56 Roche, Sophie von la 208 Rorty, Richard 191, 222f., 239 Rousseau, Jean-Jacques 74, 83, 95f., 238, 243
S
Saage, Richard 1, 8f., lOff., 34fF, 75f., 98fT., 142, 195f. Saint-Simon, Claude-Henri de 107,117121, 122, 205f., 225 Samjatin, Jewgenij 142,160 Scott, Sarah 208 Shelley, Mary 208f.,213 Skinner, Burrhus Frederic 195-199,227 Smith, Adam 123, 132 Sokrates 16ff., 126 Solanas, Valerie 195 Solidarität 236, 244 Stirner, Max 122-127, 134, 137,225
T
Toleranz 183f., 192, 198, 235f., 238, 242 Tugenden (zivile) 192f., 238, 241, 243 u utopian engineering 188 Utopie und Ökologie 200-207 Utopiekritik 179-193
V
Voltaire 77
w
Walzer, Michael 223,242 Weber-Schäfer, Peter 1 Weiss, Peter 154ff. Weitling, Wilhelm 133f., 137,138-141, 226 Wells, Herbert George 146 Weltgesellschaft 234 Wilde, Oscar 222
Willke, Helmut 233 Wollstonecraft, Mary 208 Woolf, Virginia 213
Zimmermann, Margarete 43