Politische Partizipation: Idee und Wirklichkeit von der Antike bis in die Gegenwart 9783110303339, 9783110303438

Political participation – individual citizens taking part in the body politic – is a globally accepted ideal. But opinio

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German Pages 377 [376] Year 2013

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Table of contents :
Einleitung
Die Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung
Politische Partizipation in der athenischen Demokratie
Wer soll an der Polis teilhaben? Das Dilemma des Aristoteles
Politische Partizipation in der römischen Republik
Politische Mitwirkung und Metaphysik – Stadtbürgerliche Partizipation im Hoch- und Spätmittelalter
Von der Magna Carta zum Parlament – Idee und Wirklichkeit der politischen Partizipation in England
Von Machiavelli zu Bodin – Der Verlust der politischen Partizipation im 16. Jahrhundert?
Die Boston Tea Party – Politische Partizipation durch Repräsentation
Condorcet und die Figur des Volks in der Französischen Revolution
Masse und Elite – Zur Partizipationskritik im 19. Jahrhundert am Beispiel Basels
Politische Partizipation in der UdSSR als Forschungsproblem im Kalten Krieg – Eine historische Rückschau
Dezentraler Staat und wirtschaftliche Entwicklung – Die Evolution der Partizipation
Politische Partizipation und globale Politik – Zur menschenrechtlichen Begründung eines Rechts auf globale Partizipation
Geringe Wahlbeteiligung als Gefahr für die Demokratie? – Quantität, Egalität und Qualität elektoraler Partizipation in der Schweiz
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Politische Partizipation: Idee und Wirklichkeit von der Antike bis in die Gegenwart
 9783110303339, 9783110303438

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Colloquium Rauricum Band 13 Politische Partizipation

Colloquia Raurica Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. René Clavel in Augst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Einen Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. Um möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe Colloquia Raurica publiziert.

Das Collegium Rauricum

Jürgen von Ungern-Sternberg Peter Blome Joachim Latacz Hansjörg Reinau

De Gruyter

Colloquium Rauricum Band 13

Politische Partizipation Idee und Wirklichkeit von der Antike bis in die Gegenwart

Herausgegeben von

Hansjörg Reinau und

Jürgen von Ungern-Sternberg

De Gruyter

ISBN 978-3-11-030333-9 e-ISBN 978-3-11-030343-8 ISSN 1616-1157

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die aus Anlass des dreizehnten Colloquium Rauricum gehalten wurden, das vom 31. August – 3. September 2011 auf Castelen, dem Landgut der Römerstiftung Dr. René Clavel in Augst bei Basel stattgefunden hat. Castelen bildete auch beim dreizehnten Colloquium einen idealen Ort für persönliche Begegnungen und wissenschaftlichen Austausch. Unser herzlicher Dank geht an unsere beiden Kollegen aus dem Collegium Rauricum, die Herren Professoren Joachim Latacz und Peter Blome, die uns die Leitung des Colloquium übertragen und uns bei der Planung und Durchführung unterstützt haben. Besonderen Dank für Anregungen bei der Gestaltung des Programms schulden wir Herrn Prof. Dr. Achatz von Müller. Für die sorgfältige organisatorische Betreuung während der Tagung danken wir Frau Anna Laschinger. Wie stets sind wir für die großzügige finanzielle Unterstützung der von Dr. Jakob und Antoinette FreyClavel gegründeten Römerstiftung besonders dankbar. Schließlich geht unser Dank an alle Referentinnen und Referenten und alle, die sich an den Gesprächen während der Veranstaltung beteiligt und zu dessen Gelingen beigetragen haben. Leider mussten wir kurz vor der Drucklegung vom Ableben unserer Mäzenatin, Antoinette Frey-Clavel, Kenntnis nehmen. Sie ist fast zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Gatten, Jakob Frey-Clavel, am 16. September 2013, im 95. Lebensjahr verstorben. Ihr sei dieser Band in dankbarer Erinnerung gewidmet. Basel, im Dezember 2013

Jürgen von Ungern-Sternberg Hansjörg Reinau

Teilnehmerinnen und Teilnehmer Prof. em. Dr. Charles B. Blankart, Institut für Öffentliche Finanzen, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Humboldt-Universität Berlin, Spandauerstraße 1, D-10178 Berlin [email protected] PD Dr. Marc Bühlmann, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern, Fabrikstraße 8, CH-3012 Bern [email protected] Prof. Dr. Andreas Cesana, Leiter des Studium generale, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, D-55099 Mainz [email protected] Prof. Dr. Martin Jehne, Institut für Geschichte, Lehrstuhl Alte Geschichte, Technische Universität Dresden, Helmholtzstraße 10, D-01069 Dresden [email protected] Prof. Dr. Stephan Kirste, Rechts- und Sozialphilosophie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Universität Salzburg, Churfürstenstraße 1, A-5020 Salzburg [email protected] Prof. Dr. Christine Landfried, Institut für Politikwissenschaft, Universität Hamburg, Allende-Platz 1, D-20146 Hamburg [email protected] Prof. Dr. Christian Mann, Historisches Institut, Alte Geschichte, Universität Mannheim, D-68131 Mannheim [email protected] Prof. Dr. em. Achatz von Müller, Historisches Seminar, Universität Basel, Hirschgässlein 21, CH-4051 Basel [email protected]

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Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Prof. em. Dr. Henning Ottmann, Lehrstuhl für Politische Theorie und Philosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Oettingenstraße 67, D-80538 München [email protected] Dr. Hansjörg Reinau, Höhenweg 53, CH-4102 Binningen [email protected] Dr. Stefano Saracino, Historisches Seminar, IGK Politische Kommunikation, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, D-60323 Frankfurt am Main [email protected] Prof. Dr. em. Martin Schaffner, Historisches Seminar, Universität Basel, Hirschgässlein 21, CH-4051 Basel Martin.Schaff[email protected] Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk, Historisches Seminar, Universität Basel, Hirschgässlein 21, CH-4051 Basel [email protected] Prof. em. Dr. Dr. h. c. Jürgen v. Ungern-Sternberg, Departement für Altertumswissenschaften, Alte Geschichte, Universität Basel, Petersgraben 51, CH-4051 Basel [email protected] Prof. em. Dr. Dr. h. c. Martin Warnke, Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg, Edmund-Siemers-Allee 1, D-20146 Hamburg [email protected] (sein Referat konnte leider nicht in den Band aufgenommen werden)

Inhalt Jürgen von Ungern-Sternberg und Hansjörg Reinau Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hansjörg Reinau Die Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung . . . . . . . . . . . .

3

Christian Mann Politische Partizipation in der athenischen Demokratie . . . . . . . .

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Jürgen v. Ungern-Sternberg Wer soll an der Polis teilhaben? Das Dilemma des Aristoteles . . . .

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Martin Jehne Politische Partizipation in der römischen Republik . . . . . . . . . . . 103 Achatz von Müller Politische Mitwirkung und Metaphysik – Stadtbürgerliche Partizipation im Hoch- und Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Henning Ottmann Von der Magna Carta zum Parlament – Idee und Wirklichkeit der politischen Partizipation in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Stefano Saracino Von Machiavelli zu Bodin – Der Verlust der politischen Partizipation im 16. Jahrhundert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Christine Landfried Die Boston Tea Party – Politische Partizipation durch Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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Inhalt

Martin Schaffner Rousseau, Condorcet und die Figur des Volks in der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Andreas Cesana Masse und Elite – Zur Partizipationskritik im 19. Jahrhundert am Beispiel Basels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Frithjof Benjamin Schenk Politische Partizipation in der UdSSR als Forschungsproblem im Kalten Krieg – Eine historische Rückschau . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Charles B. Blankart Dezentraler Staat und wirtschaftliche Entwicklung – Die Evolution der Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Stephan Kirste Politische Partizipation und globale Politik – Zur menschenrechtlichen Begründung eines Rechts auf globale Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Marc Bühlmann Geringe Wahlbeteiligung als Gefahr für die Demokratie? – Quantität, Egalität und Qualität elektoraler Partizipation in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Einleitung Jürgen von Ungern-Sternberg und Hansjörg Reinau Politische Partizipation ist als Leitvorstellung staatlicher Organisation heute weltweit unbestritten. Dass der einzelne Bürger an den Entscheidungen, die das Gemeinwesen betreffen, beteiligt werden muss, darüber herrscht heute grundsätzlich globaler Konsens. Etwas anders verhält es sich bekanntlich bei der Umsetzung dieser Vorstellung in die Realität: Die Frage, was Partizipation konkret bedeutet, welche Elemente ihr notwendigerweise inhärent sind und wie diese im politischen Alltag realisiert werden sollen und können, wird offensichtlich ganz unterschiedlich beantwortet – und entsprechend ist politische Partizipation in ganz unterschiedlichen Formen und in ganz unterschiedlichem Ausmaß realisiert. Zwischen der Idee, die von Beginn an auf größtmögliche Mitsprache des einzelnen Bürgers angelegt ist, und ihrer Verwirklichung herrscht eine Spannung, die seit ihrer frühesten Formulierung in der Antike bis in die Gegenwart hinein immer wieder zu beobachten ist. Dieser Spannung nachzugehen, war die Aufgabe unseres Kolloquiums. Allen Referenten wurden dabei folgende Leitfragen vorgegeben: – Welche konkreten Vorstellungen sind jeweils mit politischer Partizipation verbunden? – Worauf gründen diese Vorstellungen? Welche Intentionen werden damit verfolgt? – Wie versuchte bzw. wie versucht man, diese Vorstellungen in die Praxis umzusetzen? – Welche Probleme ergaben und welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei? Überdies schienen uns folgende Überlegungen und Fragen besonderer Beachtung wert: Unabdingbare Voraussetzung politischer Partizipation waren und sind in Vergangenheit wie Gegenwart fraglos formale juristische Rechte (Wahlund Abstimmungsrecht). Es gilt aber, gerade im Lichte aktueller Erfahrungen, zu bedenken, ob sie damit bereits gewährleistet ist. Setzt politische Partizipation nicht auch bestimmte Formen sozialer Partizipation voraus?

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Jürgen von Ungern-Sternberg und Hansjörg Reinau

Realisiert sie sich also nicht einfach durch die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte, sondern bedarf dazu einer Vielzahl von sozialen und ökonomischen Zugehörigkeiten (Vereine, Verbände und anderer Gruppierungen) und der Aktivierung der damit verbundenen Möglichkeiten, Einfluss auf staatliche Willensbildung und staatliches Handeln zu nehmen? Des Weiteren ist nach den persönlichen Voraussetzungen zu fragen. Partizipiert der „einfache“ Bürger tatsächlich schon als homo politicus am staatlichen Leben kraft seiner politischen Rechte oder sind zu deren wirklichen Wahrnehmung zusätzlich noch andere, vielleicht wichtigere, nicht rechtlich formulierte und abgesicherte Qualifikationen sozialer und ökonomischer Provenienz notwendig (bestimmter Bildungsgrad, Beziehungsnetz, ökonomische Leistungsfähigkeit)? Und wie verhält es sich damit in vergangenen Epochen? Der Bogen unseres Kolloquiums spannte sich über einen Zeitraum von ca. 2600 Jahren von der Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung im antiken Griechenland bis zur Problematik der Realisierung politischer Partizipation unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts.

Die Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung Hansjörg Reinau Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt. Gottfried Keller, Das Fähnlein der sieben Aufrechten

Politische Partizipation setzt die Idee bürgerlicher Verantwortung voraus. Handlungen und Verhaltensweisen von Angehörigen eines Gemeinwesens, kurz: von Bürgern, die damit bezwecken, auf alle sie betreffenden Entscheidungen Einfluss zu nehmen1 , sind erst und nur möglich, wenn die Überzeugung vorhanden ist, dass diese Bürger nicht nur in der Lage sind, bei solchen Entscheidungen auch erfolgreich mitzuwirken, sondern dass ein solches Verhalten und Vorgehen auch legitim und notwendig ist. Dass diese Überzeugung sich aber nicht von selbst versteht, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die politische Realität unserer Gegenwart. Und dass es sich dabei nicht um eine anthropologische Konstante handelt, wird evident, wenn man den gesamten, einigermaßen bekannten Bereich der menschlichen Geschichte ins Visier nimmt. Vor der griechisch-römischen Antike ist sie nirgends zu finden, nachweisbar ist sie erstmals im antiken Griechenland – und es spricht alles dafür, die Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung für die Griechen zu vindizieren.2

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Diese Definition lehnt sich an Formulierungen in einschlägigen Texten der gegenwärtigen Politikwissenschaft an: vgl. Kaase 2003, 495; Gabriel/Völkl 2005, 527 ff.; dies., 2008, 268, 141; van Deth 2009, 141. Sie ist an demokratisch verfassten Gemeinwesen orientiert und kann, streng genommen, allein für diese Gültigkeit beanspruchen, zumal nur hier diese Einflussnahme grundsätzlich keinen Einschränkungen unterworfen ist und jedem einzelnen Bürger dabei im Prinzip die gleichen Befugnisse zustehen. Politische Partizipation gilt denn auch zu Recht als Kernelement und Signum der Demokratie. Vgl. unten S. 32 ff.

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Hansjörg Reinau

Diese These stützt sich vor allem auf einen Text, der um 600 v. Chr. verfasst worden ist. Es handelt sich um ein Gedicht des Atheners Solon, das heute üblicherweise unter dem Titel Eunomie“ zitiert wird, weil die ” darin vertretenen Gedanken darauf zielten, das damals schwer zerrüttete Gemeinwesen wieder in einen Zustand der guten Ordnung“ oder Wohl” ” gesetzlichkeit“ , wie sich das griechische Wort εὐνομία übersetzen lässt, zu überführen.3 Wohl hauptsächlich aufgrund dieses öffentlich vorgetragenen Gedichts, dessen programmatische Gedanken zusätzlich konkretisiert worden sein dürften, wurde der Dichter denn auch im Jahre 594 v. Chr. von der Gemeinde beauftragt, die Sache, wie die Griechen damals einen solchen Vorgang nannten, wieder ins Lot zu bringen“ . 4 ” Im Folgenden sollen einerseits Solons Einsichten in den Ablauf des aktuellen Geschehens in seiner Heimatstadt und die sich daraus ergebenden Konklusionen vorgestellt werden. Andererseits soll ein Vergleich mit einem weiteren, etwa hundert Jahre älteren Text und ein sehr summarischer Blick auf andere antike Hochkulturen das grundlegend Neue und welthistorisch Singuläre daran deutlich werden lassen.5 Gleich zu Beginn des Textes, den man ohne Übertreibung als das Gründungsdokument des abendländischen politischen Denkens bezeichnen darf, lesen wir die folgenden Verse (1 ff.): Unsere Stadt aber wird niemals untergehen nach dem Willen des Zeus und der übrigen glückseligen und unsterblichen Götter: So hält hoch gesinnt als Beschützerin die Tochter des gewaltigen Vaters, Pallas Athene, ihre Hände über sie. 3

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Solon, Elegie Nr. 3 Diehl. Das Gedicht hat zahlreiche Interpretationen erfahren. Auf die folgenden sei besonders verwiesen: Jaeger 1926. Vlastos 1946. Meier 1970, 19–25. Spahn 1980, 545–548. Stahl 1992. Fadinger 1996. Mülke 2002, 88–159, besonders 92–102. Barta 2006. Blaise 2006, die zu Recht an der im gleichen Tagungsband von Stehle (und etwas weniger radikal auch von Lardinois) formulierten skeptischen Position bezüglich der Autorschaft und des traditionellen zeitlichen Ansatzes der unter dem Namen Solons überlieferten politischen Gedichte Kritik übt (128 ff.; vgl. dazu auch Walter 2008). Ich selbst habe das Gedicht im Rahmen meiner nicht leicht zugänglichen Dissertation ebenfalls interpretiert und schon damals versucht, die Besonderheit der Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung vor dem Hintergrund anderer Zivilisationen herauszuarbeiten (Reinau 1981, 20–29). Bei der hier vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine wesentlich erweiterte, überarbeitete und die Forschung der letzten dreißig Jahre berücksichtigende Fassung. Herodot, Historien 4, 161, 2 (Kyrene); 5, 20 (Milet). Vgl. Meier 1980, 102, Anm. 26. Alle Übersetzungen stammen, wo nicht anders vermerkt, vom Verfasser.

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Sie selbst jedoch wollen die große Stadt vernichten in ihrer Torheit, die Bürger, der Gier nach Geld unterworfen, und die ungerechte Gesinnung der Führer des Volkes: diesen ist es bestimmt, auf Grund ihres großen Frevels viele Schmerzen zu erdulden.

Warum betont der Dichter zunächst, dass der drohende Untergang seiner Heimatstadt nicht von den Göttern herbeigeführt wird? Offensichtlich wendet er sich damit gegen die zu seiner Zeit herrschende Auffassung, nach der letztlich die Götter das Schicksal menschlicher Gemeinschaften bestimmen. Solon vertritt eine andere, anscheinend ganz neue Auffassung: Gefahr für die Gemeinde droht nicht vonseiten der Götter; diese, und insbesondere die Stadtgöttin Athene, sind ihr im Gegenteil grundsätzlich eher günstig gesinnt.6 Es sind vielmehr einzig und allein die ἀστοί7 , die Bürger“ , schuld, wenn ihre Polis zugrunde gehen wird – und zwar grund” sätzlich alle, auch wenn der Dichter nicht übersehen kann und will, dass es in der konkreten Situation, in der seine Heimatstadt sich gerade befindet, vor allem die δήμου ἡγεμόνες, die Führer des Volkes sind, die Mächtigen und Wohlhabenden also, deren Verhalten – Mangel an Verstand und Geldgier – die Existenz Athens gefährdet. Mit anderen Worten: 6

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Die Vorstellung, dass die Götter nicht an jedem Übel schuld sind, das die Menschen erleiden, findet sich schon bei Homer: Odyssee 1, 32 ff. Vgl. Jaeger 1926, 321 ff. Nur ist das dort ganz allgemein formuliert, eher auf das Individuelle, nicht spezifisch auf die Polis bezogen und bleibt deshalb ohne entsprechende Konsequenzen. Vgl. Mülke 2002, 96. Meier 1987, 126, Anm. 39. ἀστός ist schon in den homerischen Epen die neben dem später üblichen πολίτης verwendete Bezeichnung für den Bürger“ , den Bewohner des ἄστυ bzw. der ” πόλις (beide Termini werden schon bei Homer praktisch identisch verwendet, wenn auch die eingeschränkte Bedeutung – πόλις für die auf einer Anhöhe gelegene Burg“ , ἄστυ für die Unterstadt“ – an einzelnen Stellen der Ilias zuweilen ” ” noch erkennbar ist, z. B. 6, 256 f. 287. 297. 17, 144. Dazu Hoffmann 1956, 123. Interessant in dieser Hinsicht ist auch der Befund, dass ein Sohn des Priamos den Namen Πολίτης trägt: 2, 791. 13.533. 15. 339. 24, 250. Sollte damit das Faktum des Königssohns als Bewohner der Burganhöhe, auf der der königliche Palast lag, zum Ausdruck gebracht werden?). Wo Unterschiede in der Bedeutung der beiden Termini überhaupt fassbar sind, sind es Nuancen und solche des Bezugspunktes: ἀστός kann im Gegensatz zu ξένος den Einheimischen gegenüber dem Fremden bezeichnen, während πολίτης mehr den Angehörigen der Polisgemeinschaft im engeren Sinn, also unter Ausschluss der in der Polis lebenden, aber nicht eigentlich zu dieser Gemeinschaft Gehörenden meint. Vgl. Patterson 1979, 11 ff. Stahl 1992, 388, Anm. 6. Das könnte erklären, wieso dieser Terminus später zum po” litischen“ , den aktiv an der Politik partizipierenden, mit entsprechenden Rechten ausgestatteten Polisangehörigen wurde. Vgl. auch Reinau 1981, 52, Anm. 3; 54, Anm. 2.

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Wie es in einer Polis bestellt ist, ob es um sie gut oder schlecht steht, hängt wesentlich von den in ihr lebenden Menschen, genauer: von den zur Polisgemeinschaft gehörenden Bürgern“ ab. Wie aber konnte Solon ” überhaupt zu dieser der Allgemeinheit so offensichtlich widersprechenden Überzeugung gelangen? Sie gründet auf einer Reihe von Beobachtungen und Reflexionen zum jüngsten Geschehen in seiner Stadt (9 ff.). Sie verstehen es nämlich nicht, ihre übermäßige Gier zu zügeln und die Freuden, die ihnen geboten werden, beim Mahl in Ruhe zu genießen. […] Reich sind sie, weil sie sich zu ungerechten Taten bewegen lassen […] […] Weder göttlichen noch öffentlichen Besitz verschonen sie dabei, sondern plündern aus Raffgier alles, der eine hier, der andere dort, und selbst vor Dikes ehrwürdigem Sitz machen sie nicht Halt Diese aber sieht und behält schweigend, was geschieht und was vorher geschah, mit der Zeit jedoch kommt sie bestimmt und wird sich rächen.

Habgier der Mächtigen und rücksichtslose Anhäufung von Reichtum unter Missachtung aller Normen und jeglichen Rechts, das nach archaischer Anschauung in der Göttin Dike personifiziert ist, greifen in der Stadt um sich. Dike aber wird, nach Solons fester Überzeugung und gemäß traditioneller Auffassung, die Übeltäter früher oder später der gerechten Strafe zuführen. Für ihr Verhalten büßen aber nicht nur die Übeltäter, es ist die ganze Gemeinde, die die Folgen zu tragen hat (17 ff.): Da kommt schon über die ganze Polis das unentrinnbare Unheil: schnell gerät sie in schlimme Knechtschaft, die Zwietracht und inneren Krieg aus dem Schlaf aufweckt, der die geliebte Jugendzeit von vielen zerstört: von feindlich Gesinnten nämlich wird rasch die vielgeliebte Stadt vernichtet in gemeinsamen Aktionen, die den Verbrechern lieb sind. Solche Übel gehen um in unserem Volk; von den Armen aber gelangen viele in ein fremdes Land, verkauft und mit schmählichen Fesseln gebunden […]

Wie haben wir uns dieses Unheil, das Solon als unausweichlich bezeichnet, genauer vorzustellen? Athen befand sich zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen, wie zahlreiche andere griechische Gemeinwesen auch, in einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise. Im Laufe des 7. Jahrhunderts sahen sich

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immer mehr Bauern gezwungen, sich beim Adel zu verschulden. Dieser (oder wenigstens Teile davon) scheint diese Situation unter Missachtung des Rechts schamlos ausgenutzt zu haben. Da sich anscheinend bereits ein beträchtlicher Teil der Bauernschaft in dieser Lage befand, konnte Solon davon sprechen, dass die Polis (in ihrer Gesamtheit) in schlimme Knechtschaft geraten war. In der Folge verloren manche dieser Bauern ihren Grund und Boden und gerieten sogar in Gefahr, als Sklaven in die Fremde verkauft zu werden.8 Diese Entwicklung aber gefährdete den sozialen Frieden und barg die Gefahr eines inneren Zwists, eines Bürgerkriegs, in sich. Und ein Bürgerkrieg konnte letztlich zum Untergang der Polis führen. Davon aber waren letztlich alle, auch diejenigen, die von dieser Entwicklung profitierten und diejenigen, die bislang davon verschont geblieben waren, in gleicher Weise betroffen (26 ff.): So kommt das Unglück der Gesamtheit zu jedem Einzelnen nach Hause, und die Tore des Hofes sind nicht mehr bereit, es fernzuhalten; über den hohen Zaun ist es bereits gesprungen und findet mit Sicherheit jeden, mag er auch in den hintersten Winkel eines Zimmers flüchten.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Zu seiner Überzeugung, nicht die Götter, sondern die Bürger seien am Zustand der Polis schuld, gelangte Solon, indem er eine Reihe von offenkundigen Symptomen der Krise, in der sich seine Heimatstadt befand, untereinander zu einer Ursache-WirkungsKette verknüpfte; aus den maßlosen Ansprüchen der Mächtigen, die sich über die traditionellen Grundlagen des Rechtes hinwegsetzten, war in großen Teilen der Bürgerschaft existenzielle Not entstanden; diese Not aber gefährdete die innere Stabilität der Gesellschaft; und wenn sich daraus gar ein Bürgerkrieg entwickelte, waren letztlich alle betroffen, auch und gerade diejenigen, die glaubten, sich durch Eskapismus retten zu können. Und zur Erklärung dieses Wirkungszusammenhangs war ein Rückgriff auf göttliches Wirken in der Tat nicht nötig. Wie wenig sich eine solche Deutung des Geschehens damals tatsächlich von selbst verstand, geht nicht nur aus der zu Beginn explizit formulierten, ja geradezu beschwörenden These hervor, nicht die Götter, die Bürger selbst seien am Untergang ihrer Polis schuld. Das offenkundig Neue an Solons Erkenntnissen und Aussagen wird noch deutlicher vor dem Hintergrund eines Textes, der etwa hundert Jahre früher, in einer an8

Zur Krise und ihren Ursachen vgl. jetzt Forsdyke 2006. Van Wees 2006. Welwei 2011, 141–143 (ausführlicher bereits Welwei 1992, 150–163), der das Ausmaß der Verschuldung für geringer erachtet als üblicherweise angenommen.

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deren Region des griechischen Mutterlandes, entstand, verfasst vom böotischen Dichter Hesiod und unter dem Titel Werke und Tage“ überliefert.9 ” Es handelt sich dabei um eine Art Bauernkalender, ein Kompendium von Regeln und praktischen Anweisungen für den bäuerlichen Alltag, in welche der Verfasser ausführliche Reflexionen über Recht und Unrecht eingeflochten hat. Die Werke und Tage“ sind für uns von besonderem ” Wert, weil sie das einzige Dokument darstellen, aus dem ein Angehöriger der nichtadeligen Bevölkerung jener Epoche direkt von seinen Sorgen und Nöten zu uns spricht. Hesiods Äußerungen können wir entnehmen, dass sich auch in seiner Heimat die Mächtigen auf ungerechte Art und Weise bereichert haben. Unmittelbarer Anlass für seine Klagen über diesen Zustand und die daran anschließenden grundsätzlichen Überlegungen scheint ein Erbstreit mit seinem Bruder Perses gewesen zu sein, der dank Bestechung der adligen Richter, der geschenkefressenden Könige“ , wie sie der Dichter nennt, den ” Prozess zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Auch nach Hesiods Auffassung bleibt das ungerechte Tun einiger Weniger nicht ohne negative Folgen für die Gemeinde. Hinsichtlich der Art und des Umfangs der Wirkungen ungerechten wie gerechten Verhaltens einzelner Gemeindeangehöriger, vor allem aber in Hinblick auf den Mechanismus, die Art und Weise, wie diese Wirkungen eintreffen, sind die Differenzen gegenüber Solons Aussagen signifikant. Der Vergleich einer Stadt, in der Gerechtigkeit herrscht, mit einer, in der das Recht missachtet wird, macht dies deutlich (225 ff.): Denjenigen aber, die Fremden und Einheimischen gerechte Urteile fällen und in keinem Punkt vom Recht abweichen, gedeiht die Stadt, und den Leuten geht es gut. Friede ernährt die Jugend im Land, und bei ihnen lässt keinen bedrückenden Krieg entstehen Zeus, der alles überschaut. Wo Männer gerecht richten, gibt es auch keinen Hunger und kein Unheil, man arbeitet auf den Feldern und feiert danach frohe Feste. Diesen bringt die Erde reichen Ertrag und auf den Bergen trägt die Eiche in ihren Wipfeln Eicheln, am Stamm Bienen; und flockige Wolle lastet dort schwer auf den Schafen. Die Frauen aber gebären Kinder, die ihren Eltern gleichen. Stets leben sie im Wohlstand; auch müssen sie nicht auf Schiffen auf das Meer hinausfahren, denn Nahrung bringt ihnen genug das Korn spen9

Zu Hesiods Lebenswelt und seiner Mentalität vgl. Spahn 1980. 533–565. Walter 1993, 45–57. Seybold / von Ungern-Sternberg 1993, 50–57. Jetzt besonders Schmitz 2004, 27–104.

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dende Ackerland. Diejenigen aber, die auf Unrecht und schändliche Taten bedacht sind, bestraft der Sohn des Kronos, Zeus, der alles überschaut. Schon oft hat eine Stadt in ihrer Gesamtheit für einen einzigen Übeltäter gebüßt, der schlecht gehandelt und schlimme Taten vollbracht hat. Diesen aber schickt vom Himmel herab viel Leid der Sohn des Kronos, Hunger und Seuche zugleich; die Leute werden dahingerafft. Die Frauen gebären auch nicht mehr, die Familien schwinden dahin nach dem Willen des Olympiers Zeus. Ein anderes Mal wiederum vernichtet er ihr großes Heer oder die Stadtmauer, oder der Sohn des Kronos zerstört ihre Schiffe auf dem Meer.

Auch Hesiod weist auf wichtige Ursachen und Wirkungen im Leben einer Polis hin: Von der Beachtung des Rechts hängt das Befinden ihrer Bewohner bzw. ihr innerer Zustand ab. Aber die Wirkungen beschränken sich – anders als hundert Jahre später bei Solon – nicht nur auf das Leben in der Gemeinschaft der Bürger: Auch die Natur, der gesamte Kosmos also, ist davon betroffen. Ob die Natur genügend Erträge hervorbringt, ja sogar ob die menschliche Reproduktion funktioniert, ob eine Polis also auch physisch überlebt, hängt entscheidend von der Art der Rechtsprechung ab. Wir fassen hier einerseits das Bemühen, die überragende Bedeutung der Einhaltung grundlegender gesellschaftlicher Rechtsnormen plausibel zu machen – und dies war in einer Zeit des Umbruchs und der Verunsicherung von nicht geringer Relevanz. Der Macht des Stärkeren, wie sie nur allzu oft in der Realität spürbar und bei Hesiod drastisch in der Fabel vom Habicht vor Augen geführt wird, der der in seinen Krallen gehaltenen, vor Schmerzen klagenden und um Mitleid flehenden Nachtigall zu verstehen gibt, es sei töricht, sich gegen den Stärkeren aufzulehnen (203 ff.), wird die Vision des Rechts gegenüber gestellt, das den Menschen erst eigentlich zum Menschen macht (276 ff.): Dieses Gebot nämlich (auf Gewalt zu verzichten und das Recht zu beachten [275]) hat der Sohn des Kronos den Menschen auferlegt. Die Fische aber, die Tiere auf dem Land und die gefiederten Vögel sollen einander fressen, denn sie kennen kein Recht. Den Menschen aber gab er das Recht, das bei weitem das höchste Gut ist.

Andererseits lassen sich aber auch die Grenzen erkennen, die diesem Bemühen letztlich gesetzt waren: Sie sind nicht nur bestimmt durch die Vorstellung von der Art und vom Umfang der Wirkungen, sondern auch und besonders von der Art und Weise, wie nach Hesiods Auffassung Ursachen

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und Wirkungen verknüpft sind – und beides hängt miteinander untrennbar zusammen. Der Vorgang, der aus bestimmten Ursachen bestimmte Wirkungen entstehen lässt, spielt sich bei ihm, anders als bei Solon, bildlich gesprochen nicht auf einer, sondern auf zwei Ebenen ab: Entscheidend für das, was auf der Erde, unter den Menschen, geschieht, sind letztlich die Überirdischen, die Götter. Sie sind es, die die einzelnen Glieder aus Ursachen und Wirkungen erst zu einer Kette verbinden. In typisch archaischer Bildhaftigkeit wird dieser Vorgang, in eine Mahnung an die adligen Richter eingekleidet, wie folgt geschildert (248 ff.): Ihr Könige, bedenkt auch Ihr selbst dieses Recht. Nahe nämlich bei den Menschen sind die Unsterblichen und merken sich alle, die mit der Beugung des Rechts einander schaden, ohne sich um die Bestrafung durch die Götter zu kümmern. Es gibt nämlich auf der reichlich Nahrung bringenden Erde dreimal zehntausend unsterbliche Bewacher der sterblichen Menschen, von Zeus geschickt, die auf Recht und Unrecht achten, in Nebel gehüllt, überall auf der Erde. Aber auch Dike ist da, die junge Frau, die Tochter des Zeus, hoch geachtet bei den Göttern, die den Olymp bewohnen. Und immer wenn jemand sie durch Beugung des Rechts schnöde schmäht und ihr Schaden zufügt, geht sie sogleich zu Zeus, ihrem Vater, dem Sohn des Kronos, setzt sich zu ihm und erzählt ihm von der Gesinnung der ungerechten Menschen, auf dass büße das Volk für die üblen Taten der Könige, die in verbrecherischer Absicht das Recht verdrehen.

Und an anderer Stelle heißt es noch drastischer (220 ff.): Und die Dike schreit auf, wie sie weggeschleppt wird von den geschenkefressenden Männern, die krumme Rechtssprüche verkünden. Sie irrt weinend durch die Stadt und die Stätten der Menschen, in Nebel gehüllt, und bringt Übel den Menschen, die sie vertrieben und das Recht nicht richtig zugeteilt haben.

Zeus bzw. Dike sind also das entscheidende Bindeglied, gewissermaßen die überirdische Relaisstation zwischen Ursachen und Wirkungen, sie sorgen dafür, dass gerechtes und ungerechtes Verhalten entsprechende Konsequenzen auf Erden haben; ohne göttliches Eingreifen bleiben menschliche Taten ohne Folgen. Kehren wir nun zu Solon zurück. Wir haben schon gesehen, dass auch bei ihm Dike als personifiziertes Recht auf dem Plan erscheint. Er steht darin offensichtlich noch durchaus in der archaischen Tradition, wie sie

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bei Hesiod greifbar wird. Solons Dike ist aber nicht mehr die geschändete Tochter des Zeus, die weinend zum Vater eilt und ihn veranlasst, sie auf der Erde zu rächen, sie ist ihrer göttlichen Personalität gewissermassen entkleidet (oder zumindest auf dem Weg dahin, ihre Personalität abzulegen) und zu einem innerweltlichen, abstrakten Prinzip geworden, zur immanenten ” Gerechtigkeit des Geschehens“ 10 sozusagen, wie es Werner Jaeger treffend formuliert hat.11 Dieses Geschehen spielt sich also nicht mehr auf zwei Ebenen ab, sondern nur noch auf einer einzigen: Ursachen und Wirkungen bedürfen zu ihrer Verknüpfung keiner göttlichen Relaisstation mehr, die sich jenseits dieser Ebene befindet. Damit sind die Götter zwar keineswegs völlig aus dem Bereich menschlichen Lebens verbannt: In das Leben der einzelnen Individuen greifen sie weiterhin beliebig ein, und der göttlichen Fügung entkommt, wie der Dichter an anderer Stelle ausdrücklich festhält, niemand (Elegie 1 Diehl, 63 f.): Das Schicksal bringt den einzelnen Sterblichen Schlechtes und Gutes, und unentrinnbar sind die Gaben der unsterblichen Götter.

Solon ist also, wie schon die ersten Aussagen der Eunomie“ deutlich ma” chen, infolge seiner Entdeckungen nicht zum Atheisten geworden. Im Gegenteil: Es ist gerade sein unerschütterlicher Glaube an die Existenz der Götter, an ihre Sorge um Gerechtigkeit und an den besonderen Schutz, den sie Athen garantieren, der ihm die Richtigkeit seiner neuen Konzep10 Jaeger 1926, 329. 11 Vgl. Vlastos, der von der natural, self-regulative order“ spricht (Vlastos 1946, 65). ” Vernant 1962, 86: Mit Solon steigen Dike und Sophrosyne vom Himmel herab und ” lassen sich auf Erden, auf der Agora, nieder.“ Gegen die klare Abgrenzung der Konzeption Solons von den Auffassungen Hesiods, wie sie Jaeger, Vlastos und Vernant vornehmen (vgl. auch Meier 1970, 19 und Stahl 1992, 390 f.), wendet sich, ohne zu überzeugen, Mülke 2002, 95. Kritisch gegenüber der Formulierung von Jaeger auch Seybold / von Ungern-Sternberg 2007, 123, Anm. 162. Eine Art mittlere Position vertritt Blaise 2006, 124 ff.: Einerseits behauptet sie, dass Solon […] ” delimits a sphere of human activity, where human beings are the sole beings responsible for their destiny“ (124), andererseits, um dem Glauben Solons an das fortbestehende Wirken der Götter Rechnung zu tragen, dass er defines a sphere where men have ” some (Hervorhebung vom Verfasser) autonomy“ (126). Eine Verstrickung in solche Widersprüche ist vermeidbar, wenn man annimmt, dass die Götter sich nach Auffassung Solons allein aus dem Bereich des Politischen zurückgezogen haben, in der Sphäre des Individuellen aber weiterhin ihre ungebrochene Wirkung ausüben (vgl. unten Seite 12).

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tion bestätigt. Mit seiner Entdeckung ist aber ein ihren Eingriffen entzogener, aus dem gesamten, Gesellschaft und Natur bislang ungeschieden umfassenden Kosmos heraus gelöster, nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionierender neuer Bereich konstituiert worden: der Bereich, der die Polisgesellschaft als Ganzes umfasste, kurz: der Bereich des Politischen (im ursprünglichen, also griechischen Sinne des Wortes).12 Wo man früher hinter Phänomenen ganz unterschiedlicher Qualität letztlich stets dieselbe wirkende Kraft sah, die Macht der Götter nämlich, werden jetzt natürliche Erscheinungen nicht mehr aus denselben Wurzeln hergeleitet wie soziale und politische Tatbestände, und aus beiden Bereichen haben sich – ähnlich wie bei den etwa gleichzeitig lebenden ersten Naturphilosophen bei der Erklärung des Ursprungs und Wesens der Welt13 – die Götter gewissermaßen zurückgezogen (10 Diehl, 1 ff.): Aus Wolken kommt die Kraft des Schnees und des Hagels, und Donner entsteht aus leuchtendem Blitz, durch große Männer wird die Stadt zerstört […]

Dass die Entdeckung des Politischen eine ganz neue Auffassung von der Rolle der Politen, jetzt grundsätzlich aller und zumal der Angehörigen breiterer Schichten, im Rahmen der Polisgemeinschaft zur Folge hatte (und haben musste), tritt wiederum durch einen Vergleich mit Hesiods Aussagen besonders klar zutage. Die Konsequenzen, die der böotische Dichter aus seiner Vorstellung vom Ablauf des Geschehens gezogen hat, gehen nicht über den beschwörenden, fast verzweifelten Appell an die für die Rechtsprechung zuständigen Adligen hinaus, auf das Recht zu achten (263 ff.): Merkt Euch all das, ihr Könige, fällt gerade Urteile, ihr Geschenkefresser, und verzichtet ganz auf krumme Urteile. Wer einem Andern Schlechtes zufügt, fügt sich selbst Schlechtes zu, ein schlimmer Rat aber ist für den, der ihn gab, am schlimmsten. Das Auge des Zeus sieht alles, es bemerkt, sofern es will, auch dies, und es bleibt ihm auch nicht verborgen, welche Art von Recht in der Stadt herrscht.14 12 Dazu und zu den sich daraus ergebenden Folgerungen vor allem Meier 1970, 20. Vgl. auch Schmid 2005, 99 ff. 13 Vernant 1962, 121–131. Meier 1987, 116 ff. Schmid 2005, 99. 14 Vgl. auch den Appell an seinen Bruder: Du aber, Perses, höre auf das Recht und meide den Frevel: Frevel nämlich bekommt einem einfachen Menschen schlecht, und auch ein Edler ”

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So beeindruckend der letztlich unerschütterliche Glaube an das Recht und seine Wirkungen auch ist – auch wenn sich Zweifel daran nicht gänzlich unterdrücken lassen15 – , es findet sich nicht die geringste Spur einer Vorstellung, die Missachtung dieses Rechts ließe sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus, durch adäquate Aktivitäten ihrer einzelnen Glieder, unterbinden. Es ist bezeichnend für Hesiods Auffassung von den Möglichkeiten, die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, und damit auch von der Rolle der einfachen, nichtadeligen Bürger innerhalb der Polisgemeinschaft, wenn er, offenbar ein Sprichwort seiner Zeit aufgreifend, den Rat erteilt (365): Zu Hause zu bleiben, ist besser; was sich vor der Haustür befindet, bringt Schaden.

Das heißt aber: Man soll sich vom öffentlichen, potentiell politischen Raum also, möglichst fernhalten. Betroffenheit hat hier resignativen Rückzug ins Private, oder besser wohl: Ein noch stärkeres Sich-Abschotten im eigenen οἶκος, auf seinem eigenen Gut, zur Folge. Eine solche Haltung erscheint uns heute als purer Eskapismus. Aber welche anderen Optionen hätten Hesiod aufgrund seiner mentalen Prämissen überhaupt zur Verfügung gestanden? Grundsätzlich andere, neue Möglichkeiten scheinen allerdings auch Solons Überlegungen, trotz der Verbannung der Götter aus dem Raum des Politischen, zunächst nicht zu eröffnen. Was mochte die Entdeckung nützen, dass Ursachen und Wirkungen sich innerhalb eines Bereiches abspielten, in den die Götter nicht eingriffen, wenn die Wirkungen in Form von zwingenden Gesetzmäßigkeiten eintrafen? Solon spricht ja ausdrücklich vom unentrinnbaren Unheil“ (Vers 17), das über die Polis kommt, wenn ” eine bestimmte Entwicklung einmal in Gang war. Und die Ausbeutung der Bauern war ja nicht eine Möglichkeit in der Zukunft, sie war vielmehr bittere Realität, eine Realität, die dem Dichter überhaupt erst den Anstoß zu seinen Reflexionen gegeben hatte; das erste Glied innerhalb jener Kausalitätskette, die nur in der totalen Katastrophe enden konnte, war mithin bereits unübersehbar vorhanden. Was konnten die Athener angesichts die-

kann ihn nicht leicht ertragen und trägt schwer an seiner Last, wenn er ins Unglück gerät. Den anderen Weg zu wählen ist besser, denjenigen der Gerechtigkeit. Das Recht setzt sich letztlich über den Frevel durch.“ (213–218) 15 Jetzt allerdings möchte ich selbst noch mein Sohn gerecht sein unter den Menschen, denn ” es ist schlimm, gerecht zu sein, wenn der Ungerechte mehr Recht bekommt.“ (270)

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ser Tatsache also anderes tun, als ohnmächtig und dem Schicksal ergeben den Lauf der Dinge hinzunehmen? So paradox es zunächst auch erscheinen mag: Für Solon war es gerade die Einsicht in die Unvermeidlichkeit der Katastrophe, die es möglich machte, deren Eintreten zu verhindern. Der vermeintliche Widerspruch lässt sich auflösen: Der Prozess, der von Solon beschrieben wird, ist ja erst zum Teil abgelaufen, seine Fortsetzung wird vom Dichter lediglich als Prognose formuliert, die erst und nur unter bestimmten Bedingungen eintreten wird – wenn nämlich nichts unternommen wird, um ihn abzubrechen. Und Solons feste Überzeugung war offenbar, dass der unheilvollen Entwicklung noch Einhalt geboten werden konnte. Die Stadt ließ sich aus dem Zustand der Dysnomie, einem Zustand, in dem es um den Nomos, das Recht, schlecht bestellt ist, einem Zustand der Unordnung, wieder in einen der Eunomie, einen Zustand, in dem es um die Ordnung gut bestellt ist, überführen (ein Zustand, der vom Dichter 30 ff. in geradezu pathetischen Worten beschrieben wird), und zwar durch die Bürger selbst. Wie die Stadt, für alle einsichtig und nachvollziehbar, durch das Fehlverhalten der Bürger und ohne jede göttliche Einwirkung, in den Zustand der Dysnomie geriet, lag es jetzt auch an ihnen, und an ihnen allein, die gute Ordnung wiederherzustellen. Zwangsläufig war in seinen Augen also der Untergang Athens nur, wenn ein bestimmter Punkt innerhalb der Entwicklung erreicht war, eine Gabelung, hinter der erst eine Umkehr unmöglich war: So weit aber waren die Dinge glücklicherweise noch nicht gediehen. Die eigentlich bedeutende, so folgenreiche Entdeckung Solons ist also weniger die an sich unerfreuliche Gesetzmäßigkeit des Geschehens, sondern vielmehr die aus deren Erkenntnis resultierende, höchst erfreuliche Möglichkeit der Menschen, in diesen Vorgang einzugreifen und damit die Sache doch noch zu einem guten Ende zu bringen. In dieser neuen Möglichkeit des Handelns, die mithilfe einer in dieser Tiefe vorher, so weit wir sehen, noch nie gelungenen Diagnose politisch-sozialer Zusammenhänge gewonnen ist, liegt der gegenüber Hesiods Auffassungen entscheidende Fortschritt der solonischen Konzeption für die politische Praxis: Jetzt war ein Ansatzpunkt da, von dem her die traditionelle Passivität breiterer Bevölkerungsschichten überwunden werden konnte. Politische, auf die Polis und ihre Zukunft gerichtete Aktivität wird durch Solons Konzeption aber nicht nur ermöglicht, sie wird vielmehr, jedenfalls in bestimmten Situationen, für jeden einzelnen Polisangehörigen zur Notwendigkeit, wenn er überleben will. Ein Rückzug in den

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privaten Bereich, wie ihn Hesiod noch empfiehlt, entpuppt sich jetzt als reine Torheit: Weil der Einzelne auf das, was in der Gemeinde geschieht, aufgrund der neuen Erkenntnisse anders als zuvor Einfluss nehmen kann, die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber bestimmten Vorgängen innerhalb des Gemeinwesens also widerlegt ist, muss er, in seinem ureigenen Interesse, auch aktiv werden. Und wenn der Dichter schließlich durchblicken lässt, dass derjenige, der im Bedarfsfall nicht sein Haus verlässt, um sich im öffentlichen Bereich zu engagieren, gegen geheiligte Normen menschlichen Zusammenlebens verstößt, setzt er politische Aktivität unter ein ethisches Vorzeichen. Damit aber war die Idee der bürgerlichen Verantwortung im mehrfachen Sinne des Wortes entstanden: Politische Partizipation ist dank Solons Entdeckung nicht nur überhaupt erst möglich und legitim, sie wird zur Notwendigkeit und geradezu zu einem moralischen Gebot. Wie sehr Solon die Wahrnehmung der neu entdeckten Verantwortung am Herzen lag, bezeugen verschiedene Bestimmungen seines umfassenden gesetzgeberischen Werks, mit dem er seine Vorstellungen von Eunomie“ ” zu realisieren und auf Dauer zu stellen hoffte.16 Vielleicht am eindrücklichsten zeigt sich dieses Bestreben in der Einführung der sogenannten Popularklage.17 Es handelt sich dabei um die jedem einzelnen Bürger zustehende Möglichkeit, bestimmte Rechtsverletzungen vor Gericht zu bringen, auch wenn er selbst vom Gegenstand der Klage gar nicht unmittelbar betroffen war. Zu diesen Rechtsverletzungen gehörten insbesondere Vergehen gegenüber solchen Polisangehörigen, die nicht in der Lage oder willens waren, sich selbst Recht zu verschaffen, z. B. Erbtöchter oder Waisen.18 Der Sinn dieses Gesetzes kann es aber nicht allein gewesen sein, denjenigen innerhalb der Polisgemeinschaft, die ihr Recht nicht geltend machen konnten, beizustehen: In der Durchsetzung des Rechts aller Polisangehörigen sah Solon offensichtlich eine grundlegende Voraussetzung eines geordneten Gemeinwesens.19 Und die neue Bestimmung sollte – das musste der eigentliche Sinn des Gesetzes sein – den Bürgern nicht nur eine neue Möglichkeit eröffnen, sich in ihrem urei16 Zu den Reformen Solons ausführlich Welwei 1992, 161–206. Zuletzt ders., 2011, 140–153. Vgl. auch die Beiträge in Blok / Lardinois. Seybold / von UngernSternberg 2007, 104–116. 17 Ruschenbusch 1966, F 40a–b. Dazu zuletzt Schmitz 2004, 233–248. 18 Ruschenbusch 1968, 47 ff. 19 Vgl. Schmitz 2004, 246., der diesen Aspekt gegenüber Ruschenbusch zu Recht betont.

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genen Interesse für Andere, Schwächere innerhalb der Gemeinschaft einzusetzen, sondern ein Eingreifen in solchen Situationen geradezu zu einer Verpflichtung machen.20 Plutarch hat diese Intentionen des Gesetzgebers später auf die treffende Formel gebracht, er habe die Bürger daran gewöhnen wollen, sich gleichsam als Teile eines Körpers zu fühlen und miteinander ” zu leiden“ 21 . Als weiteres Beispiel für Solons Intention, mit gesetzgeberischen Mitteln die Rezeption seiner neuen Idee in der Bürgerschaft zu fördern, bietet sich das berühmte Stasis-Gesetz an. Danach sollte, wer im Falle einer στάσις, einer Kontroverse innerhalb der Polis, die deren gesamte Ordnung betraf und in eine mit Waffen ausgetragene Auseinandersetzung zu münden drohte (gedacht wurde wohl vor allem an den Versuch einzelner Adliger, über die Einsetzung in das wichtigste Amt oder gar durch Errichtung einer Tyrannis die Macht in der Stadt zu erringen), nicht Stellung zugunsten der einen oder anderen Seite bezog, ἄτιμος, ehrlos“ , sein, d. h. ” von öffentlichen und sakralen Plätzen und damit letztlich aus der Bürgerschaft ausgeschlossen werden. Diese Bestimmung hat schon in der Antike Verwunderung oder gar Befremden ausgelöst. Vor allem die Frage, wie sich der Gesetzgeber ihre konkrete Umsetzung vorgestellt hat, ist nicht leicht zu beantworten: War Solon der Meinung, eine von allen Bürgern erfolgte Parteinahme führe in einer solchen Situation zu derart klaren Verhältnissen zugunsten der einen Seite, dass sich die andere überzeugen ließ, auf die gewaltsame Durchsetzung ihrer Vorstellungen zu verzichten? Ließen sich die angedrohten Strafmaßnahmen im gegebenen Fall überhaupt durchführen? Oder sollte die bloße Androhung eines gesetzlich erzwungenen Positionsbezugs der ganzen Bürgerschaft allfällige Akteure davon abhalten, einen politischen Konflikt mit Waffengewalt auszutragen? Auch wenn sich Genaueres darüber nicht mehr ausmachen lässt, ist doch der Zweck dieser Bestimmung evident: Er kann nur darin bestanden haben, das Gros der Bürgerschaft, vor allem die nicht direkt involvierten Angehörigen breiterer Schichten, die schweigende Mehrheit“ , wenn es die Situation erforderte, ” 20 Vgl. Spahn 1977, 143 f., der zwar ein Bedürfnis nach einem solchen Gesetz nicht bestreitet, aber – wohl nicht zu Unrecht – vermutet, dass angesichts der sozialen und ökonomischen Abhängigkeit und der noch dominierenden, vorpolitischen Mentalität eines großen Teils der Bürgerschaft zunächst kaum ein großes Interesse potentieller Kläger an seiner Anwendung existiert hat. Daraus folgert er: Das in ” diesem solonischen Gesetz garantierte Recht hatte also vor allem einen verpflichtenden und erzieherischen Charakter.“ (143). 21 Plutarch, Solon 18,6

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dazu zu bringen, aus der Passivität herauszutreten und sich für das Wohlergehen der Gesamtheit zu engagieren.22 Ruhe war nach Solons Auffassung augenscheinlich gerade nicht des Bürgers erste Pflicht! Die neue Auffassung von der Rolle des Einzelnen im Gemeinwesen zeigt sich schließlich in der Schaffung des Rats der 400, der Angehörigen breiterer Schichten offen stand und offensichtlich als ein Gegengewicht zum Adelsrat des Areopags gedacht war, und in der Einrichtung eines neuen Gerichtshofs, der Heliaia, in dem ebenfalls Nichtadlige Einsitz nehmen konnten, und, um von weiteren Indizien abzusehen, auch in der Erweiterung des Kreises derjenigen, die künftig für ein öffentliches Amt qualifiziert sein sollten: Es sollten auch diejenigen ein Amt bekleiden dürfen, die sich aufgrund ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit – was damals bedeutete: auf Grund eines gewissen Grundbesitzes – im Kriegsfall selbst equipieren konnten. Damit aber sollten Angehörige breiterer

22 Ruschenbusch 1966, F 38a–g. Die Authentizität dieses Gesetzes ist, wie diejenige so mancher anderer Verfügungen Solons, umstritten. Dazu zuletzt Schmitz 2011, der ausführlich auf die Forschungsgeschichte eingeht und die Einwände, die gegen eine Autorschaft Solons vorgebracht worden sind, überzeugend entkräftet. Seinen Ausführungen kann ich über weite Strecken zustimmen – bis auf seine Auffassung, die Adressaten des Gesetzes seien die Mitglieder des obersten Gerichtshofs, des Areopags, gewesen, der damals für Verfahren gegen Leute zuständig gewesen sei, die die Ordnung der Polis bedrohten. Dabei stützt er sich allein auf den Kontext, in dem die zwei wichtigsten antiken Belege für das Gesetz – Aristoteles, Verfassung der Athener 8, 5 und Plutarch, Solon 20, 1 – stehen sollen (Schmitz 2011, 43 ff.). Gewiss ist in beiden Quellen vor der Erwähnung des Gesetzes – auch – vom Areopag die Rede. Bei Plutarch sehe ich aber keinen direkten Zusammenhang zwischen Kap. 19 und 20, und bei Aristoteles ist er jedenfalls nicht derart evident, dass die Folgerung von Schmitz zwingend wäre. Wenn es sich bei den Adressaten um einen eingeschränkten Kreis gehandelt hat: Wieso wird dieser nirgends explizit genannt? Oder warum – im Falle des Aristoteles – sollen nicht (auch) die Mitglieder des ebenfalls kurz vorher erwähnten Rats der 400 gemeint sein? Gegen einen breiteren Adressatenkreis – eben grundsätzlich alle Bürger – sprechen meines Erachtens auch nicht die Erwägungen, die Schmitz im Zusammenhang mit der Volksversammlung anstellt. Plausibler scheint mir immer noch die Deutung dieses Gesetzes als eines, in die Zeit und die Umstände solonischen Wirkens hervorragend passenden, wenn auch eher verzweifelten als restlos durchdachten Versuchs, im Extremfall (und wohl nur in einem solchen) – ob in einer Volksversammlung oder vielleicht auch außerhalb und mit welchen Mitteln auch immer – im Interesse der Gesamtheit die ganze Bürgerschaft gegen zum Kampf entschlossene Parteien zu mobilisieren (vgl. Spahn 1977, 153 f. Meier 1980, 209, Anm. 181).

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Schichten stärker als bislang in die Verantwortung für das Gemeinwesen miteinbezogen werden.23 Darf Solon als πρῶτος εὑρητής, als Erfinder oder Entdecker bürgerlicher Verantwortung bezeichnet werden? Auch wenn die Tatsache, dass wir sie erstmals und in dieser Form ausschließlich in seinem Werk fassen können, eine bejahende Antwort auf diese Frage nahelegt, lässt sie sich angesichts der notorischen Dürftigkeit unserer Quellen für jene Epoche und bei Berücksichtigung des Zufalls der Überlieferung nicht sicher beantworten. Es spricht vieles dafür, dass ähnliche Vorstellungen gleichzeitig oder gar etwas früher – und möglicherweise auch unabhängig voneinander – in verschiedenen Regionen der griechischen Welt aufkamen.24 Dass es sich dabei jedenfalls um ein genuin griechisches Phänomen handelt, das anderswo keine Parallelen hat, zeigt ein Vergleich mit anderen frühen Zivilisationen. Die folgende Skizze mag zugleich den Blick für die griechische Besonderheit schärfen und auf der Suche nach einer Erklärung dafür hilfreich sein. Wenn wir uns zunächst dem alten Ägypten zuwenden, geschieht dies aus den gleichen Überlegungen heraus, die schon den griechischen Historiker Herodot dazu geführt haben, die Sitten und Bräuche seines Volkes besonders ausführlich mit denjenigen der uralten Hochkultur am Nil zu vergleichen: Zum einen der traditionelle und intensive Kontakt beider Völker und die daraus entstandene vergleichsweise gute Kenntnis des Anderen, dann aber vor allem die Tatsache, dass Ägypten, aufs Ganze gesehen, die klarste Antithese zu Griechenland darstellt. Dies gilt auch und gerade für die hier zur Debatte stehende Thematik. Auch das politische Denken der alten Ägypter ist von der Frage nach der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung einer guten gesellschaftlichen Ordnung dominiert.25 Die Vorstellung von dieser Ordnung unter23 Dazu zuletzt Welwei 2011, 148–153. Welwei 1992, 180–191. Vgl. Seybold / von Ungern-Sternberg 2007, 115 f. 24 In der antiken Überlieferung ist in diesem Zusammenhang oft von Sieben Wei” sen“ die Rede (zu denen auch Solon gezählt hat). Schon Heuss 1946, 96 ff. hat auf die wichtige Rolle Delphis bei der griechischen Soziogenese hingewiesen und in diesem Zusammenhang den Begriff der freien Intelligenz“ verwendet. Zur ” Bedeutung dieser unabhängigen, eine dritte Position“ einnehmenden Denker in ” diesem Prozess vgl. besonders Meier 1987, 106 ff. Vielleicht haben auch, wie Meier 1980, 403 erwägt, in Solons Konzeption in für uns nicht bekannter Weise ” Gedanken verschiedener Zeitgenossen kulminiert.“ 25 Vgl. zum Folgenden besonders Frankfort 1948; Morenz 1965, 41–55; Assmann 1990; Blumenthal 2002; Bickel 2006.

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schied sich aber bei allen Differenzen im Einzelnen und bei allen Veränderungen, denen sie im Lauf der Geschichte unterworfen war, in den wesentlichsten und in unserem Zusammenhang relevanten Zügen nicht von derjenigen vieler archaischer, überall auf der Welt unabhängig voneinander existierender Kulturen, die man als kosmologische Gesellschaften“ ” bezeichnen kann: Die menschliche Gesellschaft wird, wie wir es bereits bei Hesiod kennengelernt haben, nicht als ein autonomer Bereich begriffen, sie wird vielmehr als Teil eines sie selbst und die Natur umfassenden, mit diesem unauflöslich verbundenen Kosmos“ verstanden, der in seiner Ge” schlossenheit als Manifestation des Göttlichen betrachtet wird.26

26 Der Begriff ist von Eric Voegelin geprägt worden (eine knappe Definition bei Voegelin 1990, 58: Gesellschaften werden von ihm cosmological societies“ genannt, ” because their understanding of order is dominated by the primary experience of cosmos.“ ) ” und hat sich mittlerweile in den Kultur- und Sozialwissenschaften etabliert (vgl. etwa Parsons 1966, 85 f.). Voegelin sieht diese Gesellschaftsform vor allem in den großflächigen, von mächtigen Monarchen regierten Reichen des Nahen und Fernen Ostens (Ägypten, Mesopotamien, China unter der Chou-Dynastie: 1956, 55–156) realisiert und spricht deshalb oft von cosmological empires“ (z. B. 1956, ” 21). Der Typus des cosmological myth“ (Voegelin 1956, 51) ist aber als typical ” ” phenomenon in the history of mankind“ (52) universal verbreitet und findet sich, wie es die Dichtung Hesiods und auch die homerischen Epen erkennen lassen (vgl. Eliade 1953,107. Schmid 2005, 44, Anm. 51, wo die Angabe Od. 19, 509–14 zu korrigieren ist in: Od. 19, 108–13), auch in kleineren, nicht-monarchischen Gesellschaften (handelt es sich im Falle Griechenlands um mykenische Relikte, die sich noch bis in die archaische Epoche hinein zu halten vermochten? Vgl. Vernant 1962, 114). Voegelins Auffassung von der Kompaktheit“ der kosmischen ” Ordnung und der Nichteigenständigkeit oder Nichtausdifferenziertheit des Politischen“ ” in archaischen Gesellschaften sind in jüngerer Zeit wieder verschiedentlich aufgenommen und fruchtbar gemacht worden, u. a. von Assmann (1990, 29 ff. Ders., 2000, 103 ff.), Opitz (2000, 243 ff.) und Schmid (2005, 65 ff.). Vgl. auch die von Eisenstadt edierten Sammelbände von 1987 und 1992, deren Beiträge die Voraussetzungen, Modalitäten und Konsequenzen der Überwindung dieses Ordnungstypus thematisieren (vgl. Voegelin: 1987b, 11).

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Diese allumfassende, von den Ägyptern als Ma’at“ 27 bezeichnete kos” mische Ordnung, die immer wieder von Unordnung, Isfet“ , bedroht oder ” temporär gar außer Kraft gesetzt war, aufrecht zu erhalten oder gegebenenfalls zu erneuern, war eine übermenschliche Aufgabe, eine Aufgabe, die letztlich nur mihilfe göttlicher Kräfte zu lösen war. Die Instanz, die nach altägyptischer Auffassung dafür zuständig und dazu alleine in der Lage war, war der König, der Pharao, der als Sohn des Schöpfer- und Sonnengottes (und zugleich als Sohn jedes Gottes und jeder Göttin28 ) göttlicher Natur war29 . Ein Hymnus aus dem Neuen Reich anlässlich der Thronbesteigung eines neuen Königs, die nach ägyptischer Auffassung stets das Ende einer durch den Tod seines Vorgängers verursachte Unordnung bedeutete und nach Jan Assmann ein kosmopoietischer Akt“ 30 war, mag diese Rolle bei” spielhaft verdeutlichen: Freue Dich, du ganzes Land! Die gute Zeit ist gekommen. Ein Herr – er lebe, sei heil und gesund – ist erschienen in allen Ländern, Ma’at ist an ihren Platz zurückgekehrt. Ihr gerechten Alle, kommt und schaut: Ma’at hat das Unrecht bezwungen! Die Bösen sind auf das Gesicht gefallen, die Habgierigen sind allesamt verachtet. Das Wasser steht und versiegt nicht, 27 Dazu grundlegend Assmann 1990. Fadingers These (Fadinger 1996), Solons Eunomia-Konzept sei in wesentlichen Punkten eine Entlehnung aus Ägypten, ja, ,Eunomia‘ sei geradezu die griechische Übersetzung von ,Ma’at‘ (202), scheint mir wenig wahrscheinlich. Vgl. die berechtigten Einwände bei Barta 2006, 429 f. Seybold / von Ungern-Sternberg 2007, 126. Plausibler ist meines Erachtens eine indirekte Beeinflussung, auf welchen Wegen auch immer, durch nicht näher lokalisierbare orientalische Vorstellungen im Rahmen der ostmediterranen Koine (vgl. Seybold / von Ungern-Sternberg 1993, 70 ff.). Zu Recht betont Fadinger allerdings den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Konzeptionen: Die Einsicht und Überzeugung Solons, dass es zur Realisierung der Gerechtigkeitsidee keiner über der Gemeinschaft der Bürger stehenden Instanz bedarf (207 ff., besonders 209). 28 Blumenthal 2002, 57. Bickel 2006, 89. 29 Wilson 1946, 80 ff. Frankfort 1948. 51. Morenz 1965, 40 ff. Assmann 1990, 200 ff. Ders., 200, 32. Bickel 2006, 82 ff. Blumenthal (2002), 53 ff. deren Differenzierung – sie behauptet, dass nach den Quellen der Pharao gottähnlich, aber nicht Gott war – in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung ist, zumal sie betont, dass er zu der Sphäre der Götter gehörte und sich dadurch kategorial von den Menschen ” unterschied“ (53). 30 Assmann 1990, 221.

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die Überschwemmung steigt hoch. Die Tage sind lang, die Nächte haben Stunden, der Mond kommt zur rechten Zeit.31

Der Pharao war aufgrund dieser überragenden Rolle der einzige Bezugspunkt jeder Art von öffentlichem, d. h. auf die ganze Gesellschaft bezogenem Handeln, er besaß das Monopol auf diesem Feld, alle wesentlichen Aktionen innerhalb der ägyptischen Gesellschaft gingen von ihm aus, er war ihr alleiniger Repräsentant. Es ist nur folgerichtig, dass sich in der ägyptischen Sprache kein Äquivalent für unseren Begriff Staat“ findet, ” sondern in diesem Zusammenhang einfach vom König“ oder Königtum“ ” ” die Rede ist.32 Neben den alles bestimmenden Aktivitäten des Monarchen konnte es keinen Raum für ein eigenständiges, auf das Ganze der Gesellschaft ausgerichtetes Handeln anderer Individuen geben. In einer solchen Ordnungskonzeption ist aber eine wie auch immer geartete Dissoziation der Verantwortung unvorstellbar: Sie bleibt ganz in der Person des Königs konzentriert.33

31 Zitiert nach Assmann 1990, 221. 32 Morenz 1965, 43. Bickel 2006, 84. 33 Bei allen Unterschieden im Detail unterscheiden sich die Ordnungskonzeptionen Mesopotamiens nicht grundlegend von denjenigen Ägyptens: Sie gehören demselben Typus des cosmological myth“ (Voegelin 1956, 51. 102) an und gründen auf ” derselben Idee einer Homologie von Kosmos und Gesellschaft“ , einer Weltordnung“ ” ” (Assmann 1990, 31), die ohne eine göttliche oder gottähnliche monarchische Instanz nicht aufrecht erhalten werden kann. Vgl. dazu besonders Jacobsen 1946, 200–216. Maul 2002. Sallaberger 2002. Wilcke 2002, der u. a. aus einem Hymnus des 3. Jahrtausends v. Chr. auf Sulgi von Ur zitiert, in dem es heißt, dass das Erscheinen eines neuen Königs nicht nur Gerechtigkeit in der Gesellschaft, sondern ebenso Gedeihen in der Natur bewirkt: […] Im festgegründeten Bergland, auf der ” weiten Erde, / als dem Lande Überfluss ganz nahe war, / ließ der Himmel bis auf die Erde herab seine Zitzen hängen. / Wie das Meer erhoben sich (die Wasser) da in ihrer alles niederwälzenden Woge. / Als gewaltige Matte fiel der Tag des Überflusses auf die Erde. / Überfluss und Frühjahresflut hat er das Tor geöffnet. / Himmel und Erde schrien zugleich, / als das Bergland daraufhin reine Pflanzen wachsen ließ und / die Steppe überall für die im Überfluss sprießenden Kräuter die Erde öffnete und / das Getier und die Rinder und Schafe des Gebirges damit heranzog.“ (75 f.). Zur universalen Verbreitung dieses Typus von Ordnungsvorstellung: Voegelin 1956, 53. Mousnier 1989, besonders 62 ff. Schmid 2005, 65 ff., der die enge Verknüpfung dieser Ordnungsvorstellung mit dem Königtum betont und diesen Typus geradezu als bedingend für den kompakten Königsmythos“ (73) betrachtet. ”

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Die Ähnlichkeit der ägyptischen Ordnungskonzeption mit derjenigen Hesiods, jedenfalls was den Handlungsspielraum des Menschen innerhalb dieses Gesamtgefüges betrifft, legt im Vergleich mit der Konzeption Solons die Vermutung nahe, die Überwindung jenes kosmologischen Denkens und die Konstituierung eines eigenen, aus dem gesamten Kosmos heraus gelösten, nicht mehr von göttlichen Kräften beeinflussten und eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Bereichs sei die entscheidende Voraussetzung für die Entdeckung bürgerlicher Verantwortung gewesen: Wenn und wo es gelang, eine Dimension des Weltlich-Sozialen zu kreieren, in dem Ereignisse und Abläufe göttlichem Einwirken entzogen waren, scheinen neue Möglichkeiten des Handelns und Gestaltens auch und gerade von Angehörigen breiterer Schichten innerhalb dieser Dimension nicht nur denkbar geworden, eine ganz neue Auffassung von der Rolle der einzelnen Glieder der Gesellschaft scheint geradezu eine zwangsläufige Folge eines solchen geistigen Durchbruchs gewesen zu sein. Es ist nun mit Recht schon verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Griechen nicht die einzigen waren, die jenen verbreiteten, im alten Ägypten besonders gut beobachtbaren Typus der Seinserfahrung zu überwinden vermochten. Auch im alten China kam es im Verlauf einer langen und tiefgreifenden Krise zu neuen, von den traditionellen Auffassungen deutlich abweichenden Auffassungen über den Menschen und seine Stellung in der Welt.34 Während die frühen chinesischen Ordnungsvorstellungen sich im Wesentlichen nicht von jenen aus dem Pharaonenreich und von anderswo bekannten kosmologischen Konzeptionen unterschieden,35 wurden diese im Zuge gewichtiger politischer Veränderungen, dem Machtverfall der seit ungefähr 1100 v. Chr. regierenden Chou-Dynastie und dem damit verbundenen Erstarken der Randstaaten etwa seit der Mitte des achten Jahrhunderts, sowie mit den damit einhergehenden sozialen und mentalen Erschütterungen immer stärker differenziert und so stark verändert, dass man diesen Vorgang ebenfalls als Durchbruch bezeichnet hat.36 In 34 Vgl. zum Folgenden vor allem: Opitz 1968a und 2000. Eisenstadt 1987d und 1992. Elvin 1987. Roetz 1992. Bauer 2009. Weber-Schäfer 1968. Paul 2010. 35 Opitz 1968b, 10 f. Ders. 2000, 244. Weber-Schäfer 1968, 21. 36 Voegelin 1956, 101, nach dessen Auffassung der Riss in China nicht so tief war wie in Griechenland. Ähnlich Eisenstadt 1987d, 95. Weber-Schäfer 1968, 25 ( unvollständiger Durchbruch“ ). Opitz 1968b, 13 f. Ders. 2000, 248 f. Kritisch zur ” Verwendung des Terminus transzendentaler Durchbruch“ (Eisenstadt) für China: ” Elvin 1987, 175. Roetz 1992, 40. 363 ff. 426 ff. (kritisch auch zu Weber-Schäfer).

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der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts, also einige Jahrzehnte nach Solons Wirken in Athen, begann mit dem Auftreten des Konfuzius jene ca. dreihundert Jahre andauernde Blütezeit chinesischen Denkens, die als Zeit der Hundert Meister“ bekannt geworden und in ihrer Vielfalt und ” Fruchtbarkeit in der Geschichte Chinas bislang unerreicht geblieben ist.37 Bei Konfuzius ist erstmals im chinesischen Denken eine aus früheren Ansätzen heraus entwickelte Ordnungskonzeption greifbar, die die Welt der Menschen als eine besondere, von der Natur und von der Welt des Numinosen in gewisser Weise heraus gelöste Sphäre ins Zentrum der Betrachtungen rückt.38 Die Verdrängung oder das Zurücktreten des Göttlichen, von Wolfgang Bauer als bewusste Ablösung von der Geisterwelt bezeichnet, die den Menschen (und zwar im Prinzip jeden Menschen) erhöht und ihm einen naturgegebenen Adel verliehen habe,39 hebt die konfuzianischen Vorstellungen von kosmologischen Ordnungskonzeptionen ab und rückt sie in die Nähe der solonischen Auffassungen. Sowohl in Griechenland wie in China ist es anscheinend gelungen, eine geistige Autonomie des Menschen zu begründen, die im Vorderen Orient unbekannt blieb.40 Und hier wie dort scheint sie unter den damaligen Umständen nur auf dem Weg einer wie immer gearteten Einschränkung der traditionellen göttlichen Omnipräsenz bzw. einer Eindämmung numinoser Einwirkung möglich geworden zu sein. Dieser Vorgang lässt sich im chinesischen Denken besonders gut an der Umdeutung des ursprünglichen Himmelsbegriffs erkennen. Der Himmel (tian), ursprünglich als anthropomorphe Gottheit aufgefasst, verlor im Lauf der Zeit diesen Charakter immer mehr und wurde zu einem amorphen obersten Prinzip41 oder gar zu einer bloßen Metapher.42 Heiner Roetz

37 Roetz 1992, 60 ff. Opitz 1968d, 8. Ders. 2000, 53 ff. Bauer 2009, 51 ff. 38 Weber-Schäfer 1968, 25. Opitz 1968, 13. Bauer 2009, 57 ff., der als eigentlich schöpferische Leistung des Konfuzius die Entdeckung der Menschlichkeit“ (ren) ” bezeichnet (57). Vgl. dazu Roetz 1992, 195 ff. Paul 2010, 53 ff. Eisenstadt 1987d, 95 spricht davon, dass die Chinesen die Diesseitigkeit bei der Betrachtung der irdischen ” Welt betonten“ . Ders 1992, 11 ff. Vgl. Elvin 1987, 142. Paul 2010, 25. Van Ess 2009, 20. Roetz 1992, 311 ff. 39 Bauer 2009, 58. 40 Voegelin 1956, 101. Opitz 1968b, 14. Roetz 1992, 418 ff. 41 Elvin 1987, 174. 42 Paul 2010, 42. Vgl. auch Opitz 2000, 39 (allmähliche Umwandlung des ursprünglich anthropomorphen Himmels in eine ,natürliche‘ Macht.) Vgl. ders. 2000, 77 ( Zurücktreten der kosmischen Dimension“ , allerdings mit späterer, wenig einleuch”

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hat in diesem Zusammenhang von einem Dignitätsverlust des Himmels“ 43 ” gesprochen. Das Neue im Lunyu, der von Konfuziusschülern zusammengestellten Sammlung von Aussprüchen des Meisters, dem wir die wichtigsten Informationen über dessen Denken verdanken, das, was die Originalität des historischen Konfuzius ausmacht, sieht Gregor Paul neben seiner Konzeption von Menschlichkeit“ (ren) als höchstem Ziel und Mittel einer ” idealen Welt in der Abschwächung oder gar Negierung der religiösen Bedeutung ” der traditionellen Himmelskonzepte, der Infragestellung ihrer Relevanz für die Gestaltung der Welt bzw. der Betonung der Eigenverantwortlichkeit des Menschen“ .44 Und für Peter Opitz ist klar, dass Konfuzius in keinem seiner Gespräche den ” Himmel als eine Macht darstellt, die den Lauf der Geschichte, das Schicksal der Gesellschaft oder das Handeln des Menschen in irgendeiner bemerkenswerten Weise beeinflusst.“ 45 Der Mensch wird nicht mehr bloß als Spielball göttlicher Mächte betrachtet, die Schuld des Menschen am innerweltlichen Geschehen, aber auch seine Handlungsfähigkeit werden betont. Und diese von Konfuzius noch einigermaßen vorsichtig formulierten Vorstellungen sind später konsequent weitergedacht worden. Einer seiner bedeutendsten Nachfolger, der im dritten Jahrhundert wirkende Xunzi46 , scheint das traditionelle Ordnungsdenken endgültig überwunden zu haben: Order and chaos ” are not due to heaven“ heißt es bei ihm lapidar.47 Und Gregor Paul meint im Hinblick auf die Bedeutung dieser Auffassung: Mit seiner klaren Tren” nung naturgesetzlicher und politisch-sozialer Welt eröffnete oder stärkte Xunzi das Wissen um die Möglichkeiten des Menschen, sein Leben, Gesellschaft und Staat selbst zu gestalten. An die Stelle von Hoffnung und Furcht, des Glaubens an die Abhängigkeit von der Macht des ,Himmels‘, von Göttern und Geistern konnte das Bewusstsein treten, selbst Herr des eigenen Schicksals zu sein. Das Xunzi [gemeint ist hier das Werk des Autors] trug damit wie kaum ein anderes Werk in der Geschichte Chinas zur sogenannten Entmythologisierung bei.“ 48 Die Nähe oder gar Äquivalenz zu Solons Entdeckung des Politischen als eigenem, nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und ohne göttliche Einwir-

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tender Relativierung: 80, vgl. 9 ff. Siehe auch Anm. 46). Roetz 1992, 312. Black 2009, 97 f. Roetz 1992, 63. Paul 2010, 40 f. Opitz 1968, 67. Dazu jetzt: Bauer 2009, 103–108. Paul 2010 81–88. Xunzi 17, 4 (Übersetzung von John Knoblock) Paul 2010, 85

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kung funktionierenden Bereich und der damit gegebenen Möglichkeit für die Bürger, auf das, was in diesem Bereich geschieht, wesentlichen Einfluss zu nehmen, ist evident. Muss folglich die anfänglich aufgestellte These, die Entdeckung der bürgerlichen Verantwortung sei ein genuin griechisches Phänomen, nicht revidiert werden? Was auf den ersten Blick fast unausweichlich erscheinen mag, erweist sich bei einer näheren Betrachtung als unbegründet. In welchen Bereichen und in welchem Ausmaß auch immer die Konzeptionen des Konfuzius und des Xunzi die Möglichkeiten menschlichen Handelns und Gestaltens erweitert haben mögen, es fällt rasch auf, dass der politisch-soziale Raum davon kaum oder gar nicht betroffen war. Auf jeden Fall hat keiner von beiden auch nur im Entferntesten an das gedacht, was Solon mit seinem Konzept ermöglicht und gerade intendiert hat: An die Mitwirkung von Angehörigen breiterer Schichten bei der Regelung der Angelegenheiten, die das Gemeinwesen und damit alle Bürger betrafen. Ganz im Gegenteil: Die überragende Rolle des Herrschers und seine letztlich kaum eingeschränkte Zuständigkeit in politicis wird bei Konfuzius und bei Xunzi nicht einmal ansatzweise hinterfragt. Und diese Feststellung gilt auch für alle anderen uns bekannten chinesischen Ordnungsspekulationen. Selbst jener Autor, bei dem man vielleicht noch am ehesten eine von der communis opinio divergierende Meinung erwarten könnte, bildet darin keine Ausnahme: Mo Di, der um die Wende des fünften zum vierten Jahrhundert lebte.49 Es ist kein Zufall, dass Mo Di nach seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert zunächst von christlichen Missionaren zu einem ProtoChristen gemacht und anschließend als Vorläufer des Sozialismus gefeiert wurde. In seinem Konzept von der allumfassenden Liebe“ (jen ai) war ” zumindest die Möglichkeit angelegt, die traditionell hierarchische Sozialstruktur aufzubrechen und eine wie auch immer geartete Gleichheit aller Glieder der Gesellschaft zu realisieren. Wohin auch immer diese Gleichheitsidee aber tendierte, im politischen Bereich war sie für Mo Di offenbar kein Thema: Auch bei ihm war es letztlich der Kaiser, der für den Zustand der Gesellschaft verantwortlich war. Auch Mo Di und seine Schüler gingen nicht über jene Vorstellung hinaus, die sich im Laufe der Jahrhunderte als Legitimationstheorie kaiserlicher Herrschaft herausgebildet hatte. Diese besagte, dass der Kaiser, der Sohn des Himmels“ (tianzi), seine Herrschaft vom Himmel erhielt und ” 49 Dazu jetzt: Bauer 2009, 64–75.

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seinen Anspruch darauf verwirkte, wenn er nicht in der Lage war, die Ordnung aufrecht zu erhalten. In diesem Fall konnte ihm dieses Man” dat des Himmels“ (tianming) durch das Volk entzogen werden, das in einer solchen Situation im Namen des Himmels agierte.50 Dem Volk war also zwar in einem wichtigen Zusammenhang Verantwortung und eine aktive Rolle zugedacht; die Tatsache aber, dass seine Aufgabe dann lediglich darin bestand, einen neuen Herrscher einzusetzen, macht zugleich die engen Grenzen dieser Zuständigkeit und damit auch den Abstand zur griechischen Idee bürgerlicher Verantwortung deutlich.51 Wenn diese Idee aber trotz einer gewissen Emanzipation vom Numinosen dem alten China fremd blieb, darf man in diesem geistigen Durchbruch zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für deren Entstehung sehen.52 Es stellt sich also die Frage nach den zusätzlichen Voraussetzungen, unter denen es in Griechenland – und hier allein – zu dieser welthistorisch so bedeutsamen Konzeption kommen konnte.

50 Opitz 1968b, 32. Ders. 2000, 23 ff. 51 Vgl. Roetz 1992, 109 ff. 363. 432 ff. Black 2009, 100. 52 Nach Voegelin hat es einen (noch weiter gehenden und in der Tiefe nur mit Griechenland vergleichbaren) Bruch mit der traditionellen kosmologischen Ordnung auch in Israel gegeben. Israels exodus from civilization in cosmological form“ ” (1956, 21) wird ausführlich im zweiten Teil des Bandes behandelt: 157–570. Vgl. Assmann 1992, 29 f. Opitz 1968b, 12 ff. (der auf die Unterschiede zwischen China auf der einen, Israel und Griechenland auf der anderen Seite aufmerksam macht). Ders. 2000, 247. Ebenso Weber-Schäfer 1968, 25. Vgl. auch Eisenstadt 1987e, 185–191. Kegler 1977, besonders 305 ff., betont aber, dass der Raum des Politischen in Israel nicht aus der unmittelbaren Beziehung zu Jahwe entlassen, dass politisches Geschehen vielmehr immer in Relation zu Gott gesehen wird und unter Absehen von ihm nicht verstanden werden kann (307). Wir hätten es dann im alten Israel zwar mit einem transzendentalen Durchbruch“ zu tun, der eine ” Separierung der vormals ungeschiedenen Bereiche der Natur, der Gesellschaft und des Numinosen zur Folge gehabt hätte, wobei der Bereich der Gesellschaft aber nun in anderer, neuer Weise maßgeblich vom Numinosen bestimmt worden wäre. Wenn das richtig ist, fragt sich, ob und wie sich das auf die Auffassung von der Rolle der Bürger im Gemeinwesen ausgewirkt hat. Die im 11. Jahrhundert v. Chr. etablierte Monarchie ist jedenfalls gewiss nicht so dominant gewesen wie ihre Pendants aus dem Nahen und Fernen Osten; entsprechend war dem Volk grundsätzlich eine weniger eingeschränkte Rolle in politicis zugedacht (vgl. Black 2009, 50 ff. Crüsemann 1993, 212). Wie auch immer: Hier scheint mir noch manches der genaueren Klärung zu bedürfen. In unserem Zusammenhang genügt aber die Feststellung, dass auch in Israel von einem Äquivalent zur Idee bürgerlicher Verantwortung keine Spur zu finden ist.

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Bei der Suche nach weiteren möglichen Ursachen für die Singularität der Griechen auch in dieser Hinsicht wird man früher oder später auf die besondere Ausgangslage und die damit verbundene Eigenart ihrer Soziogenese stoßen, auf die Herausbildung also einer spezifisch griechischen Form von Gesellschaft und Politik und die damit verbundene Problematik, eine stabile Ordnung aufzubauen. Ihre genauere Beschreibung würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung natürlich bei Weitem sprengen. Da aber aus verständlichen Gründen nicht ganz darauf verzichtet werden kann, soll im Folgenden versucht werden, in der gebotenen Kürze wenigsten die wichtigsten Faktoren dieses Vorgangs zu benennen.53 Die Ausgangslage der griechischen Soziogenese war zunächst einmal dadurch bestimmt, dass nach dem Zusammenbruch der kretischmykenischen Zivilisation um die Wende vom zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrtausend im Ägäisraum eine Art weltpolitisches Vakuum entstand, das bis in das sechste Jahrhundert andauern sollte (ohne dass die Griechen, was für die Zukunft nicht minder wichtig war, dadurch am regelmäßigen Kontakt mit anderen Kulturen, zumal denjenigen des nahen Ostens, gehindert worden wären, den sie dann auch im ökonomischen wie im geistigen Bereich rege genutzt haben). In diesem Zeitraum existierte keine politische Macht, die in der Lage oder willens gewesen wäre, die Griechen in ihrer Gesamtheit militärisch ernsthaft zu bedrohen. Damit aber fehlte eine Herausforderung im Großen, die angesichts der vielen, meist nur dünn bevölkerten und sich in ihrer Größe nicht wesentlich voneinander unterscheidenden Gemeinwesen auch im Kleinen nicht gegeben war. Genauer: Es fehlte sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit zur Bildung größerer Herrschaftskomplexe bzw. zur Intensivierung von Herrschaft (sieht man von Sparta ab, das aber als Ausnahme nur die Regel bestätigt). Da sich überdies die natürlichen Gegebenheiten von denjenigen der hydraulischen Gesellschaften“ 54 im nahen und fernen Osten wesentlich un” terschieden – man denke an die jährlichen Überschwemmungen in Ägypten und den daraus resultierenden Zwang zu einer straffen, übergreifenden Organisation, wollte man ihrer nicht bloß Herr werden, sondern daraus Nutzen ziehen – , existierte in dem von den Griechen bewohnten Raum kein Ansatzpunkt zur Entstehung einer starken, religiös fundierten und auf

53 Vgl. zum Folgenden besonders Meier 1980, 57 ff. 54 Wittfogel 1962, 19.

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Dauer angelegten monarchischen Gewalt, the most striking when we compare ” the poleis with other early states“ , wie Antony Black zu Recht gesagt hat.55 Aus denselben Gründen waren die βασιλῆες oder βασιλεῖς, die Kö” nige“ griechischer Provenienz, die Adligen, in deren Händen die politische Führung zum Zeitpunkt der Herausbildung einer neuen Form von griechischer Gesellschaft während und noch eine ganze Weile nach den sogenannten Dunklen Jahrhunderten“ lag, zu wenig geschlossen und diszi” pliniert, auch zu wenig auf ihre Gemeinwesen hin orientiert, als dass sie jene Rolle hätten übernehmen können, die bei der Entstehung nah- und fernöstlicher Hochkulturen Monarchen spielten.56 Der griechische Adel stand sich dann auch selbst im Wege, als gegen Ende des achten Jahrhunderts jene schwere Krise ausbrach, die die Grundlagen des Zusammenlebens zutiefst erschütterte und deren Erscheinungsformen wir am Beispiel Athens kennen gelernt haben. Damit aber war die welthistorisch exzeptionelle Problematik griechischer Soziogenese gegeben: Beim Aufbau einer stabilen politischen Ordnung konnte man nicht auf Instanzen rekurrieren, die überall sonst dabei erfolgreich waren. Hier musste dies auf einem gänzlich neuen, noch nie begangenen Weg erfolgen; hier konnte, nach Lage der Dinge, eine dauerhafte Ordnung nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus, d. h. von breiteren Schichten geschaffen werden, und zwar über deren Beteiligung an der Politik, also letztlich über die Einrichtung von Demokratien bzw. über Vorformen dieser Verfassung. Dass dies gelang, war aber unter den gegebenen Bedingungen alles andere als selbstverständlich, unterschieden sich die Griechen doch von allen, die ihnen in der Geschichte folgten, dadurch, dass sie, wie es Christian Meier pointiert formuliert hat, keine Griechen vor sich hatten.57 Genauer: Die Griechen konnten sich dabei an keinen Vorbildern orientieren, sie wussten weder von der Möglichkeit noch von der Legitimität einer solchen Lösung. Mit anderen Worten: Man musste zunächst überhaupt erst auf die Idee kommen, dieser Weg sei begehbar und seine Wahl auch gerechtfertigt. Man musste die bürgerliche Verantwortung entdecken.

55 Black 2009, 130. Vgl. auch Schmid 2005, 93 ff. ( Die Polis als Antimonarchie“ ). ” 56 Hierin unterschied sich der griechische wesentlich vom Adel in Rom: Hier hat die frühe und dann lang anhaltende Bedrohung von außen dazu geführt, dass sich in den führenden Familien eine stark ausgeprägte Gruppensolidarität und Identifikation mit dem Gemeinwesen herausgebildet hat. 57 Meier 1980, 404.

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Es ist das Verdienst einzelner Intellektueller, von denen wir die Person und das Wirken Solons noch am deutlichsten fassen können, auf der Suche nach einer Überwindung der großen Krise diesen dritten Weg – die Lösung des Problems ohne Rückgriff auf Monarchen und auf Adlige – gefunden und auch mit Energie und Überzeugung verfochten zu haben. Dazu bedurfte es einer Freiheit und Unvoreingenommenheit des Denkens, wie sie damals anscheinend nur unter den spezifischen Bedingungen möglich waren, die im archaischen Griechenland herrschten. Wie traditionelle Denkweisen durchbrochen werden konnten, wie bislang Selbstverständliches in Frage gestellt wurde, wie eine Offenheit für bislang Unvorstellbares entstand, wie man in ganz neue geistige Regionen aufbrach, zeigen uns exemplarisch die bereits erwähnten ionischen Naturphilosophen mit ihren ganz neuen Theorien über die Entstehung und das Wesen der Welt.58 Wo andernorts, bedingt durch andere Konstellationen, die Konzeption bürgerlicher Verantwortung jenseits des mentalen Horizonts lag (und man eine solche zur Lösung der Probleme auch nicht benötigte), wurde sie unter den spezifisch griechischen Bedingungen möglich und gleichzeitig notwendig, weil hier üblicherweise erfolgreiche Rezepte nicht in Frage kamen. Kurz gesagt: Die Idee bürgerlicher Verantwortung entstand unter kontingenten Bedingungen als Antwort auf Fragen, die neue, unkonventionelle Antworten erforderten und als Reaktion auf Probleme, die unter den gegebenen Bedingungen anders nicht zu lösen waren. Von der Entdeckung bürgerlicher Verantwortung führte allerdings kein rascher und direkter Weg zu ihrer Realisierung und damit letztlich zur Etablierung einer Demokratie, wie wir sie am besten aus der klassischen Epoche Athens kennen. Es deutet manches darauf hin, dass sich Solon selbst die Umsetzung seiner Idee in die Praxis keineswegs so radikal gedacht hat, wie sie grundsätzlich in seiner Konzeption angelegt war und wie es dann tatsächlich etwa hundertfünfzig Jahre später auch geschehen ist. Sein Konzept bürgerlicher Verantwortung ist ganz offensichtlich von der Ausnahmesituation her entwickelt: Bei drohendem Bürgerkrieg, und wohl nur dann, oder in vergleichbaren Extremsituationen sollten alle Bürger in Aktion treten.59 58 Siehe Anmerkung 13. 59 Insofern ist es zumindest problematisch, wenn Stahls im Hinblick auf Solons Denken und Wirken von der Geburtsstunde des demokratischen Gedankens“ (Stahl ” 1992, 385) spricht (eine Formulierung, die erst aus der Rückblende einen gewissen Sinn erhält). Angemessener spricht er selbst vom Eunomia-Gedicht als

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Was aber noch wichtiger war: Solons Idee, von der er offensichtlich derart überzeugt, ja geradezu besessen war, dass er sich nicht vorstellen konnte, man könne sich ihr verschließen, hat, wie die Geschichte der auf seine Reformen folgenden Jahrzehnte zeigt, gerade in jenen Schichten, auf die sie vor allem zielte, zunächst kaum Resonanz gefunden. Die neue Rolle, die den Bürgern zugedacht war, musste von diesen erst gelernt werden. Es bedurfte einer Reihe weiterer, zum Teil höchst unliebsamer Erfahrungen – Athen geriet bald nach den solonischen Reformen unter die Tyrannenherrschaft des Peisistratos und seiner Söhne – , bis sich diese Idee erstmals konkret und machtvoll manifestierte: als 508/7 in einer jener noch immer typischen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Adligen und ihren Gefolgschaften der Rest der nicht involvierten Bürgerschaft (oder jedenfalls große Teile davon) Partei ergriff, und zwar zugunsten jenes Mannes, der die Zeichen der Zeit besser als andere erkannt und dem Volk als Belohnung für eine allfällige Unterstützung die nun offenbar von breiteren Schichten erwünschte, über die Vorstellungen Solons deutlich hinausgehende Realisierung der Idee politischer Partizipation in Aussicht gestellt hatte. Mit den Reformen des Kleisthenes sind denn auch die Grundlagen für die Demokratie geschaffen worden.60 Im Laufe des fünften Jahrhunderts ist Solons Idee dann in vorher unvorstellbarem Ausmaß umgesetzt worden. Durch die Reformen des Ephialtes von 462/1 wurden alle noch existierenden Restriktionen politischer Partizipation beseitigt und das Recht darauf wurde ohne jede Einschränkung auch auf die untersten Schichten der Bürgerschaft, die sogenannten Theten, ausgedehnt, die sich schon in den militärischen Auseinandersetzungen mit den Persern als Ruderer auf den Schiffen verdient gemacht hatten, vor allem aber die darauf folgende Seebundspolitik durch ihren regelmäßigen Dienst auf der dafür unverzichtbaren Flotte, nach einer pointier-

der Geburtsurkunde des Bürgerstaates“ (406). Ich kann auch seine Kritik an der ” jüngeren Forschung (vor allem von Meier und Bleicken), die in der Demokratie im wesentlichen das Ergebnis eines kontingenten und anonymen historischen Prozesses sieht (406, Anm. 59), nicht teilen. 60 Aus der umfangreichen Literatur dazu und zum Folgenden vgl. vor allem: Martin 1974. Meier 1980, 91–143. Reinau 1981, 30–51. Bleicken 1995, 42–61. Raaflaub 2007b.

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ten Formulierung von Jochen Bleicken, im wörtlichen Sinne mit ihren Armen ” trugen“ 61 und damit entscheidend zur Sicherheit, Prosperität und Macht der Stadt beitrugen.62 Politische Partizipation als Wahrnehmung bürgerlicher Verantwortung erhielt dadurch einen solchen Stellenwert, dass sie die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen entscheidend bestimmte und auch so wahrgenommen wurde.63 Bürger-Sein und Bürgerrecht wurde etwa seit der Mitte des fünften Jahrhunderts zumindest in Athen primär und wesentlich als Recht auf maßgebliche und uneingeschränkte Mitsprache in allen, die Gesamtheit der Politen betreffenden Fragen verstanden, als Recht auf Teilhabe an der Regierung“ , wie es Aristoteles später klassisch ” formuliert hat.64 Es ist denn auch ohne Zweifel mehr als eine ideologische Formel, es entspricht vielmehr aufs Beste dem Selbstverständnis auch und gerade des einfachen Bürgers in klassischer Zeit, wenn der größte griechische Historiker, Thukydides, den führenden Politiker seiner Zeit, Perikles, in dessen Grabrede auf die im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges gefallenen Landsleute sagen lässt: Wir vereinigen in uns die Sorge für unser Haus zugleich ” und unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.“ 65

61 Bleicken 1995, 61. 62 Mit Raaflaub (vgl. Raaflaub 2007, 106. 119 ff. 138 ff.) bin ich der Meinung, dass die Theten erst jetzt zu vollberechtigten Bürgern wurden. 63 Wie sich das Verständnis der Zugehörigkeit zur Polis seit der früharchaischen Zeit verändert hat, habe ich in meiner Dissertation (Reinau 1981) zu zeigen versucht. Vgl. auch Walter 1993. 64 Politik 1275a 22 f. In diesem Zusammenhang ist auch das Aufkommen des Begriffs πολιτεία für Verfassung“ zu sehen: In seiner Prägung spiegelt sich die ” neu gewonnene Erkenntnis, dass die Ordnung einer Polis primär von der Bür” gerschaft“ , genauer von ihrer Zusammensetzung und Abgrenzung, abhing. Vgl. Reinau 1981, 49 ff. 65 Geschichte des Peloponnesischen Krieges 2, 40 (Übersetzung von Georg Peter Landmann).

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Appendix: Bürgerliche Verantwortung, politische Partizipation und Demokratie – gab es das vor den Griechen nicht? Formen von Beteiligung breiterer Schichten an Entscheidungen, die die Gesamtheit eines Gemeinwesens betreffen, sind nicht zwangsläufig an die Demokratie gebunden. Solche hat es universal unzweifelhaft schon vor der Entstehung dieser politischen Organisationsform (und gleichzeitig und danach unabhängig davon) gegeben.66 Die Verwendung des Begriffs Demokratie“ (ob mit dem Zusatz primi” ” tiv“ , proto“ , quasi“ oder gar ohne einen solchen) für Gesellschaften dieser ” ” Art ist allerdings wenig hilfreich, sondern eher verwirrend: Sie erschwert oder verunmöglicht gar die Wahrnehmung der nach Ort und Zeit zum Teil stark differierenden Partizipationsmöglichkeiten breiterer Schichten und damit auch und gerade ein tieferes Verstehen der Besonderheit der von den Griechen als δημοκρατία bezeichneten Verfassung. Dass Letzteres zuweilen geradezu beabsichtigt ist, macht eine jüngst publizierte, breit angelegte Untersuchung zur Geschichte der Demokratie deutlich. Der Verfasser vertritt darin – nicht als erster, aber besonders dezidiert – die Meinung, diese Form politischer Organisation sei nicht, wie immer wieder behauptet, im fünften Jahrhundert v. Chr. in Griechenland, sondern viel früher, bereits im dritten Jahrtausend v. Chr., im Zweistromland entstanden, mithin also auch kein Geschenk Europas an die Welt; die Griechen hätten sie auf dem Umweg über Phönizien importiert und später als eigene Erfindung ausgegeben.67 Dass diese These unhaltbar ist, haben bereits Moses Finley68 und vor allem Eric Robinson69 überzeugend dargelegt. Zwar ist nicht daran zu zweifeln, that, long before Athens, many ancient Middle Eastern city-states had ” councils and assemblies“ 70 . Die Quellenlage ist aber derart dürftig71 , dass man 66 67 68 69 70 71

Dazu zuletzt Isakhan / Stockwell 2011. Keane 2009, X f. Finley 1973, 14. Robinson 1997, 16 ff. Isakhan, in: Isakhan / Stockwell 2011, 13. Vgl. auch Isahkhan 2011, 21 ff. Robinson 1997, 18 macht darauf aufmerksam, dass sich dieses Eingeständnis bereits bei Thorkild Jacobsen findet, der den Ausdruck primitive democracies“ für die ” frühesten Städte Mesopotamiens geprägt hat; und dieses Manko wird im Hinblick auf Phönizien auch von Stockwell 2011, 42 eingeräumt; vgl. auch Raaflaub 2004, 275.

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Aussagen wie denjenigen, dass an solchen Versammlungen each citizen ” had the right to speak and vote on social, administrative and political matters“ 72 , mit größter Vorsicht begegnen sollte. Und selbst wenn breitere Schichten damals eine größere Mitsprachemöglichkeit in politicis besaßen, als man das bislang anzunehmen gewohnt war, ist das noch kein Indiz für die Herrschaft des Volkes“ 73 . Entscheidend ist die Position einer solchen ” Versammlung innerhalb des gesamten politischen Gefüges, und in dieser Hinsicht liefert der Nahe Osten keine Parallelen zum politischen System Athens seit der Mitte des fünften Jahrhunderts. Wenn aber die Demokratie nicht aus dem Nahen Osten nach Griechenland gelangte: Haben sich die Griechen nicht wenigstens durch dort praktizierte vordemokratische“ Partizipationsmodi beeinflussen lassen? Man ” hat in diesem Zusammenhang immer wieder behauptet oder doch vermutet, die phönizischen Stadtstaaten hätten in dieser Hinsicht eine Vorbildfunktion gehabt haben. Dort scheinen, anders als im übrigen Nahen (und auch im Fernen) Osten, wo die politische Mitsprache breiterer Schichten, welcher Art sie auch in der Frühzeit einmal gewesen sein mochte, mit der Herausbildung dominanter Monarchien stark eingeschränkt wurde oder gar völlig verschwand, Volksversammlungen auch noch im ersten Jahrtausend eine Rolle gespielt, vielleicht gar wieder an Bedeutung gewonnen zu haben. Aber auch wenn es schon früh intensive Kontakte zwischen der Levante und Griechenland gegeben hat und wenn es unbestritten ist, dass sich die Griechen von den Phöniziern in mannigfacher Weise anregen ließen, so ist es doch eher unwahrscheinlich, dass die Griechen sich beim Aufbau ihrer neuen politischen Ordnung nach den Dunklen Jahrhunderten von Vorstellungen und Institutionen, wie sie in Städten wie Tyros und Sidon existiert haben mögen, direkt und in größerem Ausmaß hätten beeinflussen lassen74 . Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den phönizischen Städten und den griechischen Poleis waren wohl eher geringer als deren Unterschiede, und die Probleme, die es zu lösen galt, waren von wesentlich anderer Natur75 . Welche Anleihen hätte man in diesem Bereich auch aus der Levante beziehen sollen? Volksversammlungen, in denen breitere Schichten ge72 Isakhan / Stockwell 2011, 13. 73 Überzeugend schon Robinson 1997, 16 ff.: seine Einwände haben noch immer nichts an Plausibilität verloren. Kritisch auch Black 2009, 11 ff. 42 ff. 74 Davon ist Stockwell überzeugt (Stockwell 2011, 47). 75 Vgl. zur ganzen Problematik die überzeugenden Argumente von Raaflaub: Raaflaub 2004.

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wisse Mitsprachemöglichkeiten hatten, gab es, wie die homerischen Epen bezeugen, auch schon im früharchaischen Griechenland76 . Primitive De” mokratie“ war also, wenn man so will, den Griechen schon früh aus eigener Erfahrung bekannt. Kurz: Mit Vorläufern oder gar Vorbildern welcher Art von Partizipation und wo auch immer, die für die griechische Soziogenese von größerer Bedeutung gewesen wären, ist nicht zu rechnen. Von einer Brücke zwischen Orient und Okzident, fehlt, jedenfalls in dieser Hinsicht, jede Spur. An der Eigenständigkeit und Originalität der Griechen ist auch im Falle der Entdeckung bürgerlicher Verantwortung festzuhalten. Zeugnisse dafür sind, wie bereits erwähnt,77 außerhalb Griechenlands nirgends zu finden. Und dass mit einem solchen Konzept unter anderen als den spezifisch griechischen Bedingungen auch gar nicht zu rechnen ist, hat die vorliegende Untersuchung hoffentlich plausibel gemacht. Aber selbst wenn irgendwo schon vorher eine ähnliche Vorstellung existiert haben sollte: Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass man sie im archaischen Griechenland gekannt, geschweige denn einfach übernommen hätte. Unzweifelhaft und in unserem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist jedenfalls: Allein die bei den Griechen erstmals fassbare Idee hat eine die Zeiten überdauernde, die weitere Geschichte bis in die Gegenwart hinein prägende Wirkung ausgeübt. Moses Finley hat unter Berücksichtigung aller Eventualitäten trotz aller vorgebrachten Einwände zu Recht darauf bestanden, die Griechen hätten 76 Es ist verschiedentlich zu Recht betont worden, dass die Rolle des Demos in den frühen griechischen Volksversammlungen nicht bloß diejenige eines Befehlsempfängers gewesen ist. Fragen von allgemeinem Interesse standen dabei zur Debatte, und wichtige Beschlüsse erforderten die Zustimmung aller an den Versammlungen Anwesenden, wobei die Adligen sich der Bedeutung der Rede als Mittel der Überzeugung sehr wohl bewusst waren und es sich nicht einfach leisten konnten, darauf zu verzichten, weil es sich bei den nicht zum Adel gehörenden Polisangehörigen in der Mehrzahl um persönlich freie, vergleichsweise unabhängige Bauern handelte, die diese Unabhängigkeit auch zäh verteidigten. Vgl. Raaflaub / Wallace 2007. Zuletzt Welwei 2011, 69 ff. Diese Disposition mag die spätere Entwicklung begünstigt haben. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Beteiligung breiterer Schichten an politischen Entscheidungen (und das Bewusstsein davon, auf solche maßgeblich einwirken zu können und dazu auch legitimiert zu sein) damals noch sehr rudimentär war. Dass sich aus dieser Form von Partizipation später die praktisch uneingeschränkte Teilhabe an der Herrschaft“ entwickelte, war ” damals jedenfalls noch keineswegs ausgemacht: Von der primitiven“ führt kein ” direkter Weg zur eigentlichen Demokratie: Vgl. dazu auch Meier 1980, 53 f. 77 Vgl. oben S. 3.

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die Demokratie erfunden, und zwar precisely as Christopher Columbus, not ” some Viking seaman, discovered America“ 78 . Man kommt nicht umhin, in den Griechen zumindest in diesem Sinne auch die Entdecker bürgerlicher Verantwortung zu sehen.

Anhang 1. Solon, Eunomie“ ” 1 Unsere Stadt aber wird niemals untergehen nach dem Willen des Zeus und der übrigen glückseligen und unsterblichen Götter: So hält hoch gesinnt als Beschützerin die Tochter des gewaltigen Vaters, Pallas Athene, ihre Hände über sie. 5 Sie selbst jedoch wollen die große Stadt vernichten in ihrer Torheit, die Bürger, der Gier nach Geld unterworfen, und die ungerechte Gesinnung der Führer des Volkes: Diesen ist es bestimmt, auf Grund ihres großen Frevels viele Schmerzen zu erdulden. Sie verstehen es nämlich nicht, ihre übermäßige Gier zu zügeln und 10 die Freuden, die ihnen geboten werden, beim Mahl in Ruhe zu genießen. […] Reich sind sie, weil sie sich zu ungerechten Taten bewegen lassen […] […] Weder göttlichen noch öffentlichen Besitz verschonen sie dabei, sondern stehlen aus Raffgier alles, der eine hier, der andere dort, und selbst vor Dikes ehrwürdigem Sitz machen sie nicht Halt. 15 Diese aber sieht und behält schweigend, was geschieht und was vorher geschah, mit der Zeit jedoch kommt sie bestimmt und wird sich rächen. Da kommt schon über die ganze Polis das unentrinnbare Unheil: Schnell gerät sie in schlimme Knechtschaft, die Zwietracht und inneren Krieg aus dem Schlaf aufweckt, 20 der die geliebte Jugendzeit von vielen zerstört; von feindlich Gesinnten nämlich wird rasch die vielgeliebte Stadt vernichtet in gemeinsamen Aktionen, die den Verbrechern lieb sind. Solche Übel gehen um in unserem Volk; von den Armen aber gelangen viele in ein fremdes Land, 25 verkauft und mit schmählichen Fesseln gebunden. […] 78 Finley 1973, 14. Zur griechischen Demokratie als Referenzobjekt und Inspirationsquelle politischen Denkens während Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein vgl. jetzt Nippel 2008.

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So kommt das Unglück der Gesamtheit zu jedem Einzelnen nach Hause, und die Tore des Hofes sind nicht mehr bereit, es fernzuhalten; über den hohen Zaun ist es bereits gesprungen und findet mit Sicherheit jeden, mag er auch in den hintersten Winkel eines Zimmers flüchten. 30 Dies den Athenern beizubringen heißt mich meine innerste Überzeugung: dass höchstes Unglück der Stadt die Dysnomie (Dys-nomie = Zustand, in der es um den Nomos, das Recht, schlecht bestellt ist, Zustand der Unordnung) verschafft, die Eunomie (Eu-nomie ist das Gegenteil von Dysnomie, Zustand der guten Ordnung) dagegen alles schön und passend erscheinen lässt und die Ungerechten beständig in Fesseln legt; sie macht Rauhes glatt, beseitigt übermäßige Gier, bringt Hochmut zum Verschwinden 35 und lässt die Blüten verdorren, aus denen die Verblendung wächst; sie richtet gerade krumme Rechtsprüche, und übermütige Taten mildert sie ab, und sie beendet die Werke der Zwietracht und den Zorn, der aus heftigem Streit entsteht: Unter ihr ist alles bei den Menschen passend und vernunftgemäß.

2. Hesiod, Werke und Tage 202–280 202 Jetzt will ich auch den Königen, die Einsicht zeigen, eine Geschichte erzählen: So sprach einmal der Habicht zur Nachtigall mit ihrem bunten Hals, die er hoch in den Wolken mit sich trug und fest in den Krallen hielt; 205 diese aber bat um Mitleid, weil sie von gebogenen Krallen gequält wurde, und klagte; zu ihr sagte jener in seiner Überlegenheit: Du Unglückselige, was schreist Du denn so? Es hat Dich jetzt ein viel Stärkerer ” in seiner Gewalt. Dorthin wirst Du gehen, wohin ich dich führe, auch wenn Du noch so schön singst. Ich fresse dich, wenn es mir passt, oder ich lasse dich los. 210 Ohne Verstand ist, wer sich gegen Stärkere zur Wehr setzen will. Der Sieg bleibt ihm versagt, und neben der Schmach erleidet er auch noch Schmerzen.“ So sprach der schnell dahinfliegende Habicht, der seine Flügel spreizende Vogel. 213 Du aber, Perses, höre auf das Recht und meide den Frevel. Frevel nämlich bekommt einem einfachen Menschen schlecht, und auch ein Edler 215 kann ihn nicht leicht ertragen und trägt schwer an seiner Last, wenn er ins Unglück gerät. Den anderen Weg zu wählen, ist besser, denjenigen der Gerechtigkeit. Das Recht setzt sich letztlich über den Frevel durch. Wenn er leidet, lernt auch der Törichte. Sogleich nämlich eilt Horkos (Gott des Eides) herbei, kaum ist das Recht gebogen.

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220 Und die Dike schreit auf, wie sie weggeschleppt wird von den geschenkefressenden Männern, die krumme Rechtssprüche verkünden. Sie irrt weinend durch die Stadt und die Stätten der Menschen, in Nebel gehüllt, und bringt Übel den Menschen, die sie vertrieben und das Recht nicht richtig zugeteilt haben. 225 Denjenigen aber, die Fremden und Einheimischen gerechte Urteile fällen und in keinem Punkt vom Recht abweichen, gedeiht die Stadt, und den Leuten geht es gut. Friede ernährt die Jugend im Land, und bei ihnen lässt keinen bedrückenden Krieg entstehen Zeus, der alles überschaut. 230 Wo Männer gerecht richten, gibt es auch keinen Hunger und kein Unheil, man arbeitet auf den Feldern und feiert danach frohe Feste. Diesen bringt die Erde reichen Ertrag und auf den Bergen trägt die Eiche in ihren Wipfeln Eicheln, am Stamm Bienen; und flockige Wolle lastet dort schwer auf den Schafen. 235 Die Frauen aber gebären Kinder, die ihren Eltern gleichen. Stets leben sie im Wohlstand; auch müssen sie nicht auf Schiffen auf das Meer hinausfahren, denn Nahrung bringt ihnen genug das Korn spendende Ackerland. Diejenigen aber, die auf Unrecht und schändliche Taten bedacht sind, bestraft der Sohn des Kronos, Zeus, der alles überschaut. 240 Schon oft hat eine Stadt in ihrer Gesamtheit für einen einzigen Übeltäter gebüßt, der schlecht gehandelt und schlimme Taten vollbracht hat. Diesen aber schickt vom Himmel herab viel Leid der Sohn des Kronos, Hunger und Seuche zugleich; die Leute werden dahingerafft. Die Frauen gebären auch nicht mehr, die Familien schwinden dahin 245 nach dem Willen des Olympiers Zeus. Ein anderes Mal wiederum vernichtet er ihr großes Heer oder die Stadtmauer, oder der Sohn des Kronos zerstört ihre Schiffe auf dem Meer. 248 Ihr Könige, bedenkt auch Ihr selbst dieses Recht. Nahe nämlich bei den Menschen sind 250 die Unsterblichen und merken sich alle, die mit der Beugung des Rechts einander schaden, ohne sich um die Bestrafung durch die Götter zu kümmern. Es gibt nämlich auf der reichlich Nahrung bringenden Erde dreimal zehntausend unsterbliche Bewacher der sterblichen Menschen, von Zeus geschickt, die auf Recht und Unrecht achten, 255 in Nebel gehüllt, überall auf der Erde. Aber auch Dike ist da, die junge Frau, die Tochter des Zeus, hoch geachtet bei den Göttern, die den Olymp bewohnen. Und immer wenn jemand sie durch Beugung des Rechts schnöde schmäht und ihr Schaden zufügt, geht sie sogleich zu Zeus, ihrem Vater, dem Sohn des Kronos, setzt sich zu ihm 260 und erzählt ihm von der Gesinnung der ungerechten Menschen, auf dass büße das Volk für die üblen Taten der Könige, die in verbrecherischer Absicht das Recht verdrehen.

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263 Merkt Euch all das, ihr Könige, fällt gerade Urteile, ihr Geschenkefresser, und verzichtet ganz auf krumme Urteile. 265 Wer einem Andern Schlechtes zufügt, fügt sich selbst Schlechtes zu, ein schlimmer Rat aber ist für den, der ihn gab, am schlimmsten. Das Auge des Zeus sieht alles, es bemerkt, sofern es will, auch dies, und es bleibt ihm auch nicht verborgen, welche Art von Recht in der Stadt herrscht. 270 Jetzt allerdings möchte weder ich selbst gerecht sein unter den Menschen, noch mein Sohn: Denn es ist schlimm, gerecht zu sein, wenn der Ungerechte mehr Recht bekommt. Aber soweit wird es, so hoffe ich, Zeus, reich an Plänen, nicht kommen lassen. 274 Du aber, Perses, bedenke dies stets 275 und höre auch jetzt auf das Recht und verzichte ganz auf Gewalt. Dieses Gebot nämlich hat der Sohn des Kronos den Menschen auferlegt. Die Fische aber, die Tiere auf dem Land und die gefiederten Vögel sollen einander fressen, denn sie kennen kein Recht. Den Menschen aber gab er das Recht, das bei weitem das höchste Gut ist.

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Politische Partizipation in der athenischen Demokratie Christian Mann I. Einleitung In all very numerous assemblies, of whatever characters composed, passion never fails to wrest the sceptre from reason. Had every citizen been a Socrates; every Athenian assembly would still have been a mob.1 I see a new Athenian age of democracy forged in the fora the Internet will create.2

Wann immer über politische Partizipation debattiert wird, die athenische Demokratie bildet einen zentralen Bezugspunkt. James Madison und viele andere verwiesen auf die athenische Volksversammlung, um ihre Warnungen vor der direkten Demokratie und ihrer angeblich gefährlichen und irrationalen Entscheidungsfindung zu exemplifizieren, der amerikanische Vizepräsident Al Gore hingegen flocht in seine Vision einer Cyber-Demokratie eine Erinnerung an das antike Athen ein, das in diesem Kontext als gelungenes Beispiel für eine direkte Beteiligung des Volkes erscheint. Unabhängig vom politischen Standpunkt des Betrachters: Athen ist das Exempel, mit dem man gerne Glanz oder Elend der direkten Demokratie illustriert.3 Die kontroverse Debatte über die athenische Demokratie begann bereits bei den Autoren der griechischen Klassik – zu Aristoteles verweise ich auf den Beitrag Jürgen von Ungern-Sternbergs in diesem Band –, doch diese soll nicht das Thema dieses Aufsatzes sein. Geboten werden soll vielmehr eine Darstellung der Maschinerie“ des demokratischen Athen, d. h. ” der Institutionen und Verfahren, mit denen die politische Partizipation 1 2 3

Madison 2003 (1788), Nr. 55, 339. Gore 1994, 4. Die Literatur zur Rezeption der athenischen Demokratie ist kaum zu überschauen, einen Überblick liefern Münkler/Llanque 1999, 721–738. Sehr nützlich sind außerdem: Roberts 1994; Rhodes 2003; Nippel 2008.

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realisiert wurde; diese Analyse der Praktiken mündet in eine Bestimmung der Prinzipien, welche die politische Willensbildung in Athen strukturierten, und auch die Hindernisse und Gegenkräfte der direkten Demokratie in Athen sollen diskutiert werden. Verfasst ist der Text in diesem epochenübergreifend angelegten Sammelband insbesondere für diejenigen, die andere Forschungsschwerpunkte haben als die antike griechische Kultur; der Anspruch, einen Überblick für Nicht-Spezialisten zu liefern, führt notwendigerweise dazu, dass den Fachleuten Vieles bekannt sein dürfte. Außerdem ist eine Vergröberung unvermeidlich; so wird es nicht möglich sein, eine differenzierte Beschreibung der Entwicklung Athens in ihren einzelnen Phasen zu liefern. Bereits der hier gewählte Anfangsund Endpunkt der athenischen Demokratie, die Reformen des Kleisthenes 508/07 v. Chr. bzw. die Niederlage gegen die Makedonen 322 v. Chr., sind in der Forschung alles andere als unumstritten.4

II. Institutionen der athenischen Demokratie5 II.1 Die Volksversammlung (ekklesia) Volksversammlungen haben in der griechischen Geschichte eine lange Tradition, die sich bis in homerische Zeit zurückverfolgen lässt: Im zweiten Gesang der Odyssee lässt Telemachos alle Männer Ithakas zusammenrufen, um auf seine und seiner Mutter Notlage hinzuweisen. Um eine politische Institution“ im engeren Sinne handelt es sich dabei allerdings ” nicht: Weder gibt es eine Regelmäßigkeit – offensichtlich hatte seit fast 20 Jahren keine derartige Versammlung mehr stattgefunden – noch bindende Beschlüsse. Vielmehr gehen die Teilnehmer, nachdem sie das Redegefecht zwischen Telemachos und den Freiern angehört haben, wieder nach Hause.

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Manche setzen den Beginn der Demokratie erst mit den Reformen des Ephialtes 462/61 v. Chr. an, wieder andere bereits mit den Solonischen Reformen zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. Einen Überblick über den Stand der Diskussion liefert der Sammelband Raaflaub/Ober/Wallace 2007. Über das Fortleben der Demokratie in hellenistischer Zeit ist in den letzten Jahren eine Forschungsdiskussion aufgekommen, s. dazu: Dreyer 2001; Grieb 2008; Carlsson 2010; Mann/Scholz 2012. Ausführliche Darstellungen der politischen Ordnung Athens liefern Hansen 1991; Bleicken 1995.

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Im Verlauf der archaischen Epoche gewannen Volksversammlungen in allen griechischen Polis an Bedeutung, aber nirgendwo besaßen sie eine solch umfassende Macht wie im klassischen Athen. Für das Selbstverständnis der athenischen Bürger war das Recht, an Volksversammlungen teilzunehmen, von großer Bedeutung, und die Begriffe demos (Volk) und ekklesia (Volksversammlung) wurden bisweilen synonym gebraucht. Die Bedeutung der Volksversammlung ist auch an dem Umstand abzulesen, dass sie einen eigenen architektonischen Rahmen erhielt, die sogenannte Pnyx, die mehrfach um- und ausgebaut wurde.6 Als Aristophanes in seiner Komödie Die Ritter, aufgeführt 424 v. Chr., das personifizierte Volk von Athen auf die Bühne brachte, gab er ihm den Beinamen Pyknites ( von der ” Pnyx“ ); der Ort der Volksversammlung erscheint hier als Emblem für die politische Ordnung Athens. Zutritt zur Volksversammlung hatte jeder athenische Bürger ab einem Alter von 18 Jahren. Frauen, Metöken, Sklaven und damit die Mehrheit der Bevölkerung Attikas war von der Volksversammlung und den übrigen politischen Institutionen ausgeschlossen, und es ist häufig bemerkt worden, dass Athen ein in der Moderne zentrales Kriterium der Demokratie, die Inklusion möglichst der gesamten Bevölkerung in die politische Willensbildung, nicht erfüllte. Auch von den Bürgern, deren Zahl für die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. auf 40.000–60.000 geschätzt wird, im Verlauf des Peloponnesischen Krieges aber sicherlich signifikant zurückging,7 ging nur der kleinere Teil zu den Versammlungen: Manche waren am betreffenden Tag aufgrund ihrer Arbeit unabkömmlich, andere hinderte der weite Weg von ihrem Haus bis nach Athen an der Teilnahme (mehr zu diesem Aspekt unten S. 48), und in den meisten Jahren kämpften mehrere Tausend Bürger an weit entfernten Kriegsschauplätzen. Trotz allem scheinen die Teilnehmerzahlen bemerkenswert hoch gewesen zu sein: Für manche Entscheidungen, z. B. für den Ostrakismos, war ein Quorum von mindestens 6.000 Bürgern notwendig, und die Pnyx bot in ihrer letzten Ausbaustufe Platz für 15.000 Menschen. Ebenso bemerkenswert ist die hohe Frequenz der Versammlungen: Im 4. Jahrhundert mussten mindestens 40 Versammlungen im Jahr stattfinden, es konnten aber auch noch mehr sein.

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Zur Pnyx vgl. die Beiträge in Forsén/Stanton 1996. Zuverlässig sind die Bürgerzahlen Athens für keine Epoche zu ermitteln. In der Forschung haben sich die höheren Schätzungen (Hansen 1985; ders. 1988) gegenüber den vor allem von Ruschenbusch vertretenen niedrigen Ansätzen (Ruschenbusch 1988; vgl. auch Jones 1957, 76–81) weitgehend durchgesetzt.

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Gegen die übliche Vorstellung, dass die Volksversammlungen den gesamten Tag in Anspruch genommen hätten, verweist Mogens Herman Hansen auf die Schweizer Landsgemeinden: Bei entsprechend straffer Sitzungsleitung und Disziplin der Teilnehmer – beides kann man auch für die athenische Volksversammlung annehmen – konnte auch eine längere Tagesordnung innerhalb weniger Stunden abgearbeitet werden; dies machte den Besuch prinzipiell auch für diejenigen Bürger möglich, die in einiger Entfernung Athens in Attika wohnten.8 Dennoch wird man davon ausgehen müssen, dass die Stadtbevölkerung in den Volksversammlungen stärker repräsentiert war. Attika umfasste ein Gebiet von ungefähr 2.250 qkm, sodass der Weg nach Athen von den Randgebieten Attikas sehr weit war – die Strecke von der Südspitze Attikas bis nach Athen beträgt 50 km. Hinsichtlich ihrer Kompetenzen hatte die Volksversammlung ein größeres Gewicht als in allen anderen mir bekannten politischen Ordnungen. Die ekklesia konnte prinzipiell jederzeit alles entscheiden, denn das Volk war der Souverän, und zwar nicht in einem theoretischen Sinne wie in den modernen Repräsentativverfassungen, sondern in der konkreten politischen Praxis. Es gab keine Instanz, die der Volksversammlung übergeordnet oder ihr gleichrangig beigeordnet gewesen wäre. Das Feld der in den Volksversammlungen debattierten Themen war entsprechend weit, dennoch gab es natürlich Schwerpunkte. Im späteren 4. Jahrhundert v. Chr. war die Tagesordnung der ersten Volksversammlung jedes Ratsmonats9 wie folgt festgelegt: Zunächst wurde darüber befunden, ob die Magistrate ihre Aufgaben zufriedenstellend erfüllt hatten; danach wurde gefragt, ob die Getreideversorgung gesichert sei, und anschließend Fragen der Landesverteidigung erörtert. Der vierte und letzte Tagesordnungspunkt sah mögliche Anklagen wegen politischer Verbrechen vor. Repräsentativ ist das Spektrum dieser kyria ekklesia dahingehend, dass die Sicherung der athenischen Demokratie nach innen und nach außen ein zentrales Thema der Volksversammlungen bildete: Die Magistrate standen unter einer stetigen Beobachtung durch die Bürger, die Getreideversorgung war für eine Polis, die auf Importe angewiesen war, ein sensibles Thema. In der historiographischen Überlieferung, insbesondere bei Thukydides, werden besonders die Debatten über Kriegsbeschlüsse und Friedensverhandlungen ausführlich geschildert, aus der epigraphischen Überlieferung hingegen ergibt sich ein anderer Befund: Mehr als die Hälfte der inschriftlich 8 9

Hansen 1983, 216. Es gab im attischen Jahr, analog zur Zahl der Phylen (s. u. S. 49 f.) zehn Ratsmonate; daneben gab es aber auch einen zwölfmonatigen Kalender.

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erhaltenen Volksbeschlüsse aus dem klassischen Athen betrifft Ehrungen für Bürger oder Fremde. Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass solche Beschlüsse besonders häufig auf Stelen festgehalten wurden, um der verliehenen Ehre sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Die Finanzen der Polis wurden, geht man von den erhaltenen Quellen aus, in den Volksversammlungen weniger häufig thematisiert; dies bildet einen markanten Kontrast zur modernen parlamentarischen Tradition, in der die Mitbestimmung in Budgetfragen eine hohe Bedeutung hat. Jeder athenische Bürger hatte das Recht, Anträge zu stellen, doch dazu musste er sich zunächst an die boule wenden, den Rat der 500. Dieses Gremium entschied darüber, ob und in welcher Versammlung der Antrag zur Diskussion gestellt werden würde. In der Volksversammlung selbst wurde der Antrag vom Leiter der Versammlung präsentiert und anschließend vom Herold die Frage gestellt: Wer möchte reden?“ 10 Prinzipiell durfte jeder ” Bürger das Wort ergreifen und für die Annahme des Antrags plädieren, Gegenargumente vorbringen oder Änderungsvorschläge machen. Wenn alle Diskussionsteilnehmer ihre Reden beendet hatten, wurde per Handzeichen abgestimmt: Der Vorsitzende schätzte die Mehrheitsverhältnisse ab, musste die Abstimmung bei unklaren Mehrheitsverhältnissen jedoch wiederholen, wenn dies beantragt wurde. Es sei noch erwähnt, dass die Volksversammlung auch als Gericht fungieren konnte. Dies war allerdings ein seltener Fall, häufiger nahm sie Anklagen zwar entgegen, leitete sie aber an die Gerichte weiter. Der Umstand, dass die Volksversammlung eine Anklage überhaupt akzeptierte, mag allerdings den Ausgang von Prozessen beeinflusst haben. II.2 Der Rat der 500 (boule) Um die Zusammensetzung und die Arbeitsweise des Rates zu verstehen, muss zunächst ein Blick auf die politische Gliederung Attikas geworfen werden. Kleisthenes hatte im Zuge seiner Reformen 508/07 v. Chr. Attika in drei Zonen eingeteilt: die Stadt Athen, die Küste und das Binnenland. Jede dieser drei Zonen hatte Kleisthenes wiederum in zehn Trittyen untergliedert und je eine Trittye aus Stadt, Küste und Binnenland zu einer Phyle zusammengefügt. Die Konstruktion der Phylen mutet künstlich an, und diese Künstlichkeit war gewollt, denn traditionelle Bindungen sollten 10 Dem. 18, 170: τίς ἀγορεύειν βούλεται;

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zerschnitten und eine Fokussierung der Bürger auf das Gesamte, auf die Polis, erreicht werden.11 Auch wurde mit dieser Verbindung heterogener Gebiete verhindert, dass einzelne Phylen zu Interessenvertretungen bestimmter sozialer Gruppen wurden, vielmehr bildete jede Phyle idealiter einen repräsentativen Querschnitt durch die Bürgerschaft Attikas. Die Phylen waren die wichtigsten Einheiten in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in Athen: Das Heer wurde nach Phylen mobilisiert, viele Kulte phylenweise organisiert, und auch in der politischen Ordnung waren die Phylen maßgeblich. Der von Kleisthenes neu gegründete Rat der 500 setzte sich paritätisch aus den zehn Phylen zusammen, in denen die jeweils 50 Mitglieder in einem gemischten Wahl- und Losverfahren ermittelt wurden; jeder Athener durfte in seinem Leben höchstens zweimal Ratsherr sein. Paritätisch war die Verteilung der Sitze auch in einer anderen Hinsicht, da jede Gemeinde Ratsherren in Proportion zu ihrer Bürgerzahl stellte. Gehörten ihr der fünfhundertste Teil der athenischen Bürgerschaft an, stellte sie jedes Jahr einen Ratsherrn. Ziel dieser Regelung war, dass alle Gebiete Attikas gleichmäßig im Rat vertreten sein sollten; wenigstens in dieser Institution sollte es nicht zu einer Benachteiligung der Randgebiete kommen, die in der Volksversammlung unvermeidbar war. Somit kam dem Rat, in dem sich eine repräsentative Auswahl athenischer Bürger versammelte, eine integrative Funktion zu. Die flächendeckende Partizipation Attikas am Rat rückte das politische Geschehen näher an die im Umland lebenden Bewohner heran und verstärkte damit – um einen Begriff Christian Meiers zu benutzen – die bürgerliche Gegenwär” tigkeit“ .12 Ratsherren aus stadtfernen Gebieten Attikas konnten dort von den Debatten in den politischen Institutionen berichten und gleichzeitig die Anliegen ihrer Gemeindemitglieder in die politischen Institutionen tragen.

11 Nach Aristoteles habe Kleisthenes das Ziel verfolgt, daß er so gut wie möglich ” alle miteinander vermische, die früheren gewohnten Verbindungen aber auflöse“ (Aristoteles, pol. 1319b, 25–26: ὅπως ἂν ὅτι μάλιστα ἀναμειχθῶσι πάντες ἀλλήλοις, αἱ δὲ συνήθειαι διαζευχθῶσιν αἱ πρότερον). Welche Ziele Kleisthenes mit seinen Reformen verfolgte, ist in der Forschung allerdings umstritten: Während manche die pragmatischen Aspekte zur Stärkung der eigenen Position betonen (Martin 1974; Stanton 1984), wird auch die Position, Kleisthenes habe als visionärer Reformer die Demokratie am Reißbrett geplant, in der jüngeren Literatur noch vertreten (Anderson 2003). Die militärischen Aspekte der Reform betont vor allem Siewert 1982. 12 Meier 1989, 91–94.

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Das Ratsgebäude an der Agora war ständig besetzt und diente als erste Anlaufstelle für Bürger wie für Fremde, die sich mit einem Anliegen an die Polis wenden wollten, z. B. eine Beschwerde vorbringen oder eine Klage einreichen wollten. Die Hauptaufgabe des Rates bestand aber darin, die ekklesia funktionsfähig zu machen, denn ohne eine ordnende Institution hätte eine Versammlung von mehreren Tausend Bürgern mit allgemeinem Rederecht schwerlich funktionieren können. Der Rat entschied, wie oben dargelegt, über die Zulassung von Anträgen, er legte die Tagesordnung fest, formulierte in der Regel Beschlussvorlagen zu den zur Entscheidung anstehenden Punkten, er leitete Diskussion und Abstimmung und sorgte für die Veröffentlichung der Ergebnisse. Deutlich erkennbar ist allerdings auch das Bemühen, die Macht des Rates schwach zu halten, und zwar durch das Verfahren der Rotation. Die Phylen wechselten sich monatlich in der Geschäftsführung (Prytanie) ab, einer ihrer 50 Ratsherren führte den Vorsitz in Rats- und Volksversammlungen. Dieser Vorsitz wechselte jedoch täglich; auf diese Weise sollte verhindert werden, dass sich im Rat Hierarchien verfestigten und Partikularinteressen die Oberhand gewannen. Abstrakt gesprochen: Der Rat sollte kein Gremium der politischen Willensbildung sein, sondern eine Maschine, welche die Willensbildung in der Volksversammlung ermöglichen sollte. Und diese Funktion scheint der Rat bemerkenswert gut ausgefüllt zu haben, denn Berichte über Tumulte bei den Volksversammlungen sind sehr selten: In aller Regel debattierten und entschieden die Athener komplexe Sachverhalte zügig und friedlich. Dies ist insofern erstaunlich, als Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. eine Großmacht im östlichen Mittelmeer bildete und deshalb viele Entscheidungen von großer Reichweite zu treffen waren! II.3 Gerichte (dikasteria)13 Auch an der Rechtsprechung wirkte das Volk direkt mit. In Athen gab es keine professionellen Richter, keine Anwälte und keine Staatsanwälte; vielmehr musste jeder Bürger, ob Kläger oder Beklagter, seine Sache vor Gericht selbst vertreten – allerdings konnte er sich seine Rede von professionellen Logographen verfassen lassen –, und die Richterstühle wurden von Laien besetzt. Das Verfahren, die Richter auszuwählen, änderte sich 13 Die maßgebliche Darstellung der Gerichtsverfahren im demokratischen Athen liefern Boegehold u. a. 1995, eine gute Übersicht bietet Thür 2000.

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im Verlauf der klassischen Epoche: Während es im 5. Jahrhundert v. Chr. jedem Bürger freistand, sich an Gerichtstagen zur Agora zu begeben und sich um einen Richtersitz zu bewerben, wurden im 4. Jahrhundert v. Chr. zu Beginn jedes Jahres 6.000 Bürger ausgelost, die im betreffenden Jahr die Gerichtshöfe besetzten. Ein Zwang bestand jedoch nicht, und dieser war offensichtlich auch nicht notwendig, denn in aller Regel gab es mehr Freiwillige als Richtersessel. Die Anzahl der Richter bemaß sich nach dem Klagestand. Beim berühmtesten aller athenischen Gerichtsverfahren, dem Prozess gegen Sokrates wegen asebeia ( Gottlosigkeit“ ) im Jahr 399 v. Chr., entschieden 501 ” Männer, es gab aber auch Gerichtshöfe mit 101, 301 oder 1001 Männern; auf ungerade Zahlen wurde geachtet, damit keine Gleichheit der Stimmen entstehen konnte. Die Prozesse verliefen nach einem strikten und simplen Schema: Zunächst hielt der Ankläger seine Rede, danach der Beklagte, die Redezeit war für beide Parteien gleich und wurde durch Wasseruhren kontrolliert. Sprachen Zeugen vor oder wurden Zeugenaussagen verlesen, hielt man die Wasseruhren an. Anschließend fällten die Richter ihr Urteil: Jeder von ihnen bekam zwei Stimmsteine ausgehändigt, einen durchbohrten als Stimme für den Ankläger, einen massiven als Stimme für den Angeklagten, von denen er eine in die Urne warf; anschließend wurde ausgezählt und das Urteil verkündet. Auf den modernen Betrachter muten die athenischen Gerichtsverfahren ungerecht und bizarr an: Man betrieb einen großen Aufwand, um die Richter auszulosen, ließ hingegen die Möglichkeiten zur Wahrheitsfindung ungenutzt: Zeugen wurden von den Richtern nicht befragt, die Richtigkeit ihrer Aussage demzufolge nicht überprüft; zwar konnten Zeugen, die falsche Aussagen gemacht hatten, später in einem weiteren Prozess belangt werden, das Urteil des Prozesses, den sie beeinflusst hatten, blieb aber in Kraft. Ebenfalls befremdlich ist, dass der eigentliche Klagegegenstand in vielen Prozessen eher eine Nebenrolle spielte, wenn man die erhaltenen Gerichtsreden zugrunde legt. Im Verfahren gegen Sokrates etwa wurde nicht thematisiert, ob das Verderben der Jugend überhaupt unter dem Anklagepunkt der asebeia verhandelt werden dürfe. Und in vielen weiteren Verfahren verwandten Ankläger und Angeklagte die meiste Redezeit darauf, frühere, weit zurückliegende und mit dem eigentlichen Gegenstand nicht unmittelbar zusammenhängende Verfehlungen der Gegenseite aufzuzeigen. Dies ist damit zu erklären, dass die athenischen Richter bei ihrer Stimmabgabe vor allem darüber urteilten, welcher der

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beiden Prozessgegner der bessere Bürger sei. Mit modernen rechtsstaatlichen Prinzipien lässt sich dieses Vorgehen natürlich nicht vereinbaren.14 Nach den Bürgerkriegen von 404/03 v. Chr. band man die Gerichte ins Gesetzgebungsverfahren ein. Wenn man Widersprüche in den Gesetzesbeständen feststellte oder ein neues Gesetz beantragte, wurde aus gelosten Richtern eine Kommission gebildet, in der Pro und Kontra zweier Gesetze gegeneinander abgewogen wurden. Analog zu Gerichtsverfahren entschied man dann durch Stimmsteine darüber, welches der beiden zur Debatte stehenden Gesetze das bessere sei. Manche Historiker, am vehementesten Mogens Herman Hansen, haben daraus den Schluss gezogen, dass die Volksversammlung im 4. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr die allumfassende Gewalt besessen habe, sondern es zu einer Art Gewaltenteilung zwischen ekklesia und dikasteria, zwischen einer Exekutive und einer Legislative, gekommen sei.15 Diese konstruierte Analogie zu modernen Verfassungen stößt allerdings auf zwei Probleme, die vor allem Jochen Bleicken klar benannt hat: Erstens behielt die athenische Volksversammlung auch im 4. Jahrhundert v. Chr. stets das Recht, alles zu beschließen, was ihr beliebte, denn sie war bei ihren Beschlüssen eben nicht an bestehende Gesetze gebunden. Zweitens betrachteten die Athener Volksversammlung und Gerichte nicht als zwei miteinander konkurrierende Institutionen, sondern jeweils als das athenische Volk in zwei verschiedenen Aggregatzuständen. Im Gegensatz zu modernen Verfassungen, in denen der Konfliktfall zwischen den einzelnen Gewalten präzise geregelt ist, wird in den überlieferten Quellen ein Konflikt zwischen ekklesia und dikasteria nicht thematisiert, und zwar aus dem Grund, dass ein solcher Konflikt außerhalb des politischen Vorstellungsvermögens der Zeitgenossen lag. Die Modifikation des Gesetzgebungsverfahrens sollte folglich nicht als Schwächung der Volksmacht verstanden werden.16

14 S. dazu Cohen 1995; Thür 1995; Burckhardt 2000. Das Plädoyer Walter Eders, Athen sei nach modernen Maßstäben ein Rechtsstaat gewesen (Eder 1995a, 17f.), geht von der falschen Prämisse aus, durch die Einrichtung der Demokratie sei die soziale Ordnung aufgelöst worden, sodass nur die strikte Einhaltung der Gesetze die Kohäsion in der Bürgerschaft habe erhalten können. 15 Hansen 1981; Ostwald 1986; Sealey 1987. 16 Bleicken 1987, 266–273; auch Rhodes 1995 betont, dass die Gerichte zu keinem Zeitpunkt die Aufgabe gehabt hätten, die Volksversammlung zu kontrollieren.

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II.4 Das Scherbengericht“ (ostrakismos) ” Die Macht des Volkes ist noch an einer weiteren politischen Institution abzulesen, dem Ostrakismos. Einmal im Jahr wurde in der ekklesia darüber abgestimmt, ob ein Ostrakismos durchgeführt werden solle; bejahte eine Mehrheit diese Frage, wurde zwei Monate später das eigentliche Verfahren angesetzt. Jeder Athener durfte eine Scherbe abgeben, in die er den Namen eines ihm missliebigen Mitbürgers eingeritzt hatte. Bei der anschließenden Auszählung wurde zunächst die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ermittelt: Hatten sich weniger als 6.000 Bürger am Verfahren beteiligt, blieb es folgenlos. Lag die Gesamtzahl darüber, musste derjenige Bürger, der die meisten Stimmen“ erhalten hatte, Attika für zehn Jahre verlassen; sein ” Vermögen allerdings wurde, anders als bei einer Verurteilung vor Gericht, nicht angetastet.17 Es gibt eine Tradition, welche Kleisthenes die Einführung des Ostrakismos zuschreibt, doch erst im Jahr 487 v. Chr. wurde ein Athener durch diese Institution verbannt.18 In den folgenden Jahren wurden zahlreiche Athener ostrakisiert, seit den 460er Jahren v. Chr. werden die überlieferten Fälle seltener; in der zweiten Jahrhunderthälfte scheint der Ostrakismos weitgehend außer Gebrauch gekommen zu sein.19 Dies wird man nicht allein auf die Zufälle der Überlieferung zurückführen wollen, vielmehr scheinen viele Ostrakismosverfahren bereits bei der Vorabstimmung beendet worden zu sein oder das notwendige Quorum verfehlt zu haben. Zur Funktion des Ostrakismos gibt es in der Forschung eine lange Kontroverse: Während die früher dominierende Meinung, mit diesem Verfahren habe man eine erneute Tyrannis in Athen verhindern wollen,20 17 Nach Philochoros FGrHist 328 F 30 wurde ein Ostrakismos erst dann gültig, wenn ein einzelner Athener mindestens 6.000 Ostraka auf sich vereinigt hatte; dem folgt Lehmann 1987, 48f. Laut Plutarch, Aristeides 7,6 ist die Zahl 6.000 aber als Quorum zu verstehen, und diese Angabe besitzt eine größere Plausibilität (W. Scheidel, in: Siewert 2002, 484). 18 Auf eine Einführung unmittelbar vor 487 v. Chr. deutet Androtion FGrHist 324 F 6 hin, Kleisthenes wird als Urheber genannt bei [Aristot.] Ath. pol. 22,1; Philochoros FGrHist 328 F 30; Ail. var. 13,24; Diod. 11,55,1. Zu dieser Problematik s. H. Taeuber, in: Siewert 2002, 404–407; Forsdyke 2005, 281–283; Lehmann 1981. 19 S. dazu die Zeittafel in Siewert 2002, 521. 20 Z. B. Busolt 1885, 619f.; Carcopino 1935, 96f. Die Position stützte sich auf einige Passagen in Aristoteles’ Politika (1284a 17–22. 1302 b 15–20; vgl. auch [Aristot.] Ath. pol. 20,3). Da die Errichtung einer Tyrannis aber ein punktuelles Ereignis

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heute kaum noch vertreten wird, ist die Interpretation beliebt, der Ostrakismos habe langfristige politische Richtungsentscheidungen ermöglichen sollen; zugrunde gelegt wird dabei die Vorstellung, politische Kämpfe hätten im demokratischen Athen zwischen zwei stabilen Parteiungen mit jeweils einem Führer an der Spitze stattgefunden; wenn nun einer der beiden Führer dem Ostrakismos zum Opfer gefallen sei, habe das Volk damit gleichzeitig für die gegnerische Partei und deren politisches Programm votiert. Der Ostrakismos des Thukydides Melesiou sei damit als Votum des Volkes für Perikles und den Ausbau der Akropolis zu verstehen, in der Zeit des Nikias-Friedens habe der Ostrakismos dazu dienen sollen, eine Entscheidung zwischen Nikias mitsamt seiner Friedenspolitik und Alkibiades mitsamt seinen aggressiven Plänen gegen Sparta herbeizuführen.21 Abgesehen davon, dass dieser Interpretation ein für die athenische Demokratie problematisches Parteienmodell zugrundeliegt (s. u. S. 63), stößt es auf Widersprüche in den Ostraka selbst.22 Bei Grabungen auf der Agora und im Kerameikos sind insgesamt knapp 11.000 Scherben gefunden worden, die sich aufgrund der Ritzungen und der Fundumstände dem Ostrakismos zuweisen lassen.23 Und diese zeigen eine weit breitere Streuung als sie die literarische Überlieferung, vor allem die gattungsbedingt auf die großen Antagonisten fokussierten Biographien Plutarchs, vermuten ließe: Beim großen Kerameikos-Fund verteilen sich die Ostraka auf 116 Namen; mit der Annahme, dass eigentlich nur zwei Kandidaten zur Debatte gestanden hätten, lässt sich dieser Befund nicht vereinen. Auch zeigen die Beischriften, die sich auf einigen wenigen Ostraka finden, keine Bezüge zu politischen Programmen, vielmehr zu sittlichen Verfehlungen einzelner Politiker: Megakles wird als Ehebrecher“ bezeichnet, Themi” stokles als pervers“ ; auf einem Ostrakon wird das Gerücht aufgenom” men, Kimon habe mit seiner Halbschwester Elpinike ein Verhältnis gehabt: Kimon, Sohn des Miltiades, soll Elpinike nehmen und abhauen!“ 24 Eine ”

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war, nicht ein sich über einen langen Zeitraum erstreckender Prozess, ist nicht recht erklärbar, wie eine Tyrannis durch Ostrakismos hätte verhindert werden können. Außerdem wäre eine Verbannung für zehn Jahre eine viel zu milde Strafe für Tyrannisaspiranten gewesen. Zu diesem Verständnis des Ostrakismos s. Martin 1974, 25–27; Lehmann 1987, 48–50; Meier 1993, 264–267; Rhodes 1994, 98. Ausführlich dazu: Mann 2009. Lang 1990; Brenne 2001; ders. 2002. Brenne 2002, T 1/150; T 1/67: Κίμων Μιλτιάδο Ἐλπινίκην λαβὼν ἴτω. Zu den Gerüchten über Kimon und Elpinike s. Stesimbrotos FGrHist 107 F 4–5; Plut. Kimon 4. 15; Nep. Kimon 1.

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Gruppe von Beischriften spielt auf die soziale Überlegenheit der Person an; am aussagekräftigsten sind die insgesamt sechs Ostraka, die Hinweise auf Megakles’ Vorliebe für den Pferdesport aufweisen – eine in Form der Ritzzeichnung eines Reiters, fünf in Form von schriftlichen Zusätzen.25 Vor diesem Hintergrund erscheint der Ostrakismos weniger als ein Instrument im aristokratischen Machtkampf als ein Mittel zur Disziplinierung der Mächtigen. Wenn ein Politiker beim athenischen Volk in Misskredit geriet – aus welchen Gründen auch immer –, musste er um seinen Verbleib in der Polis fürchten. Der Ostrakismos war – wie es ein Komödiendichter formulierte – eine Peitsche aus Ton“ 26 in den Händen des Volkes, die ” große Politiker stets daran erinnerte, wer die Macht hatte. Auch Männer, die große Verdienste um die Polis hatten, waren vor einer Ostrakisierung nicht sicher, wie die Beispiele des Aristeides, Themistokles und Kimon zeigen. II.5 Ämter Wegen der verzweigten ökonomischen Struktur der Polis Athen waren zahlreiche Amtsträger notwendig, für das 4. Jahrhundert v. Chr. beziffert Aristoteles diese auf 700.27 Nach athenischer Vorstellung war prinzipiell jeder Bürger zur Übernahme eines Amtes befähigt, entsprechend schwach waren die Amtsträger vom Rest der Bürgerschaft abgetrennt. Und besetzt wurden die meisten Ämter durch das Losverfahren, lediglich die wichtigsten Finanzvorsteher und die Strategen wurden gewählt. Die Kriegsführung und die Poliskasse schienen den Athenern offenbar zu sensible Bereiche, als dass man die Auswahl des Führungspersonals hier dem Zufall überlassen wollte. Auch ließ man hier die Iteration zu, die für die meisten anderen Ämter ausgeschlossen war. Doch auch die Strategen hatten, etwa im Vergleich zu den römischen Konsuln, eine schwache Stellung, denn sie waren einer Reihe von Kontrollen unterworfen: Vor Antritt des Amtes wurden sie, wie alle anderen Amtsträger auch, einer persönlichen Prüfung unterzogen (dokimasia), während der Amtszeit wurde in der ersten Volksversammlung jedes Monats über die ordentliche Amtsführung abgestimmt, auch wurde regelmäßig die Buchführung überprüft. Der ausscheidende Amtsträger schließlich muss25 Brenne 2002, T 1/101–105. 158. 26 Adesp. F 363 K.-A. (= Hesych. s.v. κεραμικὴ μάστιξ). 27 [Aristot.] Ath. pol. 50–62.

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te über seine Amtsführung Rechenschaft ablegen, insbesondere über die Verwendung der anvertrauten Gelder. Auch genossen die Amtsträger keinerlei Immunität: Sogar Perikles, der wie kein anderer über einen langen Zeitraum die athenische Politik beeinflusst hatte, wurde 430 v. Chr. seines Amtes enthoben, als das Volk mit dem Kriegsverlauf gegen die Spartaner unzufrieden war.28 Eine Akkumulation von Macht durch einzelne Personen sollte auch durch das Prinzip der Kollegialität verhindert werden: So gab es gleich zehn Strategen, und wenn ein Feldzug beschlossen wurde, betraute man meistens mehrere von diesen mit der gemeinsamen Heerführung. Anders als in der römischen Republik gab es keine klare Rangordnung der einzelnen Ämter und auch keine Ämterlaufbahn“ . Eine gewisse Aus” nahme bildete das Archontat, das in archaischer Zeit das bedeutendste Amt gewesen war, aber seit 487 v. Chr. mittels des Losverfahrens besetzt wurde und damit an Bedeutung verlor: Ehemalige Archonten wurden in den Areopag aufgenommen, einen alten Adelsrat, der aufgrund seiner langen Tradition ein großes Ansehen besaß; 462/61 v. Chr. wurden diesem einige politische Kompetenzen genommen, ihm verblieb aber die Gerichtsbarkeit über Mord und Brandstiftung. Im 4. Jahrhundert v. Chr. gewann er auch wieder eine größere politische Bedeutung.29 II.6 Weitere Institutionen Auf weitere Institutionen der athenischen Demokratie sei hier nur am Rande eingegangen. Zusätzlich zu den Volksversammlungen in Athen gab es in allen Gemeinden Attikas, den 139 Demen, eigene Versammlungen. Deren Bedeutung darf nicht unterschätzt werden, und man wird davon ausgehen können, dass hier die Bürger der Gemeinde fast vollzählig vertreten waren. Allerdings gibt es nur sehr wenige Zeugnisse über die Demenversammlungen, sodass ihre genaue Rolle im Dunkeln bleibt. Sehr viele Zeugnisse besitzen wir dagegen für den Bereich der attischen Kulte – es sei in diesem Zusammenhang nur daran erinnert, dass auch die Aufführung von Tragödien und Komödien im Rahmen von Götterfesten stattfanden. Dieser Bereich kann, so wichtig er für die Polis Athen auch war, in einem auf die politischen Institutionen fokussierten Aufsatz nur gestreift werden; es sei aber immerhin erwähnt, dass die Trennlinie 28 Thuk. 2,65. 29 Ausführlich zur Geschichte des Areopag: de Bruyn 1995.

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zwischen männlichen Bürgern auf der einen und dem Rest der Bevölkerung auf der anderen Seite im Kult nicht so scharf gezogen wurde wie in der Politik: Metöken durften an vielen Kulten mitwirken, und Frauen nahmen in wichtigen Zeremonien, z. B. bei den Großen Panathenäen, prominente Rollen ein.30

III. Verfahrensformen und Prinzipien der politischen Partizipation Einige Zahlen sollen nochmals verdeutlichen, welchen Aufwand die athenischen Bürger für die kollektive Willensbildung betrieben: Im Jahr wurden neben mehreren Dutzend Volksversammlungen ungefähr 200 Gerichtstage abgehalten, für die nach groben Schätzungen jeweils 2.000 Richter benötigt wurden;31 darüber hinaus war die Wahrscheinlichkeit, dass ein athenischer Bürger einmal in seinem Leben in den Rat gelost wurde und er dann an den zahlreichen Sitzungen dieses Gremiums teilzunehmen hatte, sehr hoch, und die erwähnten, leider schlecht dokumentierten, Demenversammlungen kamen noch hinzu. Neben großer Bewunderung hat das politische Engagement der Athener auch Kritik und Spott hervorgerufen; Fustel de Coulanges schrieb bissig, dass die Athener ihr Leben damit verbracht hätten, sich selbst zu regieren.32 Für eine solch intensive Partizipation des breiten Volkes müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens müssen die Bürger überhaupt in ausreichender Zahl ökonomisch abkömmlich sein, ohne dadurch die Wirtschaft der Polis zu gefährden; hier sind vor allem die massenhafte Sklaverei und die Mittelzuflüsse zu nennen, die Athen als Herrin über ein Seereich und als wichtigstes Produktions- und Handelszentrum der griechischen

30 Zur Rolle von Metöken und Frauen in der Polis Athen: Cohen 2000; Blok 2004; dies. 2007. 31 Die Zahl folgt Hansen 1991, 313. 32 Fustel de Coulanges 1890, 396 (Kapitel IV 11): On voit que c’était une lourde charge ” que d’être citoyen d’un État démocratique, qu’il y avait là de quoi occuper presque toute l’existence, et qu’il restait bien peu de temps pour les travaux personnels et la vie domestique. […] Telles étaient les exigences de la démocratie. Le citoyen, comme le fonctionnaire public de nos jours, se devait tout entier à l’État. […] Il n’était pas libre de laisser de côté les affaires publiques pour s’occuper avec plus de soin des siennes. C’étaient plutôt les siennes qu’il devait négliger pour travailler au profit de la cité. Les hommes passaient leur vie à se gouverner.“

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Welt zukamen. Zweitens müssen die Bürger auch bereit sein, diesen politischen Aufwand zu betreiben, d. h. es muss eine hohe Identifikation mit der Polis und der demokratischen Ordnung herrschen, ferner ein gesellschaftlicher Konsens, dass die Teilnahme an der Willensbildung eine Bürgerpflicht sei. Auf diesen sozialen Druck spielt Perikles in seiner von Thukydides gestalteten Leichenrede von 431 v. Chr. an: Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus zugleich und unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.33

Die breite Beteiligung des Volkes ist ein Merkmal der politischen Ordnung Athens, in den Quellen tritt aber überdeutlich ein zweites hinzu: das Streben nach politischer Gleichheit. Waren zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. noch viele Ämter den oberen Vermögensklassen vorbehalten, so baute man nach und nach die Zensusschranken ab und öffnete die Ämter der breiten Masse der Bürger. Doch damit nicht genug: Um auch den ärmeren Athenern die Übernahme von Funktionsstellen zu ermöglichen, führte man für Richter und Ratsherren Diäten von zunächst zwei, später drei Obolen ein.34 Diese Summen bewegten sich ungefähr auf dem Niveau von Tagelöhnern und machten die aktive Teilnahme an der Politik nicht ökonomisch attraktiv, aber sie machten sie auch für diejenigen Bürger möglich, die auf tägliche Einkünfte angewiesen waren. Die Einrichtung der athenischen Demokratie ging nicht mit einer sozialen Revolution einher, und die Einebnung der Unterschiede zwischen Arm und Reich stand nie auf der politischen Tagesordnung; vielmehr bemühte man sich darum, dass jeder unabhängig von seinem Besitz Politik aktiv mitgestalten konnte.35 Neben den Diäten ist als zweites zentrales Verfahren, um politische Gleichheit herzustellen, das Losverfahren zu nennen. Während Wahlen diejenigen bevorzugen, die aufgrund ihres sozialen Status eine gewisse Bekanntheit besitzen und über ausreichenden Besitz verfügen, um die Zeit 33 Thuk. 2,40,2: ἔνι τε τοῖς αὐτοῖς οἰκείων ἅμα καὶ πολιτικῶν ἐπιμέλεια, καὶ ἑτέροις πρὸς ἔργα τετραμμένοις τὰ πολιτικὰ μὴ ἐνδεῶς γνῶναι· μόνοι γὰρ τόν τε μηδὲν τῶνδε μετέχοντα οὐκ ἀπράγμονα, ἀλλ' ἀχρεῖον νομίζομεν· (Übersetzung Georg Peter Landmann). Allerdings sind auch einige Versuche von Athenern belegt, bürgerliche Pflichten zu umgehen; s. dazu Christ 2006. 34 [Aristot.] Ath. pol. 27,3–4; Aristot. pol. 2, 1274a 8–9; Aristoph. Equ. 50f. 255. 797–800; Vesp. 690. Plut. Per. 9,2–3; Plat. Gorg. 515e. 35 Ausführlich dazu: Mann 2008.

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für eine Wahlwerbung“ aufbringen zu können, sollen Losverfahren für ” eine gleichmäßige Streuung quer durch alle sozialen Schichten sorgen; laut Aristoteles galt die Losung daher als demokratisch, Wahl hingegen als oligarchisch.36 Wie exzessiv die Athener das Losverfahren anwandten, zeigt ein Blick auf einen athenischen Gerichtstag: Zunächst wurden diejenigen Bürger ausgelost, die das Losverfahren durchführen sollten. Anschließend erlosten diese aus der Gruppe der Freiwilligen, die am betreffenden Tag zu Gericht sitzen wollten, die benötigte Anzahl von Richtern. Schließlich loste man, da in der Regel mehrere Prozesse gleichzeitig stattfanden, noch aus, wer in welchem Gerichtshof zu sitzen habe, und schließlich wurde gelost, wer die Wasseruhren zu kontrollieren und die Auszählung der Stimmen vorzunehmen habe.37 Während Diäten und Losverfahren in allen Darstellungen als Kennzeichen der athenischen Demokratie genannt werden, findet ein weiteres wichtiges Prinzip seltener Erwähnung: die Selbstauswahl.38 Ein Athener konnte zur Volksversammlung gehen, es gab aber keinen formalen Zwang; er konnte dort das Wort ergreifen, aber er musste nicht; er konnte sich als Richter melden, aber er war nicht dazu verpflichtet etc. Cynthia Farrar hat die athenischen Verfahren mit zeitgenössischen Konzepten in den USA verglichen, nach denen Gruppen aus ausgelosten Bürgern über politische Sachthemen beraten und diese Beratungen anschließend in die politische Willensbildung integriert werden sollten. Bei solchen Verfahren werden die Personen, anders als im klassischen Athen, zuerst ausgelost und anschließend gefragt, ob sie sich beteiligen wollen.39

36 Pol. 1294b 7–9: λέγω δ᾽ οἷον δοκεῖ δημοκρατικὸν μὲν εἶναι τὸ κληρωτὰς εἶναι τὰς ἀρχάς, τὸ δ᾽ αἱρετὰς ὀλιγαρχικόν, ( Ich meine damit folgendes: Es ” gilt als demokratisch, die Ämter durch Los zu besetzen, dagegen als oligarchisch, die Inhaber zu wählen.“ ) Nach den oligarchischen Umstürzen von 411 und 404 wurde das Losverfahren abgeschafft, nach der Wiederherstellung der Demokratie erneut eingeführt. 37 Das komplizierte Losverfahren wird beschrieben bei [Aristot.] Ath. pol. 68f., verständlich wurde es jedoch erst, nachdem bei den Grabungen auf der Athener Agora ein Fragment einer Losmaschine gefunden worden war; s. dazu Boegehold 1995, 32–36; Thür 2000, 39–46. 38 In der Literatur häufig auch ho-boulomenos-Prinzip genannt; s. dazu Hansen 1991, 266f. 39 Farrar 2010.

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IV. Hindernisse und Gefahren für die Volksherrschaft im klassischen Athen Die zeitgenössischen Texte, vor allem diejenigen des 5. Jahrhunderts v. Chr., weisen überdeutlich auf das Selbstbewusstsein des athenischen Volkes hin, das als Kollektiv die Macht in der Polis besaß, insbesondere auch Macht über die einzelnen Aristokraten. Exemplarisch sei hier eine Passage aus Aristophanes’ Wespen zitiert, in der ein armer Athener seine Rolle als Richter beschreibt: Bei dem Eintritt gleich in die Schranken beweis’ ich dir klar und unwiderleglich: Dass sich unsere Gewalt wohl messen darf mit der Herrschaft jedes Monarchen! Welch Wesen auf Erden ist hoch beglückt, gefeiert und reich, wie ein Richter, Hat Freuden die Füll’, ist gefürchtet zugleich, wie ein Richter, und vor allem ein alter? Am Morgen gleich, wenn er kriecht aus dem Bett, da erwarten ihn mächtige Männer, Vier Ellen hoch, an den Schranken schon: ich trete herzu, und entgegen Streckt einer sogleich mir die samtene Hand, die den Säckel des Staates bestohlen. Sie verneigen sich tief, und sie bitten und flehn und schwimmen in Tränen und schluchzen: […] Da geruhen wir wohl die Saiten des Zorns ein bisschen herunterzustimmen! Das heißt doch, gewaltig, allmächtig sein und dem Reichtum ins Angesicht lachen?40

Für den unbekannten Verfasser der Schrift Die Verfassung der Athener, die in den Handschriften unter den Werken Xenophons überliefert ist, gibt es ebenfalls keinen Zweifel daran, wer in der Polis die Macht habe; er verdammt die Demokratie als Tyrannei der unmoralischen und ungebildeten Masse: Was aber die Verfassung der Athener angeht, daß sie sich für diese Art der Verfassung entschieden haben, lobe ich nicht, deswegen, weil sie sich damit zugleich dafür entschieden haben, daß es den schlechten Leuten besser geht als den guten: 40 Aristoph. Vesp. 548–555. 574f.: καὶ μὴν εὐθύς γ᾽ ἀπὸ βαλβίδων περὶ τῆς ἀρχῆς ἀποδείξω / τῆς ἡμετέρας ὡς οὐδεμιᾶς ἥττων ἐστὶν βασιλείας. / τί γὰρ εὔδαιμον καὶ μακαριστὸν μᾶλλον νῦν ἐστὶ δικαστοῦ, / ἢ τρυφερώτερον ἢ δεινότερον ζῷον, καὶ ταῦτα γέροντος; / ὃν πρῶτα μὲν ἕρποντ᾽ ἐξ εὐνῆς τηροῦσ᾽ ἐπὶ τοῖσι δρυφάκτοις / ἄνδρες μεγάλοι καὶ τετραπήχεις: κἄπειτ᾽ εὐθὺς προσιόντι / ἐμβάλλει μοι τὴν χεῖρ᾽ ἁπαλὴν τῶν δημοσίων κεκλοφυῖαν: / ἱκετεύουσίν θ᾽ ὑποκύπτοντες τὴν φωνὴν οἰκτροχοοῦντες: […] χἠμεῖς αὐτῷ τότε τῆς ὀργῆς ὀλίγον τὸν κόλλοπ᾽ ἀνεῖμεν. / ἆρ᾽ οὐ μεγάλη τοῦτ᾽ ἔστ᾽ ἀρχὴ καὶ τοῦ πλούτου καταχήνη; (Übersetzung Ludwig Seeger)

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Deswegen also lobe ich das nicht. Da sie dies aber nun einmal so beschlossen haben – dass es zweckmäßig ist, wie sie ihre Verfassung bewahren und auch die anderen Dinge ausführen, die sie den anderen Griechen falsch zu machen scheinen, das will ich jetzt beweisen.41

Es gibt jedoch auch andere Stimmen: Aristophanes stellt in einer anderen Komödie, den Rittern, das Volk als gutmütigen, aber naiven älteren Herrn auf die Bühne, der sich von Demagogen – im Stück als Sklaven dargestellt – lenken lasse; und Thukydides schreibt dem Perikles in einer berühmten Passage gleichsam eine monarchische Stellung zu: Sooft er wenigstens bemerkte, dass sie zur Unzeit sich in leichtfertiger Zuversicht überhoben, traf er sie mit seiner Rede so, dass sie ängstlich wurden, und aus unbegründeter Furcht hob er sie wiederum auf und machte ihnen Mut. Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes.42

Die althistorische Forschung hat solche Zitate begierig aufgegriffen, um die athenische Volksherrschaft auf eine Formalie zu reduzieren: Zwar habe die Macht bei der Volksversammlung gelegen, aber deren Entscheidungen seien durch die führenden Politiker manipuliert worden. Die Gründe, warum diese Forschungsposition so viele Anhänger fand und findet, sind vielfältig: Erstens widersprach der Standesdünkel vieler Professoren der Vorstellung, eine militärisch solch erfolgreiche und kulturell blühende Polis wie das klassische Athen sei durch Mehrheitsentscheidungen der breiten Masse regiert worden. Zweitens übte das eherne Gesetz der Oligarchie“ , ” gemäß dem jede Basisdemokratie Führungsstrukturen und -personal benötige, woraus jedoch wiederum eine Tendenz zur Oligarchie resultiere, einen großen Einfluss auf die althistorische Forschung aus.43 Und drittens wies man darauf hin, dass bei allem Streben nach politischer Gleichheit die Meinungsführer, in der zeitgenössischen Terminologie Demagogen 41 [Xen.] Ath. pol. 1,1: Περὶ δὲ τῆς Ἀθηναίων πολιτείας, ὅτι μὲν εἵλοντο τοῦτον τὸν τρόπον τῆς πολιτείας οὐκ ἐπαινῶ διὰ τόδε, ὅτι ταῦθ' ἑλόμενοι εἵλοντο τοὺς πονηροὺς ἄμεινον πράττειν ἢ τοὺς χρηστούς· διὰ μὲν οὖν τοῦτο οὐκ ἐπαινῶ. ἐπεὶ δὲ ταῦτα ἔδοξεν οὕτως αὐτοῖς, ὡς εὖ διασῴζονται τὴν πολιτείαν καὶ τἆλλα διαπράττονται ἃ δοκοῦσιν ἁμαρτάνειν τοῖς ἄλλοις Ἕλλησι, τοῦτ' ἀποδείξω. (Übersetzung Gregor Weber) 42 Thuk. 2, 65, 9: ὁπότε γοῦν αἴσθοιτό τι αὐτοὺς παρὰ καιρὸν ὕβρει θαρσοῦντας, λέγων κατέπλησσεν ἐπὶ τὸ φοβεῖσθαι, καὶ δεδιότας αὖ ἀλόγως ἀντικαθίστη πάλιν ἐπὶ τὸ θαρσεῖν. ἐγίγνετό τε λόγῳ μὲν δημοκρατία, ἔργῳ δὲ ὑπὸ τοῦ πρώτου ἀνδρὸς ἀρχή. (Übersetzung Georg Peter Landmann) 43 Pareto 1906; Mosca 1923; Michels 1989 (1910); s. dazu Finley 1962.

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( Volksführer“ ) genannt, stets der Gruppe der Wohlhabenden entstamm” ten. Der letzte Aspekt, eine Herausforderung für alle demokratischen Systeme, verdient in der Tat große Beachtung. Auch wenn jeder Athener das Recht besaß, in der Volksversammlung das Wort zu ergreifen, wird es nur von einem kleinen Teil in Anspruch genommen worden sein; und wer zur politischen Elite gehören wollte, musste sowohl ökonomisch abkömmlich sein als auch über eine rhetorische Bildung verfügen. Die soziale Ungleichheit wirkte also auch in der Demokratie in die politische Entscheidungsfindung hinein, so sehr die Athener dem auch entgegenzusteuern versuchten. Eine andere Frage ist allerdings, ob man das Volk deshalb lediglich als manipulierte Masse wahrnehmen und die Politik im demokratischen Athen auf die Auseinandersetzungen zwischen den Meinungsführern reduzieren möchte. Die Forschung hat hierzu zwei Konzepte entwickelt, das Parteienmodell und das Führer-und-Gefolgschaft“ -Modell. Gemäß dem ” Parteienmodell hätten, analog zu modernen Repräsentativverfassungen, auf politische Programme ausgerichtete Gruppen um die Macht in Athen gerungen; bezeichnet werden diese in der Literatur etwa als Kriegspartei“ ” und Friedenspartei“ oder als die radikale Partei“ und die gemäßig” ” ” te Partei“ .44 Bei dieser Analogie wird jedoch ein wichtiger Unterschied zwischen der attischen Demokratie und modernen Systemen übersehen: In Athen gab es keine Spaltung in eine Regierung“ und Opposition“ ; ” ” es konnte sie gar nicht geben, weil keine verfestigten Machtstrukturen existierten. Alle Amtsträger waren jederzeit abwählbar, und prinzipiell konnte die Volksversammlungen an einem Tag einen Beschluss fassen, am folgenden diesen aber wieder kassieren oder modifizieren.45 Darüber hinaus hat Hansen unter Verweis auf die Schweizer Landsgemeinden dargelegt, dass selbst bei einer entwickelten Parteiendemokratie die Parteipräferenz der Teilnehmer nicht ihr Abstimmungsverhalten strukturiert.46 Bessere Argumente lassen sich für die Hypothese finden, die Politik in Athen sei durch konkurrierende Gefolgschaftsverbände, die sich um eine Führungsfigur gruppierten, geprägt gewesen.47 Denn in manchen Phasen der Geschichte Athens, etwa in der politischen Krise der Jahre 415–411 44 S. z. B. Beloch 1884; Hignett 1952, 253; Kagan 1969, 133–153. 45 S. dazu Sinclair 1988, 77–80 und passim; das bekannteste Beispiel eines bald revidierten Beschlusses betrifft die Behandlung von Mytilene (Thuk. 3,36–49). 46 Hansen 1983, 219–222. 47 Z. B. Connor 1971; Bicknell 1972; Aurenche 1974.

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v. Chr., die in einen oligarchischen Putsch mündete, lässt sich das Wirken von politischen Freundesgruppen (hetairiai) gut greifen.48 Jedoch sollte daraus kein allgemeines Modell für die athenische Demokratie abgeleitet werden, denn es handelte sich um eine Krisensituation, die durch eine Verschränkung von Kriegsereignissen und inneren Entwicklungen hervorgerufen wurde;49 in den Jahrzehnten davor und über weite Strecken des 4. Jahrhunderts v. Chr. konnten die hetairiai keinen wirksamen Einfluss ausüben. Das Verfahren des Ostrakismos lässt sich angesichts der erhaltenen Scherben nicht in das Führer-und-Gefolgschaft“ -Modell integrieren ” (s. o. S. 55 f.), und ein Bindungswesen nach Art der römischen Klientel existierte in Athen nicht. Anders als in Rom gelang es den politischen Meinungsführern in Athen auch nicht, ihre Differenzen bereits im Vorfeld von Volksversammlungen beizulegen; es gab schlichtweg kein Pendant zum römischen Senat, in dem die Aristokratie unter sich über Politik diskutieren konnte. Darum wurden dem Volk in der ekklesia konkurrierende Vorschläge unterbreitet; und so manipulativ die Rhetorik mancher Demagogen auch gewesen sein mag, die Athener konnten sich zwischen Alternativen entscheiden. Und selbst herausragende Politiker wie Perikles durften sich nicht darauf verlassen, dass die ekklesia ihrem Votum folgen würde, sondern mussten in jeder Sitzung erneut um eine Mehrheit kämpfen. Das eherne Gesetz der Oligarchie“ in seiner soziologischen Zuspit” zung war den Athenern sicher nicht bekannt, aber man kann an einzelnen Maßnahmen erkennen, wie sehr die Athener darauf achteten, die Bildung einer Regierung“ , d. h. eine Verfestigung von Machtstrukturen, zu un” terbinden. Exemplarisch sei dies anhand einer Reform dargestellt, die den Vorsitzenden der Volksversammlung betrifft. Im 5. Jahrhundert wurde dieser, wie oben dargelegt, aus den 50 Ratsherren derjenige Phyle erlost, der im betreffenden Monat die Geschäfte führte. Obwohl die Stellung dieses Vorsitzenden durch den täglichen Wechsel schwach war, schien den Athenern die doppelte Funktion – Vorsitz des Rates und Vorsitz der ekklesia – eine zu große Kumulation an Macht zu sein, sodass man die Regeln nach 403 v. Chr. änderte: Nun wurde aus den neun Phylen, die gerade nicht die Geschäfte führten, je ein Prohedros gelost, und aus diesen wiederum wurde der Vorsitzende der Volksversammlung bestimmt, wiederum durch das Los. Auf diese Weise spaltete man die Kompetenzen auf und beschnitt den

48 Aurenche 1974; McGlew 1999. 49 Ausführlich dazu: Mann 2007, 191–289.

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Einfluss der einzelnen Funktionsträger noch weiter, um das zu bewahren, was die Athener für wichtig hielten: die Volksherrschaft (demo-kratia).

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Wer soll an der Polis teilhaben? Das Dilemma des Aristoteles1 Jürgen v. Ungern-Sternberg Die Mehrheit? Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen. […] Der Staat muss untergehn, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet. (Fürst Sapieha in Schiller ,Demetrius‘)

Jeder Bürger halte Wache, denn der Staat ist seine Sache. ————– Mitdenken, Mitreden, Mithandeln – dein Beitrag zur Demokratie. (Stempelwerbung der Deutschen Bundespost in den 1950er Jahren)

Inhaltsreiche und zugleich komplexe Werke wie die Bibel oder auch die ,Politik‘ des Aristoteles haben die erfreuliche Eigenschaft, jedem das zu bieten, was er gerade für eine Sonntagsrede braucht. So lässt sich etwa schön deklamieren, dass „der Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen“ sei,2 in der allein er ein glückliches, d. h. ein erfülltes, sinnvolles Leben führen könne (eu zen). Politik wird damit als Fortsetzung und Vollendung der Ethik aufgefasst und nicht als ein von so trivialen Fragen bestimmtes Gebiet, wie der nächste Tag oder spätestens die nächste Wahl zu erreichen sei. Gerne hört man auch, dass jedem Bürger die vollständige Teilhabe an den staatlichen Funktionen zukomme, die sich im Prinzip des abwechselnden Regierens und Regiertwerdens verwirkliche. Ja, man kann durchaus mit Dolf Sternberger der Ansicht sein, dass der in der ,Politik‘ des Aristoteles fundamentale „Gegensatz des despotischen und des politischen Regiments oder, wie es sich auch ausdrücken läßt, der Gegensatz von Herrschaft und Verfassung […] am geistigen Beginn des modernen Verfassungsstaates“ steht.3 Indes, so einfach macht es uns Aristoteles nicht. In zahlreichen Passagen huldigt er eher dem biblischen Prinzip: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“ (Matth. 20,16), und möchte die politische Teilhabe 1

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Als Vortrag auch gehalten an der Technischen Universität Dresden und der Humboldt-Universität Berlin. Für Anregungen im Gespräch danke ich Manuel Hediger. 1253a1ff; sämtliche Übersetzungen sind – gelegentlich leicht verändert – entnommen aus: Susemihl 1994. Sternberger 1985, 12–13.

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auf diejenigen einschränken, die dafür die erforderliche Muße besäßen, also die Edlen, Wohlhabenden und Gebildeten. Aristoteles macht also durchaus widersprüchliche Aussagen zur Frage der politischen Partizipation. Diese gilt es nicht einfach zu übersehen oder wegzuerklären, sondern auszuhalten.4 Wir können dann erkennen, dass hinter den Widersprüchen elementare Sachverhalte, aber auch Wertprobleme stehen, und können gerade aus den Schwierigkeiten vielleicht manches über die grundlegenden Probleme politischer Partizipation lernen.

I. Gleich im ersten Satz der ,Politik‘ sagt Aristoteles, dass die Polis ein Ziel außerhalb ihrer selbst habe, von dem wir bald darauf erfahren, dass dies in der völligen Selbstgenügsamkeit bestehe und im vollendeten Leben (1252b27-30). Es folgt die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Oikos und der Polis, wobei die Polis auf den Oikoi aufbaut. Der Oikos erweist sich als der Bereich des Notwendigen, des Alltäglichen,5 der die Fortpflanzung und die Lebenserhaltung gewährleisten muss. In ihm herrschen streng hierarchische Verhältnisse, die aber zugleich natürliche sind. Die einen – die Herren – sind nämlich von Natur mit vorausschauendem Verstand begabt, die anderen – die Sklaven – mit der Fähigkeit, körperlich zu arbeiten. Ihr Zusammenwirken geschieht folglich zu beiderseitigem Nutzen (1252a31-34). Anschließend werden die ebenfalls untergeordneten Frauen von den Sklaven unterschieden, ohne dass freilich über den Unterschied etwas gesagt wird. Daraufhin wendet sich Aristoteles der Polis zu, die er ebenfalls zu den „naturgemäßen Gebilden“ rechnet, da „der Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen“ (zoon politikon) sei (1253a1-3). Da er diese Eigenschaft aber mit anderen Lebewesen, wie etwa den Bienen, teilt, fügt Aristoteles als das unterscheidende Merkmal den Logos hinzu,

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Bei Aristoteles lassen sich gewiss nahezu alle Bestandteile eines politischen Liberalismus finden – Höffe 2011b –, aber dies allein herauszustellen, ebnet die Problematik allzu sehr ein. Eis pasan hemeran: 1252b13; zur Entwicklung dieser Unterscheidung im Verlauf der griechischen Geschichte: Spahn 1980.

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als dessen wesentliche Leistung er die Unterscheidung von Gerechtem und Ungerechtem, des Guten und Schlechten bestimmt.6 Die Frage ist nur: Wer ist hier mit „der Mensch“ oder mit „jeder von uns“, dem gegenüber die Polis ursprünglicher sei (1253a19), gemeint? Aristoteles äußert sich dazu nicht unmittelbar. Wir können aber seine späteren Definitionen der Polis hinzunehmen, insbesondere die zu Beginn des dritten Buches, wonach diese eine Gemeinschaft von freien Leuten ist, die sich auf die Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger gründet. Wir können auch seine grundlegende Unterscheidung zwischen Oikos und Polis in Rechnung stellen. In jedem Fall ist klar, dass nach der Meinung des Philosophen Sklaven und Frauen die Hausschwelle nicht überschreiten und sich auf die Agora begeben sollten. Sie sollen also an der Polis nicht aktiv teilhaben, auch wenn er zugesteht, dass sie an ihrem Nutzen – im Sinne der Lebenserhaltung – beteiligt sind. Gleich zu Anfang der ,Politik’ wird somit der größte Teil der Bewohner einer Polis von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Wenn Sklaven und Frauen folglich keine ,polisbildenden Wesen‘ sein können, so erhebt sich doch unabweisbar die Frage, inwieweit es sich bei ihnen überhaupt um Menschen handelt. Denn wenn der Mensch, d. h. aber jeder Mensch, ein polisbildendes Wesen ist, dann kann ein nichtpolisbildendes Wesen eigentlich schon e definitione kein Mensch sein. Es ist, wie Aristoteles selbst bemerkt, „entweder ein Tier oder ein Gott“ (1253a29). Der Konsequenz, die Sklaven den Tieren zuzuordnen, kommt Aristoteles gelegentlich gefährlich nahe,7 wenn er sie etwa gemeinsam mit den wilden Tieren zu Objekten der Jagdkunst macht (1256b24-26)8 oder sich fragt, was manche Völker eigentlich von den Tieren unterscheide

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Grundlegend Kullmann 1980; vgl. Kullmann 1984; zu dem Problem der Bedeutung von zoon politikon bei Aristoteles s. zuletzt Mann 2009 (unter Einbezug der Historia animalium) und den Diskussionsbeitrag Hansen 2009. Smith 1983 macht diese Zuordnung sogar zur Grundlage der aristotelischen Argumentation. Das überspannt wohl ihre logische Konsequenz. Zu beachten ist in jedem Fall, dass der Abstand zwischen Tier und Mensch für Aristoteles geringer war als nach der modernen Auffassung: Kullmann 1980, 433f. Auch der Nutzen der Sklaven unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der Tiere: 1254b24-26.

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(1281b19-20).9 Aufs Ganze gesehen sind aber Sklaven und erst recht Frauen für ihn fraglos Menschen – indes: was für welche? Im Grunde drängt sich im ganzen weiteren ersten Buch der ,Politik‘, das der Hausverwaltung (Oikonomia) gewidmet ist, diese quälende Frage immer wieder hervor. Das ehrt Aristoteles, denn er macht sich damit die Mühe, einen Zustand zu begründen, der für den allergrößten Teil seiner Zeitgenossen fraglose Selbstverständlichkeit war. Gleichzeitig musste er aber auch der Meinung einiger dissidenter – bei ihm anonym bleibender – Kollegen Rechnung tragen, die die Sklaverei für ein auf Gewalt, nicht auf Gerechtigkeit gegründetes Verhältnis hielten, da Sklaven und Freie von Natur aus gleich seien (1253b20-23; vgl. 1255a3-11).10 Aristoteles begegnet ihnen und damit auch der Grundfrage nach der menschlichen Natur des Sklaven mit folgender einfacher Überlegung. Aufgabe der Oikonomia ist es, das Unentbehrliche bereitzustellen, ohne das man weder überhaupt noch sinnerfüllt leben kann. Für dessen Produktion aber sind Werkzeuge, auch lebende, notwendig, die die anderen leblosen zu bedienen imstande sind. Eben diese unbedingt erforderlichen lebenden Werkzeuge aber sind die Sklaven, und das ist auch ihre naturgemäße Aufgabe. Damit wird der ,Sklave von Natur‘ zunächst einfach von den Bedürfnissen des Herren in der entwickelten Polis her bestimmt.11 Aristoteles macht das selbst sehr deutlich, indem er die bemerkenswerte Überlegung anschließt: Wenn es von selbst arbeitende Roboter gäbe, wie sie sich Hephaist nach dem Bericht der Ilias (18, 372–379) verfertigt hatte,12 dann bedürften die Herren keiner Sklaven mehr (1253b35-39). Nach 9

Auf die Haltung des Aristoteles zu den Barbaren muss hier nicht weiter eingegangen werden. Grundsätzlich findet er bei ihnen nicht die Verbindung von Mut (thymos) und Denkvermögen (dianoia), die die Griechen auszeichnet (1327b16-36: Allerdings vermisst er diese auch bei manchen griechischen Völkerschaften). Das hindert ihn aber nicht daran, die Verfassung Karthagos wiederholt und durchaus anerkennend heranzuziehen (1272b24-1273b26; 1275b11-12; 1280a35-40, dort auch die Tyrrhener; 1293b14-16; 1316b3-6; 1320b4-5). 10 S. dazu Klees 1975, 204–206; Sternberger 1978b, 55–57; Schütrumpf 1991, 249–250 (Alkidamas; Philemon; Euripides). 11 Klees 1975, 201; vgl. Gigon 1965, 252–253. 272–274. Zur Frage, ob dies als ,Herrschaftsideologie‘ zu bezeichnen ist: Schofield 1990 (mit dem Kommentar von Charles H. Kahn, 28–31). 12 Er hätte vielleicht noch besser auf die goldenen Helferinnen des Hephaist verwiesen, „die lebenden Jungfrauen glichen. Die haben drinnen Verstand im Innern und drinnen auch Stimme und Kraft, und wissen von den unsterblichen Göttern her die Werke“ (Ilias 18, 418–420; übers. Wolfgang Schadewaldt); zu vergleichen sind auch die von selbst sich öffnenden Tore des Olymp: Ilias 5, 748; 8, 393.

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der überwiegenden Meinung der Forschung will er damit nur „die Funktion des belebten Werkzeugs deutlich machen.“13 Überzeugend ist das nicht. Aristoteles ist sehr wohl eines Gedankenexperiments fähig, das die moderne Technik vorwegnimmt.14 In der Tat haben die Maschinen den Menschen seither von mancher früher lebensnotwendigen Arbeit freigesetzt und neue Lebensformen ermöglicht – elementar etwa im Haushalt durch die Erfindung der Waschmaschine, von den neuesten Entwicklungen der Roboter ganz zu schweigen. Allerdings gibt sich Aristoteles mit dieser Ableitung des Naturgemäßen aus dem Notwendigen doch nicht zufrieden, sondern stellt gleich nochmals vertieft die Frage nach der Gerechtigkeit.15 Seine Antwort: Überall, in der Natur wie innerhalb des Menschen, gibt es hierarchische Verhältnisse zum Besten der jeweils Beteiligten. So ist es auch für den Sklaven von Natur, der körperliche Arbeit zu leisten vermag, besser, regiert zu werden. Er hat nämlich am Logos nur so weit teil, um seine Gebote zu verstehen, ohne ihn zu besitzen (1254b22-23). Damit setzt Aristoteles am entscheidenden Punkt an, denn es ist doch eben der Logos, der seiner Meinung nach den Menschen von den anderen Lebewesen, sogar den ,politischen‘, unterscheidet. Die von ihm getroffene Differenzierung innerhalb des Logos-Besitzes ist freilich eine reine ad hoc-Annahme.16 Und das gibt er selbst auch anschließend zu einem gewissen Grade zu, wenn er zunächst einen Unterschied in der körperlichen Erscheinung von Sklaven und Freien ausmachen zu können vermeint, dann aber lakonisch feststellt, dass „manche nur die Leiber von freien Männern haben und andere nur die Seelen“ (1254b32-34).17 Nachdem er dem Einwand, dass doch nicht jeder versklavte Kriegsgefangene notwendig ein ,Sklave von Natur‘ ist, Recht gegeben hat, beharrt er gleichwohl nochmals 13 Klees 1975, 188 Anm. 39 (mit Lit.). 14 So Kullmann, in: Susemihl 1994, 361 Anm. 19. 15 Zur argumentativen Verwendung des Naturbegriffs im ersten Buch der Politik s. die Appendix am Schluss des Aufsatzes. 16 Pellegrin 2011, 43 trifft diesen Punkt sehr genau: „Der Sklave ist […] lediglich unfähig, Überlegungen mit Blick auf das gemeinsame Werk anzustellen, das es zwischen ihm und seinem Herrn gibt. […] Nichts (spricht) dafür, daß der sich selbst überlassene Sklave nicht fähig sein sollte, seine eigenen Ziele – sich zu ernähren, zu schützen, fortzupflanzen… – festzulegen. Er befindet sich außerhalb der Zielsetzung seines Herrn, und es sind dessen Ziele, zu deren Erreichung der Sklave ein Werkzeug ist.“ Gerade diese ,Instrumentalisierung‘ eines anderen Menschen ist aber doch das Problem, und Aristoteles ist das durchaus klar. 17 Zu dieser Passage s. Sternberger 1978b, 313–332.

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auf deren Existenz, erweitert aber nunmehr das Verhältnis von derartigen Sklaven und ihren Herren über den gemeinsamen Nutzen hinaus sogar zu einem der gegenseitigen Zuneigung (Philia: 1255b12-14), ein merkwürdiges Zugeständnis so eigentlich doch nicht möglicher ,zwischenmenschlicher‘ Beziehungen. In der Nikomachischen Ethik (VIII 13, 1161b5-6) hilft sich Aristoteles zusätzlich mit der Unterscheidung, dass zwar keine Freundschaft mit dem Sklaven als belebtem Werkzeug, wohl aber mit ihm als Menschen möglich sei. 18 Es folgt in Rückkehr zum Anfang der ,Politik‘ das eigentliche Beweisziel des gesamten bisherigen Gedankenganges über die Sklaverei: die grundlegende Unterscheidung zwischen der Herrschaft des Hausherrn und der Regierung in der Polis über Freie und Gleichgestellte (1255b16-20). Wenn dann Aristoteles freilich meint, an der Wissenschaft des Hausherrn sei wenig dran und wer es sich leisten könne, werde das einem Epitropos übertragen, um sich der Politik oder der Philosophie zuzuwenden (1255b33-37), so unterläuft er unversehens erneut seine eigene Bestimmung des ,Sklaven von Natur‘. Denn dieser Epitropos, selbst ein Sklave, muss unvermeidlich bis zu einem gewissen Grade Führungsqualitäten besitzen – also an dem Logos mehr teilhaben, als den Sklaven zuvor zugebilligt worden ist.19 Nach der Behandlung der Erwerbskunde wendet sich Aristoteles den Frauen und Kindern zu. Hier handle es sich um ein ,politisches‘ Herrschaftsverhältnis, aber im Gegensatz zu dem in der Polis vorwaltenden Prinzip des Regierens und Regiertwerdens sei der Mann von Natur aus mehr zur Leitung geschickt, regiere also immer – auch wenn, wie der Philosoph einräumt, das reale Verhältnis sich bisweilen „wider die Natur“ gestalte (1259b2-3).20 Wieder aber fühlt er sich dann doch zu einer Begründung veranlasst. Diese wird im Schlussabschnitt des ersten Buches 18 Ottmann 2001, 164, 181. Im Grunde ist das auch die römisch-rechtliche Auffassung: Quod attinet ad ius civile, servi pro nullis habentur; non tamen et iure naturali, quia, quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt (Ulpian, Dig. 50.17.32). 19 Dasselbe konnte Aristoteles an sich auch bei den Sklaven in Athen beobachten, die im Apophorá-System selbständig einer Erwerbstätigkeit nachgingen und ihren Herren dafür eine Abgabe leisteten; vgl. Klees 1998, 113. 146–154. Weitere Einwände dieser Art sind gesammelt bei Fortenbaugh 1977; Smith 1983, 110–113. Ihre Widerlegung überzeugt nicht. 20 Zur Problematik dieser Passage wie auch zur späteren Begründung mit der mangelnden Entschiedenheit der Frau s. Mulgan 1994, der wohl mit Recht vermutet, dass die Unklarheit des Aristoteles auf sein Desinteresse an dieser Frage zurückzuführen ist (200f.).

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gegeben, der sich mit der Tugend befasst, die für das gemeinschaftliche Leben erforderlich ist. Dabei kommt Aristoteles auch nochmals auf die Sklaven zurück. Er wirft die Frage auf, „ob bei einem Sklaven außer seiner Tüchtigkeit als Werkzeug und Diener noch irgendeine andere höhere Tugend, wie Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit oder irgendeine sonstige derartige Beschaffenheit möglich ist“ (1259b21-25). Eine, wie er zugibt, aporetische Frage: „Denn gesetzt, auch ein Sklave könne solche Tugenden besitzen, wodurch unterscheidet er sich dann noch von einem Freien? Und gesetzt wieder, es wäre nicht der Fall, so würde dies ja ungereimt sein, da doch auch die Sklaven Menschen und des Logos teilhaftig sind“ (1259b26-28).21 Dieselbe Frage stellt er sich anschließend für die Frauen und Kinder. Damit ist das Problem auf den Punkt gebracht. Sind die Menschen als Menschen gleich geartet oder sind sie es nicht – und wenn nicht, aus welchem Grunde? Aristoteles löst es auf der Ebene des Faktischen. „Regiertwerden und Regieren ist ein Artunterschied“ (1259b37), stellt er fest, und deshalb haben beide Seiten zwar die gleichen Teile der Seele, aber in unterschiedlicher Weise. „Denn den Sklaven fehlt überhaupt die Kraft der Überlegung (bouleutikon), die Frau besitzt sie, aber ohne Entschiedenheit (akyron),22 das Kind gleichfalls, aber noch nicht zur Vollendung entwickelt“ (1260a12-14). Auch bei den Tugenden gelte, dass zwar alle an ihnen teilhätten, aber nur in dem Maße, wie sie es für ihre jeweilige Aufgabe (pros to hautou ergon) – das ist der entscheidende Begriff – brauchten. So kommt auch die sittliche Tugend zwar allen zu, „doch ist die Besonnenheit des Mannes und der Frau nicht dieselbe und auch nicht die Tapferkeit und die Gerechtigkeit […] sondern die eine ist Tapferkeit zum Regieren, die andere zum Dienen, und ähnlich verhält es sich mit den anderen Tugenden“ (1260a20-24).23 21 Sternberger 1978a, 96–97 stellt zu Recht fest, dass „diese Bestimmungen […] gar nicht mit Hinblick auf die Gattung Mensch“ (getroffen werden), […] dass sie „vielmehr ihrem Wesen nach normativ und teleologisch seien […] Das Wesen des Menschen – als Zoon logon echon und als Zoon politikon – fängt erst beim Freien an, und das heißt zugleich: beim Politès (sic!), beim Bürger“. Bei Aristoteles selbst ist aber eher ein Unbehagen an dieser Sicht spürbar – auch im Hinblick auf die dissidenten Stimmen seiner eigenen Zeit. 22 S. dazu Föllinger 1996, 197–200, die wohl mit Recht annimmt, dass Aristoteles die juristische Situation der Athenerin auf die seelische Beschaffenheit der Frau überträgt; vgl. auch Miller 2011, 95: „The term akyros refers to a disability, e.g. when an official, public body, or ordinance lacks authority.“ 23 Vgl. im dritten Buch: „Gerade wie ja auch die Besonnenheit und die Tapferkeit des Mannes eine andere ist als die der Frau, denn ein Mann würde noch als feig erscheinen,

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Wiederum könnte man finden, diese Unterscheidungen seien doch an den Haaren herbeigezogen. In Wahrheit orientiert sich Aristoteles indes an den bestehenden Verhältnissen und an den bestehenden Vorurteilen. Dafür genügt ein Blick auf vergleichbare Verhältnisse in anderen Zeiten. Immer halten die jeweils Herrschenden die bestehenden Unterschiede für naturgegeben. So haben sich geäußert und äußern sich noch: Gutsherren über ihre leibeigenen Bauern, Weiße in Südafrika über die Schwarzen, Arbeitgeber über ihre Arbeiter, Hausfrauen über ihre Angestellten, Israelis über die Araber und am Ende noch Professoren über ihre Studenten.24 Auch die spätere Bemerkung des Aristoteles begegnet immer wieder anderwärts. Nicht nur Befehle seien gegenüber dem Sklaven angebracht. „Im Gegenteil, der Sklave bedarf dessen, daß man ihm zu Gemüte redet, noch mehr als die Kinder“ (1260b6-7). Das ist nur sehr begrenzt menschenfreundlich. Die aus Abhängigkeiten unvermeidlich resultierenden Depravierungen werden damit zu ontologischen Differenzen hochstilisiert. Und in deren Namen wurde und wird – damit sind wir bei einem ganz entscheidenden Punkt der Partizipationsproblematik – scheinbar rational großen Gruppen die gleichberechtigte Teilhabe am Gemeinwesen verweigert. Im dritten Buch der ,Politik‘ wird das hier wenigstens noch zu Beweisende en passant zur schlichten Selbstverständlichkeit: „Nun haben sie (sc. die Bürger) sich aber doch zum Staat vereinigt nicht um des bloßen Lebens, sondern vielmehr um des vollkommenen Lebens willen – denn sonst müßten auch Sklaven und die anderen (!) Lebewesen einen Staat bilden können, so aber können sie es nicht, weil sie weder an der Glückseligkeit noch an einem Leben auf Grund freier Entscheidung (prohairesis) beteiligt sind […]“ (1280a31-34). Empirisch ist das sicher richtig, der Sklave ist nicht Herr seiner selbst, die Frage aber

wenn er nur so tapfer wäre wie eine tapfere Frau, und eine Frau noch als sehr geschwätzig, wenn sie nur so zurückhaltend wäre wie ein tüchtiger Mann“ (1277b21-23). Immerhin ist Aristoteles aber, wie Platon, für eine gute Erziehung auch der Frauen zur Tüchtigkeit, „da die Frauen die Hälfte der freien Leute in der Polis bilden“ (1260b18-19; vgl. ex negativo Sparta 1269b12-19) und immerhin billigt er ihnen die Verwaltung des Oikos zu, in die der Mann sich nicht einmischen sollte (Nik. Ethik VIII 12, 1160b32ff.; vgl. VIII 14, 1162a15ff.). Freilich darf dies auch nicht überbewertet werden wie etwa bei Swanson 1992, 44–68. 24 Trefflich formuliert das Tocqueville 1835, Kap. II 10, Anm. 32 im Hinblick auf die Schwarzen in den Südstaaten: „Pour que les blancs quitassent l’opinion qu’ils ont conçue de l’infériorité intellectuelle et morale de leurs anciens esclaves, il faudrait que les nègres changeassent, et ils ne peuvent changer tant que subsiste cette opinion.“

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wäre doch: warum und aus welchem Recht werden hier Menschen von der Glückseligkeit ausgeschlossen?25 Für Aristoteles sind all dies freilich nur unvermeidliche Vorüberlegungen, die im Oikos das Lebensnotwendige bereitstellen sollen, um damit die Hausherren materiell abgesichert in das Reich der Muße und der politischen Tätigkeit, kurz in den Bereich der Selbstverwirklichung als menschliche Wesen zu entlassen. Wir kommen somit zum eigentlichen Bereich der Politik. Eine Randbemerkung ganz gegen Ende des ersten Buchs lässt freilich ahnen, dass wir auch da Problemen begegnen werden, die mit denen des ersten Buches manche Ähnlichkeit aufweisen. Aristoteles wirft nämlich die Frage auf, ob „etwa auch die Handwerker (sc. wie die Sklaven) einer besonderen Tugend (sc. des Dienens) bedürfen, da ja auch sie oft aus Liederlichkeit ihre Arbeit vernachlässigen“ (1260a38-39). Er betont dann zwar den Unterschied: „Die Stellung nämlich des Handwerkers ist die einer begrenzten Sklaverei, aber Sklave ist einer von Natur, Schuster oder irgendein sonstiger Handwerker aber nicht“ (1260b1-2), indes, da werden doch schon Abstufungen innerhalb der Gruppe der freien Bürger sichtbar, die ihre Auswirkungen haben.

II. Betreten wir den Bereich der Politik, in dem, wie wir schon wissen, über Freie und Gleiche regiert wird (1255b20). Diese Regierung kann folgerichtig kein einseitiges Verhältnis sein, weil ein Regent auf Dauer nicht mehr über seinesgleichen herrschen würde. Zu Beginn des dritten Buches definiert Aristoteles deshalb den Bürger durch seine Teilhabe an der Volksversammlung, am Gericht und an den verschiedenen Ämtern, kurz also durch seine umfassende Partizipation am politischen Leben (1275a22-26). Bürgersein ist für ihn in einem solchen Maße an die aktive Teilnahme gebunden, dass mit einem Wechsel der Verfassung – d. h. mit dem Ausschluss oder Einschluss politisch Berechtigter – auch die Polis als die Gemeinschaft

25 Ganz entsprechend fragt Aristoteles im siebten Buch zunächst, „welches sozusagen für alle das wünschenswerteste Leben ist“ (1323a20), und erst bei Gelegenheit der Ablehnung der Herrschaft über Nachbarstaaten führt er die Unterscheidung zwischen despotischer und politischer Herrschaft ein und dann die von Natur zum Beherrschtwerden Bestimmten, wieder mit einem Tiervergleich (1324b32-41).

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aller Bürger nicht mehr dieselbe sein wird, mögen auch der Ort und seine Bewohner dieselben bleiben (1276b9-13).26 Gleichheit bedeutet für den Philosophen aber nicht Gleichförmigkeit der Bürger, denen er zubilligt, dass nicht alle dem Ideal des ,guten Mannes‘ gerecht werden müssen.27 Er bedient sich dazu der Metapher des Staatsschiffs, dessen Besatzung durchaus verschiedene Funktionen auszufüllen hat, um eine sichere Fahrt zu gewährleisten. Ebenso sei die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft die gemeinsame Aufgabe der Bürger bei aller ihrer Verschiedenheit (1276b20-29). Die Einsicht (phronesis) des wahrhaft ,guten Mannes‘ muss der Bürger also nicht besitzen. Aber er muss doch imstande sein, ebenso gut zu regieren wie sich regieren zu lassen, denn das ist das immer wieder eingeschärfte Grundprinzip der Bürgergemeinschaft (1277a25-27; 1277b13-16): archein kai archesthai. Dazu bedarf er der Besonnenheit (sophrosyne) und der Gerechtigkeit (dikiaiosyne), als Regierender und als Regierter in je unterschiedlichem Maße (1277b16-20). Im Bilde des Staatsschiffs ist neben dem Bedürfnis gegenseitiger Unterstützung auch bereits der Gedanke des gemeinsamen Nutzens angelegt, den Aristoteles geradezu zu einem Kriterium richtiger und verfehlter Formen der Polis erhebt. Freilich muss er gerade in diesem Punkt einen Verfall diagnostizieren: „Hiernach war denn auch in bezug auf die Regierungsämter in der Polis, wo diese auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger gegründet ist, das Verlangen der letzteren, dass die Bekleidung der Ämter unter ihnen abwechsele, früher der Natur der Sache entsprechend darauf gerichtet, dass man abwechselnd der Polis diene und dass für das Wohl eines jeden auch wieder einmal ein anderer sorge, gleichwie er selbst vorher als Regierender für das Beste dieses anderen gesorgt habe; jetzt aber möchte jeder wegen der Vorteile, die ihm aus Staatsmitteln durch sein Amt erwachsen, gern für immer an der Regierung bleiben […].“ (1279a8-15)

Demgegenüber betont Aristoteles die Wichtigkeit einer guten Staatsgesinnung, er nennt sie die „politische Tugend“, die alle anstrebten, „welche auf gute gesetzliche Ordnung (eunomia) bedacht sind“ (1280b5-6). Sie realisiert sich in der alltäglichen Lebensgemeinschaft der Bürger:

26 Bemerkenswerterweise bringt Aristoteles diese Überlegung im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Polis nach der Abschüttelung einer Gewaltherrschaft die vertraglichen Verpflichtungen des früheren Regimes zu erfüllen hat: III 3. 27 Rosenberg 1973.

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„Freilich ist eine solche nicht möglich, wo man nicht einen und denselben Ort bewohnt28 und Ehebündnisse miteinander schließt, und daher entstanden in den Poleis Schwägerschaften und Geschlechterverbände sowie Opfergenossenschaften und Formen des Zusammenlebens“ (1280b35-38).

„Dies alles aber“, krönt der Philosoph nunmehr seinen Gedankengang, „ist ein Werk der Freundschaft (philia), denn Freundschaft ist nichts anderes als die freie Entscheidung (prohairesis), miteinander zu leben“ (1280b38-39). Freundschaft ist ein zentraler Begriff der aristotelischen Ethik und Politik. Einen wichtigen Aspekt des darin Enthaltenen hat Ernst Hoffmann so formuliert: „Wer sich mir gegenüber auf den Rechtsstandpunkt stellt, negiert vielleicht die Gemeinschaft zwischen uns mehr, als dass er sie bejaht. Gemeinschaft wird geschaffen erst in einer über dem Reich der Dike liegenden Sphäre, in welcher man eben dem Andern mehr zubilligt (epieikeia) als das, was nach dem starren Recht korrekt und richtig ist.“29

An späterer Stelle macht Aristoteles quasi die Gegenprobe zu dem eben skizzierten Kern seiner Polis-Konzeption von Gemeinschaft und Freundschaft, nämlich in seinen Ausführungen im fünften Buch über die Wirkungen der absoluten Tyrannenherrschaft (1313a34-1314a29).30 Diese beschreibt er als die Auflösung der Bürgerschaft durch die systematische Untergrabung der wechselseitigen Solidarität. Der Tyrann wird weder Syssitien noch Hetairien noch irgendeine Art von Bildung (paideia) dulden, woraus Selbstgefühl (phronema) und Vertrauen (pistis) entspringt, und mithilfe von Verleumdungen alle gegeneinander ausspielen, die Freunde gegenüber den Freunden,31 das Volk gegenüber den Vornehmen und die Reichen untereinander. Er wird sogar die Verhältnisse im Haus auf den Kopf stellen, indem er die Frauen und Sklaven durch unangemessene Freiräume zur Denunziation verlockt. Alles zielt also auf die Vereinzelung des seiner Polis beraubten Bürgers ab, der in dieser Isolation dann auch handlungsunfähig wird. Mit den Worten des Aristoteles: „Dreierlei liegt allen ihren (sc. der Tyrannen) Maßregeln zugrunde: dass die Untertanen einander mißtrauen, dass sie machtlos seien, und dass sie kleinmütig seien“ (1314a25-29). 28 Vgl. die Forderung in VII 4, dass die Polis überschaubar sein muss, damit die Bürger einander kennen können. 29 Hoffmann 1972, 166. 30 Dazu Heuß 1970; Meister 1977; Jordovic 2011. 31 In Kürze wird auch 1295b23-25 von der despotisch regierten Polis gesagt: „Das alles ist sehr weit entfernt von Befreundung und staatlicher Gemeinschaft, denn jede Gemeinschaft beruht auf Befreundung, da man ja mit seinen Feinden nicht einmal den Weg teilen mag.“ Zur Bedeutung der Freundschaft: Spahn 1988, 417–418.

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Lesen wir das e contrario, so entsteht wieder das Bild der Polis als einer Gemeinschaft des Vertrauens und der Partizipation. Wichtig ist dabei, welcher Wert auf die intermediären Vereinigungen der Bürger gelegt wird. Aristoteles stellt sich die Bürgerschaft ganz und gar nicht als eine ungegliederte Masse vor, wenngleich von diesen – wir würden heute sagen: gesellschaftlichen – Vereinigungen erstaunlich wenig bei ihm die Rede ist. Besondere Aufmerksamkeit verdient aber die zuletzt genannte Kleinmütigkeit, das mikron phronein. Diese steht im absoluten Gegensatz zum aristotelischen Ideal des ,großgesinnten Mannes‘ (megalopsychos), das wir somit zumindest als Perspektive auch für den selbstbewussten Bürger in Anspruch nehmen dürfen.32 Der Tyrann, so erfahren wir auch im ,Tyrannenkapitel‘, ist bestrebt, seine Untertanen arm zu machen, „damit sie, mit der Sorge um ihren täglichen Erwerb beschäftigt, keine Muße haben“ (1313b18-21). Aus dem gleichen Grund führt er auch ständig Kriege, um sie zu beschäftigen. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die politische Partizipation angesprochen: der nötige materielle Freiraum, um die Zeit, die Muße (schole) zu haben, sich der Politik (oder der Philosophie) widmen zu können. Die Muße und ihre materiellen Voraussetzungen sind also kein Selbstzweck, sondern stehen im Dienste höherer Aufgaben. Im siebten Buch fordert Aristoteles dementsprechend unter den Bedingungen für den besten Staat, das Landgebiet „müsse so groß sein, dass es den Einwohnern die Möglichkeit gewährt, in Muße freigebig und zugleich enthaltsam zu leben“ (1326b30-32).33

III. Die nötige Muße als Voraussetzung kompetenter politischer Betätigung ist nun aber für Aristoteles von so grundlegender Bedeutung, dass sie innerhalb des Bereichs der Polis zu einem entscheidenden Kriterium auch des Ausschlusses wird.34 Wir haben schon gesehen, dass er die Tätigkeit 32 Zu den ,Tugenden der Größe‘ s. Ottmann 2001, 146–148; 120 zur Muße als Voraussetzung für den Erwerb von theoretischem Wissen. 33 Zur Muße s. auch VII 15, wo aber Arbeit die Voraussetzung für das Notwendige bildet, ohne dass dafür Sklaven vorgesehen sind. 34 Vgl. dazu Frede 2011, 75–78. Natürlich hält Aristoteles die Handwerker für einen notwendigen Bestandteil der Polis, aber das macht sie ebensowenig wie die Sklaven schon zu Bürgern: 1277b33-1278a13; allgemein zu Handwerkern und Händlern bei Aristoteles: Mansouri 2010, 63–84.

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des Handwerkers (banausos technites) als eine begrenzte Sklaverei definiert (1260b1), weil dieser während seiner Tätigkeit im Auftrag anderer nicht über seine Zeit verfügen kann. Oder wie er es an anderer Stelle formuliert: „Die aber mit der Beschaffung des notwendigen Lebensunterhaltes zu tun haben, sind, wenn sie für einen einzelnen arbeiten, Sklaven, wenn aber für die Gemeinschaft, Handwerker ( banausos) und Tagelöhner ( thetes)“ (1278a11-13). Daraus folgt für ihn, „dass in einer Polis, die wohl eingerichtet sein soll, die Bürger frei von der Sorge um das Notwendige sein müssen“ (1269a34-35), oder doch wenigstens, „dass die tüchtigsten Leute (beltistoi) gehörige Muße haben und sich nicht mit entwürdigender Arbeit zu plagen brauchen, nicht bloß als Beamte, sondern auch als Privatleute“ (1273a33-35).35 Sie müssen vom Handwerk auch nichts verstehen, „es sei denn einmal aus Not zum eigenen Gebrauch“ (1277b5-6). Können dann aber die Handwerker zu den Bürgern gerechnet werden? Aristoteles hält dies für schwierig, weil sie von der Teilnahme an den Ämtern ausgeschlossen sind und deshalb auch nicht die Tugend des guten Bürgers, zu regieren und sich regieren zu lassen (1277b13-16), besitzen (1277b36-37). „Die beste Polis wird den Handwerker nicht zum Bürger machen“, stellt er entschieden fest (1278a8), auch nicht eine aristokratisch verfasste, „in der die Ehrenämter nach Tugend und Würdigkeit verteilt werden; denn es ist unmöglich, dass jemand, der das Leben eines Handwerkers oder Tagelöhners (Theten) führt, sich in den Werken der Tugend übe“ (1278a18-21),36 oder wie er es an anderer Stelle formuliert: „Wir nennen handwerksmäßig alle solche Künste, die den Körper in eine schlechtere Verfassung bringen, und auch jede Art von Lohnarbeit, weil sie das Denken der Muße beraubt und ihm eine niedrige Richtung gibt“ (1337b8-11). Folgerichtig hält der Philosoph fest: Daher sind es denn die Adligen (eugeneis), die freien und die reichen Leute, welche mit gutem Grund einen Anspruch haben auf die Ehrenämter (time), denn freie Leute und Steuerzahler (timema pherontas) braucht die Polis, indem sie ebensowenig aus lauter Armen bestehen kann wie aus Sklaven; wenn sie auch ihrer bedarf, so doch offenbar auch der Gerechtigkeit und Kriegstüchtigkeit, denn auch ohne diese ist keine Staatsverwaltung möglich (1283a16-21).

35 Der Gedanke war durchaus verbreitet; vgl. etwa den thebanischen Herold in den ,Hiketiden‘ des Euripides: „Dem armen Landmann, sei er kenntnisreich, verwehrt sein Tagwerk Sorge für den Staat“ (420–422; übers. Ernst Buschor); weiteres dazu zuletzt bei Herman 2011b, 57–60. 36 Sternberger 1978a, 112-118 versucht dies mit einer sehr problematischen Interpretation von 1278a34-40 zu relativieren.

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Für die Verwirklichung eines guten Lebens aber sollten Bildung (paideia) und Tugend den Vorrang haben (1283a24-26). Im Rahmen seiner Betrachtung der Demokratie spricht sich Aristoteles an anderer Stelle für einen Vorrang der Bauern aus: „Wenn nun die Regierungsgewalt in den Händen der ackerbauenden und mäßig begüterten Bevölkerung ist, so werden sie nach Gesetzen regieren, denn diese Leute haben zu leben, wenn sie arbeiten, können aber nicht der Muße pflegen, und daher stellen sie das Gesetz an die Spitze und halten nur die notwendigen Volksversammlungen ab“ (1292b25-29).37 Hier wird plötzlich die fehlende Muße sogar zu einem positiven Element, weil sie Leute von der Politik fern hält, die der Philosoph für weniger geeignet hält. Dabei sind ihm die Bauern noch erheblich lieber als die aus Handwerkern, Kaufleuten und Tagelöhnern bestehende Menge, die keine Tugend besitzt und gerne zu Volksversammlungen geht, „während die Bauern, weil sie auf dem Lande zerstreut leben, einander selten begegnen und kein Bedürfnis nach dieser Art von Zusammenkunft haben“ (1319a25-32). Aber diese Ferne von der Politik kann auch für die übrige große Masse gelten, die es nicht als schmerzlich empfindet, von der Regierung ausgeschlossen zu sein, und sogar ganz zufrieden damit ist, sofern sie ihre Privatgeschäfte ruhig treiben darf (1308b34-36). Andererseits ist es bei der voll ausgebildeten Demokratie gerade das Fatale, dass sie durch Diätenzahlungen den Armen die nötige Muße verschafft, an der Verwaltung der Polis teilzunehmen (1293a1-10).38 In der besten Polis würde Aristoteles aber wiederum alle, einschließlich der Bauern, ausschließen, „denn es bedarf voller Muße zur Ausbildung der Tugend und zur Besorgung der Staatsgeschäfte“ (1328b38-1329a2). Die notwendige Arbeit auch auf dem Lande müssten dann Sklaven oder Barbaren als Periöken übernehmen (1329a25-26). 37 Vgl. 1318b9-17: „Denn die beste Art von demokratischer Bevölkerung ist die ackerbauende, und daher kann man denn auch die erste Art von Demokratie da einrichten, wo die Menge von Landbau und Viehzucht lebt. Denn weil sie nicht viel Vermögen besitzt, hat sie nicht die Muße, häufig Volksversammlungen zu halten; weil sie aber doch andererseits das Nötige hat, so ist sie auch eifrig über ihrer Arbeit und begehrt nicht nach fremden Dingen, sondern hat mehr Lust zu arbeiten, als den Staat zu verwalten und zu regieren. Denn nach Gewinn trachtet die große Masse mehr als nach Ehre.“ 38 Diese Bemerkung wie zahlreiche andere zeigt, dass Aristoteles zwar in den Büchern IV und V die Verfassungen vorrangig als Ausdruck des jeweiligen Kräfteverhältnisses innerhalb der Bürgerschaft untersucht – das stellt gut heraus: Schütrumpf 2011 –, dass er aber auch hier durchaus seine Wertvorstellungen mit einfließen lässt.

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Wir sehen aus alledem, dass die Muße, die Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben, für Aristoteles ein hohes Gut ist, unerlässlich für die Verwirklichung einer gut geordneten und gut verwalteten Polis. Das ist zunächst sehr ernst zu nehmen, zeigt es doch, welch hohen Begriff er von der Tätigkeit des regierenden und sich regieren lassenden Bürgers hat. Und man kann sich ja auch durchaus fragen, welchen Wert das ,nackte‘ Recht eines Bürgers hat, dem alle materiellen Voraussetzungen für seine Ausübung fehlen. Aber ebenso klar ist andererseits, dass er keineswegs alle freien Bürger in den Genuss dieser Muße kommen lassen will. Das über dem Ausschluss von Frauen und Sklaven errichtete Reich der Freiheit erweist sich also als noch exklusiver. Im Grunde glaubt er offenbar nicht an die ,Bildungsfähigkeit‘ der großen Masse. Und so ist der immer wiederkehrende Refrain, dass doch die Adligen, Reichen und Gebildeten die Regierung ganz oder doch weit überwiegend führen sollten (1283a16-21). Alle drei Begriffe erscheinen vielfach als synonym: „Wenn die Oligarchie durch edles Geschlecht, Reichtum und Bildung bestimmt wird, so gilt demgemäß für demokratisch das Gegenteil hiervon, niedrige Geburt, Armut und niedriger Bildungsstand der Handarbeiter (banausia)“ (1317b38-41). Dergleichen Urteile waren längst innerhalb der in ihren Ansprüchen bedrohten Führungsschichten formuliert worden. Aristoteles brauchte sich dem lediglich anzuschließen.39 An anderen Stellen erkennt er freilich durchaus, dass der wahre Gegensatz einfach von Armen/Demokratie und Reichen/Oligarchie gebildet wird (1290a10-19; 1290b1-3).40 Er kann gelegentlich bemerken: „Adlige und Tüchtige (agathos) sind nirgends hundert zu finden, Reiche aber vielerorten“ (1302a1-2) und sogar feststellen, „dass es weit mehr die Übergriffe der Reichen sind, welche die Verfassung zugrunde richten, als die des Volkes“ (1297a11-13).41 Aber dann schließt er sich doch wieder der Ansicht an, „dass ja die Reichen das schon besitzen, um dessentwillen man das Unrecht begeht; deshalb nennt man sie auch die guten, edlen und vornehmen Männer“ (1293b38-40) und schildert durchaus positiv die uralte Trennung der verschiedenen Stände in Ägypten (1328b40-1329a33).

39 Ungern-Sternberg 2009 (mit Lit.). 40 Winterling 1993, 186. 191 mit Anm. 54. 41 Es folgt eine Liste von fünf oligarchischen Kunstgriffen, um das Volk von der politischen Tätigkeit fern zu halten, denen nur ein entsprechender Kunstgriff der Demokratien gegenüber steht: 1297a14-38; vgl. auch 1307a19-20.

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IV. So viel Sympathien der Philosoph aber auch der Regierung der Adligen, Gebildeten und Reichen entgegenzubringen geneigt ist und so sehr er andererseits der Vorherrschaft der großen Masse misstraut, so kann er sich doch immer wieder nicht den Konsequenzen entziehen aus seiner Konzeption der Polis als des Ortes, an dem die Freien und Gleichen für ein gelingendes Leben zusammenwirken. So stellt er schon im ersten Buche den Verhältnissen im Haus – auch dem zwischen Mann und Frau – dezidiert die in der Polis entgegen: Freilich sind die meisten politischen Herrschaftsverhältnisse so eingerichtet, daß Regieren und Regiertwerden miteinander abwechseln, indem nämlich die Polis, ihrer Natur gemäß, der Gleichheit und Unterschiedslosigkeit zustrebt (1259b4-6).

Entsprechend wendet er gegen die platonische Staatskonzeption ein, dass „alle Bürger von Natur gleich sind und es also auch gerecht ist, dass alle an der Regierung teilnehmen“ (1261a39-1261b1) und fügt später hinzu: „Bedenklich ist es ferner auch, wie Sokrates über die Staatsregierung verfügt, indem er immer dieselben regieren läßt. Denn so etwas ist ein Anreiz zum Aufstand sogar für Leute, die gar kein Selbstwertgefühl besitzen, geschweige denn für mutige und kriegerische Männer“ (1264b6-10). Die Gleichheit wie die Gleichberechtigung der Bürger erweist sich also als ein dynamisches Prinzip, selbst über tief eingewurzelte Wertvorstellungen des Philosophen hinweg, und es ist durchaus beeindruckend, wie er sich dem selbst immer wieder stellt. Wenn er die Polis als „eine Gemeinschaft von Gleichen, und zwar zum Zweck des möglichst besten Lebens“ (1328a35-37) definiert, so mag in manchen Fällen der Gedanke sich nur auf die Gleichheit der im jeweiligen Staatswesen Berechtigten42 untereinander beziehen: Denn für gleiche Leute liegt das Gute und Gerechte im Wechsel (der Herrschaft); denn nur darin liegt die Gleichheit und Ebenbürtigkeit. Dass dagegen den Gleichen nicht Gleiches und den Ähnlichen nichts Ähnliches zukommt, ist wider die Natur, nichts Widernatürliches aber ist gut (1325b7-10).43

42 Sehr deutlich etwa: „Vielmehr will die Polis möglichst aus Gleichen und Ähnlichen bestehen, und diese Bedingung erfüllt am meisten der Mittelstand“ (1295b25-27). 43 Entsprechend kann sowohl das Streben nach Gleichheit wie nach Ungleichheit je nach den Umständen gerecht oder ungerecht sein: 1302a24-31.

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An anderen Stellen indes sieht Aristoteles ganz klar, dass in der Polis eigentlich jeder Bürger ein legitimes Recht auf Teilhabe am politischen Leben hat.44 Das insgesamt aporetische Kapitel III 10 zeigt besonders schön, wie er sich mit den Problemen herumschlägt und sei deshalb etwas ausführlicher vorgestellt: Eine weitere Streitfrage (aporia) ist nun: Wer soll die oberste Gewalt im Staat besitzen? Entweder muss es doch die Volksmenge (plethos) oder müssen es die Reichen oder die Tüchtigen oder muss es der eine, welcher der beste von allen ist, oder endlich ein Tyrann sein; allein jede dieser Annahmen hat offenbar ihre Schwierigkeiten. Denn wie? Wenn die Armen vermöge ihrer Mehrzahl das Vermögen der Reichen unter sich teilten, so würde das kein Unrecht sein, denn die oberste Staatsgewalt hat es, beim Zeus! auf rechtsgültige Weise so beschlossen; aber was soll man dann noch das äußerste Unrecht (adikia) nennen! […] Auch müssten alle Taten, die ein Tyrann verübt, ebenso gut gerecht sein, weil er, gestützt auf seine bloße Stärke, sich mit Gewalt durchsetzt, so wie die Volksmasse den Reichen gegenüber. Aber sollte es andererseits umgekehrt gerecht sein, dass die Minderzahl und die Reichen regieren? Ja, wenn da nun etwa diese es ebenso machen und die Volksmasse plündern und ihr das Eigentum nehmen, wäre das etwa recht? Nun, dann wäre es ebensogut auch das andere. […] Sollen also etwa die tüchtigen Leute (epieikeis) regieren und die Gewalt über alle haben? Da würden ja notwendig die anderen ihrer Ehrenrechte beraubt (atimazesthai), indem die Ehre, an der Bekleidung der Staatsämter (politike arche) teilnehmen zu dürfen, ihnen entzogen wäre; denn die Staatsämter nennen wir ja Ehren (time), und wenn daher immer dieselben regieren, so sind damit notwendig alle anderen ihrer Ehrenrechte beraubt. Oder ist es etwa besser, dass nur der eine, welcher der beste von allen ist, allein regiere? Aber das wäre ja noch viel oligarchischer, denn so wären ja der ihrer Ehrenrechte Beraubten (atimos) noch mehr. Vielleicht also möchte man sagen, darin gerade liege das Verkehrte, dass überhaupt Menschen die oberste Gewalt besitzen wollen, deren Seele doch immer den Leidenschaften (pathos) ausgesetzt sei,45 und nicht vielmehr das Gesetz (nomos). Allein, wenn nun das Gesetz selbst im Sinne der Oligarchie oder Demokratie abgefasst ist, worin wird dann dadurch allen diesen Bedenken abgeholfen? Alle die vorhin erwähnten Übelstände werden dann ebensogut eintreten (1281a11-39).

44 In der Minimalvariante ist das das Zugeständnis, dass die Demokratie unter den schlechten Verfassungen noch die erträglichste sei (1289b4-5), in der Maximalvariante die Einsicht, dass die aristotelische Definition des Staatsbürgers vor allem in einer Demokratie erfüllt sei (1275b5-7). 45 Ebenso 1286a17-20; vgl. bereits Herodot: „Auch wenn man den Allerbesten zu dieser Stellung erhebt, würde er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Selbstüberhebung befällt ihn aus der Fülle von Macht und Reichtum, und Neid ist dem Menschen von Anfang an angeboren. Mit diesen Eigenschaften besitzt er aber auch schon alle anderen Laster. Aus Selbstüberhebung und Neid begeht er viele Torheiten“ (III 80,3–4).

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Aristoteles formuliert die Probleme sehr klar. Einerseits das der Partizipation aller Bürger, weil jede der existierenden Staatsformen zum Ausschluss eines Teils tendierte – in der Demokratie etwa athenischen Zuschnitts würden wir freilich eher vom Problem des Minderheitenschutzes reden46 –, andererseits das Problem des Gesetzespositivismus, weil das von den jeweiligen Inhabern der Staatsgewalt gesetzte Recht nicht notwendig auch gerecht sein muss. (Er findet dann im nächsten Kapitel den Ausweg in die Summierungstheorie, davon aber später.) Den Grundsatz indes, dass alle Bürger ein Anrecht darauf haben, an der Polis beteiligt zu sein, hält er hier geradezu axiomatisch fest. Unter den gegenwärtigen Umständen ist für ihn die demokratische Verfassung der Polis geradezu unvermeidlich. So schließt er einen kurzen Überblick über den Kreislauf der Verfassungen folgendermaßen ab: „Und da nun überdies die Poleis größer geworden sind, so ist es auch wohl gar nicht leicht, dass sich jetzt außer der Demokratie noch eine andere Verfassungsform entwickelt“ (1286b20-22). Andernorts führt er den Aufruhr (Stasis) auf eine Ungleichheit zurück. „Überhaupt nämlich empört man sich, weil man nach der Gleichheit sucht“ (1301b26-29).47 Er führt dann aus, dass es eine doppelte Art von Gleichheit gebe, nach der Zahl und nach der Würdigkeit, findet aber, dass keine einseitig auf eines der beiden Prinzipien gegründete Verfassung dauerhaft ist, weshalb man „teils die arithmetische Gleichheit und teils die Wertgleichheit anwenden“ solle (1301b29-1302a8). Damit führt er das Konzept der richtigen Mischung ein, bemerkt aber zuvor: „Die Demokratie ist jedoch haltbarer und mehr vor inneren Unruhen gesichert als die Oligarchie. Denn in den Oligarchien sind zweierlei solcher inneren Zwiste möglich, der untereinander und der mit dem Volk, in den Demokratien dagegen nur der eine mit der Oligarchie, während ein nennenswerter Aufruhr des Volkes in sich selbst nicht vorkommt“ (1302a8-13). Aristoteles wiederholt damit eine Beobachtung, die bereits Herodot (III 82,4) und Thukydides (VIII 89,3) gemacht hatten. In einer direkten Demokratie können sich feste Gruppierungen/Parteien nicht bilden, weil sie Gefahr liefen, in eine andauernde Minderheitenposition zu geraten. Allenfalls eine fundamentale, oligarchische Opposition ist möglich.48 Der Gedankengang begründet dann aber den Vorrang der Demokratie auch mit dem Prinzip des Ausgleichs: „Überdies steht die auf die Herrschaft der Mittleren gegründete Verfassung der Demokratie näher als der Oligarchie, und 46 Nach Epstein 2011 hat dies Problem freilich selten eine Rolle gespielt. 47 S. dazu Gehrke 2011, 123–124. 48 Vgl. Epstein 2011.

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dies ist die sicherste dieser Art von Verfassungen“ (1302a13-15). Mit der Einführung der ,Mittleren‘ versucht Aristoteles also den Gegensatz zwischen Demokratie und Oligarchie zu überbrücken.49 Er betont wiederholt, dass sowohl Oligarchen wie Demokraten einerseits mit einem gewissen Recht die Regierungsgewalt beanspruchen könnten, andererseits aber auch wieder nicht, da weder die Gleichheit nach der Kopfzahl noch die nach dem Vermögen ausreicht (1280a7-31; 1283a29-31; 1283b27-34; 1301a25-36; 1318a11-22), einmal mit der etwas resignierenden Gnome: „Denn immer sind es die Schwächeren, die nach Recht und Gleichheit suchen, die Stärkeren aber kümmern sich nicht darum“ (1318b4-5). Nicht die schlechthin ideale Lebensform und Verfassung, aber die realistischerweise beste Verfassung findet Aristoteles folglich in der Mitte: „Eine Lebensform, an der die meisten Menschen teilzunehmen imstande sind, und eine Verfassung, die den meisten Poleis erreichbar ist“ (1295a29-31). Gemeint ist die ,Politie‘ des – man kann es ruhig so formulieren – Mittelstandes. In allen Poleis nun aber gibt es drei Bestandteile der Polis, die sehr Reichen, die sehr Armen und drittens diejenigen, welche in der Mitte zwischen beiden stehen; und wenn es denn zugegeben wird, dass das richtige Maß und die Mitte das beste ist, so erhellt, dass auch in bezug auf die Glücksgüter der mittlere Besitz der allerbeste ist; macht er doch am leichtesten geneigt, der Vernunft zu gehorchen, übermäßige Schönheit aber oder übermäßige Macht oder Vornehmheit oder übermäßiger Reichtum und ebenso das Gegenteil, übermäßige Armut oder Schwäche oder eine gar zu verachtete Lebensstellung, machen es schwer, dies zu tun. Denn jene werden übermütig und schlecht im großen, diese bösartig und schlecht im kleinen […] Ferner sind diese aus dem Mittelstand am wenigsten herrschbegierig und ämtersüchtig, was beides die Poleis schädigt (1295b1-13).

Die Mittleren gewährleisten also mit der Stabilität ihrer Existenz auch die Stabilität der Polis, da sie weder nach der einen, noch nach der anderen Seite hin auf Veränderungen aus sind. Sozial gesehen gehören sie aber doch eher zum Demos und dementsprechend führt Aristoteles die Politie in seinem Überblick über die Verfassungen als die positive Variante der Demokratie ein.50 Die ihr eigene Tugend ist die der kriegerischen Tüchtigkeit, „denn das ist die Tugend der Massen.“ Die Mittleren sind folglich auch die 49 Zu den verschiedenen Varianten dieser Konzeption bei Aristoteles s. Nippel 1980, 52–63; Schütrumpf 1995. 50 Vgl. 1293b33-38: „Denn die Politie ist eben, kurz gesagt, eine Mischung von Oligarchie und Demokratie. Freilich pflegt man gewöhnlich die Formen, die mehr zur Demokratie neigen, Politien zu nennen, und diejenigen, die mehr zur Oligarchie neigen, Aristokratien, weil mit dem größeren Reichtum auch Bildung und Adel eher verbunden zu sein pflegen.“ Auch in 1296a13-16 findet sich der Gedanke, dass der Mittelstand in

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Waffentragenden und als solche Inhaber der obersten Staatsgewalt in der Politie (1279b1-4; 1297b1-2). In einer historisch sehr bemerkenswerten Passage verbindet Aristoteles die Ausdehnung von militärischer und politischer Bedeutsamkeit. Nachdem zunächst die Reiterei ausschlaggebend gewesen sei, sei es zunehmend das schwerbewaffnete Fußvolk geworden; damit erhielten aber auch mehr Leute Zugang zur Verwaltung der Polis (1297b16-24).51 Entsprechend der Wichtigkeit der Mittleren macht es der Philosoph dem Gesetzgeber geradezu zur Pflicht, für diese in jeder Verfassung Sorge zu tragen (1296b34-38; vgl. 1308b30). Ja, die Mitte ist für ihn schlechthin das verfassungsstabilisierende Prinzip.52 Folgerichtig gehörten Schiedsrichter (diaitetes) wie Gesetzgeber typischerweise selbst zum Mittelstand (1297a5-6), wie Aristoteles am Beispiel des Solon, Lykurg, Charondas und der meisten anderen erweist (1296a18-21). Allerdings sieht er dann wiederum sehr klar, dass die Mittelschicht in den meisten Poleis recht schwach sei (1296a22-27). Auch in seiner Beschreibung der solonischen Verfassung spielt sie keine Rolle. Nach seinem Dafürhalten hat Solon „dem Volk nur die allernotwendigste Gewalt gegeben, nämlich die, sich seine Regierung selbst zu wählen und sie zur Verantwortung zu ziehen – denn wenn das Volk nicht einmal diese Macht besitzt, lebt es sklavisch und ist der Verfassung feindlich.“ Die Ämter aber machte er nur den oberen drei Klassen zugänglich, während die Theten in kein Regierungsamt gewählt werden durften (1274a15-21). Auch andernorts werden Solons Maßnahmen gewürdigt im Kontext der aporetischen Frage, „worüber […] die Freien (!)53 und die Volksmenge den Demokratien zahlreicher sei und mehr zu den Ämtern gelange als in den Oligarchien, weshalb die Demokratien auch sicherer und dauerhafter seien; vgl. ferner 1307a12-20. 51 1274a12-15 wird die Betrachtung auf die militärische Bedeutung des Volkes für die Seemacht Athens seit den Perserkriegen ausgedehnt, die aber insgesamt negativ beurteilt wird. Die kurzlebige ,Verfassung der 5000‘ waffentragenden Bürger im Jahre 411 erwähnt Aristoteles in der ,Politik‘ nicht (vgl. Ath.pol. 29–33). Sie würde auch nur demonstrieren, dass die Hopliten in Athen keinerlei Sympathie für einen oligarchischen Umsturz entwickelten. 52 Dazu vor allem der erste Teil des fünften Buches; grundsätzlich formuliert etwa 1309b18-35. 53 Die lakonische Bemerkung, dass „die Polis eine Gemeinschaft von freien Leuten“ ist, hat im Kontext die Despotie zum Gegenüber (1279a21). Sie genügt sonst – wie schon die obige Stelle erweist – offensichtlich nicht zur Definition der richtigen Polis.

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(plethos), d. h. alle diejenigen, welche weder reich sind noch sich durch den Vorzug besonderer Tüchtigkeit auszeichnen, Gewalt haben sollen (kyrious einai). Dass nämlich solche Leute auch an den höchsten Staatsämtern Anteil haben, würde eine sehr unsichere Sache sein, denn aus Mangel an Gerechtigkeit und Einsicht müssten sie notwendig hier Unrecht und dort Missgriffe begehen (hamartanein). Sie dagegen von allen Staatsrechten auszuschließen ist gefährlich, denn wenn eine Menge armer und aller Ehrenrechte beraubter Leute in einer Polis sich befindet, so ist diese eben damit voll von Feinden.“ Deswegen habe ihnen auch Solon nur die Wahl und die Rechenschaftsabnahme überlassen, „aber untersagt, dass solche Menschen als einzelne regieren“ (1281b23-34). Damit sind wir wieder bei dem grundlegenden Zwiespalt angelangt, in dem sich die Überlegungen des Aristoteles zur Frage der politischen Partizipation bewegen, einerseits die Bevorzugung der Reichen und Tüchtigen gegenüber einer Menge, der „Mangel an Gerechtigkeit (adikia) und Einsicht (aphrosyne)“ attestiert werden, andererseits aber doch die Einsicht, dass die „Freien und die Volksmenge“ schlechterdings nicht gänzlich von der Teilnahme an der Polis ausgeschlossen werden dürfen, dass ihnen vielmehr sogar eine sehr wichtige Funktion zukommen muss. Darüber hat er sich bereits im Zusammenhang mit der Definition des Staatsbürgers zu Beginn des Dritten Buches klar geäußert. Da wird die Frage aufgeworfen, ob man bei bloßer Mitgliedschaft an Volksgericht (dikastes) und Volksversammlung (ekklesiastes) bereits an der Regierung beteiligt sei, was mit dem Argument bejaht wird: „Es wäre doch lächerlich, wenn man denen, welche die wichtigsten Dinge entscheiden, die Teilnahme an der Staatsregierung absprechen wollte“ (1275a26-29). So ringt sich Aristoteles doch dazu durch, die Teilhabe aller Bürger in der Polis zu akzeptieren, und fügt die ernährungswissenschaftlich höchst bemerkenswerte Überlegung hinzu: „Denn alle verbunden besitzen zuverlässigen Sinn, und wenn sie mit den Besseren vermischt sind, nützen sie der Polis in ähnlicher Weise, wie die nichtnahrhafte Speise mit der nahrhaften vereinigt das Ganze für den Körper gedeihlicher macht, als wenn ihm der wenige Teil an nahrhafter allein geboten wird“, um dann doch noch einmal zu unterstreichen: „Dagegen (ist) jeder einzelne für sich […] unfähig zur Entscheidung“ (1281b34-38).

Der Vergleich mit ,Ballaststoffen‘ ist nicht eben sehr schmeichelhaft für die ,Freien und die Volksmenge‘. Aber immerhin hält sie Aristoteles in ihrer Gesamtheit doch für unentbehrlich in einer gut funktionierenden Polis. Mit dieser summierenden Betrachtung sind wir indes schon bei einem anderen Gedankengang angelangt, mit dem Aristoteles in viel weiterem

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Umfang die Beteiligung aller Bürger am Entscheidungsprozess in der Polis begründet hat: bei seiner Summierungstheorie.

V. Wir haben bereits das aporetische Kapitel III 10 betrachtet, in dem die verschiedenen Ansprüche auf Teilhabe an der Regierung in der Polis geprüft und grundsätzlich als berechtigt anerkannt, gleichzeitig aber in ihrem jeweiligen Ausschließlichkeitsanspruch zurückgewiesen werden.54 Den einzigen Ausweg aus der Aporie kann folglich nur die Beteiligung aller Bürger bieten, und dass diese möglich ist, versucht Aristoteles im folgenden Kapitel III 11 mithilfe der Summierungstheorie zu erweisen. Es ist zu Recht eines der bekanntesten Kapitel der ,Politik‘, fortwirkend in dem Condorcettheorem und grundlegend auch für unser Verständnis der Demokratie. Es lohnt, sich den Gedankengang des Kapitels genauer anzusehen.55 Zunächst wird die – nach allem zuvor Dargelegten – einigermaßen überraschende These aufgestellt, „dass doch vielmehr die Volksmenge als die Minderzahl der Tüchtigsten die oberste Staatsgewalt besitzen müsse“ und anschließend begründet: „Denn es ist ja möglich, dass die große Volksmasse, wenn auch die einzelnen, aus denen sie besteht, keine besonders tüchtigen Leute sind, doch in ihrem Zusammentreten besser ist als eben diese besonders tüchtigen Leute.“

Es folgt der kulinarische Vergleich, dass ein Schmaus durch die Beiträge vieler besser sein könne als der von einem einzelnen veranstaltete. Dann kommt aber die Überlegung, dass die Vielen in ihrer Vereinigung gleichsam zu einem Menschen werden könnten, in dem sich ihre Anteile an Tugend und Einsicht addierten. Wenn das insbesondere mit dem Urteil der Vielen über die Werke von Musikern und Dichtern illustriert wird, so mag dabei die athenische Praxis vorgeschwebt haben, dass alljährlich die besten der jeweils aufgeführten Tragödien und Komödien durch zehn recht zufällig erloste – und damit den Durchschnittsgeschmack des im Theater versammelten Volkes widerspiegelnde – Schiedsrichter herausge-

54 Zum methodischen Verfahren des Aristoteles s. Geiger 2011, 139–141. 55 Grundlegend Braun 1973; vgl. Kullmann 1983, 473–477; Miller 2011, 99–101 und bereits Rosenberg (1973), 59–61.

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funden wurden. Dass dabei „die Zuschauer durch deutliche Gunstbezeugungen Druck auf die Richter ausgeübt haben“, ist sogar eigens überliefert.56 Aristoteles konnte bei seinen Überlegungen weder Gustave le Bon ,Psychologie der Massen‘ (1895) noch José Ortega y Gasset ,Der Aufstand der Massen‘ (1930) kennen, die seit dem 19. Jahrhundert grassierende Furcht vor den Massen war ihm aber nicht gänzlich fremd. Er macht daher sofort die Einschränkung, dass dies nicht bei jedem Volk und jeder Volksmenge möglich sei. Die Unterscheidung hebt freilich zunächst nur auf den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren ab (mit einem sehr bedenklichen Tiervergleich!). An anderer Stelle (1286a24-37) kommt er jedoch auf das Problem zurück und führt das Argument ein: Eine große Mehrzahl sei weniger der Verderbnis ausgesetzt. Das wird mit einem (etwas problematischen) chemischen Vergleich illustriert: Wie eine größere Menge Wasser sei auch eine größere Zahl von Menschen weniger leicht zu verderben als eine geringere. Auch das Folgende erscheint von den modernen Erfahrungen her gesehen zunächst fragwürdig: Während bei dem einzelnen, sobald er sich vom Zorn oder einer anderen derartigen Leidenschaft überwältigen lässt, notwendig auch sein Urteil verdorben wird, so wird es dagegen dort schwer vorkommen, dass alle zugleich vom Zorn bemeistert und dadurch zu Fehlgriffen verleitet werden sollten.

Das kann man mit Henning Ottmann durchaus „eine seltsam optimistische Einschätzung der Menge“ finden, „deren Anfälligkeit für Demagogie bei Thukydides und Platon in aller Deutlichkeit vorgeführt worden war.“57 Man sollte allerdings bedenken, dass Aristoteles diese Einwände natürlich gekannt – und sich andernorts selbst über die Demagogen negativ geäußert hat –, dass er es hier aber für richtig hält, sie einfach beiseite zu lassen. Genau besehen begegnet er ihnen aber durchaus mit der nachfolgenden entscheidenden Bedingung: „Nur freilich ist dabei vorauszusetzen, dass diese Menge aus freien Männern besteht, die in keinem Stück wider das Gesetz handeln, sondern nur da eingreifen, wo das Gesetz notwendig unzureichend ist“ (1286a31-37). Aristoteles denkt also bei seiner Summierungstheorie an den Normalfall einer Versammlung sich untereinander beratender, ruhig abwägender und entscheidender Bürger im Rahmen der verfassungsmäßigen Ord56 Blume 1984, 40–43; zu den dabei mit zu bedenkenden speziellen Voraussetzungen s. Latacz 2003, 12. 22–26. 57 Ottmann 2001, 194.

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nung,58 niemals indes an eine vorrevolutionär oder revolutionär erregte Volksmasse.59 Aber zurück zum Kapitel III 11. Aristoteles lässt nun noch zusätzlich die Einschränkung folgen, dass die breite Masse nicht an den höchsten Staatsämtern Anteil haben soll, da er ihr nur insgesamt, nicht indes den Einzelnen die notwendige Einsicht zutraut. Er unterstreicht dann aber nochmals – in implizierter Kritik an Sokrates und Platon –, dass auch (nicht zu sklavenartige) Laien gegenüber den Fachleuten ein kompetentes Urteil abgeben können, da sie schließlich die Konsequenzen zu tragen haben, indem sie deren Leistungen in Anspruch nehmen oder konsumieren. Damit ist der Gedankengang freilich immer noch nicht abgeschlossen. Nochmals bringt der Philosoph den Einwand: „Es scheint nämlich doch widersinnig zu sein, dass die schlechteren Leute über bedeutendere Angelegenheiten mehr entscheidende Gewalt haben sollen als die tüchtigen.“ Wir sehen, wie festgewurzelt dieses (Vor-)Urteil war und wie sehr Aristoteles selbst im Rahmen seiner Erörterung der Summierungstheorie damit zu ringen hat. Dem Einwand hält er entgegen, dass nicht der einzelne Richter oder das einzelne Mitglied im Rat und in der Volksversammlung ein Regierender sei, sondern erst das ganze jeweilige Gremium. „Mit Recht also hat die Volksmenge über bedeutendere Angelegenheiten Gewalt, weil eben erst aus jener großen Vielheit sich das Volk, der Rat und das Gericht zusammensetzt.“ Und diesmal fügt er noch das Argument hinzu, dass auch das Steuervermögen (timema) „aller dieser zusammen mehr (beträgt) als die Einschätzungen jener, die einzeln oder nur zu wenigen die hohen Staatsämter verwalten.“ Abschließend wird erneut unterstrichen, dass die oberste Staatsgewalt den Gesetzen zukommen müsse, nur in deren Rahmen ist die Summierungstheorie am Platz. Eine Würdigung dieser Theorie wird zunächst festzuhalten haben, dass sie in vielem den anderwärts geäußerten politischen Idealvorstellungen des Aristoteles widerspricht. Es fällt auch auf, dass er sie insgesamt fünfmal mit Analogien mehr zu illustrieren als im strengen Sinne zu beweisen unternimmt.60 Darin spiegelt sich doch wohl die von dem Philosophen 58 Zur wünschenswerten Herrschaft des Gesetzes s. auch 1282b1ff.; 1291b40; 1292b28; 1294a5ff.; 1319b1. 59 Dass dies sehr wohl der Normalität athenischer Politik entsprach, zeigt gut Herman 2010. 60 Diese wichtige Beobachtung verdanke ich Manuel Hediger. Im Text erwähnt wurden: die zweimalige Analogie aus dem Bereich der Ernährung, dazu das Urteil über Musik und Dichtung bzw. die Analogie aus dem chemischen Bereich. Hinzu

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selbst empfundene Schwierigkeit der Vorstellung einer kollektiv gefundenen Weisheit. Dennoch ist die Summierungstheorie nicht einfach als erratischer Ausreißer zu betrachten. Er kommt nämlich mehrfach auf sie zurück. Eine wichtige Stelle haben wir schon betrachtet. Zu verweisen ist ferner auf die Bemerkung in III 13: „Aber auch die Mehrzahl gegenüber der Minderzahl hat ihren wohlbegründeten Anspruch, denn der letzteren gegenüber ineins zusammengefasst, besitzt sie mehr Macht, Reichtum und Tüchtigkeit als jene“ (1283a40-42)

und bald darauf: „Nichts hindert nämlich, dass die Menge – nicht als einzelne Menschen, sondern als ein Ganzes – zuweilen besser und reicher ist als die Wenigen“ (1283b33-35).

Einen Versuch, dies auch in die Realität umzusetzen, stellt sein Ratschlag an die ,jetzt bestehende Demokratie‘ dar (1298b13-14), umgekehrt die Reichen zur Teilnahme an der Volksversammlung zu veranlassen, „denn es würde der Beratung zugute kommen, wenn alle an ihr gemeinschaftlich teilnähmen, das Volk mit den Vornehmen und die Vornehmen mit der Volksmenge“ (1298b20-21). Damit wird die von Aristoteles meist im überkommenen Wortsinne als ,Herrschaft der Menge über die Vornehmen/Reiche‘ begriffene ,Demokratie‘61 praktisch zu einer ,Beteiligung aller‘, wie sie eigentlich im Athen seiner Zeit bereits erreicht war und wie sie unserem Verständnis von dieser Staatsform entspricht – und eben dies wäre ganz im Sinne der Summierungstheorie.62 Und tatsächlich kann sich Aristoteles auch eine Demokratie vorstellen, „welche vorzugsweise auf Gleichheit beruht. Als Gleichheit nämlich bestimmt das Gesetz dieser Demokratie, dass um nichts mehr die Armen oder die Reichen den Vorrang haben und dass weder die einen noch die anderen die oberste Staatsgewalt besitzen, sondern sich gleichstehen. Denn wenn die Freiheit vorzugsweise in der Demokratie zu suchen ist, wie manche meinen, und die Gleichheit, so dürfte eine solche wohl am meisten da zu finden sein, wo wirklich alle gleichen Anteil an den Verfassungsrechten haben; und da doch immer das Volk die Mehrzahl bildet

kommt die Bemerkung, dass „die Menge gleichsam ein einziger Mensch werden kann, mit vielen Füßen und Händen und mit vielen Sinnen“ (1281b5-7). 61 Zur Herausbildung des Begriffs Meier 1980; zum Gebrauch von ,demos‘ für die gesamte Bürgerschaft s. Epstein 2011, 90 Anm. 13 (mit Lit.). 62 Diese findet sich explizit nur im dritten Buch der Politik: Schütrumpf 1995, 287 Anm. 83.

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und hier auch immer die Beschlüsse der Mehrzahl gelten, so muss diese Staatsform Voksherrschaft (demokratia) sein“ (1291b30-38).63 Wichtig ist aber auch, dass die Voraussetzungen für die Summierungstheorie im griechischen Denken schon sehr früh angelegt waren. „Immerhin haben die Griechen nicht nur die Demokratie entdeckt, sondern auch die Politik: die Kunst, durch öffentliche Auseinandersetzung Entscheidungen zu erreichen und diesen dann als einer notwendigen Bedingung zivilisierten Zusammenlebens zu gehorchen.“64 Herodot lässt in der ,Verfassungsdebatte‘ den Otanes für die Demokratie plädieren: „Wir schaffen die Alleinherrschaft ab und geben der Menge die Macht; denn in der Vielzahl steckt das Ganze drin (en gar to pollo eni ta panta)“ (III 80,6). Und nach dem Schöpfungsmythos des Protagoras weist Zeus ausdrücklich Hermes an, Rechtsgefühl (dike) und sittliche Scheu (aidos) nicht nur auf einige Spezialisten, sondern auf alle Menschen zu verteilen, woraus Protagoras die Folgerung zieht, dass die Athener mit Recht bei Fachfragen die Fachleute reden lassen. „Schreiten sie aber zur Beratung über eine Frage, bei der es auf die bürgerliche Tüchtigkeit ankommt, die ganz nur mit Gerechtigkeit und Besonnenheit gelöst werden kann, so anerkennen sie gebührend jedes Mannes Rat, in der Meinung, dass jeder an dieser Tüchtigkeit teilhaben müsse, wenn Städte überhaupt Bestand haben sollen“ (Platon, Protagoras, 322d-323a; übers. Rudolf Rufener). Auch die Äußerung des syrakusanischen Politikers Athenagoras bei Thukydides geht in diese Richtung: Man wird behaupten, Herrschaft des Volkes sei weder klug noch billig; die, die das Geld hätten, seien auch zur besten Lenkung viel geschickter. Ich aber behaupte erstens, dass ,Volk‘ ein Name für das Ganze sei, ,Oberschicht‘ (oligarchia) nur für einen Teil, sodann sind die Reichen die richtigen Aufpasser fürs Geld, aber den besten Rat geben die Klugen, und das Gehörte zu beurteilen ist am geeignetsten die Menge, und all dies hat ebenmäßig Stück um Stück und insgesamt, wo das Volk herrscht, sein billig Teil (VI 39,1; übers. Georg Peter Landmann).

Vor allem aber sollte man sich klar machen, dass unser modernes Verständnis von Demokratie implizit auf der Summierungstheorie beruht. Wie 63 Eucken 1990, 278–281 betont die Sonderstellung dieses Abschnitts innerhalb der aristotelischen Demokratieformen. Sie stelle ein Modell zur „Überwindung der antagonistischen Klassensituationen“ dar; ebenso Schütrumpf – Gehrke, in: Schütrumpf 1996, 299. 64 Finley 1980, 17; zur fundamentalen Bedeutung der öffentlichen Debatte s. auch Vernant 1980, 44-47.

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sonst lässt sich rechtfertigen, dass durch allgemeine Wahlen ein Parlament konstituiert wird, das dann für die Gesetzgebung und die Zusammensetzung der Regierung zuständig ist? Und erst recht, dass durch direkte Volksabstimmung ein Präsident gewählt wird oder – wie so häufig in der Schweiz – wichtige Sachentscheide getroffen werden? In jedem Fall wird dabei doch unterstellt, dass alle Bürgerinnen und Bürger zusammen imstande seien, das für den jeweiligen Sachverhalt Richtige zu treffen.65 Daran mag man bei manchen Stimmergebnissen zweifeln, aber das ist auch bei der Stellungnahme von Fachleuten oft möglich. Und es gibt durchaus aktuelle Beispiele für die Vernunft der Vielen. So ist es in Deutschland nach allem Geschehenen auch den meisten tendenziell radikal Rechten klar, dass die NPD zwar gelegentlich aus Protest in einen Landtag gewählt werden kann, niemals indes in den Bundestag einziehen darf. Und so ist in der Schweiz die SVP zwar in vielen Parlamenten die wählerstärkste Partei, hat aber wenig Chancen, ihre exponierteren Vertreter bei direkten MajorzWahlen in die Exekutiven oder in den Ständerat zu bringen. Vergessen wir aber nicht die Vorbedingung, dass es sich um (wenigstens verhältnismäßig) vernünftige und leidenschaftslose Bürger handeln muss, die sich umfassend informieren und ihre Meinungen zwanglos austauschen können.66 Schließen wir mit diesem freundlichen Bild. Aristoteles Werk ist keine in sich stimmige, vollkommen widerspruchsfreie Lehre von der Politik. Es ist vielmehr der Versuch, diesen wichtigen menschlichen Bereich von vielen Seiten zu betrachten, um praktikable Lösungen zu finden. Dies auch mit dem Mut, einander widersprechende Ansätze in Betracht zu ziehen. Gerade das macht das Werk zu einem bis heute fundamentalen ,Diskussionspapier‘ – es war ja eine Materialsammlung für den internen Schulgebrauch und in dieser Form nicht für die Veröffentlichung bestimmt – , und ich möchte hinzufügen: gerade das macht das Werk auch so menschlich anziehend.

65 Zu den gleichwohl verbleibenden Problemen, insofern der sich bildende Gesamtwille notwendig eine Minorität oder Einzelne überstimmt, s. den ,Exkurs über die Überstimmung‘ in: Simmel 1992, 218–228. 66 Hier kämen dann moderne Kommunikationstheorien und -formen von Jürgen Habermas bis zum Internet mit in Betracht; dazu Mann 2009, 77–81.

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Appendix: Zur Verwendung des Naturbegriffs im ersten Buch der ,Politik‘ Es kann hier nicht darum gehen, den Naturbegriff des Aristoteles insgesamt zu erörtern, sondern nur um Beobachtungen zu seinem argumentativen Einsatz zu Beginn der ,Politik‘. Auszugehen ist von der Definition in I 2. Die Natur ist eben Endziel, denn diejenige Beschaffenheit, welche ein jeder Gegenstand erreicht hat, wenn seine Entwicklung vollendet ist, eben diese nennen wir die Natur desselben (1252b32-33).

Wenn die Natur somit die Vollendung (Telos) eines Wesens ist, so ist damit gleichzeitig auch ausgesagt, dass es sich um die Entwicklung dessen handelt, was von Anfang an in ihm angelegt war.67 Alle Menschen, erfahren wir folgerichtig, haben als ein zoon politikon von vornherein den „Trieb, in diese Art von Gemeinschaft einzutreten“ (1253a29-30). Was hier unterschiedslos ,allen‘ zugeschrieben wird, erweist sich aber sogleich als fraglich im Hinblick auf die Sklaven und deren Ausschluss aus der Polis. Es ist also nicht nur der Einwand Anderer, die mit der den Griechen seit der Sophistik wohlbekannten Unterscheidung von Physis und Nomos68 die Sklaverei als ,unnatürlich‘ abgelehnt hatten (I 3), sondern ein aus der Prämisse des Aristoteles selbst folgendes Problem, das von ihm im Folgenden erörtert wird. Nur deshalb geschieht das auch in solcher Ausführlichkeit in mehreren Kapiteln. Bezeichnend dabei ist, dass er zunächst den Sklaven ganz funktional als ein lebendes Werkzeug für den Hausherrn bestimmt, der als solches eben ,von Natur‘ seinem Herrn gehört (I 4). Der ,Sklave von Natur‘ existiert folglich deshalb, weil er, wie wir schon zu Beginn des Kapitels erfahren, zum unentbehrlichen Besitz gehört, ohne den ein gutes Leben nicht zu führen ist (1253b24-25). Ein gutes Leben ist nämlich nach dem Verständnis des Aristoteles nicht mit der Arbeit für den Lebensunterhalt in Einklang zu bringen. Das ,Natürliche‘ des Sklaven hat damit aber sein Telos nicht in sich selbst, sondern in der Vollendung seines Herrn. Die Sklaverei erweist sich somit als integraler Bestandteil des aristotelischen Konzepts des guten Lebens. Die anschließende Untersuchung darüber, ob die Sklaverei natürlich und gerecht sei, gerät dann jedoch von vornherein unter einen Konflikt: 67 Vgl. Ottmann 2001, 119. 68 Heinimann 1945.

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Die soeben von fremden Bedürfnissen her bestimmte ,Natur des Sklaven‘ muss irgendwie auch mit dessen eigener ,Natur‘ als menschliches Wesen in Einklang gebracht werden, das als zoon politikon doch auch den Trieb haben muss, in die Gemeinschaft der Gleichartigen einzutreten. Eine unlösbare Aufgabe, wie Aristoteles in seiner aporetischen Überlegung zu Beginn von I 13 selbst deutlich zeigt (1259b21-28): Der Sklave ist und bleibt ein Mensch, der des Logos teilhaftig ist. Da hilft auch der Versuch nichts, innerhalb des Logos völlig ad hoc eine Unterscheidung hinsichtlich der Fähigkeit zur Überlegung zu treffen (1260a12), die allenfalls an der empirischen – aber durchaus nicht allgemeingültigen (Anm. 18) – Beobachtung orientiert ist, dass ein Sklave fremdbestimmt Befehlen zu gehorchen hatte, ohne sie auf ihren Sinn hin ,hinterfragen‘ zu dürfen. So verwendet dient der Naturbegriff – im Sinne der Normativität des Faktischen – aber nur der Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse. Im vorhergehenden Kapitel I 12 hat der Philosoph hervorgehoben, dass die politischen Ämter ihrer Natur nach der Gleichheit und Unterschiedslosigkeit zustreben (1259b5-6). Die Natur setzt also die natürliche Gleichheit der Bürger voraus, die in ihrer bürgerlichen Gleichheit ihre Vollendung findet. Diese indes baut auf der Ungleichheit der Sklaven auf, die dem Bereich des Notwendigen zugeordnet werden und diesem allein, und keineswegs einer unbewiesen bleibenden ontologischen Differenz, ihr Dasein verdanken. Mehrmals findet sich die seltsame Bemerkung, dass die Natur etwas erstrebe, was sie dann aber nicht oder nur teilweise erreiche. Dies gilt ebenso für die körperlich unterschiedliche Erscheinung von Freien und Sklaven (1254b27-36) wie für die Frage, ob der Mann immer zur Regierung über seine Frau befähigt sei (1259b2-3), und schließlich auch für das – im Grunde für alle menschlichen Unterschiede fundamentale69 – Problem, ob die Tugend, d. h. menschliche Vorzüge, überhaupt vererbt werden könne: „Die Natur nun strebt zwar nach diesem Ziel, vermag es aber in vielen Fällen nicht wirklich zu erreichen“ (1255b3-4). Alle diese Bemerkungen machen dem Empiriker Aristoteles durchaus Ehre; sie zeigen aber zugleich nochmals, dass sein Naturbegriff häufig das ihm Wünschenswerte sogleich auch zum argumentativ nicht zu hinterfragenden Natürlichen stilisiert. Dieses aber fällt für ihn mit der damaligen Polis-Wirklichkeit zusammen, über deren Rahmenbedingungen hinaus der Philosoph nicht denken konnte oder wollte – anders als seine anonymen Gegner in Kapitel I 3, die 69 Vgl. etwa Winterling 2003, 71: „Die Verteilung der Herrschaftsrollen wird an invariante und angeboren erscheinende Qualitäten der beteiligten Menschen geknüpft.“

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bereits (jenseits der Polis?) von der uns heute selbstverständlichen Prämisse ausgingen, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien.

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Politische Partizipation in der römischen Republik Martin Jehne Politische Partizipation ist nicht nur heutzutage als Bürgerrecht anerkannt, sondern generell unvermeidbar. Wenn man Partizipation als Einwirkung von Betroffenen auf Entscheidungsprozesse definiert, dann gibt es selbst in einer abgehobenen Diktatur Partizipation, denn auch der egozentrischste Diktator unterhält sich mit Untergebenen und Familienangehörigen und formt seine Äußerungen und Handlungen bis zu einem gewissen Grade an den Erwartungen, die er bei seinen Abhängigen vermutet. Zudem gibt es ab einer gewissen Größe und Differenzierung eines Herrschaftsverbandes keine Herrschaft ohne Verteilung von Handlungsvollmachten auf verschiedene Personen oder Instanzen, sodass hier auch politische Partizipation vorliegt, also Teilhabe an Entscheidungen in Angelegenheiten, die alle angehen. All das ist trivial und wird hier nur kurz angerissen, um zu verdeutlichen, dass elementare Partizipation von wenigen nicht der bewussten Installierung bedarf, sondern Folge organisatorischer Notwendigkeiten ist. Interessant wird es erst da, wo die berechenbar wiederkehrende Beteiligung größerer Mengen von Angehörigen der jeweiligen Gruppe gesichert wird, denn dazu ist eine Steigerung des Organisationsaufwandes nötig, und normalerweise ist damit auch eine Erwartung verbunden, was mit dieser formalisierten Partizipation erreicht werden kann. Daher werde ich mich bei meiner Beschäftigung mit den Verhältnissen der römischen Republik im Folgenden auf die Volksversammlungen konzentrieren und die Partizipationsstrukturen im römischen Senat beiseite lassen. Sinnvoll erscheint mir die elementare Differenzierung von Partizipationsrecht, Partizipationsmöglichkeit und Partizipationsbereitschaft, die ich zunächst untersuchen möchte, um dann auf die Partizipationsfolgen einzugehen, ohne versuchsweise erschließbare Absichten hinter den Einrichtungen ganz aus den Augen zu verlieren.

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I. Partizipationsrechte Wie generell die antiken Stadtstaaten war auch Rom zunächst einmal die Gemeinschaft der Bürger, deren formale Rechte auf politische Partizipation in der Frühzeit allerdings nicht wie in Griechenland durch Vermögensunterschiede, sondern durch Geburtsstände gestaffelt waren. Während im nachsolonischen Athen die wesentlichen Ämter nur diejenigen bekleiden durften, die der höchsten Vermögensklasse angehörten1 , gab es in Rom eine solche Vorschrift nicht. Dafür war das Oberamt offenbar lange den Patriciern vorbehalten, bis dann mit der Zulassung der Plebeier zum Consulat Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. das Reservatrecht der Patricier aufgehoben wurde. Doch wäre es eine Illusion, wollte man in Rom einen egalitäreren Zugang zu den Ämtern unterstellen als in Athen, denn das Fehlen der Festlegung eines Mindestvermögens für die Ämterbekleidung war keineswegs mit einer Einladung verbunden, es solle und könne sich jedermann bewerben, sondern basierte offenkundig auf der selbstverständlichen, nie reflektierten Voraussetzung, dass sich nur Vermögende überhaupt um ein Amt bemühen würden. Dies geht schon daraus hervor, dass es in der römischen Republik nie eine Besoldung für die Inhaber öffentlicher Ämter gab. Noch merkwürdiger sieht es auf den ersten Blick beim aktiven Wahlrecht aus. Wenn man erneut das klassische Athen und das republikanische Rom vergleicht, dann sieht man die Athener ihr Wahlrecht in ungegliederten Versammlungen ausüben, während die Römer stets in Stimmkörperschaften abstimmten, wobei in der für die Wahlen der obersten Beamten zuständigen Versammlung, den comitia centuriata, der Einfluss auf das Ergebnis sogar massiv nach dem Vermögen gestaffelt war. Auf der formalen Seite ist die Lage in Rom also paradox. Während das passive Wahlrecht nur durch freie Geburt in der zweiten Generation2 und gewisse Vorschriften über Mindestalter und Ämterfolge3 eingeschränkt war, war das aktive Wahlrecht

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Es ist nicht ganz klar, ob nicht auch die Mitglieder der zweiten Klasse, die hippeis, von Anfang an zugelassen waren, aber zumeist nimmt man das nicht an; vgl. dazu etwa Schmitz 1995, 576 f. Doch ist jetzt ohnehin umstritten, ob es die Einteilung in vier Vermögensklassen durch Solon gegeben hat, vgl. für unterschiedliche Ansätze van Wees 2006; Raaflaub 2006. Vgl. Mommsen 3 1887/8, I, 488. Vgl. Timmer 2008, 80–95. Ein besonderes Mindestalter für die Bekleidung von öffentlichen Funktionen war in der Antike der Normalfall, vgl. etwa für die Ämter in Athen Timmer 2008, 33–38.

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in einer wesentlichen Versammlung nach dem Vermögen differenziert. In den Ämterregelungen fassen wir aber nicht nur den wichtigen Unterschied zwischen dem Recht auf Partizipation und der faktischen Chance, von diesem Recht Gebrauch zu machen, sondern auch ein wesentliches Element einer gewachsenen Verfassung4 , in der formalisierte Vorschriften normalerweise nur anstehen, wenn etwas praktisch strittig wird, nicht aber zur präventiven Abwehr von theoretisch möglicher Devianz von der üblichen Praxis. Oder in römischen Kategorien formuliert: Wo der mos wirkte, die tradierte Verhaltensnorm, brauchte man keine leges, also keine expliziten Vorschriften. Um diese gleichermaßen wirksamen und anerkannten Regulierungskräfte angemessen zu erfassen, scheint mir das Konzept der Institutionalität hilfreich zu sein, ein Kunstwort, das sich an den alltagssprachlichen Institutionenbegriff anlehnt und sich gleichzeitig von ihm absetzt, indem es den Prozesscharakter gegenüber der Zustandsbehauptung hervorhebt. Erfasst sind damit Verstetigungen von Ordnungsmustern, d. h. Institutionalität meint die Suggestion, Beanspruchung und Produktion von Dauer in gesellschaftlichen Arrangements, wobei die Prinzipien und Geltungsansprüche solcher Ordnungsmuster symbolisch zur Darstellung gebracht werden5 . Der Vorzug des Institutionalitätsbegriffs ist also, dass hier die mühseligen Beschreibungen über Quellen des Rechts und deren Geltungskraft und die Bedeutung des mos in einer gewachsenen Verfassung6 vereinfacht und systematisiert werden können, denn alle Erscheinungen des öffentlichen Lebens, die nicht entweder zufällig oder einmalig deviant oder schwach symbolisierte Alltagshabitualisierungen sind, können als institutionell beschrieben werden. In der institutionellen Perspektive gibt es auch keine natürliche Hierarchie zwischen organisatorisch klar und verbindlich, möglichst gesetzlich und sanktionsbewehrt durchgegliederten Institutionen und einfach üblichen Verhaltensweisen: Alle diese Formen reduzieren gleichermaßen die Unsicherheit in menschlicher Kommunikation und Interaktion durch Herstellung von Erwartbarkeit im Handeln der anderen und Bereitstellung von situationsadäquaten Verhaltensmustern für das handelnde Individuum. Aus dieser Perspektive ist also die unbestrittene, ja unreflektierte Praxis, dass sich nur vermögende Angehörige der angesehenen Kreise der Gesellschaft überhaupt um die Ämter bemüh4 5 6

Meier 2 1980, XXIVf.; 56f.; 118–120; 124f. Vgl. etwa Rehberg 2001, 9–13. Siehe auch für eine knappe Darlegung der Vorzüge des Institutionalitätskonzepts gegenüber dem Staatsrecht Jehne 2005, 155–158. Vgl. etwa Grziwotz 1985, 219–289.

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ten, gleichermaßen eine institutionelle Regel wie die gesetzlich fixierten Altersvorschriften für die Bekleidung einzelner Ämter, die mit der lex Villia annalis 180 v. Chr. zum ersten Mal festgesetzt und später noch des Öfteren eingeschärft oder leicht modifiziert wurden7 . Wenn ich im Folgenden versuchen werde, Regeln und Ausmaß politischer Partizipation im republikanischen Rom zu umreißen, so werde ich daher die formale Seite nicht nur auf die rechtlich formulierten Regeln beschränken, sondern auch die durch Verhaltenstraditionen und langdauernde Praxis etablierten Handlungsweisen dort verbuchen, sofern sich keine häufigeren Devianzen erkennen lassen. Dies ist schon deshalb ratsam, weil es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass für so zentrale Partizipationsinstitutionen wie die römischen Volksversammlungen und den Senat jemals Einrichtungsgesetze verabschiedet und formalisierte Statuten niedergelegt worden sind8 . In Rom war, nicht anders als in anderen antiken Poleis, die politische Partizipation auf die Gemeinschaft der männlichen, erwachsenen Bürger beschränkt. Dass sich die Möglichkeit zur Mitwirkung bei der Entscheidungsfindung auch für wenig angesehene und arme Bürger überhaupt ergab, hängt zweifellos mit dem unverzichtbaren Einsatz solcher Bürger im Krieg zusammen, auch wenn man die einfache Regel von Otto Hintze: Alle Staatsverfassung ist ursprünglich Heeresverfassung“ 9 , nicht mehr so ” ohne weiteres akzeptieren wird10 . Ein weiterer Faktor könnte das Bedürfnis der Geschlechteroberhäupter gewesen sein, ein gewisses Ausmaß an ritueller Binnenintegration zu betreiben und den konkurrierenden Kollegen zu zeigen, wie bedeutsam die eigene personelle Machtbasis war. Dies ist zumindest eine Erklärungsmöglichkeit für die Curien, die sich in Rom zum frühesten Typus von Versammlung breiter Bevölkerungskreise entwickelten und neben religiösen Aufgaben wohl auch politische Funktionen wahrnahmen, sodass die Einzeltreffen der Curien zu einer

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Zur lex Villia vgl. etwa Beck 2005, 51–60; Timmer 2005, 49–69; dens. 2008, 81–95; Jehne 2012, 422–426. 8 Vgl. Jehne 2012, 406–409. Es ist bezeichnend, dass Varro als Privatmann ein eigenes Handbuch über das Senatsreglement für Pompeius schrieb (Gellius, noctes Atticae 14,7,2 f.): es gab eben kein Gesetz oder sonst ein schriftliches Zeugnis darüber (vgl. auch Jehne 2012, 413 f.). 9 Hintze 1970, 53. 10 Vgl. zu Hintzes Konzept und der Anwendung auf die Antike Loreto 1994; ders. 2006, 248–250.

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Volksversammlung zusammengesetzt wurden11 . Aber wohl erst im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. wurden die comitia centuriata, die römischen Volksversammlungen, die nach Centurien geordnet waren, und die comitia tributa, die Versammlungen, die nach tribus gegliedert waren, geschaffen12 und existierten nebeneinander, ebenso wie die comitia curiata weiter fortbestanden. Ob die comitia tributa mit dem ebenfalls nach tribus unterteilten concilium plebis, der in den Auseinandersetzungen um die Gleichstellung der Plebeier entstandenen Plebeierversammlung, in der frühen und mittleren Republik identisch waren, ist nicht ganz klar13 , aber hier unerheblich. Jedenfalls waren seit der lex Hortensia von 287 v. Chr. alle Beschlüsse des concilium plebis als bindend für die römische res publica anerkannt14 , sodass es sich um eine reguläre Versammlungsform mit gleicher Wirkungskraft wie die anderen handelte. Die komplexe Partizipationsstruktur in Rom muss ich hier nicht in den Details erläutern, es genügt, einige Grundzüge der Versammlungen und ihrer Reglements vorzustellen, um meine nachfolgenden Überlegungen verständlich zu machen15 . Es galt generell das Prinzip der direkten Partizipation, d. h. nur der Bürger konnte sein Abstimmungsrecht wahrnehmen, der persönlich anwesend war. In den verschiedenen abstimmenden Versammlungen wurde nicht diskutiert, es gab auch kein Rederecht des Bürgers darin, und selbst in den contiones, den nicht abstimmenden Versammlungen, in denen durchaus verschiedene Redner zu Wort kommen konnten, war der Normalbürger zwar nicht formal, durchaus aber faktisch vom Rederecht ausgeschlossen16 . Es gab drei Arten von Abstimmungs11 Vgl. zu den frühen Curien, die sich offenbar als Männerbünde bildeten, Linke 1995, 56–61. Zu Spekulationen über die Entstehung der Curiatcomitien s. Jehne 2013, 130–140. 12 Humm 2005, 283–308; 399–439. 13 Dafür tritt jetzt wieder mit Verve Sandberg 2001; ders. 2004 ein. Kritisch Humm 2005, 419–429. 14 Zur lex Hortensia vgl. Hölkeskamp 2004. 15 Da ich hier nur die bekannten Verfahren und Regeln zusammenfasse, kann ich auf Einzelnachweise verzichten und allgemein auf die einschlägige Literatur zu den römischen Volksversammlungen und ihren Abstimmungsverfahren verweisen, vgl. die klassischen Werke von Mommsen 3 1887/8, II 1, 369–419; Taylor 1966, 34–106; 121–190; Staveley 1972, 121–190; Nicolet 2 1979, 295–380; zum Charakter der Volksabstimmungen in der späten Republik jetzt auch Hollard 2010, 23–70. Einen sehr guten und klaren Überblick bietet Bleicken 7 1995, 120–133. 16 Vgl. Jehne 2011.

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materie, Gesetze, worunter alle Sachentscheidungen gerechnet wurden, Prozessurteile und Wahlen. Bei den Wahlen hatten die Wähler so viele Stimmen wie Posten zu besetzen waren. Generell wurde immer in Stimmkörperschaften abgestimmt, wobei die verschiedenen Versammlungsarten sich eben nach der Art der Untergliederung in Stimmkörperschaften unterschieden. Diese Vielzahl von Volksversammlungstypen in Rom ist einmalig in den politischen Strukturen der Antike. In den griechischen Stadtstaaten gab es nur eine Bürgerversammlung, und selbst in den von Rom gegründeten Städten, den römischen Colonien, wurde nur eine Volksversammlung installiert17 . In all diesen Versammlungen in Rom begegneten sich tendenziell dieselben Männer, allerdings wurden sie für den Abstimmungsakt unterschiedlich zusammengespannt. Erst die Abstimmung in Stimmkörperschaften machte die verschiedenen Versammlungstypen überhaupt sinnvoll und möglich. Wie es zu dieser römischen Sonderentwicklung kam, nicht die versammelten Bürger einfach abstimmen zu lassen, sondern in Stimmkörperschaften zu unterteilen, liegt für uns im Dunkeln. Da die comitia curiata die früheste Volksbeteiligungsform und die Curien also die früheste Untergliederung darstellten, wird das Prinzip der Abstimmungseinheit mit dieser Versammlung entstanden und dann bei den später etablierten übertragen worden sein18 . Nun sind Stimmkörperschaften ein bewährtes Mittel, die Repräsentation von Untereinheiten zu sichern. Dieses Prinzip ist uns von Parlamentswahlen her vertraut, für die es Wahlkreise gibt, die garantieren, dass jede Region mindestens einen Angeordneten entsendet. Das ist nichts anderes als eine Abstimmung nach Stimmkörperschaften. Doch die regionale Repräsentation in den Ämtern und im Senat war den Römern kein Anliegen, und selbst in den Versammlungen, in denen die tribus als regionale Bürgerbezirke eine mehr oder weniger große Rolle spielten, ging es in keiner Weise um proportionale Beteiligung der Bürger. In den Centuriatcomitien, in denen vor allem die heiß umkämpften Wahlen für die oberen Ämter stattfanden, war durch die Einteilung in Stimmkörperschaften dafür gesorgt, dass die Vermögenderen einen erheblich größeren Einfluss auf das Abstimmungsergebnis hatten als die Ärmeren. Diese Versammlung war aus der Heeresgliederung heraus entstanden. Dass die 17 Vgl. die lex Malacitana 51–58 (zwischen 81 und 83 n. Chr. erlassen), s. den Text (mit Übersetzung) bei Spitzl 1984, 14–19. 18 Vgl. für einige Überlegungen zu den Curiatcomitien Jehne 2013, 130–140 (mit älterer Literatur).

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Art des Wehrdienstes in grober Form nach dem Vermögen abgestuft war, stellte bei einem Milizsystem, das auf der Selbstausrüstung der Soldaten basiert, eine naheliegende Ordnungsform dar. Aber die 193 Centurien, in welche die Centuriatcomitien unterteilt waren19 , hatten mit der früheren Heeresgliederung nichts mehr zu tun20 , und die einzelne Centurie besaß schon im 4. Jh. keine Gemeinsamkeiten mehr mit der gleichnamigen Untereinheit der römischen Legion21 . Die Centurien der Centuriatcomitien existierten nur für diese Versammlung. Da eine Vermögensklasse mehrere Centurien hatte, stellte sich das Problem, wie die Angehörigen dieser Klasse auf die einzelnen Centurien verteilt wurden. Darüber wissen wir nichts, bevor die Centurien offenbar erst durch eine zwischen 241 und 218 durchgeführten Reform in einer für uns nur begrenzt nachvollziehbaren Weise mit den tribus, den regionalen Bürgerbezirken, verknüpft wurden22 . Wesentlich ist nun, dass in den Centuriatcomitien die Gewichtung der Stimmen zugunsten der Vermögenderen in mehrfacher Hinsicht erfolgte. Zum einen war der Reichtum in Rom – wie immer – ungleich verteilt, d. h. es gab sehr viel weniger Vermögende als Ärmere. Konkret heißt das, dass in den Centurien der oberen Klassen weniger Leute abstimmten als in denen der unteren. Der Effekt wurde noch verstärkt durch das Faktum, dass die Vermögenden mehr Centurien hatten als die Ärmeren. Cicero behauptet sogar, die letzte Centurie, die der proletarii, habe mehr Mitglieder

19 Der römischen Tradition nach war diese Einteilung das Werk des Königs Servius Tullius (Livius 1,42,4–43,13; Cicero, de re publica 2,39 f.; Dionysios von Halikarnassos, antiquitates 4,16,1–21,1), aber diese ausdifferenzierte Organisation mit den fünf Vermögensklassen und die Verwendung als Volksversammlung gehört sicher in die frühe Republik, möglicherweise erst in das späte 4. Jh. oder gar in das frühe 3. Jh., vgl. etwa Raaflaub 1986, 209; Humm 2005, 283–308. 20 Die ursprüngliche, auf den militärischen Einsatz fokussierte Gliederung nach Centurien hatte als zentrale Unterscheidung die Rubriken classis (das sind die vom Vermögen her Wehrdienstfähigen) und infra classem (das sind diejenigen, deren Vermögen nicht ausreicht, um sich selbst auszurüsten und damit wehrdienstfähig zu sein). Vgl. dazu etwa Gabba 1977, 15 f.; Richard 1977, 229–236; Humm 2005, 286 f. 21 Seitdem sich die Manipulartaktik durchsetzte, war die Centurie als Untergliederung des Heeres bedeutungslos geworden, vgl. dazu Stemmler 2000. 22 Grieve 1985 analysiert die Überlieferung und kommt zu dem Schluss, dass sich die Verknüpfung der tribus mit den Centurien auf die erste Klasse der Centuriatcomitien beschränkte, vgl. auch Staveley 1972, 126 f. Aber das bleibt umstritten, vgl. Taylor 1966, 87–90.

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besessen als die gesamte 1. Klasse mit ihren 70 Centurien23 . Schließlich stimmten die Centurien nach dem Vermögen gestaffelt ab, und es wurden Zwischenergebnisse verkündet, die natürlich auf das folgende Abstimmungsverhalten einwirkten. Und als Krönung: Die Abstimmung wurde in dem Moment abgebrochen, in dem die einfache Mehrheit der Centurien erreicht war24 . Es war also für einen armen Mann unsicher, ob er seine Stimme, die ohnehin weniger wert war als die der Reichen, überhaupt abgeben konnte, während Vermögende immer zur Abstimmung kamen. Eine Gewichtung der Stimmen nach dem Vermögen ist nicht ungewöhnlich, z. B. basierte das preußische Dreiklassenwahlrecht auf demselben Prinzip wie die römischen Centuriatcomitien, nur war es sehr viel gröber und damit auch einfacher gestaltet25 . Dagegen scheinen Oligarchien in Griechenland normalerweise so funktioniert zu haben, dass man die Stimmabgabe allgemein auf eine bestimmte Gruppe beschränkte, also die Aktivbürgerschaft nach dem Vermögen beschränkte, dann aber alle Zugelassenen gleich und ungegliedert abstimmen ließ26 . Die Gleichheit der Abstimmenden war damit gewahrt. In Rom gab es aber anscheinend nie eine stärkere Bewegung gegen diese ungleiche Abstimmung in den Centuriatcomitien27 . Die Wirkung des Verfahrens wurde klar gesehen 23 Cicero, de re publica 2,40: “ illarum autem sex et nonaginta centuriarum in una centuria tum quidem plures censebantur quam paene in prima classe tota”. Dazu auch Dionysios von Halikarnassos, antiquitates Romanae 7,59,6, der sogar behauptet, die Centurie der Proletarier habe so viele Mitglieder gehabt wie alle anderen zusammen. 24 Deutlich vorgeschrieben in der lex Malacitana Kap. 57 Z. 50–58 (Spitzl 1984, 18): Qui comitia h(ac) l(ege) habebit, is relatis omnium / curiarum tabulis nomina curiarum in sor/tem coicito, singularumque curiarum no/mina sorte ducito, et ut cuiiusque curiae / nomen sorte exierit, quos ea curia fecerit, / pronuntiari iubeto; et uti quisque prior maiorem partem numeri curiarum confecerit, eum, cum h(ac) l(ege) iuraverit caveritue de pecunia communi, factum creatumque renuntiato, donec tot magistratus sint quod h(ac) l(ege) creari opportebit. Dass diese Regelung nicht für latinische Städte in flavischer Zeit erfunden wurde, sondern alte Praxis war, die selbstverständlich in nach römischem Muster geordnete Städte exportiert wurde, liegt auf der Hand; vgl. auch Fraccaro 1957, 249 f.; Taylor 1966, 80 f. 25 Vgl. zu Entstehung und Charakter Grünthal 1978. Ebd. 23 findet sich der Hinweis, dass man in den Vorgesprächen 1849 tatsächlich auf die Centuriatcomitien des römischen Königs Servius Tullius verwies, der sie ja der römischen Überlieferung nach begründet haben soll. 26 Vgl. etwa Blösel 2000. 27 Immerhin soll C. Gracchus 123 oder 122 einen Gesetzesantrag eingebracht haben, der die Bestimmung der Abstimmungsreihenfolge durch Losung aus allen Stimmkörperschaften bei den Centuriatcomitien vorsah (vgl. Sallust, epistula ad

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und jedenfalls von der Führungsschicht begrüßt. Cicero sieht darin den wohlüberlegten Versuch sicherzustellen, dass die Abstimmungen nicht in der Gewalt der Menge, sondern in der der Besitzenden lägen, womit dafür Sorge getragen sei, was immer in einer res publica festzuhalten sei, dass nämlich die meisten nicht am meisten zählten28 . Auch wenn wir über die Intentionen der römischen Führungsschicht im 5. Jahrhundert v. Chr. nicht informiert sind, können wir getrost davon ausgehen, dass der offenkundige Effekt dieser hierarchischen Organisationsweise der Centuriatcomitien den Römern von Anfang an nicht verborgen blieb. Dass die Centuriatcomitien in Rom so selbstverständlich und dauerhaft akzeptiert wurden29 , hängt wohl damit zusammen, dass es ja noch eine andere Volksversammlung gab, die ganz anders geordnet war. Es handelt sich um die nach tribus gegliederte Versammlung, wobei ich hier von der umstrittenen Frage absehe, ob es nur eine oder zwei Versammlungen dieses Typs gab30 . Wesentlich ist, dass die tribus als regionale Bezirke, in denen die dort wohnenden Bürger registriert waren, entstanden waren und im Laufe der Expansion in der frühen und mittleren Republik nach und nach vermehrt wurden, um die auf neu annektiertem Territorium lebenden Bürger einzugliedern. Im Jahre 241 v. Chr. beendete man die Caesarem 2,8,1), und etwas Ähnliches soll Ser. Sulpicius Rufus 63 im Senat wieder zur Diskussion gestellt haben (Cicero, pro Murena 47). Doch ist bezeichnend, dass es offenbar nur darum ging, die festgelegte Reihenfolge dem Zufall zu überlassen und jeder Centurie die Chance einzuräumen, früh abzustimmen, aber nicht darum, die unterschiedlichen Mitgliederzahlen der Centurien auszugleichen. Proportionale Repräsentation stand den Reformern gar nicht vor Augen, sondern nur die Angleichung des Verfahrens in den Centuriatcomitien an das in den nach tribus geordneten Volksversammlungen. Vgl. zu den Vorschlägen ausführlich Nicolet 1959. 28 Cicero, de re publica 2,39: … easque ita disparavit ut suffragia non in multitudinis sed in locupletium potestate essent, curavitque, quod semper in re publica tenendum est, ne plurimum valeant plurimi. Vgl. auch Livius 1,42,10. 29 Die Reform der Centuriatcomitien, in der die Centurienorganisation mit den tribus gekoppelt wurde (s. o. Anm. 22), war eine sanfte Abmilderung der timokratischen Hierarchie, wurden doch die Centurien der 1. Klasse von 80 auf 70 verringert, sodass jetzt keine Mehrheit mehr zu erreichen war, ohne wenigstens einige Centurien der 2. Klasse hinzuzuziehen. Ob das eine bewusste Demokratisierung darstellte und ob man gar auf Druck von unten reagieren musste, ist allerdings äußerst zweifelhaft (vgl. dagegen etwa Mouritsen 2011b, 225 f.). Es könnte sich auch nur um einen Nebeneffekt der Organisationserleichterung handeln, den die Verbindung mit der Tribusordnung bedeutete. 30 S. o. Anm. 13.

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Neugründung von tribus und schlug seither neue Territorien bzw. die dort angesiedelten Bürger bestehenden tribus zu. Es blieb also für den Rest der römischen Geschichte bei 35 tribus, und dass man sich dazu entschloss, vom bisherigen Verfahren abzurücken und die Zahl der tribus stabil zu halten, lag wahrscheinlich daran, dass die Tributcomitien nun eine wesentliche Versammlung waren, deren Binnenstruktur man nicht mehr den Veränderungen aussetzen wollte, die durch die Vermehrung von tribus eintreten mussten31 . Die Tributcomitien waren in verschiedener Hinsicht eindeutig egalitärer organisiert als die Centuriatcomitien32 . In die tribus waren die Bürger unabhängig von ihrem Vermögensstand eingeschrieben, also Arme und Reiche gleichermaßen. Zudem stimmten die tribus jedenfalls bei den Wahlen gleichzeitig ab33 , und auch wenn die Verkündigung der Ergebnisse der Tribusabstimmungen ebenfalls nach Erreichen der Mehrheit abgebrochen wurde34 , so hatten doch vorher alle ihre Stimme abgegeben. Bei Gesetzesanträgen und Gerichtsverhandlungen scheinen auch die Tributcomitien nacheinander abgestimmt zu haben35 , aber die Reihenfolge wurde stets aufs Neue ausgelost, sodass jede tribus dieselbe Chance hatte, einmal vorne zu liegen36 . Dasselbe galt für die Reihenfolge der Verkündigung 31 Zum Ende der Tribusgründungen vgl. Hackl 1972. 32 Vgl. dazu auch schon Jehne 2003, 286 f. 33 Fraccaro 1957, 235–254; zustimmend Hall 1964, 288–290; Taylor 1966, 40; Lintott 1999, 48. Fraccaro a.O. 251 f. und Hall a.O. 290–292 glauben, dass die gleichzeitige Abstimmung erst 139 mit der geheimen Wahl eingeführt wurde, doch vgl. die Zweifel von Staveley 1972, 172 f. 34 Vgl. Hall 1964, 294 f.; Taylor 1966, 80 f. 35 Dies ist die wichtige Erkenntnis von Fraccaro 1957, 239–246. 36 Die Auslosung der Abstimmungsreihenfolge der tribus ist zu erschließen aus dem gut belegten Faktum, dass eine tribus als principium, als zuerst abstimmende tribus, ausgelost wurde (das principium ist in Gesetzesformularen genannt, vgl. Crawford 1996, I Nr. 14 tab. VIII; II Nr. 63 Z. 3; vgl. Taylor 1966, 145 Anm. 40). Wie Fraccaro 1957, 249 zu Recht betont, gibt es keine Angaben darüber, ob vom ausgelosten principium an einfach gemäß dem ordo tribuum, der festen Reihenfolge der Tribus (vgl. dazu Taylor 1960, 69–78), weitergemacht wurde oder ob man nach dem principium stets oben auf der Liste begann. Doch ist die zweite Variante auszuschließen, denn damit hätte ja die Tribus Aniensis, die im ordo tribuum an 35. Stelle stand (Cicero, de lege agraria 2,79), immer als letzte gestimmt, wenn sie nicht zufällig als principium gelost wurde, und das wäre eine gravierende Diskriminierung gewesen, während ausgerechnet die wenig angesehene städtische Tribus Suburana immer wenigstens die 2. Tribus gewesen wäre (vgl. auch Staveley 1972, 155 f.). Lintott 1999, 48 f. glaubt an die Auslosung der gesamten Reihenfolge der

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der Ergebnisse bei den Wahlen: Selbst wenn das Abstimmungsergebnis der eigenen tribus nicht mehr publiziert wurde, weil die Mehrheit schon vorher erreicht und die Versammlung beendet wurde, so basierte die jedesmal erloste Abfolge eben nicht auf einer ewigen Hierarchie wie in den Centuriatcomitien. Jede tribus hatte also die gleichen Aussichten darauf, mit ihrer Abstimmung das Ergebnis zu beeinflussen. Damit waren die Tributcomitien aber noch keine demokratischen Versammlungen. Die Zahl der Mitglieder der einzelnen tribus und damit der Abstimmungseinheiten war sehr unterschiedlich. Das basierte zum Teil auf Zufällen, stärker aber wohl auch auf politischen Machinationen – dem in Systemen mit Mehrheitswahlrecht beliebten Gerrymandering37 . Da die großen Geschlechter in den tribus, denen sie selber angehörten, einflussreich zu sein pflegten, hatten sie begreiflicherweise kein Interesse daran, sich ihre eigene tribus durch Vergrößerung und Neuaufnahmen aus Regionen, die sie nicht kontrollierten, aufschwemmen zu lassen; viel besser gefiel es ihnen, die tribus ihrer Konkurrenten unübersichtlich zu machen. Wir können durchaus annehmen, dass solche Überlegungen eine Rolle spielten, erklären sie doch am besten die Kämpfe um die Integration Italiens in die tribus nach dem Bundesgenossenkrieg38 . Was aber konkret ablief und wer welche Interessen wo hatte, ist für uns kaum nachvollziehbar, weil

Tribus vor jeder Abstimmung wie in der lex Malacitana (cap. 57), was durchaus möglich ist. In diesem Falle wäre genauso wie bei einer Abfolge gemäß Tribusordnung nach Auslosung der Anfangstribus Chancengleichheit für die Tribus gesichert gewesen. Des Öfteren wird vermutet, dass die Abstimmung sogar dann bis zur 35. Tribus zu Ende geführt wurde, wenn die Mehrheit schon erreicht war, vgl. Fraccaro 1957, 249 f.; Hall 1964, 285; Taylor 1966, 77 f. Dagegen aber überzeugend Staveley 1972, 181 f. 37 Der Ausdruck gerrymandering“ wurde von Kritikern des republikanischen Gou” verneurs von Massachusetts Elbridge Gerry 1912 erfunden. Gerry schnitt die Wahlkreise so zu, daß die Hochburgen der Unterstützer und der Gegner so verteilt waren, dass Gerrys Gesamtsieg wahrscheinlich war, und da das dabei entstehende Areal der Unterstützer wie ein Salamander aussah, kam man auf die Verbindung. Diese Vorgehensweise war in den USA nicht selten (sie ist dort erst in den 1980er Jahren gerichtlich als Verstoß gegen die Verfassung bewertet worden), ist aber auch sonst in der Welt verbreitet. Dass die Neuzuschneidung von Wahlkreisen in den USA letztlich einen eher geringeren Einfluss auf Wahlergebnisse und Radikalisierungstrends hatte, legen Brunell und Grofman 2008 dar. 38 Vgl. zu den verschiedenen Versuchen, die Neubürger nach dem Bundesgenossenkrieg nur in wenige tribus aufzunehmen, was auf eine Begrenzung ihrer Stimmkraft hinauslief, z. B. Coşkun 2009, 150–157.

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uns die Quellen hier weitgehend im Stich lassen39 . Deutlich wird uns der Vorgang nur in einem Fall, in dem sich die großen Bosse in Rom wohl weitgehend einig waren: in dem der vier tribus urbanae, der städtischen Bezirke, deren Mitgliederzahlen rücksichtslos vergrößert wurden, schon indem ihnen alle ehemaligen Sklaven, die durch reguläre Freilassung römische Bürger wurden, zugeschlagen wurden40 . Hier wirkte sich aus, dass man seine Stimme nur persönlich abgeben konnte und die Versammlungen immer und ausschließlich in Rom stattfanden. Unter diesen Rahmenbedingungen lag es auf der Hand, dass die Chance, das Partizipationsrecht in den Volksversammlungen tatsächlich auszuüben, für die Stadtbürger, die keinen weiten Weg zurückzulegen hatten, viel größer war als für die Landbürger, denen die Distanz zum Abstimmungsort die Teilnahme in vielen Fällen praktisch unmöglich machte. Bei den Versammlungen dürften also die städtischen tribus zahlenmäßig weit stärker besetzt gewesen sein als die ländlichen, sodass es aus Sicht der Führungsschicht auf die ohnehin unübersichtlichen Stadttribus nicht mehr ankam und man sie gnadenlos mit Freigelassenen überfluten konnte. Das Recht zur Teilnahme an den römischen Volksversammlungen war fester Bestandteil des Bürgerrechts der erwachsenen Männer. Da so gut wie alle Entscheidungen, die für das Gemeinwesen von Relevanz waren, per Volksbeschluss getroffen werden mussten, der durch die Abstimmung der Bürger zustandekam, war die politische Partizipation der Römer formal umfassend und einflussreich, wenn auch in manchen Kontexten ungleich. Doch gehört zur Beurteilung von Partizipation natürlich nicht nur die Zusammenstellung der formalen Rechte, sondern auch die der Chancen, von diesen Rechten praktisch Gebrauch zu machen. Weiter ist gerade bei gewachsenen Verfassungen auch eine Abschätzung der Bereiche, in denen der Handlungsspielraum durch etablierte Praktiken weitgehend verengt ist, erforderlich, also eine Analyse des Institutionalitätszustands der Partizipationseinrichtungen. Aber schauen wir zunächst einmal auf die Partizipationsmöglichkeiten in Bezug auf die Volksversammlungen.

39 Vgl. generell zur Zuordnung der römischen Senatoren zu den tribus Taylor 1960, 167–315. 40 Vgl. Taylor 1960, 132–149; Millar 1998, 23 f.; 35 f.; Lintott 1999, 51 f.; Mouritsen 2011a, 76–79.

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II. Partizipationsmöglichkeiten Da die Volksversammlungen stets in Rom stattfanden und man sein Beteiligungsrecht nur bei persönlicher Anwesenheit ausüben konnte, wurde es bei der zunehmenden Vergrößerung des römischen Territoriums für viele Bürger immer schwieriger, zur Versammlung zu erscheinen. Die wichtigste Kalkulationsmöglichkeit, die wir besitzen, um den Anteil der tatsächlich partizipierenden Bürger abzuschätzen, bietet der Vergleich der Größe der bekannten Versammlungsplätze mit den Bürgerzahlen. Dabei sind die zur Verfügung stehenden Quadratmeter nur ungefähr zu bestimmen, die Dichte, in der die Anwesenden beieinanderstehen konnten, ebenfalls, und überdies sind die überlieferten Zahlen der Bürgerschätzung in ihrer Bedeutung umstritten. Dennoch kann man wenigstens ungefähr die Größenordnung ermitteln. Nach Henrik Mouritsens Kalkulationen, für die er auch noch Abstimmungs- und Auszählungsdauer hinzuzieht, kann man auf dem Forum, wo Abstimmungen der Tributcomitien stattfanden, mit höchstens 10.000, auf dem Marsfeld, wo die Centuriatcomitien tagten und auch die Wahlen in den Tributcomitien abgehalten wurden, mit höchstens 30.000 Mann rechnen41 . Wenn wir einmal von den 910.000 Bürgern ausgehen, die der Census von 70/69 v. Chr. erbracht hatte42 , dann bedeutet das, dass auf dem Forum ca. 1,1 % der römischen Bürger präsent sein konnten, auf dem Marsfeld ca. 3,3 %43 . Selbst wenn man annimmt, dass eigentlich nur die städtische Bevölkerung tatsächlich bei den Versammlungen auftauchte, werden die Zahlen nicht eindrucksvoll. Walter Scheidel hat das durchkalkuliert und dazu die Kernbevölkerung, also die römischen Bürger, die in der Stadt Rom und im näheren Umland lebten, für die letzten Jahrzehnte der Republik auf ca. ein Fünftel der Gesamtbürgerzahl angesetzt44 . Daraus ergeben sich dann ca. 16,5 % für das Marsfeld, ca. 5,5 % für das Forum45 . Doch da die Kalkulation der Menschen, die in einem zur 41 Mouritsen 2001, 20–23; 26–30. 42 Phlegon von Tralles, Fragmente der griechischen Historiker Nr. 257, Fragment 12,6; s. auch Livius, periocha 98. 43 Mouritsen 2001, 32. 44 Scheidel 2006, 215. Vgl. auch schon Mouritsen 2001, 32, der mit ca. 200 000 männlichen römischen Bürgern in Rom und nächster Umgebung in der Zeit der späten Republik rechnet, sodass die Höchstzahl der Wähler, die sich auf dem Marsfeld versammeln konnten, ca. 12 % der in der Nähe wohnenden Wahlberechtigten beträgt. 45 Die Zahlen von Scheidel 2006, 218 f. sind höher, da er von größeren Mengen an Bürgern, die auf dem Forum bzw. auf dem Marsfeld Platz finden, ausgeht (14000

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Verfügung stehenden Raum Platz finden, immer eine Maximalzahl ergibt und da wir fast nie davon hören, daß die Versammlungen überfüllt waren46 , war die tatsächliche Beteiligung wohl noch erheblich geringer47 . Halten wir also fest, dass die Rahmenbedingungen für die Partizipation in den römischen Volksversammlungen den in einiger Entfernung von Rom lebenden Bürgern hohe Hürden auferlegten, falls sie teilnehmen wollten, und dass man problemlos mit Versammlungsplätzen auskam, die überhaupt nur einem verschwindend geringen Bevölkerungsteil die Teilnahme physisch möglich machten. Offensichtlich wurde das Partizipationsrecht in der Praxis nur von einem kleinen Prozentanteil der Berechtigten ausgeübt, vermutlich unter 10 %. Doch hat Scheidel zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass damit die Verhältnisse der nachsullanischen Republik beschrieben werden, nicht aber die der vorangehenden Perioden, denn vor der enormen römischen Expansion und vor allem der Einbürgerung ganz Italiens waren die Bürgerzahlen insgesamt geringer, sodass der Anteil der in Rom und nahebei lebenden Bürger an der Gesamtmenge erheblich höher war. Scheidel stellt damit klar, dass erst ab dem 2. Jh. der Prozentsatz der in weiterer Entfernung von Rom beheimateten Bürger deutlich anstieg48 .

III. Partizipationsbereitschaft Während sich also das Partizipationsrecht auf alle Bürger erstreckte, war die Partizipationsmöglichkeit faktisch auf einen immer kleiner werdenden Teil beschränkt. Aber wie stand es mit der Partizipationsbereitschaft? Waren die römischen Bürger überhaupt motiviert, an Volksversammlungen teilzunehmen? Und wenn ja, wer war motiviert und was motivierte ihn? Hier sah es natürlich für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auch sehr unterschiedlich aus. Die politische Klasse, also die Senatoren und Teile des Ritterstandes, die aufgrund eigener politischer Ambitionen, persönlicher Verbindungen und/oder bestimmter staatsnaher Geschäftsinteressen für das Forum, 42500 für das Marsfeld, vgl. a.O. 217 f.), während ich mich an Mouritsens Höchstzahlen gehalten habe. 46 Zum Ausnahmefall von 167, bei dem ganz besondere Umstände für eine Überfüllung des Versammlungsplatzes – hier allerdings das Capitol – sorgten (Livius 45, 36, 6), vgl. Jehne 2006, 224 Anm. 26. 47 Vgl. Mouritsen 2001, 20; 24; 28–30; Jehne 2006, 223–225. 48 Scheidel 2006, 213–220.

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eng mit den Senatoren verwoben waren, hatte ein großes Interesse an allem, was auf der politischen Bühne geschah, also auch an den Volksversammlungen, und sie dürften normalerweise vor allem an den Wahlen teilgenommen haben, da dafür die persönlichen Verbindungen, die sie pflegen mussten, besonders intensiv mobilisiert wurden. Bei der breiteren Bevölkerung dagegen ist diese Anteilnahme nicht in gleichem Umfang vorauszusetzen. Zwar waren die einfachen Römer Mitspieler des Clientelsystems und dürften stärkere Verpflichtungen verspürt haben, wenn der Patron sie zur Unterstützung aufrief, aber dies betraf immer nur einen Teil der Bürger und kam daher sicher nur sporadisch vor. Man ist in der Forschung inzwischen mit guten Gründen davon abgekommen, die Motivation der Versammlungsbesucher vordringlich im Clientengehorsam zu sehen49 . Auch ein eigener Interessenhorizont tut sich nicht auf, was nicht ausschließt, dass gelegentlich einmal eine konkrete Abstimmungsmaterie größere Mengen von Römern so bewegte, dass sie sich deshalb zur Versammlung aufmachten50 . Im Normalfall scheinen aber die Abstimmungen in den römischen Volksversammlungen viele Bürger wenig bis gar nicht betroffen zu haben51 . Die Gesetzesmaterie war überwiegend Routine, bei den Wahlen traten verhältnismäßig gleichartige Kandidaten an, um dann für ein Jahr Ämter zu besetzen, in denen keine Weichenstellungen zu erwarten waren52 , und bei Volksprozessen, die ohnehin in der nachsullanischen Republik seltener vorkamen, wurden Angehörige der Führungsschicht wegen Vergehen angeklagt, welche die unmittelbaren Interessen des Volkes meist wenig berührten53 . Von einer allgemeinen Ideo49 Vgl. für eine nüchterne Analyse der Clientelbeziehungen vor allem Brunt 1988, 27–32; 414–424; s. auch Millar 2002a, 137; ders. 2002b, 145 f.; 1998, 7–9; Yakobson 1999, 69–111; 112–123; Mouritsen 2001, 67–79. Die Tatsache, dass die Wahlen in hohem Maße als unberechenbar galten (vgl. etwa Cicero, pro Murena 35 f.; pro Plancio 11; 15; s. auch Yakobson 92 f.; 213–215; Jehne 2009, 510 f.), spricht schon gegen eine von festgefügten Anhängerblöcken dominierte Abstimmung, da deren Stärke dann eigentlich hätte abschätzbar sein müssen. Zudem machte die seit 139 sukzessive eingeführte geheime Abstimmung die Kontrolle, wer wie stimmte, schwierig bis unmöglich. 50 So soll Ti. Gracchus mit seinem Siedlungsgesetz viele Bürger vom Lande nach Rom gezogen haben (Diodor 34/5,6,1; Appian, bellum civile 1,13 [57–59]). 51 So zu Recht Mouritsen 2001, 45. 52 Für diese Sicht der Wahlen vgl. Jehne 2009; dens. 2010. 53 Vgl. die Liste der Prozesse bei Alexander 1990, der immerhin 33 iudicia populi aufführt (vgl. im Index S. 201 s.v. iudicium populi). Bei Verfahren wegen einer versäumten Eidesleistung (Nr. 153: Anklage des C. Iunius 74 v. Chr., möglicherweise aber auch wegen regelwidriger Betätigung als Geschworener) oder wegen

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logie, dass es zu den Bürgerpflichten gehöre, an den Volksversammlungen teilzunehmen, ist ebenfalls nichts zu erkennen. Hinzu kommt, dass die Versammlungen ganze oder halbe Tage in Anspruch nahmen, bei Anreise von außerhalb war noch entsprechend mehr Zeiteinsatz notwendig, und Aufwandsentschädigungen wie in Athen gab es selbstverständlich nicht. Die Analyse der Partizipationsbereitschaft sollte man daher von der anderen Seite her angehen. Die Frage ist nicht, warum so viele Römer von ihrem Partizipationsrecht keinen Gebrauch machten, sondern warum es einige Römer doch taten54 . Warum ging überhaupt ein Römer in die Volksversammlung und vertat dort seine Zeit? Wie so oft in der Alten Geschichte haben wir auch hier keine klaren Aussagen zu diesem Problem in unseren Quellen, von statistisch verwertbarem Material ganz zu schweigen. Wir sind also auf einigermaßen einleuchtende Vermutungen angewiesen, und entsprechend vielfältig sind die Spekulationen, die dazu produziert worden sind. Mein Versuch basiert auf der ebenso schlichten wie fundamentalen Differenzierung zwischen der instrumentellen und der symbolischen Dimension von Ritualen, die ich als im äußeren Ablauf standardisierte, auf Wiederholung angelegte und stark symbolisch aufgeladene Handlungsketten definiere, mit denen die beteiligten Menschen, die aktiv als Handelnde oder passiv als Zuschauende mitwirken, in einen Gruppenzusammenhang integriert werden55 . Geht man von dieser einfachen Definition aus, dann sind die römischen Volksversammlungen unstrittig als Rituale zu klassifizieren. Die instrumentelle Seite von Ritualen wird bei der Analyse oft überbewertet. Da ein Ritual normalerweise zu einem Ergebnis führt und dieses Ziel auch offen und klar als unmittelbarer Zweck der Abhaltung dieses Rituals propagiert wird, ist das Instrumentelle zumeist leicht beschreibbar. Die römischen Tributcomitien in ihrer Funktion als Gesetzescomitien wurden einberufen, um einem Antrag die Geltungskraft eines Gesetzes zu verleihen, das ist problemlos verständliches Vordergrundgeschehen. Verhangener ist die Symbolik ritueller Aktionen, denn dabei handelt es sich um Hintergrundverweise, die sich auf LeitideVerstößen gegen die guten Sitten (z. B. Nr. 371: ein Cn. Sergius Silus soll versucht haben, eine Matrone durch Geld zur Gewährung sexueller Gefälligkeiten zu bewegen, s. Valerius Maximus 6,1,8) können die Bürger keinen unmittelbaren Vorteil für sich erwarten, sondern sie sind als Verteidiger der guten Ordnung gefragt. Es ist bezeichnend, dass sie sich dafür bis zu einem gewissen Grade mobilisieren ließen. 54 Vgl. auch schon Jehne 2006, 227. 55 Vgl. Jehne 2003, 279; dens. 2010, 31 f.

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en und Grundorientierungen der Gesellschaft beziehen, die durch ihren Aufruf im Ritual eingeschärft werden und Vertrautheit und Zusammengehörigkeit erzeugen bzw. reproduzieren56 . Wenn man als Historiker die symbolische Bedeutung eines Rituals für die Teilnehmer abschätzen will, ist es daher von Vorteil, wenn man wahrscheinlich machen kann, dass die instrumentelle Seite nur einen schwachen Anreiz bietet, der in keinem angemessenen Verhältnis zum Aufwand steht. Das scheint mir bei den römischen Volksversammlungen der Fall gewesen zu sein, und folglich kann es eigentlich nur der Gewinn aus den symbolischen Impulsen gewesen sein, der die Besucher zum Ort des Geschehens lockte57 . Mein Erklärungsansatz basiert also auf einer Abschätzung des Erlebnishorizonts der Besucher in den unterschiedlichen Versammlungsformen. Selbst wenn die Bürgerverteilung auf die verschiedenen tribus weit davon entfernt war, eine ungefähre Gleichheit herbeizuführen und damit das Gewicht der Einzelstimmen auszutarieren, ist doch klar, dass die Tribusversammlungen auf die Teilnehmer ganz anders gewirkt haben müssen als die Centuriatcomitien. Mit Blick auf diese Wirkung, die man aufgrund des Reglements postulieren kann, lassen sich die beiden Versammlungsformen als egalitäre bzw. hierarchische Integrationsrituale klassifizieren58 . In den Centuriatcomitien stimmte der einfache Bürger unter seinesgleichen ab. Stundenlang wartete er, bis er vielleicht doch einmal an die Reihe kam, immer wieder hörte er, wie die Reichen und Mächtigen, dann die etwas besser Gestellten abgestimmt hatten, dann lief er mit Männern, die in der Gesellschaft auch nicht mehr darstellten als er, durch den Gang zur Urne59 und gab endlich seine Stimme ab, nachdem sich das Endergebnis schon so weit ausgeprägt hatte, dass er zumeist brav zugestimmt haben dürfte, um 56 57 58 59

Vgl. Jehne 2003, 280. Vgl. Jehne 2003, 285; dens. 2010, 32. Vgl. Jehne 2003, 287; 293. Die Wahlurnen dürften erst mit der geheimen Abstimmung eingeführt worden sein, also nacheinander für die unterschiedlichen Abstimmungsbereiche Wahlen (139 v. Chr.), Gerichtsurteile mit Ausnahme von Hochverrat (137 v. Chr.), Gesetze (131 oder 130 v. Chr.) und Hochverratsprozesse (107 v. Chr.). Die scharfsinnig begründete Auffassung von Vaahtera 1990, 165–172, dass die Stimmabgabe mit Hilfe von Stimmsteinen und Urnen schon sehr früh üblich war und der geheimen Abstimmung weit vorausging, ist letztlich nicht überzeugend, vgl. dagegen Jehne 2011b, 65 f. Zu den Urnen vgl. Crawford 1974, I, no. 266,1 (Av.); 292,1 (Rev.); 413,1 (Rev.); 428,1 u. 2 (Rev.); 473,4 (Av.; in diesem Falle glaubt Crawford 483 allerdings, dass es sich bei dem abgebildeten Gefäß eher um einen Geldbehälter handelt, nicht um eine Abstimmungsurne).

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bei den Siegern dabei zu sein. Er bekam in dem Ritual, das wenigstens einige Stunden dauerte, deutlich vor Augen geführt, wer oben und damit vor ihm stand, doch hatte er ebenfalls noch Leute hinter sich, sodass er auch ein bescheidenes Überlegenheitsgefühl genießen konnte. Klar ist jedenfalls, dass man in den Centuriatcomitien ausgiebig den römischen Kosmos als hierarchische Ordnung erfahren konnte60 . Anders war es in den Tributcomitien. Hier stand man bei seiner tribus mit allem zusammen, was die römische Gesellschaft zu bieten hatte, von Kleinbauern und Handwerkern bis zu Rittern und Senatoren, aber auch Bettlern und Tagelöhnern. Da im öffentlichen Umgang mit dem einfachen Volk alle Politiker dem Jovialitätsgestus verpflichtet waren61 , konnten es sich die Senatoren nicht leisten, einfache Bürger zu ignorieren oder hochnäsig zu behandeln. Während man also wartete, bis man langsam zum Ort der Stimmabgabe vorrückte, konnte man auch einmal mit einem großen Senator ein paar Worte wechseln, der einem dann garantiert erklärte, wie man jetzt zum Wohle der res publica abzustimmen hatte. Gerne dürfte der kleine Mann dem erfahrenen Ratgeber gefolgt sein. Jedenfalls liegt es nahe, dass hier einfache Bürger, welche die Nähe von Senatoren genossen und mit ihnen kommunizierten, die Bürgergleichheit konkret empfanden62 . Aufgrund ihrer Gleichheitsimpulse hat Fergus Millar die Tributcomitien zum wahren Kern der römischen Bürgergemeinschaft und ihrer Partizipationsstrukturen erklärt und die Centuriatcomitien demgegenüber zurückgesetzt63 . Diese Bewertung ist von seiner Grundüberzeugung aus, dass die römische Republik als Demokratie zu klassifizieren sei, nachvollziehbar, doch wenn man bedenkt, dass in den Centuriatcomitien sowohl über die Besetzung der höchsten Ämter entschieden wurde, als auch des Öfteren über Krieg und Frieden64 , und dass wir darüber hinaus hören, 60 61 62 63

Vgl. Jehne 2003, 282–286. Vgl. Jehne 2000a, 214–217. Vgl. Jehne 2003, 286 f. Millar 1998, 209: … it is a far more significant fact [sc. als die hierarchische ” Struktur der Centuriatcomitien] that in the other group voting structure, the comitia tributa, no form of social stratification applied, and each citizen’s vote counted equally“ . 64 Paananen 1990; ders. 1993 ist der Meinung, dass Kriegsentscheidungen auch in den Tributcomitien getroffen werden konnten, doch Sandberg 1993, 82–88; ders. 2001, 123–131 plädiert für eine klarere Trennung von Aufgabenbereichen, sodass seiner Auffassung nach die Centuriatcomitien generell für alle externen Angelegenheiten, das concilium plebis für alle internen zuständig waren.

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dass bei den Wahlen zu den hohen Ämtern die meisten Leute erschienen65 , dann kann man diese Versammlungen nicht gegenüber den Tributcomitien als zweitrangig einstufen. Entscheidend ist vielmehr, dass beide Formen aktive und regelmäßige, zudem in ihrer Legitimität nicht angezweifelte Rituale zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen waren, an denen jeder Bürger partizipieren konnte. Dass sie jahrhundertelang nebeneinander bestanden, lässt sich am besten so erklären, dass sie erst gemeinsam die Intensität der Bürgeridentität zu steigern vermochten, indem sie unterschiedliche, aber sich insgesamt verstärkende Integrationsimpulse aussandten. Der römische Bürger konnte in den Volksversammlungen einerseits den identitätsstiftenden Zauber der Gleichheit erfahren und andererseits die ehrgeizentfachende Abstufung, die den eigenen Platz in der Hierarchie sichtbar und den eigenen Erfolg darstellbar machte, und diese Erlebnishorizonte übten eine gewisse Anziehungskraft aus66 . Wenn wir akzeptieren, dass es im Normalfalle eher die symbolischen Gewinne waren, die den Reiz des Volksversammlungsbesuches ausmachten, dann ergibt sich als nächstes die Frage, wen denn dieser Reiz eigentlich motivierte und wen nicht, oder klarer formuliert: Was waren das denn für Leute, welche die Versammlungen besuchten? Die Diskussionen über diese Kernfrage haben sich in der letzten Zeit vor allem auf die contiones konzentriert, also die ungegliederten Informations- und Diskussionsversammlungen. Da contiones jedenfalls in der nachsullanischen Republik in dichter Frequenz und ohne längere Vorankündigung stattfanden und gar kein zählbares Ergebnis in Form einer Entscheidung durch Abstimmung hervorbrachten, stellt sich hier die Frage, wer sich denn für so etwas hergab, in besonderer Dringlichkeit. Henrik Mouritsen hat alle Argumente gründlich abgewogen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass in den contiones, die nur von amtierenden Magistraten einberufen werden konnten, letztlich bessergestellte Männer aus der leisure class dominierten, die es sich leisten konnten, ihre Tage mit unbezahlter politischer Partizipation zu verbringen, und denen es ein Bedürfnis war, den Reden ihrer Patrone durch Anwesenheit und Zustimmungsbekundungen Resonanz und Rückenwind zu 65 S. etwa Cicero, in Verrem 1,54: … cum haec frequentia totius Italiae Roma discesserit, quae convenit uno tempore undique comitiorum ludorum censendique causa; zur Beteiligung der Landbevölkerung Cicero, pro Plancio 21 f.; pro Murena 42; Q. Cicero, commentariolum petitionis 50; Festus p. 290 Lindsay s.v. Praerogativa centuria. Vgl. Staveley 1972, 173; Meier 2 1980, 192–194. 66 In diesen Abschnitten habe ich weitgehend die Ergebnisse früherer Forschungen zusammengefasst, vgl. vor allem Jehne 2003.

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verschaffen. Diese Versammlungen seien also zumeist keine Diskussionsforen, sondern Parteiversammlungen gewesen67 . Diese radikale Neubewertung dessen, wer eigentlich in Rom an der alltäglichen Politik partizipierte, hat mich nicht ganz überzeugt68 . Dass jeder Magistrat seine eigene corona von Anhängern bereitstehen hatte, die dann in einer kurzfristig anberaumten contio das Publikum nach Zahl und Engagement dominierten, ist einfach zu wenig mit den erhaltenen Volksreden zu vereinbaren, etwa mit der Charakteristik der Anwesenden als imperiti, als Unerfahrene und ein bisschen naive Zuhörerschaft, die der Anleitung durch erfahrene Politiker bedürfe69 . Zudem ist dann nicht so recht zu sehen, wieso die Kandidaten im Wahlkampf auf das Forum zogen und dort die Hände schüttelten70 , wenn sie im Wesentlichen nur die eigenen verschworenen Anhänger und die schon festgelegten Anhänger der Gegner antrafen. Es spricht meiner Meinung nach mehr dafür, dass es das gab, was Christian Meier die plebs contionalis genannt hat71 , also eine Kerngruppe von Männern, die in der Forumsregion lebten und arbeiteten und es sich zu einem Lebensinhalt gemacht hatten, oft – allerdings nicht immer – die Partizipationsangebote in contiones oder auch in Comitien wahrzunehmen. Mouritsens Hauptargument gegen eine solche Gruppe von einfachen Plebeiern, diese hätten für solchen Firlefanz keine Zeit gehabt, da sie völlig damit beschäftigt gewesen seien, für sich und ihre Familien mühselig den Lebensunterhalt zusammenzukratzen72 , basiert auf einer Übertragung des modernen Arbeitsethos in die Antike. Es ist eine Illusion zu glauben, dass in Rom, überhaupt in der Vormoderne, arme Leute wie die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts ständig von morgens bis abends arbeiteten oder wenigstens Arbeit suchten. Zudem ist abzulehnen, dass gerade die kleinen Ladenbesitzer und Schankwirte, an die Meier gedacht hat, nichts verdienten, wenn sie auf dem Forum an Volksversammlungen teilnahmen. Wofür hat man denn Familie? Auch in manchen Kulturen der Gegenwart sind die oft und gerne in den Kaffeehäusern sitzenden Männer nicht alle vermögend, doch solange Frauen und Kinder die Arbeit tun, ist manches möglich. 67 68 69 70

Mouritsen 2001, 48–53. Vgl. Jehne 2006, 229–232. Vgl. Cicero, de amicitia 95. S. auch Jehne 2011a, 115. Zur regelmäßigen Präsenz der Kandidaten auf dem Forum vgl. etwa Taylor 2 1968, 66 f.; Jehne 1995, 58–60; Yakobson 1999, 213–225. 71 Meier 1965, 614; ders. 2 1980, 114. 72 Mouritsen 2001, 40; 42 f.

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Daher halte ich daran fest, dass es eine Gruppe von Römern gegeben hat, die viele Versammlungen besuchte. Die Attraktivität dieser intensiven politischen Partizipation bestand erneut vor allem in dem symbolischen Gewinn, doch nicht ausschließlich. In den contiones präsentierten die Magistrate Gesetzesvorhaben oder diskutierten außenpolitische Fragen, und die Reaktionen des Publikums hatten durchaus Einfluss dahingehend, dass man einen Vorschlag, der ausgebuht wurde, fallen ließ73 . Das Engagement der Bürger war also nicht folgenlos, und gerade bei Gesetzesvorhaben war die Einwirkung auf das Ergebnis wohl in den vorbereitenden Versammlungen, den contiones, höher als in der eigentlichen Abstimmung, da das Volk den Anträgen fast immer zustimmte74 . Darüber hinaus aber wurden die Zuhörer in den contiones von den vornehmen Sprechern ernst genommen. Die rhetorischen Regeln der Volksrede verlangten von den Rednern, dem Volk, verkörpert in den Anwesenden, zu sagen, wie wichtig es sei, und sich vor seinem Letztentscheidungsrecht verbal zu verbeugen75 . Die Angehörigen der plebs contionalis hatten also das regelmäßige Erlebnis, dass ihnen die vornehmen Senatoren größte Bedeutung bestätigten. Letztlich war das eine Statuszuweisung, die wahrscheinlich deshalb besonders gerne entgegengenommen wurde, weil der soziale Status der Empfänger außerhalb der Versammlungen so gering war.

IV. Partizipationsfolgen Es spricht demnach einiges dafür, dass an allen Typen von Volksversammlungen neben den Angehörigen der Oberschichten auch Männer aus den Unterschichten teilnahmen, auch wenn wir davon ausgehen können, dass der Mobilisierungsgrad bei den Unterschichten in Relation zur Gesamtzahl verschwindend gering, bei den Oberschichten dagegen deutlich höher war. Insgesamt war aber die Beteiligung bescheiden, selbst bei den Wahlen dürfte sie in der nachsullanischen Republik kaum 1 % der Gesamtbürgerzahl erreicht haben. Gleichzeitig verdeutlichen die komplexen Reglements der Versammlungen und die Häufigkeit, mit der sie einbe73 Zum Rückzug, aber auch zur Modifikation von rogationes (ausformulierten Gesetzesvorschlägen) in Reaktion auf Kritik von Gegenrednern oder auf Missmutsbekundungen des Publikums vgl. vor allem die gründliche Untersuchung von Moreau 2005. 74 Vgl. Flaig 1995, 92–96; dens. 2003, 193–199. 75 Vgl. Cicero, de lege agraria 2,16; 62.

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rufen wurden, ganz unmissverständlich den enormen Aufwand, den diese Form der politischen Partizipation erforderte. Welche Absichten standen dahinter, welche Folgen hatte das, und warum störte die lächerlich kleine Mobilisierungsquote offenbar niemanden? Was die Intentionen angeht, so darf man natürlich nicht annehmen, eine wohlinformierte Gruppe von governance-Spezialisten hätte in Abwägung verschiedener Alternativen diese Organisationsformen mit klaren Vorstellungen über ihre Wirkungen eingeführt. Eine gewisse Verstärkung der Handlungsabsichten führender Männer durch die Akklamation von Gefolgsleuten scheint schon in den Curien der Frühzeit angezeigt gewesen zu sein76 , und Karl-Joachim Hölkeskamp hat überzeugend dargelegt, dass eine Oligarchie, wie sie in der römischen Republik bestand, ihre zentralen Beschlüsse nicht ohne erhebliche Konflikteskalation intern fassen kann; besser ist es, die Entscheidungskosten durch Externalisierung erträglich zu halten, und da hatten die Volksversammlungen ihre Funktion77 . Zudem ist immer wieder an den Militärdienst zu denken, die gemeinsinnige Leistung des kleinen Mannes, ohne die die Selbstbehauptung Roms in der Frühzeit und die massive Expansion undenkbar gewesen wäre. Die interne Partizipationsmöglichkeit der Bürger, die den Krieg beschlossen und die Kommandeure wählten, korrespondiert mit der enormen militärischen Mobilisierungsquote, die vielleicht erst von den Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg wieder erreicht wurde78 . Die Folge der Partizipationseinrichtungen war ein hoher Grad an Öffentlichkeit von Politik. Jeder konnte im Prinzip erfahren, was in Rom diskutiert wurde, und sich als Bürger an der Herstellung verbindlicher Entscheidungen beteiligen. Die Wirkung der eigenen Partizipation war in ihrer instrumentellen Dimension meist übersichtlich, kaum einmal vermochten es die Volksversammlungen, eine von stärkeren Gruppierungen der Führungsschicht unterstützte Entscheidungsempfehlung umzustürzen. Um aber regelmäßig mitmachen zu können, war eine hohe Präsenz im Zentrum der Stadt Rom erforderlich. Wie schon dargelegt, war das bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. hinein wohl noch von einem relevanten Anteil der Römer zu leisten. Erst mit den enormen Ausweitungen des Bürgerterritoriums wurde der Prozentsatz der im politischen Rom tätigen Bürger lächerlich gering. Das hat die Aktivität der Versammlungen nicht vermindert 76 Vgl. dazu Jehne 2013, 130–133. 77 Vgl. Hölkeskamp 2010, 98–101, der sich auf die Soziologie von Simmel 1992 stützt. 78 So Rosenstein 2004, 107.

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und auch nicht zu Überlegungen Anlass gegeben, wie man mehr Bürger partizipieren lassen konnte. Dahinter steht zweifellos ein gewisses Interesse der herrschenden Kreise, sich nicht durch Unübersichtlichkeit von Volksversammlungen das politische Geschäft erschweren zu lassen. Aber der wesentliche Grund liegt wohl darin, dass es tatsächlich schwierig war für die Römer, die in Relation zur Gesamtbürgerzahl geringe Beteiligungsquote überhaupt als ein Problem wahrzunehmen. Das hängt zusammen mit dem konsensualistischen Überwurf über den Partizipationseinrichtungen.

V. Partizipationsformen und Konsenssuggestion Das Prinzip der Verstärkung der Konsenssuggestion in den römischen Volksversammlungen ist in vier Eigenheiten zu fassen: (1) in der Vorstimmkörperschaft und der Verkündung von Teilergebnissen vor Ende der Abstimmung – was es allerdings nur in den Centuriatcomitien gab; (2) in den Formen der Ergebnisbekanntgabe; (3) in dem Abbruch der Versammlung, sobald eine einfache Mehrheit erreicht und verkündet war; (4) und generell in der Abstimmung in Stimmkörperschaften. (1) In den Centuriatcomitien, jedenfalls wenn sie als Wahlversammlung zusammentraten, wurde wahrscheinlich im Rahmen einer noch weitergehenden Reform zwischen 241 und 218 v. Chr.79 eine neue Einrichtung installiert: die centuria praerogativa. Aus der ersten Vermögensklasse, deren Centurienanzahl mit der Reform von 80 auf 70 verringert wurde und die jetzt als erste Gruppe noch vor den Rittercenturien abstimmte80 , 79 Vgl. zu dieser Reform der Centuriatcomitien Grieve 1985 (mit älterer Literatur). 80 Die Verringerung der Centurien überliefert Livius 1,43,11 f., aber ohne klaren zeitlichen Bezug. Nach Cicero, Philippica 2,82 (s. u. Anm. 96) sieht es so aus, als hätte zunächst die erste Klasse abgestimmt, danach für sich die sex suffragia (die sechs alten Rittercenturien der Patricier), woraus abgeleitet wird, dass die restlichen 12 Rittercenturien mit der ersten Klasse eine Gruppe bildeten, zumal auch Livius 43,16,14 darauf hindeutet. Das bedeutet nicht, dass die Rittercenturien und die erste Klasse gleichzeitig abstimmten, denn das ließ wohl schon der Abstimmungsraum auf dem Marsfeld nicht zu (s. u. Anm. 82). Vielmehr wurden die Ergebnisse gemeinsam verkündet, bevor die sex suffragia an die Reihe kamen. Vgl. Mommsen 3 1887/8, III 1, 292 mit Anm. 2; Taylor 1966, 97; Meier 1956, 570; 574 f.; ders. 2 1980, 311 f.; Staveley 1972, 169; Rilinger 1978, 122; Flaig 2003, 169 f.; Mouritsen 2011b, 233 Anm.12; 234 f. Anm. 19. Richard 1980 vertritt die Auffassung, dass alle Rittercenturien gemeinsam mit der ersten Klasse abstimmten, doch hat mich seine Entkräftung der oben genannten Zeugnisse nicht

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wurde eine Centurie ausgelost, die gesondert vor allen anderen ihr Votum abgab81 . Die Stimmen wurden ausgezählt, das Ergebnis verkündet, und erst dann stimmten die übrigen Centurien der ersten Klasse ab und danach weitere Einheiten82 . Wie schon unsere Quellen betonen, hatte die centuria praerogativa einen starken Einfluss auf das Ergebnis83 , und man kann davon ausgehen, dass dieser Effekt auch das Ziel der Reform war84 . Ob die Auswahl unter den Bewerbern, die die centuria praerogativa traf, den Charakter eines religiösen omen hatte, wie es gelegentlich in den Quel-

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überzeugt. Grieve 1987, 313–316 argumentiert, dass die sex suffragia nach der Reform der Centuriatcomitien zunächst genauso wie die anderen Rittercenturien vor der ersten Klasse abstimmten und erst nach dem plebiscitum reddendorum equorum (vielleicht von 129) hinter die erste Klasse versetzt wurden, was nicht auszuschließen ist. Zuerst bezeugt für das Jahr 215 (Livius 24,7,12), aber es wird zu Recht angenommen, dass diese neue Einrichtung Teil der großen Reform war, in der die erste Klasse von 80 auf 70 Centurien reduziert wurde (s. o. Anm. 80), die an die Tribus gekoppelt wurden in der Weise, dass aus den Bürgern jeder Tribus mit dem entsprechenden Vermögensstand eine Centurie von iuniores (bis 45 Jahre) und eine von seniores (ab 46 Jahre) gebildet wurde. Nur dreimal erfahren wir, welche Centurie als praerogativa ausgelost wurde (215: Livius 24,7,12; 8,20; 211: Livius 26,22,2; 7; 210: Livius 27,6,3), und dreimal ist es eine centuria iuniorum. Das hat zu der Vermutung geführt, die praerogativa sei stets nur aus den Centurien der iuniores ausgelost worden (vgl. z. B. Nicolet 2 1979, 354), doch ist der Befund natürlich statistisch nicht sehr eindrucksvoll. Dass man in einer auf den Respekt vor dem Alter fixierten Gesellschaft die seniores zurücksetzte, ist nicht sehr wahrscheinlich, vgl. auch Ryan 1995; Jehne 2000b, 664 Anm. 15; Mouritsen 2011b, 234 f. Anm. 19. Offenbar stimmten die Centurien der 1. Klasse in zwei Gruppen hintereinander ab, denn die Saepta, der von Caesar geplante und dann von Agrippa vollendete Bau für die Abstimmung auf dem Marsfeld, scheinen nur 35 voneinander abgetrennte Bahnen nebeneinander gehabt zu haben, sodass auch höchstens 35 Stimmkörperschaften gleichzeitig abstimmen konnten. Vgl. dazu Taylor 1966, 47–52; 94–97; Grieve 1985, 307 f. Ryan 2003 diskutiert, ob es eine feste Reihenfolge der beiden Gruppen gab, und plädiert mit einem zeitökonomischen Argument für die regelmäßige Priorität der iuniores seit der Einführung der geheimen Abstimmung, doch bleibt das unsicher. Cicero, pro Plancio 49; pro Murena 38; ad Quintum fratrem 2,15,4; in Verrem 1,26; cf. Ps.-Asconius p. 214 Stangl; Scholia Gronoviana p. 350 Stangl; Livius 24,7,12–9,3; 26,22,2 f.; 27,6,3; s. auch Meier 1956, 593–595; Mouritsen 2011b, 226. Vgl. Meier 1965, 584 f.; dens. 2 1980, 311; Mouritsen 2011b, 226.

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len anklingt85 , ist umstritten86 . Unlängst hat Henrik Mouritsen wieder für diese religiöse Qualität argumentiert, die sich aus der Auslosung herleite, die als göttlich inspirierte Entscheidung gewertet worden sei87 . Doch selbst wenn das Abstimmungsergebnis der centuria praerogativa eine religiöse Aura genossen haben sollte, die es den späteren Wählern nahelegte, sich dem anzuschließen, ist doch klar, dass sich die nachfolgenden Einheiten und die in ihnen stimmenden Bürger nicht immer und zwangsläufig an das Votum der Vorstimmkörperschaft hielten88 . Da wir annehmen können, dass die Wähler besonders dann von der Vorgabe abwichen, wenn sie selbst Kandidaten unterstützten, die nicht die Empfehlung durch die praerogativa erhalten hatten, kann man von der Regel ausgehen, dass die praerogativa desto besser wirken konnte, je schwächer die Präferenzen der nachfolgenden Bürger waren89 . Letztlich sollte die Stimmenzersplitterung bei den Personalentscheidungen reduziert und durch die Vorgabe eine Möglichkeit geschaffen werden, sich bereitwillig an einer Konsensmanifestation zu beteiligen, indem man dem Votum der Vorstimmkörperschaft folgte. Henrik Mouritsen sieht die systematische Funktion der centuria praerogativa in der Einführung eines Zufallselements in die wichtigsten Auswahlentscheidungen, um von der Steigerung der – gegen den Zufall ja machtlosen – Wahlkampfaktivitäten abzuhalten und so die inneraristokratischen Kämpfe einzudämmen90 . Ob das wirklich gelang, ist schwer zu 85 Cicero, pro Murena 38; de divinatione 1,103; 2,83. 86 Dafür plädieren z. B. Meier 1956, 595–597; Taylor 1966, 73 f.; 91; 111; dies. 2 1968, 56; Staveley 1972, 155; Nicolet 2 1979, 356. Dagegen etwa Rosenstein 1995, 58–62; Jehne 2000b, 666–668. 87 Mouritsen 2011b, 228–230; so auch schon Meier 1956, 587; 596. Gegen die religiöse Aufladung der Auslosung im politischen Kontext vgl. vor allem Rosenstein 1995. 88 Vgl. nur Cicero, pro Plancio 49 (s. u. Anm. 93). 89 Zu den schwachen Präferenzen des Volkes vgl. Flaig 2003, 173 f.; 178; s. auch Jehne 2000b, 673–676; ders. 2009, 499–501; 503–505. 90 So Mouritsen 2011b, 226 f. Allerdings war gerade die Verknüpfung der Centurien wenigstens der ersten Klasse mit den Tribus keine gute Idee, wenn man den Wahlkampf beschränken wollte, denn da die Tribus eine territoriale Basis hatten, konnte man nun gezielt in bestimmten Regionen und bei bestimmten Personen werben. – Mouritsens parallele Darlegungen der völlig unübersichtlichen Kombinationen von Wahl- und Loselementen bei der Dogenwahl in Venedig, die tatsächlich dazu führen mussten, dass die Entscheidung sowohl unberechenbar als auch durch Wahlwerbung und Bestechung unbeeinflussbar war, sind faszinierend, liefern aber aufgrund einer grundlegenden, strukturellen Differenz nur begrenzt Vergleichsmaterial für die römische praerogativa: das Wahlergebnis war in Venedig

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sagen. Mouritsen glaubt, dass ursprünglich vorgesehen war, dass die Wähler die beiden Kandidaten, die in der centuria praerogativa siegreich gewesen waren, zu wählen hatten, dass dann aber bald nur noch der zuerst Gewählte tatsächlich von den nachfolgenden Centurien bestätigt zu werden pflegte und dass sich dann auch noch diese Bindung lockerte91 . Allerdings ist die These, man habe von der Vorstimmkörperschaft ursprünglich die Wirkung erwartet, dass ihre Favoriten regelmäßig beide gewählt wurden, im Wesentlichen ein Konstrukt aus strukturellen Erwägungen heraus. Denn Mouritsen kann dafür an Zeugnissen nur die Berichte des Livius über die Consulwahlen von 215 und 211 ins Feld führen92 . 215 unterbrach der Wahlleiter Q. Fabius Maximus die Abstimmung nach dem Votum der praerogativa und erklärte dem Volk, die dort gewählten Kandidaten seien in einer so existenzbedrohenden Kriegslage, wie sie der Krieg gegen Hannibal bedeute, ungeeignet und müssten durch erfahrene Kommandeure ersetzt werden. 211 erklärte sich der eine der beiden Gewählten, T. Manlius Torquatus, aufgrund seines schweren Augenleidens für unfähig, das Amt in diesen schweren Zeiten zu übernehmen, und nach einigem Widerstand beriet sich die praerogativa mit den seniores ihrer Tribus und produzierte zwei andere Kandidaten, die über die wünschenswerte militärische Erfahrung verfügten, die dann auch gewählt wurden. Doch gegen Mouritsens Deutung, dass diese Episoden die Verpflichtungskraft der praerogativa bezeugen, ist einzuwenden, dass die Erzählungen über diese Vorfälle eben darauf basieren, dass die beiden Gewinner bei der praerogativa nach Auffassung des Wahlleiters bzw. der erfahrenen Bürger in der militärischen Notsituation nicht in Frage kamen. Selbst wenn Ciceros Variante, dass normalerweise nur einer der von der praerogativa Gewählten tatsächlich am Ende zu gewinnen pflegte93 , nicht erst – wie Mouritsen glaubt – eine von erheblich größerer Bedeutung für die Wähler und für das Gemeinwesen. In Rom wählte man in den Centuriatcomitien zwei Consuln für ein Jahr, also kollegiale Amtsträger für einen sehr überschaubaren Zeitraum, in Venedig dagegen einen mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestatteten Herrscher auf Lebenszeit. Vgl. jetzt allgemein zur Geschichte und strukturellen Bedeutung von Losverfahren im politischen Bereich Buchstein (2009). 91 Mouritsen 2011b, 231. 92 215: Livius 24,7,12–9,3; 211: Livius 26,22,2–15. 93 Cicero, pro Plancio 49: una centuria praerogativa tantum habet auctoritatis ut nemo umquam prior eam tulerit quin renuntiatus sit aut eis ipsis comitiis consul aut certe in um annum. Überliefert ist illum statt alium, aber schon Mommsen 3 1887/8, III 1, 398 Anm.1 hat vermutet, dass es alium heißen müsse, was Mouritsen 2011, 231 m. Anm. 38 f. (236 f.) jetzt bekräftigt hat. Sprachlich ist das in der Tat viel

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spätere Entwicklung spiegelte, sondern schon die ursprüngliche Wirkung beschrieb, hätte man bei zwei ,falschen‘ Kandidaten doch ein neues Votum für beide gebraucht, wenn man nicht wenigstens einen davon in Kauf nehmen wollte. Insgesamt scheint mir wahrscheinlicher zu sein, dass entschlossene Unterstützer von Kandidaten nie durch die centuria praerogativa davon abgehalten wurden, ihre Idole zu wählen, dass aber die im großen Ganzen geringe Festlegung vieler Wähler dazu führte, dass man bereitwillig dem Votum der Vorstimmkörperschaft folgte94 . Interessanterweise scheint der immer mehr eskalierende Wahlkampf, den man gerne beschränkt hätte, daran nicht viel geändert zu haben, da sich die Anstrengungen der Bewerber oft gegenseitig neutralisiert haben dürften95 . Die berühmten Eskapaden der Wahlleiter von 215 und 211, die Mouritsen als Unterstützung seiner Theorie interpretiert, fallen dagegen völlig aus einer Normalsituation heraus. Wenn doch die praerogativa die Vorgabe machen sollte für die nachfolgenden Centurien, dann konnte das nur funktionieren, wenn die Wähler zumeist nicht stark engagiert waren, aber die unabwendbare Nebenwirkung dieser Rahmenbedingung war es, dass das Ergebnis bis zu einem gewissen Grade zufällig war. Tatsächlich kam ja etwas heraus, was den Wahlleitern nicht gefiel, und dann griffen sie ein. Mit dieser ganz außergewöhnlichen Maßnahme verbanden sie ein Notstandsargument: Da der 2. Punische Krieg eine so schwere Lage für Rom sei, benötige man ausgezeichnete Kommandeure, und dazu seien die Gewählten nicht zu zählen. Das ist ein eigentlich systemwidriges Argument, denn die Aufgabe der praerogativa war es ja – nach Mouritsen –, durch göttliche Autorisierung das zu präformieren, was zum besten des römischen Gemeinwesens sei, ohne dass der Wähler sich damit beschäftigen sollte, ob das eine einleuchtende oder eher merkwürdige Auswahl war. Jetzt kamen die Wahlleiter mit Eignungsbehauptungen daher, die sich auf Vorleistungen bzw. deren Fehlen berief, d. h. man verließ das Feld der Lotterie und begab sich auf besser, sachlich vielleicht auch. Ebenfalls nicht ganz klar ist die Bedeutung von prior. Meier 1956, 593; 595 hatte erklärt, damit müsse der als erster von der centuria praerogativa Gewählte gemeint sein, also bei Consulwahlen nur der Spitzenreiter, nicht der ebenfalls gewählte Zweite (akzeptiert z. B. von Jehne 2000b, 665 Anm. 19; Mouritsen 2011b, 236 Anm. 38). 94 Vgl. auch Jehne 2000b, 668–676; dens. 2009, 501–505; dens. 2010, 24–28. 95 In der ciceronischen Ära galt der Ausgang der Wahlen als in beachtlichem Maße unvorhersehbar, s. o. Anm. 49. Zu den Schwierigkeiten der Bewerber, sich im Wahlkampf gegenüber der Konkurrenz hervorzutun, vgl. etwa Jehne 1995, 58–64; dens. 2009, 505–508; dens. 2010, 28 f.

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das der Leistungsmessung. In diesem Modus der Selektion war eigentlich gar kein Platz mehr für die praerogativa, denn diese besaß keinerlei herausgehobene Befähigung zur Leistungsbeurteilung, umso verwunderlicher ist es, dass sich die Wahlleiter nicht schon vor der Abstimmung an das Volk wandten. Jedenfalls ließen sich die Angehörigen der praerogativae ebenso wie das Volk von der Angemessenheit dieser Argumentation überzeugen und unterstützten die Wahlleiter, doch blieb das Verfahren auf den Notstand des 2. Punischen Krieges beschränkt und wurde danach nicht wieder aufgegriffen. Die Wirkung der praerogativa war zweifellos ein besonderes Element in den Centuriatcomitien, aber das Prinzip der Veröffentlichung von Zwischenresultaten setzte sich fort. Auch nach der Abstimmung der ersten Klasse und vielleicht auch der 12 Rittercenturien wurde erst einmal das Resultat Centurie für Centurie bekanntgegeben, bevor die nächste Gruppe zur Abstimmung schritt, dann folgten die sex suffragia, deren Abstimmungsergebnis ebenfalls erst verkündet wurde, bevor dann die zweite Klasse an die Reihe kam, usw.96 Man kann davon ausgehen, dass in einem Gesamtklima schwacher Präferenzen der Wähler die Publikation von Teilergebnissen zur Vereinheitlichung der weiteren Voten beitrug. (2) Bedeutsam war auch die Art, wie man die Ergebnisse bekannt gab. Nach Auszählung der Stimmen einer Stimmkörperschaft wurde wohl nur verkündet, ob diese Stimmkörperschaft mit ja“ oder mit nein“ gestimmt ” ” hatte bzw. welche Kandidaten sie in welcher Reihenfolge gewählt hatte, aber es wurde offenbar nicht veröffentlicht, wie viele Stimmen dafür und dagegen abgegeben worden waren und wie viele Stimmen die Kandidaten erhalten hatten, die es in dieser Stimmkörperschaft nicht geschafft hatten97 . Nach dem kaiserzeitlichen Stadtgesetz von Malaca scheint die Formel prior ceteris gewesen zu sein, mit der der Wahlleiter denjenigen als von der Stimmkörperschaft gewählt ausrief, der die meisten Stimmen erhalten hat-

96 Cicero, Philippica 2,82: Ecce Dolabellae comitiorum dies. sortitio praerogativae; quiescit. renuntiatur; tacet. prima classis vocatur, renuntiatur. deinde, ita ut assolet, suffragia; tum secunda classis. … In der OCT-Ausgabe von Clark 2 1918 fehlt das zweite renuntia” tur“ , laut Apparat eine Tilgung von Madvig, die aber offenkundig nur auf dessen Bild von der Abstimmungs- und Verkündigungsfolge in den Centuriatcomitien basiert. In der neueren Ausgabe von Ramsey 2003, 68 steht zu Recht der oben zitierte, überlieferte Text (verteidigt schon von Taylor 1966, 153 Anm. 28; s. auch den Kommentar von Ramsey 281). 97 Das ist die naheliegende Interpretation der lex Malacitana, Kap. 56 f. (Spitzl 1984, 16–19, vgl. seinen Kommentar 49–57).

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te98 , und den nächsten könnte man dann mit prior ceteris praeter Titium o.ä. verkündet haben, usw. Dass es sich um ein Gesetz für eine spanische Stadt aus flavischer Zeit handelt und nicht um das republikanische Rom, ist kein wirkliches Problem, denn in den spanischen Stadtgesetzen ist auf Schritt und Tritt zu greifen, dass man sich bemühte, die institutionelle Struktur eng an den römisch-italischen Verhältnissen zu orientieren99 . Es gibt meines Wissens nur eine Episode, die zunächst auf eine öffentliche Bekanntgabe von Einzelergebnissen zu deuten scheint. Bei den Consulwahlen von 180 v. Chr. formulierte der Ausrufer seine Aufforderung gegenüber dem Scipio Maluginensis, der für seine Centurie den Acidinus als Consul verkünden sollte, auf folgende Weise: dic de L. Manlio – sprich über L. Manlius (Acidinus). Daraufhin antwortete Scipio Maluginensis: Ich halte ihn für einen ehrenwerten Mann und hervorragenden Bürger100 . Daraus hat man des Öfteren auf eine Einzelabfrage nach Kandidaten und eine offizielle Mitteilung der genauen Stimmenzahl geschlossen101 . Doch wird das dem Kontext der Geschichte und auch dem Wortlaut nicht gerecht. Die einzige Quelle ist Ciceros Schrift über den Redner, in der Caesar Strabo als dramatis persona über Schlagfertigkeit und Witz in der öffentlichen Rede referiert und unter seinen Beispielen für die Gruppe an Scherzen, die darauf basieren, dass man eine Äußerung nicht ihrem Sinn nach, sondern wörtlich versteht, die oben paraphrasierte Episode wiedergibt. Die Antwort des Scipio Maluginensis ist offenkundig nicht das, was der Ausrufer – und der Wahlleiter, dem der praeco zuarbeitet – erwartet, aber der Witz liegt darin, dass Scipio durchaus auf die Aufforderung antwortet. Die Frage ist nun, ob die Formulierung der Aufforderung ungewöhnlich war oder nicht. Meiner Meinung nach spricht vieles dafür, dass sie ungewöhnlich war. So ist die Antwort Scipios eigentlich nur schlagfertig, wenn 98 Lex Malacitana, Kap. 56 Z. 28–33: Is qui ea comitia habebit, uti quisque curiae / cuius plura quam alii suffragia habue/rit, ita priorem ceteris eum pro ea curia / factum creatumque esse renuntiato, / donec is numerus, ad quem creari oport/ebit, expletus sit. 99 Bezeichnend ist, dass man in den Gemeinden in Spanien, denen Vespasian das latinische Stadtrecht verliehen hatte, erst einmal Curien schuf, um dann Volksversammlungen mit Stimmkörperschaften zu bilden (vgl. lex Irnitana Kap. 50; dazu Lebek 1995). Das zeigt deutlich, welchen Aufwand man trieb, um in den latinischen Städten des Imperiums dieselben Regularien wie in Rom zu erzeugen. 100 Cicero, de oratore 2,260: Ex eodem hoc vetus illud est, quod aiunt Maluginensem illum Scipionem, cum ex centuria sua renuntiaret Acidinum consulem praecoque dixisset dic de ” L. Manlio“ : virum bonum“ inquit egregiumque civem esse arbitror“ . ” ” 101 Vgl. etwa Mommsen 3 1887/8, III 1, 409; Taylor 1966, 154 Anm. 31; Staveley 1972, 177 f.

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er spontan auf eine Abweichung von der Routine reagierte, nicht aber, wenn er nur eine übliche Formulierung aus den Kontexteingrenzungen herauslöste. Zudem war Scipio Maluginensis ein (patricischer) Senator102 , dürfte also in einer Centurie der sex suffragia abgestimmt haben103 . Wenn er hier für seine eigene Centurie sprach104 , waren vorher schon 70 Centurien der ersten Klasse und wohl 12 Rittercenturien an der Reihe gewesen, und die Ergebnisse waren verkündet worden. Wenn Acidinus die meisten oder gar alle dieser Centurien gewonnen hatte, dann konnte der praeco durchaus in verkürzter Form seine Aufforderung an Scipio auf Acidinus personalisieren – was Scipio zum Anlass nahm, diese Abweichung von einer unpersönlichen Formulierungsweise wörtlich zu nehmen. Die normale Frage könnte dagegen gewesen sein: dic de suffragiis ollae centuriae, die normale Antwort: L. Manlius prior ceteris, Q. Fulvius prior ceteris praeter Manlium o.ä.105 Dass die genauen Ergebnisse der Abstimmung in den Stimmkörperschaften nicht offiziell verkündet wurden, heißt nicht, dass darüber nichts bekannt werden konnte. Schließlich standen Vertrauensleute an dem Platz am Ende der Pferche, wo die Angehörigen der Einheit ihre Stimme zunächst mündlich, später mit Stimmtäfelchen abgaben, und jeder Kandidat hatte seine eigenen Leute da, die auch bei der Auszählung dabei waren106 . Es gab also Männer aus der Oberschicht in beachtlicher Zahl, die das Ergebnis der von ihnen betreuten Centurie kannten, und selbstverständlich 102 Er wurde 176 Praetor, vgl. Münzer (1900). 103 Vor dem plebiscitum reddendorum equorum (129 v. Chr.?) waren die Senatoren aufgrund ihres Vermögensstandes in den Rittercenturien eingeschrieben (Cicero, de re publica 4,2), und es wird zum Teil angenommen, dass sie sich in den angesehenen sex suffragia konzentrierten, vgl. etwa Meier 1956, 589 f.; Taylor 1966, 97; Rilinger 1978, 127; Hackl 1989, 112. 104 Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass Scipio Maluginensis als custos tätig war, also als vom Versammlungsleiter bestellter Vertrauensmann, der dafür zu sorgen hatte, dass bei der ihm zugeteilten Abstimmungseinheit alles den Regeln entsprechend verlief, vor allem auch die Addition der abgegebenen Stimmen (wir bewegen uns hier ja noch im Zeitalter der mündlichen Abstimmung). Dann könnte es jede beliebige Einheit gewesen sein, von der ersten bis zur letzten. S. u. Anm. 106. 105 Rilinger 1978, 116 vermutet für die Meldung des praeco an den Wahlleiter folgende Formulierung: olla centuria consules dicit, Q. Fabium App. Claudium“ . Er ” verweist dazu vor allem auf Varro, de lingua Latina 7,42, wo sich Varro aber leider nur für das archaische olla interessiert und nicht das vollständige Formular wiedergibt (… comitiis cum recitatur a praecone dicitur olla centuria, non illa). 106 Vgl. zu den offiziellen custodes und denen der Bewerber Mommsen 3 1887/8, III 1, 406 f.; Staveley 1972, 176.

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tauschte man sich darüber aus, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sich jemals jemand die Mühe machte, daraus ein vollständiges und präzises Bild zusammenzusetzen. Aber so ist zu erklären, warum wir gelegentlich davon hören, jemand sei mit großem Abstand in einer Einheit gewählt worden oder eben nur knapp107 . Die Reduzierung der Ergebnisveröffentlichung auf die Sieger und auf die Tatsache ihres Sieges war sicherlich einfach bequem und zudem wohl aus Zeiten der offenen Abstimmung tradiert, bei der man sich bei überschaubaren Teilnehmerzahlen in den einzelnen Einheiten vielleicht die genaue Buchführung ohnehin erspart hatte. Aber diese Verfahrensweise hatte Konsequenzen. All die Wähler, die sich mit ihren Präferenzen in der Abstimmung nicht durchsetzen konnten, wussten nichts genaues darüber, ob sie viele oder wenige waren, und die nachfolgenden Stimmkörperschaften erfuhren nicht, ob es denn überhaupt chancenreich war, anders zu stimmen als die Mehrheit der vorherigen Abstimmgruppe108 . Das Verfahren verstärkte also die Konsenssuggestion. (3) Schließlich brach man in den Centuriatcomitien die Versammlung und wenigstens bei den Wahlen in den Tributcomitien die Bekanntgabe der Ergebnisse ab, sobald die einfache Mehrheit erreicht war109 . Dass 107 Besonders explizit wirkt Sueton, Caesar 13: atque ita potentissimos duos competitores multumque et aetate et dignitate antecedentes superavit, ut plura ipse in eorum tribubus suffragia quam uterque in omnibus tulerit. Das Zeugnis bezieht sich auf die Wahl zum Oberpontificat 63 v. Chr., die Caesar gegen die angesehenen Altconsulare Lutatius Catulus und Servilius Isauricus gewann. Doch diese Behauptung, die beiden unterlegenen Bewerber hätten jeweils in allen Tribus nicht mehr Stimmen gewonnen als Caesar jeweils in ihrer eigenen Tribus, braucht nicht mehr als ein Eindruck zu sein, den Wahlleiter und Helfer gewannen und über den sie indiskret klatschten, und muss nicht auf genau bekannten Ergebnissen aus allen Tribus basieren. Zudem handelt es sich hier um die speziellen Comitien für die Priesterwahl, bei der nur 17 Tribus abstimmten (statt 35). Wenn Caesars Überlegenheit wirklich so groß war, dass er um Längen mehr Stimmen bekam als seine Konkurrenten, dann wurde nach 9 Tribus, die ja dann alle Caesar gewonnen haben müsste, abgebrochen (zumindest die Ergebnisverkündigung). Wahrscheinlich war diese Situation also übersichtlicher als das normalerweise bei den Wahlen der Fall war. Aber die Geschichte ist ohnehin ungesichert, denn Plutarch, Caesar 7,4 berichtet von einem sehr knappen Rennen. 108 Vgl. auch schon Jehne 2003, 293. 109 Fraccaro 1957, 249–251 argumentiert, dass bei Gesetzesabstimmungen und Gerichtsentscheidungen in den Tributcomitien, bei denen die Stimmkörper sukzessive abstimmten, weitergemacht wurde bis zum Ende, auch wenn die Mehrheit schon erreicht war.

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das nur daran lag, dass man Zeit sparen wollte, ist keine hinreichende Erklärung, denn man verkündete ja nicht einmal mehr die Ergebnisse von Abstimmungseinheiten, die schon abgestimmt hatten und deren Stimmen schon ausgezählt waren110 . Es ging einfach darum, dass man eine mögliche Zerrissenheit der Wählerschaft nicht stärker öffentlich machen wollte als nötig. Auch ist es sehr bezeichnend, dass Cicero gerne darauf verwies, er sei centuriis cunctis bzw. cunctis suffragiis zum Praetor bzw. zum Consul gewählt worden, also von allen Centurien bzw. von allen Stimmkörpern111 . Das kann nur heißen, dass die ersten 97 von den insgesamt 193 Centurien für ihn stimmten und der Wahlleiter danach verkündete, Cicero sei gewählt, eben von der Mehrheit der Centurien. An Ciceros Formulierung ist sehr schön erkennbar, wie das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit verdeckt wurde unter dem Mantel der Konsenssuggestion. (4) Der Hauptgrund aber, warum die lächerlich geringe Partizipationsquote keine Reformüberlegungen auslöste, lag in der Abstimmung in Stimmkörperschaften und deren Deutung durch die Römer: Denn für die Römer war der populus Romanus immer komplett! Wenn die 35 tribus oder die 193 Centurien vertreten waren, dann war das römische Volk anwesend. Wie wir aus einer Cicero-Rede wissen, trat nur ein Problem auf, wenn eine Stimmkörperschaft nicht mit wenigstens fünf Bürgern bestückt war, aber selbst dann behalf man sich schnell, indem man aus besser vertretenen tribus Bürger ausloste, die ausnahmsweise in der unterbesetzten ihre Stimmen abgaben112 . Diesem Verfahren begegnen wir in der Tabula Hebana wieder, einer Inschrift aus dem Jahre 19 n. Chr., die unter anderem Bestimmungen einer Abstimmungsreform enthält113 . Dass man sich mit einfacher 110 Vgl. für Wahlen in Malaca lex Malacitana Kap. 57 Z. 54–58 (s. o. Anm. 24). Dass diejenigen, die eine Mehrheit der Curien gewonnen haben, renuntiiert werden, bis die Zahl der zu wählenden Magistrate erreicht ist, impliziert zwingend, dass die Verkündigung von Ergebnissen dann aufhörte. Da bei den Wahlen in Malaca erst alle Curien abstimmten und dann deren Ergebnisse in ausgeloster Reihenfolge verkündet wurden (Kap. 57 Z. 50–54, s. o. Anm. 24), wird hier nicht die Abstimmung abgebrochen, aber eben die Bekanntgabe der Resultate. Vgl. den Kommentar von Spitzl 1984, 53 f. 111 Praetur: Cicero, de imperio Cn. Pompei 2: … cum propter dilationem comitiorum ter praetor primus centuriis cunctis renuntiatus sum, …; vgl. de lege agraria 2,4: … una vox universi populi Romani consulem declaravit; Consulat und Praetur: Cicero, de officiis 2,59: … pro amplitudine honorum, quos cunctis suffragiis adepti sumus nostro quidem anno, …; vgl. Asconius p. 94 Clark: … Cicero consul omnium consensu factus est. 112 Cicero, pro Sestio 109. Vgl. Taylor 1966, 76; 145 f. Anm. 41. 113 Crawford 1996, I, Nr. 37 Z. 32–34: … dummodo quod ]ad eorum suffragium perti[nebit, si qui ex Suc(cusana) tribu] / Esq(uilina)ve erunt, item si qua [in] tribu senator

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Zulosung in eine unterbesetzte Einheit behelfen konnte, zeigt also ganz deutlich, worauf es in den römischen Abstimmungen ankam: nicht auf die Repräsentation der Tribusangehörigen, denn sonst hätte man sie nicht durch Außenstehende ersetzen können, sondern nur auf die Repräsentation der tribus als einer Untereinheit des römischen Volkes. Dafür mussten ein paar Bürger abstimmen, aber welche und wie viele, war letztlich unerheblich. Die Haltung der Römer zu ihren Abstimmungen wird besonders deutlich in dem Destinationsverfahren, das für die Wahlen der Consuln und Praetoren in der frühen Kaiserzeit etabliert wurde. 5 n. Chr. wurden zehn Destinationscenturien eingerichtet, die in einer eigenen Abstimmung über die Kandidaten für das Consulat bzw. die Praetur Empfehlungen produzierten, die den Centuriatcomitien, die dann die formal entscheidende Abstimmung durchführten, vorgelegt wurden114 . 19 n. Chr. wurden diese zehn Centurien um fünf zusätzliche erweitert, 23 n. Chr. traten noch einmal fünf dazu115 . Aus der Tabula Hebana geht hervor, dass in den Destinationscenturien einzig die Senatoren und die Ritter der ersten drei Richterdecurien abstimmen durften, die nach ihrer Tribuszugehörigkeit zu Centurien zusammengefasst wurden, und zwar in der Weise, dass vor jeder Abstimmung ausgelost wurde, welche Tribus gemeinsam in einer Destinationscenturie abstimmen sollten116 . Dass das dann manchmal drei, manchmal vier Tribus waren117 und zudem die Mitgliederzahlen in den einzelnen Tribus ohnehin recht unterschiedlich gewesen zu sein scheinen,

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[ne]mo er[it a]ut si nemo eq(ues) erit et senatoru[m —] / erunt, … Leider ist das letzte Stück dieser Passage verderbt, sodass nicht erkennbar ist, wie groß genau die Mindestzahl der Mitglieder einer tribus sein musste und was man tat, wenn sie unterschritten wurde, doch liegt die Vermutung nahe, dass man ähnlich verfuhr wie in der ciceronischen Zeit. Vgl. zu den Konsensimpulsen der Tabula Hebana Jehne 2013, 151 f. Vgl. für das Verfahren und seine Bedeutung die Diskussion bei Jehne 2013, 141–149. (dort Verweise auf ältere Literatur). Die entscheidende Quelle ist das inschriftliche Dokument der Tabula Hebana, für die Ausweitung von 23 die Tabula Ilicitana, vgl. die maßgebliche Edition von Crawford 1996, I, Nr. 37 u. 38 (S. 507–547). Crawford 1996, I, Nr. 37 Z. 21–27. Mit der Erhöhung der Zahl der Destinationscenturien auf 15 und dann auf 20 verringerte sich natürlich die Zahl der in einer Centurie zusammenzufassenden Tribus, aber nie war die Menge der Destinationscenturien so konstruiert, dass in Relation zu den 33 zu vertretenden Tribus eine Gleichverteilung möglich geworden wäre (zur Ausnahme der Tribus Esquilina und Succusana: Crawford 1996, I, Nr. 37 Z. 22 s. Taylor 1966, 92 f. erklärt die Aussparung dieser beiden

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war offenbar unerheblich. Die sich daraus ergebende Tatsache, dass die Stimme eines Senators mal mehr, mal weniger wert sein konnte, je nachdem, ob er in einer großen oder in einer kleinen Centurie abstimmte, störte in Rom niemanden. Wir fassen hier dasselbe Prinzip wie in republikanischer Zeit: Für den Fall, dass kein Senator anwesend war oder zu wenig Ritter, wurde eine Prozedur festgelegt, wie die Einheit dennoch vertreten werden konnte118 , aber nicht einmal bei den oberen Ständen der Gesellschaft, um die es bei den Destinationscenturien ausschließlich ging, war irgendeine Form von proportionaler Gleichheit angestrebt. Selbst bei den Senatoren und den Rittern der Richterdecurien, der Crême de la Crême des römischen Imperiums, spielte es offenkundig keine Rolle, ob sie mit mehr oder weniger Kollegen in eine Einheit integriert waren, Hauptsache, die Einheit als solche war präsent. Da es den Römern also auf die Teilnehmerzahlen gar nicht ankam, konnten sie auch nicht zu klein werden. Volksversammlungen wurden demnach nicht durch geringen Besuch entlegitimiert. In der Wahrnehmung der Römer betrug die Wahlbeteiligung immer 100 %, da ja schließlich alle Untereinheiten des populus vertreten waren. Die Abstimmung in Stimmkörperschaften, bei der die Minderheitsvoten unter den Tisch fielen, produzierte wie in jedem guten Mehrheitswahlrecht eine Zustimmungsverstärkung. Doch dass man weder an den genauen Ergebnissen in den Stimmkörperschaften interessiert war, die nicht veröffentlicht wurden, noch an denen der Stimmkörperschaften insgesamt, die zwar bis zum Erreichen der Mehrheit verkündet wurden, aber in unserer Überlieferung praktisch nicht erwähnt werden, zeigt meiner Meinung nach an, dass genaue Zahlen einfach keine Rolle spielten, weil sie hinter der großen Konsenssuggestion des Abstimmungssystems verschwanden. Da ein gut verfasstes Gemeinwesen gefälligst in Eintracht lebte119 , war der Zweck der Abstimmungen idealiter die Feststellung, wo der Konsens lag, nicht aber die Konfliktentscheidung durch Mehrheitsbeschluss. In den komplexen Verfahren wurde die Einheit des populus in ihren egalitären oder hierarchischen Perspektiven symbolisch zur Darstellung gebracht, wofür man infolge der ewigen Präsenz aller Untereinheiten ebensowenig auf große städtischen Tribus einleuchtend damit, dass man es gewohnt war, dass es keine Senatoren und Ritter in diesen Tribus gab). 118 Leider ist die genaue Bestimmung nicht erhalten, aber dass es eine Regelung gab, geht aus den vorhandenen Resten der Inschrift hervor, vgl. Crawford 1996, I, Nr. 37 Z. 32–34 (s. o. Anm. 113). 119 Vgl. etwa Cicero, de legibus 3,28.

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Mengen von aktiv Partizipierenden angewiesen war wie auf der instrumentellen Seite, bei der es unwichtig war, wie viele Bürger den Konsens in der Sache aktiv bestätigten.

VI. Knappes Resümee In der römischen Republik wurden fast alle für das Gemeinwesen relevanten Regelungen durch Beschlüsse in Volksversammlungen verbindlich gemacht, und jeder erwachsene, männliche römische Bürger war berechtigt, an diesen Volksversammlungen teilzunehmen und seine Stimme abzugeben. In der Praxis machte nur ein kleiner und immer weiter schrumpfender Anteil der Bürgerschaft von diesem Recht Gebrauch. Komplexe Prozeduren in den unterschiedlichen Volksversammlungsformen sorgten dafür, dass einerseits die Stimmen mehr oder weniger zugunsten der Oberschichten gewichtet waren und dass andererseits bei den Wahlen der Ausgang oft unvorhersehbar war. Das im Kern aristokratische System war eben darauf abgestellt, dass Volksversammlungen in erster Linie wenig umstrittene Entscheidungsempfehlungen mit Geltung versahen und infolge ihrer starken Zufallselemente sowohl die adligen Konkurrenten von der intensiven Werbung für die eigenen Ziele abschreckten als auch die Kränkung der Verlierer in Grenzen hielten. Das quantitative Partizipationsdefizit, das uns aus moderner Perspektive dramatisch vorkommt, nahmen die Römer gar nicht wahr, da für sie der populus Romanus aus der Summe seiner jeweiligen Untereinheiten bestand, die stets vollständig anwesend waren und deren Aufgabe es war, zu verdeutlichen, wo der Konsens lag. Der moderne Verdacht, dass diejenigen, die nicht partizipieren, anderer Meinung sein könnten als die festgestellte Mehrheit, lag den Römern ganz fern, die vielmehr selbstverständlich davon ausgingen, dass der gefundene Konsens auch im Sinne der Nicht-Beteiligten war. Das gerade gezeichnete Bild konzentriert sich auf das, was ich für die Kernsubstanz des Partizipationssystems halte, aber natürlich funktionierte das in der Praxis nie so reibungslos, und in der späten Republik erkennbar immer weniger. Das Unruhepotenzial in der Riesenstadt Rom machte sich häufiger im öffentlichen Raum bemerkbar, und ambitionierte Politiker versuchten, mit Knüppelgarden und aggressiven Anhängern die Verhältnisse im eigenen Sinne zu kontrollieren, was nichts anderes hieß, als dass die Partizipationsinstitutionen mit Gewalt unterbunden oder zum gewünschten Ergebnis gezwungen wurden. Publikumsreaktionen im Thea-

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ter und bei den sonstigen Spielveranstaltungen gewannen an Bedeutung als Partizipationsform, die sich nicht in ausgezählten Stimmen niederschlug und durch Verfahren kanalisiert war. Der zunehmenden Unberechenbarkeit der Wahlen versuchten die Kandidaten, die sich aus dem ganz auf Ämter fixierten aristokratischen Wettbewerb nicht einfach verabschieden konnten, mit einer Steigerung ihrer Wahlkampfaktivitäten entgegenzuwirken, ohne dass dieser ruinöse Aufwand wirklich zu einer erkennbaren Chancenverbesserung führte, worauf sie die Bemühungen erfolglos weiter steigerten. Gleichzeitig verbiss sich die Politik in Rom auf wenige Quadratkilometer, während ein paar Kommandeure im Reich große Erfolge erzielten, die sie aus der Führungsschicht im Übermaß heraushoben. Als dann Caesar den Bürgerkrieg eröffnete, wurde schmerzlich erfahrbar, dass für die Selbstverständlichkeit, mit der man bei den Partizipationsritualen in Rom die Abwesenheit von 90–99 % der Bürger ignoriert hatte, ein Preis zu zahlen war: Die Soldaten, rekrutiert in Italien, aber nicht in Rom, zogen skrupellos mit Caesar mit, und die Städte Italiens öffneten ihm die Tore, da es nicht ihr Kampf war. Man wird nicht umhin können, den römischen Partizipationseinrichtungen in den letzten Jahren der Republik nur noch recht bescheidene Integrationsleistungen zu bescheinigen.

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Politische Mitwirkung und Metaphysik – Stadtbürgerliche Partizipation im Hochund Spätmittelalter Achatz von Müller Eines der frühesten Zeugnisse für nicht gewährte, sondern geforderte Partizipation – also gleichsam von unten nach oben formuliert – stammt aus Basel. Es findet sich im „Ligurinus“ des offenbar am Hof der Staufer als Prinzenerzieher tätigen Klerikers Gunther. Es ist hier nicht der Platz, das literarische Geheimnis dieses Autors zu entschleiern. Nur so viel: Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei diesem Gunther um denselben „Magister Gunther“, der für Philipp von Hohenstaufen eine „Historia Constantinopolitana“ verfasste. Der „Ligurinus“ ist eine Art Epos auf Friedrich Barbarossa, insbesondere seinen Anfang als römischer König, sowie die Konflikte des Staufers in Italien bei seinem Versuch, die Reichsherrschaft zu erneuern. Gunther berichtet in diesem Zusammenhang auch über die Position Arnolds von Brescia, des Theorien der „Volkssouveränität“ und der Pataria nahestehenden zeitweisen Anführers popularer Revolten in Rom und Oberitalien. Dieser habe nämlich, nach seinem Exil in Zürich wieder nach Rom zurückgekehrt, zur Wiederaufrichtung der verlorenen Volksherrschaft in Rom aufgerufen: Dem Volk riet Arnold, Roms uralte Würden Neu zu beleben, Patrizier wie einst und Quiriten zu schaffen, […] Wieder das Volkstribunat, den stolzen Senat zu berufen, […] Roms Kapitol, das jetzt noch in Trümmern zerfallen liegt, wie einst Zu seinem alten Glanze neu zu verhelfen Und Beschlüsse zum Staatswohl aus freiem und eigenem Willen, Ob durch Vertrag oder Krieg zu regeln, doch hierfür dem Papst Keinerlei Rechte zu gönnen, sie auch dem König zurückhaltend Nur zu gewähren.1

Die volkssouveräne Unbedingtheit, die der „Ligurinus“ Arnold zuschreibt, entspricht der bekannten Position der römischen Gesandtschaft an Barba1

Gunther 1987 und 1995, Vss 330 ff.

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rossa im Sommer 1155 zu Sutri, wie sie ein verlässlicher Zeuge – Otto von Freising, Gelehrter und politologisch wie kaum ein anderer beschlagener Verwandter und Berater des künftigen Kaisers – eindringlich in den „Gesta Friderici“ beschreibt: „Du warst Gast, ich machte Dich zum Bürger“, lässt Otto aus dem Munde der Gesandten die Stadt Rom den Staufer ansprechen, um sodann noch deutlicher zu werden: „Ein Fremdling warst Du aus den Ländern von jenseits der Alpen. Ich setzte Dich zum Herrscher ein. Was von Rechts wegen mir gehört, gab ich Dir.“2 Damit schließen die römischen Gesandten an eine Friedrich bereits vertraute Position an, die ein gewisser „Wezel“ – vielleicht ein aus Zürich stammender Vertrauter Arnolds von Brescia – drei Jahre zuvor kurz nach der Wahl des Staufers diesem im „Namen Roms“ geschrieben hatte. Nach diesem Schreiben sei jedwede Herrschaft Angelegenheit „der res publica Romana“, und somit nicht nur das Kaisertum, sondern auch schon die römische Königswürde aus der Hand Roms zu empfangen. Die Antwort Friedrichs 1155 zu Sutri auf diese stadtrömische Variante der „Lex regia“ fiel bekanntlich ruppig aus: Er habe die Macht und das Heer, um seine Ansprüche mit eigenen Mitteln durchzusetzen, lässt Otto von Freising seinen königlichen Neffen antworten. Zweifellos war die aus diesen Zeugnissen sprechende Haltung den frühen kommunalen Bewegungen insbesondere Oberitaliens intensiv verbunden, aber doch eine eigene römische Variante. Denn nirgendwo sonst findet sich im 12. Jahrhundert eine so unbedingt auf den Ursprung aller Herrschaft im Volk beharrende Position, die Kommunalkonzept und „Lex regia“ zu einer eigentümlichen Mischung aus Politologie und Geschichtsstolz komponiert. In ihrer Radikalität weist somit die römische Kommunalbewegung einerseits in die Geschichte zurück und andererseits auf die radikalen volkssouveränen Bürgerbewegungen der Zukunft voraus. Dabei mag für die Frage nach partizipativen Elementen dieser Konzeption von erheblicher Bedeutung sein, dass die frühesten Zeugnisse der römischen Volksbewegung noch von einer partizipativen Orientierung getragen waren, also nicht jene radikale Monopolisierung der Legitimation des Kaisertums beanspruchten, wie es die beiden Begegnungen zwischen römischen Gesandtschaften und Barbarossa von 1152 und 1155 nahelegen.3 Noch 1149 hatte ein römisches Schreiben an Konrad III. allein vom Mitwirkungsrecht der Kommune gesprochen, aber ausdrücklich das Recht 2 3

Von Freising 1965, 344 f. Vgl. zum Konflikt zwischen Barbarossa und der römischen Kommune Schulz 1992, 152 ff. und Zumhagen 2002. Schulz 1992, 154.

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des Herrschers auf die Kaiserkrone durch die von Rom aus nicht beeinflussbare römische Königskrönung anerkannt. Am Anfang des kommunalen Souveränitätskonzeptes stand somit nicht die „Lex regia“, sondern der Partizipationsgedanke. Aber auch dieser ist genuin römisch oder besser: Er wäre ohne die römisch-rechtliche Unterfütterung im diskursiven Kontext der Transformation des europäischen Rechtsdenkens durch das rationale römische Kaiserrecht sowie der römisch-rechtlichen Konstituierung der Rechtsschulung insbesondere von Kirche und Klerus im Gefüge der städtischen „Hohen Schulen“ ins Leere gelaufen. Die berühmte Formel des Gründungsvaters aller kanonischen und kanonistischen Rechtsschulen, Gratian, dass „was alle angeht, von allen gutgeheißen werden muss“, verlieh den auch aus älteren Volksrechten lokaler und „germanischer“ Prägung hergeleiteten Ansprüchen auf „Volksversammlung“ und „Mitwirkung“ Substanz, Rationalität und zukunftsweisende Eingängigkeit. So steht am Beginn aller Partizipation die Gratian-Formel des „Quod omnes“. Denn nur sie führt die ältesten Vorstellungen von Legitimation durch Zustimmung und Legitimation durch Mitwirkung auf schlüssige und rechtlich verbindliche Weise zusammen.4 Damit wird zugleich ein fast unversöhnlicher Widerspruch formuliert und aufgelöst. Oder doch fast aufgelöst. Denn ein irritierender Rest bleibt. Gratians frühe kanonische Rechtssammlung diente ja vor allem der Durchsetzung des Anspruchs der kirchlichen Autoritäten – genauer der kirchlichen Hierarchie Roms – auf Anerkennung eben dieser Autorität. Mit anderen Worten: der genuine Sinn der Gratian-Formel des „Quod omnes“ diente zunächst nicht so sehr der Zustimmung – Partizipation – aller, sondern ihrer Voraussetzungen. Damit „alle“ zustimmen könnten, müssten zuvor „alle“ erreicht werden. Im Jahrhunderte dauernden Kampf zwischen römischer Hierarchie und synodalen sowie konziliaren Positionen in der Kirche vom „Dictatus Papae“ Gregors VII. bis zur Wahl eines konziliaren Papstes (Felix V.) in Basel spielte die „Quod omnes“-Formel die Rolle einer Blendung. Alle sollten zustimmen, aber „alle“ sollten damit auch die Voraussetzung zur Zustimmung akzeptieren, wie sie der erste Teil der Formel artikulierte: es sollte sie „berühren“. Wer zustimmt, hatte somit zuvor akzeptiert, dass die Satzung oder Setzung, der er seine Zustimmung gab, ihn tatsächlich erfasste, auch ihn betraf. Die Dialektik der Gratian-Formel entfaltete somit eine doppelte Funktion: sie formulierte einen wesentlichen Grundsatz allgemeiner Partizipationsrechte, aber zu-

4

„Quod omnes tangit ab omnibus approbetur.“ Vgl. Kantorowicz 1990, 184 ff.

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gleich auch die unabweisbare Gültigkeit des Rechts für alle. Sie formulierte mit einem Wort die Allgemeingültigkeit des Rechts und verknüpfte diese mit Partizipation – als Erfasstheit durch das Recht und Zustimmung zu dieser Form des „Berührt-Werdens“. Die irritierende diskursive Verknüpfung zu den sich an Radikalität steigernden Positionen der kommunalen Bewegungen des 12. Jahrhunderts – insbesondere der römischen „Lex regia“-Bewegung –, die diese mit der Gratian-Formel verbindet, zeigt sich im inversiven Gebrauch der Formel. Diese wird zwar so gut wie nie unmittelbar zitiert, aber doch sinngemäß durch den Anspruch der Mitwirkung an Bischofsherrschaft, aristokratischem Regiment oder Königs- und Kaiserlegitimation substituiert. Damit aber wird vor allem eines deutlich: das Konzept der Partizipation erweist sich als dominanter Diskurs. Es geht weniger um die mehr oder weniger von unten nach oben „verkehrten“ Varianten eines Rechtssatzes der römischen Kirche als um ein Konzept, das von oben nach unten sowie umgekehrt von unten nach oben adressiert werden kann. Der „partizipativen“ römisch-rechtlichen Formel der Gültigkeit des Rechts für alle setzt die kommunale Variante des Diskurses die Mitwirkung an politischen und „politologischen“ – legitimatorischen – Prozessen entgegen. So ist „Partizipation“ im 12. Jahrhundert zwar keine „Black Box“, deren wahre Gestalt erst durch Kontexte des Gebrauchs enthüllt wird, aber doch wohl eine zukunftsweisende „moderne“ Formel, mit der divergierende Interessen verbunden werden können. Wie sehr im Kontext der Expansion römischer Rechtsrationalität die Partizipationsformel des „Quod Omnes“ mit einer „alle“ nun auch förmlich erfassenden Totalität institutioneller Gewalten verbunden gedacht wurde, zeigt die „alle“ hypostasierende Gratian-Formel der Christus-FiskusAnalogie: „Das nimmt nämlich der Fiskus – alles, was Christus nicht nimmt.“ Ernst Kantorowicz hat den Gebrauch der Formel in den Paston-Papers der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachgewiesen sowie ihre Rolle in der Staats- und Fiskaltheorie der Renaissance Italiens beleuchtet und dabei gezeigt, wie entschieden sich „weltliche Obrigkeit“ als zweites Corpus mysticum neben die Kirche setzt. Die Pointe dieser mystischen Parallelität von Kirche und weltlicher Gewalt liegt aber vor allem darin, dass Gratian, der diese Formel aus der bereits gegenüber der ursprünglich heidnischrömischen Fassung des Gaius (Inst. II) inversiven Verwendung im Codex Justinianus (Inst. II, 1 ff.; D. 1. 8.) bezieht, damit den „Fiscus“ zu einer „res

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quasi sacra“ erhebt, wie es in feiner Deutlichkeit in Bractons „De legibus“ (um 1250) heißt.5 Was aber bedeutet es für unsere Partizipationsfrage, wenn der „Fiscus“ sich als „quasi sacer“ erweist? – Nichts weniger, als dass hier eine grundsätzliche Immunität für die Güter der Allgemeinheit formuliert wird. Wem gegenüber? Allen herrscherlichen Gewalten, muss die Antwort lauten. Damit verkündet Gratian ebenso wie nach ihm Bracton oder die PastonPapers sowie die Renaissance-Allusion der „potestas mystica“ des Staates in der Emblematik des Alciatus und viele weitere Nachfolger von Hobbes bis zu Max Weber, dass Gemeingut – und nichts anderes ist das „Eigentum“ des Fiskus – partizipatives Gut sei. Es gehört allen und keinem. Keine herrscherliche Gewalt, kein Fürst, kein allodialer Herr, keine kommunale Ratsperson darf solches Gut zu „eigenen Zwecken“ an sich ziehen. Es bleibt als „res quasi sacra“ vor aller Privatisierung geschützt. Mit dieser impliziten Einräumung partizipativer Rechte aller am Gemeingut des „Fiscus“ wird somit zugleich der „doppelte Körper“ des Fiskus sichtbar: er ist sichtbares Gut und zugleich unsichtbares Recht aller an diesem Gut: Partizipation. Die ursprüngliche Quelle dieser Vorstellung kann nun leicht ausgemacht werden. Sie liegt in der Immunität der Tempelbezirke des altrömischen Rechts, an der jeder partizipieren konnte, der um „Asyl“ in diesen Bezirken nachsuchte. Diese Bezirke und Besitzungen seien den kaiserlichen Gütern gleichgestellt, verkündete der Kommentar des Gaius. Die staatschristliche Inversion dieses Konzeptes übertrug das Immunitätskonzept auf die Heiligkeit der Kirche und ihrer Besitzungen. Die Kommentare der neuen römischen Juristen des 12. und 13. Jahrhunderts – Kanonisten wie Legisten – konstituierten auf dieser Basis eine QuasiHeiligkeit des Gemeinbesitzes, an dem alle wie an der „heiligen Kirche“ partizipieren sollten und zugleich der „private“ Zugriff untersagt bleibt. Damit aber verbindet das hochmittelalterliche Partizipationskonzept die alte römisch-rechtliche Immunität öffentlicher Güter mit der sakralen Aura der Christologie. Denn das unsichtbare Recht „aller“, die alle sind, die an diesem Recht partizipieren, entspricht dem „mystischen Körper Christi“, der als Heilsversprechen „allen“ gilt und somit alle Christen – Thomas von Aquin betont in der „Summa“: „sogar alle Menschen“ – zu Partizipienten des „corpus mysticum“ Christi macht.6

5 6

Kantorowicz 1948, 230 ff.; Kantorowicz 1990, 187 ff. Zur Metaphysik der FiskusMetapher vgl. Kantorowicz 1965, 381–398. Thomas 192, 252.

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Ernst Kantorowicz hatte in seinen Studien über „Christus Fiscus“ diese Parallelität von Staats- und Kirchenmystik eindrücklich herausgearbeitet, aber doch den soziopolitischen Kontext der „Partizipation“ unbeachtet gelassen. Aber um diesen geht es, wenn die Funktionsweise und Legitimation nachantiker „christlicher“ Partizipationsansprüche und -konzepte ins Blickfeld geraten. Sie basieren durchaus auf Motiven antiken Rechts- und Staatsdenkens – „Lex regia“ oder die Immunitäts- und Asylrechte heiliger Orte und Tempel seien beispielhaft hervorgehoben. Jedoch gewinnen sie durch ihre diskursive Verknüpfung mit der unabweisbaren Konstitution der „Kirche“, als „corpus mysticum“ – nicht als Amts- und Klerikerkirche – auf der Partizipation „aller“ errichtet zu sein, eine fundamentale Gewalt, die in ihrer quasireligiösen Dynamik über den bloßen Anspruch auf politische Teilhabe hinausweist. Die religiöse Inbrunst der frühen kommunalen Bewegungen in Rom und Oberitalien waren von dieser Verknüpfung ihres politischen Anspruchs mit Kirchen- und Klerikerkritik sowie einer laienreligiösen Soteriologie zutiefst geprägt. Sie bezogen aus ihr die für sie symptomatische fundamentalistische Dynamik. Dass auf dem Feld städtischer und kommunaler Partizipationsansprüche in den kommunalen Bewegungen des 12. Jahrhunderts ein substanzieller Funke gezündet wurde, vermag ein Blick auf die entsprechenden Positionen im europäischen „Jahrhundert der Revolten“ zu zeigen. Die Rede ist vom 14. Jahrhundert, das von einer ganzen Reihe europäischer Aufstände in nahezu allen urbanen Regionen durchzogen war. Diese Bewegungen waren in der Regel von zwei im Prinzip heterogenen Motiven getragen: zum einen dem Protest gegen die Versuche der jeweils herrschenden patrizischen Gruppierungen oder in einigen Fällen noch vom älteren Stadtadel getragenen Ratsregiment, die „Krise“ – Versorgungskrise, Preiskrise, Arrondierungs- und Konfliktkrise, Legitimitätskrise, Religions- und Mentalitätskrise – juristisch und fiskalisch durch zunehmende Pressionen gegenüber dem schwächsten Teil der städtischen Gesellschaft – Juden, Unterschichten, Frauen, Fremde – zu lösen.7 Neben diesem „klassischen Protestmotiv“ findet sich aber nicht weniger radikal ausgeprägt das Partizipationsinteresse nachrückender bürgerlicher, aber zuweilen auch unterbürgerlicher Schichten. Kleinhandel und Handwerk bildeten bekanntlich in dieser Motivlage die wesentlichen Träger von Partizipationsrevolten.8

7 8

Zur Krise des 14. Jahrhunderts vgl. Seibt 1984 und Graus, F. 1994. Maschke 1974 zählt für Deutschland zwischen 1300 und 1480 über 150 Bürgerkämpfe. Dieser Zahl folgt auch in etwa Hergemöller 1984, vgl. aber auch die

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Aber auch hier, im scheinbar rationalen Nachrücken aufsteigender Schichten in die „Positionen der Macht“ finden sich noch immer die religiösen – oder besser „quasireligiösen“ – Unterfütterungen der Ideologie auf politische Partizipation drängender Gruppen. Zu Recht ist in diesem Kontext in der Forschung auf die Ciompi-Revolte im „frühindustriellen Florenz“ hingewiesen worden.9 Die Florentiner Wollarbeiter bildeten eine überaus heterogene Gruppe aus Spezialisten aller Art – von Chemiefacharbeiter (Färberei) bis zum Appreteur. Aber keine Frage – am unteren Ende der Arbeitsskala dieser „sottoposti“ der beiden Wollzünfte (Arte di Calimala und Arte della Lana) befanden sich die einfachen, mit Tagelohn zur Arbeit gezwungenen Wollkratzer, Träger, Wäscher, Stapler und alle möglichen weitere ungelernte Tätigkeiten verrichtende Handlanger der Fabrikherren. Diese „Ciompi“ hatten das 14. Jahrhundert in Florenz überaus bedrückt erlebt und seit 1343 die Stadt durch eine ganze Reihe von Revolten in Atem gehalten. Im Sommer 1378 aber erreichte ihr Protest den Kulminationspunkt. Gestützt von aufstiegs- und partizipationswilligen Neubürgern – unter ihnen die aus dem Mugello nach Florenz gezogenen Medici – stürmten die Arbeiter und ihre Verbündeten am 20. Juli 1378 den Palazzo della Signoria und riefen ein von ihnen gebildetes Ratsregiment an die Spitze der Stadt. Hier nun geht es nicht um die Qualifizierung dieses Ereignisses als revolutionär oder „tumultär“, sondern um die Erklärung der Hintergründe dieses überaus radikalen Partizipationsgestus. Die „Ideologie“ der Ciompi ist recht gut belegt. Vor allem die Chronik eines mit ihnen sympathisierenden „Anonimo“ bezeugt Züge einer bewussten Haltung als „Arme“ der Stadt.10 Der Chronist beschwört mehrfach ihre gedrückte Lage, aber vor allem, dass die Ciompi ihre Armut als sie verbindendes Element betrachteten. Immer wieder hat die Forschung zur „Armutsideologie“ der Ciompi Stellung bezogen und auf die möglichen Hintergründe eines „Einflusses“ der Fraticellen-Bewegung und deren Kritik an Klerus und Reichtum hervorgehoben. In gleicher Deutlichkeit meldete ein nicht geringerer Teil der Forschung Zweifel an einer unmittelbaren ideologischen Beteiligung der Fraticellen als radikale Ver-

Kritik von Blickle 1988 an Typen- und Kategorienbildung im Kontext städtischer Revolten für diese Zeit. 9 Hunecke 1987; Il Tumulto 1981; von Müller 1984. 10 Anonimo 1934, 92.

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treter der in Ober- und Mittelitalien weit verbreiteten Kleruskritik am Ciompi-Aufstand an.11 Dem sei nun, wie ihm sei. Viel entscheidender dürfte sein, dass die vom „Anonimo“ bezeugte Klarheit der Ciompi über ihre Lage sich auch in der späten verzweifelten Phase des Aufstands, im August 1378, da alles verloren scheint, am deutlichsten über ihre Bündnismöglichkeiten ausspricht. Denn nun geben sie sich einen Namen, der sie von allen bisherigen Bündnispartnern aus Facharbeitern oder sogar aufstiegswilligen Neubürgern distanziert. Wenn sich nun die Ciompi als „popolo di Dio“12 bezeichnen, knüpfen sie weniger an die „Fraticelli della povera vita“ an, denen sie vermeintlich ideologisch zugehörten, als an die alte „quasireligiöse“ Konzeption der Partizipation in den von Pataria, Kleruskritik und „populus Romanus“-Stolz geprägten kommunalen Bewegungen des 12. Jahrhunderts. Als „Gottesvolk“ setzen nun die Ciompi ihre Bedingungen, die, wie einst die Erneuerung der „Lex regia“ im Forderungskatalog der römischen Gesandten an Barbarossa, sie selbst über das Machtgefüge der Stadt stellt. Ihr Programm umfasst nun nur noch drei kompromisslos formulierte Punkte: Rache für das erlittene Unrecht, einen eigenen Teil der Stadtherrschaft und gerechten Lohn. Damit aber konstituieren sie die Grundsätze der Florentiner Politik gänzlich neu. In diesen ist kein Platz für Rechtssetzung von unten und sozial disponierte Ökonomie. Und schon gar nicht für ein Arbeiterregiment. Wie sehr die alte Vorstellung von einer quasi-religiösen Partizipation „aller“ am weltlichen Regiment – in diesem Fall der Ratsherrschaft etablierter Oligarchen der „Parte Guelfa“ – nicht nur die Ciompi durchdrang, sondern auch die am Ende mit ihren Partizipationsbemühungen erfolgreichen Neubürger, ist nur mittelbar zu folgern. Aber keine Frage: die bürgerlichen Teile der Revolte von 1378 nahmen an der Ideologie der Ciompi keinen Anstoß. Von Beginn an stand in dieser Revolte deren „Armut“ im Zentrum der Begründung für die Partizipationsforderungen der Aufständischen. Die religiöse Unbedingtheit der protestierenden Unterschichten wird somit auch für ihre bürgerlichen Verbündeten deutlich genug gewesen sein und deren Haltung sogar mit genügender Festigkeit untermauert haben. Denn „Partizipation“ war auch für sie kein sachliches Argument, sondern eine Forderung, die auf die göttliche Ordnung zielte – zielen musste. 11 Vgl. Manselli 1981, 256, der sich gegen die Zweifel von R. Trexler und G. Rusconi wendet. 12 Anonimo 1934, 93.

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Wenig mehr als ein Jahrhundert später bringt eine politische Predigt den Zusammenhang von Kirche und Stadt, gläubigen Christen und Florentiner Bürgern als Aufruf zur Partizipation auf den Punkt. Es handelt sich um die sechste Predigt des Girolamo Savonarola zur Neuordnung der Florentiner Verfassung (23.11.1494): „Schliessen wir also die Arche, da ein jeder gerufen worden ist, und keiner sich wird entschuldigen können, es nicht gehört zu haben. Der Herr hat sie verschlossen von aussen, diese Arche, in die die Guten eingetreten sind, und die, welche gewillt sind, Gott gemäss zu leben.“13 Kirche, Arche, Florenz – die Allusion dieser drei „corpora“ trägt Savonarola mit größter Gewissheit vor. So wie er ihre substanzielle Gemeinsamkeit zuvor in seiner Aufforderung an alle Stände, in die Arche einzutreten – als Figuration der Partizipation aller – in immer drängenderer und beschwörenderer Rede vor Augen geführt hatte. Die politische Reform der Stadt, ihre Verwandlung von der Signorie der Medici zur Gottesstadt und Republik, gipfelt somit in diesen Aufruf an alle Bürger und Einwohner, durch ihre Partizipation an der „res publica“ sich nicht nur selbst als das „wahre Gottesvolk“ zu erweisen, sondern Florenz als rettenden Gottesstaat zu bezeugen. Die Partizipation „aller“ wird für diese Metamorphose der zwingendste Beweis. Wie weit mit dieser hermeneutischen Funktionsweise der Partizipation als Figur politischer Legitimation durch Mitwirkung und Metaphysik Savonarola eine Constituante der auf Mitwirkung zielenden Politik überhaupt – jenseits ihrer geschichtlichen Varianten – angesprochen hat, mag eine analytische Positionierung von „Politik als System“ verdeutlichen: „Die Schliessung des Systems erfolgt an der Stelle, wo das Weisungen empfangende, administrativ belästigte Publikum der Individuen, Gruppen und Organisationen zum Volk wird; an der Stelle, wo die volonté de tous zur volonté générale wird. Diese Transformation aber bleibt ein Geheimnis. Sie kann nur als Paradoxie formuliert werden.“14

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Von der Magna Carta zum Parlament – Idee und Wirklichkeit der politischen Partizipation in England Henning Ottmann Christian Meier1 hat demonstriert, dass die Demokratie in Athen keinem Plan und keinem Programm entsprang. Analog kann man von den Parlamenten in England sagen, dass sie keinem Plan entsprungen und keinem Programm zu verdanken sind. Sie wurden geboren als Kinder diverser Umstände. Zu diesen gehörte die wachsende Macht der Monarchen, die sich der hohe Adel nicht gefallen lassen wollte. Dazu gehörten die Interessen der Monarchen selber. Sie wollten ihre unmittelbaren Vasallen zur Beratung versammeln, sie kontrollieren und, falls unangenehme Entscheidungen anstanden, mit in die Verantwortung nehmen. Die entscheidende Wurzel, aus der die Parlamente hervorgingen, war der königliche Geldbedarf. Dieser konnte im Falle der Kriegsführung nur durch Extra-Steuern (aid, auxilium) befriedigt werden. Um die Steuern erheben zu können, musste sich der König der Zustimmung der Steuerzahler versichern, und er war bestrebt, dies auf einer möglichst breiten Grundlage zu tun. Im Falle des Falles waren da nicht nur einzelne Adlige, sondern auch die Kommunitäten, die Grafschaften und die Städte, einzubeziehen. In der Parlamentarisierung geht England allen Ländern der Erde voran. Es ist das Land, in dem die Königsherrschaft zum ersten Mal konstitutionalisiert und die Beteiligung eines Parlaments an der Gesetzgebung erreicht wird. Was man dazu an ideologischer Begleitmusik“ zeitgleich oder im ” Nachhinein zu hören bekommt, ist mit Zurückhaltung zu beurteilen. Die Geschichtsschreibung des englischen Parlamentarismus ist mit dem Fluch einer rückwärtsgewandten Prophetie geschlagen. Das liegt am Mythos der ancient constitution“2 , auf die man sich immer wieder zu berufen pflegte. ” Das liegt am Charakter des englischen Rechts, das customary law, Gewohnheitsrecht, ist. Recht wird in England nicht geschaffen, sondern deklariert. Es liegt schließlich am Sieg der Whig Interpretation der Englischen Geschichte, die einen geraden Weg von der Magna Carta zur Petition of 1 2

Meier 1983. Pocock 1957.

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Rights und zur Bill of Rights führen sieht. Aus diesen Gründen ist der Sog zum Anachronismus beim Thema Parlamentarismus enorm. Man kann dies schon daraus ersehen, dass der für seine vorsichtigen und kompetenten Urteile berühmte William Stubbs, der gelehrte Bischof von Oxford, sich von diesem Sog nicht zu lösen vermochte. Zudem sind die Parlamente in England ein Element des nationalen Stolzes. Auch dies führt dazu, dass Anachronismen entstehen. Man sucht die Anfänge der Nation, und man kann diese gar nicht früh genug entdecken. Entstehung und Entwicklung der Parlamente sind das Thema der großen Verfassungsgeschichten, wie sie von Stubbs3 , Maitland4 , PetitDutaillis5 , Jolliffe6 , Sayles7 und anderen geschrieben worden sind. Mein Beitrag zu diesem großen Thema kann nur pointillistisch anhand einzelner Knotenpunkte zu klären versuchen, was Idee und Wirklichkeit der politischen Beteiligung in England gewesen sind. Begonnen wird mit einem Blick auf frühe Zeugnisse: auf die Magna Carta, auf das von Maitland so genannte Model Parliament“ von 1295, auf den Modus Tenendi Parliamentum ” (1320) und das Statute of York (1322). Danach wird Fortescues dominium ” politicum et regale“ (ca. 1470) gedeutet. Am Ende steht ein Ausblick auf die Lage, die nach der Glorious Revolution“ entstanden ist. ”

I. Magna Carta (1215) Die Magna Carta wird im Juni des Jahres 1215 auf der Wiese von Runnymede zwischen dem König Johann Ohneland und seinen Baronen vereinbart. Ein bedeutendes Rechtsdokument, dessen Geschichte mit der des mittelalterlichen und der des neuzeitlichen Rechts sowie mit der Geschichte der Parlamentarisierung eng verwoben ist. Im 17. Jahrhundert wird die Carta zur Waffe, mit der ein Jurist wie Coke die Ansprüche des Parlaments gegen den König durchzusetzen versucht. In Verfassungen der amerikanischen Kolonien kehren Bestimmungen der Magna Carta wieder,

3 4 5 6 7

Stubbs 1896; Stubbs 5 1896. Maitland 1908. Petit-Dutaillis 1908–29. Jolliffe 1937. Sayles 1988.

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und manche möchten sie sogar noch in den Menschenrechtserklärungen wiedererkennen (Ashley8 ; Thompson9 ). In Stubbs’ Constitutional History wurde das feudale Rechtsdokument zum Beginn der nationalen Gemeinschaft umgedeutet. Nach Stubbs war die Carta a treaty between the king and his subjects“ (5 1896, 562). Die Barone, ” welche dem König den Freibrief abtrotzten (mit Waffengewalt abtrotzten), hatten dies nach Stubbs nicht aus Eigennutz getan. Die Carta sei vielmehr the first great public act of the nation“ (5 1896, 572). Wer Stubbs las, ” konnte geradezu meinen, die Carta sei vom Volk für das Volk erstritten worden. Beides entspricht den Tatsachen nicht. Vom Volk wurde die Carta nicht erkämpft. Sie war das Werk der in ihr namentlich genannten 27 Barone. Von einer Volksbewegung im damaligen England ist nichts bekannt. Dass London den Baronen die Tore öffnete, war eine Sache reicher Kaufleute, nicht des Volkes. Inwieweit die Carta für das Volk von Bedeutung sein sollte, ist eine heiß umstrittene Frage. Jenks veröffentlicht 1902 den Artikel The Myth of the Magna Carta“ (in: Holt 1982). In diesem legt ” er dar, dass von den 63 Artikeln der Carta 22 rein feudaler Natur sind, 13 formal und zeitbezogen, weitere 22 allgemeiner Art. Nur drei bezögen sich auf den free man, gerade einmal zwei auf merchants und cities und ebenfalls zwei auf die Kirche. Nach Jenks war die Carta nicht der Vorreiter der Konstitutionalisierung, vielmehr ein reaktionäres Dokument, das sich als ein stumbling block“ für die weitere Rechtsentwicklung erwiesen habe ” (Jenks, in: Holt 1982, 34)10 . Die Diskussion ist damit nicht beendet. Ob die Carta Rechte für das ganze realm“ erstritt oder ob sie nur Privilegien für Barone fixierte, das ” lässt sich nur ermitteln, wenn man das Dokument Artikel um Artikel durchgeht. Deklamatorisch wird die Carta für all free man of the realm“ ” gewährt. Bei großzügiger Auslegung kann man vier Artikel auf den frei” en Mann“ , den liber homo beziehen (15, 21, 27, 30). Wie baronial, wie allgemein die Carta zu verstehen ist, bietet Stoff für Diskussion. Bevor man freilich einzelne Artikel diskutiert, ist zu beachten, dass man in die Carta nicht das Rechtsverständnis moderner Zeiten hineinlesen darf. Die Carta handelt von liberties, nicht von liberty. Sie handelt von den vielen Freiheiten, nicht von der Freiheit. Ihre Freiheiten sind konkret, nicht abstrakt. Es sind Privilegien für konkrete Gruppen, nicht allgemeine

8 Ashley 1965. 9 Thompson 1967. 10 Jenks 1982, 26–37.

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Rechte für Menschen11 . Hinter der Carta steht auch kein Naturrecht, das dem Menschen Rechte zuschreiben würde, die er bereits vorgemeinschaftlich besitzt. Die Rechte der Carta sind Konzessionen des Königs, gnädige Rechtsgewährungen. Die Unterschiede zwischen dem Rechtsverständnis der Carta und dem abstrakten Recht der Moderne sind erheblich. Es wäre andererseits unfair, zu behaupten, dass der Freibrief einzig und allein den Interessen der Barone und Kirchenfürsten dienlich war. Er war diesen Interessen zweifelsohne nützlich und auf sie zugeschnitten. Aber man spürt doch gelegentlich etwas von der Sorge der Aristokraten um das Land oder von der Sorge eines Kirchenfürsten wie des Erzbischofes von Canterbury, Stephen Langton, der den Monarchen schon öfters gemahnt hatte, von Willkürpolitik und Verurteilungen absque judicio abzusehen. Die von den Baronen erstrittenen Rechte sollten gemäß der Carta nach unten durchgereicht werden. Es war nun allgemein verboten, Extra-Steuern und Abgaben ohne Zustimmung zu erheben (art. 15). Amercements, Bußen, mit denen man sich aus der Gnade, aus der mercy des Königs freikauft, mussten verhältnismäßig sein. Sie durften nicht zum Ruin führen (art. 20). Starb jemand ohne Testament, durfte das Vieh nicht enteignet werden. Es war an Verwandte und Freunde zu verteilen (art. 27). Pferd und Wagen durften nicht ohne Einwilligung in Anspruch genommen werden (art. 32). Das waren Bestimmungen, die auch dem einfachen Mann zugutekamen. Schwierig gestaltet sich dann jedoch wieder die Beurteilung gerade der berühmten Artikel 34 und 39. Artikel 39 macht Haft, Enteignung, Ächtung und Exil abhängig vom lawful judgment of his peers or by the law of ” the land“ . Aus law of the land“ wird bei Coke im 17. Jahrhundert due pro” ” cess of law“ , eines der Schlagworte gegen die absolutistische Willkür. Trotz dieser geschichtlichen Wirkung zielt Art. 39 im Jahre 1215 wohl eher auf baroniale als auf allgemeine Interessen (Powicke12 ; Adams13 ; Cam14 ). Die großen Vasallen wollen nicht vom Schatzmeister, vom exchequer, gebüßt werden. Sie wollen sich lieber dem freundlicheren Urteil ihrer Standesgenossen anvertrauen. Artikel 34 verbietet den Verlust des lokalen Gerichtshofs durch einen writ of praecipe (praecipe bedeutet, der Monarch zieht das Verfahren an sich). Man könnte darin ein Entgegenkommen gegenüber allen Untertanen sehen wollen. Sie erhalten ihr Urteil vor Ort und mit vermutlich besserer Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten, als wenn ein 11 12 13 14

Pollard 2 1926, 166 ff. Powicke 1917, 96–121. Adams 1926, 266. Cam 1982, 26–37.

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Gerichtshof an einem anderen Ort entscheidet. Aber auch dieser Artikel ist wohl eher auf baroniale Interessen gemünzt. Er reflektiert das Interesse der Barone, ihre lokale Gerichtsbarkeit nicht zu verlieren. Noch bekannter als 34 und 39 sind die Artikel 12 und 14, nicht zuletzt weil sie das Motto Lockes und der Amerikanischen Revolution no ” taxation without representation“ vorwegzunehmen scheinen. Ein gerader Weg von der Wiese von Runnymed zur tea party in Boston ist jedoch eine der anachronistischen Illusionen. Artikel 12 fordert, dass scutage (Schildgeld) und aid nur erhoben werden können durch the common council of our ” realm“ ( nisi per commune consilium regni nostri“ ). Artikel 14 zeigt, wes” sen Zustimmung hier gemeint ist. Das consilium oder der council ist gemäß der Magna Carta folgendermaßen zusammengesetzt. Er besteht aus den Erzbischöfen, den Bischöfen, den Äbten, den earls und den greater barons des Reiches. Es handelt sich noch um eine rein feudale Versammlung, in welcher nur der Adel repräsentiert ist. Auch geht es nicht um ein individuelles Zustimmungsrecht. Gemeint sein kann immer nur ein Stand oder eine Kommunität. Als Friedensvereinbarung ist die Magna Carta gescheitert. Statt Frieden zu bringen, führte sie zu einem neuen Krieg. Das lag u. a. daran, dass Art. 61 ein Gremium von 25 Baronen vorsah, das bei Nichteinhaltung der Carta dem Monarchen distraint androhte: eine Beschlagnahmung von Burgen und Eigentum. Mit dieser Klausel wurde die Stellung des Königs, der in seinem Reich seinesgleichen nicht kennt, eingeebnet. Der Papst annullierte die Carta. Die nachfolgenden Konfirmationen der Carta ließen die kontroverse Bestimmung fallen. Sie verzichteten zudem auf die Artikel 12 und 14. Die Fassung von 1225 schrumpfte von 61 auf 37 Artikel. Gleichwohl hat die Carta die Jahrhunderte überdauert. Man hat sich des Öfteren gefragt, warum. War es ihre rechtliche Präzision, die ihr das Überleben sicherte? War es ihre Verwendbarkeit im politischen Kampf? Jedenfalls hat die Carta nicht als historisches Dokument gewirkt, sondern als ein willkommenes Mittel im Kampf zwischen Adel und Krone sowie zwischen Krone und Parlament. Der Kontext, in dem der Freibrief entstanden war, trat mehr und mehr in den Hintergrund. Im 13. Jahrhundert entsteht in England das Parlament. Es entsteht aus der curia regis, aus dem council des Königs. Dieser council ist ein relativ kleines Gremium. Er besteht aus den familiares des Königs, einigen bedeutenden unmittelbaren Vasallen, aus Ministern und Rechtskundigen. Er ist das ständige Gremium, das Routineangelegenheiten erledigt. Dieser council kann sich zum Parlament weiten, wobei zu beachten ist, dass der Be-

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griff Parlament“ im 13. Jahrhundert noch keine feste Bedeutung besitzt. ” Parlament“ kommt von parler“ , und der Begriff kann für nahezu jede ” ” Unterredung oder Beratung stehen: für ein Gespräch von Mönchen im Kreuzgang, für eine Unterredung des Königs mit seinen Vasallen, für eine Beratung irgendeiner Art. Synonyma sind colloquium, consilium, concilium, tractatus15 . Was wir mit modernen Parlamenten verbinden – Gesetzgebungskompetenz, Gewaltenteilung, Regierungskontrolle, Repräsentativität, Wahlen –, das darf man in die frühen Parlamente nicht hineinprojizieren. Sie sind primär mit der Klärung rechtlicher und administrativer Fragen befasst, weniger deliberierend als verwaltend tätig. Die Gewaltenteilung ist noch nicht erfunden. Die erste Definition des Parlaments – sie stammt von einem Autor, der unter dem Pseudonym Fleta um 1290 herum schreibt – lautet: habet enim rex curiam in consilio suo in parlamentis suis“ (lib. II., c. 2). ” Curia–consilium–parlamenta, in dieser Definition ist noch alles ungeschieden beieinander: die Judikative in der curia, die Exekutive im consilium, die Legislative“ – sit venia verbo – in den parlamenta, alle vereint als seine“ , ” ” des Königs, Institutionen. Ins Parlament wird man nicht gewählt, man wird geladen. Ist man ein großer Baron, individuell, ist man ein niederer Vasall, summarisch durch den Sheriff. Im Parlament zu sein ist noch kein gesuchtes Privileg. Ganz im Gegenteil! Es ist eine lästige Pflicht. Wer nicht kommt, erhält eine Buße. Allein zwischen 1290 und 1327 finden 34 Parlamente (colloquia) statt. Wer da jedes Mal hätte teilnehmen wollen, hätte 34-mal reisen und wochenlang von zu Hause abwesend sein müssen, ganz zu schweigen von jenen Vasallen, mit denen der Monarch ein Hühnchen zu rupfen hat. Ihr Interesse, anwesend zu sein, ist verständlicherweise gering. Bis in das 16. Jahrhundert hinein pflegen sich Minister für die Ladung des Parlaments zu entschuldigen. Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, was Sir Thomas Smith 1560 äußert. Er sagt: What can a ” commonwealth desire more than peace, liberty, quietness, little taking of their money, few parliaments” (Pollard 2 1926, 2116 ; Maitland 1970, 13217 ). In den frühen Parlamenten gibt es kein Rede- und kein Fragerecht. Die Forderung nach freier Rede wird erstmals von Thomas Morus am 18. März 1523 erhoben. In einer hinreißenden, teil humorvollen, teils gewagten Rede erklärt er sich erst einmal für unfähig, vor dem König überhaupt zu sprechen. Das sei so, als ob wieder einmal Phormio den Hannibal über 15 Madicott 2010, 454 ff. 16 Pollard 2 1926, 21. 17 Maitland 1970, 132.

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die Kriegskunst belehren wolle (vgl. Cicero, De oratore 18, 75). Sollte er etwas Nicht-Genehmes äußern, sei keine Beleidigung gemeint. Zwar sei das Parlament eine gediegene Versammlung weiser Männer. Aber nicht alle seien gleich weise und nicht jeder verstehe es, gut zu reden. Die Bereitschaft, sein Herz auszuschütten, werde jedoch wachsen, wenn jedermann sprechen könne, ohne Furcht vor königlichem Missvergnügen haben zu müssen18 . Es existierte zunächst kein Recht auf freie Rede. Es gab auch kein Recht, auf Fragen eine Antwort zu erhalten. Was sich einbürgerte, war eine Art Junktim von Petition–Steuerbewilligung–Statut. Man kann sich das etwa so vorstellen: Der council trägt dem Parlament das Geldbedürfnis des Monarchen vor. Aus dem Parlament kommt eine Petition, die um die Behebung von Missständen ersucht. Nun wird verhandelt. Wenn dies gelingt, erhält der Monarch seine Extra-Steuern, den Bittsuchenden wird ein Statut gewährt. Um die Steuern auf eine breite Basis zu stellen, werden in der Zeit Edwards I. auch Repräsentanten der Grafschaften, also Ritter, sowie Repräsentanten der Städte und der boroughs, also Bürger, geladen. Damit sind die commons, die communitates, im Parlament vertreten. Um sich der Verbindlichkeit der Zusagen vergewissern zu können, verlangt der König von den Abgeordneten, dass sie plena potestas, eine Vollmacht, vorweisen (Pollard19 ; Edwards20 ). Der König gewinnt dadurch die Sicherheit, dass er sein Geld bekommt. Das Parlament gewinnt einen Machtzuwachs. Bis zu einem freien Mandat ist es allerdings noch ein weiter Weg. Edmund Burke muss es noch in seiner Wahlkampfrede in Bristol im Jahre 1774 verteidigen.

II. Model Parliament“ (1295) und ” quod-omnes-tangit“ -Regel ”

Edward I. lädt 1295 zum Parlament. Da er auch Ritter und Vertreter der Städte und Flecken einlädt, wird dieses Parlament das Model Parliament“ ” genannt. Der Begriff kann einen falschen Eindruck erwecken. Es besteht damals keinerlei Recht der Kommunitäten, geladen zu werden. Auch nach 1295 werden sie mal geladen, mal nicht. Andererseits ist es bedeutsam, dass, 18 Roper 1986, 32 f. 19 Pollard 2 1926, 132. 20 Edwards 1970, 136–149.

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wenn die Kommunitäten geladen werden, nicht mehr eine rein feudale Versammlung existiert, sondern eine Verbindung nach unten geschaffen wird. Die Ladung zum Parlament versieht Edward I. mit der Formel quod ” omnes tangit ab omnibus approbetur“ . Diese Formel wird außer von Edward auch von Friedrich II. 1244 oder von Rudolf von Habsburg 1274 für die Ladung zu Reichstagen verwendet. Auch Ladungen zum Kronrat in Spanien oder zu den Cortes in Portugal werden mit dieser Regel geschmückt21 . Marsilius und Ockham bedienen sich der Formel, um dem Kaiser gegen den Anspruch des Papstes auf Vollgewalt zu Hilfe zu eilen22 . Cusanus setzt sie für seinen Konziliarismus ein. Die Regel Quod omnes tangit“ stammt aus dem Codex Justinianus, wo ” sie eine nur marginale Bedeutung besitzt (V, 59, 5, 2). Sie bezieht sich dort auf eine Vormundschaft, die, nachdem sie gemeinsam ausgeübt wurde, auch gemeinsam aufgelöst werden muss. Der Grundsatz wandert aus dem römischen Recht in das Kirchenrecht, etwa in den liber sextus Bonifaz’ VIII. Ab dem 13. Jahrhundert wird er für alle möglichen politischen und kirchenpolitischen Interessen verwendet. Marongiu lässt sich von der schönen Regel zu dem Ausruf hinreißen: Kann es […] eine klarere Definition ” von Demokratie geben?“ (1980, 196). Dass das, was alle betrifft, die Zustimmung aller finden sollte“ , ist ein Satz ” von großer Evidenz. Wenn Edward I. ihn für die Ladung zum model parliament benutzt, dann hat dies mit einer frühdemokratischen Gesinnung des Königs allerdings nichts zu tun. Das Interesse des Monarchen an dieser Formel speist sich wohl eher aus deren Verbindung mit dem Notstand. Auch Ockham, dessen Nominalismus sowieso zum Ausnahmefall tendiert, ist wegen des Notfalles an der Formel interessiert. Im Not- und Ausnahmefall gilt nicht, was regulariter gilt. Edward I. kann, wenn er diese Formel verwendet, folgendermaßen argumentieren. Er kann sagen: Ein Notfall ist da. Ein Notfall betrifft alle. Ergo sind Extra-Steuern gerechtfertigt, die im Regelfall, im Normalfall, nicht zu fordern wären.

21 Marongiu 1980, 183–211. 22 Speck 2009.

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III. Der Modus Tenendi Parliamentum“ (1320) und ” das Statute of York“ (1322) ”

Zeugnisse des frühen Parlamentarismus sind der Modus Tenendi Parliamentum und das Statute of York. Beide bieten Beispiele, nicht für eine rückwärtsgewandte, sondern für eine vorwärtsgewandte Prophetie. Sie erwecken den Eindruck, als ob die Gesetzgebung des Monarchen schon um 1320 herum auf die Einwilligung aller Stände angewiesen gewesen wäre. Daran sind Zweifel erlaubt. Der Modus ist ein Manuale, ein Handbuch, das sich in juristischen Texten gefunden hat und vermutlich der Feder eines rechtskundigen Schreibers entstammt. Dieser Schreiber ist kein politischer Kopf. Machtfragen thematisiert er nicht. Sein Interesse gilt nur Prozeduren und Formalien. Dann gibt er auch wieder Urteile ab, die eher Wunschvorstellungen als Beschreibungen sind. Untersucht werden von ihm nicht einzelne, sich damals stark voneinander unterscheidende Parlamente. Vielmehr geht der Autor summarisch vor. Auch wählt er aus einzelnen Parlamenten das aus, was ihm in seine Vorstellungen von einem Parlament passt. In der Präambel behauptet er, es habe schon vor der Normannischen Eroberung Parlamente gegeben, ein Satz, der bereits Zweifel an seiner historischen Kompetenz weckt. Im Kapitel XXIII Concerning Aids“ ” schreibt er: It must be understood that two knights who come to parliament ” for the shire, have a greater voice in granting and denying than the greatest earl of England, and in the same manner the proctors of clergy … have a greater voice in parliament than the bishop himself” 23 . Das klingt nach einer bereits erstaunlichen Macht der commons. Die pro-parlamentarische Tendenz wird sogar noch gesteigert. Der Monarch, so heißt es, könne Parlament halten ohne Bischöfe und Magnaten, so sie nur geladen worden seien. Es könnten jedoch keine Parlamente stattfinden, wenn die communities fehlen würden. Die Praxis entsprach dieser Behauptung nicht. Der Autor eilt seiner Zeit voraus. Das Statute of York, das etwa aus derselben Zeit stammt wie der Modus, verblüfft durch seinen Schlusssatz. Dort heißt es: Matters which are to be ” established for the Estate of our Lord the King and his Heirs, and for the Estate of the Realm and of the People, shall be treated, accorded and established in Parliaments by our Lord, the King, and by the Assent of Prelates, Earls, and Barons, and the commonalty of the Realm, according as it hath been heretofore accustomed” (Has23 Pronay/Taylor 1980, 89.

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kins24 ; Lapsley25 ). „Commonalty of the Realm“ – was will das Statute damit sagen? Besitzen die commons nun schon ein Recht, an der Gesetzgebung beteiligt zu sein? Ich schließe mich der Meinung von Haskins (1935) an, dass es damals um etwas anderes ging. Die Barone hatten ca. ein Jahrzehnt zuvor versucht, dem König einen Rat von 21 Lord Ordainers aufzuzwingen. Es war einer der vielen Versuche – analog zum Art. 61 der Magna Carta oder zu den Provisions of Oxford – die Prärogative des Königs zu brechen und ihn quasi unter Kuratel zu stellen. Das Parlament von York widerrief die Ordinances und stellte die Prärogative des Königs wieder her. Es war one of the most complete vindications of the royal power and the prerogative in ” the century“ (Haskins)26 . Die commons waren an der Gesetzgebung erst ab Mitte des 15. Jahrhunderts beteiligt. Bis dahin ist ihre Rolle undefiniert“ , ” und man darf wohl sagen, auch zweitrangig.

IV. Fortescue: dominium politicum et regale“ (ca. 1470) ”

Wenn wir von der Spurensuche der Anfänge in das 15. Jahrhundert springen, finden wir ein schönes Beispiel für den Versuch, die Eigentümlichkeit des englischen Herrschaftssystems auf den Begriff zu bringen. Der wichtigste politische Denker Englands ist in diesem Jahrhundert Sir John Fortescue, der Chief Justice Heinrichs VI. Er verfasst De laudibus legum Angliae und The Governance of England (1470 bzw. 1471). Fortescue kommt aus der aristotelisch-thomistischen Tradition. Er erkennt das Grundproblem, dass die Englische Verfassung in den Begriffen der klassischen Staatsformenlehre nicht unterzubringen ist. Einerseits ist England eine Monarchie. Ein Monarch hebt sich aus der Gleichheit der Bürger heraus. Er verwirft das Regieren und Sich-Regieren-Lassen“ , das nach Aristoteles das Kennzeichen ” der politischen“ , der abwechselnden Herrschaft ist. Mit dem Parlament ” wiederum scheint die Englische Verfassung aber auch ein Element der politischen“ Herrschaft im Sinne des Aristoteles zu besitzen. Um die ge” gensätzlichen Tendenzen vereinen zu können, findet Fortescue die Formel dominium politicum et regale“ . ” Der englische Monarch herrscht nicht monarchisch, sondern poli” tisch“ . Er herrscht plurium dispensatione regulatum“ (de natura I, 26; de ” laudibus cc. 9–13). Was bedeutet hier dispensatio“ ? Die neueste englische ” 24 Haskins 1935, 94 f. 25 Lapsley 1913, 118–124. 26 Haskins 1935, 94 f.

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Übersetzung gibt die Formulierung wieder mit regulated by the administra” tion of many“ 27 . Die Übersetzung wird dem aristotelischen Geist der Formulierung nicht ganz gerecht. Zwar kann dispensatio“ zu Administration ” und Wirtschaftsverwaltung tendieren. Der Akzent liegt bei Fortescue aber wohl mehr auf der (freilich sehr undeutlich bleibenden) Beteiligung der Vielen. Für Aristoteles ist die Stadt bekanntlich eine Vielheit, nicht die von Platon gesuchte strenge Einheit. Gesetze gelten nach Fortescue kraft der Autorität des Königs und kraft der nicht näher spezifizierten dispensatio der plures. Der politisch“ herrschende Monarch herrscht nicht willkürlich, ” sondern gesetzlich. Auch seine Richter halten sich an das law of the land“ , ” selbst wenn der König etwas anderes befiehlt (de natura I, 26). Als Gegenbild des englischen Monarchen fungiert der französische. Er herrscht willkürlich, entsprechend der römisch-rechtlichen Maxime quod principi ” placuit legis habet vigorem“ (de laudibus c. 9, cc. 12–19). De laudibus ist ein Fürstenspiegel, in dem Fortescue versucht, dem eigentlich nur an militärischen Übungen interessierten Prinzen Edward die Vorzüge einer gesetzlichen Herrschaft zu demonstrieren. Das politische Regiment, so Fortescue, sei nicht weniger effektiv als das rein monarchische. Der politische Körper – Fortescue umschreibt ihn als ein corpus ” mysticum“ – sei ein Organismus mit dem König als Haupt. So wenig das Haupt die Sehnen und Nerven ändern könne, so wenig könne der Monarch die Gesetze willkürlich ändern (de laudibus c. 13). Die Gesetze binden im Sinne von lex a legando (de natura I, 30). Fortescues Deutung der Englischen Verfassung bleibt vage, was die Form der Beteiligung an der Herrschaft angeht. Dies liegt an den historischen Beispielen, die er für das politische Regiment aufführt. Er bietet dafür nicht nur einschlägige Beispiele auf wie Aristoteles, Ciceros Definition von populus oder das republikanische Rom. Er greift auch zurück auf die Geschichte Israels oder auf Augustus. 500 Jahre sei Rom politisch regiert worden, dann habe Caesar den Versuch gemacht, eine Kaiserherrschaft zu errichten. Augustus jedoch habe königlich und politisch regiert. Er habe den Senat konsultiert und ad plurium usum“ geherrscht (de natura ” I, 26; Governance c. 16). Eine äußerst freundliche Deutung dieses Wolfs im Schafspelz.

27 Fortescue 1997, 128.

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V. Sein und Schein der Parlamentsherrschaft nach der Glorious Revolution“ (1688) ”

Glorious Revolution und Settlement Act (1701) gelten als Sieg des Parlaments über die Krone. Seit 1688 und 1701 scheint das Parlament alles“ zu kön” nen. Man spricht von Parlamentssouveränität“ (Dicey)28 . Das Parlament ” beansprucht nun das Recht, Gesetze nach Belieben zu machen und außer Kraft zu setzen. Es möchte nun so unumschränkt herrschen, wie es absolutistische Könige zu tun versuchten. Es verlängert sich selbst seine Amtszeit (im Septennial Act), es legt die Thronfolge fest. Die zwischen Parlament und Krone strittigen Fragen werden allesamt zugunsten des Parlaments entschieden. In der Whiggistischen Geschichtsdeutung, wie sie Macaulay in seiner hinreißend geschriebenen History of England (1848–1861) populär gemacht hat, treibt die englische Geschichte auf die Glorious Revolution zu, eine konsequente Entwicklung von der Magna Carta zu 1688, sich noch einmal konsequent fortsetzend in den Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts. Der Führer der parlamentarischen Opposition in der Mitte des 17. Jahrhunderts, Edward Coke, hatte sich in der Tat auf die Magna Carta und das common law berufen. Band II von Cokes Institutes of the Lawes of England (1642) war als ein Kommentar zur Magna Carta angelegt, wobei Coke selbstverständlich davon ausging, dass die Carta nicht Rechte nur für Barone, sondern Rechte für jedermann erstritten habe. Coke löste die Carta aus ihrer Zeit, nicht anders als es all jene tun, die sie als einen Vorläufer der Menschenrechtserklärungen behandeln. Die Bill of Rights, die als eine Art Wahlkapitulation für William und Mary fungierte, nahm dem Monarchen das Recht auf Suspension und Dispensation von Gesetzen; sie nahm ihm die Möglichkeit, in Friedenszeiten ein stehendes Heer zu unterhalten; Petitionen wurden ein Recht, bei dessen Ausübung Parlamentarier kein impeachment mehr zu befürchten hatten; das Parlament gewann die Freiheit der Rede und die Ungestörtheit seiner Prozeduren; exzessive Kautionen und Strafen wurden verboten; Parlamente sollten regelmäßig einberufen werden, nach dem Triennial Act (1694) alle drei Jahre. Zweifelsohne, das Ende des Jahrhunderts ist die Geschichte eines Sieges. Dieser Geschichte lässt sich jedoch eine Gegenrechnung präsentieren. Wer hat die sieben Aristokraten, die Wilhelm von Oranien ins Land riefen, ermächtigt, dies zu tun? Wer hat sie ermächtigt, eine Entscheidung für 28 Dicey 1881, 8 1924, 37 ff.

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Millionen von Engländern zu fällen? Im Grunde war die Glorious Revolution der Sieg einer und nur einer Partei des religiösen Bürgerkrieges. Die Katholiken hatten verloren. In Whiggistischer Sicht war dies ein Sieg nicht nur des Protestantismus, sondern der Freiheit zugleich. Er ging allerdings Hand in Hand mit einer Unterdrückung der Verlierer. Schon die 1660 restaurierte Monarchie war auf den Anglikanismus verpflichtet worden. Der Settlement Act von 1701 legte die protestantische Thronfolge fest. Katholiken und Dissenters waren von den Ämtern und vom Unterhaus ausgeschlossen. Katholiken erhalten Zugang zum Parlament erst durch den Catholic Emancipation Act von 1829; der erste Quäker sitzt erst 1832 im Unterhaus; Juden steht es erst seit 1858 offen, seit durch den Jewish Relief Act aus dem oath of allegiance die Worte on the true faith of a Christian“ ” ausgelassen werden konnten. Es ist ein Irrtum, zu meinen, die Glorious Revolution habe König und Adel auf einen Schlag entmachtet. Sie bleiben auch weiterhin für die Politik bestimmend. Krone und Landadel können ihren Einfluss durch ein System der Patronage sichern. Die Krone kann Hunderte von Ämtern vergeben. Sie kann das Kabinett bestimmen. Der Monarch kann das Oberhaus mit neuen peers überfluten, die in seinem Sinne abstimmen. Das Unterhaus ist zu einem großen Teil von der Aristokratie abhängig. Dies erklärt sich vor allem dadurch, dass England bis ins 19. Jahrhundert hinein am alten Modell der Vertretung der Kommunitäten und Grafschaften festhält. Diese haben ein erstaunliches Beharrungsvermögen, und es entsteht ein System, das jeder Repräsentativität Hohn spricht. Die Zahl der Wähler ist für dieses System völlig irrelevant. Berühmt ist das Problem der sogenannten rotten boroughs. Rotten boroughs sind ehemals blühende, nun aber verfallene Flecken und Gemeinden. Exemplarisch ist Old Sarum. Es besteht zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur noch aus drei Häusern und elf Wahlberechtigten. Es hat gleichwohl Anspruch auf zwei Sitze im Unterhaus, während aufstrebende Großstädte mit Hunderttausenden von Einwohnern keine Abgeordneten stellen dürfen. Rotten boroughs sind oft pocket boroughs“ . Ein Magnat hat einen solchen borough in der Tasche. Er ” gehört ihm. Die Wähler sind seine Pächter, und wenn dies nicht ausreicht, dass sie sich für seinen Kandidaten entscheiden, dann kann er sie mit Bier und kleinen Geldgeschenken zur erwünschten Stimmabgabe ermuntern. Von Wahlkämpfen kann keine Rede sein. Das Ergebnis steht von vornherein fest. Dass sich der Kandidat den Wählern überhaupt zeigt, ist eine freundliche Geste oder Zeichen eines Restes von Anstand. Mancher Magnat besitzt mehrere solcher boroughs. Sie werden vererbt, und so kann es

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geschehen, dass der Vater im Oberhaus und der Sohn zur gleichen Zeit im Unterhaus sitzt. Von den 514 Abgeordneten von Wales und England werden zu Beginn des 19. Jahrhunderts 370 durch Patronage bestimmt (May)29 . Nach dem Wort von Lord Lambton sind 1831 350 Mitglieder des Unterhauses von 180 Personen ins Amt gebracht worden (Kluxen)30 . 152 Abgeordnete wurden von weniger als 100 Wählern gewählt, 88 von weniger als 50. Angesichts dieser Missstände markiert die Reform Bill von 1831/32 einen bedeutenden Wendepunkt. 57 boroughs verlieren ihren Anspruch auf zwei Sitze, 30 ihren Anspruch auf einen Sitz, fünf Großstädte werden berücksichtigt, neue Wahlkreise werden geschaffen. Die ständische Ordnung wird zugunsten einer Repräsentation nach der Zahl der Wähler verändert. Für Hegel war dies eine bemerkenswerte Abweichung vom historischen ” Recht“ . Allerdings bemängelte er in seinem Aufsatz über die Reform Bill, dass ein Übergewicht der ländlichen gegenüber den städtischen Wahlkreisen bestehen bleibe (Jubiläumsausgabe Bd. XX, 471 ff.)31 . Den entscheidenden Schlag gegen das Patronagesystem führt erst der Ballot Act von 1872 mit der Einführung der geheimen Wahl. Das 19. Jahrhundert sieht die Ausdehnung des Wahlrechts auf immer mehr Wahlberechtigte. Die Chartisten fordern ein allgemeines Wahlrecht (für Männer). Das überraschende Bündnis von Tories und Arbeiterschaft, das Disraeli zustande bringt, führt im Reform Act von 1867 fast zu einer Verdoppelung der Wählerschaft. Die Monarchie tritt nun doch ihre Macht ab an das Kabinett, an den Premierminister und an das Unterhaus. Es ist bezeichnend, dass ein Autor wie Bagehot 1867 zwischen den efficient und den dignified parts der Verfassung unterscheiden kann32 . Efficient parts sind nach Bagehot Premierminister und Unterhaus, dignified parts Oberhaus und Monarch. Das Volk meine zwar noch, dass die Macht beim Monarchen liege. Es sehe dessen Kutsche der des Premierministers voranfahren. Aber diese Ordnung entspreche nicht mehr den Machtverhältnissen. Gleichwohl ist es nach Bagehot empfehlenswert, an den dignified parts der Verfassung festzuhalten. Sie böten eine theatralische, symbolische Politikdarstellung für das Volk. Für die politische Theorie ist die Englische Verfassung eine Herausforderung. Wie soll man sie umschreiben? Fortescues dominium politicum ” 29 30 31 32

May 1896, 261 f. Kluxen 3 1985, 549. Hegel 1831, 471–520. Bagehot 1971, 49.

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et regale“ lässt die Schwierigkeit schon ahnen, und diese wird später noch deutlicher, wenn Autoren wie Hobbes oder Locke sich des Souveränitätsvokabulars bedienen, das auf England eigentlich nicht anwendbar ist. Auch die beliebten Darstellungen einer Trennung und Balance der Gewalten, wie sie Locke, Montesquieu, Bolingbroke u. a. geschrieben haben, treffen das System nur ungenau. Die Gewalten sind nur unvollkommen getrennt. Der König ist king in parliament“ ; die Praerogative bleibt, selbst für einen ” Autor wie Locke, bestehen (Second Treatise § 164); das Oberhaus ist lange Zeit noch ein Gerichtshof; die Richter sind Richter des Königs. Naheliegend scheint es, England als eine Mischverfassung zu deuten. Charles I. hat es als Antwort auf die Nineteen Propositions noch kurz vor dem Ausbruch des Bügerkrieges getan. Harrington hatte Cromwell eine Mischverfassung empfohlen. Das Modell besaß seine Attraktivität, solange die ständische Gesellschaft bestand. John Adams hatte es noch in die Diskussion um die Amerikanische Verfassung einbringen wollen. Aber er hatte keinen Erfolg damit. Seine Defence of the Constitutions of the United States (1777/78) ist der Schwanengesang der Mischverfassungstheorie. Überblickt man die Geschichte des Englischen Parlaments von der Magna Carta bis zu unserer Zeit, stößt man auf ein Grundproblem der Geschichtsschreibung des politischen Denkens. Es entsteht ein Dokument wie die Magna Carta, und es entsteht in einem spezifischen Kontext. Aus diesem wird es gelöst und in immer neuer Verwandlung für Zwecke des Tages genutzt. Das politische Tagesinteresse und das Interesse des Historikers, zu verstehen, was war, treten auseinander. Wie soll man beurteilen, was eine legitime, was eine illegitime Beanspruchung der Anfänge ist? Der politische Pragmatiker wird darauf beharren, dass die Inanspruchnahmen möglich und erfolgreich waren. Warum an ihnen herummäkeln, wenn sie zu so schönen Resultaten wie dem Parlamentarismus führen? Der Historiker wird dagegen betonen, dass die ursprüngliche Bedeutung von späterer Inanspruchnahme zu unterscheiden ist und dass die politische Instrumentalisierung keinen Anspruch auf historische Angemessenheit erheben kann. Die Politik ist offenbar den Interessen zu nahe, als dass man sie selbst der Wahrheitssuche annähern könnte. Sie nimmt sich jeweils, was sie braucht. Die Historie kann auf diese Weise nicht verfahren. Sie muss versuchen zu sagen, wie es war, ob es den Interessen passt oder nicht. Sie hat dann selbst noch das Problem, den garstigen Graben der Zeit“ über” springen zu müssen. Dies kann misslingen, wenn das zeitgenössische Vorurteil die Deutung dominiert und nicht an der Vergangenheit relativiert wird. In diesem Fall gerät die Historie selbst in den Sog der politischen

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Interessen des Tages. Sie verliert, was ihre eigentliche Rolle ist, in Distanz zum Zeitgeist und Abstand haltend zur politischen Instrumentalisierung zu sagen, was war.

Anhang: Eröffnung des Parlaments am 15. April 1523

Abbildung. Albert Frederick Pollard, The Evolution of Parliament, London 1926 (Frontispiz)

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Die Zeichnung stammt vom Wappenherold John Anstis. Pollard (2 1926) verwendet sie als Frontispiz seines Buches. Gezeigt wird die Eröffnung des Parlaments am 15. April 1523. Als Monarch regiert damals Heinrich VIII. Er ist ganz oben auf seinem Thron unter einem Baldachin sitzend zu sehen. Sprecher des Unterhauses ist damals Thomas Morus. Er ist als stehende Person unten im Bild. Was dem Betrachter sofort ins Auge springt, ist die herausragende Stellung des Monarchen. Er scheint nicht nur king in“ parliament zu sein. ” Vielmehr scheint das Parlament sein Parlament zu sein. Das äußere Viereck lässt noch den Council des Königs erkennen: die Bank rechts von ihm ist besetzt mit Bischöfen, hinter denen in zweiter Reihe die Äbte sitzen. Auf der gegenüberliegenden Bank die Earls, erkennbar an den vier Streifen auf ihren Roben. Auf der unteren Querbank die Barone, die zwei Streifen auf der Robe tragen. Das innere Viereck bilden die Wollsäcke, deren höchster für den Kanzler bestimmt war. Auf ihm sitzen offenbar zwei Richter, so wie links und rechts Richter zu sitzen scheinen. Die knieenden Figuren hinter dem unteren Wollsack sind die Schreiber, der Schreiber des Parlaments und der Schreiber des Königs. Ganz unten sind die commons zu sehen, deren Sprecher Morus ist. Geht man zurück an den oberen Bildrand, sieht man zur rechten Hand des Königs den Kardinal Wolsey und den Erzbischof von Canterbury mit ihren Wappen und zwei Kreuzträgern, links vom König wohl wieder zwei Räte und eine Schar junger Peers, vor denen der Wappenherold steht. Vor der Bank des Königs drei Earls, die diverse Herrschaftssymbole tragen.

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Von Machiavelli zu Bodin – Der Verlust der politischen Partizipation im 16. Jahrhundert? Stefano Saracino Das 16. Jahrhundert genießt, was die ideen- und realgeschichtliche Entwicklung der politischen Partizipation in Europa anbelangt, einen schlechten Ruf. Blickt man auf philosophie- und ideengeschichtliche Abhandlungen zu diesem Jahrhundert, das die Grundlagen schaffen sollte für den Siegeszug der Monarchie absolutistischer Prägung in Europa, stößt man auf eine Historiographie, die starke Züge einer Verlustgeschichte trägt. In Maurizio Virolis Studie From Politics to Reason of State, die sich mit den Veränderungen der politischen Sprache im italienischen Quattro- und Cinquecento befasst, wird dies anhand einer radikalen Veränderung der Semantiken und Begrifflichkeiten des Politischen rekonstruiert1 . Diese Veränderung wird als Übergang von der „language of politics as the art of the city“ oder als „art of good government“ zur „language of reason of state as the art of the state“ umschrieben. Dieser Wandel ließe sich, so Viroli, sowohl in der veränderten Bedeutung überkommener Begriffe (etwa „Politik“) fassen als auch in der Entstehung neuer zentraler Begriffe wie „Staat“, „Souveränität“ und „Staatsräson“. Historischer Hintergrund dieses Umbruchs und der grundlegenden Veränderung der politischen Sprache sei die Entstehung des neuzeitlichen Staates in Gestalt der absolutistischen Zentralmonarchie. Bereits Dolf Sternberger begreift in seinen Drei Wurzeln der Politik2 die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts als den Entstehungszeitraum eines neuen, zweiten Begriffs der Politik, der vom politischen Denken in Italien und Frankreich ausgehend zur aristotelischen Politologik in Konkurrenz tritt und maßgeblich durch die Rezeption von Machiavellis Principe und die Debatten um Machiavellismus und Antimachiavellismus geprägt wurde. Im Gegensatz zum aristotelischen handle es sich jedoch um einen negativen, pejorativen Begriff der Politik, da Politik nun so verstanden werde, dass sie auf Macht, Gewalt und List gründe sowie durch die skrupellose 1 2

Viroli 1992. Sternberger 1978, 247–256.

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Verfolgung von Herrschaftsinteressen charakterisiert sei. Dass der Aspekt der Partizipation für den aristotelistischen Standpunkt Sternbergers zentral ist, zeigt sich nicht nur daran, dass er die Genese dieses neuen (zweiten) Politikbegriffs mit der der frühneuzeitlichen Fürstenherrschaft nahestehenden Machiavellismusdebatte in Verbindung bringt. Entfaltet sich diese Debatte doch unter radikal anderen Voraussetzungen der Partizipation gegenüber dem antiken und mittelalterlichen Aristotelismus. Vielmehr ließe sich auch an die Arbeiten Sternbergers denken, die sich mit der Begriffsgeschichte der „Demokratie“ befassen. Sternberger sieht die Einführung des Repräsentationsprinzips in Folge der Großen Revolutionen als Ursache für die Schieflage, in die die neuzeitlichen Demokratien geraten sind, weil in ihnen ein grundsätzlicher Widerspruch bestehe zwischen dem normativen Anspruch demokratischen Regierens und dem faktischen Grad an politischer Partizipation. Sternberger wird dabei nicht müde auf die Wurzeln des Repräsentationsprinzips hinzuweisen: Die ständisch-korporativen Vertretungsorgane im feudalen Herrschaftssystem3 . Auch wenn Hannah Arendt sich in Vita activa keiner präzisen Chronologie bedient, ist ihr Standpunkt zur Entwicklung der Voraussetzungen politischen Handelns in der Neuzeit mit den bisher beschriebenen Positionen kongenial. So versteht Arendt die Neuzeit als Epoche, in der das antike Verständnis politischen Handelns als „Miteinander-Reden“ und „Miteinander-Handeln“ einer Bürgergemeinschaft endgültig ersetzt wird von einem konventionalistischen Handlungsmodell des „Sich-bloßVerhaltens“, des Sich-Anpassens an die Herrschaft des Mittelmaßes in der Massengesellschaft. Treibende Kraft dieses Wandels ist laut Arendt die sukzessive Ökonomisierung des politischen Bereichs, die die Menschheitsgeschichte in der Neuzeit und in der Moderne kennzeichne und das Menschsein, die Dignität des Menschen als politisches Lebewesen infrage stelle. Arendt thematisiert hierbei die Verschmelzung des höfischen Hausstandes mit dem staatlichen Haushalt und Regierungsapparat im absolutistischen Staat. Diese habe einen maßgeblichen Anteil an der Umkehrung der ursprünglichen Bedeutung der häuslich-ökonomischen und andererseits der politischen Kategorien menschlichen Tuns und Seins4 . 3 4

Sternberger 1990, 165–172. Arendt 1981, 38–46: „Zwar hat das monarchische Prinzip der Ein-Herrschaft, das die Antike für die typische Organisationsform des Haushalts hielt, sich innerhalb der modernen Gesellschaft – die nicht mehr, wie in den Anfangsstadien ihrer Entwicklung, von dem höfischen Haushalt des absoluten Königtums repräsentiert wird – insofern gewandelt, als in der Gesellschaft gerade niemand herrscht oder regiert. Aber dieser Niemand, nämlich die

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Blickt man schließlich auf die republikanische Historiographie der Cambridge School, der übrigens auch Virolis Arbeiten zuzuordnen sind, ist der geschilderte Charakter einer Verlustgeschichte der politischen Partizipation im 16. Jahrhundert überdeutlich ausgeprägt. Es ist kein Zufall, dass einer der Nestoren dieser Schule, John Pocock, von Arendt beeinflusst wurde5 . Die Auffassung der frühneuzeitlichen Entwicklung politischen Denkens als Verlustgeschichte und als Vorgang, in dem die republikanische Politikkonzeption mit ihrer aristotelischen ebenso wie römischrepublikanischen Verwurzelung in die Defensive gerät, geht klar hervor aus Kapitelüberschriften wie „The Survival of Republican values“ in Quentin Skinners Foundations of Modern Political Thought 6 oder etwa aus dem Titel von William Bouwsmas Studie Venice and the Defense of Republican Liberty. Renaissance values in the Age of Counter Reformation7 . Pococks bahnbrechende Studie zur Geschichte des republikanischen Denkens in Europa und in Amerika basiert ebenfalls auf der Annahme eines Niedergangs des Republikanismus auf dem Kontinent, der von ihm am Beispiel Italiens veranschaulicht wird, und seiner Wiederbelebung in England und Amerika im 17. und 18. Jahrhundert8 . Es lässt sich fragen, ob das 16. Jahrhundert hinsichtlich seiner Bedeutung in der Geschichte der politischen Partizipation den schlechten Ruf verdient, der ihm in der Forschung zugeschrieben wird. Den Ideenhistoriker sollten Großnarrative, wie sie bei vielen der bisher zitierten Autoren vorliegen, skeptisch stimmen. Es liegt in der Natur der Sache, dass diachrone Überblicksdarstellungen, wie im Falle von Sternbergers Drei Wurzeln der Politik, Arendts Vita activa und Pococks The Machiavellian Moment, idealty-

5 6 7 8

hypothetische Einheitlichkeit des ökonomischen Gesellschaftsinteresses wie die hypothetische Einstimmigkeit der gängigen Meinungen in den Salons der guten Gesellschaft regiert deshalb nicht weniger despotisch […]. Entscheidend für diese Phänomene ist schließlich nur, daß die Gesellschaft in allen ihren Entwicklungsstadien das Handeln genau so ausschließt wie früher der Bezirk des Haushaltes und der Familie. An seine Stelle ist das Sich-Verhalten getreten […]“ (ebd., 41). Zur Verschmelzung von höfischem und staatlichem Haushalt und Regierungsapparat am Beispiel Frankreichs und des Hofstaates in Versailles Elias 2002, 141–155. Zu den Konsequenzen der von Arendt beschriebenen Ökonomisierung der Politik, der Übertragung der für den oikos geltenden Herrschaftslogik auf den Staat, für die Entwicklung der neuzeitlichen Regierungsrationalität Foucault 2004, 143f. Pocock 1975, 550. Skinner 1978, 139ff. Bouwsma 1968. Pocock 1975.

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pische Simplifikationen in Kauf nehmen müssen, um zu einem schlüssigen Gesamtbild zu gelangen. Es ist daher unter anderem den Autoren der Beiträge zu verdanken, die Martin van Gelderen und Quentin Skinner 2002 in einer zweibändigen Sammelpublikation ediert haben, dass die Republikanismusforschung heute über einen differenzierteren Einblick hinsichtlich des Weiterlebens, der Kontinuitäten und Diskontinuitäten republikanischen Denkens im Zeitalter des Absolutismus, auch auf dem europäischen Festland und auch für das späte 16. und 17. Jahrhundert, verfügt9 . Auch aus einem anderen Grund sind die von mir angeführten Ansätze kritisch zu befragen. Überzeugt vom unerreichten Rang der antiken (aristotelischen oder römisch-republikanischen) Konzeption politischer Partizipation sowie von der pejorativen Entwicklung politischer Partizipation in der Neuzeit kann das Urteil Arendts, Sternbergers, Pococks und Virolis über die Frühneuzeit nur ernüchternd ausfallen. Aus methodischer Sicht ebenso problematisch erscheint es andererseits, wenn frühneuzeitliches Gedankengut an den normativen Maßstäben gegenwärtiger Politik gemessen wird und etwa nur hinsichtlich dessen demokratietheoretischer oder protoliberaler Relevanz befragt wird, was in der gegenwärtigen Politiktheorie nicht gerade selten der Fall ist: „Geschichtschreibung ist dann nichts anderes als ein Sack voller Streiche, die wir den Toten spielen“.10 Diese methodischen und wissenschaftsexegetischen Bemerkungen vorausgeschickt, möchte ich im Folgenden anhand der Positionen von Niccolò Machiavelli und Jean Bodin den Beitrag und die Stellung der italienischen und französischen politischen Theorie des 16. Jahrhunderts innerhalb einer Geschichte der politischen Partizipation klären. Um zu einem differenzierten Befund zu gelangen und den Gefahren der Simplifikationen einer diachronen Verlustgeschichte zu entgehen, erscheint es mir notwendig, den Begriff „Partizipation“ aufzufächern. So werde ich im Folgenden versuchen, die Partizipation auf drei Ebenen zu verorten, die sich in den frühneuzeitlichen Quellen unterscheiden lassen. Alle drei Bedeutungsebenen sind bereits im Mittelalter angelegt und durchlaufen einen Wandel, erlangen allerdings unter den neuen Prämissen des 16. Jahrhunderts (etwa den konfessionellen Konflikten, der Konfessionalisierung und der davon begünstigten Entstehung des Staates) eine andere Bedeutung. So liegt das Augenmerk erstens als Ausgangspunkt auf dem antikenaristotelischen Begriff der Teilhabe an der Regierung (to metechein arches, Politik 1275a22ff, was in lateinischen Übersetzungen der Politik, beispiels9 Gelderen/Skinner 2002; vgl. Koenigsberger 1988; Maissen 2007. 10 Skinner 2010, 35.

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weise in der Übersetzung von Leonardo Bruni, mit „participatio“ übertragen wird11 ), auf dem Miteinander-Reden und Miteinander-Handeln der Bürgerschaft in der polis bzw. der res publica. Allein aufgrund der rückwärtsgewandten humanistischen Gelehrtenkultur wirft dieser Begriff der Partizipation lange Schatten auf die politische Theorie und auf die Staatslehre des 16. Jahrhunderts. Zweitens ist danach zu fragen, welche Bedeutung dem (neu entstehenden) frühneuzeitlichen Staat, verstanden als System der Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigung von Familien, korporativen Gruppen, Ständen und Bevölkerungen, für eine Geschichte der politischen Partizipation zukommt. Die These lautet, dass sich im Kontext der neuen, dem neuzeitlichen Fürstenregiment nahestehenden Staatslehre eine neue Dimension der Partizipation öffnet; die Partizipation, nicht verstanden als unmittelbarer Teilhabe an der Regierung oder als weitreichende bürgerliche Selbstbestimmung, sondern als aktive wie passive Einflussnahme und Mitwirkung als Teil des Ganzen bzw. des Teils auf das Ganze; womit man sich in der Nähe der Definition von Partizipation als differentia specifica des Politischen bei Volker Gerhardt wiederfindet.12 Im Unterschied zu Gerhardts Definition des Begriffs der Partizipation, die von den Gegebenheiten der modernen liberalen Demokratie ausgeht, ist zu betonen, dass die Staatslehre des 16. Jahrhunderts freilich nicht auf der Ebene formaler juristischer Partizipationsrechte zu diesem Aspekt der Partizipation vorstößt, sondern auf der Ebene funktionaler Betrachtungen zu den (technischen) Möglichkeiten und Voraussetzungen der Stabilisierung staatlicher Ordnung sowie der Amplifikation der ihr inhärenten sozioökonomischen und politischen 11 „Civis simpliciter nulla alia re diffinitur magis q. participatione potestatis publice iudicandi et decernendi“ (Aristoteles, Politica, übers. v. Leonardo Bruni, Rom: Eucharius Silber, 1492, 61). 12 „Die systematische Frage ist also auf das Spezifikum der Politik gerichtet. […] Die Suche führt, um es gleich vorweg zu sagen, auf das Prinzip der Partizipation, in der die Menschen wechselseitig Einfluss auf einander nehmen, um im sozialen Zusammenhang mehr zu erreichen, als ihnen als Einzelwesen möglich ist. Zwar kommt es immer wieder vor, dass Einzelne möglichst alles nur für sich selber haben wollen; offenkundig ist auch, dass sich gerade politisch handelnde Menschen mit der bloßen Einflussnahme auf Natur, Gesellschaft und Geschichte nicht begnügen und möglichst alles selbst bestimmen möchten. Doch de facto gelingt ihnen niemals mehr als bloße Einflussnahme auf die Welt“ (Gerhardt 2007, 14). „Doch über sich, über seinesgleichen und über die Natur verfügt der Mensch niemals ganz. Das Äußerste, zu dem er mit Blick auf die vorgegebenen ökologischen, ökonomischen, sozialen und persönlichen Bedingungen fähig ist, ist Mitwirkung oder Mitbestimmung“ (ebd., 30).

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Kräfte; also eher aus der Perspektive der regulierenden und disziplinierenden Einflussnahme des staatlichen Ganzen auf seine Teile. Zur zirkulären Beziehung zwischen den Bedürfnislagen der Bevölkerung im Staat und der staatlichen Regulierung und Disziplinierung der Bevölkerung als Objekt des Regierens, wie sie aus dem frühneuzeitlichen Regierungsdiskurs hervortritt, meint Foucault: Zweitens tritt die Bevölkerung schlechthin als der höchste Zweck der Regierung zutage; denn was mag im Grunde genommen der Zweck dieser letzteren sein? Sicherlich nicht zu regieren, sondern das Geschick der Bevölkerungen zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer, ihre Gesundheit zu mehren. […] Die Bevölkerung erscheint als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, jedoch auch als Objekt in den Händen der Regierung. Gegenüber der Regierung ist sich die Bevölkerung bewußt, was sie will, und zugleich weiß sie nichts von dem, was man sie tun läßt. Das Interesse als Bewußtsein jedes einzelnen Individuums, das mit den übrigen die Bevölkerung bildet, und das Interesse als Interesse der Bevölkerung – ganz gleich, was die individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammen setzt, sein mögen – sind die Zielscheibe und das Hauptinstrument der Regierung der Bevölkerungen.13

Schließlich soll drittens ein Paradigma politischer Partizipation einbezogen werden, das sowohl im klassisch-antiken als auch im mittelalterlichen Denken vorformuliert wurde und eine wichtige Rolle bei Machiavelli spielt, aber ebenfalls in Bodins Denken deutliche Spuren hinterlässt. Es wird zudem in den republikanischen und monarchomachischen Widerstandstheorien entwickelt, die Machiavellis und Bodins Denken jeweils flankieren: Und zwar das Verständnis von der verbindlichen Herrschaft des Gesetzes im Gemeinwesen (mit abgestuften Geltungsansprüchen als lex Divina, als lex naturae oder lex civilis), die die Partizipation des Einzelnen im Normalfall nachrangig werden lässt und in bloße Teilnahme am Recht umwandelt, allerdings nur solange die personalen Herrschaftsträger (die mit dem imperium versehenen Magistrate) sich an die gesatzten oder aber ungeschriebenen gesetzlichen Normen halten. Partizipation wird hingegen äußerst virulent als Korrektivum, zur Behebung von Missständen und zur Abwendung von Gefahren, die die Herrschaft des Gesetzes im Staat von innen oder von außen bedrohen.

13 Foucault 2004, 158f.

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I. Das partizipatorische Verständnis des Bürgers im dritten Buch der Politik des Aristoteles stellte für frühneuzeitliche Exegeten angesichts der sich herausbildenden territorial- und obrigkeitsstaatlichen Realität eine Herausforderung dar und wurde zunehmend als anachronistisch empfunden14 . Die Problematisierung von Aristoteles’ Bürgerbegriff oder aber die Problematisierung der eigenen zeitgenössischen (monarchisch-absolutistischen) Realität sind die Folge. Ein interessantes Beispiel für letzteren Fall gibt ein kryptorepublikanischer Exkurs in Torquato Tassos Il Malpiglio overo della Corte von 1585, der Beitrag des Autors von Gerusalemme liberata zur im 16. Jahrhundert florierenden Literatur über den Hofmann. Die Gesprächspartner in Tassos Dialog stellen sich die Frage, wie der Bürger in einer Republik und andererseits der Höfling in einer Monarchie zu Ruhm und Ehre gelangen. In der Republik führe nur das Regieren und Teilhaben an politischen Ämtern (commandare) zu diesem Ziel, bei Hof hingegen müsse man es verstehen, sich unterzuordnen und dem Fürsten zu dienen (servire). Das bestimmende Verlangen nach Ehre sei in der Republik nichts anderes als ein Verlangen zu regieren: „Es ist das Verlangen, entsprechend den guten Gesetzen [buone leggi] und wie es sich für in Freiheit aufgewachsene Menschen geziemt zu regieren“. Das Verlangen nach Ehre, das den Höfling antreibe, die Gunst des Herrschers zu erlangen, sei hingegen von dienender, lohndienerischer Natur.15 Blickt man nun auf Machiavellis 14 Dazu die Untersuchung von Löther zum Bürgerbegriff im Schularistotelismus in Deutschland im späten 16. und 17. Jh.: „Aristoteles [zwang] mit seinem partizipatorischen Bürgerideal die Autoren [von Aristoteles-kommentaren, S.S.], sich mit politischen Vorstellungen auseinanderzusetzen, die zunächst im Widerspruch zu ihrer durch Territorialstaat und obrigkeitlichem Denken geprägten Gegenwart standen“ (Löther 1994, 91; vgl. 97ff.). Durch die empirische Reichhaltigkeit und theoretische Vielschichtigkeit seiner politischen Theorie ist Aristoteles jedoch auch jenseits seines partizipatorischen Bürgerbegriffs in der Frühneuzeit eine zentrale Berufungsinstanz für unterschiedliche, teils konträre Politik- und Partizipationsbegriffe, dazu Koselleck/Schreiner 1994, 14–20. 15 „FORESTIERO: Dunque il desiderar sovrano onore ne la republica altro non è che desiderio di commandare. […] GIOVANLORENZO: È desiderio di commandare secondo le buone leggi e come si conviene a gli uomini che son cresciuti in libertà: perché, s’alcuno in altra guisa tentasse di commandare, avrebbe spesso in vece d’onore l’infamia che soglion dare le republiche a’ tiranni e a gli altri usurpatori. […] FORESTIERO: Ma ’l desiderio d’onore il qual sospinge il cortigiano a la grazia del signore è desiderio di commandare o di servir più tosto? […] GIOVANLORENZO: Anzi di servire che di commandare. […] FORESTIERO: Il signor Lorenzo Malpiglio dunque, figliuolo di tanti illustri cittadini, i

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Discorsi und die darin enthaltene republikanische Lehre, die sich am Modell der römischen Republik orientiert, sind zahlreiche – wenn auch eher implizite – Anlehnungen an den aristotelischen Bürger- und Partizipationsbegriff anzutreffen. Wenn Machiavelli hier vom Bürger die Bereitschaft fordert, nach Beendigung wichtiger militärischer oder ziviler Ämter auch weniger rühmliche Aufgaben zu übernehmen, sich nach Amtsabgabe wieder in das Bürgerkollektiv einzugliedern, keimt das aristotelische Turnusprinzip bürgerlichen Regierens auf16 . In der Tradition des aristotelischen Republikanismus, der die militärische Tüchtigkeit zum Charakteristikum der Bürger in der breiten Bürgerregierung der Politie erklärt17 , steht auch Machiavellis Konzept einer auf Bürgermilizen gegründeten Republik, wobei zu betonen ist, dass die Forderung einer Bewaffnung der Bürger bzw. der Untertanen und ihrer Heranziehung im Krieg für Machiavelli in beiden Staatsformen Gültigkeit besitzt, die sein Denken prägen, der Republik und dem Fürstentum, weshalb sie sowohl in den Discorsi als auch im Principe anzutreffen ist18 . Machiavelli studiert in Discorsi I/3–6 anhand der römiquali han commandato a gli altri leggitimamente, non ha il medesimo desiderio di onore, ma desidera di servire? Essend’egli d’animo generoso, non è verisimile che, lasciato l’onor del commandare, seguisse questo che si ritrova ne la servitù, se lo splendor d’alcuna rara virtù non l’abbagliasse, o più tosto non l’illustrasse: percioché questi medesimi i quali servono a’ principi commandano assai volte ad uomini eccelenti e a signori con maggiore e più libera autorità di quella che ne le republiche è conceduta“ (Tasso, Il Malpiglio, 257). 16 „Aber es ist löblich, wenn man ebenso zu regieren wie regiert zu werden versteht, und es scheint in gewisser Weise die Tugend des Bürgers zu sein, gut zu regieren und gut regiert werden zu können“ (Aristoteles, Politik III/4, 109), vgl. Machiavelli, Discorsi I/36: „Bürger, die hohe Würden bekleidet haben, dürfen geringere nicht verschmähen”. Das einzige Aristoteles-Zitat in den Discorsi findet sich ebd. III/26, 358. 17 „Wenn aber die Menge zum allgemeinen Nutzen regiert, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politie benannt. Dies mit Recht: denn daß sich Einer oder Einige an Tugend auszeichnen, ist wohl möglich, daß dagegen Viele in jeder Tugend hervorragen, schwierig; am ehesten noch in der kriegerischen, denn diese besitzt die Masse, und darum ist auch in einer solchen Verfassung das kriegerische Element das maßgebende, und es haben diejenigen an ihr teil, die Waffen tragen“ (Aristoteles, Politik III/7, 114; s. III/12, 123). 18 Machiavelli, Principe, Kap. XII und XIII; Discorsi I/43 und II/10; s. Pocock 1975, 200ff. Sternberger (1978) stellt heraus, dass Machiavelli im Principe im Bewusstsein seines Bruchs mit der aristotelischen Tradition auf aristotelische Begriffe und Semantiken (etwa politico, civile, cittadino, tiranno) verzichtet; vgl. Rubinstein 1978 und Viroli 1992, 128ff. Sternberger übersieht allerdings Ausnahmen, so etwa die Konzeption des principato civile: „Solche Fürstenherrschaften [principati civili, S.S.] pflegen in Gefahr zu geraten, wenn sie den Sprung von der gemäßigten bürgerlichen zur absoluten tun [dallo ordine civile allo assoluto]“ (Machiavelli, Principe IX, 81). Vgl. eine

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schen Ständekämpfe des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. den Kausalzusammenhang zwischen der Bewaffnung der Bürger, selbst des niederen Volkes, und deren Beteiligung an der Herrschaft. Die Einführung demokratischer Elemente in der römischen Mischverfassung betrachtet er als unmittelbares Resultat der Beteiligung des Volkes am Kriegsdienst. Eine entscheidende Lehre aus der Geschichte lautet für ihn, dass man den römischen Weg einer partizipatorisch offenen und zum popolo neigenden Republik dem partizipatorisch geschlossenen Modell einer Adelsrepublik nach spartanischem oder venezianischem Vorbild vorzuziehen hat. Seine Begründung dieser Präferenz bemüht wohlgemerkt eher machttheoretische oder ruhmesethische Argumente und vernachlässigt den freiheitstheoretischen Aspekt der Frage: Es geht ihm in dieser Passage primär um die Größe und den Ruhm des römischen Imperiums, die von motivierten Bürgersoldaten erkämpft wurden19 . Machiavelli kennzeichnet in seinen politischen und historiographischen Schriften die gute und zur Freiheit fähige Regierungsform mit den Schlüsselbegriffen vivere libero, vivere civile und vivere politico. Das Verbalnomen „vivere“ verweist dabei auf den gedanklichen Rückgriff des Florentiners auf die antike Konzeption der politischen Lebensform (des bios politikos). Er qualifiziert in der Regel eine Lebensform des Bürgers in der Republik, die auf der Ausübung ziviler und militärischer Ämter und Aufgaben begründet ist. Allerdings geht aus einer Analyse dieser Begriffe und vor allem des Begriffs vivere politico in den Discorsi eindeutig hervor, dass Machiavelli diese nicht ausschließlich über den Aspekt der Teilhabe an politischen Ämtern bestimmt, sondern ebenfalls über die Herrschaft des Ge-

ähnliche Vermengung alter und neuer politischer Semantiken an einer Stelle, wo Machiavelli in einem Zug von den Bürgern (cittadini) und Untertanen (sudditi) eines Fürsten spricht, s. ebd. XVII, 131. 19 „Ich behaupte, daß jeder Staat die ihm eigenen Mittel und Wege haben muß, dem Ehrgeiz des Volks Luft zu machen, besonders aber die Staaten, die sich bei wichtigen Dingen des Volks bedienen wollen. So war es in Rom üblich, daß das Volk, wenn es ein Gesetz durchsetzen wollte, entweder die oben genannten Mittel anwandte oder den Kriegsdienst verweigerte, so daß man es zur Besänftigung wenigstens teilweise zufrieden stellen mußte“ (Machiavelli, Discorsi I/5, 20); „Da man also nach meiner Meinung das Gleichgewicht nicht erhalten und den Mittelweg nicht genau einhalten kann, muß man bei der Einrichtung eines Staatswesens darauf bedacht sein, was größeren Ruhm bringt, und dem Staat eine Verfassung geben, die ihn in den Stand setzt, sich zu vergrößern, wenn es die Notwendigkeit fordert, und zu erhalten, was er erobert hat. Um auf meine erste Erörterung zurückzukommen, halte ich es für nötig, die römischen Einrichtungen und nicht die der anderen Staaten [Sparta, Venedig] nachzuahmen, da ich nicht glaube, daß sich ein Mittelding zwischen beiden finden läßt“ (ebd. I/6, 28).

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setzes im Gemeinwesen, weshalb auch monokratische Herrschaftsformen, beispielsweise die von Machiavelli wegen der Geltung der Gesetze gewürdigte französische Monarchie mit diesem Attribut versehen wird20 . Der Rückgriff auf die römisch-republikanische Tradition und den in ihr ausgeprägten Bürgerbegriff, der die Teilhabe am Recht und die Rechtssicherheit vor die unmittelbare Herrschaftsausübung durch den Bürger stellt, ist hierfür wichtig, aber dazu später mehr. Für den Augenblick ist festzuhalten, dass Machiavelli in den Discorsi vor dem Hintergrund der republikanischkommunalen Tradition und Verfassungsrealität in der näheren italienischen und florentinischen Geschichte des Tre-, Quattro- und Cinquecento ein partizipatorisches Bürger- und Politikverständnis ausprägt. Dieses sollte allerdings aufgrund der bevorstehenden historischen Entwicklungen im Nachhinein (und eigentlich schon auf Zeitgenossen wie Francesco Guicciardini) anachronistisch wirken, weshalb die theoretische Erfassung und moralische Entgrenzung fürstlicher Herrschaft aus Machiavellis Principe diskurs- und wirkungsgeschichtlich gesehen die eigentlich wegweisende Lehre des Florentiners beinhaltete. Auch für Bodin ist sie zusammen mit den Lehren der Monarchomachen primärer Stein des Anstoßes21 . Der Bedeutungsverlust des aristotelischen partizipatorischen Politikverständnisses zeigt sich bei Bodin bereits in dessen Staatsdefinition22 . Mit der Souveränität stellt Bodin zudem ein Definitionselement in den Mittelpunkt, das ganz im Gegensatz zu Aristoteles’ partizipatorisch begründeter Auffassung der Regierung in der Polis unabhängig von der Größe des Territoriums und der Bevölkerung Gültigkeit besitzt, weshalb Aristoteles’ Vorbehalte gegen Riesenreiche wie das der Babylonier bei ihm auf völliges Unverständnis stoßen23 . Das Verständnis des Staates über die 20 Ebd. I/16, 59f.; I/25, 78; I/58, 149. 21 Siehe die antimachiavellistische Pointe in Bodins Vorwort der Six livres. Dort heißt es, „daß Machiavelli nie begriffen hat, worum es bei der politischen Wissenschaft geht, deren Wesen nicht in tyrannischen Ränkespielen besteht, nach denen er in jedem Winkel Italiens Ausschau gehalten hat und die wie süßes Gift sein Werk über den Fürsten füllen“ (Bodin, Rep., Vorwort, 95). 22 Bodin definiert den Staat als „un droit gouvernement de plusiers mesnages, et de ce qui leur est commun, avec pussance souveraine“ (ebd. I/1). 23 „ [S]o ist auch ein Staat ohne souveräne Gewalt, die all seine Glieder und Teile, alle Familien und Kollegien zu einem einzigen Körper verbindet, kein Staat mehr. […] [U]ngeachtet dessen, daß Aristoteles von der Stadt Babylon, die man in nur drei Tagesreisen ganz umrunden konnte, sagt, sie sei eher als eine Nation, denn als ein Staat zu bezeichnen, der ihm zufolge eine Bevölkerung von höchstens 10000 Bürgern umfassen dürfe – als wäre es ausgeschlossen, daß eine Nation oder hundert verschiedene Nationen

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Souveränität – so wie sie von Bodin über die Kriterien der zeitlichen Unbegrenztheit, der Letztinstanzlichkeit, Unteilbarkeit und Uneingeschränktheit definiert wird – läuft der aristotelischen metexis ebenso wie dem römischrepublikanischen Verfassungsverständnis diametral entgegen. In dieser Tradition galt die politische Ordnung als auf Ämterrotation, auf zeitlicher und personaler Machtbegrenzung (etwa durch die Prinzipien der Annuität, Kollegialität) gegründet ebenso wie auf der Aufteilung und Verschränkung von Herrschaftskompetenzen auf verschiedene Ständegruppen und Verfassungsorgane in der Mischverfassung. Die Staats- und Souveränitätslehre Bodins hat eine monokratische Auffassung von Herrschaft als Regierung einer natürlichen Person bzw. eines sehr engen Kreises natürlicher Personen, die dem König verpflichtet sind, über den Rest der Gesellschaft zum Anhaltspunkt24 , trotz seiner Bemühungen um eine alle Staatsformen übergreifende und auch für die Aristokratie und Demokratie gültige Lehre. Kernkompetenz des Souverän ist es, den Untertanen und Ständen auch ohne oder sogar gegen ihre Zustimmung Gesetze zu geben – und hierin liegt eine Spitze Bodins gegen die monarchomachische Auffassung von Herrschaft als auf der Zustimmung der Stände beruhend: „Es zeigt sich also, daß das Wesen der souveränen Macht und absoluter Gewalt vor allem darin besteht, den Untertanen in ihrer Gesamtheit ohne ihre Zustimmung das Gesetz vorzuschreiben“25 . Franklin argumentiert, dass Bodins Souveränitätslehre zwischen ihrer ersten Ausarbeitung in seinem Methodus ad facilem historiarum cognitionem von 1566 und der in den Six livres de la république von 1576 eine Radikalisierung durchläuft. War sein Verständnis der souveränen Gewalt in seiner Frühschrift durch Schnittpunkte mit der traditionellen Konzeption der Beschränkung/Selbstbeschränkung der monarchischen Herrschaft gekennzeichnet, v.a. durch deren Bindung an das Gesetz, vollziehe sich in den Six livres vor allem durch die Entfaltung des Gedankens der Entbindung des Herrschers vom Gesetz im Begriff der Souveränität ein „shift to

unter einer souveränen Gewalt einen Staat bilden. Hätte nämlich Aristoteles Recht, dann hätte der Römische Staat, der glanzvollste aller Zeiten, nicht verdient ein Staat genannt zu werden, angesichts dessen, daß er im Zeitpunkt seiner Gründung ganze 3000, zu Kaiser Tiberius’ Zeiten aber 15.110.000 Bürger zählt“ (Bodin, Rep. I/2, 109). Vgl. Aristoteles, Politik 1276a24ff. 24 Franklin 1973, 26f. 25 Bodin, Rep. I/8, 222; vgl. ebd. I/10, 292.

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absolutism“. Tragend für diesen Wandel sei die Radikalisierung der Politik und des politischen Denkens nach der Bartholomäusnacht26 . Bodin führt die Entstehung des Staates und staatlicher Ordnung auf die Überwindung eines gewaltgeprägten, unsicheren Urzustandes zurück, in dem freie Hausvorstände kollektiv geherrscht hätten, oder besser auf die Überwindung eines Zustandes der Anarchie, der aufgrund der ungeklärten Herrschaftsansprüche vonseiten der Hausvorstände entstanden sei. Bodin versinnbildlicht die Genese der souveränen Gewalt manchmal in Analogie zu einer Schenkung durch die Veräußerung und Übertragung der absoluten Herrschaftsbefugnisse der Haus- und Familienvorstände an den Souverän, manchmal aber auch als Akt der auf Gewalt gegründeten Okkupation durch den Souverän: Bevor es nämlich unter den Menschen noch Gemeinwesen [cité], Bürger oder irgendwelche Staatsgebilde gegeben hat, war jedes Familienoberhaupt innerhalb seines Hauses souverän und konnte über Leben und Tod seiner Frau und seiner Kinder bestimmen. Doch seit Macht, Gewalt, Geltungsdrang, Geiz und Rachsucht dazu führten, daß die Menschen mit Waffen über einander herfielen, schieden Kriege und Kämpfe an ihrem Ende die Menschen jeweils in Sieger und Sklaven. Derjenige unter den Siegern, den sie zu ihrem Anführer und Feldherrn gemacht und unter dessen Führung sie den Sieg errungen hatten, herrschte nunmehr über die einen wie über loyal ergebene Untertanen […] Damit wurde jene völlig unbeschränkte Freiheit eines jeden, sein Leben ohne von irgend jemandem Befehle empfangen zu müssen nach eigenem Gutdünken einrichten zu können, in reine Knechtschaft verwandelt: während die Besiegten ihre Freiheit völlig verloren, wurde diejenige der Sieger insofern eingeschränkt, als sie sich ihrem souveränen Oberhaupt zum Gehorsam verpflichteten. […] Vernunft und natürliche Einsicht lassen uns vermuten, daß Macht und Gewalt der Anfang und Ursprung der Staaten gewesen ist.27

Die aristotelische Definition des Bürgers über die Teilhabe an der Regierung weist Bodin explizit als verfehlt zurück, da sie aus der Verallgemeinerung eines Besonderen, nämlich aus den in der Staatsform der Demokratie bestehenden Bedingungen von Herrschaft hervorgehe28 . Es überrascht nicht, dass Bodins Lehre im frühneuzeitlichen Aristotelismus 26 Franklin 1973, Kap. 3–4. Zu den mittelalterlichen Theorien der Souveränität: Dennert 1964; Quaritsch 1986. 27 Bodin, Rep. I/6, 158f. Siehe Bodins Auffassung des Aktes der Schenkung als bedingungslose Übertragung oder Veräußerung von Eigentümern oder Herrschaftsansprüchen ebd. I/8, 210. 28 „Ein noch viel größerer Irrtum ist aber die Behauptung, Bürger sei nur, wer Zugang zum Magistrat und beratende Stimme bei den Ständeversammlungen des Volkes entweder in Rechtsprechungsangelegenheiten oder solchen der staatlichen Verwaltung habe. So lautet

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daher zum Antipoden eines partizipatorischen Verständnisses des Bürgers wird29 . Es ist der tendenziell traditionalistischen Ausrichtung des Juristen und Humanisten Bodin zu verdanken, dass er dennoch dem aristotelischen ebenso wie dem römisch-republikanischen Bürgerbegriff Rechnung trägt. Trotz der von Bodin postulierten Ähnlichkeit zwischen der Stellung des pater familias im Haus und der des Souveräns im Staat ist es ihm wichtig, die Stellung unfreier Hausmitglieder (wie Sklaven oder Frauen) stark von derjenigen der Bürger bzw. der freien Untertanen im Staat zu scheiden. Bürger (citoyen, bourgeoise)30 sind für Bodin freie Hausvorstände, die sich im öffentlichen Bereich betätigen – wohlgemerkt in Materien, die die souveräne Gewalt und ihre Hoheitsrechte nicht beeinträchtigen – und frei über ihr Eigentum verfügen können, zudem im Gegensatz zu Sklaven umfassend am geltenden Recht teilhaben31 . die uns von Aristoteles in seinen Schriften hinterlassene Definition des Bürgers. Kurz danach verbessert Aristoteles sich jedoch und sagt, seine Definition beanspruche lediglich für die Demokratie Gültigkeit. […] Nun aber liegt es im Wesen der Definition, daß sie keine Teilung zuläßt und sie darf in keinem einzigen Punkt mehr oder weniger als zur Beschreibung des definierten Gegenstandes erforderlich enthalten, sonst ist sie als Ganzes untauglich“ (ebd. I/6, 167). 29 „Bodin ist den Kommentatoren [des Aristoteles, S.S.] Kontrastpunkt zu Aristoteles, auch wenn bei genauer Lektüre auffällt, daß Bodin im Aufbau der Sechs Bücher über den Staat und in der Hinführung auf seine Bürgerdefinition in weiten Teilen in aristotelischer Tradition steht. Trotzdem ist die Definition Bodins [des Bürgers, S.S.] […] ein expliziter Gegenentwurf zur aristotelischen Bürgerdefinition und wird entsprechend vehement von den aristotelischen Autoren abgelehnt“ (Löther 1994, 109). 30 Zur wegweisenden Unterscheidung von bourgeoise (definiert über seine ökonomischen Marktbeziehungen) und citoyen (definiert über politische Mitsprache in Fragen der Besteuerung und der Beratung über Belange, die die Allgemeinheit betreffen) bei Bodin s. Euchner 1973, 268f. und Koselleck/Schreiner 1994, 27ff. Allerdings fällt Bodin diese Unterscheidung nicht, wie Rousseau, im Sinne von zwei Rollen des Bürgers, sondern im Sinne unterschiedlicher Gruppen im Staat. 31 „In dem Moment aber, in dem das Familienoberhaupt sein Haus, in dem es gebietet, verläßt, um mit anderen Familienoberhäuptern über das, was sie alle gemeinsam angeht, zu beratschlagen und zu verhandeln, verzichtet es auf seine Stellung als Oberhaupt, Herr und Meister und begibt sich als Partner und Mitglied ihrer Gemeinschaft mit den übrigen auf die gleiche Stufe. Es verläßt also die Familie und wird Mitglied des Gemeinwesens [cité], befaßt sich nun statt mit häuslichen Dingen mit den öffentlichen Angelegenheiten und heißt nicht mehr Herr, sondern Bürger [citoyen], worunter präzise gesagt nichts anderes zu verstehen ist, als der freie Untertan, der der Souveränität eines anderen untersteht“ (Bodin, Rep. I/6, 158); „So also gelangen Staaten zur Entstehung, was zugleich ein Licht auf die Definition des Bürgers [bourgeoise] wirft, der also nichts anderes ist als der freie Untertan,

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II. Um sich der zweiten Dimension des frühneuzeitlichen Verständnisses von Partizipation zu nähern, die oben angesprochen wurde, ist es wichtig, die Veränderung der Konzeption von Herrschaft zu vergegenwärtigen, die Michel Foucault in der Regierungs-, Staats- und Staatsräsonlehre des 16./17. Jahrhunderts herausgestellt hat. Auf den Punkt gebracht handelt es sich um den Übergang von der mittelalterlichen ars regnandi, die dem König oder Magistrat im Gemeinwesen die Funktion des Richters und Behüters des Rechts zuschrieb, zu einer neuen/neuzeitlichen Regierungsrationalität, die das Recht der Verfügungsgewalt des staatlichen Souveräns unterstellt, damit dieser zusammen mit weiteren Herrschaftsdispositiven auf die Gesellschaft und ihre biopolitischen Ressourcen gestaltend Einfluss nimmt32 . Statt der Sicherung eines Herrschaftsterritoriums mithilfe des Rechts gemäß dem alten Paradigma wird laut Foucault die Amplifikation der soziökonomischen Kräfte in der Bevölkerung des Staates mithilfe disziplinierender und überwachender Herrschaftsdispositive nun zum Gegenstand der Regierungskunst. Die Verschiebung des Schwerpunktes vom Herrschaftsterritorium zur Bevölkerung und ihrer dynamischen Entwicklung exemplifiziert Foucault am Machttypus des Pastorats. Foucault beschreibt das frühneuzeitlich-neuzeitliche Regierungskonzept als Ergebnis des Transfers dieses Machttypus vom religiösen in den politischen Bereich. Das Pastorat wurde ursprünglich vom christlichen Denken und im Verlauf der Institutionalisierung des Glaubens in Gestalt der Kirche ausgeprägt33 . Die bei Foucault beschriebenen Prozesse der Anwendung pastoraler Macht der der Souveränität eines anderen untersteht [le franc subiect tenant de la souveraineté d’autruy]. Ich habe gesagt freier Untertan; denn mag auch der Sklave ebenso sehr oder in noch stärkerem Maß Untertan eines Staates sein als sein Herr, so war es doch schon immer gemeinsame Überzeugung aller Völker, daß der Sklave nicht Bürger ist und rechtlich als ein Nichts anzusehen ist. […] Man kann daher sagen, jeder Bürger ist Untertan, weil seine Freiheit zu einem kleinen Teil eingeengt ist durch die Souveränität desjenigen, dem er zum Gehorsam verpflichtet ist. Nicht jeder Untertan ist aber auch Bürger, wie wir für den Sklaven bereits festgestellt haben“ (ebd., 159f.); „Das wichtigste Privileg jedoch, das der Bürger [citoyen] dem Fremden voraus hat, ist, daß er ein Testament errichten und gemäß dem geltenden Gewohnheitsrecht über sein Vermögen verfügen oder aber von seinen nächsten Anverwandten beerbt werden kann“ (ebd., 181). 32 Foucault 2004. In Bezug auf Bodin Scheuner 1973, 288f. 33 „Die Macht des Hirten ist eine Macht, die nicht auf ein Territorium ausgeübt wird, sondern eine Macht, die per definitionem auf eine Herde ausgeübt wird, genauer auf eine Herde in ihrer Fortbewegung […] Der Hirte ist derjenige, der wacht. „Wachen“ natürlich im Sinne von Überwachung dessen, was sich an Bösem ereignen kann, doch vor allem Wachsamkeit

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auf eine Staatsbevölkerung bergen, so die Annahme, auch interessante Implikationen für die Konzeption politischer Partizipation. In epistemischer Sicht richtet sich das politische Wissen nach diesem Paradigmenwechsel auf Techniken der Erfassung, Beobachtung und Disziplinierung der Bevölkerung34 . Die über ihre Bedürfnisse strukturierten kollektivengesellschaftlichen Gruppen rücken in diesem Paradigma politischer Regierung unweigerlich in den Vordergrund. In seiner Geschichte der Gouvernementalität ordnet Foucault Machiavelli eine merkwürdige Rolle zu. Auf Bodin geht er nur am Rande ein35 . Machiavelli gilt Foucault als Anhänger der archaischen, statischen Regierungsauffassung der Sicherung von Herrschaft über ein Territorium, deren rechtlich-moralische Grundlagen er zwar zu hinterfragen bereit war, der aber noch nicht zur neuzeitlichen Regierungskunst vorstoßen konnte. Diese Leistung bleibt in Italien dem Staatsräsondiskurs in der Folge von Giovanni Boteros bahnbrechendem Traktat Della Ragion di Stato (Venedig 1589) vorbehalten. Die Problematisierung der Fürstenlehre aus dem Principe im machiavellistisch-antimachiavellistischen Staatsdiskurs ist für Foucault der diskursgeschichtlich interessante Aspekt, weshalb er die Discorsi gegenüber allem, was an Unglück geschehen kann“ (Foucault 2004, 188, 190). Zur Geschichte des Pastorats Vorlesungen 5 bis 7 ebd. 34 „Das heißt, derjenige, der regiert, muß die Elemente kennen, welche die Aufrechterhaltung des Staates ermöglichen, die Aufrechterhaltung des Staates in seiner Stärke […]. Das heißt, das für den Souverän notwendige Wissen wird eher eine Kenntnis der Dinge als eine Kenntnis des Gesetzes sein, und diese Dinge, welche der Souverän kennen muß, diese Dinge, welche eben die Realität des Staates sind, das ist genau das, was man damals „Statistik“ nennt. Die Statistik ist etymologisch die Kenntnis des Staates, die Kenntnis der Kräfte und der Ressourcen, die einen Staat in einem gegebenen Moment charakterisieren. Zum Beispiel: Kenntnis der Bevölkerung, Messung ihrer Quantität, Messung ihrer Mortalität, ihrer Natalität usw., Schätzung der verschiedenen Kategorien von Individuen in einem Staat und ihres Reichtums“ (ebd., 396). 35 Ebd., 413. Bodins Beschäftigung mit der altrömischen Zensur (Rep. VI/1) wurde erst in der neueren Forschung im Horizont von Foucaults Ansatz reflektiert; dazu Senellart 1997 und Bianchin 2005, 143–176. Bodins Definition von drei staatstragenden Funktionen der Zensur ähnelt der in der letzten Anmerkung wiedergegebenen Charakterisierung der frühneuzeitlichen Statistik bei Foucault: „Die Notwendigkeit der Zensur liegt auf der Hand, wird aber noch durch ihre Nützlichkeit übertroffen sowohl für die Ermittlung der Zahl und des jeweiligen Standes der Bürger [entendre le nombre, et qualité des personnes] als auch für die Veranlagung und Erklärung des Vermögens eines jeden einzelnen [l’estimation et declaration des biens d’un chacun] und auch für die Erziehung der Untertanen in Anstand und Sitte [pour reigler et moriger les subiects]“ (Bodin, Rep. VI/1, 307).

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völlig vernachlässigt36 . Dass Foucault die durchaus gegebene Relevanz der Discorsi für seinen Ansatz unterschätzt, zeigt sich etwa im oben dargelegten Kausalzusammenhang, den Machiavelli anhand der römischen Geschichte zwischen der Motivation des popolo, vor allem in seiner Rolle als kämpfende Miliz, und der Zufriedenstellung seiner politischen und sozialen Anliegen erstellt37 . Machiavelli versteht die Zufriedenheit (contentezza) im Sinne einer Bedürfnisbefriedigung der Untertanen im Fürstentum und der Bürger in der Republik als Grundlage der politischen Ordnung (und nicht mehr hehre Ziele wie die eudaimonia oder dikaiosyne in der Polis)38 . Grundlegend hierfür ist neben seiner Einschätzung des Menschen als appetitives und nur schwer zufriedenzustellendes Wesen seine Weiterentwicklung der traditionellen Humorallehre, die ursprünglich aus dem medizinischen Bereich entstammt, etwa der Vier-Säfte-Lehre. Die Humorallehre bildet die anthropologische Grundlage der politischen Ordnung bei Machiavelli39 . So ist der Widerstreit der zwei bestimmenden ständischen Gruppen, ei36 „Machiavellis Problem war, genau zu wissen, wie auf einem gegebenen Territorium, sei es erobert worden, sei es durch Erbschaft erworben – es ist unwichtig, ob die Macht legitim ist oder illegitim –,wie man bewirkt, dass die Macht des Souveräns nicht bedroht wird oder daß er jedenfalls mit größter Zuverlässigkeit die Bedrohungen, die auf ihm lasten, ausschalten kann. Sicherung des Fürsten: Das war das Problem des Fürsten […]. Doch weit davon entfernt, zu denken, dass Machiavelli das Feld für die Modernität des politischen Denkens bereitet, würde ich sagen, dass er, im Gegenteil, das Ende eines Zeitalters markiert, in dem das Problem tatsächlich in der Sicherung des Fürsten und seines Territoriums lag (Hervorhebung durch S.S.). […] [W]as ich zu orten versucht habe […] ist ein ganz anderes Problem: […] Nicht mehr Sicherung des Fürsten und seines Territoriums, sondern Sicherheit der Bevölkerung und infolgedessen derer, die regieren“ (Foucault 2004, 100f., Hervorhebung S.S., vgl. ebd., 136ff, 352–356, 392–394). Zu Foucaults Machiavellirezeption Mazumdar 2010. 37 Siehe oben Anm. 19. Die verkannte Relevanz der Discorsi für Foucaults Geschichte der Gouvernementalität untermauern auch die Überlegungen zur Notwendigkeit eines demographischen Wachstums und einer aktiven Bevölkerungspolitik für die (imperiale) Republik, s. Machiavelli, Discorsi II/3–4. 38 „The Machiavellian monarchy does not set the ,good life’, the virtuous life, and the common good in the classical sense, as its end. The end of the new state is the procurement of material satisfaction, political security, and historical greatness as if they were the organic, naturalistic needs of the state“ (Parel 1992, 121). Zur Verwendung von contenti, malcontenti, contentezza, mal contentezza Machiavelli, Principe III, 24, IV, 32f., VIII, 70, XIX, 140, 142f., Discorsi, I/37, 139f., II/Einl., 291; Istorie Fiorentine III/8, 425f., Arte della Guerra I, 728. Zur systematischen Bedeutung der contentezza bei Machiavelli Borrelli 2000, 15ff. 39 Parel 1992.

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nerseits des Volkes bzw. der Bürgerbasis (popolo, plebe) und andererseits des Adels bzw. des Großbürgertums (grandi, ottimati), charakteristisch für jedes politisches Gemeinwesen unabhängig von seiner republikanischen oder monokratischen Form. Ursächlich hierfür sind die entgegengesetzten politischen Grundneigungen (umori, desideri, appetiti) der grandi und des popolo. Wo die grandi nach Herrschaft verlangen (desiderio grande di dominare) besitzt der popolo eine Abneigung gegen (willkürliche) Herrschaft (desiderio di non essere dominato)40 . Das von Machiavelli aufgestellte Gebot zur Zufriedenstellung der gesamten Bevölkerung oder zumindest der machttheoretisch bedeutendsten Gruppe im Staat, worunter er den popolo und nicht die grandi versteht, hat aufs engste mit seinem Verständnis von politischer Ordnung und ihrer Deduktion aus den Neigungen der in jedem Gemeinwesen vorhandenen Ständegruppen (popolo-grandi) zu tun41 . Aus dieser Einsicht entspringt in den Discorsi eine positive Haltung zum Ständestreit und zur antagonistischen Beziehung von popolo und grandi innerhalb der Mischverfassung der Republik, die heutigen liberalen und republikanischen Theoretikern als wegweisend gilt für die Entwicklung der modernen Auffassung von politischem Pluralismus und Parteienwettbewerb42 . Die Einflussnahme der sozialständischen Gruppen auf die Politik über die 40 „In jedem Gemeinwesen [ist] das Sinnen und Trachten des Volks und der Großen verschieden [due umori diversi…del popolo…dei grandi]“ (Machiavelli, Discorsi I/4, 19); „Untersucht man das Streben des Adels und des Volks, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein starkes Verlangen zu herrschen [desiderio grande di dominare], beim Volk aber nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden [desiderio di non essere dominati], und folglich ein stärkerer Wille, in Freiheit zu leben, da es weniger hoffen kann, die Freiheit zu mißbrauchen, als der Adel“ (ebd. I/5, 21); „Denn in jeder Stadt [città] finden sich diese zwei unterschiedlichen Gesinnungen [dua umori diversi], was daher rührt, daß sich das Volk von den Großen weder beherrschen noch unterdrücken lassen will, die Großen aber das Volk beherrschen und unterdrücken wollen; aus diesen beiden verschiedenen Bedürfnissen [appetiti] entstehen in den Städten jeweils eine von drei möglichen Wirkungen: entweder die Fürstenherrschaft, oder die Freiheit oder die Anarchie [licenzia]“ (P. IX, 75). 41 Die Priorität der Zufriedenstellung des popolo gegenüber der Zufriedenheit der grandi für die Republik wird erörtert in Discorsi I/6. Die gleiche Einsicht wird allerdings auch im Principe dem neuen Fürsten angeraten und bildet die Quintessenz von Kapitel IX. 42 Die Bewertung der Ständekämpfe in Rom und ihrer Folgen für die Freiheit (libertà) und die politische Ordnung (ordini, leggi) des römischen Staates bildet einen wichtigen Ausgangspunkt der republikanischen Lehre der Discorsi (ebd. I/3–6). Zur Einschätzung von Machiavellis Verständnis des Ständekampfes und Parteienstreits im Liberalismus und Neorepublikanismus und den Gefahren einer anachronistischen Überinterpretation Saracino 2010.

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Artikulierung ihrer Bedürfnisse und das Gebot ihrer Zufriedenstellung in der Mischverfassung wird auch in Machiavellis an die Medici adressierten Discursus florentiarum rerum post mortem Laurentii Medices von 1520 zum Ausdruck gebracht. Machiavelli versucht mit dieser Schrift nichts Geringeres als die inoffiziellen Stadtherren von Florenz, den Medicipapst Leo X. und den Kardinal Giulo de’ Medici, nach dem Tod Lorenzos de’ Medici im Jahre 1519 und dem sich abzeichnenden Aussterben der dynastischen Linie Lorenzos des Prächtigen für eine Rückkehr zu einer republikanischen Verfassung zu gewinnen. Machiavelli weicht hier ausnahmsweise von seinem dualistischen Ständemodell ab und folgt der aristotelischen Dreiteilung der Bevölkerung in Arme, Mittlere und Reiche: Die, welche eine Republik konstituieren, müssen drei verschiedene Klassen von Menschen, die in allen Städten sind, Raum geben, nämlich den ersten, den mittlere und den letzten [primi, mezzani, ultimi]. Obgleich nun in Florenz die Gleichheit herrscht, von der ich oben gesprochen, so gibt es doch einige, die hohen Sinnes sind und die den Vorrang vor den anderen zu verdienen glauben. Diese müssen bei der Konstituierung der Republik befriedigt werden; und aus keinem anderen Grund stürzte die letzte Verfassung [1512, S.S.] zusammen, als weil dieses Streben nicht befriedigt wurde. […] Da es drei Klassen von Menschen gibt […], so halte ich es für nötig, daß es auch drei Grade in einer Republik gebe, und nicht mehr. […] Ohne die Masse zufriedenzustellen, hat man nie eine dauernde Republik errichtet. […] Es gibt keinen anderen Weg, diesen Übeln [des Verfassungsumsturzes, S.S.] zu entgehen, als dafür zu sorgen, daß die Verfassung des Staates von selbst feststeht. Immer wird sie feststehen, wenn jedermann sie aufrecht hält, wenn jeder weiß, was er zu tun hat und auf wen er zu vertrauen hat, und wenn keine Klasse der Bürger aus Furcht für ihre Sicherheit oder aus Ehrgeiz eine Umwälzung zu wünschen hat.43

Auf dieser Einschätzung der humoralen und ständegesellschaftlichen Grundlagen des politischen Gemeinwesens aufbauend, entwirft Machiavelli im Discursus eine dreigliedrige Organstruktur für die Republik Florenz. Vor allem die wichtigsten Organe – der gonfaloniere di giustizia und der Rat der 65 (für die primi), dann der Rat der 200 (für die mezzani) und schließlich der Große Rat (für die ultimi) – bilden diese Dreigliedrigkeit auf institu43 Discursus, 934, 935, 936, 940; vgl. Machiavelli 1986, 214f. Die Abweichung von der ansonsten für Machiavelli typischen Annahme einer dualen Gesellschaftsstruktur (popolo vs. grandi) im Discursus ist wohl darauf zurückzuführen, dass Machiavelli eine Dreiteilung der florentinischen Bevölkerung im Jahre 1520 als angemessen erscheint. Sie ist Folge der Entstehung einer medicitreuen Stadtaristokratie. Sie ist ferner aus Gründen der Persuasion von Vorteil, da sie die abgehobene Position der Medici und ihrer Anhänger als primi im vorgeschlagenen Verfassungsmodell untermauert, vgl. Höchli 2005, 558f., 566ff.

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tioneller Ebene ab. Die Verfassungsordnung, die in diesem Text entwickelt wird, knüpft an die Mischverfassungslehre der Discorsi an44 . Aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der Souveränitätslehre verwirft Bodin in seinen Sechs Büchern über den Staat die Mischverfassung45 . Da die souveräne Gewalt und ihre Hoheitsrechte nicht auf mehrere Träger verteilt werden können, ohne dass die Souveränität und mit ihr die staatliche Ordnung zu bestehen aufhören, sieht Bodin die Mischverfassung als Hirngespinst an46 . Folgerichtig belässt er in einer Monarchie den Ständen keinerlei konstitutionelle Mitbestimmung. Dennoch soll aufgezeigt werden, dass Bodin ein korporatives Verständnis staatlicher Ordnung besitzt, das demjenigen der Mischverfassungslehre durchaus ähnlich ist47 , und dass laut Bodin die Einbeziehung einer Reihe von Kollektivgruppen, die über ihre Bedürfnisse strukturiert werden, für die Organisation des Staates ganz ausschlaggebend ist. Als eine solche fundamentale Organisationseinheit des Staates stuft Bodin die Haushaltungen/Familien (mesnages) ein, die bereits in seiner Staatsdefinition einen wichtigen Platz einnehmen48 . Trotz der 44 Machiavelli eignet sich Polybios’ Lehre vom Kreislauf der Verfassungen und von der Mischverfassung an in Discorsi I/2. 45 Bodin, Rep. II/1, 321–332. Zu den Folgen der Bodinschen Verwerfung der Mischverfassung für den Niedergang der Mischverfassungstheorie im neuzeitlichen Verfassungsdenken Sternberger 1990; Riklin 2005. 46 „Monarchie, Aristokratie und Demokratie sind praktisch miteinander dermaßen unvereinbar, dass man sich ihre Verbindung nicht einmal in Gedanken vorstellen kann. Denn wenn die Souveränität wie dargelegt unteilbar ist, wie könnte sie sich dann gleichzeitig auf einen Fürsten, die herrschenden Aristokraten und das Volk verteilen? […] Etwas Derartiges liefe [aber] auf eine Zersplitterung der Souveränitäts- und Hoheitsrechte und die Konstruktion eines Staatsgebildes hinaus, das gleichzeitig Aristokratie, Monarchie und Demokratie wäre. Hierzu ist zu sagen, daß so etwas noch nie dagewesen, nicht machbar, ja nicht einmal vorstellbar ist, weil die Souveränitätsrechte nicht voneinander zu trennen sind“ (Bodin, Rep. II/1, 321, 331). 47 Bodins nicht auf das Individuum, sondern auf korporative Gruppen und Kollektive zentriertes Verständnis von Partizipation geht aus seiner Auffassung der Staatsform der Demokratie hervor: „Wir kommen also zu folgendem Schluß: Ein Staat ist eine Demokratie, wenn die Souveränität bei der Mehrheit der Bürger liegt, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese Mehrheit nach Köpfen, nach Stämmen, nach Klassen, Pfarreien oder Gemeinden ermittelt wird“ (ebd. III/7, 396). 48 „Unter Haushaltung [mesnage] versteht man eine rechtmäßige Herrschaft [droit gouvernement] über mehrere einem Familienoberhaupt zum Gehorsam verpflichtete Untertanen und das was ihnen gehört“ (ebd. I/2, 107). Die mesnage gilt Bodin als „eigentlicher Quell und Ursprung jedes Staates und [als] sein wichtigstes Glied“ (ebd.) und besteht neben dem Hausvorstand aus Frau, Kindern, Sklaven, Bediensteten.

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strikten Ablehnung einer konstitutionellen Bedeutung der Stände, wie sie die Monarchomachen vertreten49 , besitzen die Stände als Organisationseinheiten eine zentrale Bedeutung in Bodins Staatskonzept50 . Eine Aufwertung der Stände erfolgt insbesondere in Bodins Auseinandersetzung mit der staatstragenden Bedeutung der corps (Korporationen) und colleges (Kollegien) in Buch III, Kapitel 7 seiner Six livres. Unter Kollegien versteht er gesetzliche Vereinigungen und Zusammenschlüsse von Bürgern in Zünften, Universitätsfakultäten, Ständen und religiösen Gemeinschaften, unter Korporationen wiederum einen Zusammenschluss solcher colleges. Sie dienen primär der Interessenvertretung und -befriedigung51 . Ausgangspunkt des vorliegenden Kapitels der Six livres 49 „Mithin irren alle, die über die Pflichten der Magistrate [gemeint ist Bezas De iure magistratum, S.S.] und ähnliche Bücher geschrieben und behauptet haben, die Stände stünden über dem Fürsten. Damit ermuntert man Leute, die in Wahrheit Untertanen sind, gegen den Gehorsam, den sie ihrem Fürsten schulden, zu rebellieren“ (ebd. I/8, 219). Abgesehen von dieser eindeutigen Anspielung auf einen monarchomachischen Traktat setzt sich Bodin weder explizit noch im Detail mit den Monarchomachen auseinander, s. Salmon 1973. 50 So Scheuner 1973. Bodin begreift den Staat in Kohärenz zum traditionellen DreiStände-Schema: „Daher kommt die bekannte, fast in ganz Europa gängige Einteilung der Bürger in drei Stände, nämlich in Geistlichkeit, Adel und Volk“ (Bodin, Rep. I/6, 186); vgl. ebd. III/7, 531. Er definiert den Begriff „Stand/etat“ als „eine Gruppe von Bürgern, die sich durch Abstammung, Rechtsstellung oder Geschlecht unterscheiden. Durch die Abstammung unterscheiden sich etwa Adel und Patrizier, Ritterschaft und gemeines Volk; das Geschlecht unterscheidet hingegen Frauen von Männern. Die Rechtsstellung schließlich scheidet Freigeborene von Freigelassenen“ (ebd. III/8, 547). Eine detaillierte pyramidale Unterscheidung der Stände für eine Monarchie ebd. III/8, 566f. Auffällig ist hier die Festlegung der hierarchischen Ordnung der Berufsstände innerhalb des dritten Standes. Sie folgt dem Kriterium der Nützlichkeit für die Befriedigung der dem Staat intrinsischen Bedürfnisse. 51 Euchner (1973, 273) bezeichnet die Korporationen und Kollegien als „Organisationen legitimer partikularer Interessen“. Zum Kollegium als künstlicher Rechtsperson: „Die Familie ist eine natürliche, das Kollegium eine vom Menschen geschaffene Gemeinschaft“ (Bodin, Rep. III/7, 521); „Ja selbst wenn die Mitglieder des Kollegiums allesamt verstorben wären, bliebe das Kollegium als Rechtsgebilde erhalten und könnten seine Güter, solange es nicht auf Anordnung des Souveräns aufgelöst wäre, weder vom Fiskus noch von Privatpersonen in Beschlag genommen werden“ (ebd., 526). Zum Unterschied Kollegium-Korporation: „Es gibt Kollegien, die nur für ein ganz bestimmtes Handwerk, einen bestimmten Wissenschaftszweig, eine bestimmte Handelsware oder einen bestimmten Jurisdiktionsbezirk zuständig sind. Es können aber auch mehrere Kollegien in ihrer Verbindung eine Korporation bilden, wie dies etwa bei allen Handwerksberufen, allen Kaufleuten, allen Hochschullehrern oder allen Magistraten der Fall ist“ (ebd., 524).

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de la République ist die Feststellung, dass die Unterbindung jeglicher korporativer Zusammenschlüsse Merkmal der Tyrannis sei, die zügellosen und antistaatlichen Umtriebe von Korporationen Merkmal der Demokratie seien. Bodin bestimmt daher den systematischen Ort der Körperschaften für das Königtum in Abgrenzung zu diesen beiden radikalen Verfassungsformen52 . Ihre Unterordnung unter die souveräne Gewalt und das Gesetz vorausgesetzt, bejaht Bodin die Existenz eines Pluralismus der Interessen und Bedürfnisse, die durch die corps et colleges artikuliert werden. Drei staatstragende Funktionen dieser kollektiven Körperschaften sind zu unterscheiden: 1) Die Freiheits- und Rechtswahrung für die Untertanen (etwa durch die Unterbindung von amtlicher Willkür oder Übergriffen vonseiten Privater), 2) die Stiftung von Einheit im Staat, 3) die Gewährleistung der Unterstützung vonseiten der Gesellschaft für den Staat: Hingegen hat ein rechtmäßiges Königtum kein sichereres Fundament, als die Ständeversammlung des Volkes, Korporationen und Kollegien [les estats du peuple, corps et colleges]. Denn wenn Abgaben zu erheben und Truppen zusammenzuscharen sind und der Staat gegen die Feinde zu verteidigen ist, so gelingt dies nur mit [deren] Hilfe. […] Gerade bei der Versammlung der Generalstände aller Untertanen ist es, dass man über die den Staat [république] als Ganzes und seine Glieder angehenden Angelegenheiten spricht; dort werden die berechtigten Anklagen der gepeinigten Untertanen laut und vernommen, während sie sonst dem Fürsten nie zu Ohren kommen.53

Aus diesem körperschaftlichen Verständnis des Staates als Pluralität der gesellschaftlichen Gruppen und Multiplizität legitimer Bedürfnisse ist auch Bodins affirmative Haltung zum Eigentum zu erschließen54 . Bedenkt man die Logik der Bodin’schen Souveränitätslehre räumt Bodin den freien Un52 Bodin, Rep. III/7, 543ff. 53 Ebd. III/7, 544. „Ähnlich wie mehrer Kanonenschüsse nacheinander auf eine Festung abgefeuert geringe Wirkung haben, als wenn sie alle gleichzeitig abgefeuert werden, lösen sich nämlich auch die Beschwerden von Einzelpersonen zumeist in Schall und Rauch auf. Wenn aber die Kollegien, die Gemeinden, die Ständeversammlung einer Provinz, eines Volkes oder eines Königreiches dem König ihre Klage vortragen, dann ist es schwer für ihn, sich ihnen zu verschließen“ (ebd., 545); „Genauso wie nichts besser geeignet ist als Korporationen und Gemeinschaften, um die Stärke und Einigkeit der Untertanen zu fördern, trägt [umgekehrt] nichts mehr dazu bei, unterworfene Feinde zu knechten, als ihnen als erstes Korporationen und Kollegien zu verbieten“ (ebd., 546). 54 Euchner deutet Bodin als transitorischen Denker zwischen Feudalismus und bürgerlicher Gesellschaft: „Trotz dem Überleben vieler institutioneller Elemente des Feudalismus wie Privilegien, Monopole, Stände, Zünfte usw. ist die gesellschaftliche Basis des Bodin’schen Idealstaates nicht mehr feudalistisch: Sie ist die idealtypische Konstruktion einer Republik, die zwischen einem feudalistischen Gemeinwesen und einer ausge-

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tertanen eine erstaunliche Gestaltungsfreiheit im Umgang mit ihrem Eigentum ein und bindet den Souverän – ganz anders als beispielsweise Hobbes oder Rousseau – an enge Schranken, was Eingriffe in das Eigentum seiner Untertanen anbelangt. An der Wahrung dieser Schranken scheidet sich die monarchie royale von der primitiven Form der monarchie signeuriale. Die Partizipation im Sinne eines Mitspracherechts der Untertanen in Fragen der Besteuerung ist logische Konsequenz hieraus, wenn auch paradox gegenüber der Konzeption der souveränen Gewalt im Staat55 .

III. Für die dritte Dimension des eingangs dargestellten Verständnisses von Partizipation sind zwei Aspekte wesentlich: Die Herrschaft des Gesetzes – bereits Aristoteles würdigt das Gesetz als Vernunft ohne Streben (Politik 1287a32f.) – und die Teilhabe des Bürgers am geltenden Recht. Es ist der Machiavelli-Exegese der Cambridge School und zuallererst Quentin Skinner zu verdanken, dass Machiavellis Anknüpfung an die römischrepublikanische, insbesondere ciceronische Auffassung der Freiheit und des Bürgers herausgestellt wurde. Die neuere Machiavelli-Forschung ist dieser Deutung, trotz ihrer einseitigen Fokussierung der Einflüsse römischer/lateinischer Textquellen auf den Florentiner weitgehend gefolgt, was eine Vernachlässigung der Anknüpfung Machiavellis auch an das partizipatorische Bürgerverständnis des Aristoteles und des Aristotelismus zur

bildeten bürgerlichen Gesellschaft mit zentraler Staatsgewalt steht“ (Euchner 1973, 269); „Bodin, dem es um eine pluralistische, die Interessen der gesellschaftlichen Stände und Gruppen wahrende und zugleich stabile Organisation der modernen Großstaaten geht, kann mit dem auf politischer Partizipation gerichteten Polis-Modell des Aristoteles nichts anfangen (Hervorhebung durch S.S.). Für ihn sind Herrschaft und Ökonomie politische Grundkategorien, die für den Haushalt genauso wie für die Republik gelten. Aristoteles und Xenophon haben deshalb nach Bodins Ansicht ohne Grund die Ökonomie von der Politik getrennt“ (ebd., 264, Hervorheb. S.S.). Ottmann 2006, 218. 55 „Denn kein Fürst der Welt hat die Macht, dem Volk nach Belieben Abgaben aufzuerlegen. Er kann dies ebensowenig wie anderen ihr Eigentum nehmen“ (Bodin, Rep. I/8, 220f.); „Wenn daher gesagt wird, der Fürst sei Herr über alles, so ist damit die ihm zustehende rechtmäßige Herrschaft und oberste Gerichtsbarkeit gemeint, während Besitz und Eigentum jedem Einzelnen verbleiben“ (ebd., 236). Zum paradoxalen Verhältnis zwischen Souveränitäts- und Eigentumsverständnis und zum Steuerparadoxon bei Bodin vgl. Euchner 1973 270f.; Wolfe 1968.

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Folge hat, das im ersten Abschnitt kurz angerissen wurde56 . Das römische Paradigma politischer Freiheit, das Machiavellis Denken laut Skinner bestimmt57 , sei zentriert auf die Abwesenheit willkürlicher Herrschaft (arbitrium alienum), wie sie für das Verhältnis zwischen Herr (dominus) und Knecht (servus) im Hausstand charakteristisch ist. Die Republik als antimonarchische Staatsform gründe auf der Herrschaft des Gesetzes statt der Herrschaft von Personen und sei deshalb eigentlich Abwesenheit von Herrschaft im engeren Sinn des Zustands der dominatio/servitus58 . Die unmittelbare Partizipation an der Regierung und Gesetzgebung nehme hingegen gegenüber den Momenten der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit der Bürger eine untergeordnete Bedeutung ein. Nur aus diesem Verständnis erschließt sich etwa die Konzeption einer civitas sine suffragio, d. h. ein ohne Stimmrecht, aber wohlgemerkt mit Wehrpflicht, allerdings auch mit weitreichender Teilhabe am zivilen Recht verbundener Bürgerstatus, wie ihn Rom manchen unterworfenen Völkerschaften Italiens verliehen hat. Es lassen sich bei Machiavelli zahlreiche Belege dafür finden, dass libertà und servitù von ihm als Gegensätze verstanden werden59 . Gleiches gilt hinsichtlich des Gegensatzes zwischen dem Zusatz der Knechtschaft und der für die Freiheit konstitutiven Bedeutung des Gesetzes: Die unter dem Namen von Republiken sich selbst beherrschenden Städte, solche besonders, deren Verfassung nicht gut geregelt ist [non…bene ordinate], verändern oft Regierung und Verhältnisse [governi e stati], nicht, wie viele wähnen, durch Freiheit [libertà] oder Knechtschaft [servitù], wohl aber durch Knechtschaft [servitù] und Zügellosigkeit [licenzia]. Denn nur der Freiheit Namen feiern die Diener der Zügellosigkeit, die von der Volkspartei [popolani]; wie die Diener 56 Skinner 1990, 1998, 2002; Pettit 1997; Viroli 1995, 170f. Kritisch Benner 2009, Kap. 6; Saracino 2010, 174ff. 57 Skinner, Pettit und Viroli definieren ein (neo)republikanisches Verständnis von politischer Freiheit und politischer Ordnung, das eine intermediäre Stellung einnimmt zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Zur Abgrenzung der republikanischen Freiheitskonzeption, für deren neuzeitliche Genese Machiavelli einen zentralen Beitrag leistet, vom aristotelischen Paradigma positiver Freiheit Skinner 1990, 295, 300ff; ders. 2002; Pettit 1997, 27–31. Die Entkopplung des republikanischen Freiheitsverständnisses von der Glückslehre und teleologischen Handlungskonzeption des Aristoteles ist ebenfalls essentielles Anliegen der diskursgeschichtlichen Arbeit Skinners, aber auch seiner Entgegnungen auf den Kommunitarismus ders. 1990, 302; 2002, 190. 58 Livius IV/32; Cicero De rep. I/39, I/47; II/43; Digesta I, 1.5.4. und 1.6.1; vgl. Wirszubski 1967, 1–38 und Bleicken 1998. 59 Machiavelli, Discorsi II/2, 173; III/7.

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der Knechtschaft, der Adel [nobili]: beide wollen weder den Gesetzen untertan sein, noch den Menschen. Wenn es einmal geschieht, was freilich ein seltener Fall ist, daß zum Glück einer solchen Stadt ein weiser, guter, einflussreicher Bürger aufsteht und Gesetze [leggi] erlässt, die solchen Unfrieden zwischen Adel und Volk beilegen [le quali questi umori de’ nobili e de’ popolani si quietino] oder so lenken, daß kein Übel von ihnen kommen mag: dann wahrlich kann eine Stadt frei genannt, eine Verfassung für wohlbegründet erachtet werden.60

Man erinnere sich auch an das Grundanliegen des Volkes in der Politik, das Machiavelli als „desiderio di non essere dominato“ (Discorsi I/5) bezeichnet. Falls und solange der Zustand der non-domination durch bestehende Institutionen und das Gesetz gewährleistet ist, nimmt die aktive Partizipation aller Bürger eine zweitrangige Rolle ein. Ganz anders in Notständen (wie auswärtige Kriege oder im Inneren drohende tyrannische Herrschaft), die den Beitrag aller Bürger erforderlich machen: Er wird dabei finden, daß nur ein kleiner Teil des Volks frei zu sein wünscht, um zu herrschen. Die überwiegende Mehrzahl wünscht die Freiheit nur, um sicher leben zu können. In allen Gemeinwesen gleichgültig welche Verfassung sie haben, gelangen zu den leitenden Stellen nur vierzig bis fünfzig Bürger. Da diese Zahl klein ist, ist es leicht, sich der Bürger, die sie besetzen, zu versichern, und zwar dadurch, daß man ihnen soviel ehrenvolle Auszeichnungen zukommen läßt, daß sie sich entsprechend ihrem Stand zufrieden geben. Alle übrigen, denen es genügt, in Sicherheit zu leben, werden leicht zufriedengestellt, wenn man Einrichtungen [ordini] schafft und Gesetze gibt, die zusammen mit der eigenen Macht die allgemeine Sicherheit erhalten. Wenn ein Machthaber so handelt und das Volk auch sieht, daß er bei keiner Gelegenheit die Gesetze bricht, so wird es in kurzer Zeit beginnen, sich sicher und zufrieden zu fühlen.61 60 Machiavelli,Istorie Fiorentine IV/1, 190; „Es gibt Alleinherrschaften, die lange gedauert haben, und es gibt Freistaaten, die lange gedauert haben. Voraussetzung hierfür war, daß beide auf dem Fundament der Gesetze ruhten; denn ein Staatsoberhaupt, das tun kann, was es will, ist wahnsinnig, und ein Volk, das tun kann, was es will, ist nicht weise. Vergleicht man einen Alleinherrscher, der an die Gesetze gebunden ist, und ein Volk, das durch diese im Zaum gehalten wird, so wird man beim Volk bessere Eigenschaften finden als beim Alleinherrscher. Vergleicht man beide in gesetzlosem Zustand, so wird man beim Volk weniger, kleinere und leichter zu bessernde Fehler finden als beim Alleinherrscher. Denn zu einem zügellosen, aufrührerischen Volk kann ein Mann von rechter Gesinnung sprechen und es leicht wieder auf den rechten Weg zurückführen, mit einem schlechten Alleinherrscher aber kann niemand reden, gegen ihn gibt es kein anderes Mittel als den Dolch“ (Discorsi I/58, 152); „Die hauptsächlichen Grundlagen, die alle Staaten brauchen – sowohl die neugegründeten wie die altererbten oder die aus diesen gemischten – sind gute Gesetze und ein gutes Heer [buone legge…buone arme]“ (Principe XII, 93f.). 61 Machiavelli, Discorsi I/16, 60; „The ideal of civic virtue that Machiavelli derived from his Roman republican sources, and which he recommended to his Florentine fellow-citizens

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In einer für dieses passiv-reaktive Verständnis der Bürgerbasis bezeichnenden Weise begreift Machiavelli den popolo in Discorsi I/5 als „Wächter der Freiheit“ (guardia della libertà). Blicken wir ein letztes Mal auf Bodin. Das Souveränitätstheorem, bei dessen Genese das Werk Bodins eine zentrale Rolle einnimmt, bereitet im politischen Denken der Neuzeit einem radikalen Herrschaftsvoluntarismus den Weg, der sich über Hobbes und Rousseau bis zu Carl Schmitt verfolgen lässt. Grundprinzip der hieraus hervortretenden Staatsauffassung ist die Loslösung des Herrschaftswillens des Souveräns – möge es sich um einen Monarchen, eine aristokratische Minderheit oder eine demokratische Mehrheit handeln – von allen rechtlichen und konstitutionellen Einschränkungen. Rechtsetzung/Gesetzgebung ist für Bodin und ähnlich auch für die auf ihn folgenden Souveränitätsdenker in ihrem Wesen nicht viel mehr als die Emanation des souveränen Willens62 . Hierin liegt, v.a. wenn man die monarchischen Präferenzen Bodins bedenkt, ein fundamentaler Unterschied zum oben skizzierten republikanischen Verständnis der Teilhabe am Recht, das die Quelle des Rechts in der Bürgerschaft als Ganzes – und zwar als ein aus heterogenen Teilen bestehendes Ganzes – verortet. Es mag daher verwundern, sich darum zu bemühen, Bodin dem hier skizzierten Regierungsparadigma zuordnen zu wollen. Und doch ist es ein Verdienst des Juristen und Humanisten Bodin, der die von Quentin Skinner betonten römischen Referenzquellen Machiavellis bestens kannte, dass er die Souveränität nicht bloß als Machtbeziehung, sondern als stressed that sovereign authority should be entrusted to the citizenry as a whole, to the nobility and the people, and that the people must have its place in the institutional arrangements of the republic, though not a monopoly of power. He never advocated, however, full-time political participation. The virtue that he wanted to see flourish was the love of liberty that gives the citizens the will and the strength to stand against ambitious men and factions attempting to impose their domination over the city. It was, in other words, love of the republic“ (Viroli 1995, 35f.). In diese Sichtweise auf Machiavellis Partizipationsverständnis fügt sich auch sein Interesse an der Phänomenologie der Verschwörungen, die von Bürgern und Untertanen mit dem Ziel des Sturzes bestehender Regierungen betrieben werden. Zur Deutung des Themenkomplexes der Verschwörungen bei Machiavelli, der sowohl in den Discorsi als auch im Principe und in den Istorie Fiorentine eine wichtige Rolle spielt, als republikanische Widerstandslehre und zur Rezeption in den republikanischen Kreisen von Florenz Saracino 2012, Kap. 5. 62 „Zwischen Recht und Gesetz besteht aber ein großer Unterschied. Denn ersteres ist lediglich ein Ausdruck der Billigkeit, während das Gesetz einem Befehl gleichzusetzen und nichts anderes ist als der Befehl des Souveräns, der von seiner Macht Gebrauch macht“ (Bodin, Rep. I/8, 234); vgl. ebd. I/10, 288.

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Rechtsverhältnis begreifen möchte63 . Bereits die in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Staatsdefinition Bodins impliziert mit dem Definitionselement des droit gouvernement in Anlehnung an Ciceros Staatsdefinition (De rep. I/39) die Herrschaft des Gesetzes im Gemeinwesen64 . Was auf die Ablehnung Bodins stößt, ist nicht diese primäre rechtliche Teleologie des Staates, sondern die staatsopponierenden Konsequenzen, die aus einem Bruch der souveränen Gewalt mit dem Recht womöglich gezogen werden könnten. So ist bekanntlich Bodins Souverän an zahlreiche rechtliche Schranken gebunden, v.a. an lex Divina und lex naturae 65 , ferner an die mit seinen Untertanen abgeschlossenen vertraglichen Vereinbarungen66 . 63 Ein zentraler Vorwurf Bodins gegen Machiavelli – als Autor des Principe – im Vorwort der Six livres betrifft die Vernachlässigung des Rechts, speziell des ius publicum: „Es hat aber später Leute gegeben, die aus der Kenntnis [allein] ihres Landes heraus ungetrübt von jeder Kenntnis der Gesetze und zumal des öffentlichen Rechts […], über das, was in der Welt geschieht, geschrieben haben. Sie, so behaupte ich, sind es gewesen, die die heiligen Geheimnisse der politischen Philosophie entweiht und damit die Ursache gesetzt haben für das Wanken und den Zusammenbruch von Staaten, die sich sehen lassen konnten. Ein Beispiel dafür ist Machiavelli, der bei den Hofschranzen der Tyrannen große Mode war […]“ (ebd., 94f.). 64 Lewis 1968, 217. 65 „Wenn wir nämlich jedem, der den Gesetzen nicht unterworfen ist, souveräne Gewalt zusprächen, dann gäbe es auf der ganzen Welt keinen souveränen Fürsten, weil alle Fürsten der Erde den Gesetzen Gottes, dem Naturrecht und verschiedenen von den Menschen gemachten Gesetzen unterstehen, die allen Völkern gemeinsam sind [dem ius gentium, S.S.]“ (Bodin, Rep. I/8, 213); „Ist also der souveräne Fürst schon an die Gesetze seiner Vorgänger nicht gebunden, dann erst recht nicht an seine eigenen Gesetze und Anordnungen. […] Den Gesetzen Gottes und der Natur dagegen sind alle Fürsten der Erde unterworfen und es steht nicht in ihrer Macht, sich über sie hinwegzusetzen, ohne sich eines Majestätsverbrechens an Gott schuldig zu machen und damit offen Gott den Krieg zu erklären“ (ebd., 214); „Wer daher verallgemeinernd behauptet, die Fürsten seien weder an ihre Gesetze, noch auch nur an ihre Verträge gebunden, frevelt Gott, wenn er hiervon nicht die Gesetze Gottes und der Natur und alle mit dem Fürsten geschlossenen redlichen Abmachungen und Verträge ausnimmt“ (ebd., 229). 66 „Es verbleibt damit bei dem Grundsatz, daß der Fürst zwar nicht an seine eigenen Gesetze oder die seiner Vorgänger, wohl aber an rechtmäßige und vernünftige Verträge gebunden ist, an deren Einhaltung die Untertanen in ihrer Gesamtheit oder als einzelne ein Interesse haben. Mithin irren alle, die die Gesetze eines Fürsten und seine Verträge, die sie [einfach] den Gesetzen zurechnen, nicht auseinanderhalten, ebenso, wie jener [Autor], der die Verträge eines Fürsten Vertragsgesetze nennt […] Gesetz und Vertrag müssen daher auseinandergehalten werden. Denn ein Gesetz hängt vom Willen dessen ab, der die Souveränität innehat und damit zwar alle seine Untertanen, nicht aber sich selbst binden kann. Ein Vertrag dagegen begründet wechselseitige Beziehungen zwischen dem Fürsten und den Untertanen und bindet beide Parteien gegenseitig“ (ebd., 215f.).

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Ein Beispiel für die Bindung des souveränen Willens an das Naturrecht findet sich bei Bodin im Begnadigungsrecht, das eines der souveränen Hoheitsrechte darstellt. Bodin problematisiert die großzügige oder beliebige Ausübung dieses Rechts durch den Souverän, weil hierdurch die diesbezüglich strikten Vorgaben durch den göttlichen Willen und die Natur ausgehöhlt würden67 . Das auf eine längere Tradition zurückblickende Gewohnheitsrecht im Staat gilt Bodin ebenfalls als weitgehend verbindlich für den Souverän. Es ist in seiner Verbindlichkeit weitreichender als die neuen, von ihm selbst erlassenen Gesetze. Aus dem Gewohnheitsrecht beziehen auch die leges imperii ihre Geltung – für Frankreich bestimmt Bodin etwa das salische Recht oder das Verbot zur Veräußerung königlicher Domänen als solche fundamentale Gesetze. Die Missachtung der aufgezählten rechtlichen Schranken kann jedoch nicht vonseiten der Untertanen sanktioniert werden. Es ist keine Instanz außer Gott denkbar, vor der man den Souverän für derlei Verstöße anklagen kann. Dennoch wäre es verfehlt, wie etwa Scheuner zu Recht bemerkt, diese Schranken als bloß moralische zu deuten, die ausschließlich das Gewissen des Herrschers betreffen. Denn die Verbindlichkeit der Gesetze des Souveräns und allgemein die Herrschaftsbeziehung zwischen Souverän und Untertanen würde durch derlei Verstöße auf lange Sicht beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen68 . Dem Souverän wird also angeraten, sich selbst zu beschränken, sich an das Gesetz zu binden, um die allgemeine Autorität der Gesetze im Staat zu festigen. Wiederum befindet man sich an der Trennmarke zwischen monarchie royale und den für Bodin primitiven und illegitimen Herrschaftsformen der monarchie signeuriale oder der monarchie tyrannique. In jenem Kapitel der Six livres, in dem sich Bodin mit der Frage des Widerstandes – wohlgemerkt mit äußerster Zurückhaltung und in kritischer Absicht gegenüber der Lehre der Monarchomachen – auseinandersetzt, begrüßt er es explizit, dass sich die Untertanen allen Gesetzen und Befehlen des Souveräns zu 67 „[…] daß von der Strafe, die nach dem Gesetz Gottes verwirkt ist, der souveräne Fürst ebensowenig begnadigen kann wie er sich von der Bindung an die Gesetze Gottes, denen er unterworfen ist, befreien kann“ (ebd. I/10, 308f.). Bodin behandelt als Beispiel den Fall, dass der Souverän Mörder begnadigen würde. 68 „Ein Verstoß gegen das natürliche Gebot nimmt der Anordnung des Fürsten ihre Verbindlichkeit. Das wird zwar von Bodin nirgends klar ausgesprochen, ergibt sich aber, wenn man den Blick auf die allgemeine Anschauung der Zeit richtet. Die höheren Normen des natürlichen und göttlichen Rechts werden von ihr als rechtliche Regeln, nicht bloß als moralische innere Prinzipien angesehen. Es erscheint daher als eine Vorwegnahme späterer Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert, wenn man sich diese Bindung des Fürsten nur als eine moralische innere Grenzlinie vorstellt“ (Scheuner 1973, 386f.).

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entziehen versuchen, die im Sinne der genannten rechtlichen Schranken ungerecht sind, und damit passiv Wiederstand leisten.69 Es gebührt späteren Philosophen, das Souveränitätstheorem mit dem Anliegen der für alle – den staatlichen Souverän eingeschlossen – verbindlichen Herrschaft des Gesetzes miteinander in Einklang gebracht zu haben. Bei Bodin scheinen diese beiden Aspekte noch in einem spannungsvollen und unaufgelösten Verhältnis zueinander zu stehen.

IV. Am Ende der Veranschaulichung von drei unterschiedlichen Dimensionen angelangt, auf denen sich Machiavellis und Bodins Haltungen zur Frage nach der Partizipation darstellen lassen, ist es erforderlich, abschließend auf den Sinn dieser Unterscheidung zurückzukommen. Eine Differenzierung der in der Literatur vorherrschenden Narrative eines Verlustes politischer Partizipation im 16. Jahrhundert scheint, zumindest was die hier untersuchten beiden Autoren anbelangt, plausibel70 . Freilich ist diese Differenzierung mit dem Abrücken von der einseitigen und für Anachronismen anfälligen Verhandlung der Frage ausschließlich auf der Ebene der (demokratischen) Partizipation im Sinne einer aktiven Mitgestaltung aller oder der meisten an den politischen Entscheidungen verbunden. Es hat sich gezeigt, dass Machiavellis (und auch Bodins) politisches Denken zwischen diesem Partizipationsverständnis und einer passiveren-reaktiven Form der Partizipation oszilliert. Elemente der Partizipation im letztgenannten Sinne sind die Reaktion der Beherrschten auf Missstände, ihre Sicherung vor willkürlichen Eingriffen in ihre Lebensplanung und Lebensgestaltung sowie die Einflussnahme gesellschaftlicher und korporativer Gruppen auf 69 „Dagegen darf man ihm durchaus den Gehorsam verweigern, wo [sonst] das Gesetz Gottes oder das Naturrecht verletzt würden oder sich durch Flucht entziehen, sich verbergen oder Schläge parieren. Aber man hat eher in den Tod zu gehen als das Leben oder auch nur die Ehre des Fürsten anzutasten“ (Bodin, Rep. II/5, 369). 70 Auf der Ebene der Institutionengeschichte und der Evolution politischer Praktiken ist der Verlust politischer Partizipation jedoch kaum von der Hand zu weisen, wenn auch die pejorative Entwicklung der politischen Partizipation in Europa in der Frühneuzeit erhebliche regionale Unterschiede aufweist, siehe oben Anm. 9. Bedenkt man zudem die Ergebnisse der herrschaftssoziologischen Studien von Norbert Elias zum absolutistischen Hofstaat, ist das Herrschaftssystem der frühneuzeitlichen Monarchie als komplexes System von Interdependenzen zu verstehen, für das das Attribut „absolutistisch“ irreführend erscheint.

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die magistrale oder monarchische Herrschaftsinstanz im Staat durch die Artikulierung legitimer Bedürfnisse oder durch einfache Betroffenheit. Es zeigten sich hier zudem erhebliche Unterschiede zwischen Bodin und Machiavelli, der im Gegensatz zu Bodin den kommunalen Traditionen Italiens nahe steht und weiter am Anfang jener Entwicklungen steht, die sich im 16. und 17. Jahrhundert hinsichtlich der Genese von Staatlichkeit und der Transformation von Herrschaft und Regierung fassen lassen. Stark gewandelte historische Ausgangsbedingungen sind ursächlich für die nur sehr bedingt gegebene Zugehörigkeit Bodins zum aristotelischen Partizipationsbegriff oder auch zum Verständnis politischer Regierung in Abgrenzung zur dominatio im römischen Republikanismus. Bei Bodin wird das Problem der Partizipation kaum als das Problem der Beteiligung der einzelnen Bürger aufgefasst. Partizipation bedeutet für ihn primär die Beteiligung der Stände und anderer korporativer Gruppen, die das Land sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung vertreten.

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Die Boston Tea Party – Politische Partizipation durch Repräsentation Christine Landfried I. Einleitung Die Boston Tea Party und die darauf folgenden revolutionären Ereignisse in Amerika gehören zu jenen beschleunigten politischen Prozessen, die nach Reinhart Koselleck die Neuzeit einleiteten: Es war die Beschleunigung des politischen Prozesses, die nach der fast einhelligen Wahrnehmung der Zeitgenossen unsere Neuzeit eröffnete, längst bevor die technisch-industrielle Revolution die Beschleunigungen in den normalen Alltag hinein vorantrieb.1

Während die Idee der Partizipation durch Repräsentation die amerikanische Revolution bewegte und diese Idee als Grundlage der republikanischen Regierungsform zu den Originalleistungen“ 2 der amerikanischen ” Verfassung gehört, wird die Praxis der Partizipation durch Repräsentation im 21. Jahrhundert zunehmend kritisiert. Kann uns in der heutigen Krise der repräsentativen Demokratie die Boston Tea Party etwas lehren“ ? ” Ganz bestimmt nicht im unmittelbaren Sinn der Geschichte als einer Lehrmeisterin des Lebens.3 Doch die Strukturen, die das Ereignis der Boston Tea Party ermöglicht haben, sind auch heute für die Reflexion über den Zusammenhang von Partizipation und Repräsentation nicht ohne Bedeutung. Es ist die Hypothese des Beitrages, dass der Erfolg der Boston Tea Party als einer Vorbotin der amerikanischen Revolution in einer ganz spezifischen Antwort auf die damalige Struktur einer Beschleunigung der Politik begründet ist. Diese Antwort bestand in der Verknüpfung des klaren Zieles no taxation without representation“ mit entschlossenem Handeln zur ” richtigen Zeit. Die Kopplung von Deliberation und Dezision hat es den 1 2 3

Koselleck 2000, 238. Loewenstein 1959, 14. Koselleck 1989, 38–66.

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Gegnern der britischen Kolonialmacht ermöglicht, mit ihrem Engagement und ihrer Partizipation an den Aktionen in Boston ihr Ziel einer unabhängigen und repräsentativen Demokratie zu erreichen. The Tea Party stands ” as a dramatic example of popular sovereignty in action, of the people enacting their wishes in defiance of a government that could no longer claim to represent or control them.“ 4 Doch auch die Strukturen ändern sich, und die Geschichte enthält unter” scheidbare Schichten, die sich jeweils schneller oder langsamer verändern, jedenfalls mit verschiedenen Veränderungsgeschwindigkeiten.“ 5 Während die Neuzeit durch einen beschleunigten politischen und einen langsameren gesellschaftlichen Wandel charakterisiert ist, beobachten wir seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Beschleunigung des Wandels sozioökonomischer Strukturen.6 Jetzt kommt die Politik mit dem Tempo der Veränderungen der Wirtschaft und des Finanzsektors, der Technik, der Medien und des Wissens nicht mehr mit. Nun muss eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie es trotz des rasanten sozioökonomischen Wandels in einer entgrenzten Welt gelingen kann, diesen Wandel mit demokratischen Institutionen und Verfahren zu gestalten. Eine neue Verbindung von Deliberation und Dezision ist politisch geboten. Dass sie nicht möglich ist und wir das allmähliche Ende der parlamentarischen Demokratie“ ” erleben, ist noch nicht entschieden.7 Die historische Analyse der Boston Tea Party und ihrer Reaktion auf den beschleunigten politischen Wandel am Beginn der Neuzeit kann unseren Blick für neue Strukturen der gegenwärtigen repräsentativen Demokratien schärfen. Zu diesen neuen Strukturen gehört die Auseinanderentwicklung zwischen einem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel einerseits und einer sich nur langsam ändernden Politik andererseits. Wenn sich die Schere zwischen der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels und der Verlangsamung des politischen Wandels aber zu weit öffnet, dann wird es den demokratisch gewählten Repräsentanten immer weni4 5 6 7

Carp 2011, 233. Koselleck 2000, 238. Ausführlich dazu Landfried 2001, 49–68. Herfried Münkler (2012, 101) nimmt an, dass neue Formen der Beschleunigung ” der Politik“ im 21. Jahrhundert, mit denen man versuche, mit dem Entscheidungstempo der Wirtschaft Schritt zu halten, unweigerlich zu einer Entkopplung von ” Deliberation und Dezision“ führten. Es bliebe keine Zeit für Nachdenken, Beratschla” gen und das Einholen weiterer Informationen“ , weil die Bürger ständig abstimmten. Ich möchte dieser Diagnose nicht zustimmen, weil auch heute Verfahren der Partizipation denkbar sind, die Deliberation und Dezision verbinden.

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ger gelingen, die ihnen davonlaufende gesellschaftliche Entwicklung zu steuern. In einer solchen Perspektive wird dann deutlich, dass die Instrumentalisierung der Boston Tea Party in der gegenwärtigen amerikanischen TeaParty-Bewegung auf antihistorische“ 8 Weise den Strukturwandel ignoriert ” und selbst als Indikator für die Krise der repräsentativen Demokratie interpretiert werden kann. Der Einsatz von Bildern und ihre Verbreitung durch die Massenmedien werden von der Tea Party dazu missbraucht, die Probleme zu vereinfachen und mit einem historischen Fundamentalismus der Irrationalität Tür und Tor zu öffnen. Die Gliederung meines Beitrages folgt der Linie meiner Argumentation. Zunächst werde ich den Verlauf und die Ursachen der Boston Tea Party beschreiben. Anschließend skizziere ich die Idee der Partizipation durch Repräsentation, die weit über die Boston Tea Party hinaus die amerikanische Verfassung beeinflusste. Die Verknüpfung dieser Idee mit rechtzeitigem Handeln wird sodann als spezifische und erfolgreiche Antwort der Boston Tea Party auf die Struktur eines beschleunigten politischen Wandels in der Neuzeit interpretiert. Die neue Struktur eines beschleunigten sozioökonomischen Wandels seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts stellt politisches Handeln in der repräsentativen Demokratie vor neue Aufgaben. Als Beispiel für die Krise der repräsentativen Demokratie wird die amerikanische Tea-Party-Bewegung vorgestellt, die das historische Ereignis für ihre Zwecke in einer geradezu antihistorischen“ Weise instrumentalisiert ” und auf den sozioökonomischen Wandel mit einer unangemessenen Vereinfachung der Probleme reagiert. Abschließend werde ich andeuten, in welche Richtung wir weiterdenken müssen, wenn wir nicht von vornherein ausschließen wollen, dass es möglich ist, den beschleunigten sozialen Wandel in einer entgrenzten Welt mit demokratischen Verfahren und einer neuen Verbindung von Deliberation und Dezision politisch zu gestalten.

II. Die Boston Tea Party als Vorbotin der amerikanischen Revolution Die etwa einhundert Männer der Boston Tea Party, die am 16. Dezember 1773 im Hafen von Boston drei Schiffe der East India Company stürmten und 340 Kisten Tee über Bord warfen (Abb. 1), setzten sich mit ihrer 8

Lepore 2010, 15.

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Abbildung 1. Unbekannter Künstler, Americans throwing the Cargoes of the Tea ” Ships into the River, at Boston“ , 1789.

Aktion gegen eine Teesteuer zur Wehr, die ihnen Großbritannien auferlegt hatte, ohne dass sie im englischen Parlament repräsentiert waren.9 John Adams schreibt in seinem Tagebuch am 17. Dezember 1773 über die Tea Party: Last Night 3 Cargoes of Bohea Tea were emptied into the Sea […] This is the most magnificent Movement of all. There is a Dignity, a Majesty, a Sublimity, in this last Effort of the Patriots, that I greatly admire. The People should never rise, without doing something to be remembered – something notable and striking. This Destruction of the Tea is so bold, so daring, so firm, intrepid and inflexible, and it must have so important Consequences, and so lasting, that I can’t but consider it as an Epocha in History.10

Die als Indianer verkleideten Rebellen hatten mit der Vernichtung des Tees zum letzten Mittel gegriffen. Die Tea Party war kein unüberlegter Aktionismus, sondern hatte politische und ökonomische Ursachen. Die britische Kolonialmacht hatte versucht, die Kriegsschulden aus dem 9 Carp 2011, 1. 10 Butterfield 1964, 85–86.

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Siebenjährigen Krieg zum Teil durch direkte Steuern in den amerikanischen Kolonien wie z. B. die Stempelsteuer von 1765 zu tilgen. Nach dieser Steuer mussten Urkunden, Zeitungen, Karten- und Würfelspiele mit einer Stempelmarke versehen werden. Großbritannien führte nicht nur neue Steuern ein, sondern sorgte auch dafür, dass die Steuern effektiver als bisher eingetrieben wurden. Für das Eintreiben der Steuern wurden zusätzliche Kolonialbeamte eingestellt, die von den Einkünften aus den Steuern bezahlt wurden. Die Selbstverwaltung der Kolonien war ein weiterer politischer Streitpunkt zwischen den Kolonien und Großbritannien. So hatte die ursprüngliche Charta von Massachusetts von 1629 den männlichen Kolonisten das Recht verliehen, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln und die Mitglieder des Repräsentantenhauses zu wählen. Nach der neuen Charta von 1691 wurde der Gouverneur von der Krone ernannt. Der Gouverneur wiederum besaß ein Veto gegen die vom Repräsentantenhaus und vom Council verabschiedeten Gesetze.11 Im Jahr 1773 war Thomas Hutchinson Gouverneur von Massachusetts. Nach Einschätzung des Historikers Benjamin Carp war er der meistgehasste Mann in Boston.12 Stellvertretender Gouverneur war Andrew Oliver, der Schwager Hutchinsons. Die beiden Familien teilten die wichtigsten politischen Ämter in Massachusetts unter sich auf. Als die Stempelsteuer von 1765 vor allem in Boston zu heftigem Widerstand führte, wollte Thomas Hutchinson die Kontrahenten beschwichtigen und warnte davor, das Londoner Parlament zu provozieren. Andrew Oliver wurde zum Verteiler der Stempelmarken in Massachusetts ernannt. Am 14. August 1765 hingen Bildnisse von Andrew Oliver und einem weiteren britischen Steuerbeamten an einer Ulme im Süden Bostons. Der Gouverneur drohte, dass der Sheriff die Bildnisse entfernen werde, doch die Rebellen hielten Wache an der Ulme, die von nun an Liberty Tree“ genannt wurde. ” Die Stempelsteuer wurde wegen des massiven Protestes der Siedler zwar zurückgenommen. Doch im Jahr 1767 beschloss das Parlament in London, neue Steuern auf Tee, Glas, Papier, Blei und Farbe zu erheben. Diese neuen Steuern, nach Finanzminister Charles Townshend die Townshend-Steuern“ genannt, stießen auf den erneuten Widerstand in den ” Kolonien. Insbesondere die Steuer auf den Tee, ein beliebtes Getränk in den Kolonien, wurde als Zumutung empfunden. This tax was hitting Ame” 11 Carp 2011, 17. 12 Carp 2011, 26.

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ricans where it hurt: in their love for tea’s refreshment.“ 13 Die Teesteuer und die strenge Kontrolle des Einhaltens der Zollregeln führten außerdem dazu, dass der Schmuggel mit Tee in den Jahren 1767 bis 1773 blühte. Schmuggel wurde zu einem politischen Akt. By enforcing customs regulations and levying ” new taxes, Parliament had turned the smugglers’ profitable avoidance into political defiance.“ 14 Die Lage spitzte sich zu, als im März 1770 englische Soldaten während einer Auseinandersetzung mit Bürgern von Boston in einer panischen Reaktion fünf Menschen erschossen. Paul Revere, Silberschmied, Graphiker und Revolutionär, hat das Massaker von Boston“ als politische Aussage in ” einem Stich festgehalten (Abb. 2).15 Der Tea Act vom Sommer 1773 war für die Söhne der Freiheit“ , wie ” sich die Gegner der britischen Regierung inzwischen nannten, ein weiterer Beweis für die Willkür der britischen Kolonialmacht. Zum einen wurde mit diesem Gesetz die Teesteuer bestätigt. Zum anderen erhielt die East India Company die exklusiven Handelsrechte für Tee und konnte die Händler aussuchen, die ihren Tee in Amerika verkaufen sollten. Dieses von der Regierung in London unterstützte Monopol wurde in Boston als Präzedenzfall für weitere drohende Monopole interpretiert.16 Die zentrale Rolle, die die East India Company in dem Konflikt zwischen Großbritannien und den amerikanischen Kolonien spielte, verdeutlicht die ökonomischen Ursachen der Boston Tea Party. Die Gesellschaft hatte von Königin Elisabeth nicht nur ein Monopol für den gesamten englischen Handel östlich des Kaps der Guten Hoffnung erhalten, sondern übernahm auch Verwaltungsaufgaben in Indien. Sie baute sich ein eigenes Imperium in Bengalen auf, der Handel blühte, und Großbritannien profitierte von den hohen Einnahmen aus Zöllen. The Company became, along ” with the Bank of England, part of the backbone of national finance.“ 17 Doch das Blatt wendete sich, als in den 1760er Jahren Korruption, Missmanagement und die Gier der Angestellten der Gesellschaft publik 13 Carp 2011, 65. 14 Carp 2011, 76. 15 Ich danke Martin Warnke für den Hinweis auf das Bild von Paul Revere. Das Bild erhielt auch in Europa große Aufmerksamkeit und war das erste Bild eines ” Ereignisses der amerikanischen Geschichte“ (Warnke 2011a, 283). In ihrem weiteren Verlauf wurde die amerikanische Revolution ansonsten nicht von einer großen ” Bildagitation begleitet“ (Warnke 2011a, 284). Zu dem Stich von Paul Revere vgl. Hughes 1997, 86. 16 Carp 2011, 80. 17 Carp 2011, 8.

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Abbildung 2. Paul Revere, Das Massaker von Boston“ , 1770. ”

wurden. Im englischen Parlament wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, um den Vorfällen nachzugehen. War lange Zeit fieberhaft in die Wertpapiere der East India Company investiert worden – auch von vielen Mitgliedern des englischen Parlamentes –, so ging die Nachfrage nach den Papieren 1769 wegen der Nachrichten über einen militärischen Rückschlag in Madras schlagartig zurück. Waves of financial panic and distress ”

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reverberated worldwide.“ 18 Ein schottischer Investor hatte mit mehr Geld spekuliert als seine Bank an Wertpapieren der Gesellschaft besaß. Er lag mit seiner Einschätzung falsch, und provozierte eine Bankenkrise, die sich bis Nordamerika ausdehnte. Es wurde schwieriger, Kredite zu bekommen. Die Bankenkrise führte wiederum zu verzögerten Zahlungen an die East India Company. Die Bank von England gab der Gesellschaft 1772 keinen Kredit mehr.19 Die enge Verflechtung von Ökonomie und Politik, wie sie sich zwischen der East India Company und der britischen Politik herausgebildet hatte, erwies sich nun, als es der Gesellschaft wirtschaftlich schlechter ging, als Problem. Denn nun konnte die Regierung Großbritanniens für die Abbezahlung der Schulden aus dem Siebenjährigen Krieg nicht mehr auf Einnahmen aus der East India Company setzen. Es mussten andere Finanzierungsquellen gefunden werden, und so wurden den amerikanischen Kolonien neue Steuern auferlegt. Als im Oktober 1773 in der Boston Gazette“ angekündigt wurde, ” dass Tee der East India Company auf dem Weg nach Boston sei, waren Freunde wie Gegner der britischen Kolonialmacht alarmiert.20 Gouverneur Hutchinson hatte die britische Regierung im Sommer um Erlaubnis gebeten, für eine Weile Amerika verlassen zu können, um nach England zu reisen. Staatssekretär Lord Dartmouth genehmigte die Beurlaubung Mitte August. Doch der Brief mit der Genehmigung erreichte den Gouverneur erst am 14. November – […] the ship bearing his letter was slow to reach ” Massachusetts“ .21 Damit war es zu spät im Jahr, um noch die Überfahrt nach England zu arrangieren. Hutchinson stand also die Aufgabe bevor, für die ordnungsgemäße Abwicklung der avisierten Teeladungen der East India Company in Boston zu sorgen. Hier wird die Koselleck’sche These ganz deutlich: Wir beobachten im Vorfeld der Boston Tea Party eine Beschleunigung des politischen Prozesses. Der normale Alltag“ hingegen, ” wie eben die Zeit, die es dauerte, per Schiff einen Brief von England nach Amerika zu bringen, wurde von dieser Beschleunigung nicht erfasst. Wie reagierten die Söhne der Freiheit“ auf die Nachricht, dass Schiffe ” mit Tee der East India Company nach Boston unterwegs seien? Sie beschlossen, zunächst die amerikanischen Vertragspartner der East India Company dazu zu bewegen, ihre Verträge aufzulösen. So erhielt die Firma Richard Clark & Son am 1. November 1773 folgenden Brief: 18 19 20 21

Carp 2011, 13. Carp 2011, 14. Carp 2011, 81. Carp 2011, 81.

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The Freemen of this Province understand, from good authority, that there is a quantity of tea consigned to your house by the East India Company, which is destructive to the happiness of every well-wisher to his country. It is therefore expected that you personally appear at Liberty Tree, on Wednesday next, at twelve o’clock at noon day, to make a public resignation of your commission […] Fail not upon your peril.22

Die Kaufleute dachten nicht daran, ihre lukrativen Verträge mit der East India Company zu kündigen. Am 28. November 1773 ging das erste Schiff mit Tee, die Dartmouth“ , im Hafen von Boston vor Anker. Wenn ein ” Schiff den Hafen von Boston erreichte, hatten die Eigentümer zwanzig Tage Zeit, um den Zoll für die Waren zu bezahlen. Die Söhne der Freiheit“ ” hatten also zwanzig Tage Zeit, um ihren Worten No taxation without repre” sentation“ Taten folgen zu lassen. In einer gut besuchten Bürgerversammlung am 29. November wurden u. a. zwei Resolutionen angenommen: Der Tee sollte nach London zurückgebracht werden und niemand sollte Zölle für den Tee bezahlen. Je näher das Ende der Frist für die Verzollung des Tees rückte, desto angespannter wurde die Lage. Am 16. Dezember war die letzte Möglichkeit, den Protest gegen den Tee der East India Company in die Tat umzusetzen. Die Bostoner Bürger trafen sich am Nachmittag im Old South Meeting House. Nachdem man sich darauf geeinigt hatte, das Entladen des Tees zu verhindern, der Gouverneur jedoch nicht die Erlaubnis erteilte, dass die Schiffe unverrichteter Dinge den Hafen verließen, gab es nur noch die Möglichkeit, den Tee zu zerstören. Let us weigh & consider before ” we advance“ , mahnte der Anwalt Josia Quincy zur Bedachtsamkeit. Doch plötzlich stürmten etwa zwanzig als Indianer verkleidete junge Männer in die Versammlung und machten einen Lärm, als seien Hundertschaften unterwegs. Es ist nicht bekannt, ob das Auftauchen der als Indianer verkleideten Rebellen mit den Söhnen der Freiheit“ abgesprochen war.23 Jeden” falls schien für die zeitgenössischen Beobachter mit den Mohawks“ eine ” neue Gruppe ins Spiel zu kommen, die von der Versammlung des Body ” of the People“ zu unterscheiden war. Nach der Überlieferung war es der Lederveredler Adam Colson, der in die Versammlung hinein rief: Bos” ton Harbor a tea-pot this night!“ 24 Damit nahm die Boston Tea Party ihren Lauf. Ohne Gewalt gegen Personen warfen etwa einhundert Männer aus 22 Zit. nach Carp 2011, 85. 23 Carp 2011, 122. 24 Carp 2011, 123.

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Abbildung 3. Philip Dawe (zugeschrieben), The Bostonians in Distress“ , London 1774. ” Sailors feed fish to the Bostonians, who are held captive in a cage suspended from ” the Liberty Tree, surrounded by British troops, warships, and cannons“ (Carp 2011, 197).

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unterschiedlichen sozialen Schichten den Tee in den Hafen. Beneath the ” disguises, the destroyers were mostly craftsmen, but the men boarding the ships also included merchants and political leaders, laborers and apprentices from Boston and beyond.“ 25 Die Reaktionen Großbritanniens ließen nicht auf sich warten. Der Hafen von Boston wurde geschlossen, um den Handel auszutrocknen. Die Selbstverwaltung wurde außer Kraft gesetzt. Boston sollte isoliert werden. Doch das Gegenteil trat ein: Die Kolonien schlossen sich zusammen, und immer mehr Bürger unterstützten das belagerte Boston (Abb. 3). Am 5. September 1774 schickten zwölf Kolonien ihre Delegierten zum ersten Kontinentalkongress nach Philadelphia. Schon am 4. Juli 1776 verabschiedete der zweite Kongress in Philadelphia die Unabhängigkeitserklärung: We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among them are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed […]26

Die Kolonien hätten nun lange genug geduldig ausgeharrt und sich die Übergriffe des Königs von Großbritannien gefallen lassen. Das Volk habe das Recht und die Pflicht, die Tyrannei zu beseitigen und die bisherige Regierungsform zu ändern.

III. Die Idee der politischen Partizipation durch Repräsentation Die neue republikanische Regierungsform basierte auf dem Prinzip der Partizipation durch Repräsentation. Mit diesem Prinzip sollte es möglich werden, eine Demokratie nicht nur in einem kleinen Stadtstaat, sondern in einem Flächenstaat zu verwirklichen. Das Repräsentationsprinzip wurde mit dem Grundsatz der Volkssouveränität, einem föderalen Aufbau des Staates, der Gewaltenteilung und der Begrenzung von Herrschaft in einem System von checks and balances“ kombiniert.27 ” 25 Carp 2011, 126. 26 Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 (Übersetzung: Sautter 2006, 582). 27 Loewenstein 1959, 14–15.

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Die Idee der Partizipation durch Repräsentation war schon in der Zielsetzung der Sons of Liberty“ und der Rebellen der Boston Tea Party ” angelegt. Denn die Kolonisten protestierten nicht einfach gegen zu hohe oder ungerechte Steuern. Sie empörten sich über die Tatsache, dass sie Steuern bezahlen sollten, ohne an der Entscheidung im Parlament über diese Steuern beteiligt zu sein. In der Steuerpolitik geht es um Verteilungsfragen, und aus diesem Grund sind Entscheidungen in diesem Politikfeld stets besonders umstritten. Als zu hoch und als ungerecht empfundene Steuern können zu sozialen und politischen Krisen führen. Wer aber entscheidet, welche Steuerpolitik gerecht ist und welche nicht? Dies war die entscheidende Frage für die Sons of Liberty“ . Nach dem Prinzip ” der demokratischen Repräsentation müssen die Gehorsam heischenden Akte der ” Herrschenden […] aus dem Willen der Beherrschten hervorgehen“ .28 Die Steuern, die Großbritannien den Kolonisten auferlegte, verstießen gegen dieses Prinzip der demokratischen Repräsentation. In der Folge der Boston Tea Party entstand nicht nur eine repräsentative Demokratie, sondern es wurde auch die Unabhängigkeit Amerikas erkämpft. Die nicht leicht zu erklärende Tatsache, dass sich die Männer der Boston Tea Party als Indianer verkleideten, könnte als Symbol für eine neue amerikanische Identität verstanden werden. Das Verhältnis der Kolonisten zu den Indianern war durchaus ambivalent. Das Misstrauen gegenüber den indianischen Völkern verband sich mit Bewunderung insbesondere für die Mohawk-Indianer und ihren Freiheitswillen. Indianer hatten ihren festen Platz in Boston und wurden auch als Verbündete gegen Großbritannien gesehen. Über dem Province House“ in Boston, der Residenz des Gou” verneurs, stellte die Wetterfahne einen Indianer dar, und auf einem Stich von Paul Revere aus dem Jahr 1768 ist es eine Indianerin, die bei der Ankunft britischer Truppen in Boston gemeinsam mit einer Schlange einen britischen Soldaten zu überwältigen sucht (Abb. 4).29 Mit ihrer Verkleidung als Mohawks“ wollten die Männer der Boston ” Tea Party demonstrieren, dass ein freies Amerika sich gegen die Herrschaft des dekadenten Europas auflehnt. […] [a]ccording to this view, Americans of ” all colors were natural natives with natural rights. These were the rights that the tea destroyers, as they boarded the ships, were defending.“ 30 Die Verkleidung als Indianer symbolisierte die Idee einer Neuen Welt, die freier und ursprünglicher war als die tyrannische und korrupte Alte Welt. Die Kolo28 Preuß 1996, 92. 29 Carp 2011, 152–153. 30 Carp 2011, 151.

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Abbildung 4. Paul Revere, A View of Part oft he Town of Boston in New-England ” and Brittish Ships of War Landing their Troops! 1768“ (Detail), Boston 1770.

nisten verstanden sich als neue“ Indianer, die ein unabhängiges Amerika ” verdienten. Thus, an Indian disguise could be a statement about a new American identity, and perhaps a new source of American citizenship. A white man in an Indian costume could envision himself as an American ideal, both civilized and free – the best of both worlds.31

Folgerichtig sollte für die Neue Welt auch eine Verfassung gelten, mit der neue Wege des Regierens beschritten wurden. James Madison, einer der drei Autoren der Federalist Papers, betonte daher den innovativen Charakter der Verfassung: Wäre von Seiten der Revolutionäre nicht der entscheidende Schritt unternommen worden, für den es kein Vorbild gab, hätten sie nicht eine politische Ordnung installiert, für die sie kein entsprechendes Modell vorfanden, dann würde das amerikanische Volk jetzt zu den traurigen Opfern irregeleiteter Ratgeber zählen […] Zum Glück für Amerika, zum Glück, wie wir glauben, für die ganze menschliche 31 Carp 2011, 157.

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Gattung, verfolgten sie einen neuen und besseren Kurs […] Sie errichteten den Bau einer politischen Ordnung, die auf Erden kein Vorbild hat.32

Die Idee der demokratischen Repräsentation war eine Innovation von Dauer.33 Sie beruht auf dem Gedanken, dass ein lebendiger Austausch zwischen Repräsentanten und Repräsentierten zu einer Verbundenheit“ ” zwischen den Bürgern und ihren Vertretern in den Parlamenten führe. Diese Verbundenheit ist die Voraussetzung sowohl für die Verbindlichkeit als auch für die Vernunft politischer Entscheidungen in einer repräsentativen Demokratie.34 Die anspruchsvollen Voraussetzungen einer repräsentativen Demokratie, in der es durch wechselseitige Beeinflussung von Repräsentierten und Repräsentanten gelingen soll, dass sich ein allgemeines Interesse herausbildet,35 waren den amerikanischen Revolutionären bewusst. Eine Republik als Regierungsform mit Repräsentativsystem“ unterscheidet sich von einer ” reinen Demokratie“ darin, dass die Regierungsverantwortung in der Republik ” ” auf eine kleine Anzahl von Bürgern“ übertragen wird.36 Die Federalists“ gin” gen von der Annahme aus, dass die öffentliche Meinung differenzierter und umfassender wird, weil sie das Medium einer ausgewählten Körperschaft passiert, deren Klugheit die wahren Interessen des Landes am besten erkennen lässt […] So kann es geschehen, dass die Stimme des Volkes, wenn sie von seinen Vertretern erhoben wird, eher zum Wohl des Ganzen ertönt, als wenn sie aus dem Volk selber spricht, das zu diesem Zweck zusammentritt.37

Noch heute wird das Ziel der demokratischen Repräsentation in der Er” zeugung von Allgemeinheit“ gesehen und nicht etwa darin, die Wünsche der Bürger unverändert […] zu bewahren und gleichsam in die staatliche Sphäre zu ” heben.“ 38 Auch die Probleme, die für die Partizipation durch Repräsentation entstehen, wenn sich Bürger und ihre gewählten Vertreter entfremden, 32 James Madison, Federalist Paper Nr. 14 (in: Hamilton u. a. 2007, 118–119). 33 Yves Mény fordert, dass auch die Europäische Union neue Wege der Demokratie gehen müsse, weil es wenig sinnvoll sei, die bekannten Modelle einfach zu kopieren (Mény 2002, 13). 34 Preuß 1996, 98. 35 Preuß 1996, 96. 36 James Madison, Federalist Paper Nr. 10, in: Hamilton u. a. 2007, 98. 37 Hamilton u. a. 2007, 98. 38 Preuß 1996, 96.

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wurden von den amerikanischen Revolutionären früh erkannt. So plädierte Thomas Paine in seiner Schrift Common Sense“ aus dem Jahr 1776, ” die innerhalb von drei Monaten 120.000 Mal verkauft wurde,39 für häufige Wahlen. Auf diese Weise könne erreicht werden, dass die Repräsentanten sich möglichst oft unter das Volk mischten: because as the elected by that ” means return and mix again with the general body of the electors in a few months […] this frequent interchange will establish a common interest.“ 40

IV. Die Antwort der Boston Tea Party auf die Beschleunigung der Politik Die Dynamik des politischen Prozesses, der zur Boston Tea Party und schließlich zur Unabhängigkeit Amerikas und zur Verfassungsgebung führte, musste für die beteiligten Akteure eine enorme Herausforderung sein. Wie lassen sich der kurzfristige und langfristige Erfolg der Rebellion erklären? Die Vorgeschichte und der Verlauf der Boston Tea Party zeigen, dass es den Akteuren gelungen ist, ausführliche Debatten über die inhaltlichen Ziele der Rebellion und politisches Handeln, Deliberation und Dezision, zusammenzuführen. Die Rebellen haben die politische Agenda bestimmt und sich durch die Beschleunigung des politischen Prozesses nicht von ihrem Weg abbringen lassen. Sie haben ihre Entscheidungen nicht vorschnell getroffen und beispielsweise dem Gouverneur Hutchinson die Gelegenheit gegeben, die Zerstörung des Tees noch zu verhindern und die Schiffe der East India Company unverrichteter Dinge wieder ziehen zu lassen. Aber sie hatten ein klares Ziel – no taxation without representation“ – und ver” standen dieses konkrete Ziel als Teil des langfristigen Zieles von politischer Freiheit und Unabhängigkeit. Die Rebellen brachten öffentliche Debatten in Gang. So wurden am 29. November 1773 die Bürger von Boston durch Handzettel dazu aufgerufen, sich in der Faneuil Hall zu versammeln, um zu diskutieren, wie man auf die Nachricht reagieren solle, dass Schiffe der East India Company 39 Sautter 2006, 79. 40 Paine 2003, 7. Die Autoren der Federalist Papers hingegen begründeten die Regel, dass die Abgeordneten für das Repräsentantenhaus nur alle zwei Jahre gewählt werden, mit der Notwendigkeit, dass sich die Abgeordneten während ihrer Amtszeit in der Legislative in schwierige Materien einarbeiten müssten (James Madison, Federalist Paper Nr. 54, in: Hamilton u. a. 2007, 332).

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mit Tee nach Boston unterwegs seien. Die führenden Männer des Widerstandes gegen die britische Kolonialmacht wie z. B. vier Abgeordnete des Repräsentantenhauses von Massachusetts, Samuel Adams, John Hancock, William Philips und Thomas Cushing sowie Kaufleute wie William Molineux versammelten sich mit einer großen Anzahl von Bürgern in der Faneuil Hall. Da immer mehr Bostoner eintrafen, wurde die Versammlung in das Old South Meeting House“ , das größte Gebäude der Stadt, verlegt. ” In eben diesem Gebäude fand dann auch das Treffen der Bürger am Tag der Boston Tea Party statt. Bei diesem Treffen der Bürger von Boston am 16. Dezember 1773 wurde die Verknüpfung zwischen Diskutieren und Handeln deutlich. Einige Redner rieten zur Mäßigung und warnten vor den Folgen aufrührerischer Aktionen gegen die Kolonialmacht. Die Arbeitsteilung zwischen Deliberation und Dezision wurde durch die Redner im Saal und die als Indianer verkleideten Rebellen, die plötzlich – vielleicht aber auch geplant – in das Old South Meeting House stürmten, symbolisiert. Bei der anschließenden Tea Party“ waren es Männer aus verschiedenen Schichten ” und mit unterschiedlichen Berufen, die den Tee über Bord warfen.41 Die Öffentlichkeit spielte also für die Verknüpfung von Deliberation und Dezision eine wichtige Rolle. Dies zeigt auch die Entscheidung des Repräsentantenhauses von Massachusetts, die Briefe zu veröffentlichen, die der Gouverneur Hutchinson an die britische Regierung geschickt hatte. Benjamin Franklin, der als Abgesandter die Interessen der Kolonien in London vertrat, waren diese Briefe Hutchinsons an den englischen Politiker Thomas Whately zugespielt worden. Franklin schickte die Briefe, die aus den Jahren 1768 und 1769 stammten, an das Repräsentantenhaus von Massachusetts. Die Abgeordneten beschlossen im Sommer 1773, die Briefe zu veröffentlichen.42 In diesen Briefen empfahl Gouverneur Hutchinson der britischen Kolonialmacht, in Boston mit harter Hand zu regieren, selbst wenn dabei die englischen Freiheiten eingeschränkt würden. Nun waren die Kaufleute von Boston, unterstützt von Politikern wie Samuel Adams und James Otis, erst recht nicht bereit, die ihnen aufoktroyierten Steuern zu akzeptieren. Der Gouverneur wurde angeklagt, die Freiheiten in ganz Amerika zerstören zu wollen.43

41 Vgl. die Liste der Teilnehmer an der Boston Tea Party, soweit diese bekannt sind, bei Carp 2011, 235–239. 42 Carp 2011, 187–188. 43 Carp 2011, 47.

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Neben öffentlichen Debatten und der Veröffentlichung wichtiger Dokumente, wurden Plätze als Anlaufstellen für Aktionen geschaffen. Der Liberty Tree“ in Boston wurde zum Symbol des Freiheitskampfes und zu ” einem Ort für die Zusammenkünfte der Rebellen. Die Verbindung von öffentlichen Debatten und Überlegungen über die zukünftige politische Ordnung auf der einen Seite und wirksamen Aktionen des Widerstandes auf der anderen Seite charakterisierte die Boston Tea Party als eine Vorbotin der amerikanischen Revolution. Auf den beschleunigten politischen Prozess und immer neue Zumutungen der britischen Kolonialmacht antworteten die Revolutionäre mit wohl aufeinander abgestimmten Schritten des Nachdenkens, Entscheidens und Handelns.

V. Die Instrumentalisierung der Tea Party im Amerika des 21. Jahrhunderts Es war das Anliegen der Rebellen der Boston Tea Party, nicht länger zuzulassen, dass Großbritannien von ihnen Steuern verlangte, ohne dass die Kolonien im Londoner Parlament repräsentiert waren. Die grundsätzliche Ablehnung jeder Art von Steuererhöhung durch die gegenwärtige amerikanische Tea-Party-Bewegung kann also nicht mit den Ideen der amerikanischen Revolution begründet werden. Es ist antihistorisch, das Motto no taxation without representation“ in einer Situation in Anspruch ” zu nehmen, in der ein Präsident ins Amt kam, who won the electoral vote ” 365 to 173 and earned 53 percent of the popular vote.“ 44 Wer heute in Amerika das Prinzip No new taxes“ vertritt, kann sich nicht auf die Rebellen der ” Boston Tea Party berufen. Es ist kein Zufall, dass die Tea-Party-Bewegung nach der Einführung Barack Obamas in das Amt des amerikanischen Präsidenten am 20. Januar 2009 an Einfluss gewonnen hat. Denn wie sehr die Anhänger der TeaParty-Bewegung sich auch um die Finanzkrise oder Steuererhöhungen sorgen mögen, ausschlaggebend für die Proteste der populistischen Bewegung war das politische Programm des neuen Präsidenten. „The economic plunge starting in 2008 may have rattled Tea Partiers’ sense of economic well-

44 Lepore 2010, 7. Jill Lepore kritisiert zu Recht, dass die gegenwärtige Tea Party Bewegung geradezu antihistorisch“ sei. In diesem Sinne antihistorisch ist auch das ” Buch von Elizabeth Price Foley (2012).

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being, but it was the progressive policy agenda of Barack Obama that triggered their mobilization.“45 Die Tea-Party-Bewegung agiert insbesondere gegen jede Art von Steuererhöhung. 80 Prozent der Anhänger der Tea Party sind gegen Steuererhöhungen für Amerikaner, die mehr als 250.000 Dollar im Jahr verdienen. Hingegen sprechen sich nur 56 Prozent der Republikaner, die nicht Anhänger der Tea Party sind, gegen solche Steuererhöhungen aus.46 Autoren, die den vielleicht einzig noch gangbaren Weg“ aus der Finanz” krise in einer Erhöhung der Steuereinnahmen sehen, sind der Meinung, dass dieser Weg inzwischen politisch verbaut“ ist. ” Die Auseinandersetzung um die amerikanische Schuldengrenze hat deutlich gemacht, dass sich das Mantra no new taxes“ so verfestigt hat, dass Steuererhöhun” gen politisch unmöglich geworden sind, auch wenn das amerikanische Steuerniveau noch relativ niedrig ist. Dabei scheint es reichen Vermögensbesitzern wie den Brüdern Koch zu gelingen, populistische Bewegungen (Tea Party Movement) zu organisieren, die insbesondere die Republikaner daran hindern, sich auf höhere Steuern oder auch nur die Rücknahme von ursprünglich zeitlich befristeten Steuersenkungen einzulassen.47

Die Finanzkrise wird zum Problem für die repräsentative Demokratie. So wird politisches Handeln zur Bekämpfung der Finanzkrise als wenig erfolgreich und als eher schleppend“ beurteilt.48 Schwindet aber das Ver” trauen der Repräsentierten in die Fähigkeit der Repräsentanten, Probleme effektiv und vernünftig zu lösen, dann besteht die Gefahr, dass die Irrationalität in der Öffentlichkeit an Raum gewinnt. Die Tea-Party-Bewegung und ihre Instrumentalisierung der Boston Tea Party ist ein Beispiel für diese zunehmende Irrationalität der politischen Debatte in Amerika. Das Fernsehen ist dabei nicht nur ein Medium, das ein Massenpublikum über die Aktionen der Bewegung informiert, sondern es kann selbst zum Akteur werden. Im Fall der Tea Party ist es der Fernsehsender Fox News, der sich als Anführer der Bewegung versteht und die antihistorische Debatte durch eigene Aktionen anheizt.49 Jetzt ersetzen nicht nur Massenmedien die Rolle der Kunst in der Darstellung von Macht und Politik, und es kommt auch nicht allein auf die Visagisten an, die die Herrschenden 45 Skocpol/Williamson 2012, 31. 46 Skocpol/Williamson 2012, 31: Tea Partiers’ dread of tax hikes even surpasses the ” usual level at which Republicans worry about and oppose tax increases.“ 47 Beckert/Streeck 2001, 29. 48 Mayntz 2010, 4. 49 Skocpol/Williamson 2012, 121: The Media as Cheerleader and Megaphone.“ ”

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möglichst günstig ins Bild setzen sollen.50 Nun wird der Fernsehmoderator selbst zum Politiker. So schwärmte Moderator Sean Hannity von Fox News in seiner Show am 5. Mai 2009 von den Sons of Liberty“ , die in Boston im 18. Jahrhun” dert unter dem Liberty Tree“ gegen die Steuergesetze protestierten. Er ” vergaß freilich hinzuzufügen, dass die Revolutionäre nicht einfach gegen Steuern, sondern gegen eine Besteuerung ohne Repräsentation gekämpft hatten. Und auf einmal wird eine Graphik von Fox News mit einem neuen Liberty Tree“ eingeblendet: In the spirit of our Founding Fathers, with our li” ” berties once again threatened, we introduce our own Liberty Tree“ . An dem Baum hängen Äpfel, die die Früchte der Freiheit – industry, commerce, security“ – ” darstellen sollen. Die Regierung Obama, so Sean Hannity, vernichte diese Früchte der Freiheit (Abb. 5). 51

Abbildung 5. Fox News Graphik: Ein neuer Liberty Tree“ . ”

Die aktive Unterstützung der Tea Party durch Fox News wird durch eine empirische Studie über die Häufigkeit und die Zeitpunkte der Berichterstattung im Zeitraum vom 15. Februar bis 24. Mai 2009 belegt. Während 50 Warnke 2011b, 349–350: Fine original paintings […] will hardly mobilize the nation, ” the masses, influence public opinion or win an election […] More important than the picture painters in this democratic media are the make-up artists, the visagists.“ 51 Fox News vom 5. Mai 2009 (vgl. Lepore 2010, 8).

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die Berichterstattung bei CNN auf Aktionen der Tea Party reagiert und über die Proteste der Tea Party im April 2009 intensiv berichtet, ist bei Fox News eine zunehmende Zahl an Berichten über die Tea Party schon im Vorfeld der Proteste vom April 2009 zu beobachten. Und auch nach dem Abflauen der Aktionen bleibt die Tea Party in den Sendungen von Fox News präsent.52 Auf einen kurzen Nenner gebracht: Fox served as a ” kind of social movement orchestrator“ .53 Das Engagement von Fox News hat freilich nicht verhindert, dass die Tea-Party-Bewegung nach einer Umfrage aus dem Jahr 2011 bei der amerikanischen Bevölkerung in der Beliebtheit im Vergleich zu zwei Dutzend politischen und religiösen Gruppen an letzter Stelle steht.54 Das abnehmende Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit an der TeaParty-Bewegung55 macht deutlich, dass die Flucht in die Irrationalität bisher nur für einen kleinen Teil der amerikanischen Bürger als Reaktion auf den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel attraktiv ist.

VI. Resümee Die Idee der Partizipation durch Repräsentation beflügelte die amerikanischen Revolutionäre. Die Erfolgsgeschichte der Boston Tea Party wurde in meinem Beitrag durch die klare Zielsetzung in Verbindung mit entschlossenem Handeln erklärt. Das Ziel, Partizipation durch demokratische Repräsentation zu verwirklichen, wurde im Vorfeld der Boston Tea Party wie in der Zeit nach dem Ereignis intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert. Die sich überstürzenden Ereignisse und der beschleunigte politische Prozess haben nicht zu hektischem Aktionismus geführt. Das Nachdenken über eine neue Ordnung blieb ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Revolution und Verfassungsgebung. Die Praxis der Partizipation durch Repräsentation dauert in Amerika nun schon mehr als 230 Jahre und besitzt auch in Europa eine beachtliche 52 53 54 55

Skocpol/Williamson 2012, 131–132. Skocpol/Williamson 2012, 132. Campbell/Putnam 2012, 40. Umfrage der Washington Post-ABC News Poll. Es wurden 1013 Erwachsene per Telefon zwischen dem 5. und 8. April 2012 befragt, ob sie daran interessiert seien, mehr über die Tea Party zu erfahren. Im Vergleich zu den Antworten auf dieselbe Frage zwei Jahre zuvor, sind 2012 deutlich weniger Bürger an Informationen über die Tea Party interessiert.

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Tradition. Doch in einer zunehmend entgrenzten Welt wird der beschleunigte sozioökonomische Wandel zu einer Herausforderung für die repräsentativen Demokratien. Die nationale Politik ist in zahlreichen Feldern in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, die internationale Koordination etwa in der Bekämpfung der Finanzkrise erweist sich als unzureichend56 , und das Regieren jenseits des Nationalstaates ist noch kaum demokratisch legitimiert. Sind wir also am Ende der parlamentarischen Demokratie und der Partizipation durch Repräsentation angelangt? Diese Schlussfolgerung wäre voreilig. Es ist unsere Aufgabe als Wissenschaftler, auf der Basis einer präzisen Analyse der Realität neue Möglichkeiten demokratischen Handelns und neue Verknüpfungen von Deliberation und Dezision vorzuschlagen. If there is to be a new order, legal or ” otherwise, it will be created as much as discovered.“ 57 Auf den beschleunigten Wandel der sozioökonomischen Strukturen und die daraus entstehenden Probleme für die repräsentative Demokratie gibt es nicht nur zwei Reaktionen. Wer nur die Alternative zwischen einer Entschleunigung“ der ” globalen Veränderungsdynamik, die aussichtslos sei, oder einer Beschleu” nigung“ der Partizipation durch ständiges Abstimmen auf Kosten des Nachdenkens im Blick hat,58 unterschätzt die Entwicklungsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie. Zwar sind die Nationalstaaten allein nicht in der Lage, das beschleunigte globale Geschehen zu gestalten. Aber europäisches und internationales Handeln, etwa bei der notwendigen Regulierung der Finanzmärkte, könnten durchaus die globale Dynamik beeinflussen. Und ebenso lassen sich demokratische Verfahren vorstellen, die es zulassen, dass die Bürger häufiger und schneller an Entscheidungen partizipieren und Deliberation und Dezision gleichwohl verknüpft sind. Statt der einfachen Alternative des Entweder-oder“ gilt: Tertium datur! ”

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Stich aus W. D. Rev. Mr. Cooper. The History of North America. London: E. Newbery, 1789. Rare Book and Special Collections Division, Library of Congress (zitiert bei: Carp 2011, 129). Abb. 2: The John Hill Morgan Collection. Abb. 3: Library of Congress Prints and Photographs Division (zitiert bei: Carp 2011, 197). Abb. 4: The American Antiquarian Society (zitiert bei: Carp 2011, 153). Abb. 5: Fox News am 5. Mai 2009.

Rousseau, Condorcet und die Figur des Volks in der Französischen Revolution Martin Schaffner In seinem 2009 erschienen Buch „The Idea of Justice“ ordnet der indische Ökonom Amartya Sen Jean-Jacques Rousseau und den Marquis de Condorcet je unterschiedlichen Kategorien politischer Philosophen zu. Die Traditionslinie, der er Rousseau zurechnet, verbindet Thomas Hobbes, John Locke und Immanuel Kant und führt in die Gegenwart zu John Rawls und seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971). Sen rechnet diese Theoretiker wegen ihres Bemühens um abstrakte Definitionen von Gerechtigkeit einer Denkrichtung zu, die er als „transzendentalen Institutionalismus“ bezeichnet.1 Condorcet dagegen wird von Sen in einer anderen Tradition verortet; dieser gehören Adam Smith, Mary Wollstonecraft, Jeremy Bentham, Karl Marx und John Stuart Mill an. Diesen Denkern sei gemeinsam, dass sie nicht an einer abstrakten, auf „Regeln konzentrierten Vorstellung von Gerechtigkeit“ interessiert seien, sondern an „einem auf Verwirklichung ausgerichteten Verständnis des Begriffs“ (S. 35). Rousseau und Condorcet verkörpern demnach zwei unterschiedliche Typen politischer Theoretiker. Während die einen „vollkommen gerechte Institutionen in einer solchen Welt, in der alle Alternativen verfügbar sind“ andenken (S. 39), suchen die andern mit einem vergleichenden Ansatz nach Realisierungsmöglichkeiten eines ,mehr‘ gegenüber einem ,weniger‘ an Gerechtigkeit. Ich möchte Sens Gegenüberstellung von Rousseau und Condorcet aufnehmen und dazu nutzen, die Bedeutung der beiden im revolutionären Prozess von 1789 bis 1794 darzustellen. Dabei geht es weniger um eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion als darum, einige grundsätzliche Probleme der Theorie und Praxis von Demokratie, wie sie die beiden Autoren artikulieren, zu beschreiben und im revolutionsgeschichtlichen Kontext zu deuten. Ich will zeigen, dass die grundsätzliche Differenz zwischen den Gerechtigkeitskonzeptionen analog auch für ihr Verständnis von Demokratie gilt. Danach besteht das Ziel des Nachdenkens über politische 1

Sen 2010, 33.

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Partizipation nicht darin, – wie Rousseau – eine vollkommene Form von Demokratie auszudenken, sondern darin, – wie Condorcet – auf ein politisches System hinzuarbeiten, das gegenüber einem ,weniger‘ ein ,mehr‘ an Partizipation ermöglicht.

I. Jean-Jacques Rousseau, Kultfigur der Revolution 1789 war es elf Jahre her, seit Rousseau gestorben und in Ermenonville begraben worden war, aber seiner medialen Präsenz in den Auseinandersetzungen der Revolution waren keine Grenzen gesetzt, wenigstens bis 1794/1795. Unaufhaltsam verstärkte sich seine Stilisierung zur Kultfigur. Doch anders als für die unzähligen Menschen, die sein Grab vor 1789 aufgesucht hatten, unter ihnen einfache Bürger so gut wie hochgestellte Persönlichkeiten („halb Frankreich“, wie ein Zeitgenosse spöttisch meinte), um dem Verfasser des „Émile“, die Ehre zu erweisen, war seit 1789 der politische Philosoph, der Verfasser des „Contrat social“, das Objekt der Verehrung. „Tous les citoyens le méditent et l’apprennent par coeur“, schrieb überschwänglich der Rousseauanhänger Louis-Sébastien Mercier im Juni 1791, eine Behauptung, die jeder faktischen Begründung entbehrte. Im „Moniteur“ hatte man 1790 lesen können, Rousseau sei „le fondateur de la Constitution française“, was einer kritischen Überprüfung auch nicht standhält. Und in der Assemblée rief ein Abgeordneter begeistert aus: „Le contrat social a été la charte dans laquelle vous avez retrouvé les droits oubliés“.2 Im Saal der Assemblée stand seit Oktober 1790 eine Büste Rousseaus, geschmückt mit einem Exemplar des „Contrat social“, und im Dezember des gleichen Jahres nahm die Versammlung einen Antrag an, es seien für Rousseau öffentliche Ehrungen zu veranstalten. Landauf, landab wurden Zeremonien organisiert, in deren Mittelpunkt der Philosoph stand. Am Föderationsfest vom 14. Juli 1790 wurde seine Büste vor der Bastille in einem Umzug zur Schau gestellt; sie war aus einem Stein des zerstörten Gefängnisses modelliert und mit einem Lorbeerkranz geschmückt. Sechshundert junge Frauen eröffneten den Zug, flankiert von bewaffneten Garden; eine große Menge folgte der Büste, zu Ehren des Denkers wurden Hymnen gesungen. Ähnliche Zeremonien wurden anderswo in Frankreich zelebriert. Eine Anzahl Gemeinden beschlossen, ihren Namen aufzugeben und sich fortan „Jean-Jacques Rousseau“ 2

Alle Zitate aus: Trousson 2010, 81. Vgl. zur Geschichte der Rousseauverehrung Rousseau et la Révolution, 2012.

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zu nennen. Gleich mehrfach wurden Entschließungen verabschiedet, die Überreste Rousseaus seien ins Pantheon zu überführen, was erst im Oktober 1794 geschah, also nach dem Thermidor. Die Anhänger der Revolution, wie uneinig oder verfeindet sie auch sein mochten, fanden sich in einem Gründerkult, und dessen zentrale Ikone war Rousseau. Zwar ebbte die „rousseaulâtrie“ (Raymond Trousson) nach dem Thermidor ab, doch die Revolutionshistoriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts griffen sie auf und setzten sie auf ihre Weise fort. Den Ton schlug Michelet an, der in der Einleitung zur Revolutionsgeschichte von 1847 eine intellektuelle Triade von Vordenkern der Revolution aufstellte: „Montesquieu écrit, interprète le droit. Voltaire pleure et crie pour le droit. Et Rousseau le fonde“.3 Und in einem weiteren eingängigen Bild hält er wenig später fest: „La Révolution est en marche, toujours Rousseau, Voltaire en tête“.4 Edgar Quinet seinerseits verstieg sich in seiner Darstellung der Revolution von 1865 zur Formulierung: „La Révolution se modèle sur lui; à mesure qu’elle développe, elle semble une incarnation de Jean-Jacques“.5 In einer jener zahlreichen, nicht abschließbaren Debatten, an denen die Historiografie der Französischen Revolution so reich ist, wird seither über die Bedeutung Rousseaus für die Revolution debattiert. Immerhin haben sich inzwischen eine Reihe unbestrittener Einsichten herausgeschält. Die erste mündet in die Feststellung, dass zwischen der Rousseaubegeisterung und dem tatsächlichen Einfluss seiner Theorie auf die politische Praxis kaum eine Entsprechung bestand. Aus der systematischen Durchsicht von Bibliothekskatalogen und aus der Analyse der Pamphletliteratur ergibt sich, dass der „Contrat social“ zwischen 1762 (dem Erscheinungsjahr) und 1789 wenig gekauft und kaum gelesen wurde.6 Die Begeisterung für Rousseau hatte sich am Roman „Julie ou la Nouvelle Héloise“ (1760), am „Émile“ (1762) und an den „Confessions“ (1782) entzündet. Für die wenigen, die den „Contrat social“ zur Kenntnis nahmen, galt das Buch als abstrakt und schwer verständlich: „ … l’auteur s’est enveloppé dans une obscurité scientifique, qui le rend impénétrable au commun des lecteurs“, wie ein Kritiker Rousseaus schrieb.7 Aber auch eine Bewunderin wie Mme. Rolland meinte in einem Brief: „ … Je lis et relis ses discours, et son Contrat social, 3 4 5 6 7

Jules Michelet 1879, 101. In dieser (hier zitierten) Ausgabe relativiert Michelet seine Aussage: „Ces pages ont été écrits en 1847. Elles exagèrent peut-être“. Ders., 34f. Zitiert in: Joan McDonald 1965, 12. Ders., 34sq. Ders., 47.

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que je ne flatte pas d’entendre d’un bout à l’autre“.8 Solide Untersuchungen belegen, dass keine Rede davon sein kann, wie später oft behauptet worden ist, dass Rousseau als einer „des premiers auteurs de la Révolution“ zu gelten habe, wie der Titel des schon zitierten Buches von Mercier aus dem Jahr 1791 suggerierte.9 Doch trifft es zweitens zu, dass Rousseau in den folgenden Jahren zunehmend häufig als politischer Autor zitiert wurde. War der „Contrat“ 1789 seit 17 Jahren nicht mehr als selbstständiger Text erschienen, wurde er 1790 viermal, 1791 dreimal und zwischen 1792 und 1795 dreizehnmal als Buch neu aufgelegt. Allerdings fällt auf, dass sich bis 1792 nicht nur Anhänger der Revolution auf Rousseau bezogen, sondern auch ihre Gegner. Zwar darf man deren Äußerungen nicht überbewerten, handelte es sich doch zum Teil um rhetorische Kniffe, um die Gegner besonders wirksam zu treffen. Dennoch sollten sie uns davor warnen, Rousseau unbesehen zum Vordenker der Revolution zu stilisieren. Zur Vorsicht mahnen muss sogar die häufige Vereinnahmung Rousseaus durch führende Jakobiner wie Robespierre oder Saint-Just. Denn „tatsächlich hängt bei Robespierre alles von der politischen Opportunität ab“, wie der Historiker Bernard Manin treffend bemerkt.10 So hämmerte Robespierre den Abgeordneten unter Berufung auf Rousseau immer wieder ein, sie dürften einzig dem Willen des Volkes folgen, nur um unter anderen Umständen wieder auf die Rechte der Repräsentanten zu pochen. Rousseaus Modell des imperativen Mandats nahm er jedenfalls nicht auf. Wie so oft bei genauer Betrachtung der Vorgänge im einzelnen löst sich auch im Fall Rousseaus eine heute noch immer weit verbreitete Denkfigur auf, wonach nämlich ein Ereignis wie eine große Revolution ohne das Werk intellektueller Vorgänger nicht zu erklären sei, dass die Umwälzungen der Jahre von 1789–1794 ohne Vordenker und ohne deren Traktate, wie der „Contrat social“ einer war, nicht zu verstehen seien. Diese ideengeschichtliche Schablone blendet die medialen und symbolischen Dimensionen politischer Vorgänge, von politischem Handeln überhaupt, aus. Es war nicht Rousseaus Demokratietheorie, die ihn zur Ikone der Jakobiner werden ließ, sondern diese nutzten seinen lange vor der Revolution erworbenen Ruf als sensibler und provozierender Autor, um ihn als philosophische Gründerfigur zu verklären. Mittels aufwändiger Inszenierungen verliehen sie dem populären und skandalumwitterten Autor 8 Ebd. 9 Mercier 1791 . 10 Manin 1996, 1318. Ein ähnliches Urteil formuliert J. McDonald 1965, 57.

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empfindsamer Romane eine politische Aura, machten ihn zum Medium ihrer Machtansprüche. Dennoch: Für uns ist damit die Frage nach der Bedeutung der politischen Theorie Rousseaus im Horizont von 1789–1794 weder beantwortet noch sinnlos geworden. Doch bevor ich sie wieder aufnehme, wende ich mich Amartya Sens Kontrastfigur zu Rousseau zu, dem Marquis de Condorcet.

II. Condorcet, Intellektueller in der Revolution Während Rousseau als Ikone und angeblicher Vordenker der Revolution in den Narrativen der Revolutionsgeschichte omnipräsent ist, tritt Condorcet als Intellektueller, der sich in die politische Praxis stürzte, bloß als einer unter anderen Revolutionsanhängern auf, zudem belastet mit dem Nimbus des zu spät kommenden Verlierers. Gerade das macht ihn für die Historiografie jedoch interessant. Im Jahr 1789 war Condorcet (*1743) 46 Jahre alt, ein renommierter Mathematiker und seit 1769 permanenter Sekretär und Sprecher der Pariser „Académie des Sciences“. Er hatte mathematische Arbeiten verfasst, so eine Schrift über die Integralrechnung („Du calcul intégral“, 1765) und eine Abhandlung über Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Politik („Essais sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix“, 1785).11 Mit einer Reihe von Traktaten propagierte er soziale und politische Reformen; berühmt sind seine Plädoyers gegen die Sklaverei, für die Rechte von Protestanten und Juden und für das Frauenstimmrecht. Mit ihnen profilierte er sich als Angehöriger jener aufgeklärten intellektuellen Elite, die beim überfälligen Umbau des Königreichs Frankreich mitzubestimmen gedachte. Doch paradoxerweise erschwerte der Ausbruch der Revolution im Sommer 1789 dieses Vorhaben, und Condorcet scheiterte mit vielen seiner Vorstöße, obwohl es ihm nicht an Möglichkeiten gefehlt hat, seine Ideen und Vorschläge zu vertreten. Denn mit dem Ausbruch der Revolution hatte sich der scharfsinnige Mathematiker und engagierte politische Schriftsteller für die politische Aktion entschlossen und damit, vor allem als Parlamentarier, ein öffentlichkeitswirksames Forum gewonnen. Er trat 1789 in die Nationalgarde ein und ließ sich in den Gemeinderat von Paris wählen. Als erklärter Republikaner wurde er 1791 zum 11 Zu diesem Aspekt von Condorcets Werk vgl. Condorcet 1994.

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Abgeordneten von Paris in die Legislative gewählt und später als Député des Départements Aisne in den Nationalkonvent. Nach dem Untergang der Gironde provozierte er mit seiner Kritik am Verfassungsentwurf Robespierres den Hass der Jakobiner. Er musste untertauchen, wurde nach ein paar Monaten verhaftet und kam unter ungeklärten Umständen Ende März 1794 im Kerker um. Man muss sich die Umstände bewusst machen, unter denen dieser bedeutende Mathematiker und Autor politischer Reformschriften seine staatspolitischen Vorstellungen zu verwirklichen suchte. Inmitten eines von Gewalt belasteten revolutionären Prozesses, dessen Verlauf nicht voraussehbar und schon gar nicht steuerbar war, bemühte er sich unermüdlich darum, seine Vorstellungen in die politische Praxis zu übertragen. Bedrohungen von Leib und Leben ausgesetzt, hielt er an einem politischen Programm fest, das er aus seinem Verständnis von politischer Rationalität herleitete. Die Historiografie hat Condorcets revolutionäre Tätigkeit, vielleicht unter dem Eindruck seines tragischen Todes, allzu leicht als eine Serie von Misserfolgen beschrieben. Tatsächlich waren einige von Condorcets politischen Interventionen wenig erfolgreich.12 Schon seine Einwände gegen die Einberufung der États Généraux, die er in einer Anzahl kleiner Schriften und in einem umfangreichen Traktat („Essai sur la constitution et les fonctions des assemblées provinciales“, 1788) vortrug, blieben wirkungslos. Als Abgeordneter der Assemblée nationale hatte er sich den Girondisten angeschlossen, doch diese wurden wegen ihrer Uneinigkeit und Unentschlossenheit von radikalen Kräften politisch marginalisiert. Condorcet redigierte in ihrem Auftrag einen Aufruf an das französische Volk, in dem er das Souveränitätsrecht und die Grundsätze der Repräsentation erklären wollte. Aber bevor dieser veröffentlicht wurde, hatte der Aufstand der Commune insurrectionelle vom Sommer 1792 neue Tatsachen geschaffen. Condorcets Plan für die Schaffung eines modernen, liberalen Erziehungssystems, verfasst im Auftrag des Erziehungsausschusses, wurde von der Konstituante im April 1792 nicht einmal debattiert, sondern vertagt. Nicht viel besser erging es ihm mit seinem Verfassungsentwurf (dem so genannten „Entwurf der Girondisten“). Dieser geriet in den Machtkampf zwischen Girondisten und Jakobinern; als die Jakobiner nach dem Aufstand vom 2. Juni 1793 den Konvent kontrollierten, legten sie sogleich ihren ei12 Ich folge hier der Darstellung von Keith Michael Baker 1996, 381–394. K. M. Baker ist der Verfasser einer Biographie Condorcets: Condorcet. From Natural Philosophy to Social Mathematics. Chicago 1975.

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genen Entwurf vor, der das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation durch ein direkt-demokratisches Element durchbrach. Man kann nachvollziehen, dass Condorcet für eine Historiografie, die das Revolutionsgeschehen als Erfolgsgeschichte schreibt, keine Heldenfigur abgibt, und sein skandalöser Tod machte ihn erst recht als Revolutionsikone ungeeignet. Doch einer weniger eng gefassten Perspektive kann nicht entgehen, dass die kurzsichtige Qualifizierung von Condorcets publizistischen und politischen Interventionen nach dem in der Historiografie beliebten Schema „Erfolg / Misserfolg“ weder seiner theoretischen Leistung noch dem Sinn seiner politischen Aktivität angemessen ist. Condorcets Denken vollzieht sich zwar im Kontext der politischen Praxis, d. h. sozialer Konflikte und Machtkämpfe, aber es behandelt grundsätzliche Probleme der modernen Demokratie, und zwar in einer Weise, die ihn von Rousseau unterscheidet. Als Prüfstein für Condorcets Verständnis von Demokratie und für die Unterschiede zwischen seiner und Rousseaus Konzeption dient mir der Ausdruck „das Volk“, eine zentrale Diskursfigur in den Texten beider Autoren.

III. Condorcet: „bons citoyens“ vs. „le peuple“ In einem jener kurzen Texte, wie sie damals auf Flugblättern oder als Pamphlete in Paris und der Provinz zirkulierten, griff Condorcet das Problem der Repräsentation auf. Die Schrift, 1790 oder 1791 gedruckt, trägt den Titel „Le véritable et le faux ami du peuple“, eine deutliche Anspielung auf den Namen der Tageszeitung „L’Ami du peuple“, die Jean-Paul Marat, seit vielen Jahren ein Gegner Condorcets, herausgab. Ebenso deutlich zielt der Untertitel auf den aktuellen politischen Kontext: „Fragment de Théophraste, nouvellement découvert dans la bibliothèque des moines du mont Athos“. Es geht gegen die von radikalen Montagnards propagierten Ideen; als „Mönche“ werden die Führer der Bergpartei, Marat, Robespierre und andere, verspottet.13 In seinem Text spitzt Condorcet den Gegensatz zwischen dem „wahren“ Volksfreund, Philodemos, und dem „falschen“, Demagoras, zu. Philodemos zeichnet sich dadurch aus, dass er dem Volk „edle und nützliche Ratschläge“ 13 Der Text findet sich in: Codorcet 1968, 529–533. Eine deutsche Übersetzung ist abgedruckt in: Condorcet 2010, 150–152. Weil es sich um einen nur wenige Seiten umfassenden Artikel handelt, werden die Zitate hier nicht im einzelnen nachgewiesen. Ich verdanke den Hinweis auf diesen Text Tobias Buser (Basel).

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erteilt („des conseils nobles ou utiles“), sich der „Wut des Volkes“ („fureur du peuple“) stellt, um es vor einem „Verbrechen“ („crime“) zu bewahren. Er bringt ihm bei, dass es „Freiheit nur dort gibt, wo die Gesetze geachtet“ werden („où les lois sont respectées“) und wo den „gewählten Oberhäuptern“ gehorcht wird („où le peuple sait obéir aux chefs, qu’il s’est donnés“). Demagoras dagegen „schmeichelt“ den „Leidenschaften“ des Volkes („quelles passions agitent le peuple, et il les flatte“), „entschuldigt dessen Gewalttaten“ („excuse ses violences“), stimmt allem zu, was es fordert. „Der Wille des Volkes ist ihm Gesetz“ („la volonté du peuple est sa loi“). „Ständig führt der Demagoge das Wort Freiheit im Mund“ („a toujours le mot de liberté dans sa bouche“), und ohne Unterlass spricht er von Gleichheit („parle sans cesse d’égalité“). Die Zeitgenossen müssen den Text als direkten Kommentar zu aktuellen Vorgängen gelesen haben: Angesprochen werden der Aufruhr in den unruhigen Quartieren von Paris, der sich zur „Commune insurrectionelle“ ausweitete, die Auseinandersetzungen zwischen Girondisten und Jakobinern um die Kontrolle der Revolution, Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Chefs wie Brissot und Robespierre. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, verweist Condorcet in zwei Anmerkungen zudem explizit auf die konkreten Ereignisse, auf die er anspielt. Auf der manifesten Ebene entwirft der Text mit der Gegenüberstellung des „wahren“ und des „falschen“ Freundes des Volkes (ein rhetorischer Topos) das Muster der Beziehungen zwischen den Exponenten der politischen Eliten und „dem Volk“, bzw. „den Bürgern“. Dabei wird, zunächst am Beispiel der Athener, ein durchweg negatives Bild des „Volkes“ gezeichnet; seine schlechten Seiten werden aufgezählt: „la légèreté du peuple d’Athènes … son ingratitude … sa caprice … sa fureur“, kurz, „les vices des Athéniens“. In den folgenden Passagen tritt „das Volk“ wie eine Person auf, es ist handlungsmächtig und zu Emotionen fähig. Als ein handelndes Subjekt „begeht“ es „Gewalttaten“ („a commis des violences“) und „Ungerechtigkeiten“ („injustices“), es hat „falsche Ansichten“ („des opinions fausses“), irrt, „will alles selber entscheiden“ („décider par lui-même“), es artikuliert Wut und Groll, schwelgt im „übermäßigen Gefühl seiner Freiheit und seiner Macht“ („sentiment exagéré de sa liberté et de son pouvoir“). In Condorcets kurzem Text, entstanden in einer Zeit labiler, fast täglich wechselnder Machtverhältnisse, tritt „das Volk“ als ein politisch unzuverlässiger, zu allem Schlimmen fähiger Akteur auf. Als Kontrastfigur wird dem „schlechten“ jedoch nicht das „gute Volk“ entgegengehalten, sondern die „guten Bürger“ („bons citoyens“). Diese handeln vernünftig, denn sie verlassen sich auf ihre Urteilskraft („ne font que

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ce dont ils peuvent juger“). An sie wendet sich der „wahre Freund“ des Volkes, mit ihnen tritt er in der Öffentlichkeit auf. Weil die guten Bürger sich durch Tugend, Talent und Liebe zur Freiheit auszeichnen, ziehen sie den Hass des Demagoras auf sich. Auf der manifesten Ebene setzt so der Text „das Volk“, seinen wahren und seinen falschen Freund sowie die „guten Bürger“ in ein Verhältnis. Doch was für Beziehungen werden damit zwischen diesen Figuren hergestellt? Aus einem „close reading“ des Textes ergeben sich drei Beobachtungen. Erstens: Nicht nur der „wahre“ und der „falsche“ Freund bilden ein Gegensatzpaar, sondern auch „das Volk“ und die „Bürger“. Dem Kollektiv des Volkes, dessen innere Zusammensetzung nicht thematisiert wird, steht die Pluralität der Bürger gegenüber. Die Entität des Volkes kontrastiert mit der Vielzahl von Bürgern, also von Individuen, die tugendfähig, vernunftbegabt und politisch verantwortungsbewusst sind. Entgegengesetzt sind zweitens auch die Beziehungen zwischen dem „wahren Freund“ und den Bürgern einerseits und dem „falschen Freund“ und dem „Volk“ andererseits. Der „wahre Freund“ und die „Bürger“ bilden ein Paar, dessen Beziehungen durch Vernunft und Kommunikation geprägt sind. Der „schlechte Freund“ und das „Volk“ hingegen kommunizieren auf einer rein emotionalen Ebene. Deutlicher kann man nicht ausdrücken, dass Condorcet auf die Bürger setzt und ihren „wahren Freund“ als Repräsentanten und nicht auf „das Volk“ des Demagogen, das auf Seiten der Bergpartei den Dreh- und Angelpunkt der radikalen Rhetorik bildet. Das heißt drittens nichts anderes, als dass nicht ein mythisches oder metaphysisches Bild des Volkes und seines Willens die demokratische Ausgestaltung der Machtverhältnisse legitimieren kann, sondern nur ein Verhältnis, das durch Interaktion zwischen den Bürgern und den von ihnen gewählten politischen Repräsentanten geprägt ist. Nicht der irgendwie bestimmte Wille eines imaginären Volkes, sondern die Einsichtsfähigkeit der Bürger und der von ihnen gewählten, mit ihnen interagierenden Vertreter ermöglichen nach Condorcet eine einigermaßen stabile, funktionsfähige Demokratie. In anderen Schriften, zuletzt in seinem Verfassungsentwurf von 1793, hat Condorcet dargelegt, wie er sich die Institutionalisierung der Beziehung zwischen Bürgern und Repräsentanten vorstellte.14

14 Der Text ist abgedruckt in: Condorcet 1968, 333–501, dt. in Condorcet 2010, 173–268.

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IV. Rousseaus „Peuple“, ein vollkommener Bürger Was immer der kurze Text Condorcets als publizistische Intervention im unmittelbaren politischen Kontext bewirken sollte oder bedeutet haben mag: unüberhörbar ist jedenfalls die polemische Spitze gegen Rousseau, oder besser gesagt: gegen den Gebrauch, den die Bergpartei von Rousseaus „Contrat social“ machte. Warum sonst hätte er dem falschen Volksfreund Demagoras Sätze wie diese in den Mund gelegt: „Haben ein paar Briganten einen Aufruhr angezettelt? Das gute Volk!, ruft er aus, ich liebe es dafür umso mehr. Der Wille des Volkes ist ihm Gesetz: Man muss daher allem zustimmen, was das Volk fordert, nicht in den ordentlichen Versammlungen, sondern wenn es im Tumult in den Straßen und unter den Säulengängen zusammenkommt“ („Quelques brigands ont-ils commis des désordres? Le bon peuple! S’écrit-il, je l’en aime davantage. La volonté du peuple est sa loi: il faut donc approuver tout ce que veut le peuple, non dans les assemblées régulières, mais lorsqu’il délibérera en tumulte dans les rues, sous les portiques“).15 War „la volonté du peuple“ nicht das Leitwort des „Contrat social“? Konnte man dort nicht lesen: „De lui-même le peuple veut toujours le bien … “? Allerdings mit dem Zusatz: „mais de lui-même il ne le voit pas toujours“.16 Tatsächlich stellt „le Peuple“ (meist groß geschrieben) im „Contrat social“ die Hauptfigur dar. Auch hier gibt „das Volk von Athen“ die Folie ab: „Quand le peuple d’Athenes, par example, nommoit ou cassoit ses chefs, décernoit des honneurs à l’un, imposoit des peines à l’autre, … exerçoit indistinctement tous les actes du Gouvernement, le peuple alors n’avoit plus de volonté générale proprement dite …“.17 Rousseaus Verständnis von „Volk“ ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint, doch möchte ich einen einzigen, zentralen Aspekt hervorheben, nämlich die Figur des Volks, wie sie im „Contrat social“ konzipiert wird. Dies geschieht ab Buch II anhand dreier Begriffe: „le Peuple“, le „Souverain“, „la volonté générale“. Diese drei Begriffe werden miteinander verknüpft. In der Sprache Rousseaus hört sich das so an: „ … la volonté du peuple ou la volonté souveraine, laquelle est générale“ (III.2, 400 sq.); „ … il (le gouvernement) ne peut jamais parler au peuple qu’au nom du Souverain, c’est-à-dire au nom du peuple même; ce qu’il ne faut jamais oublier“ 15 Condorcet 2010, 151. 16 Rousseau 1964, 380. Um die Auffindung dieses und der folgenden Zitate zu erleichtern, werden Buch und Kapitel des „Contrat social“ (1762) angegeben; die Seitenzahl bezieht sich auf die Ausgabe in den Oeuvres complètes, tome III, Paris (Bibliothéque de la Pléiade) 1964. 17 II.4, 374.

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(III.5, 406). Oder: „ … l’exercice de la volonté générale ne peut jamais s’aliéner, et … le souverain, qui n’est qu’un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même“ (II.1, 368). „Peuple“, „Souverain“, „volonté générale“: Diese drei Ausdrücke bilden ein zirkuläres semantisches System von Verweisen, in dem sich jedes Wort gleichsam durch das andere erklärt. Es sind überdies Wendungen, die sich wie katechetische Formeln verwenden lassen, und man begreift, dass sie zur Begründung oder Rechtfertigung unterschiedlicher, ja gegensätzlicher politischer Programme dienen konnten.18 Rousseaus „Peuple“ gleicht seinem Pendant in Condorcets Text nur insofern, als das Volk ebenfalls personifiziert wird, aber hier fehlen ihm quasimenschliche Eigenschaften wie die Fähigkeit zur Emotion. Dafür wird es als „Körper“ konzipiert: „ … la volonté est générale … elle est … celle du corps du peuple“ (II.2, 369). Aber auch in Rousseaus Text bewegt sich „das Volk“ als Person, wird es explizit in Analogie zum „Individuum“ gesetzt, und damit bleibt die innere Zusammensetzung oder Funktionsweise des „corps du peuple“ außerhalb jeder Wahrnehmung. Rousseau entwirft das Modell eines idealen Staates, in dem das Volk, ausgestattet mit Souveränität, die „volonté générale“ generiert, einen Allgemeinwillen artikuliert, der allein Richtschnur für die Gesetzgebung sein kann. Demokratische Herrschaft kann sich nur legitimieren, wenn sie den Allgemeinwillen zu verkörpern und in konkrete Entscheidungen umzusetzen vermag. Es ist wenig erstaunlich, dass sich die Revolutionäre der Jahre II und III (welche ständig vorgaben, sich auf die Sektionsversammlungen zu stützen) auf den „Contrat social“ beriefen, allen voran Robespierre. In einer Rede vor den Jakobinern sagte er 1792: „Niemand hat uns ein angemesseneres Bild des Volkes („une plus juste idée du peuple“) entworfen als Rousseau, weil niemand es stärker liebte“.19 Ein Satz wie „ … la souveraineté n’étant que l’exercice de la volonté générale ne peut jamais s’aliéner, et … le souverain … ne peut être représenté que par lui-même … “ ließ sich gut anführen, um „den Druck des Volkes auf die Nationalversammlung zu reflektieren und zu rechtfertigen“, wie der französische Historiker Manin bemerkt.20 Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der „Contrat social“ eine Handlungsanleitung für Revolutionäre gewesen wäre, wie nach dem Thermidor und später immer wieder behauptet wurde. Eher diente er als eine Art Lexikon von Begriffen 18 Vgl. die Umschreibung des Souveräns: „On voit … que le pouvoir Souverain, tout absolu, tout sacré, tout inviolable qu’il est …“ (II.4, 375). 19 Zitiert in: Manin 1996, 1326. 20 Ders., 1228. Wie oben, Contrat social, II.1, 368.

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und Wendungen, deren sich die Führer und Anhänger der Revolution, vor allem in den Jahren 1792 und 1793, bedienten, um ihre Machtansprüche zu begründen. Der berühmte Text stellte ein rhetorisches Register zur Verfügung, das in der politischen Praxis einer konfliktreichen, hektischen Zeit vielseitig verwendbar war.

V. Condorcet und Rousseau, unterschiedliche Demokratiemodelle In den heftigen Verfassungsdebatten, die zwischen 1789 und 1794 innerund außerhalb der Konstituante und später des Konvents geführt wurden, standen zwei Demokratiemodelle gegeneinander. Das eine, von Condorcet ausgedacht und seinem Verfassungsentwurf zugrunde gelegt, setzte auf die einzelnen Bürger, billigte ihnen individuelle Interessen zu und definierte Verfahren, durch welche aus unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Präferenzen ein staatlicher Gemeinwille entstehen, eine vernünftige Gesetzgebung resultieren konnten. Weit davon entfernt eine rein technische Angelegenheit zu sein, kam darum der Verfahrensdimension zentrale Bedeutung zu. Das Verfahren musste einerseits dafür sorgen, dass die Bürger ihren Willen wirksam zur Geltung bringen konnten. Andererseits musste es so angelegt sein, dass es effizientes Regieren, d. h. die Verabschiedung von Gesetzen, ermöglichte. Welche Probleme derartige Verfahren schaffen, hat Condorcet in seiner berühmten Schrift von 1785 „Essais sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix“ selbst gezeigt. Die Souveränitätsrechte der Bürger mussten respektiert werden, und gleichzeitig musste die Effizienz des Entscheidungsprozesses gewährleistet sein. Beides war für das revolutionäre Frankreich von allerhöchster Dringlichkeit. Dass die Rede von den Bürgern Inklusionschancen eröffnete, zeigt Condorcets Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung von Frauen, Juden und Protestanten.21 Das andere Demokratiemodell, von Rousseau entwickelt, beruht nicht auf der Dualität von Bürgern und Repräsentanten, sondern hebt diese auf. Zwar sieht auch dieses Modell Abgeordnete vor, aber bloß als weisungsgebundene Beauftragte: „Les députés du peuple ne sont donc ni peuvent être ses 21 Vgl. z. B. seinen Artikel „Sur l’admission des femmes au droit de cité“, Journal de la société 1789, abgedruckt in: Condorcet 1968, 119–130.; dt. in: Condorcet 2010, 108–112.

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représentants, ils ne sont que ses commissaires; ils ne peuvent rien conclure définitivement“ (III.15, 429sq.). Das Volk – ein homogener politischer Körper – ist für die Gesetzgebung selbst zuständig, es übt sein Souveränitätsrecht idealerweise an Bürgerversammlungen aus: „Toute loi que le Peuple en personne n’a pas ratifié est nulle; ce n’est point une loi.“ (III.15, 430). Entstanden durch den Gesellschaftsvertrag (durch den erst aus einer Vielzahl von Individuen ein Volk von Bürgern wird), kann das Volk allein den Gemeinwillen ausdrücken. Der einzelne Bürger hat nicht ein individuelles Interesse zu vertreten, sondern zur Emanation des Gemeinwillens beizutragen. Die Rede vom Volk als Körper legte zudem ein „Innen“ und ein „Außen“ fest, was Exklusionsstrategien Chancen bot. Das Konzept „Volk“, bzw. seine metaphorische Gestalt als Figur bildet die tragende Stütze jeder Demokratietheorie. Stellt man sich das Volk als eine Gesellschaft souveräner und vernunftgeleiteter Bürger vor, muss man sich ausdenken, wie aus einer Vielzahl von Einzelinteressen der politisch notwendige Mehrheitswille entstehen kann. Hier liegt der Kern des Repräsentationsproblems, nämlich wie Einzel- und Gesamtinteresse in Einklang gebracht werden können. Damit das Modell funktioniert, ist nicht die Übereinstimmung der Bürger über die Inhalte der Gesetzgebung erforderlich. Unabdingbar ist dagegen die Bereitschaft zur Anerkennung des Mehrheitsentscheides, und zwar auch durch diejenigen, deren Interessen er nicht entspricht oder gar zuwiderläuft. Notwendige Bedingung für eine derartige Anerkennung ist die Zustimmung zu den Verfahren, durch welche Gesetze zustande kommen. Diese Einsicht lag Condorcets Bemühen zugrunde, eine Theorie kollektiver Entscheidung zu entwickeln. Geht man dagegen von der Idee aus, Träger der Souveränität sei das gesellschaftsvertraglich konstituierte Volk, und die Gesetzgebung habe sich allein an dessen allgemeinem Willen zu bemessen, so stellt sich das Repräsentationsproblem nicht, und man kann sich auf die Einrichtung der direkten, der Versammlungsdemokratie verlassen. Die Legitimität jeder Entscheidung beruht dann einzig darauf, dass diese dem allgemeinen Willen entspricht, wie Rousseau zu betonen nicht müde wird.

VI. Mehr oder weniger unvollkommene Demokratien Das „reale“ Volk Frankreichs der Revolutionszeit bestand nicht aus einer Gesellschaft mündiger Bürger im Sinne Condorcets, und schon gar nicht bildete es einen Volkskörper, wie er Rousseau vorgeschwebt hatte. Die

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Diskursfiguren der politischen Theorie und die soziale Gestalt der Bevölkerung Frankreichs entsprachen sich kaum. Das Frankreich jener Jahre erscheint als eine komplexe Gemengelage adliger, städtisch-bürgerlicher, bäuerlicher und unterprivilegierter Schichten. Jede dieser Gruppen artikulierte in je spezifischer Weise ihre eigenen Interessen und Aspirationen; die Übereinstimmung zwischen ihnen beschränkte sich auf den Glauben an die Prinzipien der „Déclaration“ von 1789 und auf die Forderung nach einer Verfassung. Das Land war keine moderne Nation, sondern ein kompliziertes Konglomerat kulturell und linguistisch disparater „pays“ und Provinzen, deren wirtschaftliche Verflechtung noch gering war. Die Voraussetzungen dafür, dass sich in diesem heterogenen Land ein bestimmtes Demokratiemodell hätte durchsetzen können, fehlten. Dies geschah erst nach drei weiteren Revolutionen und einigen anderen Staatskrisen gegen das Ende des 19. Jahrhunderts in der Dritten Republik. Es war eine Demokratieform, die Rousseau verworfen hätte, und die – obwohl ein Repräsentativsystem – nur partiell den Vorstellungen entsprach, nach denen Condorcet seinen Verfassungsentwurf von 1793 modelliert hatte. Aber im Horizont von 1900 löste diese Verfassung den Anspruch ein, von dem uns Amartya Sen überzeugen will, nämlich ein ,weniger‘ an undemokratischer Herrschaft zu verwirklichen, statt die Idealnorm eines unerreichbaren Demokratiemodells anzustreben.

Literaturverzeichnis Baker (1975): Keith Michael Baker, Condorcet. From Natural Philosophy to Social Mathematics, Chicago. Baker (1996): Keith Baker, „Condorcet“, in: François Furet, Mona Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2, Frankfurt. Condorcet (1968): Marquis de Condorcet, Oeuvres, nouvelle impression en facsimilé de l’édition Paris 1847, vol.1, Stuttgart. Condorcet (1994): Marquis de Condorcet, Arithmétique politique, Textes rares ou inédits, hg. von Bernard Bru et Pierre Cépel, Paris. Condorcet (2010): Marquis de Condorcet, Freiheit, Revolution, Verfassung, hg. von Daniel Schulz, Berlin. McDonald (1965): Joan McDonald, Rousseau and the French Revolution 1762–1791, London Manin (1996): Bernard Manin, „Rousseau“, in: François Furet und Mona Ozouf (Hgg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2, Frankfurt.

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Mercier (1791): Louis-Sébastien Mercier, De Jean-Jacques Rousseau considéré comme l’un des premiers auteurs de la Révolution, Paris (Edition présentée et annotée par Raymond Trousson, Paris 2010). Michelet (1879): Jules Michelet, Histoire de la Révolution française, Tome premier, Paris Rousseau (1964): Jean-Jacques Rousseau, Contrat social, Oeuvres complètes tome 3, Paris Rousseau et la Révolution (2012): Begleitpublikation zur Ausstellung in der Assemblée nationale, Paris. Sen (2010): Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010. Stratenwerth (2007): Günter Stratenwerth, Freiheit und Gleichheit. Ein Kapitel Rechtsphilosophie, Bern. Trousson (2010): Raymond Trousson, “L’apothéose de Jean-Jacques“, in: Rousseau, le génie de la modernité, Nouvel Observateur, Hors-Série

Masse und Elite – Zur Partizipationskritik im 19. Jahrhundert am Beispiel Basels Andreas Cesana Das Gewohnte, Vertraute und selbstverständlich Geltende zu identifizieren und es begrifflich kohärent zu erschließen, stellt bekanntlich eine kulturwissenschaftliche Herausforderung von besonderem Rang dar. In diesem Zusammenhang wird sich zumeist auch herausstellen, wie wenig selbstverständlich gerade dasjenige ist, das mit dem Anspruch fragloser und selbstverständlicher Geltung auftritt. So versteht es sich beispielsweise keineswegs von selbst, dass der Begriff der Elite heute wieder mit großer Unbekümmertheit in einem uneingeschränkt positiven Sinne verwendet wird: Wir wollen Eliteuniversitäten, wir reden von wissenschaftlicher Exzellenz und von bildungspolitischen Exzellenzinitiativen, wir wünschen uns eine neue Elite, die sich durch wissenschaftliche Leistung und technologische Kompetenz auszeichnet. Diese Tatsache ist deswegen überraschend, weil der vom Nationalsozialismus missbrauchte Elitebegriff im universitären Umfeld bis in die 1970er Jahre ein Tabu darstellte. Die Frage, ob es überhaupt eine Elite geben solle und dürfe, ob also die Existenz einer Elite mit dem Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft vereinbar sei, wurde durchaus kontrovers diskutiert. Bemerkenswert ist, dass sich noch in den 1970er Jahren die ideologische Abwehr des Elitebegriffs mit einer normativen Aufwertung des Demokratiebegriffs verband. Dadurch wurden die Eliten wieder in einen Gegensatz zur Demokratie gestellt, und es kam zu einer Kontroverse, die an analoge Debatten im 19. Jahrhundert erinnerte.1 Dass der Elitebegriff heute wieder einen uneingeschränkt positiven Klang besitzt, liegt nicht in der Konsequenz der politischen Debatten, sondern hat andere Gründe. Der Ruf nach einer Elite dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass die Bildungsexpansion im Hochschulsektor ab Anfang der 1960er Jahre rasch an Geschwindigkeit gewann. Die Zahl der Erwerbstätigen mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss hatte sich zwischen 1960 und 1982 von 4 auf 10 Prozent mehr als verdoppelt. Die 1

Vgl. Bluhm u. Straßenberger 2006, 134.

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Zahl liegt in Deutschland heute bei circa 18 Prozent.2 Dieser Prozentsatz zeigt auf, dass die Universitäten sich zu Massenuniversitäten entwickeln mussten. Und Massenuniversitäten sind unter den gegebenen Bedingungen kaum in der Lage, eine akademische Elite auszubilden. So stehen sich auch in der aktuellen Bildungspolitik zwei Begriffe gegenüber, die wechselseitig aufeinander verweisen: Elite und Masse. Denn Elite konstituiert sich durch die Abgrenzung von der Masse und umgekehrt. Das Begriffspaar „Elite und Masse“ bezeichnet einen gesellschaftlichen Antagonismus, der in den Debatten über die verschiedenen Varianten politischer Partizipation im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielte. Es empfiehlt sich, die politischen Standpunkte und die unterschiedlichen Vorstellungen politischer Partizipation nicht abstrakt, sondern an einem konkreten Beispiel darzustellen. Es liegt nahe, dies am Beispiel der Stadt Basel durchzuführen. Das Vorhaben, Basel als Modellstadt einer kleineren Stadtrepublik im 19. Jahrhundert zu erörtern, kann sich auf Lionel Gossman berufen, der im Jahr 2000 seine eindrucksvolle Darstellung Basels „in the Age of Burckhardt“ vorlegte.3 Sein großes Buch über den kleinen Stadtstaat versteht sich zugleich als Gegenstück zu Carl Schorskes Werk über Wien im ausgehenden 19. Jahrhundert, das bereits zwei Jahrzehnte früher erschienen war.4 Den beiden befreundeten Historikern war es ein Anliegen, die intellektuelle Atmosphäre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplarisch an einem weltstädtischen Stadtstaat und einem kleineren Gegenbeispiel, dem Modell der Stadtrepublik Basel, darzustellen. Es versteht sich von selbst, dass ein Beitrag zur Ideen- und Geistesgeschichte Basels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein Thema insbesondere an den Positionen der Basler Klassiker diskutieren wird, also an den, wie Gossman formulierte, „unseasonable ideas“ Johann Jakob Bachofens, Jacob Burckhardts und Friedrich Nietzsches.

I. Die Geschicke der Stadt Basel wurden im 19. Jahrhundert durch einen Kreis alteingesessener, angesehener und wohlhabender Familien bestimmt. Es wäre jedoch missverständlich, von einem Patriziat zu sprechen, da die 2 3 4

Hartmann 2007, 66. Gossman 2000. Schorske 1982.

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Zünfte als Wahlkörperschaften im Basler Regierungssystem seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle spielten. Noch bis 1875 wurden die Mitglieder des Großen Rats nicht nach dem Prinzip der Volkssouveränität, sondern in Wahlzünften (36 Mitglieder) und Quartierversammlungen (83 Mitglieder) von einem engen Kreis von Aktivbürgern gewählt. Ein Hauptunterschied zum Ancien Régime bestand darin, dass eine Wahl auf Lebenszeit nicht mehr möglich und die Amtszeit sowohl im Großen wie im Kleinen Rat auf sechs Jahre beschränkt war.5 Einen Basler Adel gab es seit der Reformation nicht mehr. Die formale staatsbürgerliche Gleichheit war seit 1848 realisiert.6 Der Kanton Basel bestand bis ins beginnende 19. Jahrhundert aus der Stadt Basel und der Landschaft. Die Einwohner der Stadt verfügten im Vergleich zu den Einwohnern der Landschaft über erhebliche Privilegien. Die Forderung nach uneingeschränkter Gleichberechtigung von Land und Stadt führte zu Beginn der dreißiger Jahre zu einer Verschärfung der politischen Lage, zur Bildung einer provisorischen Regierung der Landschaft, zu einem militärischen Eingreifen der Stadt und zur Organisation landschaftlicher Freischaren. Eidgenössische Truppen trugen durch ihre Präsenz zur Beruhigung der Lage bei. Am 3. August 1833 unternahm die Stadt einen militärischen Versuch, die Unabhängigkeit der Landschaft zu verhindern. Das Unternehmen endete in einem Fiasko. Die eidgenössische Tagsatzung verfügte noch im August 1833 die Trennung des Kantons Basel. Seit der Kantonstrennung ist Basel ein Stadtstaat im strengen Sinne. Die Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde durch ein sich beschleunigendes Bevölkerungswachstum bestimmt. Gemäß der ersten kantonalen Volkszählung nach der Kantonstrennung lebten rund 23.000 Personen in der Stadt. 75 Jahre später hat sich die Einwohnerzahl versechsfacht; im Jahr 1910 betrug sie 136.000 Personen. Jacob Burckhardt schreibt am 2. Dezember 1880 an Friedrich von Preen: Dieser Tage hatten wir Volkszählung und vernehmen nun nicht ohne Grauen, dass bloß die Stadt (ohne Riehen, Bettingen und Kleinhüningen) binnen 10 Jahren von circa 45,000 Seelen auf 61,000 gestiegen ist. Und all das Volk kann mitbestimmen, selbst die Aufenthalter. Es ist das größte Wunder, dass diese Masse ihrer Wucht noch nicht mehr bewußt geworden ist, ich fürchte aber, es wird kommen.7

5 6 7

Vgl. Kaegi 2, 380f. Sarasin 1997, 14. Briefe 7, 203.

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Bachofen und Burckhardt zählten sich selbst ohne Zweifel zur Basler Elite. Sie besaßen ein gewisses Standesbewusstsein, zum einen wegen ihrer Zugehörigkeit zu den alteingesessenen Basler Familien, zum anderen als Repräsentanten der Bildungselite. Aufgrund ihrer „doppelten“ Elitezugehörigkeit standen sie den Forderungen nach weitergehender politischer Partizipation der „Massen“ ablehnend gegenüber. Gerade ihre Bildungsgläubigkeit und ihr Vertrauen in die humanisierende Kraft der Bildung trennten sie von den bildungsfernen „Massen“; ihr Bildungsverständnis blieb überaus elitär. Dank einer hervorragenden Quellenlage sind wir über die Basler „Meisterdenker“ gut informiert. Dies versetzt uns in die Lage, ihre politische Gesinnung zu rekonstruieren und die Hauptargumente, mit denen sie ihre Überzeugungen vertraten, darzustellen.

II. Johann Jakob Bachofen, Jurist, Rechtshistoriker, Altertumswissenschaftler und Privatgelehrter, ist einer weiteren Öffentlichkeit vor allem bekannt als Verfasser des 1861 erschienenen monumentalen Werks über Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Bachofen, seiner Zeit zutiefst entfremdet, verkörpert den Antimodernen par excellence. Und es ist diese Opposition zur modernen Welt, die ihn zum Rückzug in die Vergangenheit drängt und ihn veranlasst, sich von der Fachwissenschaft seiner Zeit abzuwenden und eigene Wege zu gehen. Als Schüler Carl Friedrich von Savignys und beeinflusst vom Geist der Historischen Schule vertritt er eine Position, die in der Geschichte die maßgebliche Orientierungsinstanz erkennt und starke Vorbehalte hat gegenüber der Erkenntniskraft philosophischer Rationalität. Bachofens Zugehörigkeit zur historischen Rechtsschule8 dokumentiert sich besonders eindrücklich in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Basel von 1841. Unter dem Titel Das Naturrecht und das geschichtliche Recht in ihren Gegensätzen erteilt er dem Naturrechtsdenken der Aufklärung eine ebenso klare Absage wie der Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus und setzt sich dezidiert für den positiven Standpunkt der historischen Rechtsauffassung ein. Dabei vertritt er das historische Prinzip nicht nur in 8

Im Mutterrecht schreibt Bachofen von „unserer historischen Rechtsschule“ (vgl. GW 2, 399).

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rechtswissenschaftlichen Fragen, sondern generell und grundsätzlich. Auf der Basis seiner Absolutsetzung des historischen Standpunkts entwickelt er eine umfassende Kritik der Moderne: Niemand, so argumentiert er, könne annehmen, dass es sich bei Religion oder Sprache um bewusste Schöpfungen handle. Ebenso wenig dürften die Staats- und Rechtsformen als Resultate bewusster Festsetzungen aufgefasst werden. „Daß je ein Volk sich seine Sprache aus freier Willkür erschaffen oder die Dogmen seiner Religion in selbstbewußter Übereinkunft sich festgesetzt habe, das hat auch der Kühnste aus der Schar der Selbstdenker nie zu behaupten gewagt.“ Das Recht aber fassten sie als etwas ganz Äußerliches auf, als eine Schöpfung freier Willkür und als Ergebnis bewusster Reflexion und mithin als „ein Resultat, das dieselbe Willkür, welche es geschaffen, auch ändern oder selbst ganz wegwerfen könne“.9 Staat und Recht, so lautet Bachofens Hauptthese, haben einen natürlichen Ursprung; sie sind weder rational konzipiert noch künstlich geschaffen, sie sind vielmehr unmittelbarer Ausdruck unbewusster kollektiver Überzeugungen, insbesondere des „Volksgeistes“. – Es wird nun deutlich, worauf es Bachofen bei seinen Darlegungen vor allem ankommt: Er will den Nachweis liefern, dass die geschichtlich gewachsenen Staatsund Rechtsformen gerade deswegen unantastbar sind, weil es sich nicht um bewusst geschaffene Formen handelt. Es geht ihm darum, den, wie er sich gegenüber Savigny einmal ausdrückte, „höhern, von menschlicher Willkür unabhängigen Ursprung der Rechtssysteme“ aufzuzeigen.10 Das rationale Naturrecht ist ein künstliches und menschliches; das geschichtliche Recht hingegen ist von der Geschichte selbst gegeben oder – anders formuliert – es ist durch göttliche Vorsehung mitbestimmt; das geschichtliche Recht ist als göttliches unantastbar und heilig. Wenn Bachofen von Geschichte spricht, so meint er damit immer mehr als Vergangenheit im Sinne eines bloß Gewesenen: Geschichte stellt für ihn das höchste Erfahrungsgebiet dar; in der Erkenntnis der weltgeschichtlichen Zusammenhänge erschließen sich die göttlichen Schöpfungsabsichten. Es ist angemessen, eine solche hypostasierte Auffassung der Geschichte als Geschichtsglauben zu bezeichnen. Folgerichtig erkennt Bachofen in der Bindung des Vernunftvermögens an den unvollkommenen Menschen den Grund für die Unterlegenheit des rationalen Standpunkts gegenüber dem geschichtlichen: Die Vernunft ist menschlich, die Geschichte göttlich. Für den klassischen Rationalismus galt freilich das genau Umgekehrte.

9 GW 1, 13. 10 Bachofen 1916, 316.

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Bachofens historisch argumentierende Zurückweisung des Naturrechts hat nicht nur philosophische Implikationen, sondern auch unmittelbare politische Konsequenzen. Seiner Überzeugung nach haben der Vernunftglaube der Aufklärung und die Ideen der Französischen Revolution die geschichtlichen Fundamente zerstört. Dies bedeutet eine Verletzung des Schöpfungsplans. Die moderne Welt steht im Widerspruch zur übernatürlichen Weltordnung. Also wird Europa seinem Untergang entgegengehen, auch wenn es selbst die Geschichte der letzten hundert Jahre als einen Fortschritt versteht. Am 25. Mai 1869 schreibt Bachofen an den befreundeten klassischen Philologen Heinrich Meyer-Ochsner in Zürich: Ich fange an zu glauben, dass der Geschichtschreiber des 20. Jahrhunderts nur noch von Amerika und Rußland zu reden haben wird. Die alte Welt Europens liegt auf dem Siechbett und wird sich dauernd nicht mehr erholen. Dann werden wir den neuen Weltherrn als Schulmeister und sonst noch recht nützlich sein können, wie weiland die Griechen den römischen Großen, und Gelegenheit haben, die Geschichte dieses „Fortschritts dem Ende zu“ gründlich zu studieren.11

Auch das Aufkommen der modernen Massengesellschaft interpretiert Bachofen als Indiz, dass sich an Stelle der traditionellen eine neue Ordnung erfolgreich durchgesetzt hat. Denn die moderne Zeit, so erklärt er, „liebt keine Individualitäten, sondern nur Massen, Herden von Menschen, die ein Einziger leicht dahin und dorthin zu führen vermag“.12 Dies habe eine Nivellierung der Gesellschaft zur Folge und eine Gleichmachung ihrer Interessen, Wünsche und Ziele. In einem ausführlichen Beitrag in der Beilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 22. und 23. März 1857 schreibt Bachofen: Nach dieser Seite hin drängt alles: Gleichheit der Ansichten, gleicher demokratischer Hang, gleicher Haß der alten Zeit, der alten Staatsformen, insbesondere gleiche Feindschaft gegen die alte Monarchie von Gottes Gnaden […]. Wir sind dem Radikalismus und durch ihn unfehlbar dem napoleonischen Caesarismus verfallen. Dahin geht das Rad der Zeit in seinem unaufhaltsamen Schwunge […]. Daß Land und Volk bei dem Wechsel nichts gewinnen, das ist ganz klar, aber unerheblich. Oder sollte jemand so unerfahren sein, von der neuen Zeit Freiheit zu hoffen?13

Bachofen verwendet den Begriff Demokratie in jenem unpräzisen, politischpolemischen Sinne, wie dies seit der Französischen Revolution zur Bezeichnung der fortschrittlichen Tendenzen üblich wurde. Für Bachofen 11 GW 10, 428. 12 GW 1, 431. 13 GW 1, 435.

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bedeutet Demokratie Herrschaft des Demos. Das Wort bezeichnet bei ihm die negativen Seiten einer Volksgemeinschaft, also die ungebildete Menge, den Pöbel. Über den Demos äußert er sich Heinrich Meyer-Ochsner gegenüber: „Mir ist jede Verbindung mit dem Demos unangenehmer als der drückende Föhn.“14 Demokratie wird nach Bachofens Überzeugung immer in Pöbelherrschaft ausarten, weil sie sich nach der Mehrheit richtet und damit nach dem unberechenbaren Willen der Massen. Es ist das Mehrheitsprinzip, welches das eigentliche Verhängnis der Demokratie bildet. Gegen den demokratischen Grundgedanken, dass sich die Gemeinschaft dem Willen der Mehrheit unterzuordnen hat, führt er mehrfach15 seinen von Cicero übernommenen Leitsatz an: „Semper in re publica tenendum est, ne plurimum valeant plurimi“.16 Bachofen geht es jedoch primär nicht um die Bevorzugung einer bestimmten Regierungsform, sondern um die Respektierung des Prinzips, dass die obrigkeitliche Macht, welche Form sie immer haben mag, in der göttlichen Autorität gründet, also von Gottes Gnaden ist. Darum ist eine Regierung, die ihr Recht aus dem Mandat des Volkes ableitet, gar keine Regierung mehr: „Denn sie soll über dem Volke stehen, als Mandatar steht sie unter ihm. Wie könnte sich der Topf über den Töpfer stellen?“17 Bachofen beobachtet, wie die Lehre der Volkssouveränität und die Idee der Demokratie sich immer mehr zur „praktischen Grundlage unserer öffentlichen Zustände“ ausbilden.18 Doch die vollendete Demokratie sei der Untergang alles Guten, und die Lehre von der Volkssouveränität stehe seinen „tiefsten geschichtlichen und religiösen Überzeugungen entgegen“. Dies heiße nicht, dass er das Volk verachte, sondern es bedeute, dass er eine „höhere Weltordnung anerkenne, der allein die Souverainität und Majestät zukommen kann“. Aus dieser höheren Weltordnung stamme die obrigkeitliche Gewalt. „Das Amt habe ich von Gott, nur die Berufung dazu stammt mir vom Volke.“19 Die Entwicklungstendenz der modernen Welt, erklärt Bachofen, weise auf ihr nahes Ende. Die Gegenwartskrise stehe in der Geschichte der Menschheit nicht isoliert da; sie habe geschichtliche Parallelen, etwa in den Zuständen der absterbenden griechischen und dann der römischen 14 15 16 17 18 19

GW 10, 214 (26. 09. 1860). Vgl. GW 1, 67 mit Anm. 12 (S. 488) und GW 10, 67, 399, 427. Cicero, de rep. 2, 39. GW 1, 419. Bachofen 1916, 328. Bachofen 1916, 329.

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Kultur. Zudem zeige die moderne Welt die charakteristischen Merkmale kulturellen Niedergangs, insbesondere die Rückkehr zu den Ideen und Anschauungsweisen der frühesten Zeit. Bachofen interpretiert die Gegenwartskrise als Rückfall in die Kulturanfänge.20 Das Kreislaufmodell versteht die Kulturentwicklung als organischen Prozess, bei dem das Ende zum Anfang zurückführt. Diese Überzeugung spricht Bachofen in der Vorrede und Einleitung zum Mutterrecht in der Feststellung aus, die Geschichte bestätige vielfach die Beobachtung, „dass die frühesten Zustände der Völker am Schlusse ihrer Entwicklung wiederum nach der Oberfläche drängen. Der Kreislauf des Lebens führt das Ende von neuem in den Anfang zurück. Die folgende Untersuchung hat die unerfreuliche Aufgabe, diese traurige Wahrheit durch eine neue Reihe von Beweisen über allen Zweifel zu erheben.“21 Der gegenwartskritische Bezug dieser Aussage im Einführungskapitel des Mutterrechts mag leicht übersehen werden. Er tritt jedoch deutlich hervor, wenn er – knapp 900 Seiten weiter – neben den Schlusssatz des Buches gestellt wird: Bachofen gibt hier seiner Hoffnung Ausdruck, „dass die jetzt zu ihrem Ende gelangte Untersuchung […] auch für die tiefere Kenntnis des Entwicklungsgangs der heutigen Welt […] nicht ohne Frucht sein wird“22 . Bachofen verbindet seine Ausführungen über die menschlichen Urzustände mit seiner Gegenwartsdeutung: Da der kulturelle Niedergang durch das Wiederaufleben ältester Überzeugungen und Ideen gekennzeichnet ist, dient deren Studium zugleich der kritischen Gegenwartsanalyse. Die Ideen der Demokratie, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Forderung nach Abschaffung des Privateigentums, das moderne Massen- und Herdendasein – dies alles signalisiert das Ende der modernen Welt, denn es handelt sich um Anschauungen und Zustände, die ihr ursprüngliches Vorbild im hetärisch-mutterrechtlichen Anfang der Gesellschaftsentwicklung haben. „Dem mütterlichen Naturprinzip ist jede Ungleichheit, jede Abhängigkeit des einen von dem andern, jede Unfreiheit verhasst. Was aus der Mutter Erde Schoß geboren wird, steht zu der großen stofflichen Urmutter im gleichen Kindesverhältnis.“23 Das Gleichheitsprinzip ist mit der Natur selbst gegeben, es ist Ausdruck einer „materiellen Gerechtigkeit“24 , es umfasst Gleichheit des Besitzes wie der persönlichen Zustände, es verlangt demokratische 20 Vgl. dazu insbes. Bachofens Briefe an H. Meyer-Ochsner (GW 10, 447–449; 15.09.1870) und an J. M. Hornung (GW 10, 512–515; 07.06.1881). 21 GW 2, 48. 22 GW 3, 927. 23 GW 4, 227. 24 GW 2, 377.

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Verhältnisse. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Schlagworte der Französischen Revolution, werden von Bachofen als natürliche Rechtsgrundsätze der menschlichen Urzustände dargestellt. So sonderbar und ausgefallen uns solche Ansichten heute erscheinen mögen, so darf doch nicht übersehen werden, wie sehr Bachofens Geschichtsdeutung durch die heilsgeschichtliche Prämisse bestimmt wird. Zugleich kommt in allen seinen Äußerungen über Geschichte immer auch die Überzeugung zum Ausdruck, dass wir ins Netz der Geschichte verstrickt bleiben, und zwar ohne Möglichkeit, die Art und Weise unserer Verstrickungen je restlos zu durchschauen. Es ist diese elementare Erfahrung der Macht und der Unverfügbarkeit von Geschichte, die alle Basler Geschichtsdenker des 19. Jahrhunderts, von Bachofen bis Overbeck und Nietzsche, teilten. Es handelt sich hier um eine große, noch nicht zureichend erfasste und gewürdigte Thematik. Der Zwang der Geschichte, also ihre zumeist unbemerkte und daher unreflektierte Macht, wird erst im historischen Rückblick erkennbar. Die Basler Geschichtsdenker haben den Zwang der Geschichte gelegentlich ganz persönlich erfahren und historisch durchschaut. Das ist ihr eigentliches Vermächtnis. Dieser Zwang der Geschichte findet in unseren heutigen Debatten eine bemerkenswerte Parallele: den Zwang kultureller Traditionen. In der sich globalisierenden Welt wird täglich offenkundiger, in welchem Ausmaß kulturelle Traditionen unverfügbar und deshalb auch nicht verhandelbar sind. Vor diesem Hintergrund ist es faszinierend, mit welcher Entschiedenheit Johann Jakob Bachofen die naturrechtliche Vorstellung von universalen und überhistorisch verbindlichen Rechtsprinzipien zurückweist und aus seiner geschichtsorientierten Perspektive kategorisch feststellt: „Wie die Gewässer die Färbung des Erdreichs annehmen, das sie durchströmen, so tragen alle, auch die scheinbar abstraktesten Werke des Geistes, die herrschenden Ideen der Zeit, ja selbst ihre Vorurteile an sich.“ Und Bachofen fügte als Beleg für das Gesagte hinzu: „Haben doch die größten Geister der alten Welt, wie ein Plato, sich auch den idealsten Staat nicht ohne das Institut der Sklaverei zu denken vermocht!“25

III. Jacob Burckhardts politische Gesinnung entspricht einem soliden, traditionsorientierten Konservatismus, wie er im Kreis der angesehenen Basler 25 GW 1, 17.

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Familien üblich war. Sein Studium, das er an der Universität Basel begann, setzte er nach vier Semestern in Berlin und Bonn fort, von 1839 bis 1843. In einem Brief vom April 1841 an seine Schwester Louise berichtete er von seiner Begegnung mit Hermann Schauenburg, der in Leipzig Medizin studierte. Nach und nach hätten ihre Gespräche eine politische Wendung genommen: „Er war ultraliberal, ich conservativ.“ Die künftigen konstitutionellen Kämpfe Preußens vor Augen, versuchte Burckhardt seinen Gesprächspartner „über dieß wilde, verwirrte Freiheitsdrängen aufzuklären“. „[…] ich hatte den Muth, conservativ zu sein und nicht nachzugeben. (Liberal zu sein ist die leichteste Sache.)“26 Wenn es mutig ist, sich politisch konservativ zu äußern, so heißt dies wohl, dass die Mehrheit der Kommilitonen liberal, ultraliberal oder gar revolutionär gesinnt war.27 Trotz solcher Selbstzeugnisse vertritt Werner Kaegi die Auffassung, in Burckhardts Berliner Jahren habe eine Akzentverschiebung von der konservativen zu einer eher liberalen Position stattgefunden. Im Juli 1842 schreibt Burckhardt aus Berlin an Heinrich Schreiber, seit bald zwei Monaten sei er beim Grafen Perponcher als Hauslehrer eingestellt, und er fügt hinzu: „Meine Gönnerin, Frau Bettina [von Arnim], wollte mich durchaus nicht in diesem Hause haben; sie fürchtete, ich möchte meinen liberalen Grundsätzen untreu werden. Als ob ein Geschichtsmensch seine Grundsätze von einem Tag auf den andern wechseln könnte!“28 Bei Burckhardts Rückkehr nach Basel machte ihm Ratsherr Andreas Heusler das Angebot, die Redaktion der konservativen Basler Zeitung zu übernehmen. Die Zeitung, die 1831 von einem privaten Konsortium gegründet wurde, galt als offiziöses Organ der Basler Regierung. Burckhardt erklärt in einem Brief an Gottfried Kinkel, er habe diese Stelle hauptsächlich übernommen, „um den hier regierenden schnöden Sympathien mit allem Absolutismus (z. B.: dem russischen) nach und nach den Garaus zu machen und beinebens dem schweizerischen Brüllradikalismus entgegenzutreten“.29 Burckhardts neue Funktion bot ihm die Möglichkeit eigener publizistischer Tätigkeit, die er mit einer Artikelserie über die Schweizerische Kunstausstellung im Stadtcasino eröffnete. Im Juli folgte eine Artikelserie über das Eidgenössische Schützenfest von 1844. Mit diesen Beiträgen geriet er allerdings mitten in die angespannte innenpolitische Lage mit ihrer Vielzahl politischer Gruppierungen und Positionen. Burckhardts Leitarti26 27 28 29

Briefe 1, 164. Vgl. Kaegi 2, 103. Briefe 1, 210. Briefe 2, 86 (21.04.1844).

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kel zur Jesuitenfrage vom 16. Juli ließ die Situation eskalieren. Ratsherr Andreas Heusler übernahm die Leitartikel wieder selbst, und Burckhardt beschränkte sich auf die redaktionelle Aufgabe im engeren Sinne. Das Arbeitsverhältnis wurde auf Ende 1845 aufgelöst. Burckhardt schreibt an Gottfried Kinkel: „Erst am Sylvester, Mittags um 12 Uhr, als ich die letzte Correctur meiner letzten Zeitung aus den Händen legte, schlug die Stunde meiner Befreiung […]. Seitdem ist die Welt für mich wieder anders angemalt; […] die Politik soll mich so bald nicht wieder fangen.“30 Burckhardts Beiträge in der Basler Zeitung sind jetzt im 9. Band der Jacob Burckhardt Werke nachzulesen. Parallel zu seiner Arbeit als Redaktor der Basler Zeitung veröffentlichte Burckhardt – unter dem Pseudonym „Korrespondent von der nördlichen Schweizergränze“ – in der Kölnischen Zeitung vom Dezember 1844 bis zum November 1845 eine Reihe von 33 Beiträgen zur schweizerischen Innenpolitik. In seinem Artikel vom 19. Dezember 1844 über die Jesuitenfrage findet sich die folgende überraschende Zwischenbemerkung: „Wenn doch all die guten Seelen in deutschen Landen, welche dem Kampf der schweizerischen Radicalen gegen die Jesuiten ihre Sympathie widmen, die Menschen sähen, welchen sie guten Erfolg wünschen.“31 Das ist eine typisch Burckhardt’sche Feststellung; sie verbindet Ironie mit pessimistischem Menschenbild, also mit einer Sicht, die den Menschen primär als ein Wesen versteht, das von Natur aus dazu tendiert, sich als Massenwesen wohl zu fühlen, und das die Anstrengung nicht auf sich nehmen will, sich zum selbstbestimmten, unabhängigen Individuum auszubilden. „Kaum ein Zehnteil“ dieser Menschen, so fährt Burckhardt fort, würde aus „reinem, wohlgemeintem Fanatismus“ mitmachen. – Es handelt sich hier um einen frühen Hinweis darauf, dass Burckhardts Sicht und Verständnis von Politik und Geschichte ein bestimmtes Menschenbild voraussetzen. Im Unterschied zum Entwicklungs- und Fortschrittsdenken der Geschichtsphilosophie seiner Zeit zielen Burckhardts kulturgeschichtliche Analysen auf die Identifikation der gleichbleibenden, sich wiederholenden Strukturen. In diesem grundlegenden Punkt besteht eine weitgehende Übereinstimmung mit seinem bevorzugten Philosophen Schopenhauer. Die folgende Feststellung Schopenhauers könnte den meisten Texten Burckhardts als Motto vorangestellt werden: „Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und 30 Briefe 2, 166f. (11.01.1846). 31 JBW 9, 394.

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dem physischen Erdenloose hervorgeht.“32 Burckhardt selbst formuliert es in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen mit Blick auf die fortschrittsorientierten Geschichtsphilosophen folgendermaßen: Sie „betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; – wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches.“33 Unter den Kategorien, anhand derer Burckhardt das „sich Wiederholende, Konstante, Typische“ identifiziert, gibt es eine Reihe von Prämissen oder Grundsätzen, die er sozusagen für historische Universalien hält. Es handelt sich um Grundsätze, mit deren Hilfe Burckhardt das Wesen des Politischen durch die Epochen und Zeiten hindurch zu bestimmen sucht. Unter diesen Deutungskategorien nehmen drei eine zentrale Rolle ein: Macht, Masse und Elite. Die dadurch angesprochenen Themenbereiche überschneiden sich teilweise. Daher empfiehlt sich eine differenziertere Begrifflichkeit, die sich in sieben Grundsätzen präzisieren lässt. Der erste Grundsatz lautet: Der Mensch ist ein nach Macht strebendes Wesen, das seinen eigenen Willen durchsetzen und seinen persönlichen Vorteil erreichen will. Diese Feststellung versteht sich als historisch-anthropologisch begründet. Sie stimmt mit Burckhardts pessimistischem Menschenbild überein und mit seiner Überzeugung vom Elend des menschlichen Erdendaseins, denn nach Macht streben zu müssen trägt selbst schon erheblich zu diesem Elend bei: „Es gehört mit zur Jämmerlichkeit alles Irdischen, daß schon der Einzelne zum vollen Gefühl seines Werthes nur zu gelangen glaubt wenn er sich mit Andern vergleicht und es diesen je nach Umständen thatsächlich zu fühlen giebt. Staat, Gesetz, Religion und Sitte haben alle Hände voll zu thun, um diesen Hang des Einzelnen zu bändigen, d. h. ins Innere des Menschen zurückzudrängen.“34

Für die einzelne Person, so erklärt Burckhardt weiter, seien die Möglichkeiten, an Machtpositionen zu gelangen, zwar begrenzt. Im Großen aber, von Volk zu Volk, gelte es als zeitweise erlaubt und unvermeidlich, „aus irgend welchen Vorwänden über einander herzufallen“.35 Der zweite Grundsatz beruht auf historischer Empirie. Er konstatiert, dass die menschlichen Verhältnisse durch Machtbeziehungen bestimmt werden. Dass Macht für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft unentbehrlich ist, zeigt sich exemplarisch im Verhältnis von Macht und 32 33 34 35

Schopenhauer 1949, 508. JBW 10, 356. JBW 10, 242. JBW 10, 242.

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Recht, denn das Recht bedarf der Macht, um als Recht wirksam werden zu können, und die Macht bedarf des Rechts, damit es ihr Grenzen setzt.36 Der dritte Grundsatz ist philosophisch-ethischer Art. Er besagt, dass Macht an sich böse ist. Diese bemerkenswerte Beurteilung der Macht, die erst durch die postum erschienenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen bekannt geworden ist, bedarf einer etwas ausführlicheren Erörterung. Die wohl am häufigsten zitierte und kommentierte Stelle lautet: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also Andere unglücklich machen.“37 Burckhardts Charakterisierung der Macht als an sich böse gilt sowohl für die individuelle wie auch für die kollektive Machtausübung: Macht ist immer und wesenhaft böse. Sie als „gut“ zu bezeichnen wäre eine contradictio in adiecto. Die Beurteilung der Macht als böse läuft auf ein tragisches Menschenbild und – in der Konsequenz – auch auf ein tragisches Geschichtsbild hinaus, zumal das „Böse auf Erden“, wie Burckhardt erklärt, „Theil der großen weltgeschichtlichen Oeconomie“ sei. In dieser Ökonomie gelte „das Recht des Stärkern über den Schwächern“. Burckhardt findet dieses Recht vorgebildet „schon in demjenigen Kampf ums Dasein, welcher die ganze Natur, Thierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt“; und er findet es bestätigt in der „Verdrängung resp. Vertilgung oder Knechtung schwächerer Racen, schwächerer Völker innerhalb derselben Race, schwächerer Staatenbildungen, schwächerer gesellschaftlicher Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes.“38 – Doch der Stärkere sei als solcher noch lange nicht der Bessere, erklärt Burckhardt, und er verweist auf eine Parallele im Naturgeschehen: „Auch in der Pflanzenwelt ein Vordringen des Gemeinern und Frechern hie und da erweisbar.“39 Und immer wieder kommt Burckhardt auf sein zentrales Anliegen zurück, mit historischen Mitteln nachzuweisen, dass die Macht an sich böse ist, und zwar unabhängig davon, wer die Macht ausübt. Insbesondere der moderne Staat sucht alle Macht an sich zu reißen. Ohne „Rücksicht auf irgend eine Religion“ übernimmt er „das Recht des Egoismus, das man dem Einzelnen abspricht“, und spricht es sich selbst zu. Dies sei, so notiert er sich, etwa zu „exempliren […] mit Louis XIV und Napoleon und revolutionären Volksregierungen“. Der moderne Staat entfaltet seine Macht nicht nur nach außen, sondern auch und insbesondere nach innen. Es kommt zu einer 36 37 38 39

Vgl. etwa Schneider 1970, insbes. 17–60. JBW 10, 419. JBW 10, 148. JBW 10, 148.

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Ausdehnung des Machtbegriffs auf alles und jedes „bis zu den letzten Consequenzen des: l’état c’est moi“.40 Zugleich warnt Burckhardt davor, sich der Illusion hinzugeben, „als ob das Neue, was einmal, oft unter den furchtbarsten Rechtsbrüchen und Gewalttaten geschehen ist, deshalb gerechtfertigt […] gewesen sei, weil später ein neuer irgendwie haltbarer und scheinbar neue Rechtsverhältnisse begründender Zustand darauf gebaut worden ist.“41 Allein aus der Tatsache, „daß aus Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück geworden“ sei, folge „noch gar nicht, daß Böses und Unglück nicht anfänglich waren, was sie waren. Jede gelungene Gewalttat war böse und ein Unglück und allermindestens ein gefährliches Beispiel.“42 Das politische Hauptphänomen seiner eigenen Zeit erkennt Burckhardt darin, dass sich das Individuum gegenüber dem durchorganisierten Machtstaat nicht mehr durchzusetzen vermag. Er spricht von der Abdikation des Individuums vor dem zentralisierten modernen Staat und vor dessen Machtwillen. Dieser Staat organisiere die Ausbeutung der Welt.43 Burckhardts These, dass Macht an sich böse sei, hat eine breite Resonanz gefunden, sowohl zustimmend als auch – und vor allem – ablehnend. Die Charakterisierung der Macht als an sich böse hat kein direktes Vorbild. An einer Stelle ergänzt zwar Burckhardt den Satz „Die Macht ist böse“ durch den in Klammern gesetzten Namen „(Schlosser)“. Gemeint ist offensichtlich der Historiker Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861). Aber alle Recherchen entsprechender Textstellen sind bisher ergebnislos geblieben. Der vierte Grundsatz, der sich historisch und anthropologisch begründen lässt, bringt zum Ausdruck, dass der Mensch dazu neigt, sich Massen anzuschließen und sich in seiner Rolle als Massenmensch wohl zu fühlen. Die Masse ist ein Medium, das nicht nur Sicherheit und Geborgenheit gewährt, sondern auch die Gewissheit, als Teil der Masse Macht zu besitzen. Zugleich hat der Anschluss an die Masse oder an Massenbewegungen etwas Befreiendes: In der Masse verlieren sich alle individuellen Unterschiede, man ist und verhält sich wie alle anderen. Der Verlust der Individualität wird nicht beklagt, sondern als befreiender Akt erfahren. Der fünfte Grundsatz, der auf historischer Empirie beruht, besagt, dass sich Massen unberechenbar verhalten und dass sie moralisch verantwortungslos handeln. Solche Feststellungen beziehen sich zum einen insbesondere auf die Erfahrung der Französischen Revolution, zum anderen 40 41 42 43

JBW 10, 165. GA 7, 292. JBW 10, 535. Vgl. Kaegi 5, 70.

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auf Burckhardts historisch begründete Geschichtsprognosen und Befürchtungen. Am 5. März 1846 schreibt er an Hermann Schauenburg von den „Vorboten des sozialen jüngsten Tages“, von der drohenden „allgemeinen Barbarei“ und der „sozialen Revolution“. „Was jetzt vor dem Vorhang [des Welttheaters] herumhüpft, die kommunistischen Dichter und Maler und dergleichen, sind bloß die Bajazzi, welche das Publikum vorläufig disponieren. Ihr alle wißt noch nicht, was Volk ist, und wie leicht das Volk in barbarischen Pöbel umschlägt.“44 Der sechste Grundsatz, ebenfalls historisch-empirisch begründet, stellt fest, dass sich in der Gesellschaft Masse und Elite gegenüberstehen. Nun ist „Elite“ ein Relationsbegriff: Er kann nicht durch sich selbst, sondern nur durch seinen Gegenbegriff definiert werden, im vorliegenden Fall also durch den Begriff der Masse. Wer von Elite positiv spricht, wertet dadurch die Masse ab. Burckhardt charakterisiert die Massen und ihr irrationales Verhalten mit harten Worten, insbesondere in seiner Geschichte des Revolutionszeitalters. Er hebt das „rasende, besinnungslose Hin- und Herfluthen der Massen“ ebenso hervor wie ihr „dämonisches Mißtrauen“ und ihre „bestialische Gewaltthätigkeit“.45 Der siebte Grundsatz, nach Burckhardts Überzeugung ebenfalls durch historische Erfahrung begründet, lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Er besagt, dass die Herrschaft der Elite der Herrschaft der Massen vorzuziehen ist. Besonders bemerkenswert und bedeutsam ist der dritte Grundsatz, dass Macht an sich böse ist. Er lässt sich mit den Mitteln historischer Empirie nicht rechtfertigen; es handelt sich um ein normatives Urteil und damit um einen Satz persönlicher Überzeugung. 1876 erscheint Nietzsches Vierte unzeitgemäße Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth. In ihr kommt Nietzsche auf Wagners Ring des Nibelungen zu sprechen. Er charakterisiert dieses Werk als „ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens“. Wagner verfüge über die Fähigkeit, „in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Begriffen“ zu denken, das heißt, er denke mythisch.46 Gegen Ende der Betrachtung setzt sich Nietzsche nochmals mit Wotan auseinander, dem tragischen Helden des Musikdramas. Wotan dürstet der Sinn nach Macht, und er unternimmt alles, sie zu gewinnen: Er bindet sich durch Verträge, er wird in den Fluch, der auf der Macht liegt, verflochten, er verliert seine Freiheit. „Da ekelt ihn endlich vor der Macht, welche das Böse und die Unfreiheit im Schoosse trägt […]. 44 Briefe 2, 210. 45 Vgl. etwa JBW 28, 240, 264. 46 KSA 1, 485.

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Und nun fragt euch selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen! Ward diess für euch gedichtet? […] Wer von euch will auf Macht verzichten, wissend und erfahrend, dass die Macht böse ist?“47 Nietzsche war durch die Vorlesung Über das Studium der Geschichte im Wintersemester 1870/71 mit Burckhardts Machtverständnis vertraut. Er gehört zu den wenigen, die Burckhardts Überzeugung, dass Macht an sich böse ist, aufgegriffen haben.

IV. Der Konflikt zwischen Masse und Elite ist nicht zuletzt ein Konflikt über die Aufgaben und Ziele von Erziehung und Bildung. Nachdem die neuhumanistische Bewegung und ihr Bildungsprogramm in das kulturelle Leben Basels Eingang gefunden hatten, kam es um das Jahr 1820 zu einer öffentlichen Kontroverse über den Wert der klassischen Bildung und den Sinn des Latein- und Griechischunterrichts am Gymnasium und an der Universität.48 Der Bildungsstreit kam in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr zur Ruhe. Eines der ersten Zeugnisse dieser Kontroverse stammt von Franz Dorotheus Gerlach, Professor für lateinische Philologie an der Universität und am Paedagogium, also an der Oberstufe des Gymnasiums. Gerlach ist eine zentrale Figur in der Geschichte des Basler Neuhumanismus. Er war der Lateinlehrer sowohl Johann Jakob Bachofens als auch Jacob Burckhardts. Insbesondere mit Bachofen blieb er freundschaftlich verbunden. Burckhardt und Nietzsche wurden später seine Kollegen an Paedagogium und Universität. 1822 legte Gerlach eine programmatische Stellungnahme zum Wert klassischer Bildung vor. Der Vorteil humanistischer Bildung, so heißt es hier etwa, bestehe in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsformung. Das Studium der Sprachen von Hellas und Rom habe höchste Bedeutung für die Entwicklung der wissenschaftlichen und geistigen Fähigkeiten des jungen Menschen und damit für die Entfaltung des eigentlichen Menschseins. Dieses Bildungsprogramm richtete sich polemisch gegen zwei Zeittendenzen: zum einen gegen den christlichen Pietismus, dem die intensive Beschäftigung insbesondere mit der griechischen Kultur nie geheuer war; zum anderen und vor allem richtete es sich gegen die Tendenz, den 47 KSA 1, 508f. 48 Vgl. Staehelin 1959, 149–154, und Staehelin 1961, 140–157.

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Gymnasialunterricht mehr auf die Berufsinteressen der künftigen Beamten, Kaufleute und Ingenieure auszurichten. Es ist daher nicht überraschend, dass sich die politische Polemik der radikalen Bewegung gegen die Förderung und Privilegierung einer Bildungselite richtete. Die Polemik führte schließlich zu der seit der Kantonstrennung von 1833 wiederholt vorgebrachten Forderung, die Universität aus Kostengründen zu schließen – und dies in der humanistisch geprägten Universitätsstadt Basel. Einer der letzten Beiträge zu dieser sich über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckenden Kontroverse stammt von Friedrich Nietzsche. 1872 hielt er im Auftrag der Akademischen Gesellschaft in Basel fünf öffentliche und von der Öffentlichkeit auch wahrgenommene Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Es waren Verteidigungsreden des neuhumanistischen Bildungsideals, Plädoyers für die Förderung des Individuums zu eigenständiger und produktiver Intellektualität und Aufrufe zur Etablierung einer „Geistesaristokratie“. Zugleich entwickelte Nietzsche – wortgewaltig, bilderreich und nicht immer ganz präzise – ein eindrucksvolles Bild der Größe der Aufgabe und ihrer Schwierigkeiten.49 Bachofen, Burckhardt, der junge Nietzsche – gemeinsam ist ihnen, trotz aller Unterschiede, erstens die durch die neuhumanistische Bewegung geprägte Grundstimmung sowie die Überzeugung, dass in einer weitgehend orientierungslosen Gegenwart die Beschäftigung mit der kulturellen Überlieferung einen Weg aufzeigt, sich seines eigenen Ortes zu vergewissern. Gemeinsam ist ihnen zweitens die Oppositionshaltung gegenüber dem modernen Wissenschaftsbetrieb, der mit seiner Faktenorientierung und positivistischen Forschungseinstellung dem auf ganzheitliche Persönlichkeitsformung ausgerichteten Bildungsanliegen des Neuhumanismus widerspricht. Eine dritte Gemeinsamkeit besteht in ihrer unvoreingenommenen, gegen die deutsche Klassik gerichteten Sicht der griechischen Antike. Der Neuhumanismus der deutschen Klassik berauschte sich am Bild eines idealisierten Griechentums und eines vollkommenen Zeitalters, mit dem sich keine spätere Zeit an Harmonie, Vollendung, Glück und Heiterkeit vergleichen könne. Im Kapitel Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens der Griechischen Culturgeschichte führt Burckhardt u. a. aus: „Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr aus Jahr ein im Entzücken leben müssen.“ Und er bezeichnet das klassische Griechenlandbild als eine „der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urtheils welche

49 Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in: KSA 1, 641–752.

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jemals vorgekommen, und um so unwiderstehlicher, je unschuldiger und überzeugter sie auftrat.“50 Eine vierte Gemeinsamkeit schließlich wird kaum je eigens angesprochen und ist doch wohl die grundlegendste: die historische Wende, also die geschichtliche Betrachtung als wesentliches Bildungsziel. In seinem nach Basler Tradition selbst verfassten Nekrolog schreibt Jacob Burckhardt: „Die Aufgabe seines akademischen Lehrstuhls glaubte er […] weniger in der Mitteilung spezieller Gelehrsamkeit erkennen zu sollen, als in der allgemeinen Anregung zur geschichtlichen Betrachtung der Welt.“51 Fünftens ist den Basler Geschichtsdenkern gemeinsam, dass sie sich der Tatsache bewusst sind, in welchem Ausmaß die Französische Revolution auf das Gegenwartsgeschehen bestimmend einwirkt, auch wenn der zumeist unbemerkte Einfluss erst noch erfasst und identifiziert werden muss. Die historische Betrachtung des Revolutionszeitalters lässt die neuen Prämissen der eigenen Zeit schärfer erkennen. Zu den neuen Voraussetzungen zählt auch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Masse, Macht und Elite. Insbesondere Jacob Burckhardt hat dieses neue Beziehungsgefüge an zahlreichen Beispielen aufgezeigt und darauf hingewiesen, dass die Revolution Resultate gehabt hat, „welche uns selber schon bedingen und integrirende Theile unseres Rechtsgefühls und Gewissens ausmachen, die wir also nicht mehr von uns ausscheiden können“.52 Das 1960 unter dem Titel Masse und Macht erschienene Werk Elias Canettis stellt wohl die bis heute maßgebliche und unerreichte Analyse des komplexen Verhältnisses von Masse, Macht und Elite dar. Canetti, der sich wiederholt auf Jacob Burckhardt berufen hat, lernte dessen Werke schon in seiner Jugendzeit kennen. Insbesondere mit der Griechischen Kulturgeschichte und mit den Weltgeschichtlichen Betrachtungen setzte er sich immer wieder von neuem auseinander, wie Canetti selbst erklärte: Diese beiden Werke haben mich später immer begleitet, und ich glaube, dass mein wichtigstes Werk, an dem ich die meisten Jahre meines Lebens gearbeitet habe, Masse und Macht, ohne den Einfluss Burckhardts völlig undenkbar wäre. Vielleicht lässt sich das nicht so direkt feststellen, aber ich in mir weiß, dass ich mich daran genährt habe.53

50 51 52 53

JBW 20, 350. GA 1, IX. JBW 28, 3 Das Porträt: Elias Canetti. Fernsehsendung des Deutschschweizer Fernsehens, 11. Juli 1968. Vgl. Bischoff 1973, 16.

Masse und Elite – Zur Partizipationskritik im 19. Jahrhundert

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Siglenverzeichnis Briefe Jacob Burckhardt: Briefe, vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe, mit Benützung des handschriftlichen Nachlasses hergestellt von Max Burckhardt, 11 Bde., Basel, 1949–1994. GA Jacob Burckhardt: Gesamtausgabe, 14 Bde., Stuttgart, Basel, 1929–1934. GW Johann Jakob Bachofen: Gesammelte Werke, bisher 8 Bde., Basel 1943ff. JBW Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung, München, Basel 2000ff. Kaegi Werner Kaegi: Jacob Burckhardt. Eine Biographie, 7 Bde., Stuttgart, Basel 1947–1982. KSA Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2., durchges. Aufl., 15 Bde., München, Berlin, New York 1988.

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Politische Partizipation in der UdSSR als Forschungsproblem im Kalten Krieg – Eine historische Rückschau1 Frithjof Benjamin Schenk I. Einleitung Die Auseinandersetzung mit Fragen politischer Partizipation findet traditionellerweise vor allem in der politikwissenschaftlichen Forschung statt. Rainer-Olaf Schultze hat „Partizipation“ gar als „Schlüsselbegriff politikwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis“ bezeichnet.2 Als „Partizipation“ gelten nach seiner Definition „alle diejenigen Formen politischer Beteiligung, die Bürger freiwillig, individuell und/oder kollektiv im Verbund mit anderen unternehmen, um politische Entscheidungen direkt oder indirekt zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“3 Als gegenwartsorientierte Sozialwissenschaft befasst sich die Partizipationsforschung vor allem mit Fragen der Teilnahme bzw. Teilhabe von Bürgern am politischen Prozess in modernen Demokratien. Zunächst interessierte sie sich dabei vor allem für jene Möglichkeiten des Einzelnen, in formalen und legalen Strukturen (z. B. im Rahmen von Wahlsystemen, Wahlkämpfen und Parteien) an politischen Entscheidungsprozessen und Repräsentationsvorgängen mitzuwirken, wobei zwischen Formen der „direkten“ und „indirekten“ bzw. der „konventionellen“ und „unkonventionellen Partizipation“ unterschieden wurde.4 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Studentenproteste der 1960er Jahre und der damit verbundenen „partizipatorischen Revolution“ erfuhr das Konzept der Partizipation in der Forschung eine deutliche Erweiterung.5 Seither werden auch unkonventionelle Formen politischen Handelns, wie zum Beispiel 1 2 3 4 5

Ich danke Petra Stykow und Bianca Hoenig für Literaturhinweise und konstruktive Kritik an früheren Versionen dieses Textes. Schultze 1995, 396. Schultze 2005, 675. Zu einer älteren Definition vgl. Verba u. a. 1978, referiert u. a. bei Hahn 1988, 27. Vgl. Brockhaus Enzyklopädie 2006, 65. Schultze 1995, 404.

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Bürgerproteste und Bürgerinitiativen sowie wilde Streiks, die Verweigerung formaler Mitwirkung (z. B. Wahlboykott) oder die Ausübung politisch motivierter Gewalt als Formen politischer Partizipation diskutiert.6 Heute differenziert die politikwissenschaftliche Forschung zwischen einem „instrumentellen“ und einem „normativen“ Verständnis von Partizipation sowie zwischen unterschiedlichen Formen der politischen Teilhabe, die von der Teilnahme an Wahlen bis zur Ausübung von Gewalt gegen Personen und Sachen reichen.7 Anders als in der Politikwissenschaft hat das Konzept der Partizipation in der Geschichtswissenschaft (noch) keine vergleichbare forschungsleitende Kraft entfalten können. Zwar interessieren sich auch Historiker für Fragen der Teilnahme und Teilhabe von Menschen am politischen Prozess in unterschiedlichen Epochen. Fragen wie diese werden in der historischen Forschung jedoch eher unter anderen Begriffen verhandelt, wie zum Beispiel dem der „Loyalität“, der „Treue“ oder der „Öffentlichkeit“.8 Da sich die Geschichtswissenschaft in den 1960er und 1970er Jahren bei der Suche nach theoretischen Modellen und Konzepten häufig an den Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder der Ökonomie orientierte, wäre es eine interessante Frage, warum es das Konzept der Partizipation nicht geschafft hat, die historische Forschung nachhaltig zu beeinflussen. Dass der Begriff der Partizipation seit jeher einen stark wertenden Beiklang hat, kann dabei kaum als Erklärungsgrund gelten. Schließlich haben es auch andere normativ geladene Theorien und Konzepte, wie zum Beispiel jenes der „Modernisierung“ geschafft, die geschichtswissenschaftlichen Debatten seit den 1960er Jahren maßgeblich zu beeinflussen.9 Während sich die heutige vergleichende Partizipationsforschung in erster Linie mit Formen politischer Teilhabe in demokratisch verfassten Staaten befasst, war diese Forschungsrichtung in den 1970er und 1980er Jahren ein integraler Bestandteil des politischen Systemvergleichs. Seit Mitte der 1970er Jahre beschäftigte sich vor allem die US-amerikanische Kommunismus- und Sowjetunion-Forschung intensiv mit der Frage, in welchem Maße auch kommunistisch verfasste Systeme ihren Bürgern Spielräume politischer Partizipation eröffneten, bzw. in welchem Maße

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Brockhaus Enzyklopädie 2006, 66. Vgl. dazu u. a. Schultze 2005, 676. Einen guten Überblick bietet auch: Kaase 1995. Vgl. u. a. Zimmermann 2010; Buschmann/Murr 2008; Rittersporn u. a. 2003. Vgl. Wehler 1975. Kritisch dazu u. a. Mergel 1997.

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man hier überhaupt von einer „Teilhabe“ an den politischen Entscheidungsprozessen sprechen konnte. Der Boom der Partizipationsforschung, der auch die westliche Osteuropa-Kunde in diesen Jahren erfasste, hatte zum einen mit der bereits angesprochenen allgemeinen Sensibilisierung für das Thema in den 1960er Jahren zu tun. Zum anderen reflektierte dieser Trend jedoch auch einen von außen deutlich wahrnehmbaren politischen Wandel innerhalb des politischen Systems der UdSSR nach dem Tod Stalins und dem 20. Parteitag der KPdSU (1956), der unter anderem in der Verabschiedung eines neuen Parteiprogramms im Jahr 1961 und der Ausarbeitung einer neuen sowjetischen Verfassung im Jahr 1977 zum Ausdruck kam. Für westliche Forscher stellte sich nun verstärkt die Frage, inwiefern sich mit diesen Reformen auch neue Möglichkeiten der Teilhabe der sowjetischen Bürger am politischen Prozess eröffneten. Im Folgenden soll der Blick auf die Debatten dieser systemvergleichenden westlichen Partizipationsforschung der 1970er sowie 1980er Jahre gerichtet und deren Erkenntnisinteresse, Hypothesen und zum Teil kontroverse Forschungsergebnisse beleuchtet werden. Ziel ist es nicht, die damals diskutierte Frage zu beantworten, ob, bzw. in welchem Maße, es politische Partizipation in der UdSSR in den 1970er und 1980er Jahren tatsächlich gegeben hat oder nicht. Vielmehr wird aus wissenschaftshistorischer Perspektive danach gefragt, welche Rolle das Konzept der (politischen) „Partizipation“ in westlichen Analysen des politischen Systems der UdSSR in den letzten Jahrzehnten des Kalten Krieges spielte und inwieweit dieses zum Verständnis der politischen Entwicklung jenseits des „Eisernen Vorhangs“ beigetragen hat. Dabei wird die These vertreten, dass es der westlichen Sowjetologie der 1970er und 1980er Jahre dank des Konzepts der „Partizipation“ zwar gelang, überkommene und starre Vorstellungen der TotalitarismusTheorie aufzuweichen und den Blick für Prozesse des politischen Wandels in der UdSSR zu schärfen. Durch ihre Fokussierung auf konventionelle und legale Formen politischer Teilhabe blieb die Forschung jedoch auf das bestehende politische System fixiert, dessen Wandel sie zwar für möglich hielt, an dessen Fortbestehen sie jedoch genauso fest glaubte wie das Politbüro in Moskau. Aufgrund dieser Konzentration auf systemkonforme Optionen politischer Partizipation (Mitgliedschaft in der KPdSU oder im sowjetischen Jugendverband (Komsomol), Teilnahme an Wahlen, Engagement in politischen Ämtern, Schreiben von Eingaben an Volksvertreter und Beamte etc.) blieb die westliche Osteuropa-Forschung blind

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für jene politischen Bewegungen im Untergrund, von denen wir heute annehmen, dass sie eine wichtige Rolle bei der Erosion des sowjetischen Politik-Systems gespielt haben (nationale Bewegungen, Dissidentenbewegung, non-konforme Jugendkultur, Umweltbewegungen etc.)10 Die Fixierung der westlichen Sowjetologie auf die offizielle „politische Kultur“ der UdSSR und die Nicht-Berücksichtigung „außer-systemischer“ Formen des politischen und sozialen Lebens hatte zum einen damit zu tun, dass ausländische Forscher bis in die 1980er Jahre daran glaubten, die Struktur und das Funktionieren des sowjetischen Systems ließen sich mit Blick auf dessen ideologische Fundierungen (Schriften von Marx, Lenin etc.) verstehen und erklären. Zum anderen kann das Unvermögen der westlichen UdSSR-Experten, tatsächliche politische Prozesse innerhalb des „Ostblocks“ zu erfassen, auch damit erklärt werden, dass sie versuchten, ihren Untersuchungsgegenstand mithilfe theoretischer Konzepte zu deuten, die der Analyse westlicher Gesellschaften entlehnt waren. Auch im Falle der Partizipationsforschung kamen Sozialwissenschaftler vielfach nicht weiter als bis zur Diagnose von Defiziten der sowjetischen Gesellschaft, d. h. zur Feststellung, dass man in der UdSSR bestimmte Formen der politischen Teilhabe, die man aus dem Westen kannte, eben nicht finden könne. Von einem Verständnis jener politischen und sozialen Prozesse, die in der UdSSR tatsächlich abliefen, war man dabei weit entfernt. Dessen wurde man sich bei allen westlichen Think tanks spätestens im August 1991 bewusst, als die Sowjetunion – für fast alle Beobachter unerwartet – von einem Tag auf den anderen aufhörte zu existieren.11

II. Partizipation als Forschungsgegenstand westlicher Kommunismus- und Sowjetunion-Forschung der 1970er und 80er Jahre 1981 bezeichnete der amerikanische Politologe Donald Schulz das Thema „Politische Partizipation“ als „one of the most fashionable in the field of comparati-

10 Über die Gründe des Systemwechsels in Osteuropa in den Jahren 1985–1991 wird bis heute kontrovers diskutiert. Vgl. exemplarisch: Karklins 1994; Beissinger 2009 (mit weiteren Literaturangaben); Yurchak 2006. Zur Diskussion der frühen 1990er Jahre vgl. z. B. v. Beyme 1994, 46–61. 11 Zur Kritik an der westlichen Osteuropaforschung des Kalten Krieges: Simon 1992; Riescher/Gabriel 1993, 7–16; v. Beyme 1994, 16–34; Manteufel u. a. 2000.

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ve communism“.12 Tatsächlich lässt sich vor allem in der US-amerikanischen Kommunismus- und Sowjetunionforschung seit Mitte der 1970er Jahre eine wahre „participation explosion“13 beobachten. Dieses verstärkte Interesse der westlichen Forschung an Fragen der politischen Teilhabe in Ländern des „Ostblocks“ lässt sich einerseits mit dem Ruf nach „mehr Partizipation“ in Verbindung bringen, der sich im Westen in den Studentenbewegungen der 1960er Jahre Gehör verschaffte.14 Folgt man der Diagnose von Carole Pateman, so erfuhr das Konzept der Partizipation in dieser Zeit eine signifikante Um- und Aufwertung. Während man Mitte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Demokratien Forderungen nach mehr Partizipation der Bürger noch mit Zurückhaltung begegnete, betrachtete man ein höheres Maß an politischer Teilhabe nun als ein anzustrebendes Ziel.15 Andererseits wurden amerikanische Sowjetunion-Forscher auch durch Prozesse des politischen Wandels innerhalb der UdSSR mit der Frage nach neuen Spielräumen politischer Teilhabe jenseits des Eisernen Vorhangs konfrontiert. Mit Erstaunen nahmen zum Beispiel westliche Politologen den überproportionalen Anstieg von Mitgliederzahlen der KPdSU, des Komsomol und anderer gesellschaftlicher Organisationen seit den späten 1950er Jahren zur Kenntnis.16 Registriert wurde zudem, dass auch auf der ideologischen und verfassungsrechtlichen Ebene (zumindest formal) die Weichen für eine größere Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen (vor allem auf der lokalen Ebene) gestellt wurden. Insbesondere die Neubelebung der Räte (Sowjets) auf lokaler Ebene, von der sich die sowjetische Regierung offenbar eine stärkere Integration der Bevölkerung in Prozesse der lokalen Administration versprach, wurde von amerikanischen Politologen als Zeichen einer „neuen Zeit“ gewertet, deren Bedeutung man nun nachspüren wollte.17 In dieser Situation stellte die westliche Partizipationsforschung der 1970er Jahre wichtige Grundannahmen der bisher vorherrschenden Totalitarismus-Theorie auf den Prüfstand. Vertreter dieser Schule hatten argu12 13 14 15

Schulz 1981, 1. Schulz 1981, 2. Vgl. Pateman 1970, 1. In Misskredit war das Konzept der Partizipation zeitweise deshalb gekommen, weil sich sowohl Nationalsozialismus als auch Stalinismus dezidiert auf die Mobilisierung der „Massen“ (mass participation) gestützt hatten, wenngleich diese aus westlicher Sicht durch erzwungene „mobilization“, d. h. durch Druck und Einschüchterung durch das Regime zustande gekommen war. 16 Vgl. Hough 1976, 7ff. 17 Dies gilt insbesondere für die Pionierstudie von Friedgut 1979.

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mentiert, dass jede Form politischer Teilhabe in einem kommunistischen Land als das Ergebnis einer erzwungenen „Mobilisierung“ der Bevölkerung durch die Regierung anzusehen sei.18 Die hohen Mitgliederzahlen der KPdSU und des Komsomol, die Beteiligung der Menschen an Aufmärschen, Kundgebungen und gemeinschaftlicher Arbeit, die Mitarbeit von Millionen Menschen in den Räten (Sowjets) auf verschiedenen Verwaltungsebenen, die hohe Wahlbeteiligung – all das wurde auf Zwang und Nötigung der Bevölkerung durch ein von einer kleinen Parteielite getragenes Regime zurückgeführt. Die Partizipationsforschung gab sich mit dieser Diagnose nicht zufrieden. Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft, wo sich eine junge Garde sogenannter „Revisionisten“ daran machte, das ideologische Gebäude der Totalitarismus-Forschung und deren Bild des sowjetischen Machtsystems (insbesondere des Stalinismus) zu demontieren, verstärkten sich in den 1970er Jahren auch unter westlichen Politologen Zweifel, ob das sowjetische System wirklich allein auf Unterdrückung und „mobilisierter Beteiligung“ basiere.19 Die Tatsache, dass die Mitgliederzahlen der KPdSU nach dem Ende der Schreckensherrschaft Stalins nicht nach unten, sondern deutlich nach oben gingen, ließ Zweifel an der vereinfachten Sicht der Totalitarismus-Forschung aufkommen. Wenngleich sich westliche Politologen, die sich in den 1970er Jahren mit Fragen der politischen Partizipation in der UdSSR befassten, deutlich von der Totalitarismus-Forschung abgrenzten, blieben die meisten doch in den binären Denkschemata des Kalten Krieges verhaftet. Unhinterfragt blieb beispielsweise die Annahme, dass sich „westliche Demokratien“ und die kommunistischen Regimes jenseits des Eisernen Vorhangs hinsichtlich der „politischen Kultur“ deutlich voneinander unterschieden.20 Auch die Partizipationsforschung war darum bemüht, die Besonderheiten dieser fremden politischen Kultur der sozialistischen Welt zu ergründen bzw. besser zu verstehen.21 Allerdings gingen sie – stärker als die Vertreter der Totalitarismus-Theorie – von der Möglichkeit des Wandels der politischen Kultur innerhalb des „Ostblocks“ aus.22 18 Vgl. z. B. den ein „Klassiker“ der Totalitarismus-Theorie der 1950er Jahre: Friedrich/Brzezinski 1956. 19 Zur Schule der Revisionisten in der westlichen Historiographie vgl. u. a. Cohen 1985, 3–37; Fitzpatrick 1992; Hildermeier 1997; Plaggenborg 1998. 20 Vgl. z. B. DiFranceisco/Gitelman 1984. Kritisch dazu Cohen 1985, 32. 21 Vgl. exemplarisch: White 1977; White 1979. Kritisch dazu: v. Beyme 1994, 328–333. 22 Cohen 1985, 30.

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Mit dieser auf das bestehende System fixierten Sichtweise ging einher, dass die westliche Partizipationsforschung dem institutionellen Rahmen, in dem Bürger sozialistischer Staaten an politischen Prozessen teilhaben konnten, großes Interesse entgegenbrachten und intensiv nach den ideologischen Grundlagen fragten, auf denen die Idee der Partizipation in Gesellschaften sowjetischen Typs basierte.23 In diesem Zusammenhang spielte die Analyse von zwei Schlüsseltexten eine besondere Rolle: Zum einen die Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich von Karl Marx aus dem Jahr 1871,24 zum anderen das Traktat Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution von Vladimir Il’ič Lenin, geschrieben im August/September 1917.25 II.1 Marx und Lenin zur Frage der politischen Partizipation Die Pariser Kommune war ein wichtiger historischer Referenzpunkt Lenins und der Bol’ševiki, wenn es um die Frage ging, wie der „ideale Staat“ nach der angestrebten Revolution in Russland zu organisieren sei.26 Lenin bezog sich in seinen sogenannten Aprilthesen aus dem Jahr 1917 explizit auf das französische Vorbild von 1871 und ging dabei ausführlich auf die Darstellung der Pariser Kommune bei Karl Marx ein.27 In seiner Darstellung Der Bürgerkrieg in Frankreich hatte Marx im Sommer 1871 ein detailliertes

23 Beide Schriften werden eingehend referiert bei: Friedgut 1979, 32–41 und Hahn 1988, 59–61. 24 Marx 1871/1973. 25 Lenin 1917/1960. 26 Friedgut 1979, 35. 27 Lenin 1917/1959 – Lenin fordert hier nicht die Schaffung einer „parlamentarische[n] Republik – eine Rückkehr von den Arbeiterdeputiertenräten zu dieser wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik von Arbeiter-, Landarbeiterund Bauerndeputiertenräten im ganzen Lande, von unten bis oben. [Die] Abschaffung der Polizei, der Armee und des Beamtentums. [Die] Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über dem Durchschnittslohn eines qualifizierten Arbeiters.“ (These Nr. 5). In das Parteiprogramm der „Kommunistischen Partei“ sollte die „Forderung eines ,Kommunestaates‘, d. h. eines Staates nach dem Vorbild der Pariser Kommune aufgenommen werden (These 9.b.2.). Dabei solle man sich daran erinnern, wie „Marx und Engels in den Jahren 1871, 1872 und 1875 über die Erfahrung der Pariser Kommune urteilten, und darüber, was für einen Staat das Proletariat braucht.“ Ebd. 5f.

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Bild von der Organisation der Commune gezeichnet.28 Die Partizipationsforschung interessierte besonders, wie Marx in diesem Portrait einer vergangenen, idealen politischen Ordnung das Verhältnis von städtischer Bevölkerung, Polizei, Heer, Gerichtswesen, Regierung, Administration und Parlament (bzw. Volksvertretung) beschrieb. Marx betont, die Pariser Kommune habe sich aus „durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten“ gebildet.29 Diese Räte, die sich mehrheitlich aus der Arbeiterschaft rekrutierten (oder „anerkannte Vertreter der Arbeiterklasse“ waren), seien ihren Wählern gegenüber „verantwortlich und jederzeit absetzbar“ gewesen. Die Versammlung oder Vereinigung der gewählten Räte sei keine „parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft“ gewesen, die sowohl legislative als auch exekutive Funktion innehatte.30 Marx hebt hervor, dass die Mitglieder der Commune, wie auch alle anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, lediglich „Arbeiterlohn“ erhielten. Die Polizei und das stehende Heer, die Marx als „Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung“ bezeichnet, seien dagegen in ihrer bisherigen Form abgeschafft worden. Die Kommunarden hätten die Polizei in das „verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune“ verwandelt, die Funktionen des Heeres wollte man auf dem Land einer Volksmiliz übertragen. Auch die „richterlichen Beamten“ sollten in diesem idealen Gemeinwesen „gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.“31 Marx zufolge verfolgten die Kommunarden von Paris das Ziel, ein System der „Selbstregierung der Produzenten“ (d. h. des Proletariats) in ganz Frankreich zu etablieren.32 In allen größeren städtischen Zentren des Landes sollte die „kommunale Ordnung der Dinge“ nach Pariser Vorbild eingeführt werden. Einer „Skizze der nationalen Organisation“ zufolge habe man angestrebt, die Kommune als „politische Form“ auch noch im kleinsten Dorf durchzusetzen. Alle Landgemeinden bzw. Landkommunen eines Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine „Versammlung von Abgeordneten“ in der Bezirkshauptstadt verwalten, die wiederum Abgeordnete zur „Nationaldelegation“ in Paris entsenden sollten. Auch die Mitglieder der Bezirks- bzw. der Nationaldelegationen sollten jederzeit absetz28 Marx 1871/1973, insbes. 336–340. Zur Analyse der Pariser Kommune bei Karl Marx vgl. auch: Meschkat 1971, 1075–1079. 29 Marx 1871/1973, 339. 30 Marx 1871/1973, 339. 31 Marx 1871/1973, 339. 32 Marx 1871/1973, 339.

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bar und an die „bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein“.33 Alle „gemeinsamen Angelegenheiten“ sollten, so liest Marx die genannte Skizze der nationalen Organisation, auf lokaler bzw. Bezirksebene geregelt werden. Die wenigen verbleibenden Funktionen, die in die Zuständigkeit einer Zentralregierung fielen, wollten die Kommunarden „streng verantwortliche[n] Beamte[n]“ der Kommune übertragen. Die „Staatsmacht“ in ihrer bisherigen Form wollten die Revolutionäre (aus der Sicht von Marx) „vernichten“. Die „Einheit der Nation“ sollte nur noch durch die „Kommunalverfassung“ organisiert werden.34 Fasst man die Besonderheiten dieser Kommunalverfassung in der Interpretation von Marx noch einmal zusammen, so lassen sich als wichtigste Charakteristika das „allgemeine Stimmrecht des in Kommunen konstituierten Volkes“, die direkte und gleiche Wahl der Räte und richterlichen Beamten sowie die „Verantwortlichkeit“ und „Absetzbarkeit“ der Räte, Richter, Abgeordneten und Beamten hervorheben. Marx skizziert hier das Bild eines idealen Gemeinwesens, in dem die Macht der alten sozialen („besitzenden“) Klassen gebrochen und durch ein „System der Selbstregierung“ der Arbeiterklasse ersetzt werden sollte. Marx’ Analyse der Kommunalverfassung von Paris aus dem Jahr 1871 war für die amerikanische Partizipationsforschung der 1970er und 1980er Jahre vor allem deshalb von Interesse, weil sich Lenin in seinen Aprilthesen und später in seinem Werk Staat und Revolution explizit auf das hier vorgestellte Modell des kommunalen Staates bezog. Folgt man Lenins Ausführungen in diesen beiden Traktaten (wie es die Partizipationsforscher taten), so schwebte dem Revolutionsführer in Russland der Aufbau eines Gemeinwesens nach dem von Marx entworfenen Bild der Pariser Kommune vor. Lenin verfasste sein Buch Staat und Revolution im Sommer 1917, d. h. noch vor dem coup d’état der Bol’ševiki im Oktober (November) desselben Jahres. Der Text ist somit als eine theoretische Reflexion über die neu zu errichtende soziale Ordnung nach dem Sturz des ancien régime in Russland zu lesen. In seinem Werk widmet Lenin ein ganzes Kapitel der Analyse von Marx’ Schrift zur Pariser Kommune.35 Dabei schließt er sich dessen Forde33 Marx 1871/1973, 340. 34 Marx 1871/1973, 340. 35 Lenin 1917/1960, 426–445. Zum Wandel der Beurteilung der Pariser Kommune bei Lenin: Meschkat 1971, 1082–1085. Meschkat betont, dass Lenin 1905 die führende Rolle der Arbeiterklasse in der Pariser Erhebung noch bestritten habe. In der Schrift Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution habe

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rung an, dass die Arbeiterklasse in bzw. nach einer Revolution nicht Besitz von der bisherigen „Staatsmaschine“ ergreifen solle. Vielmehr gelte es, die alten politischen Machtstrukturen zu „zerschlagen“ und zu „zerbrechen“.36 Ausführlich zitiert Lenin Marx’ Schrift Die Revolution in Frankreich, darunter auch die oben erwähnten Passagen, in denen von der inneren Organisation der Pariser Kommune die Rede ist: Die „Beseitigung des stehenden Heeres [und die] vollkommene Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Amtspersonen“ interpretiert Lenin als Ausdruck einer „vollständigeren Demokratie“. In Paris habe sich 1871 die „bürgerliche Demokratie“ in eine „proletarische Demokratie“ verwandelt, der Staat (als „besondere Gewalt zur Unterdrückung einer bestimmten Klasse“) in etwas, „was eigentlich kein Staat mehr ist.“37 Lenin zufolge war die Kommune daran gescheitert, dass die Kommunarden von Paris den Widerstand der Bourgeoisie „nicht entschlossen genug“ niedergehalten hätten. Diesen Fehler dürfe man in Zukunft nicht wiederholen. Offen predigt Lenin die „Diktatur des Proletariats“, die in einer Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus unerlässlich sei. Rechtfertigen ließe sich diese vorübergehende Unterdrückung der ehemaligen „Bedrücker“ damit, dass das unterdrückende Organ (d. h. die Machtinstrumente der Arbeiter und Bauern) „schon die Mehrheit ist“ und nicht mehr die „Minderheit der Bevölkerung“.38 Tatsächlich wird hier Partizipation als „demokratische“ Teilhabe an der Unterdrückung der besitzenden Klassen propagiert. In einem solcherart strukturierten Gemeinwesen werde es, so Lenin, zum „Absterben des Staates“ in seiner bisherigen Form kommen, wie es Engels in seiner Schrift „Anti-Dühring“ beschrieben hatte.39 Lenin sah in der Pariser Kommune die Überwindung der „bürgerlichen“ durch die „proletarische Demokratie“ in einem erheblichem Maße verwirklicht. Für Lenin stellte sich dieser Prozess als Übergang von der „Unterdrückerdemokratie“ zur „Demokratie der unterdrückten Klassen“, vom

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er polemisiert, dass die Pariser „Arbeiterregierung […] die Aufgaben des Kampfes für die Republik und die Aufgaben des Kampfes für den Sozialismus verwechselt [habe]“ und sie nicht imstande gewesen sei, „die Aufgaben einer energischen militärischen Offensive gegen Versailles zu lösen“, wie z. B. sich der Bank von Frankreich zu bemächtigen. Zit. nach Meschkat 1971, 1082f. Zu Lenins Marx-Lektüre vgl. auch Hahn 1988, 59f. Lenin 1917/1960, 427, 429 (Kursiv im Original bei Marx, übernommen von Lenin). Lenin 1917/1960, 432. Lenin 1917/1960, 432. Zit. bei Lenin 1917/1960, 407f. bezugnehmend auf Engels 1878/1953.

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„Staat als ,besonderer Gewalt‘ zur Niederhaltung einer bestimmten Klasse, [hin] zur Niederhaltung der Unterdrücker durch die allgemeine Gewalt der Mehrheit des Volkes, der Arbeiter und Bauern“ dar.40 Die „uneingeschränkte Wählbarkeit und die jederzeitige Absetzbarkeit ausnahmslos aller beamteten Personen“ – wichtige Charakteristika der Pariser Kommune in der Analyse von Marx – bezeichnet Lenin als „einfache und ,selbstverständliche‘ demokratische Maßnahmen“.41 Gleichzeitig betont er, dass nur mit diesen Mitteln, die allein die „politische Umgestaltung der Gesellschaft“ betreffen, der Schritt vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzogen werden könne. „[V]ollen Sinn und Bedeutung“ würden sie jedoch erst im Zusammenhang mit einer umfassenden Enteignung der „Expropriateure“ entfalten, d. h. „mit dem Übergang des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum.“42 In diesem Punkt wollte Lenin deutlich aus den „Fehlern“ der Pariser Kommune lernen und das Rad der Revolution beim nächsten Anlauf deutlich weiter drehen. Keinen Zweifel ließ Lenin daran, was er vom „modernen [westlichen] Parlamentarismus“ hielt, nämlich gar nichts. In allen parlamentarisch regierten Ländern „von Amerika bis zur Schweiz“ glichen Parlamente „Schwatzbuden“. Die eigentlichen „,Staats‘geschäfte“ würden „hinter den Kulissen“ abgewickelt. Den Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gelte es genauso zu überwinden wie die Herrschaft der Bourgeoisie. Wie bereits Marx befürwortete auch Lenin die Idee, Vertretungskörperschaften zukünftig nach dem Modell der Commune nicht als „parlamentarische“, sondern als „arbeitende Körperschaften“ einzurichten.43 Die Parlamentarier müssten „selbst arbeiten, selbst ihre Gesetze ausführen […] [und] selbst unmittelbar vor ihren Wählern die Verantwortung tragen.“ Wie in der Pariser Kommune sollten die „gesetzgebende“ und die „vollziehende Tätigkeit“ nicht voneinander getrennt werden.44 Ohne Vertretungskörperschaften könne man

40 Lenin 1917/1960, 433. Zu Lenins Demokratiebegriff vgl. auch zusammenfassend: v. Beyme 1966, 1142f. 41 Lenin spricht hier nicht vom „allgemeinen Stimmrecht“ der Bürger, sondern von der „uneingeschränkten Wählbarkeit“ der beamteten Personen. 42 Lenin 1917/1960, 434. 43 Lenin 1917/1960, 436. – Kritik übt Lenin in diesem Zusammenhang auch an der Entwicklung der Sowjets in Russland, die „Helden des modrigen Spießbürgertums […] [hätten diese] nach dem Vorbild des schäbigsten bürgerlichen Parlamentarismus […] in bloße Schwatzbuden“ verwandelt. Ebd. 44 Lenin 1917/1960, 437.

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sich nämlich „eine Demokratie nicht denken, auch eine proletarische Demokratie nicht“, so gab sich Lenin überzeugt.45 Lenins Vision der zu errichtenden neuen revolutionären politischen Ordnung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wie Marx betrachtete er die Pariser Kommune als ein herausragendes Beispiel, wie sich die „Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten“ in einem „naturgeschichtlichen Prozess“ vollziehen könne.46 Die Existenz von Vertretungskörperschaften betrachtete Lenin in einer „proletarischen Demokratie“ als ebenso selbstverständlich wie die Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Amtsträger. Wie in der Pariser Kommune sollten in der zukünftigen Gesellschaftsordnung (in Russland) Legislative und Exekutive nicht voneinander getrennt und die Parlamentarier für ihre Entscheidungen und deren Ausführung direkt zur Rechenschaft gezogen werden können. Lenin ging es jedoch nicht darum, die in der Pariser Kommune realisierte bzw. entworfene politische Ordnung nach einem revolutionären Umsturz im Zarenreich einfach zu kopieren. Vielmehr betrachtete er den französischen Fall als eine wichtige Etappe der historischen Entwicklung und als ein Exempel, an dem sich revolutionäre Prozesse analysieren lassen. Wichtig erscheint dabei in unserem Zusammenhang, dass Lenin neben der politischen auch die ökonomische Transformation der Gesellschaft anstrebte, was für sein Verständnis von der Teilhabe der bislang unterdrückten sozialen Klassen an der Macht von elementarer Bedeutung war. Zudem sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass Lenin die Schaffung des Kommunismus und des KommuneStaates als ein zukünftiges Projekt erachtete, eine historische Etappe, die sich erst nach einer vorübergehenden „Diktatur des Proletariats“ erreichen ließ. II.2 In welchem Ausmaß gab es politische Partizipation in der späten Sowjetunion? In der westlichen Partizipationsforschung der 1970er und 1980er Jahre wurden die hier referierten Schriften von Marx und Lenin immer wieder als Referenz für die Erklärung des politischen Systems der Sowjetunion herangezogen und zitiert.47 Ein wichtiger Grund für die Re-Lektüre dieser „Klassiker“ war die Beobachtung westlicher Politologen, dass sich seit den 1960er Jahren in der UdSSR eine deutliche Aufwertung der Sowjets 45 Lenin 1917/1960, 437. 46 Lenin 1917/1960, 438. 47 Vgl. u. a. Friedgut 1979, 34–41, Hahn 1988, 58–61.

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als Institutionen der Lokalverwaltung und Transmissionsriemen zwischen der zentralen Regierung und der Bevölkerung vor Ort beobachten ließ.48 Da bereits Lenin in seinen Aprilthesen gefordert hatte, Russland in eine „Republik von Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräten“49 umzuwandeln, umgab die Sowjets noch in den 1960er Jahren eine Aura revolutionärer Legitimität.50 Lenin betrachtete die Räte, deren Anfänge bis in die Streikbewegung Ende des 19. Jahrhunderts bzw. bis in die erste russische Revolution von 1905 zurückreichten, als eine Art Nukleus, aus denen die Vertretungskörperschaften der „proletarischen Demokratie“ erwachsen sollten. Obwohl die erste sowjetrussische Verfassung vom Juli 1918 die Einrichtung entsprechender Stadt- und Dorfsowjets vorsah, die zumindest auf dem Papier an die von Marx und Lenin beschworenen Strukturen der Pariser Kommune erinnerten, spielten die Räte de facto in den folgenden Jahren als Organe der politischen Partizipation keine zentrale Rolle. Zum einen scheiterte die Einrichtung entsprechender Strukturen am Widerstand der Bevölkerung oder an den Wirren des Bürgerkriegs. Zum anderen gerieten die indirekt gewählten Räte spätestens ab dem Frühjahr 1919 unter die zentrale Kontrolle der Kommunistischen Partei.51 Als die KPdSU im Jahr 1961 die „Diktatur des Proletariats“ jedoch für beendet erklärte und die Sowjetunion zur „sozialistischen Demokratie des ganzen Volkes“52 deklarierte, formulierte die sowjetische Führung auch das Ziel, der sowjetische Bürger solle nun noch stärker in die politischen Prozesse „an der Basis“ einbezogen werden. „Jeder sowjetische Mensch“, so Nikita Chruščev in seinem Rechenschaftsbericht des Zentralkomitee der KPdSU an den 22. Parteitag, „muss aktiv an der Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten teilnehmen – das ist unsere Losung, unsere Aufgabe.“53 48 49 50 51

Vgl. Friedgut 1979, 56; Adams 1983, 183. Lenin 1917/1959 (These Nr. 5), 5. Friedgut 1979, 44. Bis 1936 wurden die Sowjets indirekt gewählt. Erst die Verfassung von 1936 brachte die gleiche, geheime und direkte Wahl der Sowjet-Deputierten. Die Wahlberechtigung erhielt ein Sowjetbürger mit Vollendung des 18. Lebensjahrs. Seit 1977 (neue Verfassung) fanden alle zweieinhalb Jahre Wahlen zu den lokalen Sowjets statt. Die Republik-Sowjets und der Oberste Sowjet der UdSSR wurden alle fünf Jahre gewählt. Vgl. Friedgut 1979, 71. 52 Im Parteiprogramm der KPdSU wird der Staat als „Volksorganisation der Werktätigen“, als „Staat des gesamten Volkes (obščenarodnoe gosudarstvo)“, bzw. als „Organ, das den Interessen und dem Willen des ganzen Volkes Ausdruck verleiht“, bezeichnet. Vgl. Buestrich 1995, 57, FN 22; Hahn 1988, 70; Friedgut 1979, 56. 53 Chruschtschow 1961, 110.

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In der neuen sowjetischen Verfassung aus dem Jahr 1977 wurde unterstrichen, dass sich das politische System des Landes in Richtung der weiteren Entfaltung der sozialistischen Demokratie entwickeln solle. Insbesondere die „steigende Teilhabe (Beteiligung) der Bürger an der Verwaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Belange“ wurde hier explizit als Ziel formuliert.54 Die westliche Partizipationsforschung nahm diese Entwicklung in der Sowjetunion mit Interesse zur Kenntnis.55 Vor allem vom quantitativen Ausmaß politischer „Partizipation“ zeigten sich Politologen diesseits des Eisernen Vorhangs beeindruckt: So arbeiteten Anfang der 1970er Jahre – nach offiziellen Angaben – rund 2,2 Mio. Sowjetbürger als Deputierte in den rund 50.000 Vertretungskörperschaften (vom Dorf-Sowjet bis zum Obersten Sowjet der UdSSR).56 Dabei wurde auch registriert, dass die Mitgliederzahlen der KPdSU und des Komsomol seit dem Tod Stalins – nach offiziellen Angaben – überproportionale Zuwachsraten verzeichneten. So waren die Mitgliederzahlen der KP von 1954/55 bis 1963/64 von 6,9 auf 10,4 Mio. gestiegen, was einem Zuwachs von 51 % entsprach, während die Bevölkerung nur um 16 % (von 120 auf 140 Mio.) gewachsen war.57 Auch die Anzahl der im Komsomol engagierten Bürger war von 1963/64 bis 1972/73 um 41 % (von 22 auf 31 Mio.) gestiegen, während sich die Bevölkerung in diesem Zeitraum nur um 12 % (von 140 auf 156 Mio.) vergrößert hatte.58 Eine Diskussion unter westlichen Politologen drehte sich um die Frage, ob es diese Zahlen rechtfertigten, auch in qualitativer Hinsicht von einem hohen Maß politischer Partizipation in der Sowjetunion zu sprechen.59 Kritisch setzte sich die Partizipationsforschung dabei mit der lange vorherrschenden Forschungsmeinung auseinander, dass es sich bei den Erscheinungsformen politischen Engagements in sozialistischen Staaten um rein zeremonielle, regierungsgeleitete und affirmative Formen der Teilhabe gehandelt habe.60 So wurde beispielsweise die gängige Position der Totalitarismus-Forschung auf den Prüfstand gestellt, das sowjetische Re54 Zit. nach der englischen Übersetzung bei: Adams 1983, 182. Zur „Brežnev-Verfassung“ von 1977 vgl. auch Hahn 1988, 73 und Meissner 1985, 329–334. 55 Vgl. exemplarisch Adams 1983, 178f. 56 Hough 1976, 8; Friedgut 1979, 71. 57 Zahlen nach: Hough 1976, 8. 58 Hough 1976, 8. 59 Schulz 1981, 3–9; Adams 1983, 179. Schulz weist in diesem Zusammenhang auch auf die legendär hohe „Wahlbeteiligung“ bzw. die „Zustimmungsquoten“ bei sowjetischen Wahlen hin. 60 Vgl. u. a. Adams 1983, 178.

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gime habe politische Partizipation bzw. intermediäre Organisationen nur dazu benutzt, um die Bürger zu „mobilisieren“ und zu kontrollieren.61 Jerry Hough stellte beispielsweise 1976 die provokative Frage, woher die westliche Forschung eigentlich wisse, dass die Beteiligung sowjetischer Bürger in öffentlichen Diskussionen keinerlei Einfluss auf die Ausrichtung der sowjetischen Politik habe. Hough gab zu bedenken, dass die westliche Forschung den verschiedenen Formen der Partizipation in der UdSSR durchaus die funktionale Bedeutung zuschreibe, die Identifikation der Bürger mit dem Regime zu festigen, die Regierung mit feedback-Informationen von der „Basis“ zu versorgen sowie Unmut und Unzufriedenheit freizusetzen. Ob die Teilhabe der sowjetischen Bürger am politischen Prozess neben diesen auch noch andere Funktionen erfülle, war für Hough eine offene Frage. „We do not really know“, so Houghs lapidare Antwort auf die Frage, ob die Mitarbeit der sowjetischen Bürger in Partei, Sowjets oder gesellschaftlichen Organisationen einen Einfluss auf die „große Politik“ (major politics) habe.62 Fest stand für ihn nur, dass sich die westliche Forschung viel zu lange von den normativen Annahmen der Totalitarismus-Forschung habe leiten lassen und dass es nun an der Zeit sei, diese Prämissen durch empirische Forschungen zu überprüfen.63 Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die Entwicklung der westlichen Partizipationsforschung zur UdSSR der 1970er und 1980er Jahre en détail nachzuzeichnen. Stattdessen soll im Folgenden auf die damals gängige Definition des Konzeptes „politische Partizipation“, die Profilierung ausgewählter Forschungsprojekte und einige exemplarische Forschungsergebnisse eingegangen werden. Hinsichtlich des Konzeptes politischer Partizipation herrschte unter den Sowjetunion-Forschern weitgehende Einigkeit, dass die gängige, vom westlichen Fall abgeleitete Definition zu eng gefasst sei für komparative Studien, die auch Länder jenseits des Eisernen Vorhangs berücksichtigten.64 Konsens bestand auch darin, dass dem Engagement der Menschen in Parteien und Wahlkämpfen bzw. der Beteiligung der Bürger an Wahlen in sozialistischen Gesellschaften nicht die gleiche Bedeutung zukommt wie in westlichen Demokratien. Gleichzeitig müssten auch das Engagement in 61 These von Brzezinski/Huntington 1964, referiert bei Hough 1976, 14. Kritisch zur Totalitarismus-Forschung auch: Schulz 1981, 2; Hahn 1988, 30. Zur Deutung sowjetischer Wahlergebnisse: White 1977, 39. 62 Hough 1976, 19. 63 Hough 1976, 19. 64 Z. B. Friedgut 1979, 14.

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Vertretungskörperschaften wie den Sowjets und gesellschaftlichen Organisationen oder die Formulierung von Eingaben an Behörden, Funktionsträger oder Zeitungen als Formen der politischen Partizipation (sowjetischen Typs) gewertet werden.65 Vor diesem Hintergrund definierte Theodore Friedgut „Partizipation“ (1979) beispielsweise als “involvement of citizens in any activities relating to public affairs, including the expression of ceremonial supports and assistance in the administration of communities or the implementation of regime policies”.66

Um eine politische Tätigkeit als „Partizipation“ zu werten, müsse diese zum einen gemeinschaftsbezogen (community oriented) sein sowie zweitens unbezahlt und drittens freiwillig erfolgen.67 Vergleicht man diese Lesart mit der eingangs zitierten Definition von „Partizipation“ bei RainerOlaf Schultze (2005), so fällt auf, dass westliche Sowjetunion-Forscher der 1970er Jahre bereits Zeichen affirmativer Unterstützung der Regierung (z. B. in Zeremonien) als politische „Teilhabe“ der Bevölkerung werteten, während heute nur solche „Formen politischer Beteiligung“ als Partizipation betrachtet werden, die Bürger unternehmen, „um politische Entscheidungen direkt oder indirekt zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“68 Bei der Operationalisierung ihrer Forschungsfragen griff die westliche Partizipationsforschung vor allem auf Interviews zurück, die entweder in der UdSSR (z. B. mit Delegierten in lokalen Sowjets69 ) oder in westlichen Staaten (und Israel) mit Auswanderern aus der Sowjetunion geführt wurden.70 Befragungen dieser Art zielten nicht nur darauf ab, mehr darüber 65 DiFranceisco und Gitelman unterscheiden drei Formen politischer Partizipation in der Sowjetunion: a) „formal-ritualistic participation“, b) „citizen-initiated contacts with official persons and institutions whose task is to represent, check upon and run interference with people“, c) „contacts over implementation (particularized contacting)“. Vgl. DiFranceisco/Gitelman 1984, 78. 66 Friedgut 1979, 19. Eine ähnliche Definition findet sich bei Hahn 1988, 40. 67 Friedgut 1979, 20. Robert S. Sharlet zufolge, könne man in der vergleichenden Forschung nur dann von Formen politischer Partizipation sprechen, wenn sich diese durch a) Wirksamkeit (efficacy), b) Freiwilligkeit (voluntarism) und c) responsiveness auszeichnen. Da auf Erscheinungsformen politischer „Partizipation“ in kommunistischen Systemen keines dieser drei Kriterien zutrifft, könnten diese auch nicht als Beispiele politischer Teilhabe betrachtet werden. Sharlet 1969, 250, zit. nach: Schulz 1981, 7. Kritisch zu Sharlets Verdikt über Formen der politischen Partizipation in der UdSSR: Adams 1983, 180. 68 Schultze 2005, 675. 69 Friedgut 1979. 70 Friedgut 1979, aufbauend auf älteren Studien wie z. B. Inkeles/Bauer 1959.

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zu erfahren, in welcher Form und wie häufig sich die Interviewpartner in der Vergangenheit politisch engagiert hatten. Untersucht wurde auch, mit welcher Motivation, Intention und Erwartungshaltung dies jeweils geschehen war. Die Ergebnisse der vergleichenden Partizipationsforschung waren mit Blick auf die UdSSR der 1970er und 1980er Jahre – wen sollte es wundern – alles andere als eindeutig und zum Teil zutiefst widersprüchlich.71 Auf der einen Seite fanden sich beispielsweise Forscher wie Richard Little, der zu dem Ergebnis kam, dass sich Bürgern in der UdSSR vielfältige und nachhaltige Möglichkeiten für eine politische Beteiligung (political involvement) böten.72 Auf der anderen Seite standen Wissenschaftler wie Robert Sharlet, der es kategorisch ablehnte, von der Existenz (wahrer) „politischer Partizipation“ in der UdSSR zu sprechen.73 Andere Politologen wie Theodore Friedgut konstatierten nüchtern, dass dem Sowjetbürger „the dimension of citizen initiative“ fehle und er in seinem Alltag in erster Linie von „conformity rather than initiative“ geleitet werde.74 Natürlich hing die Antwort auf die Frage, ob es in der UdSSR Formen der politischen Partizipation gab, auch davon ab, welche Definition des Konzepts „Partizipation“ der entsprechenden Studie jeweils zugrunde lag. Nur wenige Wissenschaftler gingen in ihrer Diagnose so weit wie Sharlet. Die meisten Autoren billigten dem sowjetischen System durchaus zu, dass es seinen Bürgern Möglichkeiten politischer Partizipation eröffnet. Dabei wurde aber immer wieder unterstrichen, dass sich diese in der UdSSR in Form und Bedeutung deutlich von jener in westlichen Demokratien unterschied. Wayne DiFranceisco und Zvi Gitelman sprachen in diesem Zusammenhang beispielsweise von einer „verborgenen Partizipation“ (covert participation), die sich als Form der „Schattenpolitik“ (in Analogie zur „Schattenwirtschaft“) beschreiben lasse.75 Offen war für viele Sowjetologen 71 Eine knappe Zusammenfassung der Forschung bis 1990 findet sich bei: Bahry/Silver 1990, 822f. 72 Little 1976, 446f. hier zit. nach Schulz 1981, 8. Little definiert „Partizipation“ als „the actions, interactions and reactions of citizens with respect to the processes by which the social-economic-political conditions of their lives are established, and the conditions themselves.“ Referiert bei: Adams 1983, 181. 73 Sharlet 1969, zit. nach: Adams 1983, 180. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Walter Connor, der nur die sowjetische Dissidentenbewegung als Ausdruck „politischer Partizipation“ in der UdSSR gelten lassen will. Referiert bei Hahn 1988, 32. 74 Friedgut 1979, 302. 75 DiFranceisco/Gitelman 1984.

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die Frage, wie sich das wachsende Maß politischer Partizipation in der UdSSR in Zukunft auf die politische Kultur des Landes auswirken würde. Konsens bestand jedoch darin, dass die entsprechenden Impulse immer „von oben“ ausgehen würden und auch zunehmende Teilhabe der Bevölkerung am politischen Prozess seit den 1950er Jahren als Produkt und nicht als Quelle eines zu beobachtenden innenpolitischen Wandels anzusehen sei.76 Dass die wachsende politische Partizipation der sowjetischen Bevölkerung gar zum Sturz des ganzen Systems beitragen könnte, war für die amerikanischen Politologen in den späten 1970er Jahren noch ein völlig fremder Gedanke. Theodore Friedgut gab sich beispielsweise überzeugt, dass das sowjetische System schon zahlreiche Krisen überstanden habe und auch noch weitere Krisen meistern werde.77 Die wachsenden Spielräume politischer Teilhabe, die sich den sowjetischen Bürgern boten, würden, so Friedgut, von der Regierung zur Krisenbewältigung eingesetzt und trügen eher zur Stabilisierung denn zur Erosion des Systems bei.78 Auch Jan Adams gab sich 1983 überzeugt, dass Reformen auch in Zukunft „von oben“ angestoßen werden würden.79 Allerdings traute er den sowjetischen Bürgern bereits zu, dass diese nur Mittel und Wege finden müssten, um ihre Rechte auf Partizipation voll wahrzunehmen: „If they succeed, they may indeed transform the system.“80

III. Fazit: Warum war die Partizipationsforschung blind für den gesellschaftlichen und politischen Wandel? Warum entwickelte die westliche Partizipationsforschung, die sich mit der politischen Kultur in der Sowjetunion in den 1970er und 1980er Jahren befasste, kein Gespür für die Legitimationskrise und die Erosionsprozesse innerhalb des UdSSR, die aus heutiger Sicht zum Fall des Regimes beitrugen und die sich rückblickend bereits in den 1970er Jahren abzeich-

76 Friedgut 1979, 289. 77 Selbstkritisch zur politikwissenschaftlichen Osteuropa-Forschung der 1970er und 1980er Jahre: v. Beyme 1994, 16ff. 78 Friedgut 1979, 297. 79 Adams 1983, 188. 80 Adams 1983, 189.

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neten?81 Zum einen lag dies allem Anschein nach darin begründet, dass sich die westliche Partizipationsforschung lange Zeit vorrangig mit den konventionellen und legalen Formen politischer Partizipation befasste, die das System seinen Bürgern (z. B. im Rahmen der Institutionen der Sowjets oder verschiedener gesellschaftlicher Organisationen) zubilligte.82 Unkonventionelle oder illegale Formen der politischen Teilhabe, z. B. im Rahmen der Dissidentenbewegung, des Samizdat, Tamizdat oder Magnitizdat, wurden von der Partizipationsforschung nicht einmal am Rande diskutiert.83 Dies erstaunt umso mehr, vor dem Hintergrund, dass dieser Forschungszweig seinen Boom in den späten 1960er und 1970er Jahren nicht zuletzt dem Aufkommen unkonventioneller Formen politischer Partizipation in den westlichen Gesellschaften verdankte und westliche Sowjetologen in diesen Jahren mit dem Aufbau großer Sammlungen sowjetischer Samizdat- und Tamizdat-Literatur begannen. Beim Blick auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs blieben die Partizipationsforscher dennoch merkwürdig stark systemfixiert. Dieser Scheuklappenblick hatte weiterhin mit jenen Vorannahmen zu tun, die bei der Analyse des politischen Systems des „Ostblocks“ zur Anwendung kamen. Zwar traten die Partizipationsforscher mit dem Anspruch an, die normativen Prämissen der TotalitarismusForschung zu überwinden. Die Annahme, dass sich die Gemeinwesen Osteuropas als eine spezifische politische Kultur (mit gemeinsamen ideologischen „Fundamenten“ etc.) beschreiben lässt, wurde dabei jedoch nicht aufgegeben. Bei der Suche nach dem „Wesen“ und dem ideologischen 81 Anfang der 1990er Jahre stellte sich dieser Zusammenhang bereits in einem anderen Licht dar. Vgl. Bahry/Silver 1990. Die Autoren betonen, dass man bei der Analyse politischer Partizipation in der UdSSR stärker als bisher die Werthaltung unterschiedlicher Gruppen berücksichtigen müsse. Der Annahme, die „politische Kultur“ der Sowjetunion habe die Verhaltensweisen der Menschen in der UdSSR maßgeblich geprägt, wird hier zugunsten einer differenzierten Betrachtung der Gesellschaft mit ihren divergierenden Werthaltungen aufgegeben. Zur Legitimationskrise des sowjetischen Systems in den 1970er Jahren vgl. u. a. Segbers 1989. 82 Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang u. a. die Studie von DiFranceisco/Gitelman 1984, die nach der Bedeutung klientelistischer Netzwerke für die Entwicklung „verdeckter“ politischer Partizipation fragten. Darin kommen sie zum ernüchternden Schluss, dass „the dominant social ethos of Soviet citizens vis-à-vis their government is one of private self interest“, und dass die sowjetischen Bürger eine klare Präferenz für „informal access to and influence on bureaucratic officials“ sowie „a general disdain for formal legalistic procedures and norms“ an den Tag legten. Ebd., 618f. 83 Samizdat: Selbstverlag, d. h. Verbreitung illegal vervielfältigter Schriften; Tamizdat: Veröffentlichung verbotener Publikationen im Ausland; Magnitizdat: Vervielfältigung und Verbreitung verbotener Musik auf Tonbändern und Kassetten.

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Fundament dieses Systems gelangten soziale Prozesse, die sich nicht in das vorgegebene Bild fügten, aus dem Blick bzw. gelangten gar nicht erst in den Wahrnehmungshorizont der Betrachter.84 Als zusätzlicher Ballast erwiesen sich dabei schließlich „westliche“ theoretische Konzepte, wie jenes der politischen Partizipation.85 Diese wurden zwar an die Gegebenheiten der jeweils anderen politischen Kultur angepasst. Dessen ungeachtet trugen sie jedoch nichts oder nur sehr wenig zum Verständnis des politischen Wandels auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs bei, der sich jenseits des Wahrnehmungshorizonts der westlichen Sowjetunionforschung mit weitreichenden historischen Konsequenzen vollzog. Aus dieser Perspektive erscheint auch die historische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Partizipation ein lohnendes Unterfangen: Nicht um etwas über die tatsächliche Teilhabe von Menschen an einem politischen Gemeinwesen in der Vergangenheit zu erfahren, sondern über das Problem der Selbstund Fremdwahrnehmung „westlicher“ Sozialwissenschaftler in der Zeit des Kalten Krieges.

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84 Zur Differenzierung des Bildes einer einheitlichen „politischen Kultur“ in der UdSSR vgl. bereits White 1977, 50–56, wo insbesondere auf die Bedeutung ethnischer Vielfalt innerhalb der Sowjetunion hingewiesen wird. 85 Den ahistorischen Ansatz der „Revisionisten“ kritisierte bereits Cohen 1985, 32.

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Dezentraler Staat und wirtschaftliche Entwicklung – Die Evolution der Partizipation1 Charles B. Blankart I. Präferenzen, Partizipation und Föderalismus Freiheit erfordert, dass Menschen ihr Leben möglichst nach ihren Präferenzen führen können. Ein zentrales Ziel der Ökonomik besteht daher darin, den Individuen Blaupausen von Ordnungen mit möglichst viel Freiheit zu entwerfen und diese dann entscheiden zu lassen, welche Ordnung sie bevorzugen. In der Ökonomik hat sich hierfür der Begriff Verfassungswahl oder auch „Constitutional Choice“ durchgesetzt. Gegenstand der Verfassungswahl sind Grundrechte, Staatsorgane, Gewaltenteilung, aber auch der Föderalismus. Diesem letzten Punkt wird bei Verfassungsentscheidungen oft geringe Beachtung geschenkt. Doch zu Unrecht, wie schon ein einfaches Beispiel zeigt. In Arkadien stehen zwei Schulsysteme zur Wahl: X ein konservatives und Y ein progressives Schulsystem. Von den 100.000 Einwohnern Arkadiens wohnen die einen 50.000 im Gebiet A und die anderen 50.000 im Gebiet B. Wie sollen sie entscheiden? Am besten ist Einigkeit. Alle haben dasselbe Stimmengewicht und alle wollen das Gleiche. Niemandes Präferenzen werden übergangen. Partizipation aller Einwohner – im Sinne des Themas der Tagung – ist erfüllt. Doch faktisch herrscht Uneinigkeit über die vergleichsweise Qualität der beiden Schulsysteme X und Y. 55.000 Einwohner sind überzeugte Anhänger von X, 45.000 ebenso überzeugte Verfechter von Y. Die Individuen fühlen sich gleichermaßen betroffen, wenn jeweils das andere Schulsystem als das von ihnen präferierte gewählt wird. Bei einer Entscheidung gegen ihre Interessen leidet ihre Partizipation. Sind die beiden Gebiete A und B zu einem Einheitsstaat zusammengefasst, so wird unter der Mehrheitsregel gemäß Tabelle 1 Option X als verbindlich für alle Bürger gewählt. Damit werden die Präferenzen von 1

Der Autor dankt Erik R. Fasten, Christian Kirchner und Marvin Süsse sowie den Teilnehmern des Colloquium Rauricum für wertvolle Hinweise.

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Charles B. Blankart

Tabelle 1. Individuelle Präferenzen in einem föderalistischen und in einem zentralistischen Staat

Optionen Meinung der Einwohner:

Schulsystem X

Schulsystem Y

Einwohner in A Einwohner in B Einwohner insgesamt

20.000 35.000 55.000

30.000 15.000 45.000

fast der Hälfte der Bevölkerung, nämlich von 45.000 Einwohnern, überstimmt. Ihre Partizipation wird übergangen. Eine föderale Lösung, bei der in jedem Gebiet separat abgestimmt wird, mildert dieses Problem. So wie die Präferenzen verteilt sind, sprechen sich die Bewohner von Gebiet A mit 30.000 zu 20.000 für Y und die von Gebiet B mit 35.000 zu 15.000 für X aus. Es werden die Präferenzen von nur 35.000 und nicht von 45.000 Individuen überstimmt. Der Föderalismus erlaubt es also, die Präferenzen beider Gruppen in höherem Maße zu erfüllen als der zentralistische Einheitsstaat. Er ermöglicht mehr Partizipation. In der Diskussion während der Tagung wurde eingewendet, es sei nicht klar, dass alle Individuen in gleichem Maße interessiert sind. Wären beispielsweise die Befürworter des progressiven Schulsystems X doppelt so stark interessiert wie die des konservativen Schulsystems Y, so könnte den X-Wählern zweimal so viel Gewicht zugeordnet werden wie den YWählern. Das Ergebnis wäre dann präferenzgewichtet. Doch wäre es fair? Eine solche Gewichtung widerspräche dem Grundsatz, allen Einwohnern den gleichen Anteil an Partizipation zukommen zu lassen. Partizipation definiert sich am Prozess, nicht am Ergebnis. Darum haben in einer Demokratie alle Bürgerinnen und Bürger je gleich viel, nämlich eine Stimme. Der Föderalismus erhöht den Bürgerinnen und Bürgern von Arkadien die Partizipation. Verallgemeinernd lässt sich sagen: Je homogener die Präferenzen innerhalb der Gebiete A und B verteilt sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Präferenzen im Föderalismus übergangen werden. Im Grenzfall völliger intraregionaler Homogenität wird durch die föderalistische Lösung Einstimmigkeit erzielt, obwohl die Individuen interregional, zwischen den Gebieten, unterschiedliche Präferenzen haben. Im ungünstigsten Fall bleibt die Zahl der überstimmten Präferenzen gleich, nämlich dann, wenn bei anderer regionaler Verteilung der Stimmen in beiden Gebieten mehr Stimmen auf X als auf Y entfallen.

Die Evolution der Partizipation

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II. Wie lässt sich Föderalismus erreichen? Die Vorteile des Föderalismus bringen nichts, wenn es nicht gelingt, den Föderalismus im politischen Prozess durchzusetzen. Doch wie soll das geschehen? Die auf James M. Buchanan und Gordon Tullock (1962) zurückgehende Standard-Antwort lautet: Der Föderalismus wird im Verfassungsvertrag vereinbart. Dabei wägt jedes Individuum Vor- und Nachteile vor dem Schleier der Ungewissheit, d. h. ohne Wissen seiner dereinstigen spezifischen Interessen ab. Damit entscheidet es nur nach den Eigenschaften von Föderalismus und Zentralismus, nicht aber nach seinen spezifischen später damit verbundenen Interessen. Diese werden durch den Schleier gefiltert. Im Falle von Föderalismus hat das Individuum die Gewissheit, zusammen mit seinen Mitsaßen was auch immer in seinem örtlichen Bereich beschließen zu können, ohne dass die Nichtmitsaßen etwas dagegen einwenden können. Im Falle von Zentralismus müssen dagegen die Ansässigen stets damit rechnen, durch Beschlüsse von Nichtansässigen bevormundet zu werden. Ansässige haben allerdings auch die Möglichkeit, zusammen mit ihren Mitsaßen Nichtansässige zu bevormunden. Da einem Individuum aber in der Regel das Näherliegende wichtiger ist als das Ferne, zieht es hinter dem Schleier der Ungewissheit (zusammen mit allen anderen) den Föderalismus dem Zentralismus vor. Die Entscheidung für oder gegen Föderalismus kommt also einstimmig zustande. Entscheidend für die Einstimmigkeit ist die Ungewissheit, vor der jedes Individuum steht. Entfällt sie, so ist Konsens nicht mehr möglich. Machtpositionen bestimmen, ob Föderalismus oder Zentralismus durchgesetzt wird. Das ist wohl der realistische Fall. Ich möchte aber zeigen, dass die ökonomische Analyse damit nicht zu Ende ist, sondern dass sich ein ganz neues Feld für die Föderalismusforschung eröffnet. Philosophen haben den Föderalismus untersucht und sich meist positiv geäußert. So berichtet Alexis de Tocqueville (1835, 1840, 1959 Vol. I, Kap. V, S. 68) aus seiner Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika: „Die Kraft der freien Völker ruht in der Gemeinde. Die Gemeindeinstitutionen sind für die Freiheit, was die Volksschulen für die Wissenschaften sind; sie machen sie dem Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem friedlichen Gebrauch und gewöhnen es daran.“ Aus unserer Zeit ist Wallace E. Oates als Pionier der Ökonomik des Föderalismus bekannt (Oates 1999). Er bezeichnet den Föderalismus als Laboratorium. Wenn wir beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland als Föderalstaat bezeichnen, so nicht zuletzt deshalb, weil sie aus 11.000

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Gemeinden besteht, in denen tagtäglich wie in einem großen Laboratorium neue Lösungen ausprobiert und, wenn erfolgreich, nachgeahmt werden. Es wird eine Leistung erbracht, die ein Einheitsstaat definitionsgemäß nicht an den Tag legen kann. Durch das Bild des Laboratoriums deckt Oates die enge Beziehung zwischen Föderalismus und Markt auf. Der Markt, sagt Friedrich August von Hayek (1969), ist ein „Entdeckungsverfahren“: Ein Ort, wo Menschen unabhängig voneinander und gleichzeitig unzählige Ideen ausprobieren. Genauso ist das Oates’sche Laboratorium als Entdeckungsverfahren zu verstehen, als ein Ort, wo Innovationen für den Staat generiert werden, die ihrerseits das Wirtschaftswachstum fördern. Alle diese positiven Eigenschaften des Föderalismus sollten eigentlich Entscheidungen über Zentralismus oder Föderalismus in die Richtung des Föderalismus ziehen. Dennoch gibt es Gebiete, die über Jahrhunderte zentralistisch regiert worden sind. Wie ist das möglich? Was sind also die Bedingungen, insbesondere die ökonomischen Bedingungen, die zum Föderalismus führen und den Zentralismus vermeiden? Es ist erstaunlich, dass diese Frage kaum gestellt wird, obwohl sie zur Erkenntnis der Wirklichkeit m. E. unerlässlich ist. Um hier voranzukommen, brauchen wir eine Theorie des Föderalismus. Diese zu liefern, ist nicht einfach. Daher beschränke ich mich auf fünf Thesen, die als Elemente einer solchen Theorie angesehen werden können. Diese werde ich sodann mit Bildern aus der deutschen Geschichte empirisch belegen.

III. Fünf Thesen zu einer Theorie des Föderalismus Meine erste These beginnt mit dem Gegenteil des Föderalismus. Menschen streben nicht nach Föderalismus, sondern nach Macht. Am Anfang war die Macht. Das zeigt schon die Geschichte von Kain und Abel. Sie endete mit Totschlag, obwohl sich die beiden Brüder problemlos föderalistisch hätten organisieren können. Macht ist für Individuen erstrebenswert, weil sie dem Mächtigen Nutzen bringt. Friedrich Nietzsche (1883, 1885) spricht vom „Willen zur Macht“. Dass die Untertanen unter der Macht des Mächtigen leiden, ist für das Kalkül eines nach Macht strebenden Individuums nicht von Bedeutung. Sein Nutzen wird davon nicht berührt, denn leiden müssen die Untertanen. Wenn aber Macht der dominante Faktor ist, wie ist dann Föderalismus überhaupt möglich? Die Antwort liegt in meiner zweiten These: Machterhalt erfordert Kosten. Der amerikanische Ökonom Richard Bean hat in einem wenig beachteten Aufsatz 1973 die These aufgestellt,

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Die Evolution der Partizipation

dass die Kosten der Aufrechterhaltung der Macht degressiv mit der Fläche wachsen. Weshalb? Weil die Grenzen, längs derer ein Herrscher sein Reich verteidigen muss, linear zunehmen, während die Fläche, in der er Macht ausübt, im Quadrat steigt. Ich bezeichne diesen Zusammenhang als Bean’sches Gesetz. Umgekehrt ausgedrückt sinken die Kosten der Unterdrückung pro Kopf der Bevölkerung mit der Fläche des Machtbereichs. Denn wo keine Gefahr von außen droht, da kann im Inneren rücksichtslos vorgegangen werden. Je weiter wir in Abbildung 1 von links nach rechts wandern, umso weniger steigen die Kosten der Aufrechterhaltung der Macht oder anders gesagt: umso mehr sinken die Kosten der Machtausübung pro Kopf der Bevölkerung. Es entsteht ein natürlicher Zentralismus. Das Wirtschaftswachstum bleibt zurück, weil weniger Experimente im Sinne von Oates (1972) durchgeführt und weniger Innovation realisiert werden.

Reale Kosten

Kleine Fläche, hohe Kosten der Aufrecht erhaltung der Macht pro Kopf, viel Freiheit. Föderalismus als Laboratorium für Innovationen und Wirtschaftswachstum => Natürlicher Föderalismus

Große Fläche, geringe Kosten der Aufrechterhaltung der Macht pro Kopf, wenig Freiheit. Zurückbleibendes Wirtschaftswachstum => Natürlicher Zentralismus Unterdrückungskosten pro Kopf

Kleinflächige Herrschaften

Großflächige Herrschaften

Abbildung 1. Kosten der Unterdrückung nach dem Bean’schen Gesetz

Liegen umgekehrt kleinflächige, zerklüftete Gebiete vor, bei denen die Außengrenzen verhältnismäßig lang sind im Vergleich zur Fläche, so sind die Kosten der Aufrechterhaltung der Macht und die Kosten der Unterdrückung relativ groß. Den Individuen bleibt in diesen kleinen Einheiten mehr Freiheit als in großen kontinentalen Herrschaften. Im Weiteren ergeben sich bei den im Vergleich zur Fläche langen Außengrenzen relativ mehr Möglichkeiten von Begegnung und Tausch. Es entsteht der natürliche Föderalismus. Wo hingegen die Flächen groß sind, da sind eher autoritäre

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Charles B. Blankart

Systeme zu erwarten, in denen sich Freiheit nicht unmittelbar durchsetzt. Es ergibt sich ein natürlicher Zentralismus. Ist es denn zulässig, den Föderalismus allein aus der Fläche zu erklären? Die meisten etablierten Wirtschaftshistoriker würden eine solche monokausale Theorie ablehnen. Richard Bean (1973) und Eric Jones (1981, 2003), die selbst das Flächenargument verwenden, lehnen sie ebenfalls ab. Sie und die meisten ihrer Kollegen suchen nach multikausalen Erklärungen, um Föderalismus und Zentralismus oder allgemein die Struktur der Staatenvielfalt zu erklären. Sie ziehen insbesondere unterschiedliche Institutionen, Abhängigkeitsverhältnisse, Verträge, Eigentumsrechte und die Kriegstechnik zur Erklärung der Größe von Herrschaften heran. Das hört sich vernünftig an. Dennoch führt es nicht weiter. Denn die Institutionen stellen ja ihrerseits Ergebnisse vorangegangener Institutionen dar, diese wiederum lassen sich auf weiter davor liegende Institutionen zurückführen usw. Es entsteht ein infiniter Regress, bis die Analyse an den Gegebenheiten ankommt, die die Menschen am Anfang ihrer Besiedelung vorgefunden haben. Da bleiben nur noch Geographie und Klima. Sie sind die einzig wirklich exogenen Variablen. Aus ihnen kamen die von Menschen geschaffenen Institutionen endogen dazu. Sie gilt es aus den Anfängen von Geographie und Klima zu erklären. Würde ich entsprechend dem Vorgehen der etablierten Wirtschaftshistoriker mit den Institutionen anfangen, so bewegte ich mich im Kreis. Ich würde Institutionen mit Institutionen erklären. Bean hat m. E. Recht, die Geographie zum Ausgangspunkt zu nehmen. Aber er wäre besser dabei geblieben und hätte seine Theorie nicht durch Ad-hoc-Annahmen über Institutionen ergänzt. Eine reichere Theorie ist meist nicht eine bessere Theorie. Denn um den Föderalismus zu erklären, brauchen wir rein exogene Größen, die von außen her das menschliche Verhalten erklären, und da bleiben eben, wenn man zurückgeht, Geographie und Klima.2 Zu Beginn der Analyse lege ich die Bean’sche Theorie nach Abbildung 1 auf die Landschaft der Eurasischen Platte und frage: Wie strömen, konzeptionell gedacht, die Menschen zum Zeitpunkt null in diese Landschaft, wie lassen sie sich darin nieder und was für Herrschaftssysteme bilden sich? Zur Eingrenzung der Antworten dient zunächst das Klima. Wie Abbildung 2 zeigt, gibt es klimabegünstigte und klimabenachteiligte Gebiete. Allzu frostige und allzu tropische Gebiete eignen sich schlecht für das Entstehen von Zivilisationen. Somit beschränken sich die Antworten auf die

2

Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Blankart 2007, Kap. 1.

Die Evolution der Partizipation

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Abbildung 2. Die Eurasische Platte aus der Sicht des natürlichen Föderalismus

gestellte Frage der Besiedelung auf ein Band gemäßigten Klimas in der Mitte der Eurasischen Platte. Das Klima allein liefert noch keinen Grund, weshalb wir den größeren, östlichen Teil der Platte als Asien und den kleineren, westlichen Teil als Europa bezeichnen. Hier hilft das Beans’che Gesetz weiter, wonach die Kosten der Herrschaft und der Unterdrückung in großen Flächen geringer, in den zerklüfteten Flächen dagegen höher sind. Bei allen Einwendungen gegenüber dieser These scheint es mir im Großen und Ganzen doch unübersehbar, dass sich große despotische Reiche eher im Osten, kleinere mehr freiheitliche Reiche eher im Westen finden. Zwar haben alle Zivilisationen einmal dezentral angefangen. Es entspricht aber dem Bean’schen Gesetz, dass sich die großen kontinentalen Zivilisationen früher integriert haben, während sich Zivilisationen in zerklüfteten Gebieten nicht oder erst viel später geeinigt haben. China hat seine politische Fraktionierung im Jahr 221 v. Chr. verloren und ist seither ein geeintes Kaiserreich, seit jüngster Zeit eine einheitliche Volksrepublik. Indien bestand aus mehre-

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ren Großreichen von 680 v. Chr. bis zur Machtergreifung der Engländer 1771, eigentlich bis zum Ende der englischen Herrschaft im Jahr 1947. Dann kam es bekanntlich zur Teilung des Landes in die zwei Staaten Indien und Pakistan. In der Mitte der Karte von Abbildung 1 findet sich das Osmanische Reich, das teils als großflächig, teils als zerklüftet gelten kann. Im äußersten Westen, dem heutigen Europa, gibt es viele zerklüftete Gebiete mit erwartungsgemäß einer Vielzahl von Herrschaften. Nur kurz hinweisen möchte ich auf Japan im äußersten Osten, das ebenfalls als eher zerklüftetes Gebiet bezeichnet werden muss und, wie wir weiter unten sehen werden, lange Zeit keine einheitliche Herrschaft aufwies.3 Freilich haben schon frühere Forscher auf den Zusammenhang zwischen Fläche und Despotismus hingewiesen. Das ist kein Nachteil. Im Gegenteil, ich bin glücklich und fühle mich bestärkt, dass klassische Quellen diesen Zusammenhang aufdecken und damit belegen. Ich denke insbesondere an die Philosophen der Aufklärung und danach. Charles de Montesquieu (mit allerdings noch rudimentären Kenntnissen der Geographie Asiens) schreibt in seinem berühmten Werk „De l’esprit des lois“: „En Asie, on a toujours vu de grands empires. En Europe ils n’ont jamais pu subsister. C’est que l’Asie que nous connaissons a de plus grandes plaines, […] et les fleuves moins grossis y forment de moindres barrières. La puissance doit donc être toujours despotique en Asie […] En Europe, le partage naturel forme de plusieurs Etats […] dans lesquelles le gouvernement des lois n’est pas incompatible avec le maintient de l’Etat. […] C’est ce qui a formé le génie de la liberté […]“ (Montesquieu, 1748). Schon einige Jahre zuvor schreibt David Hume ganz ähnlich. In seinem Buch „Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences” findet sich der Hinweis auf Europa: “[…] Europe is at present a copy at large of what Greece was formerly a pattern en miniature […] If we consider the face of the globe, Europe, of all four parts of the world, is the most broken by seas, rivers and mountains and Greece of all countries of Europe. Hence, these regions were naturally divided into several distinct governments. And hence the sciences arose in Greece; and 3

In der Diskussion während der Tagung wurde eingewandt, dass das Römische Imperium als Ganzes schwerlich in die hier vorgestellte Theorie passt. Aus einem geographisch eher zerklüfteten Gebiet sei ein einheitliches Reich entstanden. Dem wurde entgegengehalten, dass das Römerreich so einheitlich gar nicht gewesen sei. So waren die Römer klug genug, nach Eroberungen ihren Herrschaftsanspruch nicht zu überdehnen. Den eroberten Provinzen wurde wohlweislich die überkommene Rechtsordnung belassen. Das alles stabilisierte ein geographisch schwer regierbares Gebiet. Oder wie Jürgen von Ungern-Sternberg 2012, 18 die römische Maxime zusammenfasst: „Die bestehenden Rechte zu achten und auf ihnen aufzubauen, war eben eine bewährte römische Herrschaftsmaxime.“

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Europe has been hitherto the most constant habitation of them” (Hume, 1742).4 Beide Zitate zeigen sehr schön einen Zusammenhang zwischen Fläche und Despotismus, bzw. Fraktionierung und Freiheit auf. Meines Erachtens ist eben wenig gewonnen, wenn spätere Autoren wie Eric Jones (1982, 2003) und Douglass North (1981) diesen geographischen Zusammenhang mit von Menschen gemachten Institutionen anreichern. Der Anfangspunkt einer Theorie muss exogen sein, wofür sich bisher ausschließlich Geographie und Klima anbieten, durch die wir erklären können, warum in gemäßigten Klimazonen und auf großen Flächen Machtstrukturen und auf kleinen Flächen Föderalismus und Freiheit entstehen. Freilich sollen von Menschen gemachte Institutionen dabei nicht übersehen werden (dazu sogleich mehr). Aber sie sind nicht ad hoc, sondern aus den anfänglichen Gegebenheiten von Geographie und Klima zu erklären. Meine dritte These lautet: Föderalismus generiert Systemwettbewerb. Kleine Gebietskörperschaften haben vergleichsweise lange Grenzen und viele Nachbarn. Die Einwohner von A haben Vergleichsmöglichkeiten zu B und C und können, wenn das Angebot an Leistungen zu Hause mangelhaft ist, von der einen in die andere Gebietskörperschaft wandern. Dadurch entsteht Systemwettbewerb, der das Wachstum fördert. In großflächigen Regimen gibt es dagegen nur wenige Nachbarschaften, und wo es an Nachbarschaften fehlt, da gibt es keinen Vergleich und keinen Systemwettbewerb. Es entsteht kein oder nur ein verzögertes Wachstum. Doch der Systemwettbewerb ist janusköpfig. Im eben betrachteten Fall ist er friedlich produktiv und Wachstum generierend. Er kann aber auch kriegerisch und damit destruktiv sein. Betrachten wir Japan. In dessen zerklüfteter Geographie finden wir erwartungsgemäß viel Systemwettbewerb. Doch dieser war nicht immer produktiv und wachstumsfördernd. Im japanischen Mittelalter (etwa 1400–1680) war er extrem kriegerisch und destruktiv. Erst durch das Togukawa Shogunat entstand eine Art Lehenssystem, das den kriegerischen in einen friedlichen Systemwettbewerb verwandelte und ein allmähliches Wachstum hervorbrachte (Blankart, 2007). Aber auch Europa kann nicht als Musterfall des friedlichen Systemwettbewerbs betrachtet werden. Im Gegenteil – Kriege durchzogen seine Geschichte. Sie brachten Europa mehrmals an den Rand des Abgrunds.

4

Eine moderne Analyse des Zusammenwirkens der griechischen Poleis von Homer, Hesiod und Herodot bis hin zur attischen Demokratie findet sich bei Jürgen von Ungern-Sternberg 2009. Insgesamt ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen mit meiner These.

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Dass trotz allen Kriegen in Europa die konstruktiven Kräfte die Oberhand behielten, ist vielleicht mehr ein Glücksfall der Geschichte. Meine vierte These lautet: Aus dem natürlichen Föderalismus entwickelt sich der virtuelle Föderalismus. Wie erinnerlich hat Wallace E. Oates (1977) darauf hingewiesen, dass der Föderalismus ein Laboratorium für Experimente und Innovationen darstellt. Wo in zerklüfteten Räumen der natürliche Föderalismus zustande kommt, da generiert er Innovationen und verbessert sich selbst. Er löst ein innovatives learning by doing aus. Wo umgekehrt in großflächigen Gebieten ein Föderalismus nicht zustande kommt, da kann er auch keinen Fortschritt generieren. Natürlicher Föderalismus und natürlicher Zentralismus dominierten und determinierten die euro-asiatische Welt über Jahrhunderte. Wenn sich daran etwas ändern sollte, so musste es vom föderalistischen Westen und nicht vom zentralistischen Osten ausgehen. Nur im Westen konnte der Genius entstehen, der sich vom Objekt der Ordnung zu dessen Subjekt emporschwang, der die Theorie erkannte, die hinter den beiden Formen des Föderalismus stand. Er war es, der es verstand, sich zum Herrn der Geographie zu machen, der erkannte, dass er die für die Entwicklung so wichtige Zerklüftung auch selbst herstellen konnte, nämlich durch Landkarte, Tinte und Vertrag. So gelang es, großflächige, eigentlich autokratische Gebiete in kleinräumige, dem Systemwettbewerb zugängliche Einheiten zu verwandeln. Neben den natürlichen Föderalismus tritt so der von Menschen geschaffene virtuelle Föderalismus. Erste Anfänge einer Theorie des virtuellen Föderalismus fand ich bei Johannes Althusius (1603, 1964), der für das Subsidiaritätsprinzip als gegliederte Form einer Herrschaft plädiert, dann deutlicher bei Immanuel Kant (1784), der in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ die Vorstellung eines föderalistischen Weltbundes entwickelt: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. […] aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten.“ (Kant 1784) Deutlicher wird Kant im Zweiten Definitivartikel zum ewigen Frieden, wo er 1795 schreibt: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.“ (Kant 1795)

Klipp und klar nennt James Madison in den Federalist Papers die föderale Wurzel der Vereinigten Staaten; er schreibt: „Der Akt, mit dem die Verfassung verabschiedet wird, wird deshalb kein nationaler, sondern ein föderaler Akt sein.” (A. Hamilton et al. 1788).

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Wie der virtuelle Föderalismus sich in der Fläche durchsetzt, lässt sich m. E. aus einem Blick auf die Landkarte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 17. Jahrhundert ersehen. Der Dreißigjährige Krieg, der von 1618 bis 1648 dauerte, kann als tragisches Beispiel des destruktiven, kriegerischen Systemwettbewerbs betrachtet werden. Umso erfreulicher ist sein Ausgang im Westfälischen Frieden. Das große Gebiet des Heiligen Römischen Reiches wurde mit Karte, Tinte und Vertrag föderalisiert. Autonome Herrscher regelten ihre Beziehungen fürderhin untereinander durch Verträge. Es gelang in Mitteleuropa, einen virtuellen Föderalismus zu errichten, der immerhin fast 200 Jahre dominierte. Mancherseits wird die Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs in 327 autonome Herrschaften und Territorien als Flickenteppich und Kleinstaaterei kritisiert. Föderalisten halten dagegen: Nein, durch den virtuellen Föderalismus ist es gelungen, aus dem großen unbeweglichen Gebiet eine Vielzahl von föderalen Laboratorien unter dem Dach des Reiches zu schaffen. Die Kleinstaatlichkeit war zwar für den freien Güterverkehr mitunter hinderlich, erleichterte aber den per se zollfreien Austausch von Ideen in Wissenschaft und Kunst. In der Musik beispielsweise wie auch in der Literatur erreichte Deutschland damals unangefochtene Spitzenstellungen (Roland Vaubel [2002] zeigt dies am Beispiel der deutschen Barockmusik). Die Idee des virtuellen Föderalismus wanderte dann im 18. und 19. Jahrhundert von Europa in die Vereinigten Staaten von Amerika, begeisterte dort, wie erwähnt, Alexis de Tocqueville, der die Ideen des virtuellen Föderalismus wieder nach Europa zurückbrachte. Ein Blick auf eine Landkarte der USA bestätigt dies. Es ist das föderalistische Design des Staates, das den Krieg zwar nicht verhinderte, aber doch das Aufkommen eines kontinentalen Machthabers unmöglich machte und gleichzeitig das Wachstum förderte – ein unübersehbarer Unterschied gegenüber dem zaristischen Russland und der späteren Sowjetunion. Fünfte These: Föderalismus erfordert institutionelle Kongruenz: Bisher wurde noch nichts über die Finanzierung des Föderalismus gesagt. Das war auch nicht nötig; denn in der Regel musste jede Gebietskörperschaft sich selbst finanzieren. Sieht man von den Steuern ab, die eine nachgeordnete Gebietskörperschaft an den Landesherrn und an das Reich abführt, so gab es keine zwischenstaatlichen Finanzströme, insbesondere keinen Finanzausgleich. Jede Gebietskörperschaft haushaltete unter „institutioneller Kongruenz“, d. h. die Kreise der Nutznießer, der Entscheidungsträger und der Steuerzahler fielen zusammen, sodass sich Kosten und Erträge lang-

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fristig die Waage hielten. Institutionelle Kongruenz stellt den goldenen Mittelweg zwischen Tributpflicht und Finanzausgleich dar. Tributpflicht reduziert die Anreize, mehr zu leisten. Finanzausgleich fördert die Anreize, weniger zu leisten. Deswegen gehören Föderalismus und institutionelle Kongruenz wie siamesische Zwillinge zueinander.

IV. Föderalismus als Wachstumsmotor Wer in der Politik etwas zu sagen hat, steht dem Föderalismus in der Regel skeptisch gegenüber. Denn Föderalismus steht den Machtzielen von Politik und Bürokratie diametral entgegen. Daher müssen schon besondere Bedingungen vorliegen, damit Föderalismus entsteht und sich hält. Dazu gehören, wie oben dargelegt, der natürliche und der virtuelle Föderalismus und die institutionelle Kongruenz. Diese Bedingungen waren im Westen stärker ausgeprägt als im Osten. Deswegen erwarten wir über die Jahrhunderte ein stärkeres Wirtschaftswachstum im Westen als im Osten, oder in zeitlicher Hinsicht findet der Take-off im Sinne von Walt W. Rostow (1960) im Westen früher und intensiver statt als im Osten. Sind diese Hemmnisse des Föderalismus einmal überwunden, so findet auch im Osten ein Take-off statt, in dessen Folge die Wachstumsraten sich angleichen können. Interessanterweise ist der kürzlich verstorbene Wissenschaftler Angus Maddison (1926–2010) mit seinem Forscherteam in der OECD in seiner Studie über das weltweite Wirtschaftswachstum seit Christi Geburt auf genau diese Leads und Lags des Wirtschaftswachstums gestoßen (Maddison 2002 und nachfolgende Neuberechnungen gemäß Tabelle 2). In Spalte 1 von Maddisons Berechnungen finden sich die Zivilisationen Asiens und Europas zu Beginn des ersten Jahrhunderts n. Chr. Sie stehen alle ungefähr auf dem gleichen Pro-Kopf-Wohlfahrtsniveau umgerechnet auf heutige US Dollar. Über das erste Jahrtausend änderte sich, wie aus Spalte 2 hervorgeht, fast gar nichts. Die nächsten fünfhundert Jahre brachten in Europa schon früher als in anderen Volkswirtschaften einen (noch zaghaften) Take-off. Dieser verstärkt sich massiv nach 1500 und breitet sich auch in die Neue Welt aus. In dieser Zeit verachtfachte sich das Prokopfeinkommen in Europa. In der Neuen Welt stieg es noch weit stärker, während es in China und Indien voraussagegemäß weiter zurückblieb und in Japan aus den dargestellten Gründen langsam einsetzte. Somit sprechen auch empirische Daten für

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Tabelle 2. Reales BIP pro Kopf in US Dollar seit Christi Geburt

Jahr China Japan Indien W’Europa W’Europas Ausläufer Welt

1

1000

1500

1950

2003

450 400 450 450 400

450 425 450 400 400

600 500 550 771 400

439 1921 619 4579 9268

4803 21 218 2160 19 912 28 039

445

436

566

2111

6516

Quelle: OECD: Historical GDP Data (03-2007).

meine These des natürlichen und virtuellen Föderalismus. Spalte 5 zeigt aber auch, dass großflächige Reiche nicht auf immer und ewig zurückbleiben. Nur dauert es viel länger, bis der Take-off stattfindet. Tabelle 2 deutet darauf hin, dass die großen Reiche China und Indien noch im Jahr 1950 vom weltweiten Wachstum abgekoppelt waren. Offenbar versiegte oder verdünnte sich das Verkehrswesen an deren Grenzen. Märkte konnten im Inneren des Landes nicht entstehen. Dies änderte sich erst in den 1980er Jahren. Straßen- und Luftverkehr drangen aus den schon fortgeschrittenen Volkswirtschaften ins Binnenland der großen Reiche vor und schufen dort Handel und Wohlstand. Anders gesagt: ohne die Technik des modernen Verkehrs hätte sich der natürliche Zentralismus in Asien vielleicht noch Jahrhunderte lang gehalten. Diese jedoch bewirkte eine neue Art des virtuellen Föderalismus.

V. Gefahren, die dem Föderalismus drohen Der heutige Föderalismus tritt meist in der Form des virtuellen Föderalismus auf. Er ist also, anders als der natürliche Föderalismus, ein Kunstgebilde. Was mittels Karte, Tinte und Vertrag vereinbart worden ist, hält nur solange, als Politiker sich daran halten. Wenn die Politiker, die ihn aushöhlen wollen, stark, und die Gerichte, die ihn schützen sollten, schwach sind, so hat er nur geringe Überlebenschancen. Es kommt also auf die Verfassung des Föderalismus an. Hinsichtlich des Deutschen Kaiserreichs gilt heute weitgehend die von Rudolf Smend (1916) vertretene Auffassung, „wonach das Reich durch Ver-

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trag entstanden ist und als vertragsmäßiges Verhältnis mit entsprechenden Bundespflichten der Mitglieder, also als Staatenbund, nicht als Bundesstaat, auch weiterhin besteht.“ Ein typischer Fall des virtuellen Föderalismus. Warum es 1871 mit dem Deutschen Reich nicht zu einem Einheitsstaat kam, ist schwer zu sagen – möglicherweise, weil Preußen nicht in der Lage war, alle deutschen Staaten zu erobern. Als virtueller Föderalstaat wurde das Kaiserreich nicht von oben nach unten (wie beispielsweise die Republik Frankreich) finanziert und regiert, sondern vielmehr durch so genannte Matrikularbeiträge von unten nach oben verwaltet. Das Reich hatte kein Recht, autonom Steuern zu erheben.5 Solche wurden dem Reich von den Bundesstaaten zugeteilt. Ganz im Sinne der institutionellen Kongruenz gab es keinen Finanzausgleich. Wenn ein Bundesstaat mit seinen Finanzen nicht zurechtkam, wurde er nicht durch Hilfszahlungen (Bailouts) ausgelöst, sondern er wurde wie in Mergers and Acquisitions von anderen Bundesstaaten übernommen. So erging es dem Fürstentum Waldeck, das von Preussen faktisch übernommen wurde, wie auch dem Fürstentum Reuss älterer Linie, das von Reuss jüngerer Linie einverleibt wurde. Dieser Föderalismus erwies sich als außerordentlich stabil. Nur der Reichshaushalt, der sich aus den Bundesstaaten finanzierte und in diesem Sinne nicht selbständig war, hatte keine Anreize der Selbstbehauptung. Finanziell abhängig von den Bundesstaaten geriet das Reich im Laufe der Zeit zunehmend in Finanzkrisen, die sich im Ersten Weltkrieg und durch dessen Folgen (Reparationszahlungen aufgrund des Vertrags von Versailles) zu einer gigantischen Staatsverschuldungskrise ausdehnten. In der Tat eine fatale Fehlkonstruktion. Die Weimarer Republik wurde anders als das Kaiserreich von oben nach unten finanziert. Das Reich hatte im Wesentlichen die Steuerhoheit. Aus Reichsteuern versorgte es sich selbst und aus Reichsüberweisungssteuern die Länder und Gemeinden. Das Prinzip der institutionellen Kongruenz wurde nicht wieder hergestellt. Deswegen war die Weimarer Republik nicht mehr eigentlich ein Föderalstaat. Das war vermutlich auch gar nicht anders möglich. Denn das Reich musste die Kriegsfolgelasten und die Reparationszahlungen schultern. Hierfür brauchte es Steuern, und die holte es sich bei den Ländern und Gemeinden. Die Länder besaßen in der Weimarer Republik, anders als im Kaiserreich, keine finanzielle Selbstverantwortung mehr, was mit der Zeit auch ihr Interesse am Föderalismus

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Als Ausnahme wird gelegentlich die Bismarcksche Sozialversicherung angeführt. Doch diese war nicht eigentlich zentralistisch, sondern paritätisch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern organisiert.

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zurückgehen ließ, sodass die 1933 erfolgte Gleichstellung der Länder keine wesentlichen Wellen mehr schlug. In der Bundesrepublik blieb die Finanzordnung der Weimarer Republik trotz häufiger Dementis weitgehend in Kraft. Die Gouverneure der Westalliierten wollten zwar eine dezentrale Finanzordnung durchsetzen. Doch die Mehrheit der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates, unter ihnen der ehemalige preußische Finanzminister Hermann HöpkerAschoff, lehnten dies ab und konnten ihre Position gegenüber den Gouverneuren weitgehend durchsetzen. Die Steuergesetzgebung blieb beim Bund. Immerhin blieben den Ländern verfassungsmäßige Rechte an den Einkommens- und Körperschaftssteuererträgen. Ähnliches gilt für die Erträge der Umsatzsteuer. Heute wird dieses System kooperativer Föderalismus genannt. Es versteht sich, dass das Prinzip der institutionellen Kongruenz dadurch unterhöhlt wurde. Die Anreize der Länder, eine selbstverantwortliche Wirtschaftspolitik zu betreiben, wurden dadurch jedenfalls nicht gefördert. Während der deutsche Finanzausgleich problematisch ist, aber immerhin in festen Regeln abläuft, wirkt deren weiche Pflicht zum Haushaltsausgleich (soft budget constraint) wie ein Fass ohne Boden. Weicher Haushaltsausgleich bedeutet, dass die Länder nicht pleite gehen können, sondern durch den Bundesstaat am Leben gehalten werden müssen. Die kürzlich beschlossene Schuldenbremse soll diesen Schwachpunkt zwar beheben. Noch ist aber ungewiss, ob diese hält, was sie verspricht. Europäische Union: Bislang konnte davon ausgegangen werden, dass der Verlust an institutioneller Kongruenz ein innerdeutsches Problem ist, das auf europäischer Ebene durch den disziplinierenden Zwang der gegenseitigen Nichtauslösung, den Nobailout der Euro-Staaten nach Art. 125 des Vertrags von Lissabon AEUV, wettgemacht wird. Doch seit der Staatsfinanzkrise des Jahres 2010 ist dies nicht mehr der Fall. Der Nichtauslösungsgrundsatz von Art. 125 AEUV wurde fallen gelassen. Stattdessen sollen sich die Euro-Staaten gegenseitig retten, wenn sie in Finanznot geraten. Die institutionelle Kongruenz von Nutzern, Entscheidungsträgern und Steuerzahlern wird dadurch untergraben und der Anreiz, moralische Risiken auf Kosten der Staatengemeinschaft einzugehen, erhöht. Noch ist unklar, wo dies enden wird. Eines scheint jedoch naheliegend: In einem solchen Europa ist für den Föderalismus kein Platz mehr. Aus den Finanzen der Euro-Staaten wird ein großer Haushaltspool, dessen Mittel zentralistisch nach der Macht des Stärkeren verteilt werden. Jahrhunderte föderalistischer Tradition, auf der Europas kulturelle Vielfalt und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beruh-

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te, werden preisgegeben. Europa wird zu einem großen Flächenstaat, in dem sich der natürliche Zentralismus breit macht. Begriffe wie Systemwettbewerb und Steuerwettbewerb sind verpönt und verschwinden aus dem Vokabular der Europapolitiker. An ihre Stelle treten neue Begriffe wie Steuerharmonisierung, gemeinsame Steuerbemessungsgrundlage und Umverteilung. Der Wettbewerb wird zu einem organisierten Kampf um den Wohlstand des Nachbars, der die Kreativität des Föderalismus verkümmern lässt.

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Politische Partizipation und globale Politik – Zur menschenrechtlichen Begründung eines Rechts auf globale Partizipation Stephan Kirste In den letzten Jahren wird verstärkt die Frage nach der Legitimation des Völkerrechts und seiner Institutionen gestellt.1 Dabei spielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowohl eine problematische wie eine legitimationsförderliche Rolle. Sie stellen sich nämlich als – asymmetrische – Formen der Partizipation von Bürgern dar. Es ist die These der folgenden Untersuchungen, dass die Aktivitäten von NGOs Ausdruck der politischen Dimension der Menschenrechte der in ihnen wirkenden Personen sein und so einen Beitrag zur Legitimation globalisierter Politik und des Völkerrechts leisten können. Zur Begründung soll zunächst auf den Begriff der Globalisierung eingegangen werden (I.). Vor diesem Hintergrund sind sodann die damit verbundenen Herausforderungen für die Legitimation des Völkerrechts zu skizzieren (II.). Im dritten Abschnitt wird die Rechtsstruktur von internationalen Nichtregierungsorganisationen dargestellt (III.). Sodann sind kurz die Begriffe von Demokratie und Partizipation zu analysieren (IV.), um schließlich eine menschenrechtliche Begründung des Rechts auf Partizipation auf der Grundlage der Würde zu liefern (V.).

I. Globalisierung Soweit ersichtlich, ist der Begriff der Globalisierung nicht allgemein geklärt.2 Er orientiert sich – und das ist legitim – an den jeweiligen Fragestellungen. Zu eng ist es jedenfalls, wenn angenommen wird, es gehe nur um die Entfesselung der Finanzmärkte“ , Globalisierung sei also in ” 1 2

Vgl. etwa Wolfrum/Röben (2008); Meyer (2009). Eine Sortierung von Ansätzen findet sich bei: Kirste 2001, 7–12; eine Bestimmung der Konzeption aus Sicht der Systemtheorie: Stichweh 2008, 329 ff.

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erster Linie ein ökonomisches Phänomen.3 Sie erfasst vielmehr alle Lebensbereiche, auch wenn in der Tat die Ökonomie hier eine Vorreiterund häufig auch eine problematische Rolle übernommen hat4 . Das alltägliche Leben und Handeln verläuft zunehmend über nationalstaatliche Grenzen hinweg auf der Basis von Netzwerken mit hoher, wechselseitiger Abhängigkeit. Dies tritt über Massenmedien und Tourismus stärker in die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft und führt zu Verhaltensformen, die ihre Verwurzelung in lokalen Traditionen verlieren. Hiermit hängt die Ortlosigkeit von Gemeinschaft, Arbeit und Kapital zusammen. Man könnte insofern auch von Globalisierung der Lebenswelt5 , informatorischer Globalisierung6 , ökologischer Globalisierung7 , ökonomischer Globalisierung8 , kultureller Globalisierung9 , religiöser Globalisierung10 , politischlegitimatorischer Globalisierung11 und Globalisierung von Arbeitskooperation bzw. Produktion12 , aber auch von Armut und Gewalt13 sprechen. Gleichzeitig weitet sich der Wahrnehmungshorizont für globale ökologische Gefahren und entsprechende Handlungsarenen14 . Für die Rechtswissenschaft stellt sich die Frage der Globalisierung des Rechts15 und der Möglichkeit eines Weltrechts16 und seiner Gerechtigkeit17 , der Legitimation von Völkerrecht18 , transnationaler öffentlicher Gewalt insgesamt und

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So aber Müller 2003, 62. Überhaupt ist weiterhin umstritten, ob die Globalisierung eine Chance (Brandl/Stelzl 2004, 1309 ff.) oder eine Gefahr bedeutet – zu letzterer Sicht etwa Burchardt 2003, 505 ff. Habermas 1998a, 91 ff. Stehr 2008, 301 ff.; Lamnek/Tinnefeld 1998; Beck 1997, 39. Beck 1997, 40; Huber 1999, 193–213; aus rechtstheoretischer Perspektive: Rowe 1998, 249–304. Beck 1997, 40. Senghaas 2007, 55 ff.; Türcke 1999, 154 ff. Gessner 1994, 132 ff. Beck 1997, 42. Leggewie 2005, 3 ff. Insbesondere die Frage von Inklusion und Exklusion, Chanos 2008, 383 ff. Beck 1997, 41. Mahnkopf 2006, 817 ff. Beck 1997, 31 f. Anderheiden/Kirste/Huster 1998; Galagno 2003, 237 ff. Generell: Schulte 2008, 143 ff.; Voigt 2008, 357 ff.; Ziegert 2008, 453 ff.; als Recht, das aus Gemeinsamkeiten der nationalen Verfassungen hervorgeht: Kotzur 2008, 191 ff.; als Ergebnis globaler Kommunikation: Krawietz 2008, 419 ff. Neves 2002, 323 ff. Bothe 2008, 235 ff.; Kadelbach 2004, 1 ff.; Nettesheim 2002, 569 ff.

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der Stellung des Einzelnen19 sowie des Staates20 und seiner Verfassung21 in dieser Arena. Globale Probleme wie etwa die Umwelt und Globalisierung haben die Steuerungsfähigkeit des Staates in Frage gestellt22 . Die Denationalisierung von Kompetenzen des Staates ist ein Teilphänomen der Globalisierung23 . In der Folge sind nicht nur die Aufgaben des Staates, sondern auch seine Staatlichkeit selbst der Globalisierung ausgesetzt24 . Sie betrifft vor allem die Souveränität, die durch die Einwirkung transnationaler Rechtsordnungen modifiziert ist. Es kann deshalb von einer Erosion der Westfälischen Ord” nung“ gesprochen werden25 . Staaten sind nicht mehr die einzigen Akteure der Weltpolitik. Nichtstaatliche Akteure sind unterstützend und kritisierend an ihre Seite getreten26 . Dritteweltländer mögen mit der Anpassung noch ihre Schwierigkeiten haben; Schwellenländer wie Brasilien haben sich aber erfolgreich auf die ökonomische Globalisierung eingestellt, sodass inzwischen auch breitere Bevölkerungsschichten von ihr profitieren27 . Staaten verstehen sich zwar weiterhin nicht als Selbstverwaltungskörperschaften globaler Angelegenheiten, sondern als (weitgehend) souveräne Gestalter aller in ihren Herrschaftsbereich fallender öffentlicher Aufgaben. Den Vereinten Nationen stehen einstweilen auch keine Agenturen zur Verfügung, wie sie etwa der EU helfen, Sachkomplexe problem- und ortsnah zu lösen. Die Abhängigkeit nationaler Politik und Rechtsetzung von transnationalen und internationalen Faktoren hat sich jedoch seit dem zweiten Weltkrieg sprunghaft erhöht, auch wenn es weiterhin an einer effektiven politischen Globalisierung fehlt. Davon ist das Recht nicht ausgenommen. Vielmehr nimmt es selbst an diesem Prozess teil, sodass von einer Globalisierung des Rechts im Sinne eines mehrdimensionalen Pro” 19 Wahl 2001, 45 ff. 20 Sassen 2005, 413 ff.; Di Fabio 2008, 399 ff.; Müller-Franken 2009, 542 ff.; Halfmann 2008, 279 ff.; mit Auswirkungen auf die Organisation – Möllers 2008, 217 – und das Handeln von Verwaltungen – Tietje 2008, 255 ff. 21 Stoll 2007, 1064 ff. 22 Schwerdt 2003, 65. 23 Kirste, Einleitung, 7; Beck 1997, 44: Durchgängig wird eine zentrale Prämisse der ” Ersten Moderne umgestoßen, nämlich die Vorstellung, in geschlossenen und gegeneinander abgrenzbaren Räumen von Nationalstaaten und ihnen entsprechenden Nationalgesellschaften zu leben und zu handeln.“ 24 Habermas 1998, bes. 91 ff. 25 Schwerdt 2003, 40 f. 26 Schwerdt 2003, 64. 27 Neves 2002, 323 ff.

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zesses“ gesprochen werden kann, in dessen Verlauf nach und nach das ” nationale Recht zugunsten eines Weltrechts zurücktritt und schließlich durch dieses ersetzt wird.“ 28 Fehlentwicklungen wie ungerechte Ressourcenverteilung und immanente Probleme wie zunehmende Anforderungen an Qualifikation und Mobilität von Arbeitnehmern haben zu Exklusionsproblemen auch in demokratischen und rechtlichen Prozessen geführt29 . Lokale wirtschaftliche Krisen können globale Folgen haben, wie etwa die US-Immobilienkrise30 . Es fehlen globale Institutionen der Politik, die diese Prozesse beeinflussen könnten und es fehlt denjenigen, die um ihr tägliches Überleben kämpfen müssen, die Möglichkeit, sich an ihrer staatlichen Politik zu beteiligen. Statt am Recht teilhaben zu können, sind sie eigenen, demokratisch nicht legitimierten, vom staatlichen Recht abgekoppelten Ordnungssystemen unterworfen, wie sie sich etwa in den Brasilianischen Favelas etabliert hatten31 . Von einzelnen Autoren wird die Globalisierung daher auch als Falle“ , als Angriff auf Demokratie und Wohlstand“ ,32 verstanden. ” ” Während einzelne wissenschaftliche Stimmen für einen Weltstaat plädieren, für eine Weltrepublik“ im Kant’schen Sinn auf der Grundlage ” eines Weltgesellschaftsvertrages33 , sehen andere Stimmen die Lösung in einer Weltgesellschaft ohne Weltstaat und ohne Weltregierung“ ,34 die zivilge” sellschaftliche Lösungen erfordert35 . Gegen die vermeintlichen und wirklichen Fehlentwicklungen der Globalisierung haben sich Protestbewegungen gebildet, die ebenfalls international agieren. Sie erkennen für sich Werte und Menschenrechte als Zie28 Voigt 2008, Vorwort, 7 29 Müller 2003, 66 f. 30 Brunnengräber/Altvater 2002, 7 fassen zusammen: Das Defizit an Vergesellschaf” tung in der globalisierten Welt ist also mehrfach begründet: politisch wegen der Deregulierung und damit verbundener Delegitimierung, sozial wegen der gewachsenen Ungleichheit in der Welt und ökonomisch wegen der Krisentendenzen, die sich von den Finanzmärkten auf die ,reale Ökonomie‘ auswirken und Entwicklungsanstrengungen zurückwerfen“ . 31 Müller 2003, 69. 32 So der Untertitel des Buches Die Globalisierungsfalle“ von Hans-Peter Martin und ” Harald Schumann (Reinbek b. Hamburg 1996); Alfred Keck: Deutschland in der Globalisierungsfalle. Ende der Nationalstaatlichkeit? 1999. 33 Höffe 1999, 308 f. 34 Beck 1997, 32. Zürn 1992, 490 ff.; Stichweh 2008, 338 f. 35 Zu demokratietheoretischen Fragen der Globalisierung vgl. Brunkhorst/Kettner 2000; Brunckhorst 1999, 82–94; Angehrn/Baertschi 1999; die Aufsätze von Beck, Goodman und McGrew in: Beck 1998, 7–67.

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le einer globalen Gerechtigkeitsordnung an und treten für sie ein. Sofern NGOs auf diese Ziele gerichtet sind, wirken sie als Weltgewissen“ , kritisie” ren Missstände am Maßstab dieser Normen, organisieren auch Widerstand und stellen so politische Öffentlichkeiten als Grundlage von themenbezogener Demokratie her36 . Doch ist Gewissen“ ein moralischer Begriff. Es ” genießt den Schutz des Rechts, speist politische Entscheidungen, ist aber nicht selbst eine rechtliche Institution.

II. Herausforderungen für die Legitimation des Völkerrechts Die Herausforderungen der Globalisierung für die Legitimation des Völkerrechts werden in den letzten Jahren immer deutlicher wahrgenommen37 . Zwar können nicht alle Legitimationsprobleme internationaler Institutionen und des Völkerrechts auf sie zurückgeführt werden; infolge der Globalisierung der Kommunikationsmedien seit den 90er Jahren treten jedoch auch diejenigen, die schon länger bestehen, stärker ins Licht der Öffentlichkeit. Wie andere Formen von Herrschaft bedarf auch das Völkerrecht der Legitimation. Legitimationsbedürftig sind Entscheidungen einer Autorität über andere. Legitimationsbedarf wirft die Verdrängung nationaler Rechtsetzung durch internationale Normen auf, auch wenn die Feststellung der Normverletzung und die Normdurchsetzung weiterhin nationale Angelegenheiten bleiben. Diese Denationalisierung“ ist zugleich auch eine ” Entparlamentarisierung, da ein Äquivalent zu demokratischen Kollegialorganen auf der internationalen Ebene fehlt38 . Von dieser Entwicklung werden etwa die Regelungsbereiche Menschenrechte, Umweltrecht und das Wirtschaftsrecht erfasst39 . Völkerrecht umgeht aber auch die Nationalstaaten und wendet sich – wie etwa das ius in bello – direkt an die Bürger40 . Im Umweltvölkerrecht gibt es Normen, die internationalen Organisationen das Recht zur Konkretisierung aufgrund von Mehrheitsentscheidungen der entsprechenden Kollegialorgane vermitteln, sodass der Wille der Nationalstaaten bei diesen Konkretisierungen nicht mehr rein abgebildet 36 Müller 2003, 76. 37 Vgl. Nur Meyer 2009; Wolfrum/Röben 2009; Heiskanen/Coicaud/Coicaud 2001. 38 Wolfrum 2009, 20. 39 Wolfrum 2009, 12. 40 Wolfrum 2009, 13.

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wird. Schließlich haben die Internationalen Organisationen ihre vertraglich gewährten Kompetenzen extensiv interpretiert, wie etwa die Einsätze der NATO zeigen. Expertengremien schaffen eigene Rechtssysteme z. B. die lex Mercatoria im Bereich des Handelsrechts. Diese Verdichtung von politischer Steuerung gegenüber dem klassischen System des Völkerrechts, die dennoch nicht die Intensität staatlicher Regierungstätigkeit oder auch nur der EU-Regierung besitzt, wird auch “ Global Governance” genannt41 . Als Legitimationskriterien kommen Selbstbestimmung von Betroffenen, der Völker oder die Förderung von individuellen oder kollektiven (Gemeinwohl-)Interessen in Betracht. Die erste Form bedeutet eine Input-, die zweite eine Outputlegitimation. Inputlegitimation setzt auf die Begründung von Entscheidungen. Diese Begründung kann aus bestimmten Werten, Interessen oder anders material erfolgen oder über bestimmte Diskurse bzw. Verfahren. Outputlegitimation stellt auf das vorteilhafte Ergebnis von Entscheidungen ab. Stark vereinfachend lässt sich sagen: Konsequentialistische Positionen neigen zur Betonung der Bedeutung von Inputlegitimation; utilitaristische Positionen zur Betonung der Outputlegitimation. Beide Legitimationsformen schließen sich aber nicht notwendig aus und werden von verschiedenen Theorien auch kombiniert. Traditionell wird die Legitimation des Völkerrechts konsensual über die Staaten vermittelt42 . Wirkt ein nicht demokratisch regierter Staat mit, beeinträchtigt dies die demokratische Legitimation auch der internationalen Autorität. Das Völkerrecht kann sich zwar immer mehr – insbesondere im Bereich der Menschenrechte – über die Souveränität der Staaten hinwegsetzen; die Regierungsform bleibt jedoch ein Arkanum der 41 Auch der Begriff der Global Governance“ wird sehr unterschiedlich verstanden. ” Eine hilfreiche Charakterisierung bringt Zürn 2010: Das analytische Konzept der ” Governance verweist zum einen darauf, dass die autoritative Regelung gesellschaftlicher Problemlagen nicht zwingend an Staaten gebunden ist. Neben der governance by government kann es auch governance without government (Selbstauferlegung von Normen und Regeln durch gesellschaftliche Akteure) und governance with governments (Verpflichtung von Staaten im Umgang miteinander auf bestimmte Normen und Regeln, ohne dass diese von einem übergeordneten Akteur beschlossen und durchgesetzt werden können) geben. Die Verwendung des Konzepts der Governance im Bereich der internationalen Beziehungen verweist darauf, dass internationale Regelungen nicht mehr nur einfache Koordinationsleistungen erbringen. Häufig zielen sie auf eine aktive und mit normativen Zielsetzungen verbundene Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten der internationalen Staatengemeinschaft bzw. der Weltgesellschaft”, freilich sind auch und gerade nichtnormative Politikformen davon umfasst. 42 Wolfrum 2009, 7.

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Selbständigkeit der Staaten. Deshalb versucht das Völkerrecht gerade auch über seine Wirkungen an Legitimation zu gewinnen. Zugleich gibt es jedoch Überlegungen, wie demokratische Inputlegitimation verstärkt werden kann. Diese Herausforderungen für die Legitimation des Völkerrechts werden als Übergang von Regelungen materiellen Verfassungsrechts auf überstaatliche Organisationen ohne die entsprechende Mitübertragung von demokratischen Entscheidungsverfahren wahrgenommen43 . Wolfrum identifiziert hierzu vier Auffassungen44 : Die erste Richtung vergleicht das nationale mit dem international erreichbaren Legitimationsniveau politischer Entscheidungen, konstatiert ein Defizit und spricht sich für geringere Kompetenzen der Vereinten Nationen aus. Eine zweite Richtung befürwortet vor dem Hintergrund neuer globaler Politikfelder eine Reform der Vereinten Nationen und fordert u. a. neue Kompetenzen und eine stärkere Beteiligung von NGOs, aber auch der nationalen Parlamente. Die beiden weiteren Richtungen diagnostizieren partielle Legitimationsdefizite, empfehlen jedoch entweder eine Stärkung der über die nationalen Parlamente vermittelten Legitimationsketten oder eine Reform der Vereinten Nationen. Wir wollen im Folgenden Potenziale einer stärkeren Partizipation von internationalen Nichtregierungsorganisationen für die Legitimation des Völkerrechts ausloten, gehen also der zweiten Theoriegruppe ein wenig nach. Dazu sollten zunächst die NGOs etwas näher analysiert werden.

III. Rechtsstruktur der Internationalen NGOs Auch hinsichtlich der NGOs – und hier ist nur von den internationalen NGOs die Rede45 – gibt es keine allgemein anerkannte Definition46 . Ihre bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende und wohl durch die Friedenskon-

43 Young 2003, 544. 44 Wolfrum 2009, 2. 45 Sie zeichnen sich typischer, wenn auch nicht notwendiger Weise dadurch aus, dass ihre Mitglieder aus mehr als einem Staat stammen, Charnotitz 2006, 350. 46 Zur Begriffsgeschichte Charnotitz 2006, 350 f., der definiert: NGOs are groups ” of persons or of societies, freely created by private initiative, that pursue an interest in matters that cross or transcend national borders and are not profit seeking”.

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ferenz von Versailles 1919 einen wichtigen Impuls erhaltende47 Geschichte gibt keinen klaren Aufschluss48 . Innerhalb der UNO werden sie als nichtstaatliche Vereinigungen verstanden49 . Hilfreich für ihre begriffliche Erfassung ist ihre Akkreditierung beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC)50 . Gem. Art. 71 S. 1 der Charta der Vereinten Nationen kann dieser Rat Beziehungen zu NGOs aufnehmen. Hier ist der Ausschuss für Nichtregierungsorganisationen für die Akkreditierung bei den Vereinten Nationen zuständig. Am 1. September 2010 waren dort 2408 NGOs mit speziellem konsultativem Status, der ihnen Zugang zu allen offiziellen zwischenstaatlichen Dokumenten verschafft, akkreditiert51 . Aber auch außerhalb dieser Zuordnung finden sich zahlreiche NGOs. Erwähnt sei nur das IOC oder die internationale Juristenvereinigung ILA. 1996 soll es 38.000 NGOs gegeben haben. Stefan Hobe spricht von Ver” einigungen …, die von privaten natürlichen oder juristischen Personen aufgrund privatrechtlichen und nicht völkerrechtlichen Vertrages gegründet werden und die auf nationaler bzw. internationaler Ebene ideelle, nicht gewinnorientierte Ziele im Rahmen des Rechts verfolgen sowie über eine auf Dauer angelegte, handlungsfähige Struktur und einen eigenen Sitz verfügen“ 52 . Damit ist eine hilfreiche Ordnung für die weitere Analyse gefunden. NGOs sind freiwillige Zusammenschlüsse von natürlichen oder juristischen privaten oder öffentlich-rechtlichen Personen zur Verfolgung grenzüberschreitender gemeinsamer Interessen53 . Gerade im freiwilligen Zusammenschluss liegt ein wichtiger Vorteil gegenüber Staaten54 . Durch 47 Charnovitz 2003, 61 u. 74: a global constitutional moment“ . Sogar die Aborigi” nes‘ Protection Society nahm teil. Entscheidend war, dass Aktivitäten von NGOs danach als legitim angesehen wurden. 48 Hobe 1999, 154. 49 Brunnengräber/Altvater 2002, 8. 50 In ihrer Resolution 1996/31 v. 25. Juli 1996: Arrangements for Consultations with ” Non-Governmental Organizations” heißt es in Part I, 12, 2: “ Any such organization that is not established by a governmental entity or intergovernmental agreement shall be considered a non-governmental organization for the purpose of these arrangements, including organizations that accept members designated by governmental authorities, provided that such membership does not interfere with the free expression of views of the organization”. 51 Liste unter: http://csonet.org/content/documents/E2011INF4.pdf , letzter Aufruf 13.09.2012. 52 Hobe 1999, 156. 53 Durch den freiwilligen gesellschaftlichen Zusammenschluss unterscheiden sie sich von den Internationalen Organisationen, die Zusammenschlüsse von Staaten kraft völkerrechtlicher Verträge sind, Charnotitz 2006, 352. 54 Charnovitz 2006, 348.

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ihre thematische Ausrichtung gehören sie zu sektoral integrierten Verbänden, deren Gründung der Logik folgt, dass gemeinsame sachliche Interessen nicht an Staatsgrenzen haltmachen müssen55 . Sobald ein globales Problem auftaucht, entstehen auch NGOs, die sich mit bestehenden Vereinigungen vernetzen. Das sie vereinigende Interesse richtet sich nach den Sachproblemen und macht – wie etwa im Migrations- oder Umweltbereich – vor Staatsgrenzen keinen Halt. Caritas und der Jüdische Weltkongress sowie kirchliche Dachverbände haben religiöse Interessen. Themen sind Menschenrechte (Amnesty International), Umwelt (Greenpeace), religiöse Fragen (Weltkirchenrat), Arbeitnehmerinteressen (Weltdachverband der Gewerkschaften). Ihre Interessen sind notwendig partikular, auf einzelne Sachthemen gerichtet, auch und gerade dann, wenn sie global orientiert sind. Eine sachliche Allzuständigkeit wie sie der Staat besitzt, ist ihnen fremd56 . Insofern mag das geweckte Interesse zufällig sein; seine Durchsetzung erfolgt eher marktmäßig als gesteuert. Der Zuschnitt ihrer Ziele wird nicht wie bei Internationalen Organisationen durch die Vertragsparteien bestimmt und kann daher flexibel neuen Entwicklungen angepasst werden. Entsprechend richtet sich ihre Wirksamkeit nach der Attraktivität ihrer Programme und dem Engagement ihrer Mitglieder. Erfolg – etwa das Abkommen über das Verbot von Landminen (OttawaÜbereinkommen)57 – oder Misserfolg hängen jedoch nur von politischen und nicht von rechtlichen Faktoren ab. Wesentlich sind auch die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die europäischen und nordamerikanischen Organisationen haben jedenfalls faktisch ein stärkeres Gewicht als etwa die afrikanischen58 . Ihre Tätigkeiten nehmen sie freiwillig war, aufgrund persönlicher Betroffenheit und persönlichen Engagements und jedenfalls nicht als öffentliche Aufgabe, die ihnen etwa rechtlich verliehen worden wäre. Überwiegend wird angenommen, dass sie keine Völkerrechtssubjekte sind59 . Maßgeblich muss eine differenzierte Betrachtung nach den konkret

55 Charnovitz 2003, 54. 56 Auch Attac ( Association pour une Taxation des Transactions financière pour l’Aide aux ” Citoyen”) ist hier keine Ausnahme, da sie für eine stärkere Reglementierung der Finanzmärkte, Steueroasen, Schuldenerlasse, fairen Handel etc., also eine Wirtschaftsordnung der Globalisierung eintreten, www.attac.org. 57 BGBl II 1998, 779. 58 Brunnengräber/Altvater 2002, 10. 59 Vitzthum-Vitzthum I, Rn. 19; das schließt nicht aus, dass sie unter den entsprechenden Voraussetzungen innerstaatliche Rechtspersönlichkeit besitzen.

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verliehenen Rechten und Pflichten sein60 . Die Bemühungen, ihnen zu einem rechtlichen Status als Subjekte des Völkerrechts zu verhelfen, reichen beinahe hundert Jahr zurück, ohne allerdings erfolgreich zu sein. Seit einer Entscheidung des IGH aus dem Jahr 194961 könnten NGOs teilrechtsfähige Völkerrechtssubjekte sein. Dies wäre dann der Fall, wenn sie aus dem Völkerrecht berechtigt sind62 . Erforderlich ist ferner eine Zielsetzung, eine gewisse organisatorische Verfestigung, die ihnen Handlungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit garantiert63 . Ihnen fehlt jedoch die für Völkerrechtssubjekte konstitutive staatliche Anerkennung64 . Fraglich ist, ob der Konsultativstatus so weit reicht, dass dies anders zu beurteilen wäre: Sie haben keine Rechte zum völkerrechtlich verbindlichen Handeln, insbesondere dürfen sie weder verhandeln noch abstimmen. Wichtiger ist aber, dass entsprechende Organisationen etwa nach Art. 34 EMRK oder Art. 44 Amerikanische Menschenrechtskonvention Antragsrechte im Namen von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen besitzen. Somit können sie rechtswirksame Verfahrenshandlungen vornehmen. Das rechtfertigt es, von einer partiellen Völkerrechtsfähigkeit zu sprechen65 . Die interne Organisation der NGOs ist oft, aber nicht notwendig demokratisch strukturiert. Demokratisch strukturierte Interessenverbände wie etwa Vereinigungen von Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbände betonen deshalb zur Abgrenzung gegenüber den anderen Organisationen diese Eigenschaft 66 . Ihr Organisationsgrad reicht von informellen Foren, Arbeitsgruppen, Netzwerken bis hin zu jährlich wiederkehrenden Einrichtungen wie dem Weltwirtschaftsforum in Davos67 . Für ihre Akkreditierung ist freilich eine dauerhafte Organisation erforderlich. Teilweise ist die Binnenstruktur rechtlich durchnormiert bis hin zu einer autonomen Rechtsordnung wie etwa der des IOC68 . Ihre Tätigkeit besteht in der Aufarbeitung von Sachverhalten, dem Anstoßen von öffentlichen Debatten, agenda setting“ , Schaffung von (glo” ” baler) Öffentlichkeit“ , Erarbeitung von alternativen Lösungen, Interpretati60 61 62 63 64 65 66 67 68

Hobe/Kimminich, Völkerrecht 160. Reparations for Injuries, ICJ-Reports 1949, 178 ff. Hobe 1999, 158. Vgl. auch Nr. 9 u. 10 der oben erwähnten ECOSOC-Arrangements. Schweisfurth, Völkerrecht Rn. 158. Hobe/Kimminich, Völkerrecht 161; Hobe 1999, 172. Brunnengräber/Altvater 2002, 12. Brunnengräber/Altvater 2002, 7. Hobe 1999, 154.

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onsvorschlägen des Völkerrechts, Lobbying, Kampagnen für fairen Handel und gegen Kinderarbeit, gegen Walfang etc. Bei Staatenkonferenzen wie erstmals bei der Versailler Friedenskonferenz 1919 und in großer Zahl bei der UNO Weltkonferenz 1992 in Rio sind sie regelmäßig akkreditiert. So stellen sie aufklärerische Gegengewichte zu insbesondere ökonomischer Globalisierung und auch lokalem und regionalem Unrecht her69 . Die Öffentlichkeit wird durch Debatten, Anhörungen70 , Aktionen etc. beeinflusst71 . Umgekehrt vermitteln sie Programme der Vereinten Nationen, an deren Ausarbeitung sie beratend beteiligt waren, gegenüber den Betroffenen. Sie treten zudem als Sachverständige etwa in Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien und für Ruanda auf72 . Die Parteien der Aarhus Konvention stimmten zu, dass NGOs Mitglieder für ihr Conventions Compliance Committee nominierten. Im Bereich des informalen Handelns, mit dem politischer Druck ausgeübt werden soll, liegt das Hauptbetätigungsfeld der NGOs. Von Bedeutung ist ihr Handeln aber auch für die Durchsetzung des Völkerrechts. Hier spielt – man denke nur an die Berichte von Amnesty International – das fact finding ebenso wie öffentliche Kampagnen eine Rolle. Auch post” conflict peace-building“ und humanitäre Hilfseinsätze gehören zu ihrem Betätigungsfeld73 . In Bezug auf die Rechtsetzung haben sie überwiegend berichtende Funktion: Sie schildern den Lebenssachverhalt und nehmen Einfluss auf Regelungsalternativen. Sie werden aber auch normsetzend tätig, wie etwa die Internationale Handelskammer im Falle von Standardklauseln für den internationalen Handelsverkehr74 . Schließlich kann ihnen streitschlichtende Funktion zukommen75 . Aufgaben übernehmen sie auch bei der Rechtsdurchsetzung76 . Die bei ECOSOC akkreditierten Konsultativ-NGOs haben je nach Status das Recht, Themen für die Tagesordnung der Ausschüsse vorzuschlagen, Beobachter in Sitzungen zu entsenden, schriftliche und ggf. auch mündliche Stellungnahmen abzugeben. Ein Stimmrecht besitzen sie je69 Müller 2003, 81. 70 BVerfGE 9, 89 ff. (95): Der einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung ” sein, sondern soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluß auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können.“ 71 Müller 2003, 134 f. 72 Charnovitz 2006, 353. 73 Schweisfurth 2006, Rn. 156. 74 Hobe 1999, 165. 75 So etwa bei der Air Traffic Association (IATA). 76 Hobe 1999, 166.

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doch nicht. Bei bestimmten internationalen Organisationen kann ihnen ein Beobachterstatus eingeräumt werden (z. B. Art. 23 Ziff. 5 Biodiversitätskonvention). Seit der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio, bei der 700 NGOs zugelassen waren, gibt es kaum eine Staatenkonferenz ohne Teilnahme von NGOs. Das Ausmaß ihrer Beteiligung richtet sich nach den Verfahrensregeln der jeweiligen Konferenz77 . Sie können dann etwa nach ihrer Akkreditierung, die zur Prärogative des Konferenzveranstalters gehört, schriftliche Stellungnahmen abgeben. Die Staatenvertreter können auch mündliche Stellungnahmen zulassen. Sie verhandeln jedoch nicht78 und haben kein Stimmrecht (Konsultativstatus I für NGOs, deren Tätigkeit sich mit dem WSR weitgehend deckt, die in den Bereichen wesentliche Beiträge leisten können und wesentliche Bevölkerungsteile repräsentieren; für Status I reicht ein spezifisches Interesse; sonstige NGOs können aufgrund einer entsprechenden Registrierung Beobachter in die Ausschüsse entsenden)79 . Zusammenfassend lässt sich sagen, dass NGOs noch kaum rechtlich wirksam handeln können – die Antragsrechte im Verfahren nach den Regionalen Menschenrechtskonventionen stellen insofern noch Ausnahmen dar. Sie nehmen deshalb nicht an der politischen Willensbildung im Völkerrecht teil und können nur in sehr geringem Umfang auf die Herbeiführung von Rechtsfolgen gerichtete Handlungen vornehmen. Ihre Rechte beschränken sich auf informales Handeln ohne unmittelbare Rechtswirkung. In diesem Sinne sind die Anhörungsrechte in den Verfahren zu beurteilen und auch die Mithilfe bei der Rechtsdurchsetzung. Insofern können sie aber erheblichen tatsächlichen Einfluss ausüben. Deshalb und in diesem Umfang ist es berechtigt, hier von Partizipation zu sprechen. Sie werden also im Vor- und Umfeld eigentlich demokratisch zu legitimierender hoheitlicher Entscheidungen tätig. An das Handeln der NGOs werden große Erwartungen hinsichtlich der Legitimation des Völkerrechts und der darauf gegründeten Institutionen der Vereinten Nationen gerichtet. Obwohl sie nicht an der förmlichen Willensbildung teilnehmen, sollen sie doch einen wesentlichen Beitrag gerade zur Legitimation in demokratischer Hinsicht liefern. Um dies näher

77 Schweisfurth 2006, Rn. 154. 78 Resolution Nr. 50.: “ In recognition of the intergovernmental nature of the conference and its preparatory process, active participation of non-governmental organizations therein, while welcome, does not entail a negotiating role”. 79 Hobe/Kimminich 2008, 161.

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beurteilen zu können, ist ein Blick auf die Begriffe von Demokratie und Partizipation zu werfen.

IV. Der Beitrag von Demokratie und Partizipation für die Legitimation von öffentlicher Gewalt IV.1 Demokratie und Partizipation Das Ziel einer allgemeinen, gleichmäßig wirkenden öffentlichen Gewalt wurde im klassischen nationalstaatlichen Modell durch die Herauslösung dieser Macht von den asymmetrischen Einflüssen verschiedener innerstaatlicher Machtzentren erreicht. Wenn zugleich die politische Selbstbestimmung eines Volkes, also des Willens, keiner Macht unterworfen zu sein, die man als Bürger nicht selbst autorisiert hat, gewährleistet sein sollte, muss unter diesen Bedingungen jeder Bürger einen strikt gleichen Einfluss auf die Begründung der Staatsgewalt haben80 . Nur so haben alle Bürger Autonomie, sind also einem Gesetz unterworfen, das sie sich selbst gegeben haben, wie Rousseau ausgeführt hat. Das Volk, das sich in der Demokratie selbst bestimmt, kann unterschieden werden von der Nation. Zum Volk gehören diejenigen, die die Herrschaft legitimieren, weil sie ihr unterworfen sind. Die Ursache, weshalb sie sich zu dieser Herrschaft zusammenschließen, mag die Nation sein; möglich ist aber auch, dass sie durch andere Faktoren dazu zusammengeschlossen wurden. Entscheidend ist, dass sie einen Herrschaftsverband auf der Basis staatsbürgerlicher Gleichheit81 bilden82 . In dieser rousseauschen Demokratiekonzeption gründen andere Mächte und Interessenverbände nur auf partikularen Interessen und nicht auf der allein das Gesetz als allgemeines tragenden volonté générale“ 83 . ” 80 Böckenförde 2004, Rn. 2 u. 35. 81 Müller 2003, 49: ‘Volk‘ meint keine de facto homogene Gemeinschaft; sondern eine in ” sich differente, gemischte und gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Bevölkerung. De jure ist kein Ausschluß im Sinne von Exklusion legal oder legitim, nicht zuletzt wegen der Demokratie“ . 82 Vgl. auch Benhabib 2008, 149 f. 83 Müller 2003, 18: Darum ist Rousseau gegen das Agieren der Interessenverbände, Groß” kirchen, Parteien, der Handelsgesellschaften, pressure groups und ökonomischer Oligopole aller Art. Sie sind nur volontés particulières, organisierter Egoismus; sie gründen auf privatem Eigentum und der aus ihm folgenden Organisationsmacht. Gesetze, die von ihnen

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Öffentliche Gewalt wirkt jedoch tatsächlich nicht gleichmäßig und soll dies auch im Interesse von Sachnähe nicht. Entsprechend sind Bürger unterschiedlich von ihr betroffen. Wird dies durch Gesetze geregelt, ist der allgemeine Rahmen noch gegeben. In ihm kann sich aber Selbstverwaltung als Betroffenenselbstbestimmung vollziehen. Entsprechend einer asymmetrischen Betroffenheit von den Sachproblemen wird auch unterschiedlicher Einfluss ausgeübt. Politische Partizipation kann sich somit sowohl in demokratischer Mitwirkung in Gestalt aktiver und passiver Wahlrechte als auch im Vorfeld dieser Partizipation durch die Mitwirkung an der politischen Meinungsbildung vollziehen. Sie ist die Grundlage der eigentlichen Mitwirkung. Die politische Meinungsbildung wird durch Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit geschützt. Auch das Recht, sich zu politischen Vereinen und insbesondere zu Parteien zusammenzuschließen, gehört hierher. IV.2 Demokratie und Partizipation unter den Bedingungen der Globalisierung Internationalisierung und Globalisierung schwächen den Einfluss der Nationalstaaten, wie oben bereits dargestellt. Das Recht internationaler Konzerne, privat gesetzte Standards, wie die lex mercatoria, die inzwischen in einem Minimalsinn reflexives Recht darstellt, und andere Rechtsentstehungsprozesse vollziehen sich an ihnen vorbei oder mit zunehmendem Bedeutungsverlust ihres Anteils. Sie vollziehen sich an ihnen vorbei, wenn private Akteure tätig werden. Die Bedeutung der staatlich vermittelten Legitimation nimmt ab, wenn im Staat Hoheitsgewalt gegenüber seinen Bürgern von internationalen Organisationen ausgeübt wird, an deren Entscheidung der Staat nicht maßgeblich, insbesondere gesichert durch das Einstimmigkeitsprinzip, beteiligt ist. Bei dieser Supranationalisierung“ 84 ” vorformuliert und durchgedrückt werden, bleiben volontés particulières in der mißbrauchten Form des allgemeinen Gesetzes.“ 84 Supranationalisierung bezeichnet einen Prozess, in dem internationale Institutionen Ver” fahren ausbilden, die sich von dem zwischenstaatlichen Konsensprinzip lösen. Dadurch können für nationale Regierungen Verpflichtungen entstehen, Maßnahmen auch dann zu ergreifen, wenn sie selbst nicht zustimmen. Infolge der Supranationalisierung verschiebt sich ein Teil der politischen Autorität von einzelnen Staaten zu internationalen Institutionen. … Eine so verstandene Autorität bedarf der Legitimation“ , Zürn: Internationale Institutionen und nichtstaatliche Akteure in der Global Governance. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 33/34, 2010.

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wird die demokratische Legitimation durch die Bürger des Nationalstaats nicht mehr auf der internationalen Ebene abgebildet. Der Abgabe von Souveränität an supranationale und internationale Organisationen – auch dies bleibt ja gegenüber dem Bürger Herrschaft – entsprechen keine gleich effektiven Legitimationsorgane auf der überstaatlichen Ebene, wie sie auf der staatlichen vorhanden sind. Demokratische Legitimationsketten85 haben eine begrenzte Anzahl von Gliedern. Der bestimmende Einfluss des Wahlbürgers kann sich soweit verdünnen, dass er am Ende der Kette keine Auswirkungen mehr hat86 . An die Stelle der durch den Bürger legitimierten Staatsorgane treten Entscheidungen völkerrechtlicher Institutionen. In den Verfahren dieser Organe geht der nationale Wille auf und wird entsprechend dem Mehrheitsprinzip modifiziert durch deren Willen, sofern kein Einstimmigkeitserfordernis besteht87 . Es stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist. Der Vertrag von Lissabon und ihn bekräftigend auch das BVerfG stärken einerseits das direkt gewählte Europäische Parlament, erweitern angesichts der mit ihm notwendig verbundenen demokratischen Defizite zugleich aber die Mitbestimmungsfunktionen der nationalen Parlamente88 . Legitimationsdefizite entstehen, wenn politische Herrschaft nicht über ein hinreichendes Legitimationsniveau verfügt. Dies kann im hier interessierenden Kontext entstehen, wenn umfangreiche oder wichtige nationale Kompetenzen auf internationale Organisationen übertragen werden oder bei beschränkten Kompetenzübertragungen erhebliche Interpretationsspielräume und Konkretisierungsmöglichkeiten bestehen, ohne dass die betreffende internationale Organisation – wie zumeist – über eine hinreichende Legitimationsquelle verfügt. Der Aufbau verselbstständigter Exekutivapparate mit hoher Sachkompetenz in den meist komplexen Angelegenheiten, jedoch mit immer geringerer demokratischer Kontrolle ist eine wichtige Konsequenz für das Legitimationsdefizit. Folgen sind Intransparenz und mangelnde Kontrollierbarkeit. Es kann ferner durch die Binnenorganisation von internationalen Organisationen oder ihrer Organe hervorgerufen sein: Die durch die beschränkte Anzahl der ständigen Sitze im Sicherheitsrat geschaffene Ungleichheit der Staaten ist ein Beispiel

85 86 87 88

Böckenförde 2004, Rn. 17 f. Anschaulich beschrieben bei Müller 2003, 90. Wolfrum 2009, 13. BVerfGE 123, 267 ff. (351 f.).- Lissabon.

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dafür89 . Eine Legitimationsquelle ist in der repräsentativen Demokratie in allererster Linie das Parlament. Outputlegitimation durch den Nutzen derartiger denationalisierter Kompetenzen kann das Problem des Paternalismus oder der Fremdbestimmung nicht kompensieren. Möglich wäre aber eine Kompensation durch ergänzende Mechanismen der Inputlegitimation. Man könnte an eine kosmopolitische Demokratie denken, die diese Probleme aufgreift90 . Entsprechende Auffassungen sind sich einig, dass ein Weltstaat abzulehnen ist und Demokratie neu konzipiert werden muss. Hierzu sollen internationale Partizipationsmöglichkeiten erweitert werden. Institutionen wie ein Petitionsrat, eine Völkervollversammlung und ein Forum der globalen Zivilgesellschaft werden vorgeschlagen, um stärkere Mitbestimmung zu ermöglichen91 . Diese kosmopolitische Demokratie soll Regeln setzen können, die Vorrang gegenüber dem nationalen Recht kennen. Weil auf der internationalen Ebene Souveränität nicht übertragen wird, sondern eher diffus verlorengeht, kommt eine entsprechende Kompensation von Legitimation im Moment nicht in Betracht. Hier sind die Partizipationsformen der NGOs ein Äquivalent zur Diffundierung von Souveränität hin zu gesellschaftlichen Akteuren92 . Soll Entstaatlichung ” von Politik nicht zugleich Entdemokratisierung von Herrschaft bewirken, so entsteht daraus die Notwendigkeit von Demokratisierung postnationaler Organisationen“ 93 . So zutreffend der Grundgedanke der Kompensation von Defiziten klassischer Demokratie ist, so muss doch beachtet werden, dass hier nicht Demokratie durch neue Formen von Demokratie kompensiert wird, sondern durch neue Formen sonstiger Partizipation. So wie Governance nicht Government ist, so bedeutet auch Partizipation durch NGOs nicht Demokratie. Demokratie baut auf der Gleichheit der Bürger des Volkes – und zwar je weniger substantialistisch man dieses Volk ansieht, um so mehr – und der Allgemeinheit der Herrschaft; dies kann durch die Partizipation von NGOs nicht ersetzt, wohl aber kompensiert werden. 89 Charnovitz 2003, 48, der jedoch einwendet: “ One state one vote” does not follow logically from “ one man one vote.” Es bleibt jedoch das Souveränitätsproblem und damit die Tatsache, dass der Wille der nationalen Parlamente ebenfalls nicht gleich zählt. 90 Schwerdt 2003, 101. 91 Schwerdt 2003, 102. 92 Wolfrum 2009, 23. 93 Gusy 2000, 132.

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Wie lässt sich jedoch eine derartige Kompensation von Legitimationsdefiziten durch den asymmetrischen Einfluss von NGOs rechtfertigen? Man könnte auf die Outputlegitimation abstellen. Das scheint Friedrich Müller im Sinn zu haben. Dem Einwand, viele NGOs seien intern nicht demokratisch strukturiert, hält er entgegen: Wenn die Gewählten nicht mehr ” entscheiden und die Entscheider nicht gewählt sind, müssen die im exemplarischen Widerstand Stehenden auch nicht auf traditionell nationalstaatliche Weise ,gewählt‘ sein. Sie legitimieren sich – vorerst – durch ihr Engagement und durch die Offenheit der Diskussion darüber, auf die sie selbst den größten Wert zu legen haben.“ 94 Die Funktion der NGOs bestehe im Schaffen politischer Öffentlichkeiten. Die NGOs – und zwar alle – würden Legitimation durch die Ziele, die sie vertreten und durch die Tatsache ihrer Partizipation vermitteln. Schon heute nutzen internationale Organisationen wie der IWF mit freundlicher Umarmung ihrer Gegner die NGOs als Legitimationsressource95 . Die solchermaßen erzeugte Legitimation ist jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht demokratisch: 1. Wegen des asymmetrischen Einflusses dieser Organisationen und 2. wegen der teilweise nicht-demokratischen Binnenstruktur: Eine nichtdemokratische Organisation kann keine demokratische Legitimation vermitteln; auch eine demokratisch strukturierte Organisation kann in einem asymmetrischen Einflussarrangement keine demokratisch-gleiche Legitimation herbeiführen. Die Grundlage der Demokratie ist zwar nicht die Gleichheit, sondern die Selbstbestimmung, wie gleich zu zeigen sein wird; aber ohne die Artikulation der Autonomie in der Form der gleichen Beteiligung, liegt keine demokratische Einflussnahme vor. Das bedeutet freilich nicht, dass dieser Einfluss abzulehnen wäre oder mit Müllers Argument keine Legitimation dieses Einflusses begründet werden könnte; es handelt sich jedoch um die Begründung einer Outputlegitimation, nicht der Inputlegitimation. Wie bei jeder Outputlegitimation besteht jedoch ein Spannungsverhältnis zu wirklicher demokratischer Selbstbestimmung. Im Folgenden wird daher eine Begründung der Inputlegitimation der Beteiligung von NGOs versucht. Sie stellt auf die Betätigung der NGOs als Ausdruck der Menschenrechte der in ihr wirkenden Personen ab. So soll zugleich ein Kriterium über die Reichweite der so begründeten Legitimation gewonnen werden. Das Ergebnis wird freilich die Begründung einer partizipativen, nicht einer demokratischen Inputlegitimation durch die Beteiligung der NGOs sein.

94 Müller 2003, 80. 95 Brunnengräber/Klein/Walk 2001.

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V. Menschenrechtliche Begründung von Partizipation V.1 Die Menschenwürde als Grundlage des Status Activus Gemeinsame Wurzel von Demokratie und sonstiger Partizipation an politischer Herrschaft sind die Freiheitsrechte96 . Deren Grundlage und zugleich ein subjektives Recht ist die Menschenwürde. Sie sichert dem Menschen den Anspruch, von allen Herrschaftsgewalten als Subjekt und niemals nur als Objekt behandelt zu werden. Das bedeutet – juristisch gesehen – zunächst, dass jeder Mensch als Rechtssubjekt, als Träger von Rechten und Pflichten und nicht nur als Rechtsobjekt, als ihr Gegenstand zu behandeln ist. Die Rechtsfähigkeit ist die Grundlage dafür, dass sich der Mensch rechtlich entfalten kann, weitere Rechte und Pflichten zugerechnet bekommt oder erwerben kann und sich rechtlich relevant äußern und insbesondere handeln kann. Die Menschenwürde schützt so das Freiheitspotenzial des Menschen in rechtlicher Hinsicht, das sich dann näher entfalten kann und so in den weiteren Grundrechten als Aktualisierung dieses Potenzials geschützt ist. Die Würde aller Menschen als Unverlierbarkeit ihrer Rechtssubjektivität sichert ihnen ein Recht auf Inklusion ins Recht: Kein Mensch darf aus dem Recht ausgeschlossen werden. Im Verhältnis zu den weiteren Grundrechten ist sie ein Recht auf Rechte, wie man einen Gedanken von Hannah Arendt aufgreifend sagen könnte97 – oder genauer: Ein Recht auf Anerkennung als Rechtssubjekt. Die weiteren Grundrechte sichern dann dem Einzelnen einen Bereich der Entfaltung unabhängig vom Staat und schützen insoweit mit Georg Jellinek seinen status negativus. Auf der Ebene der Verfassunggebung beschränkt sich die demokratische verfassunggebende Gewalt selbst durch das Ziel der Herrschaft, der Freiheits- und Gleichheitssicherung der Einzelnen und des Gemeinwohls. Unter den Bedingungen der modernen Industrie- und post-industriellen Gesellschaft ist die Freiheit des Einzelnen jedoch immer stärker von sozialen Voraussetzungen abhängig, die er nicht immer selbst erbringen kann. Daher gewähren ihm einzelne Grundrechte und auch die Menschenrechte der zweiten Generation Leistungsrechte gegenüber dem Staat und schützen so den status positivus des Einzelnen.

96 Dieser Ansicht ist etwa auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, Amtliche Sammlung Band 107, 275 ff. (284) – Schockwerbung II, Starck 2005, Rn. 4. 97 Arendt 2009, 602 ff.

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Ist er so rechtlich gesichert gegenüber politischer Herrschaft oder kann rechtliche Ansprüche gegenüber dem Staat erheben, so wäre der Staat paternalistisch und immer in der Gefahr, zum Wohlfahrtsstaat zu entarten, wenn der Einzelne nicht auch ein Recht hätte, im Staat mitwirken und sich für das Gemeinwohl einsetzen zu können. Das betrifft zunächst die Übernahme öffentlicher Ämter. Vor dem Hintergrund seiner Würde geht der Anspruch aber noch weiter: Der Mensch soll nicht nur Abwehrrechte und Leistungsrechte gegenüber dem Staat haben, sondern er soll bei der Begründung dieser Rechte nicht Objekt einer Rechtsgewährung, sondern Subjekt der Rechtsbegründung sein. Bei Aristoteles war der Sklave unter Umständen Begünstigter des Rechts, sicher aber nicht sein Gestalter. Er soll also an der Entstehung der Rechte, die ihn schützen und fördern, mitwirken können. Die Realisierung von Freiheitsfähigkeit heißt hier Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung realisiert sich im herrschaftsfreien Bereich unter dem Schutz der Grundrechte als Abwehrrechte durch die Privatautonomie. Der Einzelne soll Rechte und Pflichten nur selbstbestimmt in freier Einigung mit der Selbstbestimmung anderer Privatrechtssubjekte übernehmen. Im Bereich der politischen Gewalt soll er ebenfalls nur solcher Herrschaft unterworfen sein, an deren Legitimation er mitwirken konnte. Er soll also nur solche Pflichten, aber auch nur solche Rechte besitzen, über deren Begründung er mitbestimmen konnte. Für den Bereich der Pflichten ist dies in dem klassischen, James Otis zugerechneten Ausdruck: no taxation without representation“ formuliert worden98 . Es gilt ” aber auch für seine Rechte. Schützen ihn Rechte, die er gar nicht haben will, insbesondere auch vor sich selbst, ist dies paternalistisch. Paternalismus aber stellt eine Verletzung seiner Autonomie und in letzter Konsequenz auch seiner Würde dar, weil sie den Einzelnen zum bloßen Objekt einer Rechtsgewährung macht99 . Der notwendige Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Demokratie, den Habermas hervorgehoben hat, ist

98 Bei Gratian hieß es schon: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet“ . ” Auch Althusius: Politik IV, 20. 99 Inhaltlich ist er Rechtssubjekt, Rechtsträger, der Form nach, also hinsichtlich der Entstehung dieses Rechts ist er hingegen bloßes Objekt. Häberle ist daher der Auffassung, dass derjenige, der von der Wahl ausgeschlossen wird, nicht nur in seinem Grundrecht auf Allgemeinheit der Wahl, sondern auch in seiner Würde verletzt wird. Die Betreffenden würden zum Objekt staatlichen Handelns (mit ” Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Raum) und verlören ihre Identität als Person sowie die Fähigkeit zu sozialer, öffentlicher Kommunikation“ , Häberle 2004, Rn. 69.

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also freiheitsrechtlich fundiert in der Würde aller Menschen100 . Auch das Volk besteht aus Bürgern mit einer Würde. Um ihretwillen ist die gesamte politische Herrschaft da101 , nicht umgekehrt. V.2 Status Activus und Partizipationsformen Die Menschenwürde ist also die Grundlage des status activus. Der status activus ist die Bezeichnung für die Einheit aller Rechte, die dem Rechtssubjekt auf Einwirkung in die öffentliche Gewalt zukommen. Grundrechte sind ohne Demokratie, Demokratie ist aber nicht ohne ihre grundrechtliche Basis möglich102 . Diese Einwirkung vollzieht sich zentral, aber keineswegs ausschließlich in der demokratischen Mitbestimmung der öffentlichen Gewalt. Allen voran bei der verfassunggebenden Gewalt auf der Grundlage der Idee des Gesellschaftsvertrages103 . Sie erfolgt aber auch dort, wo es um die Konkretisierung von Parlamentsgesetzen in materiellen Gesetzen wie etwa Plänen geht. Auch bei der Begründung sonstiger Rechte und Pflichten ergeben sich Beteiligungsrechte an den Verfahren zu ihrer Hervorbringung. Viele dieser Verfahrenspositionen werden aus der verfahrensrechtlichen Dimension der Grundrechte, insbesondere des Eigentums folgen; dass in Verfahren zur Konkretisierung von Recht aber nicht einfach über die Rechte des Einzelnen entschieden wird, sondern dass er aktiv beteiligt wird, dass er angehört und alle Rechte, die für eine effektive Wahrnehmung dieses Rechts erforderlich sind, erhält, hat seinen letzten Grund darin, dass er auch in diesen Verfahren als Subjekt und nicht als Objekt zu behandeln ist, über das verfügt wird, und sei es auch zu seinem Besten (status activus processualis)104 . Die Beteiligung wird hier zur organisatorischen Sicherung seiner Rechte105 . Diese Partizipation ist keine Mitbestimmung – die Behörde oder die Gerichte können abweichen und tragen über die Ministerien die politische Verantwortung106 . Hier ist der Einzelne als Ausfluss seiner Würde also in vielfältigen Partizipationsformen geschützt. 100 101 102 103 104 105 106

Vgl. auch Häberle 2004, Rn. 60. Häberle 2004, Rn. 65. Starck 2005, Rn. 13. Starck 2005, Rn. 12. Häberle 2004, Rn. 76. Starck 2005, § 3, Rn. 12. Starck 2005, Rn. 42.

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Asymmetrisch ist die Einflussnahme auch dort, wo der Staat Aufgaben auf rechtlich selbständige Subjekte übertragen hat und diese sie eigenverantwortlich wahrnehmen. Insbesondere in den Bereichen der Betroffenenselbstverwaltung wird die demokratische Legitimation ergänzt durch eine aus den Grundrechten fließende, zugleich im öffentlichen Interesse erfolgende Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten. So, wenn die Mitglieder der Kammern ihre Interessen im Gesamtinteresse als Ausdruck ihrer Berufs- oder Eigentumsfreiheit gemeinsam organisieren oder die Universitäten im Sinne der Wissenschaftsfreiheit und im Rahmen der Gesetze sich selbstbestimmt verwalten. Das auf Menschenwürde basierte Recht auf Beteiligung an der Begründung öffentlicher Gewalt ist nun aber unterschiedlich ausgestaltet, je nach der Art der öffentlichen Gewalt. Geht es um die Legitimation der für alle gleich wirkenden öffentlichen Gewalt insbesondere in der Gestalt des Gesetzes, ist auch sein status activus strikt gleich mit allen anderen, die dieser Herrschaft unterworfen sind. Auch wenn es in der Menschenwürde fundiert ist, bleibt das Wahlrecht107 gleich. Die Gleichheit der demokratischen Einflussnahme folgt mithin der gleichen Freiheitsfähigkeit und der Notwendigkeit der Bildung einer allgemeinen öffentlichen Gewalt, nicht geht umgekehrt die Demokratie aus der Gleichheit hervor, wie Besson meint108 . Bei der Rechtskonkretisierung durch Gerichte kann in dem Maß der Betroffenheit ein unterschiedlicher Einfluss gerechtfertigt sein. Mit dem Einfluss auf die staatliche Willensbildung aufgrund des status activus nehmen auch die Bindungen zu, die beim beamtenrechtlichen Treueverhältnis am stärksten ausgeprägt sind. Freier ist der Mensch schon dort, wo er aus eigenem Antrieb ein politisches Mandat übernimmt. Am freiesten ist der Einzelne dann, wenn er sich im gesellschaftlichen Umfeld staatlicher Herrschaft betätigt, wenn er sich an der Gründung von Parteien beteiligt oder in ihnen wirkt, wenn er sich mit anderen zu sonstigen politischen Vereinigungen zusammenschließt, die aus freiem Antrieb dem Gemeinwohl dienen wollen, wenn er gemeinsam mit anderen in Versammlungen oder in verschiedenen Medien individuell seine Meinung kundgibt. Alle diese Formen der Partizipation an Öffentlichkeit außerhalb des politischen Herrschaftsbereichs sind durch die demokratische Funkti-

107 Für diese Fundierung Häberle 2004, Rn. 66. 108 Besson 2011, 72 u. 79 f.

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on der Grund- und Menschenrechte geschützt. Ohne diese Freiheiten ist Demokratie nicht möglich109 . Die Menschenwürde ist als Schutz der Freiheitsfähigkeit nicht nur die Grundlage der übrigen Grundrechte, sondern insbesondere auch die Grundlage der Demokratie. Sie enthält – wie Peter Häberle formuliert – ein Grundrecht auf Demokratie110 . So schreibt Art. 1 II der Verfassung von Paraguay: pluralistic democracy, which is founded on the recognition of human di” gnity“ . Und auch in der Südafrikanischen Verfassung heißt es in Chapter 2, Ziff. 7 I The Bill of Rights is a cornerstone of democracy in South Africa“ . Auf ” dieser Basis in der Menschenwürde bestimmt das Menschenrecht auf Demokratie: Partizipation ist ein nicht zu unterschreitendes Anforderungsniveau mit Blick darauf, wie die Menschen in diesem Herrschaftsbereich real behandelt werden – weder als Untertanen noch als Untermenschen; sondern ausnahmslos als Mitglied des legitimierenden Adressatenvolks. De” mokratie ist positives Recht eines jeden menschlichen Wesens“ 111 , wie Friedrich Müller zutreffend ausführt. Träger dieses Grundrechts auf Partizipation ist nach der hier vorgestellten Begründung der Einzelne. Auf diese Weise kann es auch Grundlage eines Rechts auf kollektive Selbstbestimmung als eines Gruppenrechts sein, ist aber nicht identisch mit ihm112 . Primärer Adressat eines solchen Rechts sind die Nationalstaaten, die eine entsprechende Partizipation nicht verhindern dürfen. Zu denken ist aber auch an den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der etwa bei der Verweigerung der Akkreditierung hoheitliche Gewalt ausübt, die diese Partizipation betrifft. Völkerrechtlich haben es die Vereinten Nationen113 und verschiedene regionale Menschenrechtspakte 109 Starck 2005, Rn. 4: Die Selbstbestimmung des Volkes hängt von der Selbstbestimmung ” der Mitglieder dieses Volkes ab“ . 110 Häberle 2004, Rn. 67 u. 98: Man müsse heute unmißverständlich… den Zusam” menhang zwischen Menschenwürde bzw. Grundfreiheiten und freiheitlicher Demokratie betonen; diese ist die organisatorische Konsequenz jener“ . 111 Müller 2003, 72. 112 Besson 2011, 82 f. 113 Art. 21 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948: 1. Jeder hat das ” Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken. 2. Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande. 3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen“ . Vgl. ferner Art. 25 des Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte von 1966: Jeder Staatsbürger hat das Recht und ”

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anerkannt114 . Danach kann von einem positivrechtlichen Menschenrecht auf Demokratie ausgegangen werden. Die hier vorgelegte Begründung des Zusammenhangs von Menschenrechten und Demokratie ist intrinsisch und nicht instrumentell. Wie Besson richtig feststellt, schließen sich beide Perspektiven nicht aus115 . Vorliegend soll es aber um eine menschenrechtliche Rechtfertigung der Teilhabe der NGOs an der Herstellung eines hinreichenden Legitimationsniveaus der Vereinten Nationen gehen. Die Frage nach den positiven Wirkungen der Demokratie auf die Menschenrechte, also die Frage des instrumentellen Ansatzes, steht weitgehend auf einem anderen Blatt. Sie betrifft zwar auch Legitimationsfragen, denn über die Auswirkungen auf die Menschenrechte könnte Outputlegitimation erzeugt werden. Doch verhindert keine Outputlegitimation das geschilderte Paternalismusproblem, dass dem Einzelnen Wohltaten zuteil werden, die er vielleicht nicht haben möchte. Dieses Problem kann von vorneherein nur durch eine genetische Perspektive bewältigt werden, also durch die Konzentration auf die Inputlegitimation. Damit ist aber die menschenrechtliche Begründung von Partizipation angesprochen, die hier behandelt wurde. Menschenwürde ist somit die Grundlage eines status activus. Sie verlangt, dass der Einzelne von der öffentlichen Gewalt niemals nur als Objekt, sondern immer auch als handelndes Subjekt anerkannt werden soll. Dazu müssen ihm Einwirkungsmöglichkeiten auf die öffentliche Gewalt gewährt werden. Die Einwirkungsmöglichkeiten sind unterschiedlich nach der öffentlichen Gewalt, an die sie sich richten und der Form, in der dies geschieht. Geht es um allgemeinverbindliche Maßnahmen, ist die Demokratie mit dem gleichen Wahlrecht eine Erfüllung dieses Anspruchs. Ist der Einzelne individuell oder mit gleichartigen Interessen mit anderen betroffen, so folgt hieraus ein Partizipationsrecht, dessen Umfang der Betroffenheit entsprechen muss. Sein Anspruch auf Mitwirkung in der Übernahme eines öffentlichen Amtes ist ein Gleichheitsrecht, das gleiche Berücksichtigung wie alle anderen, die dieser Hoheitsgewalt unterworfen die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; c) unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben“ . 114 Besson 2011, 64 f. 115 Besson 2011, 77.

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sind und gleich geeignet sind, verlangt. Schließlich haben die Kommunikationsrechte eine politische Dimension, die den status activus ausgestaltet. Danach kann die Einwirkung auch in der Beeinflussung von Öffentlichkeit bestehen, die Politik prägt. V.3 Status activus universalis Nimmt man den Bedeutungsverlust nationalstaatlich vermittelter demokratischer Legitimation verbunden mit der Kompensation durch nichtdemokratische Partizipationsformen mit dem Recht auf Partizipation zusammen, so folgt daraus ein status activus universalis. Nationalstaatlich vermittelte demokratische und kompensierend wirkende ergänzende Partizipation durch Nichtregierungsorganisationen ergeben das gegenwärtige Legitimationsniveau von internationaler Politik. Auch das Völkerrecht entfaltet zunehmend Wirkungen für den Einzelnen; soll es nicht paternalistisch werden, muss er bei der Setzung dieses Rechts partizipieren dürfen. Diese Partizipation kann demokratisch vermittelt über die Nationalstaaten erfolgen; sie kann aber auch durch globalisierte Formen der Kommunikation und eben über frei gebildete transnationale und international anerkannte Organisationen erfolgen. Der Legitimationsbedarf resultiert aus dem Selbstbestimmungsrecht des Bürgers. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist nicht nur in der konventionellen menschenrechtlichen Betrachtung ein zu schützendes Recht gegenüber dem Nationalstaat; es ist auch ein Recht in Bezug auf eben diese Menschenrechte selbst. Auch hier verlangt seine Selbstbestimmung, dass er nur Träger solcher Rechte ist, an deren Setzung er selbst beteiligt sein konnte. Die Weltrepublik darf danach auch gegenüber den von ihr selbst gewährten Rechten nicht paternalistisch sein. Dem Bürger kommt insofern auch auf globaler Ebene ein Recht auf Partizipation zu. Es schützt seine Teilhabe an globalen Meinungs- und ggf. auch Willensbildungsprozessen. Angesichts der fehlenden Staatlichkeit der Weltgemeinschaft sind Adressaten dieses Rechts die Nationalstaaten. NGOs gewinnen aber an legitimierender Kraft, je stärker sie selbst dieses Recht achten. Auf diese Weise besteht ein normatives Kriterium, um zwischen demokratischen NGOs, die Input- und Outputlegitimation bei ihrer Partizipation in die global governance einbringen können und nicht demokratisch strukturierten NGOs, die allenfalls zu Outputlegitimation beitragen können, zu unterscheiden. Es kann durchaus angemessen sein, dass sich NGOs etwa

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durch gesteigertes Expertenwissen auf die Generierung von Outputlegitimation konzentrieren, wie dies etwa bei Berichten für internationale Gerichte der Fall ist116 . In Wertungsfragen wird ihr Einfluss aber durch die stärkere demokratische Rückbindung dieser Wertungen gerechtfertigt. Die Achtung seiner Selbstbestimmungsfähigkeit auch in globalen politischen Angelegenheiten ist die Grundlage eines status activus universalis, eines jeden Menschen. Der Träger der Menschenrechte ist heute nationaler citoyen und globaler bourgeois. Er verdient es, auch global als citoyen anerkannt zu werden.

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Geringe Wahlbeteiligung als Gefahr für die Demokratie? – Quantität, Egalität und Qualität elektoraler Partizipation in der Schweiz Marc Bühlmann I. Einleitung1 Ziel dieses Beitrags ist eine Diskussion über Wahlbeteiligung als Maß für Demokratiequalität. Auf der Basis theoretischer Reflexion und empirischer Analyse wird begründet, dass nicht allein die Höhe der elektoralen Partizipation, sondern insbesondere deren Egalität und Qualität von Bedeutung sind. Es zeigt sich, dass diese drei Dimensionen der Wahlbeteiligung in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und die Berücksichtigung lediglich einer dieser drei zu kurz greift. Wahlbeteiligung als Indikator für demokratische Qualität – so das Fazit – darf nicht nur hinsichtlich Quantität betrachtet werden, sondern muss auch bezüglich Egalität und Qualität untersucht werden. In der Politikwissenschaft wird der in vielen Staaten zu beobachtende Rückgang der elektoralen Partizipation, also die Höhe der Wahlbeteiligung, unterschiedlich interpretiert. Auf der einen Seite wird der Rückgang partizipativen Engagements als ein Zeichen für die Krise der abendländischen Demokratie betrachtet. Abnehmendes Vertrauen in Parteien, Regierungen und Politiker – so die These – führe zu politischer Desillusion. Dies wiederum wird deshalb als gefährlich interpretiert, weil Desillusion zu Apathie oder Protest führen kann. Beides aber kann zu einer Destabilisierung und Krise der Demokratie führen, weil es mit Entfremdung

1

Für wertvolle Hinweise und Kommentare danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Colloquium Rauricum XIII sowie Marlène Gerber. Dank gebührt überdies dem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Schwerpunktprojekt „NCCR Democracy“ sowie dem Zentrum für Demokratie Aarau. Teile dieses Beitrages sind im Rahmen einer Anstellung in diesen beiden Institutionen entstanden.

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einhergeht und schließlich zu einem Entzug des grundlegenden Vertrauens in die Demokratie selber führen kann.2 Auf der anderen Seite wird rückläufige Wahlbeteiligung als Zeichen einer Normalisierung betrachtet. Im Zuge zunehmender Individualisierung und Modernisierung nimmt nicht nur die Überzeugung ab, dass Wählen eine Bürgertugend darstellt, sondern Wahlrecht wird zunehmend auch als Recht auf Nichtpartizipation interpretiert. Im Rahmen einer minimalistisch liberalen Demokratietheorie3 kann niedrige Wahlbeteiligung durchaus als Zeichen von Zufriedenheit gedeutet werden: Wer nicht teilnimmt, bestätigt dadurch seine Zufriedenheit mit der aktuellen politischen Situation und legt sein Schicksal in die Hände der wohl agierenden politischen Elite. In der empirischen Forschung finden beide Erklärungsansätze zumindest teilweise Bestätigung. Tatsächlich zeigt sich, dass geringes politisches Vertrauen, aber auch hohe Systemzufriedenheit mit Wahlabstinenz einhergehen können.4 Daraus lässt sich nun aber auch folgern, dass die Höhe der Partizipation bei Wahlen nicht die einzig relevante Größe für die Qualität einer Demokratie sein kann.5 Auch aus einer demokratietheoretischen Betrachtung ergibt sich, dass nicht so sehr die Quantität, sondern vielmehr die Egalität und die Qualität der Partizipation eine Rolle spielen. Auf der Basis eines responsivpartizipatorischen Modells von Demokratie bedeutet dies zweierlei: Auf der einen Seite muss Partizipation möglichst gleichmäßig wahrgenommen werden. Unterscheiden sich die Wahlteilnehmer von den Abstinenten hinsichtlich unterschiedlicher Charakteristika und Präferenzen, so kann die gewählte Elite nicht repräsentativ sein und politische Entscheide werden zugunsten der Urnengängerinnen und Urnengänger ausfallen. Mit anderen Worten: Nicht die Höhe der Beteiligung ist entscheidend, sondern die Gleichmäßigkeit der Beteiligung. Lijphart zeigt jedoch, dass niedrige Wahlbeteiligung in der Regel verzerrte Wahlbeteiligung bedeutet, da sozioökonomisch schlecht ausgestattete Wählerschichten eher auf ihr Wahlrecht verzichten. Er bezeichnet dies als ungelöstes Demokratie2 3 4 5

Für eine ausführlichere Diskussion vgl. Bühlmann u. a. 2003. Z. B. Schumpeter 1950. Bühlmann 2006; Bühlmann u. a. 2003. Der Umstand, dass in Autokratien, in denen Wahlen durchgeführt werden, häufig Beteiligungen von 99 % und mehr ausgewiesen werden, scheint den Schluss zu unterstreichen, dass die einfache Formel „je mehr, desto besser“ nicht zutreffen kann.

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dilemma, das allerdings gelöst werden kann durch eine Revitalisierung der Wahlpartizipation. Verschiedene Institutionen könnten nicht nur die Wahlbeteiligung fördern, sondern gleichzeitig auch die Gleichheit der Partizipation verbessern.6 Auf der anderen Seite hängt die Qualität der Partizipation von der Qualifikation der Partizipierenden selber ab. Responsiv-repräsentative Systeme sind auf demokratisch aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger angewiesen, deren Wahlentscheid kompetent und fundiert sein muss, damit die adäquate Repräsentation von Präferenzen sicher gestellt ist. Dahl verwendet den Begriff ,enlightened understanding‘: aufgeklärtes Verständnis wird als zentrale Voraussetzung für qualifizierte Partizipation betrachtet.7 Hier kann aus dem Lijphart’schen Dilemma allerdings ein Trilemma werden, da vermutet wird, dass zunehmende Beteiligung parallel mit abnehmender Wahlkompetenz verläuft. Auch die beteiligungsfördernden Institutionen – so die These – dienen der Förderung politischer Kompetenz nur in sehr beschränktem Maße. In diesem Beitrag wird dieses Trilemma für die Schweiz empirisch untersucht. Konkret wird auf der Basis eines interkantonalen Vergleichs der Nationalratswahlen von 2007 der Zusammenhang zwischen der Höhe, der Gleichheit und der Qualität der Wahlbeteiligung untersucht. Dabei stehen drei Fragen im Zentrum. Erstens wird im Anschluss an Lijphart der Zusammenhang zwischen Höhe und Gleichheit der kantonal unterschiedlichen Beteiligung bei den Nationalratswahlen analysiert: Gilt für die Kantone die Behauptung Lijpharts, dass hohe Beteiligung mit gleichmäßigerer Beteiligung einhergeht? Zweitens dient der Querschnittvergleich zur Überprüfung der Frage, ob die von Lijphart vorgeschlagenen Institutionen in den Kantonen tatsächlich die vermutet mobilisierende und egalisierende Wirkung entfalten: gibt es Institutionen, die der Wahlbeteiligung förderlich sind und gleichzeitig zu gleichmäßigerer Partizipation führen? Drittens wird der kantonal unterschiedliche Grad an qualifizierter Partizipation bestimmt und mit der Höhe und der Gleichheit sowie wiederum mit den mobilisierenden Institutionen in Beziehung gesetzt. Hier stellt sich die Frage, ob hohe Wahlbeteiligung mit unqualifizierterer Partizipation einhergeht. Und: Dienen mobilisierende Institutionen auch zur Erhöhung der qualifizierten Partizipation?

6 7

Lijphart 1997. Dahl 1998.

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Für die Beantwortung dieser Fragen stütze ich mich auf die SelectsWahlnachbefragung der Nationalratswahlen von 2007, die in allen Kantonen bei mindestens 100 Wählerinnen und Wählern durchgeführt wurde, und mit der nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Qualität der Partizipation gemessen werden kann. Mit Hilfe dieser Individualbefragung lässt sich für jeden Kanton aufgrund eines Vergleichs spezifischer Charakteristika der tatsächlichen Wählerschaft und der Abstinenten der Grad der Ungleichheit der Partizipation bestimmen. Darüber hinaus kann die politische Motivation und die kognitive Kompetenz der einzelnen Individuen bestimmt werden, die – aggregiert – eine Einschätzung des Grades an qualifizierter Partizipation in einem Kanton zulassen. Der Beitrag ist schrittweise aufgebaut. In einem ersten Schritt konzentriere ich mich auf den Zusammenhang zwischen der Höhe und der Gleichheit der Partizipation: In einem theoretischen Teil (Abschnitt II) wird das Dilemma zwischen Höhe und Gleichheit der Partizipation erörtert und in einem empirischen Teil (Abschnitt III) werden mögliche institutionelle Lösungen zur Revitalisierung der Wahlbeteiligung untersucht. Abschnitt IV und V dienen dann dem zweiten Schritt nämlich der Erweiterung der Diskussion. Hier wird gezeigt, wie die Höhe der Wahlbeteiligung mit der Qualität der Partizipation zusammenhängt, und dass die institutionellen Lösungen ambivalente Wirkungen auf ,enlightened understanding‘ und qualifizierte Partizipation ausüben. Schlussfolgerungen runden den Beitrag ab (Abschnitt VI).

II. Das demokratische Dilemma: Niedrige und ungleiche Wahlbeteiligung II.1 Wahlen und Responsivität Gleichheit ist – neben Freiheit – das zentrale Merkmal einer Demokratie.8 Natürlich wird Gleichheit in der demokratietheoretischen Diskussion sehr unterschiedlich bestimmt. In einem maximalistischen, sozialen Demokratieverständnis bedeutet Gleichheit die Schaffung gleicher Ausgangschancen für alle Individuen etwa durch adäquate Verteilung von Wohlfahrt.9 In einem minimalistischen Demokratieverständnis wird unter Gleichheit 8 9

Dahl 1971, 1989. Meyer, 2005; Ringen 2007; Sen 1996.

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hingegen eher politische Gleichheit verstanden, im Sinne der Vergabe gleicher politischer Rechte für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. In diesem Beitrag wird eine Mitteposition eingenommen, indem nicht auf die Gleichheit der Politikresultate (Output), sondern auf die Gleichheit des Inputs fokussiert wird. Fundamente dieser Position finden sich etwa in der Idee des ,responsiven Modells der Demokratie‘ bei Teorell.10 In einer responsiven repräsentativen Demokratie stellt die Wahlpartizipation die wichtigste Institution dar, die dazu dient, die gewählte politische Elite zur Verantwortung zu ziehen und sie zu Entscheidungen anzuleiten, die den Präferenzen der Bevölkerung möglichst gut entsprechen. Indem sie ihre Stimme für spezifische Parteien oder Kandidierende abgeben, versuchen Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Präferenzen zu delegieren. Handeln die gewählten Kandidierenden nicht entsprechend dieser Präferenzen, werden sie bei den nächsten Wahlen wieder abgewählt. Bei Wahlen werden Präferenzen also gesammelt, aggregiert und in die politische Arena transportiert und dank der Abwahlmöglichkeit dienen Wahlen gleichzeitig auch als Kontrollinstrument. Angesichts der responsiven Funktion der Wahlen wird deutlich, wie bedeutend Wahlbeteiligung und insbesondere gleichmäßige Wahlbeteiligung ist. Ungleiche Beteiligung bedeutet nicht nur ungleiche Berücksichtigung von Präferenzen, sondern auch ungleiche Kontrolle. Kurz: „unequal participation spells unequal influence“.11 In seiner Ansprache für den Vorsitz der American Political Science Association thematisiert Lijphart den Zusammenhang zwischen tiefer und ungleicher Wahlbeteiligung. Er bezeichnet den Umstand, dass tiefe Wahlbeteiligung mit ungleicher Beteiligung einhergeht bzw., dass zunehmend sinkende Beteiligung auch zunehmende Ungleichheit bedeutet, als Dilemma. Hauptargument ist, dass ungleiche und verzerrte Beteiligung die Qualität der Demokratie mindert.12 Natürlich stellt die Partizipation bei Wahlen ein politisches Recht dar, auf das in einer liberalen Demokratie auch verzichtet werden darf. Wenn allerdings dieses Recht lediglich von spezifischen, z. B. besonders privilegierten Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wird, kann dies zu erheblichen demokratischen Defiziten führen. Zahlreiche empirische Studien zur individuellen Partizipation zeigen, dass die ungleiche Einflussnahme mittels Wahlen nicht zufällig über die gesamte Wahlbevölkerung 10 Teorell 2006. 11 Lijphart 1997, 1. 12 Lijphart 1997.

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verteilt ist.13 Generell lässt sich sagen, dass Individuen mit mehr Ressourcen in Form von Bildung und Einkommen ihr Wahlrecht eher wahrnehmen als weniger bevorteilte Individuen. Darüber hinaus zeigt sich häufig ein Alters- und insbesondere in der Schweiz auch ein Geschlechtereffekt: Frauen und jüngere Wahlberechtigte bleiben der Urne eher fern als ältere und männliche Stimmbürger. Geringe Wahlbeteiligung erhöht also die Wahrscheinlichkeit, dass unterprivilegierte Gruppen, Frauen und jüngere Individuen ihre Präferenzen bei Wahlen nicht anmelden. In diesem Fall können Wahlen ihre Funktion der Responsivität allerdings nicht mehr erfüllen. Niedrige und rückläufige Wahlpartizipation stellen also tatsächlich ein Problem, ein demokratisches Dilemma dar. Es lässt sich folgern, dass ungleiche Partizipation zu Entscheidungen führt, die den Nichtpartizipierenden zumindest nicht zugute kommt14 : „unequal participation is associated with policies that favor privileged voters over underpriviliged nonvoters.“15 II.2 Erhöhung der Wahlbeteiligung als Lösung des Dilemmas In seinem Beitrag diskutiert Lijphart eine Reihe von Möglichkeiten zur Lösung des Dilemmas. Wenn geringe Wahlbeteiligung die Responsivität negativ beeinflusst, dann muss dafür gesorgt werden, dass die elektorale Partizipation erhöht wird. Gemäß Lijphart und einer großen Zahl empirischer Beiträge16 wird die Wahlbeteiligung von mindestens drei zentralen Determinanten beeinflusst: dem Wahlsystem, der Wahlpflicht und der Bedeutung der Wahlen. Dem Proporzwahlsystem wird gegenüber dem Majorzwahlsystem eine doppelt motivierende Wirkung hinsichtlich der Wahlbeteiligung attestiert.17 Weil auch kleine Parteien bei proportionellen Wahlen eine Chance auf Sitzgewinne haben, kommt es zu einer größeren Auswahl und auch zu einer umfangreicheren Wahlkampagne. Dies wirkt sich erstens deshalb motivierend auf die Stimmbürgerschaft aus, weil ein breiteres Angebot die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die unterschiedlichen individuellen Präferenzen sich mit einer der zahlreich angebotenen Parteiplattformen 13 Für eine Übersicht vgl. Blais 2006 oder Van Deth 2003. 14 Empirische Befunde finden sich etwa bei Powell 1986, Dalton 1996 oder Verba u. a. 1978. 15 Lijphart 1997, 5. 16 Vgl. etwa Blais 2006 oder Geys 2006 17 Lijphart 1997; Siaroff/Merer 2002.

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in Einklang bringen lassen. Zweitens ist in Proporzwahlsystemen im Gegensatz zu Majorzwahlsystemen die Wahrscheinlichkeit geringer, dass die eigene Stimme erfolglos abgegeben wird. Während im Majorzverfahren nur die stärkste Partei Sitze gewinnt und alle Stimmen für die unterlegene Partei verloren sind, können im Proporzverfahren auch Stimmen für kleine Parteien noch zu Sitzgewinnen führen. Dass Wahlpflicht, also der gesetzlich geregelte Zwang an Wahlen teilzunehmen, zu mehr Partizipation führt, scheint tautologisch zu sein. Aus einer partizipatorisch demokratietheoretischen Position lässt sich allerdings vermuten, dass Wahlpflicht nicht nur das Trittbrettfahrerproblem löst, sondern auch zu größerer Partizipationsmotivation führt: Wer teilnimmt, beginnt sich eher für Politik zu interessieren und verinnerlicht den bürgergesellschaftlichen Wert der Wahlpartizipation.18 Mit anderen Worten sollte Wahlpflicht auch zu mehr politischem Engagement und zu mehr Motivation führen.19 Spätestens seit den Untersuchungen zu den EU-Parlamentswahlen, die in der Literatur als ,second order elections‘ bezeichnet werden,20 wird die Höhe der Wahlbeteiligung auch mit der Bedeutung der jeweiligen Wahlen in Verbindung gesetzt. Bei unbedeutenden Wahlen steht wenig auf dem Spiel und das Resultat ist absehbar. Ein starker Wettbewerb um Sitze und Einfluss zwischen möglichst vielen Anbietern unterschiedlicher politischer Programme motiviert hingegen zur Teilnahme an Wahlen.21 Darüber hinaus sinkt die Bedeutung von Wahlen, wenn alternative Kanäle für politische Kontrolle und Einflussnahme genutzt werden können. Diese Kanäle können entweder illegal oder halblegal sein (z. B. Korruption, Lobbyismus) oder aber legal und institutionalisiert. Als eine der Hauptgründe für die niedrige Wahlbeteiligung in der Schweiz wird etwa der Umstand ins Feld geführt, dass dank der direkten Demokratie die direkte Einflussnahme auf und die nachträgliche Kontrolle von politischen Entscheidungen möglich ist und somit die Wahlen an Bedeutung verlieren.22

18 19 20 21 22

Barber 2003. Bühlmann/Freitag 2006. Reif/Schmitt 1980. Bartolini 1999, 2000. Linder 2005.

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III. Demokratisches Dilemma in der Schweiz? In der Folge soll untersucht werden, ob sich Lijphart’s Vermutung in der Schweiz empirisch nachweisen lässt: Geht tiefe Partizipation mit ungleicher Partizipation einher? Betrachtet werden dabei die Höhe und die Gleichheit der Beteiligung bei den Nationalratswahlen 2007 in den Kantonen. Tatsächlich unterscheiden sich die Schweizer Gliedstaaten stark hinsichtlich der aggregierten elektoralen Partizipation. Bei den Nationalratswahlen 2007 legten gesamtschweizerisch 48.3 % aller Wahlberechtigten einen Wahlzettel in die Urne. Während dieser Wert im Kanton Schaffhausen 65.3 %, im Kanton Wallis 59.8 % und im Kanton Obwalden 59.7 % erreicht, nahmen in den Kantonen Appenzell Innerrhoden (21.1 %) und Uri (24.1 %) weniger als ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner ihr Wahlrecht wahr.23 Diese Zahlen lassen erste Vermutungen zu, die sich mit der Diskussion um die Bedeutung der Institutionen verknüpfen lassen. So dürfte sich etwa die hohe Beteiligung im Kanton Schaffhausen mit der Wahlpflicht erklären lassen, die einzig in diesem Kanton eingerichtet ist.24 Die niedrige Beteiligung in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Uri kann vermutlich auch auf das geringe Angebot (in diesen Kantonen wird lediglich ein Sitz besetzt) und auf den damit verbundenen geringen Wettbewerb zurückgeführt werden. Die hier im Fokus stehende Frage ist nun aber, ob die unterschiedlich hohe Beteiligung auch mit Unterschieden hinsichtlich der Gleichmäßigkeit der Beteiligung einhergeht. Eine Herausforderung stellt die Messung ungleicher Partizipation dar. Sie wird angelehnt an die Befunde der Partizipationsforschung sowie an Teorell u. a.25 und basiert auf der SelectsNachwahlbefragung zu den Nationalratswahlen von 2007 (im Anhang findet sich eine ausführliche Beschreibung aller hier verwendeten Variablen). Wie oben erwähnt, kann unterschiedliche individuelle Wahlbeteiligung mit vier hauptsächlichen Faktoren erklärt werden: Geschlecht, Alter, 23 Im Kanton Nidwalden fand aufgrund fehlender Kandidaten gar keine Wahl um den einzigen Nationalratssitz statt. Dieser wurde in stiller Wahl bestätigt. Nidwalden wird deshalb in den nachfolgenden Analysen nicht berücksichtigt. 24 In Anbetracht des Umstandes, dass die Nichtbeachtung dieser Pflicht mit symbolischen drei Franken gebüßt wird, ist die Wahlbeteiligung im Kanton Schaffhausen doch erstaunlich hoch. 25 Teorell u. a. 2007.

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Bildung und Einkommen. Um die Gleichheit der Partizipation zu messen, muss also für jeden Kanton bestimmt werden, wie gleichmäßig diese Faktoren auf Individuen verteilt sind, die bei der Befragung angegeben haben, bei den Wahlen teilgenommen bzw. nicht teilgenommen zu haben. Findet sich die gleiche Verteilung der Faktoren sowohl bei den Wählerinnen als auch bei den Nichtwählern, so kann von hoher Gleichheit der Partizipation ausgegangen werden. Formal wird Gleichheit der Beteiligung folgendermaßen gemessen: ! Pk i=1 |xi − pi | Gx = 100 − 2 Gx steht für Gleichheit bezüglich des Merkmals x (Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen) und wird bestimmt durch die Summe aller absoluten Differenzen zwischen dem Anteil der Gruppe i mit Merkmal x an allen Befragten in einem Kanton (xi ) und dem Anteil der Gruppe i mit Merkmal x an all jenen Befragten in einem Kanton, die angaben, an den Wahlen teilgenommen zu haben (pi ). Diese Summe kann theoretisch Werte zwischen 0 (absolute Gleichverteilung) und 200 (absolute Ungleichverteilung) annehmen.26 Die Werte werden mittels Halbierung und Subtraktion von 100 derart reskaliert, dass sie sich zwischen 0 (Ungleichheit) und 100 (Gleichheit) bewegen. Um die Berechnungen möglichst einfach zu halten, wird die Anzahl der Gruppen i auf drei (bzw. auf zwei beim Geschlecht) beschränkt (vgl. Anhang). Es wird hier davon ausgegangen, dass alle vier Charakteristika dieselbe diskriminierende Bedeutung für Wahlpartizipation aufweisen. Mit anderen Worten: ungleiche Partizipation zwischen Geschlechtern sowie zwischen verschiedenen Alters-, Bildungs- und Einkommensschichten reduzieren die Responsivität bei Wahlen in gleichem Maße. Aus diesem Grund werden die einzelnen Werte für Gleichheit (Gx ) gemittelt. Ein Vergleich der Kantone zeigt die höchste Beteiligungsgleichheit für den Kanton Schaffhausen an (98.4). Die geringste Gleichheit wird für den 26 Als Beispiel seien hier die beiden Geschlechtergruppen angebracht. Absolute Partizipationsgleichheit würde herrschen, wenn beide Geschlechtergruppen entsprechend ihres Anteils partizipieren: z. B. 50 % Frauen und 50 % Männer im Sample und 50 % der Partizipierenden sind jeweils Männer und Frauen; dies ergibt eine Summe von 0. Praktisch absolute Ungleichheit würde herrschen, wenn im Sample 1 % Männer und 99 % Frauen wären, von den Partizipierenden aber 100 % Männer und 0 % Frauen (100 − 1 + 99 − 0 = 198).

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100,0

Beteiligungsgleichheit

SH

95,0

GL

90,0

AR

TI ZH FR LU GE NE JU ZG BE BS VD BL SG SZ GR TG AG SO

VS OW

UR AI

85,0 0,0

10,0

20,0

30,0 40,0 Beteiligungshöhe

50,0

60,0

70,0

Abbildung 1. Demokratisches Dilemma in der Schweiz – tiefe und ungleiche Partizipation

Kanton Appenzell Innerrhoden gemessen (88.6). Diese Befunde scheinen das Dilemma zu bestätigen, sind es doch diese beiden Kantone, bei denen sich die geringste bzw. die höchste Wahlbeteiligung zeigt. Noch eindrücklicher lässt sich der Zusammenhang zwischen Höhe und Gleichheit der Wahlbeteiligung zeigen, wenn die Werte für alle Kantone abgetragen werden (vgl. Abbildung 1). Die statistische Bestimmung des Zusammenhangs zwischen Höhe der Wahlbeteiligung und Gleichheit der elektoralen Partizipation weist einen Wert von .71 aus (Pearsons r). Mit anderen Worten kann rund 50 % der Ungleichheit der Partizipation mit der Höhe der Partizipation erklärt werden: je geringer die Beteiligung bei den Nationalratswahlen 2007 in einem Kanton war, desto ungleicher und desto weniger responsiv war die Beteiligung in diesem Kanton.27 Das von Lijphart so bezeichnete demokratische Dilemma28 scheint sich in der Schweiz also zu bestätigen. Es stellt sich nun die Frage, ob die von Lijphart vorgeschlagenen institutionellen Heilmittel ihre Wirkung 27 Werden die beiden Ausreißerkantone Uri und Appenzell Innerrhoden für die Berechnung der Korrelation weggelassen, resultiert noch immer ein Pearsons r von .38*. 28 Lijphart 1997.

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in der Schweiz entfalten. Dank der großen institutionellen Unterschiede zwischen den Schweizer Kantonen lässt sich diese Frage mit Hilfe eines Querschnittvergleichs beantworten. Untersucht wird dabei nicht nur, ob die oben diskutierten Determinanten die Höhe der Wahlbeteiligung, sondern auch, ob sie die Gleichheit der Beteiligung beeinflussen. Die drei Determinanten (Wahlsystem, Wahlpflicht, Bedeutung der Wahlen) werden dabei folgendermaßen bestimmt: In der Schweiz wird der Nationalrat mittels Proporzverfahren gewählt. Eine Unterscheidung zwischen Proporz- und Majorzwahlsystem ist also streng genommen nicht möglich. Allerdings ist in Kantonen, die nur einen Sitz zu bestellen haben, sozusagen ein quasi-Majorz-System anzutreffen. Hier dürften die Vorzüge, die von PR-Systemen erwartet werden, also eher nicht zutreffen. Für die Messung wird also zwischen Kantonen mit nur einem Sitz und allen anderen Kantonen unterschieden. Für die Messung der Wahlpflicht wird eine Dummy-Variable für den Kanton Schaffhausen betrachtet. Die Bedeutung der Wahlen schließlich wird mit drei Variablen gemessen, wovon eine den Wettbewerbsgrad misst und zwei die Wichtigkeit alternativer Kanäle bestimmen. Wettbewerb wird in Anlehnung an die einschlägige Literatur29 ex-post gemessen: Je geringer die Differenz in den Wählerstimmenanteilen zwischen der stärksten und der zweitstärksten Partei ist, desto knapper ist der Wahlausgang und als desto stärker wird der Wettbewerb vermutet. Die Bedeutung der Wahlen wird eingeschränkt, wenn sachunmittelbare Beteiligung einfach ist und häufig genutzt wird. Die Kantone unterscheiden sich im Grad des Ausbaus an kantonaler direkter Demokratie und auch im Grad der Nutzung dieser Instrumente. Es wird dabei vermutet, dass in Kantonen, in denen direkte Demokratie nicht stark ausgebaut ist und nicht häufig genutzt wird, die Konzentration auf Wahlen größer ist und so die Wahlbeteiligung höher sein müsste (für die Operationalisierung und die Quellen vgl. Anhang). Auch in diesem Querschnittvergleich scheinen sich die Erwartungen von Lijphart im Großen und Ganzen zu bestätigen. Wie in Tabelle 1 ersichtlich wird, ist die Beteiligung in Proporzkantonen, bzw. in Kantonen, in denen über die Besetzung von zwei oder mehr Sitzen bestimmt wird, höher. Dasselbe gilt für die Wahlpflicht und den Wettbewerb: Im Kanton Schaffhausen ist die Beteiligung signifikant höher als in den anderen Kantonen und es gilt: Je knapper der Wahlausgang in einem Kanton war, desto größer war ceteris paribus die Wahlbeteiligung in diesem Kanton. Diese

29 Z. B. Bartolini 1999, 2000.

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Tabelle 1. Institutionen als Heilmittel Institution

Beteiligungshöhe

Beteiligungsgleichheit

Proporz (mehr als 1 Sitz) Wahlpflicht Wettbewerb (Differenz der stärksten Parteien) Direkte Demokratie Grad / Ausbau Nutzung

.44* .38* −.75*

.25 .31* −.74*

−.16 −.04

−.50* −.16

Koeffizienten aus bivariaten Zusammenhangstests nach Pearson; * mindestens auf dem 90%-Niveau signifikant.

drei Institutionen helfen auch mit, dass Partizipation insgesamt gleichmäßiger wahrgenommen wird: In Kantonen mit mehr als nur einem Sitz, im Kanton Schaffhausen und in den Kantonen mit hohem Wettbewerb nimmt also nicht nur die Beteiligung zu, sondern auch die Beteiligungsgleichheit. Dieser Zusammenhang übersteigt allerdings für das Proporzmaß die Signifikanzschwelle knapp nicht. Ebenfalls nur tendenziell lässt sich ein Einfluss der direkten Demokratie als störende Alternative zu den Wahlen nachweisen: Ein starker Ausbau an direkter Demokratie sowie eine extensivere Nutzung wirken in der erwarteten einschränkenden Weise. Direkte Demokratie hat also einen eher demobilisierenden Effekt auf die Partizipation bei Wahlen. Dies schlägt allerdings einzig beim Grad an direkter Demokratie in messbar signifikanter Weise auf die Beteiligungsgleichheit durch: Je ausgebauter die direkte Demokratie in einem Kanton ist, je eher das institutionelle Setting in einem Kanton also eine alternative politische Kontrolle zulässt, desto geringer ist in diesem Kanton die Beteiligungsgleichheit bei nationalen Wahlen. Lijphart‘s Medikamente scheinen also Wirkung zu zeigen. Die Resultate weisen darauf hin, dass Ungleichheit der Partizipation tatsächlich durch eine Erhöhung der Partizipation und entsprechend mobilisierende Institutionen verbessert werden kann. Soll die Beteiligung also nicht nur hoch, sondern auch gleichmäßig sein, so sollte in allen Kantonen Wettbewerb gefördert und die Sitzzahl auf mindestens zwei erhöht werden. Darüber hinaus sollte auch der sanfte Druck, sein Wahlrecht wahrzunehmen, in allen Kantonen eingeführt werden. Einer höheren Beteiligungsgleichheit scheint überdies eine Beschränkung der direkten Demokratie zumindest nicht abträglich zu sein.

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Hier schließt sich allerdings nun die Frage nach der dritten Dimension der Wahlbeteiligung an. Nicht nur viel und möglichst gleichmäßige Partizipation sollte angestrebt werden, sondern die Beteiligung sollte auch möglichst qualifiziert sein. Mit der Ausweitung der Diskussion auf die Qualität der Partizipation zeigt sich also nicht bloß ein Dilemma, sondern ein eigentliches Trilemma. Auf dieses wird im nächsten Abschnitt eingegangen.

IV. Vom Dilemma zum Trilemma Die Qualität der Partizipation und damit letztlich auch die Demokratiequalität können nicht nur von der Höhe und der Gleichheit der Beteiligung abhängen. Wesentlich ist, wie qualifiziert die Partizipation ist. Es kann mit anderen Worten aus demokratietheoretischen Gründen kaum erstrebenswert sein, dass zwar alle Berechtigten an die Urnen strömen, niemand aber eine Ahnung hat, wen er oder sie wählt und ob die gewählten Parteien auch wirklich den eigenen Präferenzen entsprechen. Unbesehen des demokratietheoretischen Modells, auf welches wir uns stützen, also unbesehen, ob wir ein eher liberales oder ein eher partizipatorisches Demokratieverständnis als Basis wählen, politische Beteiligung muss qualifiziert sein. Sollen die Bürgerinnen und Bürger in einem radikalen partizipatorischen Modell fähig sein, in einem diskursiven Prozess ihre endogenen Präferenzen zu finden, muss die Wählerschaft in einem minimalistisch-liberalen Modell mindestens in der Lage sein, die exogen gegebenen Präferenzen mit Parteiprogrammen zu vergleichen. Auch das hier als Ausgangspunkt gewählte responsive Demokratiemodell bedingt qualifizierte Partizipation: Responsivität kann in einem repräsentativen System nur dann resultieren, wenn das Matching zwischen Präferenzenangebot und -nachfrage auf informiertem Wahlhandeln beruht. Eine Kontrolle der Elite und deren Zwang zu verantwortlichem Handeln qua Wahlen können nur funktionieren, wenn die Bestellung dieser Eliten von demokratischen Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt wird. Demokratische Bügerinnen und Bürger wiederum verfügen in den Worten Dahls über „enlightened understanding“.30 Erst ,enlightened understanding‘ gewährleistet, dass Wahlrecht mehr als ein einfaches Erfüllen einer Bürgerpflicht ist, und dass Wahlentscheide von 30 Dahl 1998, 38 ff.

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demokratischen Bürgerinnen und Bürgern auf Reflektion31 und Motivation32 beruhen. Aufgeklärte Wahlberechtigte sind politisch interessiert und informieren sich über das politische Geschehen. Sie verstehen das politische System und sind kognitiv in der Lage, Versprechen der Kandidierenden und Parteien mit den eigenen Präferenzen zu vergleichen sowie – auf der Basis dieser Vergleiche – prospektiv und retrospektiv die Leistungen der politischen Akteure zu evaluieren.33 Es können somit grob zwei Dimensionen qualifizierter Partizipation unterschieden werden: Motivation und kognitive Kompetenz. Motivation soll dabei die Bereitschaft messen, die ein Individuum aufbringt, am politischen Prozess teilzunehmen. Diese Bereitschaft zeigt sich auf der einen Seite indirekt anhand des individuellen politischen Interesses sowie am Grad politischer Informiertheit. Auf der anderen Seite kann politisches Engagement in der Schweiz auch direkt erfasst werden, etwa mit Hilfe der Beteiligungshäufigkeit bei Sachabstimmungen. Über kognitive Kompetenz hingegen verfügt jemand dann, wenn sie oder er fähig ist, das politische System zu verstehen und die verschiedenen Parteien mit ihren Programmen so zu verorten, dass sie mit eigenen Präferenzen vergleichbar werden.

V. Qualifizierte Partizipation in der Schweiz? Mit Hilfe der Selects-Nachbefragung für die Wahlen 2007 lassen sich die graduellen Ausprägungen beider Dimensionen – Motivation und kognitive Kompetenz – in der Wählerschaft bestimmen. Beide werden anhand jeweils dreier Bedingungen gemessen, die ein motiviertes bzw. kompetentes Individuum erfüllen muss. Zur Bestimmung der Motivation wurden die Respondentinnen und Respondenten der Wahlnachbefragung erstens nach ihrem politischen Interesse befragt. Von den vier möglichen Antworten (sehr interessiert, eher interessiert, eher nicht interessiert, überhaupt nicht interessiert) werden die ersten beiden als erste Indikatoren für politische Motivation gewählt. Mit anderen Worten: Als politisch interessiert gilt, wer angibt, sehr oder eher interessiert zu sein. Informiertheit wird zweitens mit Hilfe des erfragten Medienkonsums für politische Information gemessen. Individuen, die an31 Berelson u. a. 1954; Dahl 1989. 32 Martin/Van Deth 2007; Teorell u. a. 2007; Van Deth 1990. 33 Grönlund/Milner 2006; Manin 1997; Manin u. a. 1999; Verba 2003.

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geben, mindestens einmal pro Tag Zeitung, Radio oder TV für politische Information zu nutzen, werden als ,politisch informiert‘ codiert. Drittens dient die Angabe zur Abstimmungshäufigkeit zur Bestimmung des Grades an Motivation. Die Befragten mussten angeben, bei wie vielen von 10 fiktiven Urnengängen sie teilnehmen würden. Individuen, die antworten, bei mindestens sechs oder mehr Abstimmungen teilzunehmen, wurde eine hohe Partizipationsbereitschaft attestiert. Um als motiviert zu gelten, müssen die Befragten alle drei Bedingungen gleichzeitig erfüllen: sie müssen sowohl interessiert als auch informiert sein und eine hohe Partizipationsbereitschaft aufweisen. Auch für die Bestimmung der kognitiven Kompetenz als zweiter Dimension von qualifizierter Partizipation werden drei Fragen aus der Selects-Wahlnachbefragung benutzt, die wiederum als Bedingungen formuliert werden. Erstens beruht Kompetenz auf politischem Wissen, das anhand von vier Wissensfragen gemessen wird, welche die Respondentinnen und Respondenten beantworten mussten. Wer alle vier Fragen zum Namen des Bundespräsidenten, der Anzahl Parteien im Bundesrat, der wählerstärksten Partei und der Anzahl der benötigten Unterschriften für eine Volksinitiative beantworten kann, wird als politisch kompetent codiert. Wichtig ist zweitens die Fähigkeit, Parteien und Themen im politischen Raum zu verorten. Wer diese Zuordnung nicht vornehmen kann, dürfte schwerlich seine eigenen Präferenzen mit dem Angebot unterschiedlicher politischer Programme vergleichen können. Gemessen wird die Fähigkeit anhand der Einschätzung der Position der vier größten Parteien (SVP, SP, FDP, CVP) auf einem Links-Rechts-Kontinuum. Für die Schweiz muss dabei berücksichtigt werden, dass die Parteien in den verschiedenen Kantonen unterschiedliche Positionen einnehmen können. So wird etwa die SVP im Kanton Zürich im Jahr 2007 weiter rechts verortet als die SVP in den Kantonen Bern oder Graubünden, in denen es nach den Bundesratsersatzwahlen von 2007 auch zu einer Spaltung in SVP und BDP gekommen ist. Aus diesem Grund werden die Respondentinnen und Respondenten entsprechend dem Kanton, in welchem sie wahlberechtigt sind, eingeteilt. Hinsichtlich der Parteiverortung werden sodann jene als kognitiv kompetent codiert, welche mit ihren Einschätzungen der Parteipositionen nicht zu stark vom kantonalen Mittelwert der entsprechenden Partei abweichen. Die dritte Bedingung für kognitive Kompetenz wird analog zur zweiten gemessen. Anstelle eines Links-Rechts-Kontinuums

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dient hier aber die Position der Parteien zum EU-Beitritt als Grundlage:34 Wiederum gilt als kompetent, wer in seiner Einschätzung der Verortung der vier Parteien in diesem Themenkontinuum (für Beitritt bzw. Alleingang) nahe beim kantonalen Mittelwert liegt (die genaue Messung und die Fragen aus der Selects-Befragung finden sich im Anhang). Auch für die kognitive Kompetenz gilt: Nur wer alle drei Bedingungen erfüllt, wird als kompetent betrachtet. Mit anderen Worten: Individuen, die sowohl über politisches Wissen verfügen als auch Parteien im kantonalspezifischen politischen und thematischen Raum adäquat verorten können, werden als kognitiv kompetent kodiert. In Abbildung 2 bzw. 3 sind die Anteile der Befragten pro Kanton abgetragen, die jeweils als motiviert bzw. kompetent bestimmt wurden. Die motiviertesten Bürgerinnen und Bürger finden sich bei dieser Messart im Kanton Appenzell Ausserrhoden (63 % der Befragten geben an, interessiert und informiert zu sein und häufig an Abstimmungen teilzunehmen), die geringste Motivation im Kanton Graubünden (34 %): Hier ist nur knapp ein Drittel der Befragten motiviert. Im gesamtschweizerischen Schnitt können rund die Hälfte aller Bürgerinnen und Bürger als motiviert bezeichnet werden. Die Motivation variiert also relativ stark zwischen den Kantonen. Hervorzuheben ist hier der Kanton Schaffhausen. Wie oben gezeigt, erhöht die Wahlpflicht, die einzig im Kanton Schaffhausen gilt, 70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0 GR TI JU TG VS UR FR AI OW ZG GE AG SG NE BE SZ GL VD LU ZH SO BS BL SH AR

CH

Abbildung 2. Motivation in den Kantonen

34 Die Frage eines EU-Beitritts oder eines Alleingangs der Schweiz war – anders als bei den Wahlen 2011 – bei den nationalen Wahlen 2007 ein zentrales und virulent diskutiertes Wahlkampfthema.

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70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0 TI VD NE GE JU VS URGR FR SO BS OW TG GL AI SH AG ZG BL LU AR SG BE ZH SZ

CH

Abbildung 3. Kompetenz in den Kantonen

nicht nur die Höhe der Beteiligung, sondern auch die Gleichheit der Partizipation. Es scheint nun, dass auch die Motivation gefördert wird, wenn die Wählerinnen einem sanften Druck ausgesetzt sind, zu partizipieren.35 Eine ähnliche Varianz zeigt sich auch hinsichtlich der kognitiven Kompetenz, allerdings auf geringerem Niveau. Die kompetentesten Bürgerinnen scheinen im Kanton Schwyz (48 %) zu wohnen, während im Kanton Tessin nur gerade knapp 15 % der Befragten die Bedingungen für kognitive Kompetenz erfüllen. Hervorzuheben ist hier der Sprachgraben: in der Deutschschweiz scheinen die Bürgerinnen insgesamt kompetenter zu sein als in der französischen und der italienischen Schweiz. Verwiesen sei zudem wiederum auf den Kanton Schaffhausen: Während Wahlpflicht zwar Beteiligung und auch die Motivation zu erhöhen scheint, wirkt sich diese Institution augenscheinlich nicht unmittelbar auf die Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger aus. Was im Hinblick auf qualifizierte Partizipation interessiert, ist allerdings die Kombination aus Motivation und Kompetenz. Eine Bürgerin oder ein Bürger verfügt dann über ,enlightened understanding‘, wenn sie oder er gleichzeitig sowohl motiviert als auch kompetent ist, mit anderen Worten also alle sechs oben genannten Bedingungen gleichzeitig erfüllt. 35 Allerdings muss für Schaffhausen angemerkt werden, dass einer der drei Bestandteile für Motivation leicht verzerrt sein dürfte: Abstimmungsbeteiligung untersteht im Kanton Schaffhausen ebenfalls der Wahlpflicht. Mit anderen Worten dürften die Schaffhauserinnen und Schaffhauser hier höhere Werte aufweisen als die Bürgerinnen und Bürger der restlichen Kantone.

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40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 TI GE VD JU URGR NE VS AI GL FR TGOW BS SO ZG AG AR SH BE SG BL ZH LU SZ

Enlightened Understanding

CH

Qualifizierte Beteiligung

Abbildung 4. Enlightened Understanding und qualifizierte Beteiligung

Um die qualifizierte Partizipation in einem Kanton zu bestimmen, muss schließlich zusätzlich die tatsächliche Partizipation in die Betrachtung mit einbezogen werden. In Abbildung 4 finden sich die kantonalen Anteile der Individuen, die sowohl motiviert als auch kompetent sind (helle Balken), sowie die Anteile dieser Individuen mit ,enlightened understanding‘, die bei der Befragung angegeben haben, bei den Wahlen 2007 auch tatsächlich teilgenommen zu haben (dunkle Balken). Es sind letztere, die den hier interessierenden Grad an qualifizierter Partizipation in einem Kanton angeben.36 Einige Beobachtungen aus Abbildung 4 verdienen hier Erwähnung: Insgesamt verfügt rund ein Viertel aller Schweizerinnen und Schweizer über die festgesetzten Bedingungen von ,enlightened understanding‘, ist also gleichzeitig motiviert und kompetent. Die Kantone variieren relativ stark hinsichtlich der Anteile an Personen mit ,enlightened understanding‘. Wiederum sind es die Kantone Schwyz und Tessin, die die Extreme bil36 Der Anteil qualifiziert Partizipierender dürfte tendenziell überschätzt sein. Betrachtet man die kantonalen Anteile der Befragten, die angeben, an den Nationalratswahlen 2007 teilgenommen zu haben, so sind diese im Verglich zur tatsächlichen Beteiligung wesentlich höher. Allerdings dürfte dies nicht nur auf soziale Erwünschtheit oder auf unwahre Angaben zurückzuführen sein, sondern auch darauf, dass politisch Interessierte, Motivierte und Kompetente eher an solchen Umfragen teilnehmen bzw. ihre Teilnahme eher nicht verweigern. Im Falle der Resultate dieses Artikels wirkt sich dieser Umstand aber in dem Sinne positiv aus, als dass die Resultate eher konservativ ausfallen (also entgegen der These, dass hohe Beteiligung mit inkompetenterer Beteiligung einhergeht).

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den. Auffallend ist zudem auch hier, dass sich am Schluss der Rangliste lediglich nicht primär deutschsprachige Kantone befinden. Hinsichtlich der qualifizierten Partizipation (dunkle Balken) fällt auf, dass der Grad an enlightened understanding und qualifizierter Partizipation praktisch gleich ausgeprägt ist. Dies bedeutet, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger, die über aufgeklärtes politisches Verständnis verfügen, auch an den Wahlen teilgenommen haben. Das ist nicht selbstverständlich, kann doch vermutet werden, dass rationale, sophistizierte Wählerinnen und Wähler gerade in der Schweiz, wo Wahlen aufgrund der direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten als weniger bedeutend betrachtet werden, eher nicht an die Wahlurne gehen. In drei Kantonen scheint dies besonders ausgeprägt der Fall zu sein, nämlich in Appenzell Innerrhoden, in Glarus und in Uri, just in jenen Kantonen also, denen lediglich ein Sitz in der Volkskammer zusteht. Allerdings kann der Umstand, dass politisch motivierte und kompetente Bürgerinnen und Bürger in diesen Kantonen vergleichsweise weniger häufig zur Wahlurne schreiten, auch mit der zweiten oben besprochenen These begründet werden: In diesen Kantonen gab es bei den Wahlen 2007 kaum Wettbewerb. Nachfolgend soll nun das oben angesprochene Trilemma untersucht, also der Frage nachgegangen werden, wie die Höhe und die Gleichheit der Partizipation mit der qualifizierten Beteiligung zusammenhängen und welche Wirkungen die Institutionen, die zu einer Erhöhung der Beteiligung verhelfen, auf die qualifizierte Partizipation entfalten. In einer idealen Demokratie würde hohe Beteiligung nicht nur mit gleichmäßiger Beteiligung, sondern auch mit qualifizierter Beteiligung einhergehen. Die Vermutung, die dem Trilemma unterliegt, geht allerdings von einer gegenläufigen Tendenz aus: Je mehr Berechtigte an den Wahlen teilnehmen, desto geringer ist die qualifizierte Partizipation. Der hier empirisch bestimmte Zusammenhang zwischen der Höhe der Wahlbeteiligung und der qualifizierten Partizipation ist – auf nicht signifikantem Niveau – schwach positiv, was auch auf den Umstand zurückzuführen ist, dass hier Partizipation mit Partizipation verglichen wird. Erhellender ist der Zusammenhang zwischen der Höhe der Partizipation und dem Anteil an Bürgerinnen und Bürgern mit ,enlightened understanding‘ in einem Kanton. Hier zeigt sich kein Zusammenhang mehr.37 Tatsächlich gilt also, dass in einem Kanton mit der Höhe der Wahlpartizipation zwar 37 Die bivariate Korrelation zwischen kantonaler Wahlbeteiligung und qualifizierter Partizipation beträgt 0.25, zwischen kantonaler Wahlbeteiligung und ,enlightened understanding‘ 0.11, zwischen kantonaler Wahlbeteiligung und Motivation 0.19

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die Gleichheit der Partizipation zunimmt, nicht aber die Qualität der Partizipation. Damit wird aus dem Dilemma tatsächlich ein Trilemma: zwar bringt mehr Partizipation auch mehr Gleichheit, aber eben nicht mehr Motivation und Kompetenz. Freilich kann dabei auch nicht das Gegenteil behauptet werden, dass nämlich hohe Partizipation in einem Kanton gleichzeitig mit geringer Qualifikation einhergehe. Die Frage, die sich im Anschluss stellt, ist, welchen Einfluss eine Erhöhung der Beteiligung mit den oben diskutierten Institutionen auf die qualifizierte Beteiligung hat. Der Querschnittvergleich kann auch hier bedingt Antwort geben.38 In Tabelle 2 werden noch einmal die bivariaten Korrelationen der Institutionen mit der Höhe, der Gleichheit und diesmal auch mit dem Grad an ,enligthened understanding‘ bzw. der Qualität der Partizipation abgetragen. Mindestens zwei Dinge können hervorgehoben werden. Erstens haben jene Institutionen, für die eine beteiligungsfördernde Wirkung attestiert wurde, keinen messbaren Einfluss auf die Qualität der Beteiligung. Gibt es in einem Kanton mehr als einen Sitz für den Nationalrat (Proporz), erhöht dies zwar die Beteiligung und gleichzeitig auch die Gleichheit der Wahlpartizipation, nicht aber Motivation oder Kompetenz und auch nicht qualifizierte Beteiligung. Hier bestätigt sich, was oben für die Kantone Appenzell Innerrhoden, Glarus und Uri bereits vermutet wurde: wenn nur ein Sitz zu bestellen ist, ist nicht nur die Beteiligung gering, sondern motivierte und kompetente Bürger scheinen der Wahlurne auch noch eher fern zu bleiben. Akzentuiert wird dies augenscheinlich noch durch den geringen Wettbewerb: Umstrittenheit im Sinne knapper Wahlausgänge vermag zwar die Beteiligung und die Gleichheit der Beteiligung erhöhen, hat aber kaum messbaren Einfluss auf die Qualität der Partizipation. Umstrittene Wahlen scheinen sich im Gegenteil gar negativ auf die Kompetenz auszuwirken. Für die Wahlpflicht zeigt sich mobilisierende und motivierende Wirkung. Tatsächlich scheint Wahlzwang nicht nur zu mehr Partizipation und mehr Beteiligungsgleichheit zu führen, sondern auch für Politik zu motivieren. Allerdings wirkt sich Wahlpflicht nicht in signifikanter Weise auf und zwischen kantonaler Wahlbeteiligung und kognitiver Kompetenz 0.04 (alle Werte: Pearsons r); alle Zusammenhänge sind nicht signifikant. 38 Um diese Frage stringent beantworten zu können, müsste ein Längsschnittvergleich angestellt werden. Es müssten also Unterschiede in der Wahlbeteiligung zwischen mehreren Zeitpunkten in einem Kanton miteinander verglichen werden.

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Tabelle 2. Institutionelle Wirkungen Institution

Beteiligungshöhe

BeteiliEnlightened Qualifizierte gungsgleich- Understanding Beteiligung heit (Motivation/Kompetenz)

Proporz .44* (mehr als 1 Sitz) Wahlpflicht .38*

.25

Wettbewerb −.75* (Differenz) Direkte Demokratie Grad/Ausbau −.16

−.74*

Nutzung

−.04

.31*

−.50* −.16

−.12 (−.16/−.18) .15 (.39*/.11) .09 (−.08/.14)

.59* (.27/.57*) .39* (.29/.37*)

.05 .18 −.09

.44* .35*

Koeffizienten aus bivariaten Zusammenhangstests nach Pearson; * mindestens auf dem 90%-Niveau signifikant.

Kompetenz aus. Auch wenn der Schluss aufgrund nur eines Kantons heikel ist, kann vermutet werden, dass Wahlpflicht also partizipationsförderlich wirkt und damit nicht nur die Beteiligungsgleichheit erhöht, sondern die Bürgerinnen und Bürger auch politisch motiviert. Allerdings scheint kognitive Kompetenz und qualifizierte Partizipation dadurch nur sehr beschränkt gefördert zu werden. Eine ambivalente Wirkung entfaltet schließlich die direkte Demokratie. Wo diese ausgebaut ist und häufig genutzt wird, ist die qualifizierte Beteiligung hoch. Mit anderen Worten: Direkte Demokratie und deren Nutzung scheinen tatsächlich die Motivation und die kognitive Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern positiv zu beeinflussen. Allerdings wurde bereits oben gezeigt, dass ausgebaute direkte Demokratie nicht beteiligungsfördernd ist und sogar negativ auf Wahlbeteiligungsgleichheit wirkt. Hier zeigt sich also tatsächlich ein Trade-Off.

VI. Schluss Ziel dieses Beitrages war die Diskussion um die Eignung der Wahlbeteiligung als möglicher Indikator für demokratische Qualität. Dabei kann als

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umstritten gelten, ob die Höhe der Wahlbeteiligung als Qualitätsmerkmal ausreicht. Vielmehr müssen neben Quantität auch die Egalität und die Qualität der Partizipation betrachtet werden. Mit den interkantonalen Vergleichen der Beteiligung bei den Schweizer Nationalratswahlen von 2007 im ersten Teil wurde deutlich, dass hohe Wahlbeteiligung mit einer gleichmäßigeren Wahlbeteiligung einhergeht. Weil eine responsive Repräsentativdemokratie auf möglichst gleiche Partizipation angewiesen ist, muss das von Lijphart sogenannte Dilemma der Demokratie – niedrige Wahlbeteiligung geht mit ungleicher Wahlbeteiligung einher – mit mobilisierenden Institutionen aufgelöst werden. Tatsächlich zeigt sich in Kantonsquerschnittvergleichen, dass Proporzwahlen, Wettbewerb und Wahlpflicht nicht nur die Wahlbeteiligung erhöhen, sondern dass in Kantonen mit mehr als einem Sitz, knappen Wahlausgängen und im Kanton Schaffhausen, der als einziger Kanton die Wahlpflicht noch kennt, die Ungleichheit der Partizipation hinsichtlich zentraler Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Einkommen und Bildung geringer ist als in Kantonen, in denen nur ein Sitz bestellt wird oder in denen die Wahl der Repräsentanten nicht umstritten ist. Darüber hinaus zeigt sich, dass die direkte Demokratie als möglicher alternativer Kontrollkanal eher zu Ungleichheit führt: In Kantonen, in denen die Nutzung direktdemokratischer Institutionen vergleichsweise einfacher ist, ist die Beteiligung bei Wahlen ungleicher als in Kantonen, in denen die Hürden für die Nutzung sachunmittelbarer Entscheidinstrumente hoch sind. Diese Befunde legen institutionelle Reformen nahe, wenn Responsivität in den Kantonen erhöht und Beteiligung gleichmäßiger gestaltet werden soll: Die Einführung einer Mindestsitzzahl von zwei Sitzen auch für kleine Kantone, die dadurch wohl auch geförderte Steigerung des Wettbewerbs, die Einführung der Wahlpflicht und die Einschränkung direktdemokratischer Kontrolle dürften einer höheren Beteiligungsgleichheit zumindest nicht abträglich sein. Allerdings wurde im zweiten Teil des Beitrages gezeigt, dass eine solche Forderung zu kurzsichtig wäre, ist es doch nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Qualität der Partizipation, welche Responsivität garantiert. Hier zeigen sich in den Analysen durchaus ernüchternde Befunde. Erstens ist der Anteil der kantonalen Bevölkerung, die politisch motiviert und kompetent ist, gering – schweizweit verfügt nicht einmal ein Viertel der Wahlberechtigten über ,enlightened understanding‘ als wichtige Voraussetzung für qualifizierte Partizipation. Zweitens – und hier wurde der Begriff des Trilemma verwendet – zeigen sich die Institutionen, welche

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die Beteiligungshöhe und die Beteiligungsgleichheit positiv beeinflussen, als wirkungslos für die Förderung der Qualifikation für Partizipation. Eine Ausnahme bildet die direkte Demokratie, deren Grad und Nutzung zu mehr enlightened understanding und stärker qualifizierter Partizipation in einem Kanton führen, also ausgerechnet jene Institution, die zu mehr Beteiligungungleichheit führt. Insgesamt zeigt sich das Trilemma damit also lediglich punktuell und nicht so stark wie vermutet. Es kann zwar behauptet werden, dass eine Erhöhung der Wahlbeteiligung mit höherer Beteiligungsgleichheit einhergeht, auf die qualifizierte Partizipation hat eine Erhöhung jedoch keine Auswirkung – auch keine negative. Allerdings zeigt sich auch, dass sich aufgeklärte Partizipation und gleichmäßige Partizipation – beides zentrale Bestandteile einer hohen demokratischen Partizipationsqualität – nicht gleichzeitig mit nur einer Institution fördern lassen. Das Problem liegt darin, dass mit einer institutionell zu intendierenden Erhöhung der Partizipation zwar mehr Gleichheit erreicht wird, aber nicht gleichzeitig mehr Qualität der Partizipation. Ein Dilemma zeigt sich hier insbesondere hinsichtlich der Institution ,direkte Demokratie‘: Ein hohes Angebot und viele Möglichkeiten für Einflussnahme bedeuten zwar eine Steigerung der Kompetenz, aber gleichzeitig auch eine Überforderung, was dann wiederum zu geringer und ungleicher Beteiligung führt. Vielversprechender scheint hier die Wahlpflicht. Auch wenn die Resultate bei nur einem Fall mit Vorsicht interpretiert werden müssen, ist doch erstaunlich, dass im Kanton Schaffhausen nicht nur die Beteiligungshöhe und die Beteiligungsgleichheit hoch sind, sondern dass auch die Motivation als einer der beiden Bestandteile von ,enlightened understanding‘ vom Wahlzwang positiv beeinflusst wird. Mit anderen Worten scheint also Wahlpflicht auch zu einem erhöhten politischen Interesse und einem Bedürfnis nach mehr politischer Information sowie zu mehr politischem Engagement zu führen.39 Freilich lässt sich keine förderliche Wirkung von Wahlzwang auf politische Kompetenz nachweisen. Allerdings scheint der diesbezügliche Befund für Schaffhausen nicht so negativ zu sein, wie er von Selb und Lachat für Belgien beschrieben wurde: In Belgien herrscht ein weitaus schärferer Wahlzwang, der anscheinend nicht nur dazu führt, dass inkompetente Bürgerinnen und Bürger an den Wahlen teilnehmen, sondern dass diese aus Mangel an kognitiven Fähigkeiten auch entgegen ihren Präferenzen wählen.40 Der im Vergleich doch eher sanfte Zwang im 39 Siehe dazu auch schon Wernli 2001, und kritisch: Bühlmann/Freitag 2006. 40 Selb/Lachat 2009.

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Kanton Schaffhausen scheint hingegen weder Kompetenz noch Inkompetenz zu fördern. Die Wahlpflicht sollte also nicht von vornherein als alter Zopf bezeichnet werden, der abgeschnitten gehört. Vielmehr scheint ein sanfter Zwang auch die politische Motivation zu fördern. Insgesamt zeigen die hier untersuchten und von Lijphart vorgeschlagenen Institutionen aber nicht die erwartete Wirkung auf die Gleichheit und die Qualität der Partizipation. Entweder sie haben eine mobilisierende und egalisierende, aber keine kompetenzfördernde Wirkung (Proporz, Wettbewerb, Wahlpflicht) oder sie fördern Kompetenz, wirken sich aber negativ auf die Beteiligungsgleichheit aus (direkte Demokratie). Sie lösen also sozusagen das Dilemma, nicht aber das Trilemma. Das führt unweigerlich zur Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, Beteiligungsgleichheit und Beteiligungsqualität gleichzeitig zu steigern. Im Rahmen dieses Beitrages lässt sich darüber natürlich nur spekulieren: Die oben angestellten Analysen haben gezeigt, dass Individuen mit enligthened understanding in der Regel auch an Wahlen teilnehmen. Eine Möglichkeit, Beteiligung zu erhöhen und damit also auch mehr Gleichheit zu erreichen, könnte also in einer Verbesserung der politischen Kompetenz und Motivation liegen. Viel brachliegendes Potenzial scheint dabei in der politischen Bildung zu liegen. Im komplexen politischen System der Schweiz würde man eigentlich eine ausgedehnte zivilbürgergesellschaftliche Bildung erwarten. Eine solche ist aber – nicht nur aus Gründen des Bildungsföderalismus – praktisch in keinem Kanton vorgesehen.41 Eine systematische politische Bildung würde jedoch vermutlich nicht nur zu mehr Kompetenz führen, sondern angehende Bürgerinnen und Bürger auch davon überzeugen, dass eine qualitative responsive Demokratie motivierte, engagierte und politisch kompetente Wahlberechtigte benötigt. Freilich muss den Befunden dieses Beitrages mit gesunder Skepsis begegnet werden. Bei den Analysen handelt es sich lediglich um einfache bivariate Zusammenhangstests. Darüber hinaus beleuchten sie mit den Nationalratswahlen 2007 lediglich eine Momentaufnahme. Aussagekräftigere Tests, mit denen etwa die Auswirkungen der Institutionen auf die Motivation und Kompetenz einzelner Individuen getestet wird, Längsschnittanalysen oder auch internationale Vergleiche könnten detailliertere Befunde an den Tag bringen. Bei allen zukünftigen Diskussionen um die Wahlbeteiligung und deren Analysen sollten aber nicht nur die Höhe, sondern auch die Gleichheit und die Qualität der Partizipation mit einbezogen

41 Reichenbach/Oser 2000

Geringe Wahlbeteiligung als Gefahr für die Demokratie?

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werden. Responsive Demokratie benötigt nicht unbedingt hohe, aber vor allem gleichmäßige und demokratisch qualifizierte Partizipation. Niedrige Wahlbeteiligung muss kein Zeichen von geringer Demokratiequalität sein. Ungleiche und unqualifizierte elektorale Partizipation sind es hingegen sehr wohl.

Anhang: Operationalisierung und Quellen Variable

Operationalisierung und Quellen

Wahlbeteiligung

Wählende als Anteil Wahlberechtigter pro Kanton. Quelle: Bundesamt für Statistik. Mittelwert der Gleichheitsindikatoren hinsichtlich Geschlecht, Alter, Bildung und Einkommen P 

Gleichheit der Beteiligung

Gx = 100 −

k i=1

|xi −pi | 2

G = Gleichheit; x = Eigenschaft (siehe nachfolgend); p = Anteil Partizipierender hinsichtlich Eigenschaft x; i = Gruppen hinsichtlich Eigenschaft x (siehe nachfolgend).

Geschlechter-Gleichheit

Alters-Gleichheit

Bildungs-Gleichheit

,Int: Geschlecht gemäß Vorname eintragen‘ (Selects07; F80230); x = Geschlecht; i = Frau oder Mann, k = 2. ,Können Sie mir bitte Ihr Alter angeben?’ (Selects07; F80220). X = Alter; i = 3 Altersgruppen: 18–29; 30–65; 66+, k = 3. ,Welches ist die höchste Ausbildung oder das höchste Abschlusszeugnis, wo Sie gemacht haben?’ (Selects07; F21300); X = Ausbildung; i = 3 Bildungsgruppen: Gruppe 1: Keine Schulbildung, Primarschule, Sekundarschule, Anlehre (mit Anlehrvertrag); Berufslehre oder Berufsschule; Gruppe 2: Diplommittelschule oder allgemeinbildende Schule; Handelsschule, Handelsdiplom; Gruppe 3: Berufsmatura; Maturitätsschule, Gymnasium, Seminar; Höhere Fachschule; Fachhochschule, Technikerschule; Universität, ETH, k = 3.

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Variable Einkommens-Gleichheit

Enlightened understanding

Motivation

Politisches Interesse

Informiertheit

Partizipationsbereitschaft

Kompetenz

Operationalisierung und Quellen ,Können Sie uns sagen, wie hoch ungefähr das Monatseinkommen von Ihrem Haushalt ist? Zählen Sie bitte alle Einkommen von den Personen zusammen, wo etwas für den Unterhalt beisteuern. Zählen Sie nicht nur die Löhne, sondern auch allfällige andere Einkommen dazu.‘ (Selects07; F28900). X = Haushalteinkommen; i = 3 Einkommensgruppen: 0 bis 4000; 4001 bis 8000 und mehr als 8000, k = 3. Respondent/innen, die gleichzeitig motiviert und kompetent sind (siehe nachfolgend) = 1; alle anderen = 0. Respondent/innen, die gleichzeitig politisch interessiert und informiert und partizipationsbereit sind (siehe nachfolgend) = 1; alle anderen = 0. ,Wie interessiert sind Sie eigentlich im allgemeinen an der Politik? Sind Sie da „sehr interessiert“, „eher interessiert“, „eher nicht interessiert“ oder „überhaupt nicht interessiert“?’; rekodiert: 1 = sehr oder eher interessiert; 0 = eher nicht/überhaupt nicht interessiert (Selects07; F10100). ,An wievielen Tagen in der Woche…