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German Pages 286 [288] Year 2016
Christine Fertig | Margareth Lanzinger (Hg.)
BEZIEHUNGEN VERNETZUNGEN KONFLIKTE Perspektiven Historischer Verwandtschaftsforschung
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, die Werner-Zeller-Stiftung, das Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur, sowie das Amt der Vorarlberger Landesregierung, Abteilung Wissenschaft und Weiterbildung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Ausschnitt aus der Ahnentafel Maximilans I., vor 1494. Aus: Christiane Klapisch-Zuber, Stammbäume. Eine illustrierte Geschichte der Ahnenkunde, München 2004, S. 108.
© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Wolfgang Fink, Graz Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50303-1
Inhalt Perspektiven der Historischen Verwandtschaftsforschung Einleitung Margareth Lanzinger und Christine Fertig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Amt – Familie – Netzwerk Zur Gestaltung politischen Handelns im 14. Jahrhundert Sabine von Heusinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Ausgleichende Verfügungen, verbindende Gegenstände, konkurrierende Interessen Das Testament des zweitgeborenen Francesco Gonzaga aus dem Jahr 1483 Charlotte Zweynert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Geburtsaristokratische Herrschaft in der Stadtrepublik Das Patriziat der Reichsstadt Frankfurt am Main Andreas Hansert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Geschwisterbeziehungen und Verflechtungen in der hohen Dienerschaft des Herren im 18. Jahrhundert Die Brüder Münchhausen und die englisch-hannoversche Personalunion Sébastien Schick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus Walliser Gemeinden des 18. Jahrhunderts im Vergleich Sandro Guzzi-Heeb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Verwandtenheirat – ein aristokratisches Ehemodell? Debatten um die Goody-Thesen und Dispenspraxis Ende des 18. Jahrhunderts Margareth Lanzinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Jürgen Schlumbohm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
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Inhalt
Verwandte Paten und wohlhabende Freunde Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen des 18. und 19. Jahrhunderts Christine Fertig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Reverenz und Referenz Zwei Weisen der populären Genealogie seit dem 19. Jahrhundert und ein neuer genealogischer Universalismus? Elisabeth Timm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 „In Fühlung treten“ Netzwerke in der Frauen- und Friedenspolitik Brigitte Rath und Barbara Heller-Schuh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Die Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy Biographie als Basis verwandtschaftlicher und politischer Netzwerkstrukturen Ute Sonnleitner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
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Perspektiven der Historischen Verwandtschaftsforschung Einleitung Margareth Lanzinger und Christine Fertig
Historische Verwandtschaftsforschung hat sich als internationales und breites Forschungsfeld im Laufe der letzten etwa zehn, fünfzehn Jahre zunehmend klarer konturiert und etabliert, und zwar mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.1 So erschien es sinnvoll, einleitend konzeptuelle Zugriffe und thematische Achsen auszuleuchten und damit zugleich wesentliche Diskussionsstränge zu bündeln. Zugleich werden damit die in diesem Band versammelten Beiträge in einen breiteren Kontext eingebunden.2 Ziel war es, Verwandtschaft in einer milieu- und epochenübergreifenden Perspektive zu adressieren und neue Richtungen aufzuzeigen.
Für eine offene Definition von Verwandtschaft Beschäftigen sich Forschungen mit Verwandtschaft im europäischen Raum, so scheint es zumeist nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein, was mit Verwandtschaft
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An konzeptuellen und um Synthesen bemühten Texten zur neueren Verwandtschaftsforschung seien angeführt: Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, 275–324; David Warren Sabean u. Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term Development, in: dies. u. Jon Mathieu (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York/Oxford 2007, 1–32; Simon Teuscher, Verwandtschaft in der Vormoderne. Zur politischen Karriere eines Beziehungskonzepts, in: Elizabeth Harding u. Michael Hecht (Hg.), Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation, Münster 2011, 85–106. Die Idee zu diesem Band geht auf zwei Tagungen zurück, die in Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Demographie im Herbst 2010 in Halle und im Herbst 2011 in Münster stattgefunden haben. Eine Auswahl der dort präsentierten Untersuchungen wurde um weitere, thematisch daran anschließende Beiträge ergänzt.
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denn eigentlich gemeint sei.3 Dass dies nicht nur aus einer sozial- und kulturanthropologischen und globalen,4 sondern auch aus einer historischen Perspektive zu überdenken ist, das macht allein ein Blick in Zedlers Universallexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich. Dieses nennt nämlich unter dem Lemma „Verwandt oder Verwandte“ eine breite Palette an Formen der Vergesellschaftung: Dazu zählen nicht nur die „Bluts-Freunde“ und die Schwägerschaft, also die Abstammungs- und die Heiratsverwandtschaft als die klassischen und zumeist implizit unter Verwandtschaft subsummierten Beziehungsformen, sondern auch geistliche Verwandtschaft, die über Patenschaft hergestellt wurde, sowie Handwerks-, Innungs- und Ratsverwandte, Schirm-, Schutz- und Reichsverwandte und nicht zuletzt Universitätsverwandte, und es folgt fast eine Spalte zu Verwandten in der Astrologie.5 Daraus lässt sich ableiten, dass sich Verwandtschaft über unterschiedliche Relationen konstituierte und als Beschreibungsmodus sozialer und politischer Handlungszusammenhänge diente.6 Die Mehrfachkodierung bildet sich nicht zuletzt im Umstand ab, dass im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert der Begriff „Freundschaft“ als Synonym für Verwandtschaft aufscheint. Ausgehend von einer solch breiten und zugleich sozio-politisch geprägten Auffassung verengte sich der Verwandtschaftsbegriff im europäischen Kontext sukzessive auf einen deutlich kleineren Kreis, der auch unser alltägliches Verständnis prägt. Doch dies enthebt nicht der Aufgabe, das für die jeweilige historische Untersuchung relevante Feld der Verwandtschaft zu spezifizieren beziehungsweise 3
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Grundlegend als Kritik einer unreflektierten Übertragung westlicher Verwandtschaftsvorstellungen auf andere Gesellschaften in der Sozial- und Kulturanthropologie sowie zur Diskussion der Folgen vgl. David M. Schneider, A Critique of the Study of Kinship, Ann Arbor 1984; Peter P. Schweitzer, Introduction, in: ders. (Hg.), Dividends of Kinship. Mean ings and Uses of Social Relatedness, London/New York 2000, 1–32. Vgl. den Band von Erdmute Alber u. a. (Hg.), Verwandtschaft heute. Positionen, Ergebnisse und Perspektiven, Berlin 2010. Artikel: „Verwandt“, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste …, Bd. 48, Leipzig/Halle 1746, Sp. 141–146, online zugänglich unter http://www.zedler-lexikon.de/blaettern/einzelseite.html?seitenzahl=84&band nummer=48&dateiformat=1&supplement=0&view=100 (Zugriff: September 2014). Ein breit angelegtes Konzept von Verwandtschaft, das sich im Begriff der „fründe“ ausdrückt, hat Simon Teuscher in seiner Studie über Bekannte, Klienten und Verwandte, über Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 herausgearbeitet. Diese „fründe“ beschränkten sich nicht auf Verwandte in unserem Sinn. Der Begriff konnte auch „verburg rechtete frühstaatliche Einheiten“ inkludieren; ebenso war er als Anrede für die Mitglieder des Kleinen Rates – die „ratsfründe“ – in Verwendung. Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln/Weimar/Wien 1998, insbes. Kap. 4, Zitate: 76f.
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zu reflektieren. Denn dieses bespielten je nach konkretem räumlichem, sozialem und kulturellem Kontext in der Frühen Neuzeit wie in der Moderne durchaus unterschiedliche Personen und Personenkreise. Von den Eheverboten her gedacht umfasste Verwandtschaft im normativ katholischen Zusammenhang vom Anfang des 13. bis in das beginnende 20. Jahrhundert dem kanonischen Recht zufolge die Blutsverwandten bis zum vierten Grad und in ebensolcher Generationentiefe die Verschwägerten. Die Reichweite von Heiratsverboten war in den jeweiligen konfessionellen und religiösen Kontexten unterschiedlich geregelt. Zu fragen wäre, inwieweit die vor jeder Eheschließung abgefragten und damit aktualisierten verbotenen Grade das Wissen um und die Wahrnehmung von Verwandtschaft historisch geformt haben. Die durch Patenschaft begründeten Eheverbote der geistlichen Verwandtschaft, die für Beziehungen zwischen Paten, Patinnen, Patenkindern und deren Eltern galten,7 hat Luther für die reformierten Kirchen zwar abgeschafft. Die Frage nach Patenschaft als Instrument, über das neue Verbindungen geknüpft oder bereits bestehende verstärkt werden konnten, stellt sich dennoch und unabhängig von der Konfession und Etikettierung als „spirituelle Verwandtschaft“. Die Wahl von Paten und Patinnen folgte unterschiedlichen Logiken: Sie konnte auf sozial horizontalen, gleichrangigen Beziehungsachsen angelegt sein oder eine PatronKlientel-Konstellation haben; sie konnte dazu dienen, Naheverhältnisse, darunter auch verwandtschaftliche, über räumliche Distanzen oder über soziale Bruchlinien hinweg aufrecht zu erhalten, indem ihnen über Patenschaft eine Struktur gegeben wurde. Sie konnte Gemeinsamkeit – auch in Hinblick auf politische Einstellungen – untermauern. Vielfalt und Bedeutung von Patenschaften zeigen neuere Untersuchungen,8 die in diesem Band mit zwei Beiträgen vertreten sind und Einblick in verschieden gestaltete und genutzte Vernetzungen geben. 7
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Die geistliche Verwandtschaft umfasste drei Achsen, nämlich die paternitas spirtualis – die Verbindung zwischen Paten und Patenkind –, die compaternitas spiritualis – die Beziehung zwischen Paten und den Eltern des Patenkindes – und die confraternitas spiritualis – die Beziehung zwischen dem Patenkind und den Kindern der Paten – Beziehungen, für die allesamt ein Eheverbot galt. Vgl. dazu Guido Alfani, Padri, padrini, patroni. La parentela spirituale nella storia, Venezia 2006; ders., Geistige Allianzen: Patenschaft als Instrument sozialer Beziehung in Italien und Europa (15. bis 20. Jahrhundert), in: Margareth Lanzinger u. Edith Saurer (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 25–54; Bernhard Jussen, Spiritual Kinship as Social Practice. Godparenthood and Adoption in the Early Middle Ages, London/Newark 2000. Als Überblick vgl. den Band von Guido Alfani u. Vincent Gourdon (Hg.), Spiritual Kinship in Europe, 1500–1900, Basingstoke 2012; zur politischen Bedeutung insbes. Sandro Guzzi-Heeb, Spiritual Kinship, Political Mobilization and Social Cooperation: A Swiss Alpine Valley in 18th and 19th Century, in: ebd., 183–203.
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Sandro Guzzi-Heeb stellt die bislang kaum behandelte Frage nach der Funktion von Patenschaft für die politische Mobilisierung. Sein Untersuchungsfeld ist das Walliser Val de Bagnes im 18. Jahrhundert. Die Konflikte zwischen Gemeinden und der Abtei Saint-Maurice als weltliche und geistliche Herren, die sich rund um Amtsbesetzungen, Schulgründungen und die Zulassung neuer Gemeindebürger auftaten, hatten zur Folge, dass sich verschiedene Lager herausbildeten. Wie Guzzi-Heeb darstellt, hatten die vielfältigen Verbindungen zwischen aufständischen Familien, die durch Eheschließungen und Patenschaften etabliert wurden, die Ausbildung eines spezifischen sozio-politischen Milieus zur Folge. Dieses Milieu konstituierte sich jedoch nicht nur über eine explizite politische Haltung, sondern auch durch eine eigene Sexualmoral: Auffällig ist in diesen Familien nämlich eine Häufung vorehelich geborener bzw. gezeugter Kinder. Die Analyse macht damit deutlich, wie wichtig es ist, die Logiken des jeweiligen sozialen Milieus zu identifizieren und nicht vorab einen bestimmten Vernetzungsmodus in den Mittelpunkt zu rücken. Denn eine Vielfalt möglicher verbindender und verstärkender Elemente konnte zusammenwirken – sozio-politische ebenso wie sozio-kulturelle. Christine Fertig untersucht in ihrem Beitrag die über Patenschaften geschaffene relationale Struktur in zwei westfälischen Kirchspielen im 18. und 19. Jahrhundert. Die gezielte Auswahl von Paten und Patinnen bot Familien die Möglichkeit, ihre sozialen Netzwerke aktiv zu gestalten. So richtet sich eine zentrale Frage darauf, in welchem Verhältnis Patenschaft zur Verwandtschaft stand. Wie sich im Ergebnis zeigt, lösten die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten in Borgeln und Löhne das Spannungsverhältnis zwischen Netzwerkerweiterung durch ‚fremde‘ Paten und Netzwerkverdichtung durch Rückgriff auf Verwandte, die mit dieser Funktion betraut wurden, auf unterschiedliche Weise. In Hinblick auf den Grad der Einbindung der unteren Schichten divergierte die Situation in den beiden Kirchspielen merklich. Die herausgearbeiteten Netzwerkstrategien einzelner Familien fügen sich so in ein Gesamtbild, das eine neue Perspektive auf die innere Struktur ländlicher Gesellschaften erlaubt. Denn die Herausbildung einer „ländlichen Klassengesellschaft“, wie sie von Josef Mooser und David Sabean beschrieben worden ist,9 konstituiert nur eine mögliche Form. Ein zweites, ebenso relevantes Muster verweist dem gegenüber auf eine beständig erneuerte Netzwerkgesellschaft. Lokale und regionale Diversifizierungen sind demnach stets in Betracht zu ziehen und nur über vergleichende Perspektiven erkennbar.
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Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984; David W. Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998.
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Interagierende Netze, sich kreuzende Perspektiven Wenn man dem breiten Zedler’schen Verwandtschaftsspektrum nicht folgen möchte und es von der Gegenwart her gedacht vorzieht, zwischen Abstammungsund Heiratsverwandten einerseits und anderen Formen der Soziabilität andererseits zu unterscheiden, impliziert die Zedler’sche Definition dennoch eine wichtige Forderung: Wenn wir uns in Verwandtschaften im engeren Sinn vertiefen, sollten andere Beziehungskonstellationen, die ähnlich wie Verwandtschaft im Bedarfsfall aktivierbar waren und gleichermaßen mit Erwartungshaltungen und Loyalitätsversprechen wie mit beträchtlichem Konfliktpotenzial einhergehen konnten, nicht aus dem Blick geraten. Neben Patenschaft interagierten Arbeits-, Freundschafts-, Nachbarschafts-, aber auch ökonomisch begründete Beziehungen mit verwandtschaftlicher Praxis, ob sie sich nun komplementär zueinander verhielten oder in Konkurrenz zueinander standen. Solche Beziehungsgefüge waren in einem je unterschiedlich gewichteten informellen oder formalen Rechte- und Pflichtenparadigma verortet. Der Komplexität von Beziehungsgefügen entsprechend rückten in den letzten Jahren Netzwerke und damit zugleich Verwandtschaftsnetzwerke verstärkt ins Blickfeld.10 Dies ging nicht zuletzt mit neuen technischen Möglichkeiten einher, Relationen, Beziehungsdichten und Konstellationen mit Netzwerkprogrammen rechnen und graphisch darstellen zu können.11 Nicht immer erlaubt die Quellenbasis jedoch den Einsatz systematischer Verfahren. Über die Netzwerk analyse im engeren Sinn hinaus stellt daher auch die ‚manuelle‘ Rekonstruktion
10 Vgl. den Forschungsüberblick von Simone Derix, Vom Leben in Netzen. Neue geschichtsund sozialwissenschaftliche Perspektiven auf soziale Beziehungen, in: Neue Politische Literatur 56, 2 (2011), 185–206. 11 Neuere Einführungen in die Historische Netzwerkanalyse bietet Claire Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23, 1 (2012), 16–41; Marten Düring u. Ulrich Eumann, Historische Netzwerkforschung. Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften, Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), 369–390; für die Umsetzung von Netzwerkforschung siehe Carola Lipp, Kinship Networks, Local Government, and Elections in a Town in Southwest Germany, 1800–1850, in: Journal of Family History 30, 4 (2005), 347–365; Christine Fertig, Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874), Stuttgart 2012; Robert Gramsch, Das Reich als Netzwerk der Fürsten. Politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II . und Heinrichs (VII.) 1225–1235, Ostfildern 2013; Maximilian Kalus, Pfeffer – Kupfer – Nachrichten. Kaufmannsnetzwerke und Handelsstrukturen im europäisch-asiatischen Handel am Ende des 16. Jahrhunderts, Augsburg 2010.
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von Beziehungsnetzen einen wichtigen Zugriff zu Formen und Logiken dar, nach denen Verbindungen aufgebaut und wirksam wurden.12 Sabine von Heusinger rollt in ihrem Beitrag jene Ereignisse auf, die im spätmittelalterlichen Straßburg beinahe einen Volksaufstand ausgelöst hätten. Die Hauptangriffsfläche lieferten die drei Ammeister Johans Cantzler, Hans Philippes und Walter Wasicher. Die langjährige Okkupation dieses Amtes, die ihnen die Grundlage für den teils missbräuchlichen Ausbau ihrer Macht geboten hatte, war auf Missfallen gestoßen. Die harte Vorgangsweise gegenüber diesen drei Protagonisten und das über sie verhängte Strafausmaß lassen sich, so die Autorin, jedoch nicht allein aus deren politischem Handeln erklären. So ist zunächst zu fragen, wie sie in diese Positionen gelangen und auf welche Weise sie diese über einen vergleichsweise langen Zeitraum halten konnten. Entscheidende Bedeutung kam in diesem Zusammenhang, wie Sabine von Heusinger rekonstruiert, den familialen und darüber hinausgehenden sozialen Vernetzungen sowie den sich dadurch eröffnenden Handlungsräumen zu. Dieses Ergebnis zeigt, dass das Politische – im engeren Sinne von Macht und Führungspositionen – in seiner Genese wie in seiner Funktionsweise nicht allein aus dem ‚öffentlich‘ Sichtbaren ableitbar ist und sich darauf beschränken lässt. Vielmehr erwiesen sich familiale, verwandtschaftliche und soziale Beziehungen, die sich unter anderem über Heirat sowie über Kontakte zu hohen kirchlichen Stellen und wirtschaftlich einflussreichen Bürgern konstituierten, als wesentlich. Sie sind damit als Teil des politischen Feldes zu werten, erschließen sich aber erst durch mikrohistorische und sich kreuzende Perspektiven der Nähe. Vor dem Hintergrund der aus der Geschichte der europäischen Moderne immer wieder verabschiedeten Verwandtschaft13 gilt es, den Fokus verstärkt auf das 19. und 20. Jahrhundert zu lenken.14 Ein wesentliches gesellschaftliches Strukturierungs12 Zum Potenzial einer über den Haushalt hinausweisenden Perspektive verwandtschaftlicher Vernetzung vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Von der Familien- zur Verwandtschaftsgeschichte: Der mikrohistorische Blick. Geschichte von Verwandten im Walliser Dorf Vouvry zwischen 1750 und 1850, in: Historical Social Research 30, 3 (2005), 107–129. Bezogen auf den Adel vgl. die Einleitung von Ebba Severidt, Familie, Verwandtschaft und Karriere bei den Gonzaga. Struktur und Funktion von Familie und Verwandtschaft bei den Gonzaga und ihren deutschen Verwandten (1444–1519), Leinfelden-Echterdingen 2002; sowie Sylvia Schraut, Familie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder – Verwandtschaftsbeziehungen im katholischen stiftsfähigen Reichsadels, in: WerkstattGeschichte 46 (2007), 13–24. 13 Vgl. Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), 31–77; Sabean/Teuscher, Kinship in Europe (wie Anm. 1), 1; Teuscher, Verwandtschaft in der Vormoderne (wie Anm. 1). 14 Vgl. dazu die Arbeiten von Simone Derix zu den Thyssens: Familiale Distanzen. Räumliche Entfernung, ethnische und nationale Zugehörigkeit und Verwandtschaft, in: Historische
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moment dieser Epoche stellte das sich Formieren und Agieren von politischen Bewegungen und Gruppierungen dar. Die Historiographie zu deren Protagonisten und Protagonistinnen ist in der Regel von organisatorisch-politischen Aspekten bestimmt, aber auch Freundschafts- und Kontaktnetze wurden verschiedentlich in den Mittelpunkt des Interesses gestellt.15 Gerade in diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, die sich überschneidenden Netze zu rekonstruieren, um ein möglichst vielschichtiges Bild zeichnen zu können, das familiale und verwandtschaftliche Verbindungen nicht von politischen und jenen freundschaftlichen, die sich über das gemeinsame politische Engagement gebildet haben, abspaltet. Den Ertrag eines solchen auf das Interagieren verschiedener Netze gerichteten Zugangs machen ebenfalls zwei Beiträge dieses Bandes sichtbar. Brigitte Rath und Barbara Heller-Schuh begeben sich auf die Spurensuche nach den Vernetzungen einer – vielleicht gerade aufgrund des breiten Spektrums ihrer politischen Tätigkeit – nahezu vergessenen Aktivistin der Frauen- und Friedenspolitik. Olga Misař (1876–1950) hatte Verbindungen zur ersten bürgerlichen Frauenbewegung, zum österreichischen Bund für Mutterschutz. Sie war in der internationalen Friedensbewegung, im Bund der Kriegsdienstgegner sowie in zahlreichen Vereinen aktiv, hatte Kontakte zu Anarchisten und zu Emigranten im englischen Exil. Ihre Netze überschnitten sich zum Teil mit jenen ihres Ehemannes, des Mathematikers Wladimir Misař, der unter anderem zwanzig Jahre lang bis zur Emigration 1939 als Sekretär der Großloge Wien tätig gewesen war. Mit Unterstützung ihrer Töchter und zugleich durch das Wiederanknüpfen an politische Kontaktnetze konnten sie die Anforderungen eines Lebens im Exil bewältigen. Wie vielfach in Migrationskontexten so erwies sich auch in dieser Situation das familiale Netzwerk als existenziell, etwa wenn es um die Suche nach einem Arbeitsplatz ging. Die „Brüdergemeinde“ der Goldy Parin-Matthèy (1911–1997), einer antifaschistischen Aktivistin und Psychoanalytikerin, auch Mitbegründerin der Ethnopsychoanalyse, steht im Zentrum der Ausführungen von Ute Sonnleitner. Deren Leben war eng mit jenem ihres Bruders August und dem ihres Mannes Paul Parin verwoben und integrierte einen Kreis von ebenfalls politisch aktiven Freunden und Freundinnen. So bildet auch hier die Biographie die Folie, vor der die Autorin das Ineinandergreifen verwandtschaftlicher und politischer Netzwerke rekonstruiert und analysiert. Sonnleitner thematisiert die Rollenerwartungen Anthropologie 22, 1 (2014), 45–66; dies., Die Thyssens. Familie und Vermögen, Paderborn 2016 (Druck in Vorbereitung). 15 Vgl. dazu Bonnie S. Anderson, Joyous Greetings, The First International Women’s Movement, 1830–1860, Oxford 2001; Leila J. Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997.
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und -zuschreibungen, mit denen sich Goldy Parin-Matthèy sowohl im familialen als auch im politischen und beruflichen Umfeld immer wieder konfrontiert sah, und fragt davon ausgehend nach den geschlechtsspezifischen Bedingungen des Erinnerns. Die mediale wie historiographische Ausblendung von Aktivistinnen traf vor allem die Widerstandskämpferinnen. Gerade in diesem Zusammenhang waren, wie die Autorin betont, verwandtschaftliche Netze aufgrund der ihnen zugesprochenen Vertrauenswürdigkeit von großer Bedeutung. Beide Beiträge könnten daher als ein Plädoyer gelesen werden, in die bislang stärker von Freundschaftsperspektiven geprägte Geschichte der Frauenbewegungen, der politischen Aktivistinnen und Aktivisten Verwandtschaft als Kategorie zu integrieren.
Soziale Abschließung und Integration Verwandtschaft ist beides: ein Modus sozialer Integration wie ein Modus sozialer Exklusion. Heirat und Erbe konstituierten klassische Situationen, in denen dies zum Tragen kam. Welche Kriterien die Wahl von Ehepartnern und Ehepartnerinnen leiteten, wer was erbte, wer die Besitznachfolge antrat, das hatte Implikationen auf die Organisation von Verwandtschaft und darüber hinaus auf die Strukturierung von Gesellschaft. Erb- und Heiratspraxis folgten Vorstellungen von sozialer Ordnung, die zugleich darüber hergestellt, gestützt und legitimiert oder aber verändert, überschritten, unterlaufen wurde. Raul Merzario hat in diesem Zusammenhang von einer „Politik der Verwandtschaft“ gesprochen, die das „soziale Gebäude“ zusammenhält,16 aber damit zugleich immer auch Ausschlüsse produziert. Wie Andreas Hansert in seinem Beitrag ausführt, nahm das Frankfurter Patriziat zunehmend exklusive Züge an. Dieser Prozess vollzog sich auf mehreren Schauplätzen, die aufs Engste zusammenwirkten: in eigenen Formen der Soziabilität, auf der politischen Bühne der Stadt und in der sozialen Abschließung der Heiratskreise. Das Patriziat formierte sich im 14. Jahrhundert in Gesellschaften, denen es in der Folge gelang, die Wahlen neuer Ratsherren zu steuern und damit die ursprünglich genossenschaftlich-egalitär angelegte Stadtverfassung zu ihren Gunsten auszuhebeln. Der einzige Weg in diese Patriziergesellschaften hineinzukommen, führte über eine Eheschließung. Doch erhöhten sich die Anforderungen an Heiratspartner und -partnerinnen sukzessive, sodass sie letztlich 16 Raul Merzario, Il paese stretto. Strategie matrimoniali nella diocesi di Como, secoli XVI– XVIII , Torino 1981, 4ff; vgl. auch die Einleitung zum Band Lanzinger/Saurer, Politiken der Verwandtschaft (wie Anm. 7), 7–22.
Perspektiven der Historischen Verwandtschaftsforschung
den Erfordernissen adeliger Ahnenproben gleichkamen. Ein Vergleich der zwei wichtigsten Patriziergesellschaften, der Alt-Limburger und der Frauensteiner, in Hinblick auf die Darstellungsweise in ihren Mitgliederlisten zeigt jedoch deutliche Unterschiede, was deren innere Struktur betrifft: Während Erstere ihre Mitglieder den Familien zuordnete und dabei den ältesten darin verzeichneten Familien das höchste Prestige beimaß, führte die andere ihre Mitglieder einzeln in der Chronologie ihres Eintritts auf. Solche divergierenden Formen der Zuordnung und Verortung machen deutlich, dass sowohl die sich hier abzeichnende Tendenz zur zunehmend vertikalen Organisation von Verwandtschaft als auch Prozesse sozialer Abschließung stets nach innen zu differenzieren sind. Die von Jack Goody Anfang der 1980er Jahre lancierte These, dass kirchliche Besitzinteressen der Grund für die ausgedehnten Verbote seien, mit denen Eheschließungen zwischen Verwandten und Verschwägerten seit dem Mittelalter belegt waren, nahm im Grunde von solchen inklusiven Vorstellungen ihren Ausgang: dass nämlich Heirat und Erbe aufs Engste zusammenhingen und zu einem beträchtlichen Machtfaktor werden konnten. Margareth Lanzinger greift in ihrem Beitrag die rund um diese These entbrannten Debatten auf, die in den Heiratsverboten unter anderem ein Instrument vermuteten, das dazu geeignet war, die Macht verwandtschaftlicher Verbände zu durchbrechen. Bemerkenswerterweise wurde in der Auseinandersetzung mit Goodys Thesen kaum auf die Dispenspraxis verwiesen, die einen integrativen Bestandteil der Geschichte der Eheverbote darstellt und ein anderes Licht auf die Position der katholischen Kirche in Hinblick auf Verwandtenehen wirft, nämlich das der eindeutigen Privilegierung des (Hoch-)Adels und damit auch seiner verwandtschaftsbasierten Organisation. Das tridentinische Decretum Tametsi von 1563 macht dies auf normativer Ebene explizit. Demgegenüber blieben Verbindungen unter nahen Verwandten und Verschwägerten in anderen sozialen Milieus bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Ausnahme. Aus der Folgezeit sind Dispensansuchen zu Heiratsprojekten von Cousins und Cousinen, von Schwägern und Schwägerinnen sozial breit gestreut überliefert. Wie sich dieser Übergang vom ständischen Privileg zu einem potenziell allen zugänglichen Heiratsmuster gestaltete, dem geht Margareth Lanzinger in der spezifischen Gemengelage staatlicher und kirchlicher Konkurrenz während der Zeit des Josephinismus in Österreich nach. Deutlich wird, dass die mit den Ansuchen befassten Behörden und Amtsträger in nahen endogamen Verbindungen weiterhin zum Teil ein gewissermaßen ‚aristokratisches‘ Ehemodell sahen. Zudem rekurrierten staatliche Verordnungen und so auch die ‚aufgeklärte‘ Verwaltungspraxis auf Bestimmungen, die sich ihrer Provenienz nach als kirchenrechtlich identifizieren ließen. Verwandtschaftliche Dynamiken öffnen
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damit ein Fenster zu den Verwerfungen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche17 und versperren sich allzu linear angelegten Perspektiven.
Verwandtschaftspositionen: brüderliche Gefüge Die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit vornehmlich im Adel, aber auch in ländlich-bäuerlichen Anerbengebieten zu beobachtende Priorisierung der Vater-Sohn-Linie, gefolgt von der Durchsetzung der Primogenitur18 schuf Milieus und Gesellschaften, in denen sowohl Töchter als auch jüngere Söhne von der Herrschaftsnachfolge beziehungsweise vom Erbe an Grund und Boden ausgeschlossen waren und stattdessen mit Geld, in Form von Apanagen, Erbteilen oder einer Mitgift, abgefunden wurden.19 Brüder mussten sich, wie Michaela Hohkamp betont hat, mit entsprechenden testamentarischen Verfügungen oder erbvertraglichen Konstruktionen einverstanden erklären und adlige Töchter explizit auf das väterliche, oft auch auf das brüderliche Erbe verzichten.20 Dabei handelte es sich keineswegs um Formalakte. Wichtig ist zu betonen, dass es neben diesem Modell, das einen – in der Regel den ältesten Sohn – favorisierte, lokal und regional in Familien und Verwandtschaften unterschiedlicher Milieus eine Vielfalt an möglichen erb- und ehegüterrechtlichen Arrangements zwischen den Geschlechtern und den Generationen gab.21
17 Vgl. in diesem Sinne auch Jon Mathieu, Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500–1900, in: Historische Anthropologie 10, 2 (2002), 225–244. 18 Vgl. Sabean/Teuscher/Mathieu, Kinship in Europe (wie Anm. 1). 19 Vgl. Renata Ago, Giochi di squadra: uomini e donne nelle famiglie nobili del XVII secolo, in: Maria Antonietta Visceglia (Hg.), Signori, patrizi, cavallieri in Italia centro-meridionale nell’Età moderna, Roma/Bari 1992, 256–264. 20 Michaela Hohkamp, Sisters, Aunts, and Cousins: Familial Architecture and the Political Field in Early Modern Europe, in: Sabean/Teuscher/Mathieu, Kinship in Europe (wie Anm. 1), 91–104, 93. Vgl. auch Anke Hufschmidt, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status – Rollen – Lebenspraxis, Münster 2001, 275f, 291; Stephanie Marra, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2007, 97f; Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1993. 21 Vgl. Margareth Lanzinger u. a., Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln/Weimar/Wien 20152; Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Frankfurt a. M./New York 2011; Gertrude Langer-Ostrawsky, Vom Verheiraten der Güter. Bäuerliche und kleinbäuerliche Heiratsverträge im Erzherzogtum Österreich unter der Enns, in: Lanzinger et al., Aushandeln von Ehe, 27–76.
Perspektiven der Historischen Verwandtschaftsforschung
Die Fokussierung auf die Patrilinie, der Ausschluss der Töchter und jüngeren Söhne vom Erbe an Grundbesitz, veränderte strukturell deren Position im Verwandtschaftsraum. Im Zentrum des Interesses standen bislang vor allem die ältesten Söhne als Besitz- und/oder Herrschaftsnachfolger. Bezogen auf Töchter sind in den letzten Jahren die Implikationen von Mitgift- und anderen Ehegüterarrangements vermehrt zur Diskussion gestanden. Das im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sich bis nahe an die Inzestgrenze intensivierende Verhältnis von Schwestern und Brüdern hat vor dem Hintergrund der sich nun verstärkt über horizontale Verbindungen organisierenden Verwandtschaft ebenfalls Aufmerksamkeit gefunden.22 Im Unterschied dazu blieben die Handlungsräume der jüngeren Brüder und brüderliche Gefüge eher im Hintergrund. Dem begegnet der Band mit zwei Beiträgen, die brüderliche Beziehungen in den Mittelpunkt stellen und damit ein soziales Feld, das sich nicht nur oder primär über Konkurrenz beschreiben lässt, sondern das weit komplexer strukturiert war. Dies macht Charlotte Zweynert in ihrer Analyse der testamentarischen Regelungen des Francesco Gonzaga aus dem Jahr 1483 deutlich. In einer Sprache des Versicherns wahrte der Testator die Rechte der Brüder, doch setzte er zugleich die Ansprüche seines nicht ehelichen Sohnes durch. Als Zweitgeborener versuchte er, das verwandtschaftliche, vor allem das brüderliche Gefüge über seinen Tod hinaus bestmöglich zu stabilisieren und zu stützen und damit zugleich Macht und Prestige der Gonzaga zu sichern. Der älteste Bruder war als Herrschaftsnachfolger bestimmt, doch hatten die Brüder den Grundbesitz gemeinsam vom Vater geerbt. In seinem Testament beschränkte sich Francesco Gonzaga allerdings keineswegs auf das Zuteilen von Liegenschaften und das Umverteilen von Schulden, sondern sprach seinen Brüdern, seinem Sohn und seinen Neffen ausgewählte, in ihrem Symbolwert hoch zu veranschlagende Gegenstände zu. Charlotte Zweynert zeigt auf, wie diese Dinge und deren Wirkmacht auf jeweils besondere Weise mit dem Amt, der Funktion, der Position des Bedachten in einen Zusammenhang gebracht werden können. Ihnen kommt damit ein ebenso politischer Stellenwert zu wie den Rochaden mit Geld und Gütern. So verbinden sich hier auf Geschlecht und Generation, auf Verwandtschaft und Rechtspraxis gerichtete Forschungsperspektiven mit jenen der materiellen Kultur und deren Bedeutung für die Gestaltung von Verwandtschaftsräumen. 22 Vgl. dazu die Beiträge des Themenhefts „Die Liebe der Geschwister“ von L’Homme. Z.F.G. 13, 1 (2002), hg. von Karin Hausen und Regina Schulte; Christopher H. Johnson, Siblinghood and the Emotional Dimensions of the New Kinship System, 1800–1850: A French Example, in: ders./David Warren Sabean (Hg.), Sibling Relations and the Transformation of European Kinship 1300–1900, New York/Oxford 2011, 189–220, sowie zuletzt das Buch von Leonore Davidoff, Thicker than Water. Siblings and their Relations, 1780–1920, Oxford 2012.
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Sébastien Schick bewegt sich im Umfeld der englisch-hannoverschen Personalunion im Gefolge der englischen Thronbesteigung durch Georg, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, im Jahr 1714. Als Akteure der Macht kommen in seiner Untersuchung jene zwei Brüder in den Blick, die als erste Diener des Herren eingesetzt waren: Gerlach Adolph und Philipp Adolph von Münchhausen. Philipp, der jüngere, hatte von 1748 bis 1761 das Präsidium der deutschen Kanzlei in London inne; Gerlach, der ältere, war in dieser Zeit die Hauptfigur des Geheimen Rates in Hannover. Beide befanden sich demnach, wenn auch nicht ganz gleichrangig, in einer Schlüsselposition gegenüber dem König. Sébastien Schick arbeitet auf Grundlage ihrer Korrespondenz heraus, auf welche Weise diese Brüderbeziehung über die formalisierten diplomatischen Wege und Geschäftsgänge hinaus politisch genutzt wurde, um Einfluss auf den König zu haben und sich seiner Gunst zu versichern. Darüber hinaus wird sichtbar, dass die Brüder ihre Position als Vertraute des Königs auch für eigene Verflechtungsstrategien eingesetzt und instrumentalisiert haben. So treten hier zum einen verschiedene Ebenen der Macht hervor, die miteinander interagiert haben; die Verbindungslinien liefen dabei über die beiden Brüder. Zum anderen wird – entgegen einer anderslautenden These23 – deutlich, dass Geschwisterbeziehungen auch im 18. Jahrhundert politische Bedeutung zukam.
Wahlverwandtschaften? Ausgedehnten Verwandtschaftskonzeptionen stehen zugleich eng gefasste gegenüber: Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 deklarierte in Paragraph 1589 explizit, dass ein nicht ehelich geborenes Kind mit seinem Vater als nicht verwandt gelte. Diese Formulierung diente primär dazu, jeden Anspruch dieser Kinder auf ein väterliches Erbe kategorisch auszuschließen. Erbrecht und -praxis stellen neben Eheverboten einen weiteren im europäischen Kontext wesentlichen Bereich dar, über den Verwandtschaft wirkmächtig definiert wurde.24 Diese Regelung macht zugleich klar, dass eine über das sprichwörtlich ‚dicke Blut‘ konstituierte 23 Sophie Ruppel geht von einem politischen Funktionsverlust von Geschwisterbeziehungen im Zuge des Verstaatlichungsprozesses aus. Sophie Ruppel, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2006, 310. 24 Ernst Holthöfer verweist auf die weitreichenden Erbansprüche Verwandter gegenüber Ehepartnern, die vor allem im Fall von kinderlosen Ehen zum Tragen kamen. Ernst Holthöfer, Die Sozialisierung des Verwandtenerbrechts. Vergleichende Gesetzgebungsgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, in: Lanzinger/Saurer, Politiken der Verwandtschaft (wie Anm. 7), 171–197.
Perspektiven der Historischen Verwandtschaftsforschung
Verbindung jederzeit gekappt werden konnte, wenn dem andere mächtige Interessen entgegen standen. Wie sich die Beziehungen zwischen nicht verheirateten Müttern und Vätern und deren Kindern im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gestalteten, analysiert Jürgen Schlumbohm in seinem Beitrag. Die meisten Mütter, die in der Entbindungsklinik der Universität Göttingen verzeichnet sind, gehörten den unteren städtischen und ländlichen Milieus an, und in den meisten Fällen waren sie nicht mit dem Vater des Kindes verheiratet. Die Kindsväter kamen mehrheitlich aus einem ähnlichen sozialen Kontext. Nur bei wenigen handelte es sich um Studenten, Offiziere oder Männer mit akademischer Ausbildung. Polizei und Armenverwaltung drängten die mittellosen Mütter oftmals, die Väter der Kinder auf Unterhaltszahlungen zu verklagen, um auf diese Weise die Armenkassen zu entlasten, die ansonsten für sie hätten aufkommen müssen. Die Universität versuchte im Gegenzug, ihre Mitglieder und damit zugleich ihr eigenes Ansehen vor den Ansprüchen der Frauen zu schützen. Die Verantwortung für die Kinder blieb in der Regel bei den Müttern. Wie Schlumbohm zeigen kann, wurden sie dabei zum Teil von ihren Verwandten unterstützt: Zahlreiche nicht eheliche Kinder lebten bei ihren Großeltern oder anderen nahen mütterlichen Verwandten. Verwandte des Vaters waren dagegen kaum bereit, sich um die Kinder zu kümmern. Eine Folge dessen war, dass sie insgesamt gesehen viel häufiger bei Fremden lebten als bei väterlichen Verwandten.25 Grundlage dessen war die nachreformatorische Moralisierung der Geschlechterbeziehungen, eine Politik, die maßgeblich auf der Ächtung und Kriminalisierung außerehelicher Sexualität, Schwangerschaft und Geburt aufbaute. Dem gegenüber folgten sowohl die Anerkennung von Kindern, die außerhalb einer Ehe geboren waren, als auch die väterliche und familial-verwandtschaftliche Präsenz und Integration im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit anderen Logiken. In ländlich-bäuerlichen Milieus sahen sich Väter für Erziehung und Versorgung nicht ehelicher Kinder in ihrem Haus verantwortlich, spätestens sobald diese ein gewisses Alter erreicht hatten.26 Die so genannten adeligen „Bastarde“ – ein Begriff, der zeitgenössisch nicht negativ konnotiert war – nahmen je nach politischen Erwägungen und Erfordernissen vielfach militärisch oder diplomatisch wichtige Positionen ein und konnten im Fall eines fehlenden ‚legitimen‘ Nachkommen oder bei dessen frühzeitigem Tod mitunter den 25 Vgl. dazu auch Michael Mitterauer, Verwandte als Eltern. Familienbeziehungen von Ziehkindern im Ostalpenraum, in: Lanzinger/Saurer, Politiken der Verwandtschaft (wie Anm. 7), 99–115. 26 Vgl. Maria Heidegger, Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf. Das Gericht Laudegg in der Frühen Neuzeit – eine historische Ethnographie, Innsbruck/Wien 1999.
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Herrschaftsnachfolger ersetzen.27 Manche Väter unternahmen erhebliche Anstrengungen, um die Zukunft eines nicht ehelichen Sohnes abzusichern – nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich seiner sozialen und familialen Position – wie im Fall des Francesco Gonzaga deutlich geworden ist. In welchen Zusammenhängen auf welche verwandtschaftlichen Relationen rekurriert wurde, hing demnach wesentlich von der konkreten Situation ab, vor allem wenn es um die Konstruktion und Legitimation bestimmter, vornehmlich auf Erbe und Macht ausgerichteter Ansprüche ging. In solchen Kontexten begegnet beispielsweise die Unterscheidung zwischen „einbändigen“, also Halbgeschwistern, und „beidbändigen“, über beide Elternteile verbundenen Geschwistern. Der explizite Verweis auf die „Einbändigkeit“ konnte signalisieren, dass es sich dabei um ein schwächeres Band handelte. Wurden Personen als „Bruder“ oder „Schwester“ angesprochen, ohne dass ein solches Verhältnis vorlag, war dies unter Umständen dazu angetan, Nähe oder Verbindlichkeit herzustellen. Doch konnte es sich bei den als Geschwister Titulierten auch um „die innigsten Feinde“ handeln.28 An die Stelle eines gängigen Begriffs für Schwiegersohn – wie Aiden oder Eidam – trat mitunter die Bezeichnung als „Tochtermann“, über die das Band zur Herkunftsfamilie der Frau explizit gemacht wurde.29 Terminologische Differenzierungen, die in den Quellen vorgenommen werden, sind nicht zufällig oder beliebig; die Verwendung bestimmter Begriffe bildet Interessen ab und kann als Interpretationsschlüssel fungieren, hat demnach heuristische Qualität und nicht selten (macht-)politische Implikationen. Ihre jeweilige Bedeutung ist kontextabhängig. Verwandtschaftspraxis macht unterschiedliche Beziehungsqualitäten ebenso sichtbar wie deren historische Wandelbarkeit und verdeutlicht zugleich, dass Verwandtschaft eine kulturell herstellbare Beziehung ist. Sie konnte 27 Vgl. Simona Slanicka, Bastarde als Grenzgänger, Kreuzfahrer, Eroberer – von der spätmittelalterlichen Alexanderrezeption bis zu Juan de Austria, in: WerkstattGeschichte 51, 1 (2009), 5–21, sowie die Einleitung zu diesem Themenheft dies., Bastarde: Einleitung, in: ebd., 3–5; dies., Bastardromane in Mittelalter und Früher Neuzeit: Vater-Sohn-(Halb) Bruder-Beziehungen als Diskurs und höfische Realität. Tagung AIM-Gender, Männer in Beziehungen, 13.–15. Dezember 2007, Stuttgart, auf: http://www.ruendal.de/aim/tagung07/ pdfs/slanicka. pdf (Zugriff September 2014); Ellen Widder, Konkubinen und Bastarde. Günstlinge oder Außenseiter an Höfen des Spätmittelalters?, in: Jan Hirschbiegel (Hg.), Der Fall des Günstlings: Hofparteien in Europa vom 13. bis 17. Jahrhundert, Ostfildern 2004, 417–480. 28 Gabriela Signori, Geschwister: Metapher und Wirklichkeit in der spätmittelalterlichen Denk- und Lebenswelt, in: Historical Social Research 30, 3 (2005), 15–30, 17. 29 Vgl. Michaela Hohkamp, Schwestern, Schwäger, Schwiegersöhne und Töchter oder ein gemeinsam „bewohnt[es] ehebett“. Heiratsabreden im Ancien Régime, in: L’Homme. Z.F.G. 22, 1 (2011), 109–117, 115.
Perspektiven der Historischen Verwandtschaftsforschung
situativ – entsprechend der jeweiligen Opportunitätsstruktur – mehr oder weniger umfassend sein, bestimmte Verbindungen hervorheben und besonders betonen, andere hingegen negieren und unsichtbar machen – beispielsweise in einer Genealogie.30 Die Frage muss daher immer den Logiken der dahinter stehenden Konstruktionsmechanismen gelten. Elisabeth Timm verfolgt in ihrem Beitrag den Wandel genealogischer Interessen und Techniken, den sie als Übergang von der Reverenz zur Referenz fasst. Damit sind zwei grundsätzlich verschiedene Denkweisen angesprochen: Im Modus der Reverenz diente die genealogische Praxis der Unterscheidung zwischen erwünschten Verwandtschaftsverbindungen und anderen, die ausgeschlossen werden sollten. Kriterien der sozialen Distinktion bestimmten diesen Prozess, der – wie aus adeligen Stammbäumen bekannt – bis zu mythischen Gestalten zurückführen konnte. Bürgerliche Genealogien orientierten sich analog dazu an prestigeträchtigen Vorfahren. Mit den ersten Volksgenealogien kam dem gegenüber der Modus der Referenz ins Spiel, der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Verbreitung der Papierkopie und vor allem der digitalen Datenverarbeitung Konjunktur hat. Das Prinzip der Referenz ist Inklusion, das heißt alle potenziellen Verwandtschaftsverbindungen werden in die Datenbanken aufgenommen. Dies führt Elisabeth Timm zur Frage, ob die populäre Genealogie von heute einen neuen Typus von Familie und Verwandtschaft hervorbringt. Art und Reichweite von Beziehungen, die unter „Verwandtschaft“ subsummiert wurden, unterschieden sich nach zeitlich-räumlichen, sozialen, konfessionell-religiösen, rechtlichen, kulturellen Kontexten und je nachdem, in welchen Legitimations- und Wissensfeldern man sich bewegt. Dies macht es erforderlich, das allzu selbstverständliche Denken in Kategorien von Abstammungs- und Heiratsverwandtschaft stets zu hinterfragen.31
30 Zur Notwendigkeit der genauen Rekonstruktion verschlungener Wege, die Ansprüche und Güter bisweilen nahmen, vgl. Michaela Hohkamp, Eine Tante für alle Fälle. Tanten-Nichten-Beziehungen und ihre Bedeutung für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Lanzinger/Saurer, Politiken der Verwandtschaft (wie Anm. 7), 147–169, 153–161. 31 Vgl. dazu auch Bernhard Jussen, Künstliche und natürliche Verwandtschaft? Biologismen in den kulturwissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft, in: Yuri L. Bessmertny u. Otto Gerhard Oexle (Hg.), Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und der russischen Kultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2001, 40–58, 40, 42. Analog dazu lautet die in der Afrikanischen Geschichte und den Anthropologien erhobene Forderung, „die Bedeutung von Körpersubstanzen für Verwandtschaftsbeziehungen neu zu überdenken“, da es unterschiedlichste Formen und Kriterien für deren Konstituierung geben kann. Michael Schnegg u. a., Verwandtschaft heute: Positionen, Ergebnisse und Forschungsperspektiven, in: Alber u. a., Verwandtschaft heute (wie Anm. 4), 7–44, 11.
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Zum Abschluss: Verwandtschaft als politischer Faktor Dass es sich bei Verwandtschaft um einen politischen Faktor, ein politisches Feld, eine politische Kategorie handelt, braucht mit Blick auf den Adel nicht eigens betont zu werden: wenn man allein an die politischen wie diplomatischen Implikationen und Verflechtungen von Eheanbahnungen und Eheschließungen denkt oder an die durch Konflikte in der adeligen Verwandtschaft eingeschränkte politische Handlungsfähigkeit von Dynastien.32 Doch legen es die vielfältigen Fragestellungen und Ergebnisse der Historischen Verwandtschaftsforschung ebenso wie die Beiträge dieses Bandes nahe, die Perspektiven zu erweitern und von einer Kulturgeschichte des Politischen her zu denken, das heißt, von einem breiteren Politikverständnis und Politikbegriff auszugehen. Verwandtschaft ist vom Mittelalter bis in die Moderne nicht nur als ein politischer Handlungsraum von jenen zu sehen, die auf den ersten Blick als Träger von Macht identifiziert werden können, sondern weit darüber hinaus als eine politische Handlungsressource zu fassen. Politische Wirkmacht kann in Verwandtschaftsnetzen selbst angelegt sein oder sich durch das Kreuzen und Überlappen von Beziehungsräumen konstituieren. Als Medien fungieren dabei nicht nur Sprache, Formen der Repräsentation, sondern auch mit Bedeutung aufgeladene Dinge.
32 Vgl. Ruppel, Verbündete Rivalen (wie Anm. 23), 241.
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Amt – Familie – Netzwerk Zur Gestaltung politischen Handelns im 14. Jahrhundert Sabine von Heusinger
Im Jahr 1385 konnte in Straßburg in letzter Minute ein Volksaufstand abgewendet werden, als das wichtigste Amt der Stadt turnusgemäß neu besetzt werden sollte. Der scheidende Amtsinhaber, ein Bäcker, drohte mit einem Putsch, falls das Amt in die falschen Hände fallen sollte – in den Quellen bleibt unklar, was ihn zu dieser Drohung trieb.1 Im Folgenden möchte ich zeigen, wie durch die Anwendung neuer methodischer Herangehensweisen wie der Netzwerkforschung geschichtliche Ereignisse, die in den Quellen nur am Rande oder lückenhaft erwähnt werden, neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Indem ich mich mit den Familien der Protagonisten und darüber hinaus mit ihren persönlichen Netzwerken beschäftigte, wurden neue Faktoren sichtbar, die im 14. Jahrhundert Einfluss auf das politische Handeln hatten. Obwohl die Quellenüberlieferung des Mittelalters in der Regel eine formale Netzwerkanalyse im strengen Sinn, wie sie etwa in der Soziologie Anwendung findet, nicht zulässt, kann dieser Ansatz dennoch zu einem vertieften Verständnis vormoderner Gesellschaften führen.2 1
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Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 9, hg. v. Carl Hegel, Straßburg 1870, 782–785. Martin Alioth, Gruppen an der Macht. Zünfte und Patriziat in Straßburg im 14. und 15. Jahrhundert. Untersuchungen zu Verfassung, Wirtschaftsgefüge und Sozialstruktur, 2 Bde., Basel 1988, hat sich bei seiner Behandlung des Ammeister-Amtes in Straßburg mit den Jahren von 1372 bis 1385 kurz auseinandergesetzt, vgl. ebd., 471f. Da die Seitenzählung beide Bände umfasst, wird im Folgenden auf die Bandangabe verzichtet. Vgl. auch Sabine von Heusinger, Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg, Stuttgart 2009, 191–195: Hier habe ich schon früher das „Netzwerk Cantzler-Wasicher-Philippes“ untersucht und kann nun weiterführende Ergebnisse vorlegen; ebd., 189, gehe ich auf die städtische Politik zur Zeit des Schismas ein, die hier aber vernachlässigt werden kann. Eine sehr gute und aktuelle Einführung in den Forschungsstand zur Netzwerktheorie bietet Christine Fertig, Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874), Stuttgart 2012, 39–47. Der „Vater der deutschen Netzwerkforschung“, Wolfgang Reinhard, ist gegenüber quantifizierbaren Daten für die Vormoderne ebenfalls sehr zurückhaltend, vgl. ders., Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte, Stuttgart 2009, zum Beispiel 10; in seiner Einleitung kritisiert er den inflationären Gebrauch des Begriffes „Netzwerk“, vgl. dazu 3–15. Die Herangehensweise der Soziologie ist für vormoderne Gesellschaften nur partiell anwendbar, siehe Jens Beckert,
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Sabine von Heusinger
1. Amt Der Straßburger Chronist Jakob Twinger von Königshofen berichtet unter der Überschrift „Drei mächtige Ammeister wurden aus Straßburg vertrieben“, wie im Jahr 1385 in letzter Minute ein Volksaufstand abgewendet werden konnte.3 In den Jahren zuvor war in der Stadt eine besondere politische Situation entstanden: Seit mehreren Jahren wechselten sich die gleichen drei Männer in den Führungspositionen ab. Besonders begehrt war das wichtigste Amt des so genannten Ammeisters, das seit 1349 in Straßburg in der Hand der Zunftgenossen lag. Gemeinsam mit zwei patrizischen Stettmeistern hatte der Ammeister die Führung in der Stadt inne; sie übernahmen gemeinsam den Vorsitz im Ratsgericht und leiteten die Sitzungen des Rates und der Kollegien. Das Führungsamt des Ammeisters, dessen Kompetenzen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Straßburg stetig erweitert wurden, dominierten in den 1380er Jahren drei Männer: Johans Cantzler, Hans Philippes und Walter Wasicher. Jakob Twinger von Königshofen bietet als Zeitgenosse in seiner Straßburger Chronik folgende Erklärung: Als man 1385, wie in jedem Jahr, den Rat sowie Stett- und Ammeister neu wählen wollte, habe Walter Wasicher das Amt des Ammeisters mit dem Argument für sich beansprucht, es sei zum Wohlgefallen oder zum Leid der Gemeinde („der gemeinde liep oder leit“), wenn die drei die Macht weiterhin behielten. Das habe den Brotbäcker Cunz von Geispolsheim so sehr verdrossen, dass dieser gedroht habe, bei der Wahl von Wasicher mit Zunftgenossen vor das Münster zu ziehen und dort selbst einen neuen Ammeister zu wählen. Laut Königshofen fürchtete „man“, dass ein Aufruhr in der Stadt ausbrechen könnte.4 Wie so oft gibt auch diese Chronik nur lückenhaft Auskunft über die zentralen Fragen: Wie kamen die drei an die Macht und wie konnten sie diese absichern? Welche personalen Netzwerke stärkten ihre Führungsrolle in Straßburg und erlaubten einen jahrelangen Machtmissbrauch, der am Ende sogar in Prozessakten seine Spuren hinterlassen hat? Waren noch weitere Personen in die
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Soziologische Netzwerkanalyse, in: Dirk Kaesler (Hg.), Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne, München 2005, 286–312. Obwohl Gesamtnetzwerke für das Mittelalter nicht zu rekonstruieren sind, können egozentrierte oder persönliche Netzwerke rekonstruiert werden, vgl. dazu Bruno Trezzini, Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse. Eine aktuelle Übersicht, in: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), 378–394, hier 380; Vgl. auch unten Anm. 19. „Drige geweltige ammeister wurdent vertriben zuo Strosburg“, in: Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 782–785. „Hievon vorhte men daz ein geschölle möhte werden in der stat“, in: Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 783.
Amt – Familie – Netzwerk
Machenschaften verwickelt? Der exemplarische Fall von 1385 erlaubt Einblicke in Verwandtschaftsnetzwerke, konkurrierende soziale Verflechtungen und deren Instrumentalisierung zur Erlangung von Machtpositionen und wirft ein Schlaglicht auf politische Freundschaftsnetzwerke. Daran schließen sich weiterführende Fragen nach Beziehungskonzepten und der politischen Dimension von Netzwerkbildungen in der Vormoderne an. Seit dem Jahr 1378 hielten in Straßburg drei Männer die politische Macht in ihren Händen: Als Kopf galt Johans Cantzler, der seit 1375 regelmäßig im Rat saß und dort die Goldschmiede vertrat.5 Zweiter im Bunde war Hans Philippes, der seit 1367 für die Gärtner im Rat saß,6 und als dritter der von Königshofen erwähnte Walter Wasicher, der seit 1369 die Schiffleute im Rat vertrat.7 Die politische Partizipation von Zunftgenossen war in Straßburg, wie auch in anderen mittelalterlichen Städten, erst seit dem 14. Jahrhundert möglich. Im Jahr 1332 war es den Straßburger Zunftgenossen gelungen, sich Plätze im Rat zu erkämpfen und anschließend eine Verfassungsänderung zu erzwingen. Zudem wurde das neue Führungsamt des Ammeisters eingeführt, das zuerst bei einem Teil des Patriziats lag, das in Straßburg Constofler genannt wird.8 Seit einem weiteren Verfassungswechsel im Jahr 1349 befand sich das Ammeistertum in den Händen der Zünfte. Wer also nach 1349 das bedeutendste Amt in Straßburg innehaben wollte, musste den Zünften angehören – notfalls wurde dafür ein Wechsel vom Patriziat zu den Zünften in Kauf genommen.9 Dieser Statuswechsel lag vermutlich bei zwei der 5
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Von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 522 mit Quellenbelegen und Archives Municipales de Strasbourg (AMS) IV 88/48–49. Siehe auch die Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 782, 943; Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 153, 471. Von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 2593 mit Quellenbelegen. Siehe auch die Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 943; Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 343, 472. Von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 3718 mit Quellenbelegen. Siehe auch die Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 782, 943; Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 343, 472. Ich benutze für die Straßburger Verhältnisse weiterhin den Begriff „Patriziat“ statt „Stadt adel“, da die Constofler aus „Edlen“ und „Burgern“ (so die Quellenbegriffe) bestanden, weshalb der Begriff „Stadtadel“ leicht in eine falsche Richtung weist und nur auf einen Teil des Straßburger Patriziats, nämlich die Edlen, bezogen werden kann. Auf diese Problematik wies schon Philippe Dollinger hin, Patriciat noble et patriciat bourgeois à Strasbourg au XIVe siècle, in: Revue d’Alsace 90 (1950/51), 52–82. Da es in Straßburg keine Überlieferung gibt, die explizit den Wechsel von den Constoflern zu den Zünften thematisiert, muss hier häufig mit Vermutung gearbeitet werden; sicher ist der Wechsel beispielsweise bei Rudolf Wasicher, dem Onkel des gleichnamigen Protagonisten – vgl. von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 3716 – und bei Heinrich Arge – ebd., Personendatei Nr. 64.
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Untersuchten vor: Walter Wasicher wurde 1378 als Lehnsmann der Herren von Lichtenberg genannt;10 dies legt nahe, dass er früher den Constoflern angehörte. Ähnlich lag auch der Fall bei Johans Cantzler, der die Goldschmiede im Rat vertrat: Bis 1362 zählte noch eine Reihe von Handwerken und Gewerben – wie Goldschmiede oder Harnischmacher – zu den Constoflern.11 Danach mussten diese Handwerker zwangsweise zu den Zünften wechseln, unter ihnen vermutlich auch die Familie von Cantzler. Die drei konnten in einer einmaligen Situation ihre Macht ausbauen. Seit dem Verfassungswechsel von 1332/33 waren sowohl der Rat als auch die Führungspositionen von Ammeister und Stettmeister jährlich neu gewählt worden. Ein Bruch erfolgte im Jahr 1372, als das zehnjährige Ammeistertum eingeführt wurde – die Gründe dafür sind völlig unklar und Königshofen äußert sich sehr nebulös. Er erwähnt nur kurz, dass bei der vormaligen einjährigen Amtszeit der Wechsel erfolgt sei, bevor die Führungsriege überhaupt verstanden habe, wie sie ihre Ämter auszuführen hätte.12 Zum Ammeister auf zehn Jahre wurde 1372 Heinz Arge gewählt, der die Weinleute und Wirte vertrat und ebenfalls 1362 von den Constoflern zu den Zünften gewechselt war. Gleichzeitig mit Arge wurden 1372 Heinrich von Müllenheim, Johans Zorn der Ältere, Johans Schilt und Grosfritsche von Heiligenstein zu Stettmeistern gewählt.13 Die politische Macht sollte eine ganze Dekade lang in der Hand derselben fünf Männer verbleiben, und für die Stettmeister wurde dies, bis auf den Stettmeister Grosfritsche von Heiligenstein, der im April 1374 verstarb, auch umgesetzt. Weder wissen wir, warum 1372 das zehnjährige Ammeistertum eingeführt wurde, das verfassungsgeschichtlich eine einschneidende Änderung darstellte, noch wissen wir, warum Arge schon 1379 durch Johans Cantzler ersetzt wurde und danach nicht mehr ins Amt zurückkehrte. Auch hier gibt sich Königshofen sehr wortkarg. Er berichtet nur beiläufig, Arge habe als einfältiger Mann gegolten und sei erkrankt.14 Deshalb sei Cantzler 10 Urkundenbuch der Stadt Straßburg, bearb. v. Wilhelm Wiegand u. a. 7 Bde. in 9 Teilbdn., Straßburg 1879–1900 (UBS), VII 1859, Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 499. 11 Dazu von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), 186–188. 12 Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 781. 13 UBS (wie Anm. 10), VII Ratslisten Nr. 96–106: Dieselben vier Stettmeister waren für drei Perioden im Amt; im Jahr 1375 wurde der frisch verstorbene Grosfritsche durch Cunz Bock ersetzt, der mit den alten drei bis 1382 als Stettmeister tätig blieb, siehe dazu UBS VII 929, Anm. b. Im Jahr 1382 erfolgte dann auch ein vollständiger Austausch der Stettmeister und man kehrte zum jährlichen Turnus zurück. 14 Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 782; Arge war aber 1381 noch als Vollstrecker der [Hartlieb-]Kurzlieb-Pfründenstiftung tätig und verstarb erst 1383, siehe UBS (wie Anm. 10), VII 1986, 2128.
Amt – Familie – Netzwerk
auch nur als sein Vertreter eingesetzt worden – damit wird deutlich, dass Arge nie offiziell abgesetzt wurde und demnach auch nicht freiwillig zurückgetreten war. In den folgenden Jahren wechseln sich, wie bereits erwähnt, Johans Cantzler, Hans Philippes und Walter Wasicher im Amt des Ammeisters ab. 1384 wurde jedoch ein Bäcker Ammeister, der eingangs erwähnte Cunz von Geispolsheim. Als bekannt wurde, dass ihm Walter Wasicher im Amt folgen sollte, kam es zu einem Tumult. Straßburg hatte bereits 1332 und 1349 Aufstände erlebt, die jeweils mit einem Verfassungswechsel endeten, und man fürchtete auch jetzt eine ähnliche Entwicklung. Der Rat setzte deshalb 1384/85 heimlich eine Untersuchungskommission ein, die aus „edeln, burgern und antwerken“, also aus Constoflern und Zunftgenossen bestand, und das Trio wurde verurteilt: Wasicher und Philippes wurden für zehn Jahre verbannt.15 Cantzler hielt sich zu diesem Zeitpunkt außerhalb Straßburgs auf. Auf seinen Kopf wurde eine große Summe ausgelobt für denjenigen, der ihn tot oder gefangen nach Straßburg zurück bringe. Er kehrte eigenständig zurück, wurde zu enormen Strafzahlungen an die Stadt verurteilt, für ewig aus dem Bistum verbannt und floh nach Freiburg, wo sich seine Spuren verlieren.16 Cantzler, Philippes und Wasicher hatten sich reihum das Amt des Ammeisters zugespielt; dies hatte sicherlich Missgunst, Neid und Ablehnung geweckt, aber eine so harte Strafe lässt sich damit nicht erklären.
15 Königshofen berichtet, dass „nüne wise erber manne“ eingesetzt wurden; vor diese Kommission wurden Wasicher und Philippes geladen und durften sich äußern, bevor sie verurteilt wurden. Da Cantzler nicht in der Stadt war, konnte er nicht vernommen werden; siehe Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1), 783f. Laut Edition im Urkundenbuch wurden „Philippus, Hans und Walter Wassicher“ verbannt, siehe UBS (wie Anm. 10), VI 258: 1385 Febr. 3; ich halte das Komma nach Philippus für einen Fehler des Editors und gehe davon aus, dass es sich nur um zwei Personen (Hans Philippes und Walter Wasicher) handelte. Zum Folgenden vgl. auch Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 472. 16 Am 19. Dezember 1385 wird er auf ewig aus Stadt und Bistum verwiesen, seine Frau darf Widemgut und ein Drittel des Gutes nur unter der Bedingung behalten, dass er Besserung schwört, sonst wird alles konfisziert, so UBS (wie Anm. 10), VI 294, 1385 Dez. 19, nach Wencker. Am gleichen Tag soll er vor dem Rat in Freiburg abschwören; UBS VI 295. Im August hatten er und seine Frau dem Dekan und Kapitel für 92 Pfund Pfennig eine Rente verkauft, sie waren beide bereits in Freiburg, in der Diözese Konstanz, wohnhaft; UBS VII 2214.
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2. Familie Für die Vormoderne wird immer wieder die Bedeutung von Familiennetzwerken betont.17 Auf Verwandtschaftsnetzwerke kann auch dann zurückgegriffen werden, wenn sie längere Zeit inaktiv waren, da diese Form der Beziehung auf einem „normativen Verpflichtungsgehalt des Verwandtseins“ basiert und sich von allen anderen sozialen Beziehungen durch ihre besondere Qualität unterscheidet. 18 Umfangreiche Quellen zu Verwandtschaftsbeziehungen im Mittelalter sind am ehesten aus (hoch-)adligen Familien überliefert.19 Für die Bewohner einer Stadt gilt dies nur in sehr viel beschränkterem Umfang, selbst dann, wenn man wie die jüngere Forschung von einem erweiterten Verwandtschaftsbegriff ausgeht und beispielsweise auch Heirats- oder Patenschaftsbeziehungen unter „Familie“ subsummiert.20 Von den Bewohnern einer mittelalterlichen Stadt kennen wir in aller Regel keine Paten, da Taufregister entweder gar nicht geführt oder nicht überliefert wurden. Einzelne Familienmitglieder lassen sich häufig nur in dem 17 Zum Folgenden siehe den Sammelband von Johannes F. K. Schmidt u. a. (Hg.), Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme, Konstanz 2007; vgl. hierin insbes. den Beitrag von Kerstin Seidel u. Peter Schuster, Freundschaft und Verwandtschaft in historischer Perspektive, 145–156; siehe auch Michael Wagner u. Yvonne Schütze (Hg.), Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema. Stuttgart 1998, hier besonders die Einleitung von Yvonne Schütze u. Michael Wagner, Verwandtschaft – Begriff und Tendenzen der Forschung, 7–16; und ebd. aus wissenschaftshistorischer Sicht Heidi Rosenbaum, Verwandtschaft in historischer Perspektive, 17–33. 18 Frank Rexroth u. Johannes F. K. Schmidt, Freundschaft und Verwandtschaft: Zur Theorie zweier Beziehungssysteme, in: Schmidt, Freundschaft (wie Anm. 17), 7–14, hier 9. 19 Siehe beispielsweise die Studien von Cordula Nolte, Familie, Hof und Herrschaft. Das verwandtschaftliche Beziehungs- und Kommunikationsnetz der Reichsfürsten am Beispiel der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach (1440–1539), Ostfildern 2005; Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, Stuttgart 1993. Eine beneidenswerte Quellenlage zu Beginn des 15. Jahrhunderts liegt zu den Medici aus Florenz vor; diese ermöglichte eine idealtypische historische Netzwerkanalyse: John F. Padgett u. Christopher K. Ansell, Robust Action and the Rise of the Medici, 1400–1434, in: American Journal of Sociology 98 (1993), 1259–1319. Für die Kenntnis von spätmittelalterlichen Stadtbewohnern im Deutschen Reich ist folgende ältere Literatur immer noch von Interesse: Heinrich Rüthing, Höxter um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft, Paderborn 1986, insbes. 22–38; und Erich Maschke, Soziale Gruppen in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, in: Josef Fleckenstein u. Karl Stackmann (Hg.), Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter, Göttingen 1980, 127–145. 20 Das aus Quellenmangel resultierende Nicht-Wissen von Patenbeziehungen im Mittelalter wird in der Frühneuzeitforschung leider häufig übersehen, vgl. zum Beispiel Fertig, Familie (wie Anm. 2), 61–69.
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Augenblick namentlich fassen, in dem ein Notar sie in einer Urkunde aufnimmt. Damit ist der Kreis der in der Überlieferung erwähnten Familienmitglieder von vornherein häufig auf diejenigen beschränkt, die etwas kaufen/verkaufen oder erben/vererben. Von Besitzlosen erfahren wir so gut wie nichts – und schon gar nicht, wer ihre nächsten Verwandten waren. Diese Vorüberlegungen decken sich mit den Kenntnissen über die Familiennetzwerke der drei Straßburger Protagonisten, die hier im Mittelpunkt stehen: Durch die Überlieferungslage sind die Informationen stark begrenzt und viele nahe liegende Fragen müssen offen bleiben. Dennoch lassen auch die wenigen überlieferten Informationen wichtige Schlüsse zu. Walter Wasicher stammte aus einer Familie, die regelmäßig im Rat vertreten war: Sein Bruder Heinrich Wasicher saß 1358 und 1368 für die Schiffleute im Rat.21 Beide Brüder waren Lehnsmänner der Herren von Lichtenberg.22 Walter war seit 1369 ebenfalls immer wieder Vertreter im Rat und wurde mit vielfältigen politischen Aufgaben betraut.23 So reiste er beispielsweise 1383 als Gesandter der Stadt zum Städtetag in Würzburg und zum Reichstag in Nürnberg. Er gehörte also zu denjenigen sozialen Aufsteigern, die sich aktiv um den Erwerb von Herrschaftsrechten über Lehen und Ämter bemühten, vermutlich strebte er auch nach entsprechendem Besitz.24 Äußerst aussagekräftig ist der Lebenslauf seines Onkels Rudolf Wasicher, genannt Rüfelin: Dieser vertrat 1357 die Constofler im Rat, wechselte dann zur Zunft der Schiffleute und wurde 1368 Ammeister!25 Von einem Wechsel vom Patriziat zu den Zünften profitierten beide 21 UBS (wie Anm. 10), VII Ratslisten; von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 3714. 22 UBS (wie Anm. 10), VII 1859; siehe auch Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 499. 23 Von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 3718. Leider lässt sich eine gemeinsame Handelstätigkeit der beiden Brüder nicht nachweisen; vorstellbar wäre ein „Netzwerkhandel“ wie beim Basler Kaufmann und Ratsherrn Ulrich Meltinger und seinen Familienangehörigen; vgl. dazu Matthias Steinbrink, Netzwerkhandel am Oberrhein – Kaufmännische Buchhaltung und Organisationsform am Beispiel Ulrich Meltingers, in: Gerhard Fouquet u. Hans-Jörg Gilomen (Hg.), Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters, Ostfildern 2010, 317–331. 24 Zu Walter Wasichers Vermögen ist überliefert, dass er 1378 auf 101 Jahre Hof, Haus und Garten in der Gansau für 80 lib. den. verkaufte; dazu UBS (wie Anm. 10), VII 1859. Bei seiner Verbannung hinterließ er über tausend Pfund Pfennig Schulden; dazu AMS (wie Anm. 5), III 3,15. Zum sozialen Aufstieg in die Führungsriege und dem Streben nach Reichtum siehe Gerhard Fouquet, Stadt-Adel. Chancen und Risiken sozialer Mobilität im späten Mittelalter, in: Günther Schulz (Hg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 2002, 171–192. 25 UBS (wie Anm. 10), VII Ratslisten. Personendatei Nr. 3716; für weitere Informationen zu Walter Wasichers Verwandten siehe von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), 191 und Personendatei Nr. 3717f.
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Seiten: Einem ehemaligen Constofler war es nun möglich, das wichtigste politische Amt des Ammeisters einzunehmen, und die Zünfte erhielten im Gegenzug Zuwachs von Männern, die bereits über politische Erfahrung verfügten und für die Führungsposition in der Regel auch durch entsprechendes Vermögen geeignet waren. Schon Max Weber hat auf die Abkömmlichkeit hingewiesen: Politische Ämter konnte ein Zunftgenosse in der Vormoderne nur übernehmen, wenn er in seiner Werkstatt oder am Verkaufsstand abkömmlich war. Der zweite Protagonist war Hans Philippes. Er saß seit 1367 für die Gärtner, die eine politisch eher unbedeutende Zunft waren, im Rat. Dies lässt sich an verschiedenen Indikatoren festmachen: Ihr Handwerk benötigte keine Kapitalreserven, wie sie beispielsweise für Kürschner oder Metzger nötig waren; in der öffentlichen Wahrnehmung, etwa bei Prozessionen, nahmen sie eine nachgeordnete Position ein, und, last, not least, durften sie nur ein einziges Mal, in einer historisch einmaligen Konstellation, das Führungsamt des Ammeisters besetzen.26 Der Gärtner Philippes war seit 1374 wiederholt Pfleger des Hospitals gewesen; dies war ein Amt, das hohes Ansehen genoss und in der Regel von führenden Personen der städtischen Gesellschaft ausgeübt wurde. Arnd Reitemeier wies jüngst darauf hin, dass meistens Kaufleute und sehr viel seltener Handwerker dieses Amt innehatten; auch dies ist ein wichtiger Hinweis auf die außergewöhnliche Position von Hans Philippes.27 Dank der Unterstützung von Wasicher und Cantzler ging er in die Straßburger Geschichte als einziger Gärtner ein, der im Jahr 1380 Ammeister wurde. Er hat die geringsten Spuren in den Quellen hinterlassen. Am spannendsten ist die familiäre Einbindung von Johans Cantzler. Wahrscheinlich stammte auch er aus einer patrizischen Familie, die 1362 zu den Zünften gewechselt war. Vermutlich saß er bereits 1363 für die Goldschmiede im Rat,
26 Vgl. dazu von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), 148–159. Zur Hierarchie bei Prozessionen siehe auch dies., Die Handwerksbruderschaften in Straßburg, in: Sabine Klapp u. Sigrid Schmitt (Hg.), Städtische Gesellschaft und Kirche im Spätmittelalter. Kolloquium Dhaun 2004, Stuttgart 2008, 123–140. 27 Arnd Reitemeier, Kaufleute als Verwalter der Kirche. Wirtschaften im Netzwerk der spätmittelalterlichen Stadt, in: Mark Häberlein u. Christof Jeggle (Hg.), Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz 2010, 209–226, insbes. 209. Die Bedeutung des Hospitalpflegers wird in Straßburg auch fassbar bei Ritter Johans von Wickersheim, der 1398 als Pfleger des Hospitals belegt ist, siehe UBS (wie Anm. 10), VII 2892; er war 1376 gemeinsam mit Johans Cantzler Gesandter der Stadt an den kaiserlichen Hof (UBS V 1249) und 1385 Stettmeister; vgl. dazu UBS VII Ratslisten; oder der Hausgenosse Reimbold von Kageneck, der zwischen 1349 und 1360 wiederholt als Pfleger belegt ist, zum Beispiel UBS VII 572, 574, 595, 610, 635, 642, 741, 905, 968.
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sicher aber ständig seit 1375, sooft eben eine Wiederwahl möglich war.28 Zudem machte er sich als Finanzier in Straßburg einen Namen. Gemeinsam mit der Bankiersfamilie Pfaffenlapp tätigte er 1382 umfangreiche Finanzgeschäfte mit den Herren von Ochsenstein. Damit finanzierte er einen der Hauptgegner von Straßburg, der die Stadt immer wieder in Kriege verwickelt hatte. Ebenso lieh er dem hochverschuldeten Bischof Geld – auch er war ein stetiger Gegenspieler der Stadt. Damit erfüllte Cantzler von allen drei Protagonisten am eindeutigsten das Kriterium des Reichtums, das eine Voraussetzung für sozialen Aufstieg war.29 Statt zehn Jahre wie seine Mitverschwörer wurde er auf ewig verbannt – dies war eine Reaktion auf seine Finanzgeschäfte, die der Stadt vehement geschadet hatten. Johans Cantzler hatte einen Sohn mit Namen Ditsch, der in Straßburg zuerst Kanoniker in Jung-St. Peter war und dann zum Kanoniker im reichsten und vornehmsten Stift der Stadt, St. Thomas, gewählt wurde. Diese Wahl war nicht regulär verlaufen, wie ein Schreiben aus dem Jahr 1384 verrät.30 Darin gelobten vier Gewährsmänner, nämlich Cunz Rebstock, der Ritter Lienhart Zorn, Burkard Meiger und Conrad Armbruster, dem Kapitel von St. Thomas, für einen möglichen Schaden aufzukommen, der dem Stift durch die Wahl von Ditsch entstehen könnte. Alle vier gehörten der Straßburger Führungsriege an und hatten politische und fiskalische Führungsposten inne.31 Der erste Gewährsmann Cunz Rebstock wird im weiteren Verlauf noch eine zentrale Rolle spielen – hier genügt vorerst die Information, dass er Johans Cantzlers Schwiegersohn und damit der Schwager von Ditsch war und zudem Rentmeister der Stadt. Der zweite Gewährsmann Ritter Lienhard Zorn saß immer wieder im Rat oder hatte mehrfach das Amt des Stettmeisters inne. Der dritte, Conrad Armbruster, war gemeinsam mit Walter 28 Hier weiche ich von meiner (älteren) Personendatei ab, siehe von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Nr. 522 mit allen Quellenbelegen; ich vermute inzwischen, dass er bereits 1363 im Rat saß; dazu UBS (wie Anm. 10), VII Ratslisten, hier Nr. 87. 29 Fouquet, Stadt-Adel (wie Anm. 24), betont auf 180–184, dass auch das Alter des Reichtums für die Aufnahme in stadtadlige Zirkel von großer Bedeutung war; leider habe ich keine weiteren Angaben zu Cantzlers Herkunftsfamilie; zur sozialen Bedeutung von Reichtum siehe auch Jürgen Ellermeyer, „Schichtung“ und „Sozialstruktur“ in spätmittelalterlichen Städten. Zur Verwendung sozialwissenschaftlicher Kategorien in historischer Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), 125–149, insbes. 138–141. 30 Zu Ditsch Cantzler siehe UBS (wie Anm. 10), VII 2136. 31 Zum Folgenden siehe UBS (wie Anm. 10), VII Ratslisten; zu Zorn siehe UBS VII 2263, 2411, 2454, 2576, 2592; und Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 187; zu Armbruster vgl. von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), Personendatei Nr. 74; zu Meiger siehe UBS (wie Anm. 10), IV. 2, Nr. 3 § 508; UBS V 333; UBS VI 58; UBS VII 2214; und Alioth, Gruppen (wie Anm. 1), 152–159. Meiger war 1390 in den Prozess gegen Johannes Malkaw verwickelt; vgl. dazu Michael Tönsing, Johannes Malkaw aus Preußen (ca. 1360–1416), ein Kleriker im Spannungsfeld von Kanzel, Ketzerprozess und Kirchenspaltung, Warendorf 2004, 383f.
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Wasicher als Städtebote im Einsatz gewesen und wurde später, in den 1390er Jahren, zweimal zum Ammeister gewählt. Während der Amtszeit Rebstocks als Rentmeister war er Lohnherr und damit neben diesem der mächtigste Finanzbeamte der Stadt. Rebstock hatte ihm beispielsweise im Jahr 1383 die städtische Abrechnung vorgelegt. Burkard Meiger, der vierte Gewährsmann, war der Amtsvorgänger Rebstocks als Rentmeister gewesen. Noch im Jahr 1385 treten unter anderem Burkard Meiger und Cunz Rebstock bei einem Rentenkauf von Johans Cantzler als Mitschuldner auf. Leider schweigen die Quellen über den Vornamen der Tochter von Johans Cantzler, die mit besagtem Cunz Rebstock verheiratet war. Cunz gehörte einer reichen patrizischen Familie an und hatte seit 1382 das Amt des Rentmeisters inne.32 Damit zählte er zu den am höchsten bezahlten Amtsleuten der Stadt, da er die gesamten städtischen Steuereinnahmen verwaltete, die Einkünfte der Stadt einzog und in ihrem Namen Käufe tätigte. Zudem verwaltete er die Aufzeichnungen über die städtischen Vorräte an Nahrungsmitteln und führte das Bürgerbuch. Johans Cantzler hatte also nicht nur Ämter und Reichtum angehäuft, sondern wusste auch das Instrument des Konnubiums geschickt einzusetzen, indem er seine Tochter mit einem Sohn der einflussreichen Familie Rebstock verheiratete.33 Im Jahr 1384 stellte Cunz Rebstock gemeinsam mit seinem Schwiegervater Cantzler dem Straßburger Bischof Friedrich II. von Blankenheim, der ständig in Finanznöten steckte, einen Kredit von 150 Mark Silber bereit.
3. Netzwerk In den beiden vorangegangenen Abschnitten standen Ämterbesetzungen und Familienbeziehungen im Mittelpunkt. In den Quellen werden mittelalterliche Personen-Netzwerke beispielsweise über Eheschließungen, Verwandtschaftsbeziehungen, Vormundschaften, Nachbarschaften oder Kaufverträge und Testamente fassbar; von Interesse sind aber auch „vorübergehende Zweckgemeinschaft(en) jeglichen Motivs“.34 Nicht nur bei Zweckbündnissen wie dem gemeinsamen Streben 32 Zu Cunz Rebstock als Rentmeister siehe Karl-Theodor Eheberg, Urkunden und Akten, Strassburg 1899, Nr. 159.4; zur Anklageschrift siehe AMS (wie Anm. 5), IV 88/48–49; zum Kredit an Bischof Friedrich II. von Blankenheim siehe UBS (wie Anm. 10), VII 2143. 33 Eine ausführliche Diskussion der Rolle des Konnubiums und seiner „gruppenbildend(en) und -stabilsierend(en)“ Funktion bei Fouquet, Stadt-Adel (wie Anm. 24), 189–191. 34 Die Untersuchung der Mitglieder des Kleinen Rates in Basel am Ende des 16. Jahrhunderts weist zum Teil spannende Parallelen zu Straßburg im 14. Jahrhundert auf, siehe dazu Samuel Schüpbach-Guggenbühl, Schlüssel zur Macht. Verflechtungen und informelles
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nach städtischen Ämtern, sondern auch bei „freiwilligen Bündnissen“ wie einer Heirat entstanden gegenseitige Abhängigkeiten und gegenseitige Verpflichtungen. Es wurde bereits deutlich, dass Cantzler, Wasicher und Philippes nicht nur miteinander, sondern auch mit weiteren Führungspersönlichkeiten der Stadt eng vernetzt waren. Aber auch Cunz Rebstock, Cantzlers Schwiegersohn, war eng mit den dreien verwoben: Bereits 1378 hatte er beispielsweise einen Garten, der an das Grundstück von Hans Philippes angrenzte, gekauft.35 1385 wurden deshalb nicht nur die drei, sondern auch Cunz Rebstock gestürzt. Die Anklagepunkte gegen ihn sind detailliert in einer Handschrift des Straßburger Stadtarchivs überliefert. Es geht um die Unterschlagung von Geld, die gezielte Vernichtung von Beweismaterial, Meineid und Korruption.36 In der Anklageschrift, die vom Rat verfasst wurde, werden in einem ersten Teil die Zeugen namentlich genannt und ihre Aussagen zusammengestellt. Wiederholt berichten sie, wie sie fällige Geldbeträge direkt an Cunz Rebstock als Straßburger Rentmeister zahlten. Danach erhielten sie eine Aufforderung, endlich ihre Schulden bei der Stadt zu begleichen. Dieses Spiel trieb Rebstock sogar mit dem Straßburger Schultheißen Claus von Grostein, dessen Zahlung er ebenfalls veruntreute. Rebstocks Vergehen haben in einem Fall Konsequenzen bis zum heutigen Tag: Seit den 1380er Jahren konnte der Kauf des Bürgerrechts nicht mehr nachvollzogen werden, das einbezahlte Geld steckte er vermutlich in die eigene Tasche. Um dies zu vertuschen, zerstörte er das Bürgerbuch und damit eine äußerst wertvolle Quelle zur Geschichte Straßburgs! Im zweiten Teil der Anklageschrift werden weitere Punkte zusammengestellt, hier jedoch in anonymisierter Form, die mit den Worten „ein erber man het geseit“ eingeleitet werden. Es handelt sich also um einen Zeugen, der so prominent ist, dass er nicht genannt werden möchte. Das „System Rebstock“ findet sich auch in diesen Vorwürfen: Selbst wenn Rebstock eine Einzahlung ins Rechnungsbuch eintrug, forderte er kurze Zeit später erneut die Zahlung. Er besaß die Dreistigkeit, selbst die Zahlung des Bischofs von zwölf Mark Silber an Rebstock und seinen Schwiegervater zu unterschlagen. Zudem werden Beispiele für Korruption genannt: „Geschenke“ wie Tuch für einen Mantel oder eine silberne Kanne wurden bei Rebstock abgegeben; dies war auch üblich, wenn man seinen Schwiegervater erzürnt hatte. In diesem Abschnitt finden sich auch der Vorwurf des Meineids und der Hinweis darauf, dass Rebstocks Ehefrau von den Betrügereien sowohl ihres Mannes als auch ihres Vaters gewusst hatte. Verhalten im Kleinen Rat zu Basel, 1570–1600, 2 Bde., Basel 2002, hier Bd. 1, 163; siehe auch 163–172. 35 UBS (wie Anm. 10), VII 1827. 36 Die zwei Teile der Anklageschrift gegen Rebstock in AMS (wie Anm. 5), IV 88/48–49.
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Die Analyse von Johans Cantzlers persönlichem Netzwerk hat gezeigt, wie geschickt er sein soziales Umfeld gestaltet hatte. In Cunz Rebstock hatte er einen einflussreichen und finanzkräftigen, aber auch kriminellen Schwiegersohn gefunden, sein Sohn gehörte dem vornehmsten Stift von Straßburg, St. Thomas, an. Cantzler strebte aber nicht nur nach sozialer Anerkennung, sondern auch nach wirtschaftlichem Erfolg. Mit seinen Finanzgeschäften trat er in engen Kontakt zu weltlichen und geistlichen Herren und konnte auf deren Unterstützung hoffen. Und schließlich konnte er durch die enge Beziehung zu Walter Wasicher und Hans Philippes seine politische Karriere und seine städtischen Ämter absichern und insgesamt seine einzigartige Machtposition festigen.
4. Fazit Am Ende meiner Untersuchung erscheint die Drohung des Bäckers Cunz von Geispolzheim aus dem Jahr 1385, einen Putsch anzuzetteln, wenn ihm Johans Cantzler, Walter Wasicher oder Hans Philippes im Amt als Ammeister folgen sollten, recht nachvollziehbar. Seine Befürchtungen, der Stadt drohe weiterer Schaden, waren durchaus begründet, wie die Jahre seit 1379 gezeigt hatten, als Cantzler zum ersten Mal Ammeister geworden war. Die drei hatten ein nahezu undurchdringliches Geflecht an persönlichen Beziehungen, Verpflichtungen und Abhängigkeiten über die Straßburger Gesellschaft gelegt und hielten im Verbund mit Cunz Rebstock die Politik und ihre Finanzen in weiten Bereichen fest in ihrem Griff. Alle vier waren untereinander vielfach ‚verflochten‘, aber sie hatten über die Jahre auch ein weit gespanntes Netz von einflussreichen Verwandten, Freunden und Gönnern aufgebaut. Trotz der lückenhaften Überlieferung, wie sie für das Spätmittelalter üblich ist, konnten wichtige Verbindungen innerhalb dieser Netzwerke untersucht werden. Am exemplarischen Fall des Johans Cantzler zeigte sich, wie eine geschickte Heirats politik das Machtstreben des Vaters unterstützte und er sich nicht nur über seine Tochter mit der Führungselite der Stadt, sondern über seinen Sohn auch mit den klerikalen Netzwerken seiner Zeit verbinden konnte. Dabei spielte eine Zugehörigkeit zu den Zünften oder zum Patriziat keine Rolle. Sein Schwiegersohn, der die städtische Finanzbehörde leitete, ermöglichte Cantzler außerdem, seinen persönlichen Reichtum zu vergrößern und durch Einsatz seiner Geldmittel finanzielle Abhängigkeiten politischer Akteure zu schaffen. So befand sich der ständig von Finanznöten geplagte Straßburger Bischof plötzlich in einer unheilvollen Beziehung zu Cantzler und Rebstock. Die beiden unterstützen im Bischof einen der wichtigsten Gegner der Stadt, die weiterhin nach Emanzipation von ihrem alten Stadtherrn strebte.
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Diese engen personalen Netzwerke lassen sich für das Jahr 1385 von anderen städtischen Verbänden abgrenzen: In Straßburg gab es konkurrierende Gruppen, die ebenfalls die Führungspositionen beanspruchten und im Bäcker Cunz von Geispolsheim ein Sprachrohr gefunden hatten. Seit das Ammeistertum 1349 in der Hand der Zünfte lag, war es den Bäckern zeitnah gelungen, bereits 1352 das Amt zu besetzen.37 Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts gehörten die Bäcker zu den einflussreicheren Zünften, die im Konflikt von 1385 ihre alte Position beanspruchten und deshalb massiv und öffentlich gegen das Netzwerk des Trios vorgingen. Nachfolger von Cunz von Geipolsheim wurde Claus Meiger, ein unabhängiger Schiffmann, der in keiner nachweisbaren Beziehung zu dem Trio stand.38 Die drei und Rebstock wurden entmachtet, verurteilt und verbannt. Im Untersuchungszeitraum sind also nicht nur Verflechtungen von Einzelpersonen und Familienverbänden fassbar, sondern auch deren enge Verflechtung mit Politik, Kirche und Wirtschaft in Straßburg. Damit wurde zum einen sichtbar, dass der Ansatz der Netzwerkanalyse auch bei einer lückenhaften Überlieferung zu grundlegend neuen Erkenntnissen führen kann. Zum anderen zeigte sich erneut, welch hohen Grad an Verflechtung und Komplexität mittelalterliche Gesellschaften aufwiesen.
37 Vgl. von Heusinger, Zunft (wie Anm. 1), 154–159. 38 UBS (wie Anm. 10), VII Ratslisten, Nr. 109.
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Ausgleichende Verfügungen, verbindende Gegenstände, konkurrierende Interessen Das Testament des zweitgeborenen Francesco Gonzaga aus dem Jahr 1483 Charlotte Zweynert
Ein „Salzfass aus dem Horn eines Einhorns“, „einen kleinen, in ein goldenes Ringlein eingefassten Diamanten, den ich an den Zeigefingern zu tragen pflegte“ und einen „Baldachin […] zu einem Bett aus Satintüchern für die Kraft im Brautbett“1 – dies sind nur einige der zahlreichen bemerkenswerten Gegenstände, die Kardinal Francesco Gonzaga (1444–1483), Bischof von Mantua und der zweitgeborene Sohn von Markgraf Ludovico Gonzaga (1414–1478) und Barbara von Brandenburg (1422–1481), in seinem 52 Absätze umfassenden Testament detailliert beschrieb und hinterließ, als er im Oktober 1483 starb.2 Im Folgenden soll untersucht werden, wie Francesco als nachgeborener Angehöriger der Gonzaga-Familie 1
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Testament Francesco Gonzagas, Absätze (Testament, Abs.) 15, 18, 21 (Übersetzung aus dem Lateinischen von Astrid Reinecke), zitiert hier wie auch im Folgenden nach der transkribierten und publizierten Fassung in: David S. Chambers, A Renaissance Cardinal and His Worldly Goods. The Will and Inventory of Francesco Gonzaga (1444–83), London 1992, 132–141. Das Originalmanuskript liegt im Archivio di Stato in Mantua. Zum Archiv der Gonzaga vgl. Axel J. Behne, Das Archiv der Gonzaga von Mantua im Spätmittelalter, Marburg 1990. Das Dokument wurde einen Tag vor seinem Tod unterschrieben. Da der Testator selbst körperlich zu schwach war, um es zu unterzeichnen, taten dies für ihn anwesende Zeugen. Im Testament wird ausdrücklich betont, dass er zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zwar durch den körperlichen Zustand auf Hilfe angewiesen, aber gesund im Geiste gewesen sei („sanus mente et sensu corpore tamen eger“, Testament, Abs. 1; ebenso in Abs. 49 und 50). Chambers verweist darauf, dass es undenkbar ist, dass das Dokument erst einen Tag vor dem Tod des Kardinals aufgesetzt wurde. Er geht vielmehr davon aus, dass es schon einige Zeit vorher vorbereitet worden war und nur noch vor und von Zeugen unterschrieben werden musste. Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 96. David Chambers hat in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu Francesco Gonzaga unter anderem seine Karriere als Kardinal, seine finanziellen Probleme und seine kulturellen Betätigungen als Sammler und Kunstpatron sowie die Verwaltung seines Nachlasses untersucht. All diese Aspekte werden hier daher nicht ausführlich thematisiert. Das Gleiche gilt für Personen, die im Testament vorkommen und nicht den Gonzaga angehörten (wie zum Beispiel verschiedene Geistliche
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in seinem Testament Beziehungen zu seinen Brüdern, seinem Sohn und seinen Neffen aushandelte und herstellte.3 Damit ordnet sich der Aufsatz in die neuere Verwandtschaftsforschung ein, die sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie verwandtschaftliche Beziehungen konstituiert wurden.4 In Bezug auf die Erforschung des Hochadels stellt sie nicht mehr allein den Herrscher und seinen Nachfolger in den Vordergrund, sondern analysiert verwandtschaftliche Verflechtungen.5 Sie nimmt somit auch die Perspektiven anderer Akteure ein, wie jene von Ehefrauen, Schwestern, Tanten, Neffen, Nichten und jüngeren Brüdern.6 Margareth
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und Diener). Vgl. dazu David S. Chambers, Renaissance Cardinals and their Worldly Problems, Aldershot 1997. Gadi Algazi wendet zwar ein, Aushandeln, negotiating, sei „only an imperfect metaphor which might imply a too transactional view of social relations. It might suggest an image of fully formed actors facing each other and bargaining meanings and implications external to them, as if participants themselves were not already imbued by forces of social compulsion and cultural perceptions.“ Gadi Algazi, Introduction. Doing Things with Gifts, in: ders., Valentin Groebner u. Bernhard Jussen (Hg.), Negotiating the Gift. Pre-modern Figurations of Exchange, Göttingen 2003, 9–27, 27. Der Begriff des Aushandelns wird hier dennoch verwendet, um die „prozesshafte und ergebnisoffene Dimension“ des Vererbens als einer sozialen und materiellen (Trans-)Aktion zu betonen. Vgl. Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung zwanzig Jahre nach Jack Goodys „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, 275–324; Margareth Lanzinger u. Edith Saurer, Politiken der Verwandtschaft. Einleitung, in: dies. (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 7–22; David W. Sabean u. Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to Long Term Development, in: dies. u. Jon Mathieu (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York/Oxford 2007, 1–32. Vgl. unter anderem Michaela Hohkamp, Transdynasticism at the Dawn of the Modern Era. Kinship Dynamics among Ruling Families, in: Christopher H. Johnson u. a. (Hg.), Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond. Experiences Since the Middle Ages, New York/Oxford 2011, 93–105; Dorothea Nolde u. Claudia Opitz (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2008; Sabean/Teuscher/Mathieu, Europe (wie Anm. 4); Stephanie Marra, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2007; Claudia Nolte, Familie, Hof und Herrschaft. Das verwandtschaftliche Beziehungs- und Kommunikationsnetz der Reichsfürsten am Beispiel der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach (1440–1530), Ostfildern 2005; Sylvia Schraut, Das Haus Schönborn. Eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640–1840, Paderborn 2005; Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1993. Auf die Notwendigkeit, diese Akteure und ihre Interaktionen stärker als bisher zu berücksichtigen, wiesen David Sabean und Simon Teuscher 2007 hin: „One way to get at the dynamics of kin would be to examine crucial dyads in the various societies, looking at
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Lanzinger und Edith Saurer haben darauf hingewiesen, dass die so in den Blick geratenden verwandtschaftlichen Allianzen, Beziehungen und Konkurrenzen keiner „einheitlichen Norm“ folgen, sondern sich durch „Vielfalt und Flexibilität, […] Dezentriertheit und Mehrdimensionalität“ auszeichnen, „die sich oft erst in mühsamer Kleinarbeit erschließen.“7 In Bezug auf hochadelige Geschwisterbeziehungen, die erst in den letzten Jahren in den Fokus historischer Forschungen gerückt sind,8 hat Sophie Ruppel in ähnlicher Weise argumentiert, dass „Bruderoder Schwester-Sein“ keine überzeitliche, anthropologische Konstante darstellt, sondern aus der genauen Analyse des sich verändernden historischen Kontexts heraus untersucht werden muss.9 Trotz des zunehmenden Interesses an spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschwisterbeziehungen ist bisher kaum systematisch erforscht worden, wie nachgeborene, hochadelige Geschwister in ihren Testamenten verwandtschaftlich-dynastisch handelten und damit zur (In-)Stabilität von Herrschaft beitragen konnten.10 Hier wird anhand der Analyse des letzten Willens von Kardinal the interaction of brothers, brothers and sisters, fathers and daughters, and so forth, in a systematic and comparative way. We cannot leave the analysis of primogeniture simply to the privileging of the eldest son without looking at the lives of the cadets/cadettes. There needs to be considerable more research into the resources available to women and younger sons.“ Sabean/Teuscher, Kinship (wie Anm. 4), 25f. 7 Lanzinger/Saurer, Politiken (wie Anm. 4), 22. 8 Vgl. Sophie Ruppel, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2006; dies., Subordinates, Patrons and Most Beloved. Sibling Relationships in Seventeenth-Century German Court Society, in: Christopher H. Johnson u. David W. Sabean (Hg.), Sibling Relations and the Transformations of European Kinship. 1300–1900, New York/Oxford 2011, 85–110; Karl-Heinz Spieß, Maintenance Regulations and Sibling Relations in the High Nobility of Late Medieval Germany, in: ebd., 47–63; Benjamin Marschke, The Crown Prince’s Brothers and Sisters. Succession and Inheritance Problems and Solutions among the Hohenzollerns, from the Great Elector to Frederick the Great, in: ebd., 111–144; Michaela Hohkamp, Do Sisters Have Brothers? The Search for the „rechte Schwester“. Brothers and Sisters in Aristocratic Society at the Turn of the Sixteenth Century, in: ebd., 65–83; dies., Sisters, Aunts, and Cousins. Familial Architec tures and the Political Field in Early Modern Europe, in: Sabean/Teuscher/Mathieu, Europe (wie Anm. 4), 91–104; dies., Eine Tante für alle Fälle. Tanten-Nichten-Beziehungen und ihre Bedeutungen für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Lanzinger/ Saurer, Politiken (wie Anm. 4), 147–169, 147f, Anm. 2. 9 „We obviously cannot know what it meant to be a ‚brother‘ or ‚sister‘ unless we describe the phenomenon carefully within its own cultural (historical) framework.“ Ruppel, Subordinates (wie Anm. 8), 85. 10 Zu Testamenten als Quellen der Geschichtswissenschaft vgl. Thomas Olechowski u. Christoph Schmetterer (Hg.), Testamente aus der Habsburger Monarchie. Alltagskultur, Recht, Überlieferung, Wien 2011; Markwart Herzog u. Cecilie Hollberg (Hg.), Seelenheil und
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Francesco Gonzaga ein Schritt in diese Richtung unternommen. Das Testament erscheint dabei als eine besonders geeignete Quelle, um zu fragen, wie Beziehungen angeordnet und verhandelt wurden, da es eine Möglichkeit oder zumindest einen Versuch darstellt, „verwandtschaftliche Gruppierungen gezielt“11 über den eigenen Tod hinaus zu gestalten. Die getroffenen testamentarischen Bestimmungen ermöglichen somit einen Einblick in die Organisation von verwandtschaftlichen Beziehungen und dynastischen Praktiken sowie den Umgang mit möglichen Konflikten innerhalb der Gonzaga-Familie aus der Perspektive eines zweitgeborenen Bruders.12 Im Fall von Francesco Gonzaga ergab sich ein massives Konfliktpotential insbesondere dadurch, dass er seinem unehelichen, aber legitimierten Sohn einen irdischer Besitz. Testamente als Quellen für den Umgang mit den ‚letzten Dingen‘, Konstanz 2007. Vgl. für einen Forschungsüberblick zu Testamenten: Susan Richter, Fürstentestamente der Frühen Neuzeit. Politische Programme und Medien intergenerationeller Kommunikation, Göttingen 2009, 21–34; Linda Guzzetti, Testamentsforschung in Europa seit den 1970er Jahren. Bibliographischer Überblick, in: Herzog/Hollberg, Seelenheil, 17–33. Der Großteil der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Forschungen zu Testamenten befasst sich mit der städtischen Bevölkerung. Für den bibliographischen Nachweis der entsprechenden Studien vgl. Richter, Fürstentestamente, 22–26 und Guzzetti, Testamentsforschung, 20–31. Die Forschungen zum Adel untersuchen meist die Testamente von Herrschern, vgl. Brigitte Kasten (Hg.), Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, Köln 2008. Zu politischen Testamenten vgl. Heinz Duchhardt (Hg.), Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos der Frühen Neuzeit, Darmstadt 1987. Eine Auswertung von Testamenten adliger, frühneuzeitlicher Frauen findet sich unter anderem bei Almut Bues, Das Testament der Eleonora Gonzaga aus dem Jahre 1651. Leben und Umfeld einer Kaiserin-Witwe, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 102 (1994), 316–358; Beatrix Bastl, Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2000; Anke Hufschmidt, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status – Rollen – Lebenspraxis, Münster 2001, 412–436. 11 Karin Gottschalk, Erbe und Recht. Die Übertragung von Eigentum in der frühen Neuzeit, in: Stefan Willer, Sigrid Weigel u. Bernhard Jussen (Hg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, Berlin 2013, 85–125, 88. 12 Die Verwendung des Begriffes „Familie“ meint hier nicht eine Kernfamilie, die aus Mutter, Vater und Kind besteht. Stattdessen wird der Begriff „Familie“ folgend synonym mit „Verwandte“ und „Verwandtschaft“ verwendet. Vgl. zur Bezeichnung von Verwandtschaftsverhältnissen bei den Gonzaga: Ebba Severidt, Familie, Verwandtschaft und Karriere bei den Gonzaga. Struktur und Funktion von Familie und Verwandtschaft bei den Gonzaga und ihren deutschen Verwandten (1444–1519), Leinfelden-Echterdingen 2002, 47–71. Zur Dynastie vgl. unter anderem Heide Wunder (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002; Wolfgang E. J. Weber, Dynastiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des frühmodernen Fürstenstaats, in: ders. (Hg.), Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln/ Weimar/Wien 1998, 91–136.
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großen Teil seines Vermögens vererben wollte.13 Der Kardinal handelte in seinem Testament daher nicht nur als Gonzaga-Bruder, sondern auch als Vater eines ‚natürlichen‘ Kindes.14 Wie er in seinem letzten Willen versuchte, sich daraus ergebende massive verwandtschaftliche Konfliktpotenziale und konkurrierende Ansprüche auszutarieren, ist hier die zentrale Themenstellung. Um den letzten Willen des Testators im Rahmen seiner Biographie und seines familiären Kontextes verorten zu können, wird zunächst auf die Gonzaga und Francescos Position innerhalb der Familie eingegangen. Des Weiteren gilt es zu klären, warum der Kardinal seine Schwestern im Testament nicht erwähnt hat. Im Zentrum steht dann, was der Testator seinen Brüdern, seinem Sohn und seinen Neffen vererbte und welche Verhaltenserwartungen er damit verband. Daran knüpft die Frage an, welche Bedeutungen und Botschaften durch die vererbten Dinge kommuniziert wurden und wie diese Gegenstände gegebenenfalls selbst Beziehungen stifteten und somit im Aushandeln von Verwandtschaft mittels Testament eine eigene „Wirkmacht“15 entfalteten.16
13 Simona Slanička hat darauf hingewiesen, dass die Berücksichtigung von unehelichen Kindern im Testament im Spätmittelalter keine Ausnahme darstellte. Vgl. Simona Slanička, „Tamquam legitimus“. Bastarde in spätmittelalterlichen Legitimationsbriefen, in: Andrea Bendlage, Andreas Priever u. Peter Schuster (Hg), Recht und Verhalten in vormodernen Gesellschaften, Bielefeld 2008, 103–122, 109f. 14 Dies waren Kinder „deren Eltern zum Zeitpunkt der Zeugung beide unverheiratet waren“. Karin Gottschalk, Niemandes Kind? Illegitimität, Blutsverwandtschaft und Zugehörigkeit im vormodernen Recht, in: WerkstattGeschichte 51 (2009), 23–42, 36. 15 Margareth Lanzinger, Das Lokale neu positionieren im actor-network-Raum – globalgeschichtliche Herausforderungen und illyrische Steuerpolitiken, in: Ewald Hiebl u. Ernst Langthaler (Hg.), Im Kleinen das Große suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis. Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 9 (2012), 48–56, 54, Anm. 13. Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2010, insbes. 81–88, 121–149, zum Ansatz, Objekte „als vollgültige Akteure“ (ebd. 125) zu definieren. 16 Die Begriffe „Dinge“ und „Gegenstände“ werden hier synonym verwendet. Vgl. zur Begriffsdefinition: Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert u. Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014; vgl. ebd. die bibliographischen Hinweise zu den zahlreichen Publikationen zur materiellen Kultur der letzten Jahre sowie u. a. Paula Findlen (Hg.), Early Modern Things. Objects and their Histories, 1500–1800, Abingdon, Oxon 2013. Raffaella Sarti, Vita di casa. Abitare, man giare e vestire nell’Europa moderna, Roma/Bari 2011. Renata Ago, Il gusto delle cose. Una storia degli oggetti nella Roma del Seicento, Roma 2006.
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Der Testator als Angehöriger der Gonzaga-Familie Im Jahr 1432 wurde Gianfrancesco Gonzaga (1395–1444) von Kaiser Sigismund zum Markgraf von Mantua erhoben und sein Sohn Ludovico mit Barbara von Brandenburg verlobt. Damit war den Gonzaga innerhalb eines Jahrhunderts, seit dem Beginn ihrer Herrschaft in Mantua im Jahr 1328, der Aufstieg von „lokalen signori […] zu Mitgliedern des europäischen Hochadels“ gelungen, die überregional agierten und politischen Einfluss hatten, obwohl sie nur über ein vergleichsweise kleines Territorium verfügten.17 Ihre Herrschaft in Mantua stabilisierten sie so erfolgreich, dass sie bis 1627 und in der Seitenlinie der Gonzaga-Nevers sogar bis 1708 aufrechterhalten werden konnte.18 Christina Antenhofer und Ebba Severidt haben gezeigt, dass wesentliche Ursachen für den Erfolg der Gonzaga die Förderung von Kunst, Kultur, Architektur und Bildung in Mantua sowie vor allem verwandtschaftliche Kooperation, „die gekonnte Nutzung familiärer Ressourcen durch Heiratsallianzen, Diplomatie und höfischen, militärischen und kirchlichen Dienst“ waren.19 Die Ernennung von Francesco zum Kardinal, die 1461 unter anderem durch den geschickten Gebrauch des verwandtschaftlichen Netzes der 17 Christina Antenhofer, From Local Signori to European High Nobility. The Gonzaga Family Networks in the Fifteenth Century, in: Johnson, Transregional (wie Anm. 5), 55–74, 55 (Zitat, dt. Übersetzung von der Autorin), 57f, 68. Mantua war insofern Teil des Reiches, als es in „Lehnsbeziehung zum Kaiser“ stand, auch wenn es keine Beteiligung an den Reichsinstitutionen gab. Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2007³, 20. 18 Christina Antenhofer, Eine Familie organisiert sich. Familien- und Hofstrukturen der Gonzaga im 15. Jahrhundert, in: Peter Rückert (Hg.), Von Mantua nach Württemberg. Barbara Gonzaga und ihr Hof. Da Mantova al Württemberg. Barbara Gonzaga e la sua corte. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstadtarchiv Stuttgart, Stuttgart 2011, 36–48, 37. 19 Christina Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 68 (Zitat, dt. Übersetzung von der Autorin). Vgl. ebenso dies., Briefe zwischen Süd und Nord. Die Hochzeit und Ehe von Paula de Gonzaga und Leonhard von Görz im Spiegel der fürstlichen Kommunikation (1473–1500), Innsbruck 2007; dies., Familie (wie Anm. 18); dies., Der Fürst kommuniziert. Die Camera Picta des Andrea Mantegna, in: Elisabeth Walde (Hg.), Bildmagie und Brunnensturz. Visuelle Rhetorik von der klassischen Antike bis zur aktuellen medialen Kriegsberichterstattung, Innsbruck/Wien/München 2009, 217–237, Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12). Eine Geschichte der Markgrafschaft Mantua findet sich bei Leonardo Mazzoldi (Hg.), Mantova. La storia. Da Ludovico secondo Marchese a Francesco secondo Duca, Bd. 2, Mantua 1961. Zu Forschungen über die Gonzaga, die vor 1999 erschienen sind, vgl. Raffaele Tamalio, La Memoria dei Gonzaga. Repertorio bibliografico Gonzaghesco, 1473–1999, Florenz 1999; zu diversen Mitgliedern der Gonzaga-Familie vgl. die entsprechenden Artikel von Isabella Lazzarini im Dizionario Biografico degli Italiani. Die Korrespondenz von Mantua mit anderen Höfen und innerhalb der Verwandtschaft wird aufgelistet bei Alessandro Luzio,
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Mutter erfolgte, markierte dabei den Beginn des „kirchenpolitischen Aufstieg[s] der Gonzaga“.20 Francesco war Chambers zufolge, bevor er sein 20. Lebensjahr erreicht hatte, einer der ersten ‚politischen‘ Kardinäle aus einer herrschenden italienischen Dynastie und der erste von neun Kardinälen aus der Gonzaga-Familie. 21 Sophie Ruppel, Karl-Heinz Spieß und Michaela Hohkamp haben auf die wichtige Rolle hingewiesen, die Geschwisterbeziehungen für die Stabilität spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Dynastien spielten.22 Durch gegenseitige Abhängigkeiten und Konkurrenz unterlagen insbesondere die Bruderbeziehungen einer hohen Konfliktanfälligkeit, so auch bei den Gonzaga.23 Im Jahr 1436 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Markgraf Gianfrancesco und seinem ältesten Sohn Ludovico (dem Vater Francescos), die fast zu einer Durchbrechung der Primogenitur zugunsten des jüngeren Bruders Carlo geführt hätte.24 In der nächsten Generation gingen die Gonzaga dazu über, den zweitgeborenen Sohn grundsätzlich für eine kirchliche Laufbahn vorzusehen.25 Das Verhältnis zwischen den fünf hier zur Debatte stehenden Brüdern Federico, Francesco, Gianfrancesco, Rodolfo und Ludovico war zumindest bis 1479 weitgehend spannungsfrei. Offenbar bemühte sich Kardinal Francesco in verschiedener Hinsicht aktiv um seine jüngeren Brüder. In Bezug auf Gianfrancesco spricht Chambers von einer engen Beziehung.26 Für diesen Bruder setzte sich Francesco nachweislich beim Vater ein, um eine bessere finanzielle Unterstützung zu erreichen, die der Vater wohl vorher verweigert hatte.27 Gianfrancesco und Rodolfo hielten sich beide mehrfach für längere Zeit bei Francesco in Rom auf. Der jüngste Bruder Ludovico lebte dort in den Jahren 1481 und 1482 in Francescos
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L’Archivio Gonzaga di Mantova. La corrispondenza familiare, amministrativa e diplomatica dei Gonzaga, Verona 1922, Nachdruck Mantua 1993. Antenhofer, Fürst (wie Anm. 19), 227. Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 282–287. Chambers, Will (wie Anm. 1), 1. So waren jüngere Geschwister oft für die Aufrechterhaltung des Kontaktes verschiedener Dynastien untereinander zuständig. Vgl. Spieß, Regulations (wie Anm. 8), 57f; Ruppel, Rivalen (wie Anm. 8), 319f; Hohkamp, Transdynasticism (wie Anm. 5), 95. Vgl. Ruppel, Rivalen (wie Anm. 8), 320. Hier ortet Severidt das „größte Konfliktpotenzial“. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 129. Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 129. Vgl. Antenhofer, Familie (wie Anm. 18), 38. Antenhofer verweist dabei auf die zeitgenössische Tendenz im europäischen Hochadel, zweitgeborenen Söhnen kirchliche Ämter zuzuweisen. Vgl. Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 59f. David S. Chambers, A Condottiere and His Books. Gianfrancesco Gonzaga (1446–96), in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 70 (2007), 33–97, 34. Chambers hat weitere Beispiele der guten Beziehungen aufgezeigt. Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 22. Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 131. Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 102.
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Haushalt.28 Er wurde von den Eltern ebenfalls für eine geistliche Karriere vorgesehen. Dass er 1471 (mit elf Jahren) den Titel eines apostolischen Protonotars verliehen bekommen hatte, deutet Chambers als Dankesgeste des neugewählten Papstes Sixtus IV. gegenüber dem Kardinal und somit auch als Resultat des brüderlichen Netzwerks.29 Große Zärtlichkeit (tenereza) brachte der Kardinal seiner eigenen Aussage zufolge auch dem Bruder Rodolfo entgegen, die er in einem Brief an die Mutter damit begründete, dass er und Rodolfo als Kinder oft gemeinsam in einem Bett geschlafen hatten.30 So nahm Francesco gegenüber seinen Brüdern innerhalb der Familie immer wieder eine fürsorgliche Haltung ein. Auch wenn sich bei den Gonzaga die Primogenitur in Bezug auf die Herrschaftsnachfolge durchgesetzt hatte, hieß das in der hier untersuchten Generation von Brüdern nicht, dass die nachgeborenen Söhne kein Land erbten.31 Beim Tod von Markgraf Ludovico 1478 bekamen auch die jüngeren Söhne einen Teil des Territoriums. Dieses väterliche Erbe führte zur Gründung von Seitenlinien durch die weltlichen, jüngeren Brüder Francescos: Rodolfo begründete die Linie der Gonzaga von Castiglione delle Stiviere und Gianfrancesco die Linien der Gonzaga von Sabbioneta und Bozzolo.32 Obwohl das väterliche Testament nicht (mehr) vorlag, gingen die Teilung der Markgrafschaft und die Verteilung des Erbes, die in anderen zeitgenössischen Adelsfamilien Anlass von Konflikten sein konnten, zwischen den Gonzaga-Brüdern einträchtig vonstatten.33 28 Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 22f. 29 Vgl. zur Ämterpolitik an der römischen Kurie: Marina D’Amelia, Trasmissioni di offici e competenze nelle famiglie curiali tra Cinquecento e Seicento, in: Renata Ago u. Benedetta Borello (Hg.), Famiglie. Circolazione di beni, circuiti di affetti in età moderna, Roma 2008, 47–81. 30 Francesco Gonzaga an Barbara Gonzaga, Rom 11. März 1467, Archivio di Stato Mantua, AG, b. 843, wörtlich zit. bei Chambers Will (wie Anm. 1), 22, Anm. 149. Vgl. dazu auch Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 130. 31 Diese Erkenntnis entspricht den Ergebnissen der neueren Verwandtschaftsforschung über den Erblass an jüngere Geschwister im Adel. Auch im 15. Jahrhundert war es noch üblich, dass nicht nur der älteste Sohn, sondern auch andere Kinder hochadeliger Familien einen Anteil am beweglichen und unbeweglichen Besitz vererbt bekamen. Lediglich in der Frage der Übertragung der Herrschaftsnachfolge lässt sich in dieser Zeit eine Tendenz (aber noch keine umfassende Durchsetzung) zur Alleinstellung des Erstgeborenen feststellen, weshalb zwischen Erbe und Nachfolge zu differenzieren ist. Vgl. Sabean/Teuscher, Kinship (wie Anm. 4), 6. 32 Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 61. 33 Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 131. Vgl. dazu auch den Abschnitt über das Erbe an Gianfrancesco in diesem Aufsatz. Dabei handelte es sich allerdings um die letzte Erbteilung im Hause Gonzaga. In den nachfolgenden Generationen wurde das Territorium ungeteilt an den ältesten Sohn übergeben. Vgl. Antenhofer, Familie (wie Anm. 18), 37.
Das Testament des zweitgeborenen Francesco Gonzaga
Die Gefahr einer Trübung der guten Beziehungen bestand dadurch, dass Francesco kurz zuvor einen Sohn gezeugt hatte.34 Das Kind hieß ebenfalls Francesco (später in Erinnerung und Bezugnahme auf den Vater auch „il Cardinalino“ genannt)35 und wurde vermutlich 1477 geboren. Der Kardinal hatte es mit einer Frau namens Barbara gezeugt, die wahrscheinlich aus Mantua stammte und eine Bedienstete in seinem Haushalt war. Als die Schwangerschaft sichtbar wurde, wurde sie zurück in ihre Heimatstadt geschickt und heiratete dort. Das Kind kam in die Obhut der Gonzaga. Francesco richtete ihm ein Zimmer in seinem Haus in Mantua ein, und die Großmutter Barbara übernahm die Verantwortung für die Versorgung.36 Dies fügt sich in die neueren Forschungen ein, die darauf hindeuten, dass illegitime Kinder zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert „viel stärker als bisher vermutet in ihre Herkunftsfamilien aufgenommen“ wurden.37 Wie sich unter anderem in seinen Briefen zeigt, stand Francesco seinem Sohn von dessen Geburt an mit Interesse und Zuneigung gegenüber. Er verfolgte beispielsweise eine Erkrankung des Kindes mit großer Anteilnahme, versuchte viel Zeit mit ihm in Mantua zu verbringen und ließ es Anfang 1483 zu sich nach Ferrara kommen. Im Jahr 1479 konnte er beim Kaiser mit Hilfe der Aushandlung einer entsprechenden Zahlung die Legitimation seines Sohnes erwirken.38 Im selben Jahr überschrieb er ihm sein Anwesen in Mantua.39
34 Vgl. zu unehelichen Kindern unter anderem das Themenheft „Bastarde“, WerkstattGeschichte 51 (2009); Simona Slanička, Bastardväter – paternale Potenz als Herrschaftslegitimation im Italien des Mittelalters und der Renaissance, in: Malte Gruber u. Sascha Ziemann (Hg.), Die Unsicherheit der Väter. Zur Herausbildung paternaler Bindungen, Berlin 2009, 49–63; Gabriela Signori, Vorsorgen – Vererben – Erinnern. Kinder- und familienlose Erblasser in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters, Göttingen 2001; Ludwig Schmugge (Hg.), Illegitimität im Spätmittelalter, München 1994. 35 Vgl. zur spätmittelaterlichen Tendenz, unehelichen Kindern den Namen der Väter zu geben: Gabriela Signori, „Im Namen des Vaters“. Illegitimität im Spiegel der spätmittelalterlichen Namenspraxis, in: dies. u. Christof Rolker (Hg.), Konkurrierende Zugehörigkeit(en). Praktiken der Namengebung im europäischen Vergleich, Konstanz 2011, 51–69, 68. 36 Vgl. David S. Chambers, Francesco ‚Cardinalino‘ (c. 1477–1511). The Son of Cardinal Francesco Gonzaga, in: ders., Cardinals (wie Anm. 2), 5–54, 5f. 37 Slanička, Tamquam (wie Anm. 13), 105. 38 Beinahe zehn Jahre später war diese Zahlung noch nicht geleistet worden. Vgl. Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 6f. Im Heiligen Römischen Reich war das Recht, Legitimierungen durchzuführen und damit „die Standesordnung zu verändern“, dem Kaiser vorbehalten, der dies aber „an die Pfalzgrafen delegieren konnte“. Stollberg-Rilinger, Reich (wie Anm. 17), 14; Slanička, Tamquam (wie Anm. 13), 111. 39 Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 24f und Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 6.
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Die abwesenden Schwestern Francesco Gonzaga hatte fünf jüngere Schwestern: Susanna (1447–1481), Dorotea (1449–1467), Cecilia (1451–1478), Barbara (1455–1503) und Paula (ca. 1463–1496),40 von denen drei, Susanna, Dorotea und Cecilia, bereits verstorben waren, als Francesco das Testament aufsetzte. Die beiden verheirateten Schwestern, Barbara und Paula, wurden im Testament weder benannt noch bedacht, vermutlich deshalb, weil ihr Auskommen infolge ihrer Hochzeiten innerhalb des Hauses Gonzaga anderweitig geregelt worden war. Wie Antenhofer gezeigt hat, war man bei den Gonzaga im 15. Jahrhundert dazu übergegangen, die verheirateten Töchter vom Erbe auszuschließen und sie stattdessen durch die Aussteuer und die Mitgift abzufinden.41 Gleichzeitig hatte man in den Eheverträgen festgelegt, dass diese Zahlungen und transferierten Güter den Gonzaga zurückgegeben werden mussten, falls die jeweilige verheiratete Schwester ohne überlebenden Erben sterben sollte.42 In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Gonzaga-Frauen aufgrund ihrer Hochzeit nicht komplett aus der Herkunftsfamilie austraten.43 Indem er seinen Schwestern nichts vererbte, folgte Kardinal Francesco den im Hause Gonzaga getroffenen Vereinbarungen. Ihre Versorgung fiel nicht in den Bereich seines Testaments. Trotzdem waren die Schwestern für Francesco keine unwesentlichen Verwandten. Er schickte ihnen Geschenke, setzte sich für ihre Belange oder die ihrer Ehemänner ein, korrespondierte mit ihnen oder über sie und nahm so in verschiedener Weise Anteil an ihrem Leben.44 In Anbetracht dessen ist es bemerkenswert, dass er sie im Testament überhaupt nicht erwähnte und ihnen auch keinerlei ‚Zeichen‘ im Sinne eines Andenkens hinterließ, was jenseits der hausinternen Regelungen möglich gewesen wäre. Dieses Ausblenden der Schwestern weist daraufhin, dass es im Testament um Macht und Präsenz in der männlichen Linie ging, die aktualisiert und fortgeführt werden sollten. So gedeutet, war es in erster Linie ein politisches Vermächtnis bzw. das Dokument einer patrilinearen Politik, in dem die Schwestern keine Rolle spielten. 40 Eine weitere 1445 geborene Schwester verstarb bereits 1447. Sämtliche Lebensdaten von Gonzaga-Angehörigen in diesem Aufsatz sind der Genealogie von Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 58, entnommen. 41 Vgl. Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 61. Hierbei handelte es sich um eine Praxis, die sich auch in anderen hochadeligen Familien seit dem 15. Jahrhundert durchsetzte. Vgl. Spieß, Regulations (wie Anm. 8), 56. 42 Vgl. Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 61. 43 Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 194. Vgl. dazu generell Hohkamp, Transdynasticism (wie Anm. 5), 95. 44 Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 137f, 191f; Antenhofer, Briefe (wie Anm. 19), 104– 110; Chambers, Will (wie Anm. 1), 23f.
Das Testament des zweitgeborenen Francesco Gonzaga
Die anwesenden Brüder Sowohl Francescos älterer Bruder Markgraf Federico (1441–1484), seit 1478 Nachfolger seines Vaters, als auch seine drei jüngeren Brüder Gianfrancesco (1446– 1496), Rodolfo (1452–1495) und Ludovico (1460–1511) lebten zum Zeitpunkt der Testamentsabfassung noch und wurden, anders als die Schwestern, alle eigens im Testament benannt. In den Absätzen, in denen Francesco ihnen etwas vererbte, wählte er die Reihenfolge vom ältesten zum jüngsten Bruder. Diese Anordnung wird bei der nun folgenden Analyse des Erbes an die Brüder beibehalten. Der erstgeborene Bruder – Markgraf Federico Das Erbe des Kardinals an Markgraf Federico, seinen ältesten Bruder, umfasste weder einen Geldbetrag noch Grundbesitz bzw. Immobilien. Vielmehr hinterließ ihm Francesco: „vas illud meum argenteum quod refrescatorium nuncupatur, quamdam corniolam sive lapidem sardonium ligatam in auro, existentem in quadam capseta argentea, et saleriam alicorni, existentem in quadam argentea, laborata more greco, nec non ipsam scatolettam et omnes statuas et imagines meas ex ere seu broncio“45 – also ein silbernes Gefäß zum [Wein-]Kühlen, einen in Gold gefassten, in einem silbernen Kasten befindlichen Karneol oder Stein aus Sardes, ein Salzfass aus dem Horn eines Einhorns in einer silbernen, nach griechischer Art gearbeiteten Schatulle, die Schatulle selbst sowie alle seine ehernen und bronzenen Statuen und Bildnisse. Hierbei handelte es sich um äußerst kostbare Gegenstände, die sich auch in den königlichen Schatzkammern und Sammlungen dieser Zeit wiederfanden.46 Aus heutiger Perspektive sticht aus dieser Liste besonders das Salzfass hervor. Der spiralförmige, spießartige Stoßzahn des Narwals galt bis ins 17. Jahrhundert als Horn des legendären Einhorns. Kein bedeutendes Herrscherhaus wollte im 15. und frühen 16. Jahrhundert darauf verzichten. Es galt als überaus wertvoll.47 Sein Besitz stellte somit auch ein ökonomisches Kapital dar. Der Wert des Horns lag nicht allein in seiner „Seltenheit und Kuriosität“,48 sondern vor allem in der Annahme, es könne Gift erkennen und „durch direkte Berührung oder in Pulverform verabreicht […] neutralisieren“.49 Der Besitz eines 45 Testament, Abs. 15. 46 Vgl. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998³, 33–37. 47 Vgl. Klaus Minges, Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung, Münster 1998, 11f. 48 Minges, Sammlungswesen (wie Anm. 47), 12. 49 Lorraine Daston u. Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, 1150–1750, Berlin 2002, 85. Die Autorinnen verweisen darauf, dass „die meisten Naturalia in mittelalterlichen
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Einhorn-Horns blieb weltlichen und geistlichen Eliten vorbehalten.50 Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften und seiner Kostbarkeit fungierte es damit auch als ein Attribut und Symbol von Herrschaft. Gleiches gilt für Salzgefäße als einer Komponente höfischer Prachtentfaltung, die ein integraler Bestandteil fürstlicher Herrschaft war.51 Wie zeitgenössische Testamente und Inventare belegen, wurden diese Behältnisse aus kostbaren Materialien in höchst kunstvoller Weise gefertigt.52 Sie hatten einen hochgradig repräsentativen Charakter. Darüber hinaus kam Salzfässern an den herrschaftlichen Tafeln des 15. Jahrhunderts aber auch eine konkrete Funktion zu: Da Salz dem Gift Arsen in Farbe und Beschaffenheit ähnelt, wurde es in den Salzfässern „an den fürstlichen Höfen besonders sorgfältig verwahrt“.53 Zusätzlich kamen bei der Herstellung dieser Gefäße oft vermeintlich giftanzeigende Stoffe, wie das Horn eines Einhorns, zur Verwendung. Mithilfe dieser ‚Giftanzeiger‘ wurde dann geprüft, ob das Salz im Fass unbedenklich war. Günther Schiedlausky und Angelika Kromas zufolge wurde diese Prüfung an den Höfen zunächst formlos durchgeführt und entwickelte sich dann „zu einem feierlichen Ritual“ bei Tische vor den Augen des Gastgebers und seiner Gäste.54 Die Gegenstände, die Francesco vererbte, standen somit offensichtlich in Bezug zur Position als Markgraf, die der Begünstigte als ältester Bruder im Haus Gonzaga einnahm. Auch die Vererbung des „berühmte[n] silberne[n] Gefäß[es], das zum [Wein-]Kühlen dient“,55 lässt sich auf diese Weise erklären, denn dieses Gefäß
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Sammlungen berühmt für ihre okkulten Eigenschaften“ waren. Bezeichnenderweise war auch in der italienischen Dichtung und Bildkunst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts – also zu Lebzeiten Francescos – das „Motiv des Entgiftens […] reich vertreten“. Jürgen W. Einhorn, Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters, München 1976, 242. Vgl. ebd. auf den Seiten 300–302 eine Auflistung dieser Darstellungen. Zum Einhorn-Horn als Heilmittel vgl. ebd. 245. Vgl. Minges, Sammlungswesen (wie Anm. 47), 14. Vgl. zum Beispiel Joachim Ehlers Verweis auf „deutliche Wechselwirkungen zwischen realer politischer Macht und der Fähigkeit, diese Macht repräsentativ vorzuführen und darzustellen“. Joachim Ehlers, Hofkultur – Probleme und Perspektiven, in: Werner Paravicini (Hg.), Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, München 2010, 13–24, 17. Vgl. Günther Schiedlausky u. Angelika Kromas, Die Geschichte des Salzgefäßes in Europa, in: Manfred Treml, Wolfgang Jahn u. Evamaria Brockhoff (Hg.), Salz Macht Geschichte. Aufsätze, Augsburg 1995, 361–370, 362. Als Beispiel für ein besonders aufwendig gearbeitetes Salzfass vgl. Andreas Prater, Cellinis Salzfaß für Franz I. Ein Tischgerät als Herrschaftszeichen, Stuttgart 1988. Schiedlausky/Kromas, Geschichte des Salzgefäßes (wie Anm. 52), 362, 364. Ebd., 362 (Zitat), 364f. Testament, Abs. 15; Hervorhebung der Autorin.
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konnte Markgraf Federico wie das Salzfass bei Mahlzeiten am Hof verwenden. Durch die Weitergabe „aller ehernen und bronzenen Statuen und Bildnisse“56 half Francesco, den Hof Federicos repräsentativ zu gestalten.57 Die Vererbung der genannten Gegenstände an Federico kann so gedeutet werden, dass Francesco die Herrschaft des Bruders anerkannte und dadurch stützen wollte, dass er ihm Gegenstände hinterließ, die im 15. Jahrhundert zur Repräsentation und Ausübung von Herrschaft gehörten: wie etwa Tafelgeschirr, Mirabilien, Edelsteine und Kunstwerke.58 Besonders das Salzfass aus dem Horn eines Einhorns untermauerte Federicos Position als Markgraf, da es ihn vor Vergiftung schützen konnte und somit dazu beitrug, ihn als Person und als Herrscher unangreifbar zu machen. Durch die vererbten Dinge kommunizierte Francesco Federico und anderen Adressaten des Testaments die Botschaft der Zuneigung, Unterstützung und des Willens, die gute Beziehung zum Bruder auch postum sichtbar darzustellen. Gleichzeitig erreichte der Kardinal mittels dieser Gegenstände aber auch, dass seine eigene Präsenz beim ‚wichtigsten‘, weil mächtigsten Bruder über den Tod hinaus hergestellt und abgesichert wurde. Darüber hinaus forderte Francesco im Testament auch etwas von seinem ältesten Bruder. Im fünften Absatz verlangte er von Federico eine noch nicht beglichene Zahlung an die Propstei San Benedetto in Polirone für die Herauslösung des Besitzes von Bigarello zu leisten, den Francesco seinem Sohn überschrieben hatte.59 Von den 7.000 Golddukaten, die der Propstei noch zustanden, sollte der Markgraf 4.000 Golddukaten (bzw. 5.000 rheinische Florin) beisteuern. Denn diese Summe stünde ihm, so der Testator, anteilig von der Mitgift der Mutter zu, und der Markgraf schulde sie ihm noch. An dieser Stelle werden finanzielle Verpflichtungen sichtbar, die sich angefangen bei der Mutter des Erblassers über drei Generationen spannten: Federico hatte Schulden bei seinem Bruder, die wahrscheinlich entfallen wären, wenn Francesco kinderlos gestorben wäre. Nun wollte jener aber diese noch nicht geleistete Zahlung dazu nutzen, dass sein Sohn einen von Schulden unbelasteten Besitz bekommen konnte. Deshalb vermachte er dem Bruder vermutlich auch kein Geld, denn das hätte wohl der Schuldennachlass sein müssen bzw. diesen impliziert. Es entstand also eine Konkurrenz zwischen dem ältesten Bruder und dem unehelichen Sohn des Kardinals. Das Konfliktpotential, das aus dieser generationenübergreifenden Vermögensverflechtung resultierte, 56 Ebd. 57 Vgl. zur Kunst am Hof in Mantua: Rückert, Mantua (wie Anm. 18); David S. Chambers u. Jane Martineau (Hg.), Splendours of the Gonzaga, London 1981. 58 Zu den Eigenschaften, die Edelsteinen zugeschrieben wurden, vgl. Daston/Park, Wunder (wie Anm. 49), 88–93. 59 Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 100.
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versuchte Francesco durch die Vererbung der oben aufgeführten Gegenstände mit ihrem beträchtlichen (symbolischen) Wert zu verringern. Des Weiteren sollten diese Gegenstände vermutlich als Anreiz dafür wirken, dass der Markgraf der an ihn gerichteten Bitte nachkam, fördernd und schützend zu wirken: Der jüngste Bruder Ludovico sollte mit Federicos Hilfe Nachfolger Francescos als Bischof von Mantua werden, was er auch wurde.60 Mit dem Hinweis, dass dies noch dringlicher sei, forderte der Testator von seinem ältesten Bruder den Schutz seines Sohnes, seiner familia61 und seines Testamentes ein.62 Während Federico als Bruder in Absatz 15 also Dinge vererbt bekam, die seine Position als Markgraf symbolisch zum Ausdruck brachten, wurde er den Absätzen 42 und 43 gemäß zugleich verpflichtet, seine Autorität zugunsten von Francescos Anliegen einzusetzen. Der Universalerbe und drittgeborene Bruder – Gianfrancesco Francesco ernannte seinen nächstjüngeren Bruder Gianfrancesco zu seinem Universalerben: „heredem meum universalem“.63 Der Verweis in Absatz 44, diese Position beruhe auf dem Modell der Fassung des väterlichen Testaments und den daraus resultierenden Übereinkünften zwischen den Brüdern, zeigt, dass diese Verfügung keine persönliche Idee Francescos war, sondern eine familiäre Entscheidung und Strategie. In diesem Passus übertrug er dem Universalerben seine sämtlichen, im Testament nicht anderweitig vergebenen unbeweglichen und beweglichen Güter, Rechte, Anrechte auf Schulden sowie seinen Anteil an den unbeweglichen Gütern, die er gemäß den Vereinbarungen zwischen den Brüdern über das väterliche Erbe bekommen hatte.64 Da Francesco und Gianfrancesco gemeinsam als Verwalter ihrer ererbten Liegenschaften eingesetzt worden waren,65 fiel nun nach dem Tod Francescos, wie vereinbart, ein großer Teil vom Besitz des geistlichen an den weltlichen Bruder, was dazu beitrug, dass Gianfrancesco 60 Vgl. Testament, Abs. 42. 61 Bei der familia handelte es sich hier nicht um Verwandte, sondern um Personen, die unter dem Schutze Francescos standen und als sein „persönliche[s] Gefolge“ bezeichnet werden können. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 30. 62 Vgl. Testament, Abs. 43. 63 Vgl. Testament, Abs. 44. 64 Vgl. ebd. Zusätzlich bekam Gianfrancesco noch „duos gobelletos meos aureos, unum a vino et alterum ab aqua, quibus utebatur“ (Testament, Abs. 16.). Auch hier wurde den Dingen ihre genaue Funktion zugesprochen. 65 Chambers, Gianfrancesco (wie Anm. 26), 70. „One ecclesiastic and one secular brother formed a couple that possessed the [inherited] territory together.“ Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 71, Anm. 25.
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eine eigene Seitenlinie gründen konnte.66 Zum gemeinsam geerbten Anteil am väterlichen Territorium zählte auch der Besitz von Rivarolo und Sabbioneta in der Diözese Cremona. Die Übertragung der „possessionum […] Riparoli et Sablonete cremonensis diocesis seu affictus ipsarum necnon et affictus pischerie Comesadii eiusdem diocesis“67 an Gianfrancesco knüpfte der Testator wieder an Bedingungen. Sie sollten von nun an für Gianfrancesco unbelastet von Schulden bleiben. Dies galt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Papst Francesco einmalig postum 12.000 Dukaten aus den Einnahmen des Mantuaner Bistums und der Propstei San Benedetto zugestehen sollte und diese Summe (zusammen mit anderen im Testament vorgesehenen Mitteln) zur Tilgung der Schulden des Kardinals ausreichen würde. Falls dies nicht eintreten oder genügen sollte, verpflichtete der Kardinal seinen Bruder und die Testamentsvollstrecker, die Erlöse aus den Besitzungen zur Schuldentilgung zu verwenden.68 Ausgenommen davon wurden die Erträge aus dem laufenden Jahr, denn durch diese sollten die Kosten der Bestattung, für die Exequien ebenso wie für die Bekleidung der familia gedeckt werden. Eine weitere finanzielle Forderung, die der Kardinal an Gianfrancesco richtete, war die Zahlung von 3.000 Golddukaten an die Propstei San Benedetto. Francesco begründete dies mit Verweisen auf ihm noch zustehende Anteile am väterlichen Erbe. Zusammen mit den zuvor erwähnten 4.000 Golddukaten, die Markgraf Federico angewiesen war, an die Propstei zu zahlen, sollte somit die insgesamt 7.000 Golddukaten betragende Schuldsumme für die Herauslösung von Bigarello beglichen werden. Mit dieser Zahlung wollte der Testator sicherstellen, dass der Besitz in Bigarello selbst nicht belastet werden würde und der gegenwärtige Besitzer, Francescos unehelicher Sohn, nicht für die Schuldenlast würde aufkommen müssen.69 Wie beim Erbe an den ältesten Bruder Federico zeigt sich auch bei Gianfrancesco, mit dem Francesco durch die gemeinsame Verwaltung des väterlichen Erbes am engsten finanziell und materiell verflochten war, wie generationenumspannend mit noch offenen Schulden operiert wurde: Ein Teil seines väterlichen Erbes, der sonst wohl bei Gianfrancesco geblieben wäre, wurde eingefordert, um seinem Sohn eine möglichst gute finanzielle Position zu verschaffen. Mit dem Verweis auf das Anrecht am väterlichen Erbe argumentierte der Kardinal auch, als er Gianfrancesco aufforderte, an den Archidiakon, den Archipresbyter, das Kapitel und die Kanoniker der Kathedrale zu Mantua jeweils monatlich 15 Golddukaten fünf Jahre lang auszuzahlen, was einen Gesamtbetrag von 66 67 68 69
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3.600 Golddukaten ergab.70 Der Zweck dieser Zahlung war, dass die genannten Geistlichen für das Seelenheil des Vaters (Abs. 6), der Mutter (Abs. 7) und Francescos selbst (Abs. 8) monatlich jeweils eine Totenmesse lesen sollten.71 Diese so wichtige Angelegenheit, die es zuverlässig zu regeln galt, übertrug er weder dem ältesten noch dem geistlichen Bruder Ludovico, sondern seinem Universalerben Gianfrancesco. Hierbei handelte es sich zwar einerseits um eine Auszeichnung, andererseits aber auch um eine finanzielle Belastung. Zusammengefasst griff der Kardinal die Position des Universalerben gemäß den Bestimmungen des väterlichen Testaments und den daraus resultierenden Übereinkünften auf. Tatsächlich fiel Gianfrancesco unter den Brüdern dann auch der größte Teil des Erbes zu. Gleichzeitig bedeuteten die daran geknüpften Verpflichtungen aber auch eine große Bürde für ihn.72 Hinzu kommt, – und das ist der entscheidende Punkt – dass der Testator die Benennung zum Universalerben auch als strategische Kommunikation nutzte, denn zugleich begünstigte er seinen unehelichen Sohn als Erben und handelte damit zumindest partiell anders als sprachlich suggeriert. Der nicht-bedachte Bruder – Rodolfo Trotz der eingangs dargelegten zärtlichen Gefühle für den Bruder vererbte der Testator Rodolfo nichts, stellte aber auch keine Forderungen an ihn. Allerdings blieb Rodolfo nicht unerwähnt, denn Francesco nahm ihn in Absatz 17 in den Kreis der Brüder auf und zählte ihn auf diese Weise zu dieser Einheit dazu. Dass er nichts vererbt bekam, bedurfte offenbar einer Erklärung, die folgendermaßen lautete: „Item quia Illustris dominus Rodulfus frater meus dilectissimus in praesentiarum militat ad stipendia venetorum, et propter censuras ac penas a summo pontifice inflictas incapax esset eorum que in huiusmodi meo testamento relinquerentur, idcirco ei nihil relinquo.“73 70 Vgl. ebd., Abs. 8. 71 Zur Tendenz im vormodernen Lateineuropa, „Totenmemoria durch Spezialisten“ und nicht durch Verwandte selbst verrichten zu lassen, vgl. Jussen, Verwandtschaftsforschung (wie Anm. 4), 314ff, 322f, 323 (Zitat). 72 Vgl. Testament, Abs. 36. Vgl. zur Belastung, die die Verantwortung für die Tilgung der Schulden für Gianfrancesco in seinen letzten Lebensjahren wurde, Chambers, Will (wie Anm. 1), 121–131 sowie Chambers, Gianfrancesco (wie Anm. 26), 70. Zu den finanziellen Problemen Francesco Gonzagas vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 37–49. Zur Allgegenwärtigkeit von Schulden in frühneuzeitlichen Gesellschaften vgl. Gabriela Signori (Hg.), Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2014. 73 Testament, Abs. 17. Hervorhebungen der Autorin. Dt.: „Ebenso hinterlasse ich dem illustren Herrn Rodolfo, meinem wertesten Bruder, deswegen nichts, weil er zur Zeit gegen Sold/
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Durch Formulierungen im Konjunktiv fragte der Testator implizit, ob Rodolfo tatsächlich nicht erbberechtigt sei. Damit verdeutlichte Francesco, dass er seinen Bruder nicht grundsätzlich vom Erbe ausschließen wollte, sondern ihn lediglich die momentanen Umstände dazu zwängen. Gemeint sind hier ein Soldvertrag Rodolfos mit den Venezianern und dessen Eintreten auf Seiten der Gegner des Papstes. Doch diese politische Konstellation konnte sich im italienischen Raum des 15. Jahrhunderts schnell ändern, und so hielt Francesco durch seine Formulierung die Möglichkeit eines Erbes für Rodolfo zu einem späteren Zeitpunkt offen. Der Kardinal zog diese Option einer Verärgerung des Papstes vor, weil er auch postum auf die Gunst des Kirchenoberhaupts angewiesen war: erstens, da er auf die Freigabe von 12.000 Dukaten durch den Papst hoffte, zweitens, weil er wollte, dass sein Bruder Ludovico zum Bischof von Mantua ernannt wurde, und drittens, weil er auch über den eigenen Tod hinaus als Mitglied des Hauses dafür Sorge tragen musste, dass die Gonzaga weiterhin gute Beziehungen zur Kurie unterhalten würden, da dies einer der Pfeiler ihrer Herrschaft war. An dem nicht erfolgten Erbe an Rodolfo wird daher sichtbar, wie abhängig alle Brüder voneinander waren, wenn es um die Stellung und das Ansehen der Familie ging. So kann die Testamentsverfügung zu Rodolfo gleichzeitig auch als indirekte Forderung an ihn verstanden werden, das gegen den Papst gerichtete Soldverhältnis aufzugeben. Denn dieses Engagement durchkreuzte aus Francescos Perspektive seine Bemühungen, die Patrilinie des Hauses sozioökonomisch bestmöglich zu platzieren. Er reagierte daher auf die konfliktträchtige Betätigung seines Bruders mit einem äußerst vorsichtigen Balancieren im Testament. Der geistliche Bruder – Ludovico Zunächst bekam Ludovico in Absatz 18 etwas vererbt, nämlich: „unam bacillam argenteam cum bochali. Item et unum bacille e barbitonsore cum ramina similiter ex argento, et missale meum pulcrum, coopertum brochato auri ac diamantem parvum ligatum in anullo aureo que solebam in digitis gestare.“74 Hier fällt auf, dass die vererbten Gegenstände größtenteils in direktem Bezug zu seinem geistlichen Amt standen. So war es kein Zufall, dass ausgerechnet dieser Bruder das zur Unterstützung der Venetier Kriegsdienst leistet und er wegen der Rügen und Strafen, die vom höchsten Pontifex auferlegt wurden, nicht empfänglich/erbberechtigt sein dürfte für das, was in meinem Testament dieser Art hinterlassen wird.“ 74 Ebd., Abs. 18. Dt.: „ein silbernes kleines Becken mit Kanne/Kelch/Pokal. Ebenso sowohl ein kleines Barbiersbecken mit einem Rand gleichermaßen aus Silber als auch mein schönes, mit Goldbrokat bezogenes Missale und einen kleinen, in ein goldenes Ringlein eingefassten Diamanten, den ich an den Zeigefingern zu tragen pflegte.“
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Messbuch (Missale) erbte. Die Weitergabe des Rings kommunizierte Ludovico und allen Lesern des Testaments die Botschaft, dass der jüngste Bruder ‚in seine Fußstapfen‘ als Bischof von Mantua treten sollte. Denn Francesco hatte den Ring als Geistlicher zu Lebzeiten direkt an seinem Körper am Zeigefinger getragen, streifte ihn nun vor seinem Tod ab und gab ihn an seinen Bruder weiter. In dem Ring materialisierten sich somit die Fortführung einer Tradition und gewissermaßen auch die Gründung einer eigenen verwandtschaftlichen Linie der nachgeborenen Gonzaga-Brüder in hohen kirchlichen Ämtern – neben der Linie des Vaters und des erstgeborenen Sohns als Herrschaftsnachfolger (und zumindest im Falle der hier behandelten Konstellation auch der Linie des drittgeborenen Bruders als Besitznachfolger). Den Ring des verstorbenen Bruders zukünftig zu besitzen, hieß für Ludovico, gleichzeitig die Erinnerung an Francesco als Bruder, als Kardinal und als Begründer dieser Linie zu bewahren. Ähnliches gilt für die anderen im Testament vererbten Gegenstände. Wenn die Nachkommen sie benutzten, bedeutete dies auch, das Gedächtnis an den Testator aufrechtzuerhalten. Durch die Weitergabe von Gegenständen, die in einem kirchlichen Kontext anzusiedeln sind, transportierte Francesco also den Wunsch nach einer geistlichen Karriere seines Bruders, den er dann in Absatz 41 auch explizit aussprach. Darin bat er seine Testamentsvollstrecker, beim Papst dafür einzutreten, dass Ludovico sein Nachfolger als Bischof von Mantua werden solle. Darüber hinaus sollte ihm die Propstei San Benedetto zugesprochen werden. Allerdings forderte Francesco dafür von Ludovico, von den Einnahmen aus diesen Ämtern in den ersten sechs Jahren jeweils 1.000 Dukaten jährlich zur Tilgung seiner Schulden zu verwenden.75 Darüber hinaus sollte Ludovico zusammen mit Francescos Sekretär die Vormundschaft für den „natürlichen und legitimierten Sohn“ übernehmen.76 Dass dieser Bruder für die Aufgabe ausgewählt wurde, hängt vermutlich damit zusammen, dass er in Bezug auf das Erbe des Kardinals weniger massive Besitz interessen hatte als Federico und vor allem Gianfrancesco und somit zwischen ihm und dem Sohn vergleichsweise wenig konkurrierende Ansprüche bestanden. Dass Francesco von jedem Bruder, der erbte, auch etwas verlangte, zieht sich als Muster somit wie ein roter Faden durch das Testament. Die mehrdeutigen und vielschichtigen Testamentsverfügungen in Bezug auf die Brüder umfassten
75 Ebd., Abs. 41. In Absatz 42 bat er Federico als Markgraf um die Unterstützung dieses Vorhabens (siehe oben). Ludovico wurde Francescos Nachfolger als Bischof. Die Propstei San Benedetto und die damit verbundenen Pfründe bekam allerdings Francescos Neffe Sigismondo und nicht der Bruder Ludovico zugesprochen. Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 111–114. 76 Testament, Abs. 31.
Das Testament des zweitgeborenen Francesco Gonzaga
nicht nur verwandtschaftliches Geben und Nehmen, Fördern und Fordern,77 sondern – im Anschluss an Gabriele Jancke und Daniel Schläppi – eine komplexe Beziehungsökonomie, „die auf Schulden und Verpflichtungen“78 fußte. Durch Vererbung von Gegenständen, Grundbesitz und Privilegien sowie über die damit verknüpften Verhaltenserwartungen und die Einbindung offener Schulden wurde im Testament ein erweitertes Beziehungsgeflecht konstituiert. Neben der materiellen Ebene stellte der Testator im Dokument eine hochgradig symbolische Ebene und eine Beziehungsebene her. So wurden von ihm verwandtschaftliche Interessen, die drei Generationen betrafen, angeordnet, ausgehandelt und (zumindest aus seiner Perspektive) in Einklang gebracht.
77 Vgl. zu Geschenken und Gaben als integraler Bestandteil frühneuzeitlicher Gesellschaften und Politik: Mark Häberlein u. Christof Jeggle (Hg.), Materielle Grundlagen der Politik. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz/ München 2013; Algazi/Groebner/Jussen, Negotiating (wie Anm. 3); Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002; Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000. Vgl. zur Theorie der Gabe unter anderem Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990; Frank Adloff u. Steffen Mau (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt a. M./ New York 2005. In ihrer ethnographischen Studie – Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens, Köln/Weimar/Wien 2002 – bejaht Ulrike Langbein die Frage, „ob auch die geerbten Dinge der Logik der Gabe gehorchen“ (240), mit gewissen Einschränkungen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive erweist sich die Frage, ob das Vererben von Gegenständen als eine soziale und materielle Transaktion durchgeführt in jeweils spezifischen historischen Kontexten und Konstellationen nun den Maßstäben ‚der Gabe‘ entspricht, aber als problematisch: „Instead of presuming to decree in advance what such transactions ‚really‘ were by excluding those which do not conform to an ideal image of The gift or subsuming them prematurely under some fixed general scheme of ‚The gift‘, it is the process of the management of meaning involved in such processes that we have […] to explore.“ Algazi, Introduction (wie Anm. 3), 12. Gabriele Jancke und Daniel Schläppi zufolge reduzieren die „Begriffe ‚Gabe‘ und ‚Tausch‘ […] komplexe Gemengelagen unterschiedlicher Ressourcen und deren Trägerinnen und Träger a priori zu begrenzten dyadischen Interaktionen zwischen jeweils zwei AkteurInnen“. Gabriele Jancke u. Daniel Schläppi, Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschaften, in: L’Homme. Z.F.G. 22,1 (2011), 85–97, 92. 78 Jancke/Schläppi, Ökonomie (wie Anm. 77), 89.
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Der uneheliche, legitimierte Sohn Francesco Der Kardinal sicherte seinen Sohn durch das Testament sehr gut ab. Er machte ihn aber nicht zu seinem alleinigen Erben, wie es seine Schwägerin Margarete von Bayern befürchtet hatte. In einem Brief warnte sie ihren Ehemann, Markgraf Federico, der Kardinal habe seinen Sohn mit der Intention legitimieren lassen, ihm „tutto il suo“79 zu hinterlassen.80 Der Hinweis des Testators, er übertrage seinem Sohn so viel, wie es sich zieme („in quantum opporteat“),81 kann somit als Reaktion auf einen möglichen Unwillen diesbezüglich innerhalb der Verwandtschaft gelesen werden und als Versuch, diesem Unwillen sowie dem damit verbundenen Konfliktpotential entgegenzuwirken. Indem er die eigene Ausgewogenheit betonte, attestierte er sich selbst die Legitimität der Berücksichtigung des Sohnes im Testament. Diese Vorgehensweise findet sich auch an anderer Stelle, an der er bekräftigt, dass er für alle Verfügungen eine gute Begründung geliefert habe.82 Das verdeutlicht, dass Testamentsverordnungen nicht willkürlich gesetzt werden konnten, sondern sich im Rahmen dessen bewegen mussten, was zum einen vorher ausgehandelt worden war und zum anderen als legitim und angemessen galt, wobei das Verständnis von Legitimität und Angemessenheit erheblich differieren konnte – je nachdem aus welcher Perspektive oder Verwandtschaftsposition dies gesehen wurde. Die Kunst für den Erblasser bestand darin, innerhalb dieses Rahmens einen Handlungsraum zu schaffen, der es ihm ermöglichte, seine Interessen zu integrieren. Einen solchen Raum schaffte er sich zum Beispiel, indem er mehrfach die Botschaft kommunizierte, sich an ausgehandelte Vorgaben und ‚Spielregeln‘ gehalten sowie den eigenen Handlungsrahmen nicht überschritten zu haben. So konnte er nun auch von anderen erwarten, dass diese seine Entscheidungen billigen und vor allem nicht anfechten, sondern nach seinem Ableben umsetzen würden.83 Francesco vererbte seinem Sohn unter anderem ein diamantbesetztes Collier, das er ihm bereits geschenkt, aber noch nicht übergeben hatte. Dieses war nämlich zur Regelung finanzieller Verpflichtungen des Kardinals einige Tage zuvor bei einem Pfandleiher gegen die Auszahlung von 1.000 Golddukaten hinterlegt worden. Postum sollte es nun von den Testamentsvollstreckern mittels der im
79 Brief vom 01.August 1479, zitiert nach: Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 31, Anm. 17. 80 Vgl. Chambers, Will (wie Anm. 1), 24, Anm. 167; ders., Cardinalino (wie Anm. 36), 6ff; Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12),131, Anm. 49. 81 Testament, Abs. 29. 82 Vgl. ebd., Abs. 40. 83 Vgl. zum Beispiel ebd., Abs. 29, 40, 50.
Das Testament des zweitgeborenen Francesco Gonzaga
Testament spezifizierten Gelder für den Sohn ausgelöst und ihm übergeben werden.84 Auch an anderer Stelle des Dokuments, an der die Brüder und die Neffen Gegenstände erbten, die in engem Bezug zu ihrem Amt bzw. ihrer Funktion im Haus Gonzaga standen, wurde der Sohn bedacht:85 Er bekam einen Baldachin aus Seidengewebe zusammen mit einem Bett zugesprochen. Dies war für den Kardinal offenbar besonders wichtig, denn nach eigenem Bekunden hatte er sich noch kurz zuvor selbst um die Beschaffung des Stoffes gekümmert. Die Erklärung für den offenkundig hohen Stellenwert findet sich in der diesem Erbstück zugedachten Funktion: Es sollte für die Kraft im Brautbett sorgen.86 Der Kardinal übermittelte damit deutlich die Botschaft, dass er sich für seinen Sohn die Gründung eines eigenen Haushaltes und den Ehestand wünschte.87 Dies ist insofern bedeutsam, als unehelich geborene Kinder, die zwar keine „Randgruppe“, aber sehr wohl „Randmarkierer“ darstellten, „per definitionem keinen vorgegebenen Lebensweg“ beschritten.88 Die Zukunft Francescos sollte also in einem weltlichen und nicht in einem geistlichen Rahmen verortet sein.89 Wie zur Bekräftigung dessen vererbte ihm der Vater noch einen zusätzlichen Betthimmel aus karmesinrotem Gewebe und einen weiteren aus höfischem (cortine) Stoff, den er extra für ihn hatte anfertigen lassen. Indem er die Kostbarkeit der Stoffe betonte und sie in einen höfischen Kontext einordnete, unterstrich Francesco hier noch einmal die Zugehörigkeit seines Sohnes zum Haus Gonzaga.90
84 Vgl. ebd., Abs. 30. 85 Ebd., Abs. 21. Nach den Mitgliedern des Hauses Gonzaga bekamen in diesem Kontext in den Absätzen 23 bis 28 auch die Angehörigen von Francescos familia Gegenstände vererbt. 86 Vgl. ebd., Abs. 21. 87 Francesco Junior heiratete im Jahr 1501 Taddea Forlani. Ihr Bruder war Ritter am Hof in Mantua und hatte dort eine privilegierte Stellung inne. Ludovico Gonzaga handelte für Francesco den Ehevertrag aus, was dieser ihm dankte und ihm sogar attestierte, dass er ihn als einen zweiten Vater ansehe. Aus der Ehe gingen 1502 und 1503 zwei Töchter hervor. Francesco klagte 1506 seine Frau an, mit ihrem Bruder (der im selben Jahr wegen Mordes angeklagt wurde) und einem anderen Mann Ehebruch begangen zu haben. Taddea gestand dies und verbrachte deswegen lange Jahre als Gefangene; es lässt sich nicht genau sagen, ob bis zu ihrem Lebensende. Chambers vermutet, dass sie 1511 wieder auf freiem Fuß war, da sie zu dem Zeitpunkt einen Antrag zugunsten ihrer Töchter stellte. Vgl. Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 13–29. 88 Simona Slanička, Bastarde als Grenzgänger, Kreuzfahrer und Eroberer. Von der mittelalterlichen Alexanderrezeption bis zu Juan de Austria, in: WerkstattGeschichte 51 (2009), 5–21, 7, 6. 89 Für eine geistliche Karriere wäre zusätzlich zur Legitimierung durch den Kaiser eine päpstliche Dispensation notwendig gewesen. Vgl. Slanička, Tamquam (wie Anm. 13), 114f. 90 Testament, Abs. 21.
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Dies wird auch dadurch bekräftigt, dass er dem „filio […] naturali et legitimato“91 in diesem Absatz zuletzt noch den „großen Teil“ des Horns eines Einhorns zusprach („partem cornu alicorni magnam“).92 Diese Formulierung verweist darauf, dass der kleinere Teil des Horns abgetrennt worden war. Es ist möglich, dass es sich hierbei um das untere, dickere Ende des Horns bzw. des Stoßzahns des Narwals handelte, aus dem das Salzfass hergestellt wurde, das Markgraf Federico vererbt bekam. Dem Sohn und dem Bruder nun jeweils Teile eines Einhorn-Horns, die eventuell einst zusammen gehört hatten, zu vererben, stellte beide in Beziehung zueinander. Es betonte ihre erwünschte Verbundenheit und die Bedeutung des Sohnes für Francesco, da er ihn für würdig befand, ihm etwas aus dem gleichen Material zu vererben wie dem Markgrafen – und bezeichnenderweise auch noch den größeren bzw. längeren Teil. Indem Francesco seinem Kind einen Gegenstand vererbte, der im 15. Jahrhundert meist einem herrschaftlichen Kontext zugeordnet wurde, untermauerte er nochmals dessen Würdigkeit und die Zugehörigkeit zu den hochadeligen Verwandten. In Bezug auf weitere wichtige Übertragungen an den Sohn hatte sich Francesco doppelt abgesichert, indem er diese sowohl im Testament als auch in 1479 geschlossenen Verträgen festgeschrieben hatte. Dabei handelte es sich um die Weitergabe des Hauses in Mantua und der Landsitze von Bigarello und Fossamana.93 Im Testament bestätigte er diese Schenkungen nun erneut: Zum einen betonte er im fünften Absatz, dass sein Sohn der gegenwärtige Eigentümer des Besitzes von Bigarello sei: „possessionis Bigarelli eiusdem mantuane diocesis quam de presenti possidet Magnificus miles Franciscus de Gonzaga filius meus naturalis et legitimatus“.94 In Absatz 29 bekräftigte er des Weiteren jede einzelne Schenkung zugunsten des Sohnes aus Verträgen, die vor dem Testament aufgesetzt worden waren. Dazu zählten neben dem Besitz in Bigarello und in Fossamana sämtliche bereits übertragene bewegliche und unbewegliche Güter. Er betonte die Rechtskräftigkeit und Verbindlichkeit dieser Schenkungen und erklärte, dass er seinem Sohn durch das Testament all dieses erneut schenkte: „Item confirmo, ratiffico et approbo in quantum expediat et opus sit omnes et singulas donationes per me alias factas supra dicto Magnifico Francisco filio meo ut prefertur tam de possesione Bigarelli premissa et etiam possessione Fossemane mantuane diocesis quam de quibuscumque aliis rebus ac bonis tam mobilibus quam immobilibus et eas omnes vim et robur plenarie firmitatis habere volo, decerno ac declaro et in quantum opporteat ipsas possesiones, res et bona de novo dono.“95 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Vgl. Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 6ff. 94 Testament, Abs. 5. 95 Ebd., Abs. 29.
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Hier wird deutlich, dass dem Kardinal das Testament, obwohl es ein rechtliches Dokument war, als alleinige Sicherheit für die Versorgung des Sohnes nicht ausreichte und er offenbar befürchtete, dass es angeen werden könnte. Dies war insofern berechtigt, als Testamente keinesfalls selten angegriffen wurden. Bei konkurrierenden Interessen und potentiellen Konflikten um das Erbe konnte es deswegen geboten sein, über die wichtigen Angelegenheiten im Vorfeld Verträge abzuschließen.96 Um seinen Sohn umfassend abzusichern, hielt der Testator die Schenkungen an ihn dementsprechend in verschiedenen rechtlichen Dokumenten fest. Ebenso stellte der Kardinal seinem Sohn mehrere Personen zur Seite. Er gab ihn, wie bereits aufgezeigt wurde, in den Schutz des Markgrafen Federico und bestimmte als Vormünder seinen Sekretär Gianpietro und den jüngsten Bruder Ludovico. Die Wahl der Vormünder bewährte sich insofern postum, als sie sich dafür einsetzten, dass der letzte Wille des Kardinals in Bezug auf den Sohn Bestand hatte.97 Von Francesco Junior forderte sein Vater weit weniger als von den Brüdern: Der Diener Gianfrancesco, genannt „Rattono“, sollte in seinen Diensten bleiben und dafür vom Sohn gemäß seiner Verdienste einen lebenslangen, angemessenen Lohn bekommen.98 Zusätzlich sollten der Sohn und seine Nachkommen den geistlichen Brüdern der Mantuaner Kirche San Francesco einmal jährlich am Todestag des Kardinals als Gegenleistung für eine Totenmesse Brot, Wein und Almosen im Wert von drei Golddukaten spenden.99 Hierin zeigt sich ein wichtiges Muster des Testaments: Angelegenheiten, die für den Kardinal von höchster Bedeutsamkeit waren, wurden mehrfach abgesichert. Dazu zählten sein eigenes Seelenheil und der Beitrag, der dazu nach seinem Tod auf Erden geleistet werden konnte. Aus der Gruppe seiner nächsten Verwandten erkor er für deren Sicherstellung zwei Personen, die auch darüber hinaus eine hervorgehobene Position einnahmen: zum einen seinen Universalerben Gianfrancesco, zum anderen seinen Sohn Francesco. Indem er seinen Sohn mit dieser bedeutungsvollen Aufgabe betraute, sicherte der Testator die Sorge um sein Seelenheil durch die Einbindung 96 Vgl. Brigitte Kasten, Einführung, in: dies., Fürstentestamente (wie Anm. 10), 1–14, 4f. In Bezug auf Heiratsverträge, aber auf andere innerfamiliale Vertragsformen übertragbar formuliert hat dies Margareth Lanzinger, Paternal Authority and Patrilineal Power. Stem Family Arrangements in Peasant Communities and Eighteenth-Century Tyrolean Marriage Contracts, in: dies. (Hg.), The Power of the Fathers. Historical Perspectives from Ancient Rome to the Nineteenth Century. London/New York 2015, 65–89, 68f. 97 Vgl. Testament, Abs. 31. Vgl. zu den Widrigkeiten, mit denen sie dabei zu kämpfen hatten: Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 9–13. Vgl. zu den Ausführungen des letzten Willens zusätzlich Chambers, Will (wie Anm. 1), 110–131. 98 Vgl. Testament, Abs. 31. 99 Vgl. ebd., Abs. 9.
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der jüngeren Generation zeitlich möglichst lange ab und unterstrich gleichzeitig das Vertrauen, das er in ihn setzte. Wie Chambers gezeigt hat, deuten die meisten schriftlichen Zeugnisse, die Francesco Junior hinterlassen hat, daraufhin, dass der Vater und das Andenken an ihn für den Sohn zentrale Bedeutung hatten, obwohl er noch ein Kind von etwa sechs Jahren war, als dieser starb.100 So nahm er in seinem eigenen Testament aus dem Jahre 1511 ausführlich Bezug auf den Vater und wünschte sich, neben ihm begraben zu werden.101 Damit erhob er einen Anspruch auf Präsenz im Haus Gonzaga, die der Kardinal ihm unter anderem mit seinem Testament versucht hatte zu ermöglichen. Die materielle Versorgung und soziale Positionierung seines Sohnes kann insgesamt als eines der wichtigsten Anliegen im Testament angesehen werden. Dies erachtete Francesco vermutlich deshalb als besonders bedeutsam, weil der Sohn erstens als legitimiertes und junges Kind schutzbedürftig war und zweitens durch andere verwandtschaftliche Netzwerke zukünftig weniger gut versorgt sein würde als die Brüder. Drittens musste sein Status als eigenes, legitimiertes Kind noch einmal festgeschrieben und untermauert werden.
Die Neffen: Francesco, Sigismondo und Ettore Wie bereits erwähnt, bekamen insgesamt drei Neffen etwas vererbt: Francesco, Sigismondo und Ettore. Somit wurden nicht alle Neffen, die Francesco zu dem Zeitpunkt hatte, berücksichtigt, sondern lediglich die beiden ältesten Söhne Federicos und der uneheliche Sohn Rodolfos. Nicht genannt wurden Gianfrancescos Söhne102 sowie der dritte Sohn Federicos, der 1474 geborene Giovanni.103 Damit hatte Francesco also unter den Söhnen des Markgrafen nur jene beiden ins Testament aufgenommen, die als Erst- und Zweitgeborener zukünftig eine hervorgehobene Rolle für das Haus Gonzaga spielen würden: Francesco als Nachfolger seines Vaters als Markgraf und Sigismondo, der als Zweitgeborener wie seine 100 Vgl. Chambers, Cardinalino (wie Anm. 36), 17–29. 101 Vgl. ebd., 28f. Das Testament von Francesco Junior findet sich ebd., 51–54. 102 In seinem Testament von 1496 listete Gianfrancesco zehn Kinder auf: „Ludovico, Federico, Pirro and Gianfrancesco; Barbara, Dorotea, Susanna, Eleonora, Camilla and Antonia“. Chambers, Gianfrancesco (wie Anm. 26), 65. Im Jahr 1483 waren erst der Sohn Ludovico und der uneheliche Sohn Phoebus dem Säuglingsalter entwachsen. 103 Vgl. Antenhofer, Signori (wie Anm. 17), 58. Die Tatsache, dass Federicos drittgeborener Sohn Giovanni nicht benannt wurde, passt in den tendenziellen Bedeutungsverlust der nachgeborenen Brüder, der in dieser Generation insofern einsetzte, als das Territorium nach dem Tod des Markgrafen Federico unter dessen Söhnen nicht mehr aufgeteilt werden sollte. Vgl. Antenhofer, Familie (wie Anm. 18), 38.
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Onkel Francesco und Ludovico für eine geistliche Karriere bestimmt war und somit die familiären Interessen an der Kurie vertreten würde. Dass neben diesen beiden ausgerechnet Rodolfos unehelicher Sohn Ettore im Testament erscheint, passt hingegen nicht in dieses Bild und muss andere Gründe gehabt haben. Francesco, der Erstgeborene des Markgrafen Federico, bekam „offitiolum meum depictum, coopertum brochato auri“.104 Dieses bebilderte, kleine und mit Goldbrokat bezogene Gebetbuch kann als geistliche Anerkennung und Unterstützung der zukünftigen Herrschaft Francescos angesehen werden. Gebetbücher, die mit kostbarem Stoff überzogen und illustriert waren, waren die „Lieblinge der Fürsten, die damit prunken und sich dennoch auf ihre Frömmigkeit berufen konnten. Das Buch sah in der Zeit vor der Gutenberg-Ära ebenso anders aus wie das Gemälde vor der Zeit der Kunstsammlung. Es war als Sammelobjekt sogar mehr geschätzt als das Gemälde und unendlich viel kostbarer und kostspieliger als dieses.“105 Bebilderte Gebetbücher waren also Objekte, mit denen sich Herrscher ‚schmücken‘ konnten. Indem der Kardinal seinem Neffen nun ein solches Buch vererbte, beteiligte er sich an der Ausgestaltung seiner zukünftigen Position und bekräftige damit einerseits als zweitgeborener Gonzaga-Bruder und andererseits als Kardinal aus geistlicher Sicht die Legitimität der Herrschaftsnachfolge seines Neffen. Sigismondo, der zweitgeborene Sohn des Markgrafen Federico, der wie sein Onkel Ludovico apostolischer Protonotar war, bekam vom Kardinal einen Gegenstand vererbt, der in direktem Bezug zu seinem Amt stand: „Decretalem meam in membranis ligatam.“106 Bei einer Dekretalensammlung handelte es sich um eine Zusammenstellung von kirchenrechtlichen Quellen. Dekretalen sind „rechtlich gebietende Briefe der Päpste“107 bzw. Verfügungen, die im Laufe der Zeit systematisch zusammengetragen wurden.108 Der Besitz einer Dekretalensammlung war für kirchliche Würdenträger aufgrund ihrer jurisdiktionellen Aufgaben unerlässlich.109 Deren Weitergabe an Sigismondo signalisierte eine Unterstützung und Anerkennung seiner Bestimmung für eine hohe geistliche Laufbahn.110 104 Testament, Abs. 19. 105 Hans Belting, Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 2010, 17f. 106 Testament, Abs. 20. 107 Georg May, Art. Kirchenrechtsquellen I, in: Gerhard Müller (Hg.),Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin/New York 1990, 1–44, 3. 108 Ebd., 4. 109 Vgl. Johannes Neumann, Art. Bischof I, in: Gerhard Krause u. Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin/New York 1980, 653–682, 670–674. 110 Ludovico, der Bruder von Kardinal Francesco, wurde Bischof von Mantua, strebte aber auch das Kardinalsamt an und wurde dabei zunächst vom nun herrschenden Markgrafen Francesco unterstützt. Im Jahr 1488 veränderte sich aber die Haltung des Markgrafen und
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Dem dritten Neffen Ettore hinterließ der Kardinal zwei Tassen, die nicht wertvoll bzw. groß waren, zwei Schüsseln und zwei (Servietten-)Ringe aus Silber: „tacias duas ex parvis, scutellas duas et tondos duos ex argento“.111 Dass er dies dem un ehelichen Sohn von Rodolfo vermachte, könnte als Ausdruck der Zuneigung zu diesem bzw. als symbolischer Ersatz dafür gewertet werden, dass er Rodolfo selbst testamentarisch nicht bedacht hatte. Zumindest ist es möglich, dies als Signal zu lesen, dass er einerseits keinen Bruch mit seinem Bruder anstrebte, da er den Bezug zur nächsten Generation über den Neffen herstellte, und andererseits als ein Statement, dass auch diesem unehelichen Sohn im Haus Gonzaga prinzipiell ‚eine Tür offenstand‘. Der Kardinal stattete seinen Neffen mit Gegenständen aus, die man bei Tisch benutzt. Die Funktion dieser Gegenstände und die paarweise Vererbung lassen vermuten, dass der Erblasser hier eine spätere Heirat und die Gründung eines eigenen Haushaltes unterstützte, indem er zu dessen Ausstattung beitrug. Gleichzeitig grenzte Francesco das Erbe an Ettore aber auch von dem an andere enge Verwandte ab, indem er betonte, dass es sich bei den Tassen um Gegenstände von mäßigem Wert bzw. geringer Größe („ex parvis“) handle. Ein solcher eher abwertender Terminus findet sich im Testament sonst nicht bei der Nennung der transferierten Gegenstände an die Neffen und den Sohn. Im Absatz zuvor, in dem er seinem Sohn etwas vererbte, betonte Francesco die Kostbarkeit der Seidenstoffe und beschrieb sie explizit als höfisch. Durch die Aufeinanderfolge dieser beiden Verfügungen unterstrich er den qualitativen Unterschied zwischen dem unehelichen, aber legitimierten Sohn und dem unehelichen, nicht legitimierten Neffen deutlich. So kann man die Berücksichtigung des unehelichen Neffen Ettore letztlich als Mittel ansehen, den Status des eigenen Sohnes positiv hervorzuheben und dessen Zugehörigkeit zum hochadeligen Hause Gonzaga zu demonstrieren. Trotz der Unterschiede zwischen den Neffen finden sich im Testament Gemeinsamkeiten: Alle drei bekamen (wie der Sohn und die Brüder) Gegenstände vererbt, die man in Bezug zu ihren späteren Ämtern oder der für sie vorgesehenen Lebensführung setzen kann. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Brüdern und dem Sohn einerseits und den Neffen andererseits ist aber, dass an letztere er förderte von nun an eine Promotion seines Bruders Sigismondo. In Konkurrenz zu seinem Onkel und mit Unterstützung seines Bruders wurde dieser letztlich 1505 der nächste Kardinal aus dem Hause Gonzaga. Vgl. Severidt, Gonzaga (wie Anm. 12), 301–304; David S. Chambers, The Enigmatic Eminence of Cardinal Sigismondo Gonzaga, in: Renaissance Studies 16, 3 (2002), 330–354, 336. 111 Testament, Abs. 22.
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keinerlei Verhaltenserwartungen gestellt wurden. Die Neffen waren im Vergleich zu den Brüdern und dem Sohn im Testament weniger dicht in das Beziehungsnetz von offenen Ansprüchen und Absicherungen für die Zukunft verstrickt. Die Berücksichtigung der beiden Söhne Federicos stellte dabei eine Anerkennung der Regelung der Herrschaftsnachfolge und der Bestimmung der Zweitgeborenen für eine geistliche Laufbahn dar – und kann zusammengefasst als Benennung und Bejahung der hausinternen Verhaltensnormen und Praktiken der Gonzaga angesehen werden.
Fazit Das Testament als politisches Vermächtnis des zweitgeborenen Francesco Gonzaga zeichnet sich dadurch aus, dass in dem Dokument offene Ansprüche verhandelt und Macht und Präsenz in der männlichen Gonzaga-Linie beansprucht und hergestellt wurden. Dabei wurden äußerst konfliktträchtige Angelegenheiten thematisiert und austariert. Dazu gehörten die Forderung nach der langfristigen Sicherstellung der Zahlungen an geistliche Institutionen zur Abhaltung von Totenmessen für das Seelenheil des Testators und seiner Eltern, der Wille, die Beziehungen zur Kurie nicht trüben zu lassen, der Anspruch, Ehre und Glanz der Familie zu wahren oder noch zu vergrößern sowie der implizite Wunsch an den Bruder Rodolfo, sein Soldverhältnis, das die beiden letzteren Aspekte gefährdete, zu lösen. Des Weiteren fielen darunter auch die Erwartungen an alle erbenden Brüder, an der Tilgung von Schulden mitzuwirken und vor allem sein unbedingter Wille, dem eigenen Sohn eine aus seiner Sicht angemessene Zukunft zu ermöglichen. Die letzten beiden Aspekte hingen dabei eng zusammen. Um den Besitz, den er seinem Sohn übertragen hatte, von darauf lastenden Schulden zu befreien, forderte der Testator ihm zustehende Erbgelder ein, und zwar von seinem Bruder Federico eine anteilige Auszahlung der mütterlichen Mitgift und von seinem Bruder Gianfrancesco eine ihm zugesprochene Zahlung aus dem väterlichen Erbe. Er setzte also die offenen Schulden ein, um das Kind über die Brüder abzusichern. In beiden Fällen stellte der legitimierte Sohn eine Konkurrenz für seine Onkel dar, denn ohne seine Existenz wären die offenen Schulden vermutlich entfallen, mit denen nun generationenübergreifend operiert wurde. Im Falle von Gianfrancesco wurde dies noch dadurch verschärft, dass das uneheliche Kind vom Testator Besitz übertragen bekommen hatte, der ansonsten aller Wahrscheinlichkeit nach ihm als Universalerben zugefallen wäre. Mit der Einsetzung und Benennung als Universalerbe, die gemäß dem Modell des väterlichen Testaments und daraus resultierenden Übereinkünften erfolgte, griff Francesco etwas auf, was von ihm
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erwartet wurde. Nominell ließ er dem Bruder die Favoritenrolle. Er verschleierte zugleich jedoch, dass er im Testament zumindest teilweise in eine andere Richtung handelte, indem er den Sohn soweit wie möglich begünstigte und durch die übertragenen Güter in der Familie etablierte. Es ist daher nur folgerichtig, dass der Testator Gianfrancesco nicht weiter in die ihm so wichtige, umfassende Absicherung seines Sohnes miteinband, sondern dafür andere Personen mit weniger massiven Besitzinteressen vorsah. Dazu zählten der jüngste Bruder Ludovico und trotz überlappender Interessen auch der Markgraf Federico, auf dessen mächtigen Einfluss für den Schutz des Sohns nur schwerlich verzichtet werden konnte. Seinem ältesten Bruder diesen erbetenen Schutz dennoch ‚schmackhaft‘ zu machen, stellte eine der zahlreichen Herausforderungen dar, denen sich der Kardinal in seinem Testament stellen musste. Der Testator leistete mit seinem letzten Willen zusammengefasst als zweitgeborener Sohn einen Beitrag zur Stabilität der Gonzaga-Familie und ihrer Herrschaft in Mantua, indem er in dem Dokument verwandtschaftlich-dynastische Logiken übernahm und festschrieb. Dazu gehörte auch, die Schwestern unerwähnt zu lassen, was das Testament als Dokument einer patrilinearen Politik ausweist. Stattdessen mussten die Interessen der Brüder und Neffen bei der Verteilung des Erbes berücksichtigt und deren jeweilige Lebenswege und gegebenenfalls Ämterlaufbahnen unterstützt werden. Zugleich galt es aber aus der Sicht Francescos, die soziale Positionierung und materielle Versorgung des legitimierten Sohnes sicherzustellen. Das alles konnte nur zusammengeführt werden, wenn es ihm gelang, durch das Testament Konflikte, die diese Bemühungen konterkariert hätten, aber gleichzeitig in den Verfügungen angelegt waren, präventiv möglichst zu vermeiden oder wenigstens gering zu halten. Der Kardinal erreichte dies, indem er sich in dem Dokument durch Balancieren und in Balance-Halten, Einteilen und Zuteilen einen eigenen Handlungsraum schuf. Dies bedeutete, die verwandtschaftlichen Konstellationen zwischen dem Testator und den im Testament Angesprochenen sowie zwischen diesen zu regeln und (neu) zu ordnen. Dabei verknüpfte der Kardinal die verschiedenen, teilweise konkurrierenden Ansprüche und Interessen miteinander, die ohne diese Verflechtung kaum vereinbar gewesen wären. Dies gelang, indem er erstens vom Sohn und von allen Brüdern, die etwas erbten, auch etwas forderte, wohingegen an den Bruder, der nichts bekam, auch keine Erwartungen formuliert wurden. So wurde im Testament ein intergenerationelles Schulden- und Beziehungsgeflecht hergestellt. Zweitens verteilte der Testator die drei für ihn wichtigsten Aufgaben gleichmäßig, und zwar so, dass jede Aufgabe mindestens zwei Personen zugewiesen wurde. Dies erhöhte zum einen die Chancen auf Durchführung und installierte zum anderen
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unter den Brüdern einen gewissen Kontrollmechanismus. Jeder erbende Bruder sowie der Sohn wurden letztlich mit zwei Aufgaben betraut. Drittens hinterließ Francesco Gegenstände gezielt so, dass diese je nach Kontext Beziehungen stifteten oder aktualisierten, Präsenz herstellten, Unterstützung kommunizierten sowie Differenz ausdrückten oder verringerten. Sie wurden vom Kardinal so vererbt, dass sie im Bezug zu den erbenden Personen und ihren (erwünschten) Lebensläufen, Aufgaben oder Ämtern standen. Die weitergegebenen Dinge festigten die verwandtschaftlichen Beziehungen und dynastischen Strategien und entfalteten somit eine eigene Wirkmacht. Im Falle von Federico und dem Neffen Francesco stellten sie eine Anerkennung und Unterstützung ihrer Herrschaft dar. Gleichzeitig schuf sich der Testator durch die vererbten Gegenstände an diese beiden in dem Herrschaftskontext, den sie verkörperten, machtvoll eine eigene Präsenz. Im Falle des jüngsten Bruders Ludovico und des Neffen Sigismondo materialisierte sich in der Vererbung von Gegenständen, die in einem kirchlichen Kontext zu verorten sind, die Zustimmung und Unterstützung Francescos hinsichtlich einer weiteren geistlichen Karriere der beiden sowie die Fortführung einer Tradition von nachgeborenen Gonzaga-Brüdern in hohen kirchlichen Ämtern, als deren Gründer sich Francesco durch die hinterlassenen Dinge positionierte. Das Erbe an den Neffen Ettore nutzte der Testator, um den höheren Status des eigenen unehelichen, aber legitimierten Sohnes im Vergleich zum unehelichen, nicht legitimierten Sohn Rodolfos hervorzuheben, indem er letzterem Dinge vererbte, deren Wert deutlich geringer war als jener der an den eigenen Sohn vermachten Gegenstände, die explizit als höfisch benannt wurden. Die dem Neffen Ettore zugedachten Gegenstände entfalteten damit eine ambivalente Wirkung. Sie kommunizierten einerseits Verbundenheit zum Bruder Rodolfo, gleichzeitig konstituierten sie aber auch eine Differenz zwischen dem eigenen Sohn und dem Neffen. Die Weitergabe von kostbaren Objekten an den Sohn sollte hingegen die Differenz zwischen dem unehelich geborenen Kind und den restlichen Gonzaga-Angehörigen verringern, seine Zugehörigkeit zur Familie betonen und über den Tod des Kardinals hinaus sicherstellen. So brachte es Francesco Gonzaga zustande, das Konfliktpotential, das die Legitimierung des Sohnes und die Übertragung von Besitz an ihn in sich barg, systematisch abzumildern. In seinem Testament gelang ihm damit ein verwandtschaftlicher Balanceakt.
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Geburtsaristokratische Herrschaft in der Stadtrepublik Das Patriziat der Reichsstadt Frankfurt am Main1 Andreas Hansert
Einschlägige Debatten um Familie und Verwandtschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit kreisen um die Frage, wann und zu welchen Zeiten sich die Verwandtschaft eher nach horizontalen oder nach vertikalen Prinzipien organisierte: Wann und wo dominierten eher die familiären Beziehungen der Gegenwart ‒ hier insbesondere die durch Heirat und Verschwägerung gestifteten Bindungen zu anderen Familien und die Solidarität unter Geschwistern und weiteren Seitenverwandten ‒, wann kommt es hingegen vornehmlich zu einer Ausrichtung an der zeitenübergreifenden, in Vergangenheit und Zukunft weisenden Generationenabfolge, wodurch das einzelne Individuum seine Stellung und die seiner Nachkommen aus der Abstammung von einem fernen gemeinsamen Stammvater, die es mit seinen Seitenverwandten teilt, begreift. Georges Duby meinte schon am Ende des 9. Jahrhunderts mit der Ausbildung der Feudalherrschaft eine Wende von der horizontalen hin zur vertikalen Verwandtschaftsorganisation ausmachen zu können.2 Dabei war die Frage, ob sich die Organisation der Verwandtschaft, hier insbesondere die der Familien des Adels, kognatisch-bilateral oder eingeschränkter und weitaus exklusiver agnatisch-patrilinear formierte.3 Die agnatische Form 1
Der nachfolgende Text basiert auf Ergebnissen eines längeren Forschungsprojekts, das ich mit Hilfe der Frankfurter Cronstetten-Stiftung zwischen 2010 und 2014 zum Frankfurter Patriziat durchgeführt habe. Es bestand aus drei Teilen: der Errichtung einer Internetdatenbank, der Abfassung einer wissenschaftlichen Monographie und der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema. Die Ausstellung mit dem Titel „Die Holzhausen. Frankfurts älteste Familie“ fand von April bis Juli 2014 im Historischen Museum Frankfurt statt. Die Datenbank ist unter der Adresse https://frankfurter-patriziat.de seit Oktober 2011 online geschaltet und kann gebührenfrei benutzt werden. Die wissenschaftliche Monographie erschien unter dem Titel „Geburtsaristokratie in Frankfurt am Main. Geschichte des reichsstädtischen Patriziats“ 2014 im Böhlau Verlag Wien. 2 Georges Duby, Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich, Frankfurt 1988, 106f. 3 Vgl. Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“, in: Karl-Heinz
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war die strengere, aber in mancher Hinsicht auch weitaus effizientere Form, denn die Orientierung am Mannesstamm macht es möglich, Familienzusammenhang und Familienbewusstsein anhand langer, um nicht zu sagen sehr langer Generationenabfolgen (20 und mehr Generationen) zu konstituieren. Insbesondere die Erfordernisse der Territorialherrschaft beförderten eine immer strengere Gestaltung der Verwandtschaftsstrukturen innerhalb der Fürstenfamilien, die das einzelne Familienmitglied dem Zwang einer ranggleichen Gattenwahl und der unbedingten Geltung des Rechts des Erstgeborenen, das der Territorialzersplitterung entgegenwirken sollte, unterwarf. Der Landadel und das städtische Patriziat, das Thema dieses Aufsatzes ist, standen unter dem Gesichtspunkt ihrer Herrschaftsausübung zwar bei weitem nicht so stark unter Druck wie die Fürsten. Dennoch ist im Zuge der Staatenbildung auch auf dieser Ebene mitunter eine strenger vertikal ausgerichtete Organisation ihres familiären Zusammenhalts zu beobachten, so dass David Sabean und Simon Teuscher für das 15. und 16. Jahrhundert einen generellen Übergang zur Vertikalisierung der Verwandtschaftsorganisation konstatieren konnten ‒ wobei sie später, Mitte des 18. Jahrhunderts, dann einen zweiten Übergang ausmachten, der durch verstärkte endogame Gattenwahl und ausgeprägte Interaktion unter Verwandten wieder eine mehr horizontale Ausrichtung der Verwandtschaft einleitete.4 Auch im Patriziat der Reichsstadt Frankfurt ‒ zumindest für den Teil seiner führenden Familien, der sich in der Gesellschaft bzw. Ganerbschaft5 Alten-Limpurg
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Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, 275–324, 276ff (dieser Text ist als PDF abrufbar unter: http://www.verwandtschaftsforschung.de/ publikationen.html); Michael Mitterauer, Mittelalter, in: Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause u. ders., Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, 160–363, hier 160ff. David Warren Sabean u. Simon Teuscher, Kinship in Europe: A New Approach to LongTerm Development, in: dies. u. Jon Mathieu (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to LongTerm Development (1300–1900), New York/ Oxford 2007, 1–32. Der Begriff Ganerbschaft hatte seine Wurzeln im ritterschaftlichen Adel Süddeutschlands und bezeichnete das gemeinschaftliche Eigentum mehrerer Familien an einer Burg oder an einer sonstigen Immobilie, also an einem unteilbaren Gut. Der einzelne Besitzanteil war individuell nicht auslösbar. Das Eigentum ging innerhalb der beteiligten Familien im Erbgang (theoretisch „ewig“) auf die künftigen Generationen über. Vgl. Artikel Ganerbe, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 1380‒1381; ebenso der Begriff „Ganerbschaft“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 1106; Heinrich Frhr. von Lersner, Was ist eine Ganerbschaft?, in: Vaterland auf dem Römerberg und Roßmarkt … Geschichten und Berichte aus 6 Jahrhunderten, zusammengestellt aus 20 Limpurger Briefen der Adeligen Ganerbschaft des Hauses Alten Limpurg zu Frankfurt am Main, hg. von der Cronstett- und Hynspergischen Evangelischen Stiftung, Frankfurt a. M. 1975, 229ff; Andreas Hansert in der Einleitung zu: Hans Körner, Frankfurter Patrizier. Historisch-Genealogisches Handbuch der Adeligen
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zusammenschloss ‒ fand an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit dieser generelle Perspektivenwechsel zur Vertikalität seinen Niederschlag. Hier begann sich das Patriziat insbesondere durch zunehmende Restriktionen bei der Gattenwahl im Hinblick auf eine Verbesserung der Stellung der nachfolgenden Generation hin zu formieren. Das Frankfurter Patriziat arbeitete durch vermehrte Kontrolle des verwandtschaftlichen Geschehens, aber auch durch stärkere Normierungen des Verhaltens und Auftretens an der Herausbildung eines exklusiven Geburtsstandes, für den die vertikale Perspektive ‒ eben die Vornehmheit und Ausschließlichkeit der Abstammung ‒ das entscheidende Kriterium war. Um dies auch empirisch belegen zu können, wurden im Vorfeld der historiographischen Studie umfangreiche genealogische Recherchen unternommen, um damit eine präzise Kenntnis der Verwandtschafts- und Familienverhältnisse im Ablauf der Generationen zu haben. Unterschiede, Feindifferenzierungen und langfristige Effekte, wie sie sich insbesondere aus einer streng gehandhabten Kontrolle der Ranggleichheit bei der Gattenwahl ergeben, wurden so unmittelbar erkennbar.6
1. Patrizische Herrschaft in Frankfurt Frankfurt stand, obgleich es im Alten Reich eine der führenden Reichsstädte war, bislang etwas im Schatten der Patriziatsforschung, die sich vor allem auf süddeutsche Reichsstädte (Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg etc.) und die Hansestädte (Lübeck vor allem) mit ihrer mehr kaufmännisch akzentuierten Führungsschicht konzentriert hat.7 Möglicherweise liegt es daran, dass Frankfurt sich im Lauf des
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Ganerbschaft des Hauses Alten-Limpurg zu Frankfurt am Main, 2. Aufl., neubearb. und fortges. durch Andreas Hansert, Neustadt/Aisch 2003 (mit einer Stammtafel der Familie von Lersner als Beilage), 14. Die Ergebnisse dieser genealogischen Studien, die sämtliche Frankfurter Patrizierfamilien zwischen 1500 und 1806 sowie etliche auch vor 1500 darstellen, wurden in der erwähnten Internetdatenbank publiziert: https://frankfurter-patriziat.de. Siehe auf diesem Portal auch den Link „Die Daten in Papierform“, wo die gesamten Daten in der für genealogische Literatur üblichen Aufbereitung angeordnet sind und in Form einer mehr als 1.500 Seiten starken PDF-Datei heruntergeladen werden können (die Daten sind nach Erteilung eines Zugangs durch den Systemadministrator kostenfrei zugänglich). Während größere Monographien des 19. Jahrhunderts das Frankfurter Patriziat noch ausführlicher gewürdigt hatten (vgl. etwa Karl Heinrich Roth von Schreckenstein, Das Patriziat in den deutschen Städten, besonders Reichsstädten, als Beitrag zur Geschichte der deutschen Städte und des deutschen Adels, Tübingen 1856, Neudruck Aalen 1970, hier unter anderem 613f), erschienen einschlägige Sammelbände des späteren 20. Jahrhunderts mitunter ganz ohne eine Würdigung der Stadt; vgl. Hellmuth Rössler (Hg.), Deutsches Patriziat 1430–1740. Büdinger Vorträge 1965, Limburg 1968.
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20. Jahrhunderts mehr als andere Städte der Moderne in ihren verschiedenen Spielarten geöffnet hat: als globale Finanzmetropole, als Verkehrszentrum, als ein Ort der (links-)intellektuellen Diskussion und des internationalen Austausches, in der Architektur und Stadtgestalt nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Das Bewusstsein einer historisch tiefen Dimension ist in der Breite der öffentlichen Fremd- und Eigenwahrnehmung nicht sonderlich ausgeprägt, und es mag sein, dass diese Haltung bis in die fachliche Beschäftigung mit der Historie hinein ausstrahlt. Wenn die ältere Stadtgeschichte ‒ nämlich die Geschichte vor der NS-Zeit, die als solche eine starke Rezeption erfahren hat ‒ aber doch Thema ist, sind es eher andere Motive, die in den Blick geraten: die Kaiserwahlen, die Handelsmessen, die Paulskirche, eventuell die bedeutende Tradition des Frankfurter Judentums. Es passt jedenfalls kaum zum heutigen Selbst- und Fremdbild dieser „amerikanischsten“ aller Städte in Deutschland, dass die vermeintlich bürgerlich-republikanischen Traditionen lange Zeit durch ausgeprägt patrizische Haltungen dominiert wurden und sich ausgerechnet hier ein pointiert aristokratisch auftretendes Patriziat entfaltet und das Geschehen über Jahrhunderte hinweg bestimmt hat.8 Tatsächlich eignet sich Frankfurt als ein hervorragendes Exempel zum Studium der Okkupation einer ursprünglich genossenschaftlich-egalitär angelegten Stadtverfassung durch ein geburtsaristokratisch sich immer stärker abschließendes Patriziat. Dieses stellt denn auch das Zentralmotiv des vorliegenden Beitrags dar.9 Frankfurt hat – in Teilen etwas zeitverzögert – wie die anderen Reichs- und 8
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Vgl. zu diesen geschichtspolitischen Hintergründen Andreas Hansert, Frankfurter Ge schichtsvergessenheit: Hundert Jahre Altstadtdebatte als Beispiel, als Broschüre hg. vom Kuratorium Kulturelles Frankfurt e. V., Frankfurt 2012. Neben dem in Anmerkung 1 genannten kürzlich erschienenen Buch des Autors (Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt), in dem die Geschichte des Frankfurter Patriziats sehr grundlegend bearbeitet wurde, siehe dazu vor allem folgende, teils ältere Arbeiten: B[enedict] J[acob] Römer-Büchner, Die Entwickelung der Stadtverfassung und die Bürgervereine der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt 1855; Franz Lerner, Die Frankfurter Patriziergesellschaft Alten-Limpurg und ihre Stiftungen, Frankfurt 1952; darüber hinaus hat Lerner 1953 auch zwei wichtige Arbeiten über die Familie Holzhausen verfasst; Körner, Genealogisches Handbuch (wie Anm. 5); Andreas Hansert, Patriziat im alten Frankfurt, in: ders. u. a., „Aus Auffrichtiger Lieb Vor Franckfurt“. Patriziat im alten Frankfurt (Ausstellungskatalog), hg. von der Cronstett- und Hynspergischen Evangelischen Stiftung und dem Historischen Museum Frankfurt, Frankfurt 2000, 13–31. ‒ Neben vielen kleineren Arbeiten legte in jüngerer Zeit Michael Matthäus eine der großen biographischen Studien zum Patriziat vor, siehe Michael Matthäus, Hamman von Holzhausen (1467‒1536). Ein Frankfurter Patrizier im Zeitalter der Reformation, Frankfurt a. M. 2002. ‒ Ältere Autoren wie Georg Ludwig Kriegk oder die Stadtarchivare Rudolf Jung und Wolfgang Klötzer, vor allem der Stadthistoriker Friedrich Bothe behandelten in zahlreichen wichtigen Aufsätzen oder kleineren Monographien einzelne Aspekte oder Persönlichkeiten bzw. Familien
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Freien Städte auch, seit der Stauferzeit damit begonnen, sich als vergleichsweise autonomes kommunales Gemeinwesen zu konstituieren.10 Friedrich II. sprach in einer Urkunde des Jahres 1219 von den Bewohnern der Königspfalz erstmals als einer „Frankfurter Bürgerschaft“ – universorum civium de Frankinfort.11 In den mehr als etwa 150 Jahren danach sieht man daraufhin ein städtisches bürgerliches Gemeinwesen Gestalt und Struktur annehmen. Eine Ratsorganisation bildet sich heraus, und es gelingt den Bürgern spätestens 1372 mit dem Kauf des Schultheißenamts auch gegenüber dem Kaiser als oberstem Stadtherrn Unabhängigkeit zu erlangen. Freiheit nach außen, insbesondere auch gegenüber geistlichen und fürstlichen Herren der Umgebung, Autonomie nach innen – das waren die Grundmotive der (Reichs-)Stadtwerdung. Noch etwas anderes kam hinzu: die ausgeprägte rechtliche Egalität der Bewohner als Bürger, die in der Frühzeit der Reichsstadt einmal gegolten hatte.12 In die Bürgerbücher, die seit 1311 geführt wurden, wurden des Patriziats. Felicitas Schmieder hat eine Reihe von Aufsätzen zur mittelalterlichen Stadtgeschichte vorgelegt, die wichtige Aspekte des Patriziats thematisieren. ‒ Darüber hinaus wird das Patriziat selbstredend in diversen umfänglich angelegten Studien zu einzelnen Epochen behandelt, so zum Beispiel von Konrad Bund, Frankfurt im Spätmittelalter 1311–1519, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, hg. von der Frankfurter Historischen Kommission, Sigmaringen 1991, 53‒149; Rainer Koch, Grundlagen bürgerlicher Herrschaft. Verfassungs- und sozialgeschichtliche Studien zur bürgerlichen Gesellschaft in Frankfurt am Main (1612‒1866), Wiesbaden 1983; Ralf Roth, Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760‒1914, München 1996; ders., Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 3: 1789‒1866, hg. von der Frankfurter Historischen Kommission, Ostfildern 2013. 10 Zu diesem Prozess siehe Friedrich Schunder, Das Reichsschultheißenamt in Frankfurt am Main bis 1371, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 42 (1954); Elsbeth Orth, Frankfurt am Main im Früh- und Hochmittelalter, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, hg. von der Frankfurter Historischen Kommission, Sigmaringen 1991, 9–52; Felicitas Schmieder, Die mittelalterliche Stadt, Darmstadt 20123. 11 Diese Urkunde in: Johann Friedrich Böhmer (Hg.), Friedrich Lau (Bearbeiter), Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt, Bd. 1 (794‒1314), Bd. 2 (1314‒1340), Frankfurt 1901/1905, Neudruck: Glashütten 1970, hier Bd. 1, Nr. 47. Abbildung und Übersetzung der Urkunde in: Orth, Frankfurt am Main (wie Anm. 10), 40f. 12 Vgl. Dietrich Andernacht und Otto Stamm (Hg.), Die Bürgerbücher der Reichsstadt Frankfurt 1311‒1400, Frankfurt 1955, hier insbesondere die Ausführungen in der Einleitung; Gerhard Dilcher, Zum Bürgerbegriff im späteren Mittelalter. Versuch einer Typologie am Beispiel von Frankfurt am Main, in: Josef Fleckenstein u. Karl Stackmann (Hg.), Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter, Göttingen 1980, 59–105 (erneut publiziert, in: Gerhard Dilcher, Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 1996); Felicitas Schmieder, „… von etlichen geistlichen leyen wegen“ – Definitionen der Bürgerschaft im spätmittelalterlichen Frankfurt, in: Jahrbuch
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zunächst alle, die in die Stadt kamen, um in ihr zu leben, eingetragen und mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten ausgestattet. Aufschlussreich ist die Tatsache, dass selbst Juden hier gleich behandelt wurden – jedenfalls für die wenigen Jahrzehnte bis zum Pestjahr 1349, als sie Opfer eines Pogroms wurden, in dessen Folge ihre rechtliche Ausgrenzung begann. Außerhalb des Bürgerrechts stand hingegen der Klerus, der einen privilegierten Sonderstatus genoss, der ihm Steuerfreiheit und eigene Gerichtsbarkeit sicherte. Seine Sonderstellung war bei dem Bemühen, einen einheitlichen Bürgerverband herzustellen, ein beträchtlicher Störfaktor. Max Weber nannte den Klerus in diesem Zusammenhang eine „unbequeme und unassimilierbare Fremdmacht“.13 Das Patriziat genoss diese Privilegien nicht. Die Patrizier waren rechtlich Bürger und in den Anfängen des Bürgerrechts, vor allem in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts fest in die Schwurgemeinschaft der gesamten Bürgerschaft eingebunden, die gegenüber Bedrohungen von außen und gegen Nöte im Inneren solidarisch zusammengeschweißt war. Der Idee nach waren allzu große ständische Differenzierungen, aus denen dann auch elitäre Herrschaftsansprüche erwachsen würden, nicht vorgesehen. Die Anlage war somit also republikanisch; doch die weitere geschichtliche Entwicklung bildete dann vielfach Gewohnheits- und Traditionsrechte aus, die dem entgegenstanden: Das Patriziat setzte sich als Führungsgruppe sozial bald schon von der übrigen Bürgerschaft deutlich ab. Gemeinsamkeit in der Rechtsstellung auf der einen, manifeste Differenzen in sozialer Hinsicht auf der anderen Seite ‒ beide Merkmale gerieten in Spannung zueinander. Hier entstand ein struktureller Widerspruch, dem das reichsstädtische Patriziat in der gesamten Dauer seiner mehr als 500 Jahre währenden Existenz im Grunde genommen nie entkam. Schon in den Zunftunruhen, die während des 14. Jahrhunderts überall in den Städten ausbrachen, entschied sich weitgehend das (innere politische) Schicksal der Stadt: In Frankfurt wurde das Zunftbürgertum marginalisiert, während die alten Schöffenfamilien in diesem epochalen Ringen den Sieg davon trugen.14 Köln, wo die Gaffeln (zunftartige Zusammenschlüsse von Bürgern) die alten Ratsfamilien schon im Mittelalter in die Knie zwangen, ließe sich als Gegenbeispiel anführen. Die des Historischen Kollegs 1999, 131–165; Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 57ff. 13 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilbd. 5: Die Stadt, hg. von W. Nippel (Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 22-5), Tübingen 1999, 251 und zum gesamten Kontext 248ff. 14 Vgl. Georg Ludwig Kriegk, Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter. Ein auf urkundlichen Forschungen beruhender Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgerthums, Frankfurt 1862, Neudruck Glashütten 1970, 22–80; Schunder, Das Reichsschultheißenamt (wie Anm. 10), 52ff; Bund, Frankfurt im Spätmittelalter (wie Anm. 9), 91ff.
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Frankfurter Schöffenfamilien hatten ihre Wurzeln teilweise in den alten staufischen Ministerialen der ehemaligen Königspfalz, teils waren sie auch von außerhalb, zunächst vor allem aus dem Umland in der Wetterau zugezogen. Als Reaktion auf die Erhebung der Zünfte schlossen sie sich in Trinkstubengesellschaften zusammen, sodass sich seit Mitte des 14. Jahrhunderts erste anfängliche Verbandsstrukturen in der Führungsschicht erkennen lassen. Die wichtigste Frankfurter Patriziergesellschaft, die sich etwa ein Jahrhundert später dann den Namen Alten-Limpurg beilegte, hat in dieser Gegenwehr gegen die aufbegehrenden Zünfte ihren Anfang und ihren Ursprung; erstmals wurde sie 1353 in einem Gesetz erwähnt, mit dem der Rat neben den organisierten Zünften „dryngkestoben“ ‒ Trinkstuben der Geschlechter ‒ zuließ.15 Die zweite Patriziergesellschaft war die später so genannten Gesellschaft Frauenstein, die nach einem Hinweis in der älteren Literatur 1368 zum ersten Mal – ebenfalls noch nicht unter ihrem späteren Namen – genannt worden sein soll. Während des 15. Jahrhunderts gab es mit den Gesellschaften Laderam und Löwenstein zwischenzeitlich zwei weitere Organisationen des sich formierenden Patriziats, die sich dann zugunsten der beiden älteren jedoch wieder auflösten.16 Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts war jedenfalls jene innere Organisation der Reichsstadt geschaffen, die, mit gewissen Variationen und Transformationen, grundlegend bis 1806 Bestand hatte,17 eine Ratsorganisation, bestehend aus drei Bänken: die erste und älteste, die Schöffenbank, und die zweite, die Gemeindebank, beide zu je 14 Sitzen, schließlich die dritte Bank, die den Handwerkern zugesprochen war und 15 Sitze (einschließlich eines Vertreters der Krämer) umfasste. Der Schultheiß als formeller Vertreter des Kaisers und als erster Beamter der Stadt saß dem Rat vor. Die Geschäfte aber führten die beiden Bürgermeister: der Ältere, der aus der Schöffenbank, und der Jüngere, der aus der Gemeindebank heraus gewählt wurde. Beide amtierten nur für ein Jahr, mit Option zur späteren erneuten Wahl. In der so konstituierten zeitlichen Begrenzung der entscheidenden Machtposition war ein weiteres signifikantes republikanisches 15 Gesetz vom 14. November 1353, in: Armin Wolf (Hg.), Die Gesetze der Stadt Frankfurt im Mittelalter, Frankfurt 1969, 94. 16 Ein knapper Überblick über alle Frankfurter Patriziergesellschaften bei Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 500ff. Siehe darüber hinaus: [Johann Carl von Fichard gen. Baur von Eysseneck], Nachtrag der an die Hohe Deutsche Bundes-Versammlung den 30sten Okt. 1816 überreichten Bittschrift der Adlichen Ganerbschaft Alt-Limpurg zu Frankfurt am Main, ihre Rechte zu einer bestimmten Zahl von Stellen des dasigen Senats betreffend, … Frankfurt a. M. Andreä 1817, 6–14; Römer-Büchner, Die Entwickelung der Stadtverfassung (wie Anm. 9), 192–246; Lerner, Die Frankfurter Patriziergesellschaft (wie Anm. 9). 17 Kurze Darstellung der Frankfurter Ratsverfassung bei Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie. Anm. 1), 598f.
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Element in die Stadtverfassung eingelassen: Die Macht rotierte, keiner der patrizischen Clans konnte sie an sich reißen und monopolisieren. Die Mitgliedschaft im Rat selbst dauerte hingegen lebenslänglich. Die Neurekrutierung eines Ratsherrn geschah durch Wahl, und zwar durch Zuwahl, Kooptation. Nur bei ganz seltenen krisenhaften Zuspitzungen wurden Elemente einer demokratischen Wahl oder Abstimmung durch die Bürger erkennbar: So Ende des 14. Jahrhunderts nach der schweren Krise in Folge der verlorenen Schlacht von Kronberg, und wieder mehr als 200 Jahre später während des Fettmilchaufstandes 1612, als die Bürgerschaft durch eine vorübergehend vorgenommene Vergrößerung des Rats die Möglichkeit hatte, eigene Vertreter zu entsenden. Ein weiteres Beispiel für eine demokratische Willensbildung durch die Bürgerschaft wäre ihre Mitwirkung bei einer der großen Schicksalsfragen der Stadtgeschichte, nämlich der Umsetzung der Reformation: Als 1533 der katholische Gottesdienst aufgrund einer Umfrage unter der Bevölkerung und gegen den politisch (nicht konfessionell) begründeten Willen der patrizischen Ratsmehrheit verboten wurde. In solchen Vorgängen schien immer wieder etwas von der ursprünglich bürgerlich-egalitären Anlage des städtischen Gemeinwesens durch, das durch die gewachsenen Traditionen patrizischer Herrschaft im Lauf der Zeit verdeckt worden war. Doch das waren seltene Ausnahmen. Im Allgemeinen war der Rat in seinen Entscheidungen autonom, vor allem was die Selbstrekrutierung seines Personals betraf. Diese Selbstrekrutierung aber war der entscheidende Mechanismus zur Herausbildung einer patrizisch dominierten Ratsherrschaft, eben einer Oligarchie; Kooptation machte es möglich, über die Zeiten und Generationen hinweg bevorzugt Personen aus der eigenen Klientel, das heißt aus den nunmehr organisierten Patriziergesellschaften zu berufen. Für die Willensbildung im Rat spielten die 28 Sitze der ersten beiden Bänke die entscheidende Rolle, während die Handwerkerbank marginalisiert war. Und eben diese beiden Bänke wurden nun weitestgehend von Personen eingenommen, die den Patriziergesellschaften, insbesondere der Gesellschaft Alten-Limpurg, die bis zum Bürgervertrag von 1612 eine dominierende Rolle einnahm, angehörten. Bis dahin übten sie dank der Selbstergänzung quasi unumschränkt die Macht in der Stadt aus. Nie gingen sie allerdings so weit, dies bis zur strikten Monopolisierung der obersten beiden Ratsbänke (also 100 Prozent) auszureizen. Bis zum Fettmilch aufstand zu Beginn des 17. Jahrhunderts besetzten sie aber ca. 80 bis 85 Prozent der dort zu vergebenden Sitze; und entsprechend fiel auch ihr Anteil auf der Liste der jährlich wechselnden Bürgermeister aus.18 Die übrigen Sitze verblieben den 18 Die Abfolge der Frankfurter Bürgermeister von 1311 bis 1866 ist auf der Grundlage einer von Georg Ludwig Kriegk erarbeiteten Liste zum größten Teil in dem Portal https://
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Frauensteinern, im 15. Jahrhundert auch Mitgliedern der damals noch bestehenden Gesellschaften Laderam oder Löwenstein und anderen.
2. Ausbildung geburtsständischer Strukturen Wenn somit die Patriziergesellschaften die entscheidende Rekrutierungsbasis für den sich selbst ergänzenden Rat darstellten, ist deren innere Struktur näher zu beleuchten. In ihrer Funktion als organisiertes Personalreservoir für städtische Ratsfunktionen sind sie zum einen entfernt den modernen politischen Parteien vergleichbar. Ohne die Mitgliedschaft in solchen Organisationen war der Zugang zum Herrschaftsapparat bis ins 17. Jahrhundert hinein kaum möglich. Zum anderen unterscheiden sie sich von den politischen Parteien und Vereinen der Moderne fundamental durch zwei Strukturelemente: Zum ersten vertraten sie keine parteiliche Programmatik, sondern nahmen für sich in Anspruch, das Gemeinwesen als Ganzes zu „repräsentieren“ und darzustellen. Zum zweiten, und das ist entscheidend, handelte es sich bei ihnen um Korporationen, die im Unterschied zu modernen bürgerlichen Vereinen und Assoziationen, denen auch die politischen Parteien nachgebildet sind, nicht allgemein für jeden zugänglich waren. Denn die Patriziergesellschaften waren exklusive Vereinigungen; ihr entscheidendes Strukturmerkmal war die verwandtschaftliche Verbindung ihrer Mitglieder über die Generationen hinweg. Man musste hineingeboren sein oder durch Einheirat hinzukommen – zumindest im Prinzip. Womit wir beim Thema wären, nämlich der Okkupation einer ursprünglich genossenschaftlich angelegten Stadtverfassung durch Familien- und Verwandtschaftsverbände und damit der Herausbildung von geburtsständischen Prätentionen. Diese Okkupation geschah über die Gesellschaft Limpurg ungleich stärker als über die Gesellschaft Frauenstein. Aber sie geschah nie gänzlich ungebrochen: Patriziat und Ratsherrschaft, Geschlechter und Stadtverfassung waren nie so innig miteinander verschmolzen wie (monarchische) Fürstenfamilie und Staats- bzw. Territorialherrschaft. Die Hausgesetze der fürstlichen Territorialherrschaft, die die Kompetenzen des Fürstenhauses formell regelten, hatten in den reichsstädtischen frankfurter-patriziat.de dargestellt und kann dort mittels eines Kontextmenüs farblich nach Zugehörigkeit zur einer der Patriziergesellschaften oder zur Kategorie der Sonstigen eingefärbt werden. Die komplette Liste gedruckt in: Georg Ludwig Kriegk, Deutsches Bürgerthum im Mittelalter. Nach urkundlichen Forschungen und mit besonderer Beziehung auf Frankfurt a. M., Bd. 1, Frankfurt 1868, Bd. 2, Frankfurt 1871, unveränderter Nachdruck Frankfurt 1969 – darin in Band 1, 479ff das Verzeichnis der Frankfurter Bürgermeister, 508ff das Verzeichnis der Frankfurter Stadtschultheißen.
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Republiken kein Pendant. Nie wurden vermeintliche Erbrechte der Geschlechter vor 1806 in einer formellen Verfassungsurkunde festgeschrieben oder auch nur erwähnt; die Herrschaft des Patriziats beruhte rein auf Tradition, die Patriziergesellschaften und die Ratsorganisation blieben immer getrennte Gebilde. Das erwähnte jährliche Rotieren des Bürgermeisterpostens hemmte die volle Entfaltung des adligen Geburtsprinzips ebenso wie die genannten seltenen Beteiligungen der Bürgerschaft an der Willensbildung oder Ratszusammensetzung. Auch eine schon 1399 formulierte gesetzliche Bestimmung,19 nach der es verboten war, dass Vater, Sohn und Brüder auf ein und derselben Ratsbank zugleich sitzen – eine Bestimmung, die im Allgemeinen genau beachtet und später sogar auf weitere Verwandtschaftsgrade ausgedehnt wurde (wobei die parallele Präsenz auf der Schöffen- und auf der Gemeindebank gestattet war) –, lässt ein republikanisches Element erkennen, an dem sich eine ungebremste Entfaltung der verwandtschafts basierten geburtsaristokratischen Herrschaft des Patriziats dezent brach. Vor allem aber lässt sich deutlich erkennen, dass sich die Patriziergesellschaften hinsichtlich der Dichte ihrer inneren verwandtschaftlichen Organisation und darausfolgend ihrer geburtsständischen Potentiale markant voneinander unterschieden. Dabei kann man sich auf einen direkten Vergleich der Gesellschaften Limpurg und Frauenstein beschränken, da die beiden anderen Gesellschaften, Laderam und Löwenstein, nur vorübergehend Bestand hatten und über sie nur rudimentäre Informationen vorliegen. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, für Frankfurt die Begriffe eines „ersten“ und eines „zweiten Patriziats“ einzuführen, wobei Alten-Limpurg das erste, Frauenstein das zweite Patriziat repräsentiert.20 Diese Unterscheidung bezieht sich sowohl auf eine zeitliche Abfolge wie auf eine typologische Differenzierung – will sagen: Das erste Patriziat ist älter und es war vornehmer, was sich beides dahin gehend auswirkte, dass es in der Gesamtheit der reichsstädtischen Ägide politisch einflussreicher war. In der Literatur wird der Begriff des Patriziats folgendermaßen definiert: „Patriziat bezeichnet einen Kreis politisch auf geburtsständischer Grundlage berechtigter Familien […] Die Geschlechter sind die geborenen Regenten. Das Patriziat ist ein Geburtsstand.“21 Diese Definition ließe sich für Alten-Limpurg in der Tat anwenden. Für die Gesellschaft Frauenstein aber träfe sie nur sehr eingeschränkt zu, weshalb mit der Bezeichnung als zweites Patriziat eine Abschwächung der typologischen Ausprägung angezeigt wird. 19 Vgl. Wolf, Die Gesetze (wie Anm. 15), 176. 20 Diese Begrifflichkeit eingeführt vom Autor, vgl. Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 29ff. 21 Eberhard Isenmann, Die Deutsche Stadt im Mittelalter 1150‒1550. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien/Köln/Weimar 2012, 750.
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Die Aussage, das erste Patriziat, Alten-Limpurg, sei älter als das zweite, Frauenstein, bezieht sich nicht nur auf ein mutmaßlich früheres Gründungsdatum, zumal beide Gründungen Mitte des 14. Jahrhunderts ohnehin nicht weit auseinander liegen. Auch die Gesellschaft Frauenstein machte in der Spätphase der reichsstädtischen Ägide deshalb zu Recht geltend, sie sei „uralt“. Doch dieses Alter bezog sich bei ihr rein auf die Dauer der Institution. Bei Alten-Limpurg hatte der Verweis auf das Alter aber noch ganz andere Konnotationen. Hier war die Dauer der Institution stark unterfüttert durch lange familiäre Kontinuitäten, denn bei Limpurg gab es im 16. Jahrhundert Familien, die noch in die Zeit vor der Gründung der Gesellschaft, teilweise bis in die späte Stauferzeit zurückreichten; und mit den Familien Holzhausen und Glauburg waren zudem zwei alte Familien vorhanden, die dann schließlich bis nach 1806 fortbestanden, die Holzhausen sogar bis heute.22 Die lange Dauer eines Kerns von Familien bei Limpurg im Gegensatz zu Frauenstein, wo dies nicht zu beobachten ist, verlieh dem Gedanken der Anciennität noch einmal in ganz anderer, substantieller Form ein Fundament. Die größere Kontinuität auf familialer Ebene bei Alten-Limpurg ist nicht allein biologischen Zufällen geschuldet (wie etwa der Verteilung von Knaben- und Mädchengeburten und den sich dadurch eventuell ergebenden Folgen für die Frage des Aussterbens im Mannesstamm). Deutlich erkennbar ist, dass bei Alten-Limpurg die Gestaltung der Verwandtschaftszusammenhänge methodisch ungleich konsequenter kontrolliert wurde als bei Frauenstein – dies wird vor allem an der verschärften Kontrolle der Gattenwahl erkennbar. Bei Limpurg hatte das einzelne Individuum sich gerade in solchen Kardinalfragen des Lebens, wie es das Heiraten darstellt, viel stärker den Belangen des Ganzen unterzuordnen als es bei den Frauensteinern der Fall war, sodass sich auch sagen ließe, die Frauensteiner waren latent ‚moderner‘ (im Sinne von individueller) als jene. Doch in der altständischen Gesellschaft genossen Alter, Anciennität, Tradition und lange Dauer ein höheres Ansehen als Beweglichkeit, Dynamik und Aufstiegsorientierung. Bereits die ersten Mitgliedslisten, die für beide Gesellschaften für die Jahre 1406 bis 1408 vorliegen, zeigen die Unterschiedlichkeit.23 Limpurg ordnete die einzelnen 22 Dieser führenden Familie hat Franz Lerner daher auch zwei Monographien gewidmet: Gestalten aus der Geschichte des Frankfurter Patrizier-Geschlechtes von Holzhausen, Frankfurt 1953; ders., Beiträge zur Geschichte des Frankfurter Patriziergeschlechtes von Holzhausen, Frankfurt 1953. ‒ Eine großformatige übersichtliche Stammtafel der Familie von Andreas Hansert als Anhang zu dem Ausstellungskatalog Patriziat im alten Frankfurt (wie Anm. 9). Das Historische Museum Frankfurt widmete der Familie 2014 darüber hinaus die in Anm. 1 erwähnte Ausstellung, wozu die von Andreas Hansert verfasste Broschüre Die Holzhausen. Frankfurts älteste Familie, Frankfurt 2014 erschienen ist. 23 Vgl. Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 78ff.
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Personen in ihrer Zugehörigkeit zu ihren Familien an: Die älteste der Familien (Holzhausen) wurde mit all ihren einzelnen (männlichen) Angehörigen immer zuerst angeführt. Es folgen dann die anderen Familien geordnet nach der Dauer ihrer Zugehörigkeit und dort jeweils die ihnen angehörenden Personen. Ein junger Holzhausen-Spross stand daher weiter oben in der Liste als der Senior einer später aufgenommenen Familie. Das einzelne Mitglied erlebte sich somit primär als Angehöriger einer (alten) Familie, und über das korrekte historische Ranking einer Familie gab es gelegentlich Kontroversen. Bei den Frauensteinern waren die Mitglieder hingegen seit jeher als Einzelpersonen aufgelistet. Später wird deutlich erkennbar, dass die Rangfolge auf der Mitgliederliste sich bei ihnen zum einen nach dem Eintrittsdatum des Einzelnen richtete, nicht nach seiner Familienzugehörigkeit. Auch wurde dann eingeführt, dass Angehörige des Rats und zweitweise auch die Personen mit einem akademischen Titel auf der Mitgliederliste vor allen anderen zu nennen seien.24 Im Gegensatz zu Limpurg kam die Bedeutung der familiären Tradition auf der Mitgliederliste also nicht zum Ausdruck. Diese Beobachtung hatte ihr Korrelat in der strengeren Kontrolle des verwandtschaftlichen Gefüges. Prinzipiell lässt sich sagen, dass in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lebenswelt gesellschaftlich niemand reüssieren konnte, der unehelich geboren war, jedenfalls stand er in seinen Karrieremöglichkeiten hinter den ehelich Geborenen immer zurück. Die Abstammung aus einer ehelich legitimierten Beziehung der Eltern war eine Generalvoraussetzung und galt nicht nur bei den Patriziergesellschaften, sondern vor allem auch bei den Zünften, aber auch für Rats- oder kirchliche Karrieren. Nur ausnahmsweise gab es hier Dispense; für das Frankfurter Patriziat sind an diesem Punkt jedoch ‒ im Gegensatz zu päpstlichen Dispensen für einen kirchenrechtlich zu nahen Verwandtschaftsgrad bei Ehegatten25 ‒ keine bekannt. Jeder, der Mitglied im Patriziat war, musste für sich selbst und für seine Ehefrau also die eheliche Geburt nachweisen, vor allem aber waren seine eigenen Nachkommen nur aufnahmeberechtigt, sofern er sie in der Ehe erzeugte. Kinder aus Konkubinaten hatten in Rat und Patriziat keinen Platz. Immerhin duldeten Spätmittelalter und Renaissance die außereheliche Nebenbeziehung, erst nach der Reformation setzte sich eine rigidere, später vor allem durch den Pietismus beförderte Sexualmoral durch. Bis dahin wurde der uneheliche Spross oft als fest zur Familie gehörig betrachtet, nahm an ihren geschäftlichen Aktivitäten teil und bekleidete sogar das Patenamt für neugeborene Familienmitglieder. Doch die Aufnahme in die Patriziergesellschaft oder in den Rat, in dem sein Halbbruder, der ein legitimer Spross seines Vaters war, eine 24 Vgl. ebd., 224. 25 Vgl. ebd., 92.
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Rolle spielte, war ihm verwehrt. Ehelichkeit oder Unehelichkeit der Paarbeziehung entschied über Stellung und Schicksal der Nachkommen. Für die Durchsetzung des monogamen Gattenmodells auf städtischer Ebene spielten die Patriziergesellschaften neben den Zünften im Kontext allgemein geltender kirchenrechtlicher Vorschriften daher eine wichtige Rolle.26 An dem Erfordernis der Ehelichkeit der Herkunft hörten die Gemeinsamkeiten zwischen erstem und zweitem Patriziat aber schon beinahe auf. In der Praxis der Neuaufnahme in die Gesellschaften gab es bereits früh bezeichnende Unterschiede. Bei der Neuaufnahme sind zwei Kategorien zu unterscheiden: die Neuaufnahme der eigenen Nachkommen oder die Aufnahme eines Fremden. Für die Nachkommen der eingesessenen Familien bestand eine Art Erbrecht auf Aufnahme; mit der Aufnahme eines Fremden kam hingegen eine neue Familie in die Gesellschaft. War die Aufnahme von Eigenen im Zug des Generationswechsels der Normalfall, so war der eher seltene Fall der Aufnahme von Fremden deshalb erforderlich, weil die meisten der eingesessenen Familien im Mannesstamm ausstarben. Gerade bei den Frauensteinern gab es einen kompletten Austausch: Bis zum Ende der Reichsstadt 1806 lassen sich insgesamt 230 Familien bei ihnen feststellen,27 deren Aufnahme im Lauf der Zeit erfolgte. Nach dem Aussterben der Familie Heller 1522 gab es schon Anfang des 16. Jahrhunderts bei ihnen keine mehr, die noch bis zu den Anfängen zurückreichte. Und keine der Familien, die um diese Zeit herum auf der Liste standen, bestand länger als bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Auch bei den Limpurgern, bei denen es bis 1806 insgesamt 161 Familien gab,28 waren die allermeisten im Mannesstamm ausgestorben bzw. durch neue ersetzt worden. Nur Holzhausen und Glauburg vermochten sich wie erwähnt über die gesamte reichsstädtische Zeit hinweg zu erhalten. So war also eine dauerhafte Neurezeption von Familien erforderlich, wobei die Taktung bei der Neuaufnahme bei beiden Gesellschaften im 15. Jahrhundert höher war als später, als man die Aufnahme von Fremden etwas zurückfuhr. Für beide Fälle – bei der Aufnahme geborener Mitglieder wie der von Fremden – waren gewisse Erfordernisse notwendig, die sich vor allem an der Frage des Heiratsverhaltens festmachten. Die ‚richtige‘ Gattenwahl war Garant dafür, langfristig die Herausbildung geburtsständischer Strukturen zu erzeugen und zu festigen. Es zeigt sich, dass die Gesellschaft Alten-Limpurg in dieser Frage eine viel konsistentere Systematik entwickelte als die Gesellschaft Frauenstein, woraus sich die entscheidenden ständischen Unterschiede ergaben. Schon bei der 26 Vgl. ebd., 91ff u. 314. 27 Jetzt erstmals in einer umfassenden Liste aufgeführt vgl. ebd., 503–565. 28 Auch hierzu vgl. ebd., 575–586 eine erneute Auflistung, deren Daten gegenüber früher publizierten Listen verbessert wurden.
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Neuaufnahme von Fremden fällt ein Unterschied zwischen beiden Gesellschaften deutlich ins Auge:29 Während Alten-Limpurg darauf bestand, dies könne nur durch Heirat mit der Tochter eines eingesessenen Mitglieds geschehen, praktizierten die Frauensteiner Neuaufnahmen auch ganz ohne Einheirat: Annähernd die Hälfte aller Frauensteiner Familien in der gesamten reichsstädtischen Zeit kamen, soweit bisher bekannt, ohne Heirat neu hinzu.30 Schon an der Rekrutierungsbasis legten die Limpurger auf verwandtschaftliche Basierung ihrer Vereinigung also größeren Wert. Dass die Limpurger zielstrebig an der Herausbildung eines Geburtsstandes arbeiteten, wird vor allem anhand einer zunehmend exklusiveren Heiratspolitik erkennbar. Das lässt sich im Verlauf eines längeren Prozesses ablesen, der seit Ende des 15. bis tief ins 17. Jahrhundert dauerte.31 Die Anforderungen an die Qualifikation eines Heiratskandidaten wurden Stück für Stück höher gesetzt. Dabei ist zwischen endogamer und exogamer Heirat zu unterscheiden. Die Mehrzahl der Ehen bei den Alten-Limpurgern wurde im 16. und 17. Jahrhundert zwischen Angehörigen von eingesessenen Familien geschlossen. Insofern waren hier die erforderlichen ständischen Kriterien zumeist selbstredend erfüllt, und nur bei sittlichen Verfehlungen eines der Partner konnten die Standeswürdigkeit und damit die Aufnahme in die Gesellschaft in Frage gestellt sein. Entscheidend waren die Heiraten mit Fremden; das galt für beide Geschlechter, sei es, dass ein Patriziersohn eine Frau, die nicht qua Herkunft schon dazu gehörte, oder eine Patriziertochter einen Mann, dessen Vorfahren nicht Mitglied der Gesellschaft waren, und der nun für eine Neuaufnahme in Frage kam, ehelichte. Hier, bei diesen nach außen gerichteten Ehen vor allem musste eine Einschätzung getroffen werden, mit wem man es zu tun hatte und ob die Ebenbürtigkeit gewahrt war. An dieser Stelle mussten sich Vorstellungen darüber herausbilden, wen man hereinlassen wollte. Anhand der Entwicklung der Statuten der Jahre 1495, 1543, 1585 und 1636 lässt sich zeigen, wie die Kriterien, die ein neu aufzunehmender Heiratspartner zu erfüllen hatte, ständisch immer weiter angehoben wurden. Im 15. Jahrhundert waren die alten Schöffenfamilien bei Alten-Limpurg für die Aufnahme von Aufsteigern in ihre Reihen noch offen. Vereinzelt kamen durch Einheirat noch Personen neu hinzu, deren unmittelbare Vorfahren wohl eher der Sphäre des Handwerks angehört hatten. Von Henne von Rödelheim, dem Stammvater der wenig später schon für das Patriziat bedeutenden Familie Stalburg, dessen Söhne in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Karrieren als 29 Vgl. ebd., 591. 30 Vgl. ebd., 31, 591. 31 Das ist einer der zentralen Argumentationsstränge im Buch des Autors (ebd.), der dort an verschiedenen Stellen aufgegriffen und entwickelt wird.
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Handelsleute und Ratsherren machten und Aufnahme bei Frauenstein und bei Alten-Limpurg fanden, heißt es, er sei Bartscherer gewesen. Ähnlich auch bei der Familie Scheid, deren Senior Claus Scheid der Ältere als Wollweber bezeichnet wurde, allerdings durch Handel bereits zu Vermögen gekommen war. Auch hier kamen die Söhne schon ins Patriziat.32 Innerhalb eines Generationswechsels war die Aufnahme ins Patriziat bei Alten-Limpurg zu diesem Zeitpunkt also mitunter möglich. Dann aber begann sich, im Gegensatz zu den Frauensteinern, die für Aufsteiger zunächst noch offener blieben, hier eine Tendenz zu stärkerer Exklusivität bemerkbar zu machen. Ab Ende des 15. Jahrhunderts lässt sich in Praxis und statuierter Regel eine sukzessive Verschärfung der Aufnahme bei Alten-Limpurg erkennen: Auf der einen Seite wurde die Aufnahme fremder Personen formalisiert, indem sie aufgefordert wurden, einen sogenannten Geburts- oder Beweisbrief (Rezeptionsurkunde) vorzulegen, in dem von berufener Stelle, in der Regel der Stadt oder der Herrschaft, aus der sie stammten, Auskunft über ihre familiäre Stellung gegeben werden musste. Auf der anderen Seite häuften sich seit dieser Zeit Fälle, bei denen Söhne aus eingesessenen Familien aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, weil sie sich für Frauen als Ehegattinnen entschieden hatten, die als nicht standesgemäß erachtet wurden. Was man an diesen Frauen auszusetzen hatte, ist dabei selten ersichtlich; es reichte hier offenbar, wenn die Ehefrau von den patrizischen Standesgenossen als „Magd“ eingeschätzt wurde. Liebschaften mit Frauen, deren Herkunft eventuell Zweifel aufwarf, waren im Zustand des Konkubinats zu halten; mit der Legalisierung riskierte der Patriziersohn so für sich selbst eine ständische Degradierung. Der spätere Verlauf des 16. Jahrhunderts brachte weitere Verschärfungen, die zwei Dimensionen hatten: genealogische Vertiefung und qualitative Steigerung. So wurden einerseits bei einem Kandidaten für die Neuaufnahme nicht nur wie noch um 1500 die Eltern in den Blick genommen, spätestens mit den Statutenänderungen von 1585 interessierte man sich bei Alten-Limpurg auch für den Status der Großeltern. Und 1636 ging man schließlich noch eine Generation weiter zurück, jetzt nahm man sogar die acht Urgroßeltern in den Blick. Das heißt, ein Aufnahmekandidat musste nun bis zu seinen Urgroßeltern Auskunft geben ‒ eine Entwicklung, die im Kontext der Zeit des Absolutismus stand, die allgemein eine starke Betonung und Vertiefung der geburtsständisch-vertikalen Legitimation des Adels mit sich brachte.33 32 Zu den Fällen Stalburg und Scheid siehe Hansert, Geburtsaristokratie (wie Anm. 1) 116f, 521f (Nr. 80), 530 (Nr. 118). 33 Siehe dazu den Sammelband von Elizabeth Harding und Michael Hecht (Hg.), Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation, Münster 2011.
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Daneben wurden die ständischen Anforderungen an die Herkunft als solche immer deutlicher ausformuliert. Formal hatte am Anfang allein der Nachweis der ehelichen Geburt des Kandidaten und seiner Eltern gestanden. Nur indirekt, eben aus der erwähnten Praxis, einzelne Patriziersöhne wegen ihrer als Magd eingeschätzten Ehefrauen auszuschließen, lässt sich die informelle Wirksamkeit gewisser ständischer Vorstellungen ableiten. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts werden entsprechende Kriterien deutlicher erkennbar. Es war just zu jener Zeit, zu der sich die Limpurger aus der Sphäre des Handels weitgehend zurückgezogen hatten, um von ihren Immobilien in und außerhalb der Stadt und von Kapitalerträgen zu leben. Nun lassen sich Abgrenzungen von Personen, die der (unteren) Handelssphäre und dem Handwerk entstammten, bei den Alten-Limpurgern klarer greifen. Ersichtlich werden diese zunächst an den Begründungen, mit denen einzelne Personen und ihre Ehepartner abgelehnt wurden, bevor entsprechende Formulierungen dann auch Eingang in die Statuten fanden. So musste Conrad Neuhaus, Sohn aus einer eingesessenen Familie, 1543 ausscheiden, weil er die Tochter eines Buchdruckers geheiratet hatte; zwei Jahre später forderte man Conrad Weiß von Limpurg auf, sich der Gesellschaft zu enthalten, denn er habe die Witwe eines Wollwebers zur Frau genommen. In anderen Fällen wurden die Ambitionen aufnahmewilliger fremder Männer, die eine Tochter aus eingesessener Familie geheiratet hatten, mit der Begründung abgewiesen, ihre direkten Vorfahren seien noch als Krämer tätig gewesen: so in den 1570er Jahren bei den Herren Jakob am Steg und Nicolaus Greiff dem Älteren, die dessen ungeachtet aber trotzdem eine Ratskarriere starten konnten. Solche Entscheidungen in der Praxis wurden in den erneuerten Statuten von 1585 dann formalisiert. Jetzt wurde explizit ein Aufnahmeverbot für Söhne und Enkel von Krämern und von Handwerkern ausgesprochen; die Eltern und Großeltern müssten „fürnehme Leuthe“ sein. Sie müssten erstens entweder von ehrlichen Renten und Einkommen gelebt oder zweitens ansehnliche „stattliche Hanthierungen“ betrieben oder drittens „furnehme Aempter“ innegehabt oder viertens „befehlen“, also militärische Kommandostellen, bekleidet haben.34 Diese ständig höher geschraubten ständischen Anforderungen an die Herkunft des Einzelnen nahmen im 17. Jahrhundert mit der Ausweitung auf die Urgroßeltern dann quasi Adelsqualität an. In den Kreisen der Gesellschaft Alten-Limpurg dichtete der Chronist Maximilian Faust von Aschaffenburg die charakteristischen Verse: „Dann wer durch Heurath komt darein [in
34 Siehe zu den einzelnen genannten Fällen und den Statuten von 1585 Hansert, Geburts aristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 208‒217 und 227f.
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die Gesellschaft] / Muß Achtschildig geboren sein / Vom Vater und der Mutter her / Sonst hilft kein Reichthum Gunst noch Ehr / …“35 Im 17. Jahrhundert finden sich bei den Familien von Alten-Limpurg dann (bezeichnenderweise jedoch nicht in der Gesellschaft Frauenstein) verschiedentlich Wappenahnentafeln ‒ hier insbesondere die prachtvolle Tafel der Familie zum Jungen, die heute im Städel Museum ist36 ‒, auf denen von einem bestimmten zeitgenössischen Probanden ausgehend sämtliche seiner Vorfahren in allen Linien bis zu vier und mehr Generationen zurückreichend dargestellt wurden; Ziel dieser Aufstellungen war es zu demonstrieren, dass alle Vorfahren, also auch die der weiblichen Linien Angehörige von Alten-Limpurger Familien waren. Das historische Auftauchen dieser Tafeln ist an sich ein interessantes Phänomen: Es zeigt an, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, an dem die generationenlang betriebene Heiratsstrategie der Vorfahren aufgegangen und geburtsständische Geschlossenheit und Exklusivität der familiären Herkunft für ihre Nachkommen erreicht waren. Man hatte eine massive Akzentuierung der vertikalen Verwandtschaftsachse erzeugt, ihr erfolgreich zur Dominanz verholfen und so ein Resistenzpolster gegenüber aller Zeitgenossenschaft hergestellt: Die späten Erben und Nutznießer dieser Vorgehensweise verfügten dank ihrer herausgehobenen familiären Stellung so über ein Distinktionsmerkmal, das sie gegenüber allen anderen Stadtbürgern auf Generationen hinaus uneinholbar machte. Im Kern war die Gesellschaft Alten-Limpurg also geburtsständisch orientiert und brachte diese Potentiale voll zur Entfaltung. Dieses war der entscheidende Grund dafür, dass sie über Jahrhunderte hinweg ein ungleich höheres Renommee genoss als die Gesellschaft Frauenstein und daher die Rede von erstem und zweitem Patriziat ihre Berechtigung hat. Es gibt eine Reihe weiterer Beobachtungen, die diese Interpretation unterstützen. Besonders signifikant ist ein großer Transfer von Familien, die ursprünglich bei der Gesellschaft Frauenstein waren und im Lauf des 15. und frühen 16. Jahrhunderts zu Alten-Limpurg, also vom zweiten zum ersten Patriziat übergingen. 33 Familien waren im Lauf ihrer Existenz ‒ teilweise zu unterschiedlichen Zeitpunkten ‒ bei beiden Gesellschaften registriert (auch mit Laderam und Löwenstein gab es personelle Überschneidungen).37 Spätestens Ende des 15. Jahrhunderts jedoch verwahrten sich die Limpurger gegenüber Doppel- oder Mehrfachmitgliedschaften einzelner Personen. Dabei ereigneten 35 Nach der Edition von B[enedict] J[acob] Römer-Büchner, Lieder zu Ehren der Gesellschaft Limburg, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 7 (1855), 187–211, hier 208. 36 Kleinformatige Abbildung Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 337; größer und in besserer Qualität in: Bodo Brinkmann u. Jochen Sander, Deutsche Gemälde vor 1800 im Städel, hg. von Gerhard Holland, Frankfurt 1999, Tafel 187. 37 Vgl. Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 105f u. 593ff.
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sich viele der familialen Doppel- oder Mehrfachmitgliedschaften nicht innerhalb ein und derselben Biographie einer Person, sondern durch intergenerationelle Wanderungen: Der Vater und eventuell weitere Vorfahren waren bei Frauenstein, der Sohn dann bei Limpurg. Diese intergenerationellen Wanderungen verliefen nun fast ausschließlich in diese Richtung: eben von Frauenstein zu Limpurg. Nur bei einer Familie, Ovenbach, war die Bewegung umgekehrt, was in diesem Fall vermutlich mit einer sozialen Abstiegsbewegung parallel lief. Diese Bewegung ist umso erstaunlicher, als vor allem in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die großen, schnell erworbenen Handelsvermögen – etwa bei der Familie Blum – oft bei den Frauensteinern lokalisiert waren, während es die Söhne, die nicht mehr jene Vermögenshöhe erreichten wie noch der Vater, dann zu Alten-Limpurg zog. Reichtum war das eine, (altes) Ansehen etwas anderes, beide waren also nicht per se kongruent, wiewohl es bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts immer wieder Perioden gab, in denen sich die Reichsten unter den Patriziern dann tatsächlich bei Alten-Limpurg befanden. Entscheidend ist, dass diese wechselnde Situierung der Spitzen unter den reichsten Bürgern der Stadt, insbesondere der durch unternehmerische Aktivität aufgebaute Reichtum, für die Zugehörigkeit zum Patriziat und das Ansehen, das es genoss, nicht das maßgebliche Kriterium war. Spätestens mit der Einwanderung der außerordentlich geschäftstüchtigen calvinistischen und protestantischen Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden seit 1554 war das Patriziat – sowohl Limpurg als auch Frauenstein – wirtschaftlich ohnehin endgültig ins zweite und dritte Glied abgedrängt. Doch ihr Ansehen in ständischer Hinsicht war, gerade wegen der immer profilierteren geburtsständischen Strukturierung noch bis tief ins 17. Jahrhundert hinein im Anstieg begriffen. Alle wollten sie Töchter aus Limpurger Familien zur Frau, und manche, wie etwa die Ruland oder die Fleischbein von Kleeberg, versuchten sich in den 1670er Jahren sogar mit kaiserlicher Protektion eine Mitgliedschaft bei Limpurg zu erstreiten.38 Eine Reihe weiterer Maßnahmen und Vorgänge unterstützte den Vorsprung an Renommee der Gesellschaft Alten-Limpurg. Hierher gehört die ungleich stärkere Ausbildung der Memoria bei Alten-Limpurg als es bei Frauenstein der Fall war. Weite und bedeutende Teile der Frankfurter Stadtchronistik wurden von Alten-Limpurgern verfasst, nur vereinzelt auch von Personen im direkten Umfeld der Frauensteiner (wie Johannes Latomus, der katholische Stadtdekan in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der aus einer Frauensteiner Familie stammte). Vor allem aber waren die Limpurger auf der Ebene der Familienüberlieferung und 38 Vgl. Erwin Riedenauer, Kaiser und Patriziat. Struktur und Funktion des reichsstädtischen Patriziats im Blickpunkt kaiserlicher Adelspolitik von Karl V bis Karl VI, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 30 (1967), 526‒653, hier insbes. 553‒563; Hansert, Geburts aristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 300‒308.
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der Erzählung der Ereignisse und Vorkommnisse auf der Gesellschaftsstube sehr aktiv: seien es die Chronisten der Familie Rorbach Ende des 15. Jahrhunderts, die bebilderten Geschlechterbücher der Familien Melem und Eisenberger im 16. Jahrhundert, die Geschlechterforschungen und genealogischen Studien des Johann Faust von Aschaffenburg, des Maximilian zum Jungen, des Johann Ernst von Glauburg im 17. Jahrhundert, vor allem des universalen Chronisten Achilles August von Lersner im frühen 18. Jahrhundert, denen die umfangreichen und für die heutige Frankfurter Patriziatsforschung unerlässlichen Recherchen des Johann Carl v. Fichard gen. Baur von Eysseneck (1773–1829) in der Zeit der Romantik und der Auflösung der altständischen Ordnung abschließend hinzuzurechnen sind.39 Bei den Frauensteinern ist diesem Überlieferungsstrom kaum etwas Vergleichbares zur Seite zu stellen; allenfalls die Schriften des Rechtshistorikers Johann Philipp Orth (1698–1783) lassen Ansätze einer historischen Reflexion auf die eigene Geschichte erkennen. Entscheidend ist, dass diese geburtsständische Dichte, auf die die Limpurger Wert legten, bei einer Gesamtbetrachtung der reichsstädtischen Epoche sich nun auch klar in einer Dominanz bei den Ratsstellen Ausdruck verschaffte. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt noch einmal die oben erwähnte Wappenahnentafel der Familie zum Jungen von 1634, so stellt man fest, dass der Vater der Probanden, ihre beiden Großväter, sämtliche vier Urgroßväter und noch immer sechs der (durch Ahnenschwund auf sieben reduzierten) Ururgroßväter Ratsfunktionen innegehabt hatten. Die politische Aussage der Tafel lautet daher schlicht: Diese Personen, die als Nachkommen da an der Wurzel des prachtvollen Baumes stehen, waren geboren, um zu herrschen! Allerdings war der Einfluss der Gesellschaft Alten-Limpurg zu dem Zeitpunkt, da die Tafel gemalt wurde, durch den Bürgervertrag 20 Jahre zuvor bereits stark limitiert worden, sodass die Situation aktuell widersprüchlich war: Der politische Einfluss war bereits in Rückbildung, das ständische Ansehen aber noch immer im Wachsen begriffen, und Letzteres wurde in dem Gemälde markant und selbstbewusst vorgetragen. 39 Vgl. Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 194ff, 267ff, 461ff; Pierre Monnet, Führungseliten und Bewusstsein sozialer Distinktion in Frankfurt am Main (14. und 15. Jahrhundert), in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 66 (2000), 12‒77, insbes. 48ff und 58‒77: Exkurs: Das Melemsche Hausbuch: eine Quelle für die Geschichte der Frankfurter Stadteliten im 15. und 16. Jahrhundert; Hartmut Bock, Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance – Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat, Frankfurt a. M. 2001; Stephanie Dzeja, Die Geschichte der eigenen Stadt. Städtische Chronistik in Frankfurt am Main vom 16. bis 18. Jahrhundert, Frankfurt u. a. 2003; Rudolf Jung, Vereinigungen zur heimischen Geschichtsforschung vor der Gründung unseres Vereins, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 3F 10 (1910), 1‒27, hier zu Fichard 5‒11.
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Doch der quantitative Aspekt allein ist nicht hinlänglich aussagekräftig; es ist auch eine Frage der Herrschaftstechnik. Mit dem Humanismus wurde in Frankfurt das Römische Recht rezipiert und mit der „Stadtreformacion“ 1509 auch formell eingeführt.40 Diese wichtige Neuerung war entscheidend das Werk akademisch gebildeter Juristen. Ihr Einfluss auf die Ratspolitik stieg seitdem enorm, dies vor allem auch durch die Position der Syndici, die den Ratsherren als Berater und Unterhändler dienten; ihr Einfluss begann seit der Renaissance beträchtlich zu wachsen. Bei Alten-Limpurg kam es seinerzeit daher zu ausgiebigen Amalgamierungen von Jurisprudenz und Patriziat.41 Seit Ende des 15. Jahrhunderts erwarben mehrere Patriziersöhne akademische Doktortitel und traten teilweise selbst als Syndici in den Dienst der Stadt, wo sie ihren Angehörigen im Rat beratend zur Seite standen. Vor allem wurden viele Juristen, die jetzt von außerhalb nach Frankfurt kamen, durch Heirat und Aufnahme in die Gesellschaft Limpurg ins Patriziat integriert. Im 16. Jahrhundert kam es daher zeitweise zu einer intensiven Verschmelzung zweier an sich antagonistischer Prinzipien: Geburtsstand und akademisches Leistungsprinzip. Dass es ein Antagonismus war, blieb einem Teil der alten Familien wohl deutlich bewusst.42 Die Holzhausen, die älteste der Familien, deren Söhne nun mit großer Regelmäßigkeit die Universitäten besuchten, vermieden es, das Studium mit einem akademischen Titel abzuschließen, während die Glauburg mehrere Doktoren hervorbrachten. Der akademische Titel stand mehr für eine Eigenleistung des Individuums; das Patriziat begründete seine Stellung aber mehr auf ererbter Familienkontinuität. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts mit der weiteren Herausbildung des Geburtsstands trat das Bewusstsein des Unterschieds zwischen (stadtbürgerlicher) Adeligkeit und akademischem Bildungstitel deutlicher zutage. Die Anzahl der graduierten Juristen ging bei Limpurg wieder zurück; seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verschwanden sie dort fast zur Gänze. Doch dies war zugleich der Niederschlag einer allgemeinen Entwicklung: Überall verlor das akademische Bildungspatent im Deutschen Reich relativ an Ansehen und wurde von einer neuen Bedeutung des Adels und des Adelspatents überflügelt. Bei den Reichsbehörden, etwa dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat, mussten akademisch gebildete Kandidaten bürgerlicher Herkunft ihrer Karriere jetzt durch das zusätzliche Bemühen um Nobilitierung nachhelfen.43 40 Helmut Coing, Die Rezeption des Römischen Rechts in Frankfurt am Main. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, Frankfurt a. M. 19622. 41 Vgl. Lerner, Die Frankfurter Patriziergesellschaft (wie Anm. 9), 50‒56; Hansert, Geburts aristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 135ff. 42 Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 142ff. 43 Vgl. Sigrid Jahns, Der Aufstieg in die juristische Funktionselite des Alten Reiches, in: Winfried Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, 353–387,
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Und auch in dieser Frage zeigt sich bei Frauenstein eine deutlich andere Haltung: Waren bei ihnen die Träger eines akademischen Titels im 16. Jahrhundert noch eher selten, so häuften sie sich im 17. und 18. Jahrhundert. Mehr noch: Sie hatten nicht nur, wie die Alten-Limpurger im 16. Jahrhundert, Juristen, sondern auch Mediziner in ihren Reihen.44 Auch dieses ist ein Hinweis darauf, dass die modern-individualistischen Elemente bei den Frauensteinern klarer hervortraten, damit aber auch eine Tendenz, die die patrizisch-geburtsständischen Potentiale eher weniger förderte und zur Entfaltung kommen ließ. Doch das heißt nicht, dass die Frauensteiner für Adelstendenzen zeittypisch nicht empfänglich gewesen wären: Im 18. Jahrhundert waren sie immer mehr darum bemüht, ständisch mit den Alten-Limpurgern gleichzuziehen und als Teil des Patriziats neben ihnen anerkannt zu werden. Die Limpurger wollten sie jedoch nicht als ihresgleichen neben sich dulden.
3. Reduktion des politischen Einflusses nach 1612 Wenn somit zahlreiche Indizien dafür sprechen, auf der Ebene des ständischen Ansehens ein erstes und ein zweites Patriziat zu unterscheiden, so bezeichnet erstes und zweites zugleich aber auch einen historischen Ablauf. Dominierte Alten-Limpurg in Mittelalter und Spätmittelalter das Geschehen, so kamen die Frauensteiner mit dem Fettmilchaufstand der Jahre 1612 folgende dann sehr viel nachhaltiger ins Spiel.45 Nun gelang ihnen eine deutliche Verbesserung ihrer Anteile an der Ratsmacht. Die Bürgerunruhen kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg hatten vielfache Ursachen, unter denen die wirtschaftliche Bedrängung (Preissteigerungen, Steuererhöhungen, hohe Verschuldung der Stadt) am schwersten wog.46 Doch auch die Praxis in der Stadtverwaltung, hier vor allem die Rechtsprechung, besonders die von den (patrizischen) Bürgermeistern geregelten einfachen Rechtssachen, hatten eine große Unzufriedenheit unter der Bevölkerung hervorgerufen.47 Der Aristokratisierungsschub, den Alten-Limpurg durchlaufen hatte, hatte diese der insbes. 372–386. 44 Vgl. Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 149f, 220f, 224. 45 Vgl. ebd., 237ff. 46 Vgl. Friedrich Bothe, Die Entwickelung der direkten Besteuerung in der Reichsstadt Frankfurt bis zur Revolution 1612‒14, Leipzig 1906. 47 Vgl. Michael Matthäus, „Wir, die Bürgermeister, Schöffen unnd Rath zu Franckfurt …“. Das Frankfurter Bürgermeisteramt in reichsstädtischer Zeit von 1311‒1806, in: Evelyn Brockhoff u. Lutz Becht (Hg.), Frankfurter Stadtoberhäupter. Vom 14. Jahrhundert bis 1946. Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 73 (2012), 9–62, insbes. 33–40.
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breiten Bevölkerung entfremdet. Die Limpurger und ein Teil der Spitzenbeamten der Stadtverwaltung, der Stadtschreiber und einer der Syndici, sahen sich daher besonderen Anfeindungen ausgesetzt. Das entscheidende Ergebnis der Bürger unruhen war der Bürgervertrag des Jahres 1612, der unter Vermittlung kaiserlicher Delegierter zwischen Rat und Bürgerschaft ausgehandelt wurde. Er sah eine drastische Reduktion der Anteile der Gesellschaft Alten-Limpurg am Rat vor. Ihnen sollten künftig nicht mehr als 14 Sitze im Rat zustehen – die Hälfte also auf den ersten beiden Ratsbänken. Bei allen Forderungen und Initiativen, die die Bürger erhoben und ergriffen und die nach der Niederschlagung des später noch in Gewalt eskalierten Aufstands vielfach wieder zurückgenommen wurden, war es just diese Beschränkung des ersten Patriziats, die von Dauer war. Infolgedessen vermochten die Frauensteiner ihren Anteil an der Ratsmacht im 17. Jahrhundert zu verdoppeln. Waren sie unmittelbar vor dem Aufstand mit vier Personen im Rat vertreten, so erreichten sie jetzt zeitweilig acht und stellten mitunter zusätzlich sogar noch den Stadtschultheißen und einen der so einflussreichen Syndici. Das zweite Patriziat folgte also dem ersten durch eine historische Verlagerung des politischen Einflusses zu seinen Gunsten. Knapp hundert Jahre nach dem Fettmilchaufstand konnte in einer erneuten antipatrizischen Volte die Bürgerschaft den Einfluss des Patriziats weiter reduzieren. In einem längeren Reformprozess zwischen 1705 und 173248 wurde nun auch der Frauensteiner Anteil an der Ratsmacht beschränkt, und zwar auf sechs Sitze, während der Anteil von 14 für die Limpurger bestätigt wurde. Faktisch aber wurde der Anteil des Patriziats weiter gedrückt. Kontrovers war, ob die genannten Kontingente als positiv garantierte Beteiligung oder aber nur als Höchstgrenze, die je nach Ausgang der Wahlen auch unterschritten werden könne, zu interpretieren seien. Diese Kontroverse durchzog die politische Diskussion bis zum Ende des Ancien Régime. Einige weitere Bestimmungen hatten den Limpurgern unterdessen nämlich eine Beteiligung an der Ratsmacht erschwert. Dazu gehörten insbesondere weiter gefasste Verwandtschaftsverbote für Ratsangehörige, sodass den Limpurgern wegen zu naher Verwandtschaft eine Kandidatur für einen vakanten Ratssitz oft nicht mehr möglich war; die dichte Verwandtschaft, die zur Konstituierung eines Geburtsstands vonnöten gewesen war, rächte sich nun. Hinzu kam, dass die Gesellschaft unterdessen um mehr als die Hälfte geschrumpft war: von 67 (männlichen) Mitgliedern im Jahr 1504 auf nur noch 29 im Jahr 1734. So waren die Basis und die Möglichkeiten der Rekrutierung für 48 Vgl. Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit 1705‒1732 und die kaiserlichen Kommissionen, Frankfurt 1920; Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 343ff.
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das Alten-Limpurger Patriziat also dramatisch zurückgegangen. Es gelang den Limpurgern im 18. Jahrhundert daher nicht mehr, die ihnen maximal zugestandenen 14 Sitze zu besetzen, während die Frauensteiner ihr Maximalkontingent von sechs Sitzen meist bestücken konnten. Bei der Neuvergabe der Ratssitze, die zwischen der Neuregelung der Ratswahlen 1725 und dem Ende der Reichstadt 1806 erfolgte, entfielen nur noch etwas mehr als ein Drittel auf die beiden Gesellschaften Limpurg und Frauenstein, also fast zwei Drittel auf das nicht in den Patriziergesellschaften organisierte Bürgertum, das heißt auf Handelsleute und vor allem akademisch geschulte Juristen.49 Da sich in diesem nichtpatrizischen Segment ganz informell selbst latent dynastische Strukturen zeigten – etwa bei der Handelsfamilie Müller, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert in drei Generationen im Rat saß, oder bei Juristenfamilien wie den Textor oder den Schlosser, die sich in verschiedenen Funktionen ebenfalls über die Generationen hinweg in der Ratsherrschaft und -verwaltung etablierten – bildete sich informell ein „drittes“ Patriziat heraus. 50 So wäre auch noch eine Bemerkung Goethes gerechtfertigt, der sich im Alter in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann mit Blick auf seinen Großvater mütterlicherseits, Johann Wolfgang Textor, selbst einmal als Frankfurter Patrizier bezeichnete, obwohl weder er noch irgend einer seiner väterlichen oder mütterlichen Vorfahren im Frankfurter Bürgertum je der Gesellschaft Frauenstein oder Limpurg angehört hatten.51 Nach dem Ende der Napoleonischen Ära wurde Frankfurt als Freie Stadt 1816 wieder errichtet und mit ihr die alte Stadtverfassung weitgehend restituiert. Das liberale Bürgertum nahm diese Zäsur zum Anlass für einige entscheidende Korrekturen. Neben der Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen wurden jetzt alle patrizischen Vorrechte, das heißt alle Ansprüche auf bevorzugte Kontingente an der Ratsmacht, definitiv abgeschafft. In der so erneuerten Stadtverfassung ‒ der Konstitutionsergänzungsakte von 1816 ‒ hieß es in Artikel 19 dann: „Die Geburt giebt kein Vorrecht und keinen positiven Anspruch auf Rathsstellen …“52 Ein Mal, ein einziges Mal erhielt die geburtständisch legitimierte Ratsherrschaft somit Verfassungsrang: zu dem Zeitpunkt, zu dem sie liquidiert wurde. Die jahrhundertelang praktizierte Okkupation einer genossenschaftlichen Bürgergemeinschaft durch die Ratsherrschaft einer exklusiven 49 Zu diesen Vorgängen ausführlich Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt (wie Anm. 1), 409‒426 u. 598‒617. 50 Vgl. ebd., 297ff, 319ff, 350f, Verwandtentafeln 9 u. 18, 489 u. 498. 51 Vgl. ebd., 426ff. 52 Constitutions-Ergänzungs-Acte zu der alten Stadt-Verfassung der freien Stadt Frankfurt (1816), in: Gesetz- und Statuten-Sammlung der freien Stadt Frankfurt, Bd. 1, 1816/17, 1‒69.
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patrizischen Geburtsaristokratie hatte so nicht nur ihre bisher geltende traditionsrechtliche Fundierung, sondern nun auch de jure ihre Legitimation verloren.
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Geschwisterbeziehungen und Verflechtungen in der hohen Dienerschaft des Herren im 18. Jahrhundert Die Brüder Münchhausen und die englisch-hannoversche Personalunion Sébastien Schick
1979 veröffentlichte Wolfgang Reinhard die heute zum Klassiker der Patronageforschung gewordene Arbeit „Freunde und Kreaturen“.1 Er schlägt darin vor, die Führungsgruppen durch die Verflechtungen zwischen ihren Mitgliedern zu betrachten und ordnet die verschiedenen Beziehungsgruppen in vier Kategorien ein: Landsmannschaft, Freundschaft, Patronage und Verwandtschaft. Zur Verwandtschaft stellt er sofort klar, dass es sehr wichtig sei, zwischen den potentiellen und den aktualisierten Beziehungen zu unterscheiden.2 Im Rahmen seiner funktionalistischen Analyse der Politik und der Macht ist es für Reinhard von großer Wichtigkeit, nur jene Beziehungen in den Blick zu nehmen, die auch von den Akteuren in ihren Machtstrategien eingesetzt wurden. Viele Arbeiten haben seitdem den heuristischen Wert dieses Vorschlags bewiesen, vor allem wenn man die frühneuzeitlichen Grundlagen der Macht von Führungsgruppen verstehen will.3 Geschwisterbeziehungen wurden in den Untersuchungen über Verflechtungen jedoch stiefmütterlich behandelt, da sie fast nie unter der Kategorie Verwandtschaft ein eigener Gegenstand der Forschung waren. Dieser Befund gilt auch aus Sicht der Familienforschung: Didier Lett hat zum Beispiel unterstrichen, dass die Geschwisterbeziehungen auch heute noch als Stiefkind der Geschichte der Verwandtschaft angesehen werden müssen.4 Doch 1 2 3
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Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen: „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979. Ebd., 36. Siehe unter anderem Christian Windler, Lokale Eliten, seigneurialer Adel und Reformabsolutismus in Spanien (1760–1808), Stuttgart 1992; Nicole Reinhardt, Macht und Ohnmacht der Verflechtung: Rom und Bologna unter Paul V. Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat, Tübingen 2000; Birgit Emich, Territoriale Integration in der frühen Neuzeit: Ferrara und der Kirchenstaat, Köln/Weimar/Wien 2007. Didier Lett, Les frères et les sœurs, „parents pauvres“ de la parenté, in: Médiévales 54, 1 (2008), 5–12. Dies ist ein von ihm unter dem Titel „Frères et sœurs. Ethnographie d’un lien de parenté“ herausgegebenes Themenheft. Man ist aber dabei, diese Forschungslücke
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scheint gerade diesen Beziehungen, vor allem im Hochadel der Frühen Neuzeit, eine spezielle politische Funktion zugekommen zu sein,5 das heißt, dass sie genau eine solche aktualisierte Beziehung darstellen. Die Frage bleibt aber offen, welchen Stellenwert eine Geschwisterbeziehung im Rahmen der unterschiedlichen Verflechtungen von Männern und Frauen im Hochadel einnahm und wie diese Beziehung von Akteuren und Akteurinnen konkret politisch genutzt wurde. Diese Frage erweist sich für diejenigen umso wichtiger, die sich für die hohe Dienerschaft des Herren im 18. Jahrhundert interessieren: Die Fälle, in denen zwei Brüder gleichzeitig zu den allerwichtigsten Dienern des Herren ernannt wurden, haben sich nämlich im Laufe einiger Jahrzehnte vervielfacht. Man denke an Henry Pelham und Thomas Pelham, Duke of Newcastle, in Großbritannien,6 an die Brüder Zinzendorff in der habsburgischen Monarchie,7 an Gerlach Adolph und Philipp Adolph von Münchhausen in Hannover. Diese Tatsache wurde bislang jedoch nie besonders hervorgehoben. Sie ist umso interessanter, als sie erlaubt, zwei verschiedene historiographische Felder kritisch zu betrachten. Erstens ermöglicht diese Tatsache, die Geschichte der Dienerschaft und die Natur ihrer Macht im 18. Jahrhundert zu analysieren. Die Untersuchungen über die ersten Diener des Herren haben, wie auch die über Patronage, eher selten auf das 18. Jahrhundert fokussiert: Grob vereinfacht war dies die Zeitspanne der bürokratischen Ausweitung, da Preußen und Österreich, die in der historischen Forschung lange im Vordergrund gestanden sind, als „Idealbild[er] des frühmodernen Verwaltungsstaates“8 fungierten. Wenn die wichtigsten Minister bekannt sind, dann sind sie es vor allem – außer einigen Persönlichkeiten wie Graf Heinrich
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zu schließen: vgl. David W. Sabean u. Christopher H. Johnson (Hg.), Sibling Relations and the Transformations of European Kinship, 1300–1900, New York/Oxford 2011. Im deutschsprachigen Kontext vgl. Georg Fertig (Hg.), Geschwister – Eltern – Großeltern: Beiträge der historischen, anthropologischen und demographischen Forschung, Köln 2005 (Sonderheft 30, 3 der Historischen Sozialforschung / Historical Social Research). Sophie Ruppel, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2006. John B. Owen, The Rise of the Pelhams, London 1957. Christine Lebeau, Aristocrates et grands commis à la Cour de Vienne (1748–1791). Le modèle français, Paris 1996. Ronald G. Asch, „Lumine Solis“. Der Favorit und die politische Kultur des Hofes in Westeuropa, in: Michael Kaiser u. Andreas Pečar (Hg.), Der Zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, Berlin 2003, 21–38, hier 22.
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von Brühl9 oder Wenzel Anton Graf von Kaunitz10 – bezüglich ihrer administrativen Tätigkeiten, nicht aber als Patron einer weitreichenden Klientel, wie dies für das 17. Jahrhundert der Fall ist. Die Tatsache, dass Brüder als erste Diener des Herren eingesetzt waren, scheint jedoch zu zeigen, dass auch Verflechtungen eine Rolle in ihrer Machtstrategie spielten. Zweitens ist es möglich, die Geschwisterbeziehungen für sich genommen zu untersuchen. Sophie Ruppel hat in ihrem wichtigen Buch über Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts hervorgehoben, dass die Geschwisterbeziehungen über eine spezielle politische Funktion verfügten, zum Beispiel als „zentraler Knotenpunkt bei Personalverflechtungen“.11 Eine solche politische Funktion kann über den Bereich des fürstlichen Hochadels hinaus angenommen werden und wird hier in einem speziellen Fall, dem der Diener des Herren im 18. Jahrhundert analysiert. Eine These von Sophie Ruppel, nämlich die eines Funktionsverlustes der Geschwisterbeziehungen im Zuge des Verstaatlichungsprozesses,12 das heißt während des 18. Jahrhunderts, soll dabei gleichzeitig in Frage gestellt werden. Dieser Artikel wird dem Stellenwert solcher Geschwisterbeziehungen innerhalb der unterschiedlichen Verflechtungen der ersten Diener des Herren und der konkreten politischen Nutzung dieser spezifischen Beziehungen nachgehen. Gefragt wird also nach der Rolle dieser Beziehungen zwischen Brüdern für ihre Macht. Inwiefern stellte in diesen Fällen die Beziehung von Bruder zu Bruder eine besondere Verflechtung dar, die spezifische Verpflichtungen mit sich brachte, aber auch speziell für die Aufgaben des hohen Dieners genutzt werden konnte? Die Frage ist demnach auch, ob es aus der Sicht des Herren von Vorteil war, eine solche Verflechtung zwischen zwei Dienern zu haben. Dies könnte die Tatsache der Vervielfachung dieser Situation erklären. Diese Fragen werden hier in Form einer Fallstudie über die Brüder Münchhausen behandelt, die zu den wichtigsten Ministern Kurbraunschweigs im 18. Jahrhundert zählten. Die Quellenlage ist sehr günstig. Vor allem gibt es eine über
9 Walter Fellmann, Heinrich Graf von Brühl, Ein Lebens- und Zeitbild, Würzburg 1990; Dagmar Vogel, Heinrich Graf von Brühl. Eine Biografie, Bd. 1: 1700–1738, Hamburg 2003. 10 Franz A. J. Szabo, Kaunitz and Enlightened Absolutism, 1753–1780, Cambridge/New York 1994; Lothar Schilling, Kaunitz und das Renversement des alliances. Studien zur außenpolitischen Konzeption Wenzel Antons von Kaunitz, Berlin 1994; Grete Klingenstein u. Franz A. Szabo, Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg, 1711–1794. Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung, Graz u. a. 1996. 11 Ruppel, Verbündete Rivalen (wie Anm. 5), 181. 12 Ebd., 310.
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einen langen Zeitraum reichende Korrespondenz zwischen den beiden Brüdern,13 die die Hauptquelle dieser Analyse bilden wird. Im Falle Gerlach Adolph von Münchhausens sind auch zahlreiche Korrespondenzen überliefert – mit Klienten, Freunden, Fürsten usw. –, was einen Zugang dahingehend eröffnet, wie sich die spezifische Beziehung zum Bruder im Rahmen dieses gesamten „Sets“14 einbettet und welche Funktion sie für den Bruder hatte.15 Die Analyse eines konkreten Falls ermöglicht es zu sehen, wie in einem sehr spezifischen politischen, sozialen und administrativen Kontext die Brüderbeziehung konkret politisch von den Brüdern und vom König eingesetzt wurde. Das Ziel ist also, die Brüderbeziehung in ihrer politischen Tragweite und als aktualisierte Beziehung zu fassen, als Beziehung, die in einem bestimmten Kontext auch politische Funktionen hatte und in gewissen Machtstrategien eine Rolle spielte. In einem ersten Teil wird der spezifische Kontext der Personalunion skizziert und die Brüder werden vorgestellt. Daran anschließend soll untersucht werden, wie die Beziehung zwischen den Brüdern zum Knotenpunkt eines neuen Netzes von Verflechtungen wurde und wie diese ihrerseits zu einer wichtigen Bedingung der Macht der zwei Brüder wurden. Zum Schluss wird aufgezeigt, dass speziell die Geschwisterbeziehung eine Verflechtung darstellt, die ein König zu schätzen wusste.
1. Die Gebrüder Münchhausen im spezifischen politischen Gebilde der Personalunion 1.1 Die politischen Rahmenbedingungen dieser Geschwisterbeziehung Es ist ein ganz besonderes politisches Gebilde, das 1714 mit der Thronbesteigung in England durch Georg, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, erzeugt wurde. Georg musste nämlich nicht auf sein deutsches Territorium verzichten und war somit zugleich König und Kurfürst.16 Die Bezeichnung als Personalunion macht aber eines sehr deutlich: Theoretisch, politisch und verfassungsrechtlich teilten
13 Niedersächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover (StaHa), Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 30, 31, 35, 38, 39, 43, 46, 52, 54, 56, 58, 59, 67, 70, 72, 73, 76, 78. 14 Reinhard, Freunde und Kreaturen (wie Anm. 1), 24. 15 Siehe den gesamten Nachlass Münchhausens, StaHa, Hann 91, G.A.v.Münchhausen. Universitäts-Bibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Münchhausen I. 16 Zur Vorgeschichte der Personalunion immer noch grundlegend Georg Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674–1714, 4 Bde., Hildesheim/Leipzig 1938–1982.
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sich die beiden Territorien nur den Herrn. Ansonsten blieben die zwei Gebiete strikt getrennt und rechtlich unabhängig voneinander.17 Da der König in London leben musste, hatte die Personalunion aus verwaltungstechnischer Perspektive dennoch grundlegende Konsequenzen. Die „Regimentsordnung“ von 171418 passte die Organisation der deutschen Behörden der neuen Situation an: In Hannover blieb der Geheime Rat die Zentralbehörde, aber der Kurfürst konnte nun nicht mehr anwesend sein. Die Regimentsordnung unterstrich die große Handlungsfreiheit, die den Räten gelassen wurde, außer in Hinblick auf Militärangelegenheiten und auf Ernennungen für die wichtigsten Posten des Staates. Das politische Tagesgeschäft war den Räten überlassen, auch was die Außenbeziehungen betraf. Denn der Rat verfolgte die Korrespondenzen mit den Gesandten, auch wenn ein Resümee der Briefe immer nach London geschickt werden musste und die Entscheidung über den generellen Kurs theoretisch beim König blieb.19 Eine wichtige Neuerung aber stellte die Schaffung einer Behörde dar, der sogenannten deutschen Kanzlei in London, welche das Bindeglied zwischen dem König und seinen Räten sein sollte.20 Sehr schnell – ab 1730 – wurde die Anzahl der hannoverschen Minister in London auf einen einzigen reduziert, den Präsidenten der Kanzlei, der offiziell den Titel eines Geheimen Rates trug: Dieser blieb alleine mit einigen Sekretären in London in der Nähe des Königs präsent.21 Diese Situation war deshalb so spezifisch, weil der Prinz nicht im Zentrum seines Hofes und seiner Räte anwesend sein konnte. Für die in der Frühen Neuzeit sehr zentrale Frage des Zugangs und der Nähe zum Machthaber22 hatte die Personalunion also erhebliche Konsequenzen. 17 Siehe dazu und auch für den folgenden Abschnitt vor allem Ernst von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1680–1866, Bd. 1: Verfassungsgeschichte, Leipzig 1898, 123ff. 18 Richard Drögereit, Quellen zur Geschichte Kurhannovers im Zeitalter der Personalunion mit England 1714–1803, Hildesheim 1949, 5ff. 19 Meier, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 17), 159f. Effektiv bleibt aber die Frage umstritten und kommt auf die Persönlichkeiten an. Vgl. unter anderem Uriel Dann, Hannover und England 1740–1760: Diplomatie und Selbsterhaltung, Hildesheim 1986; Ernst Schütz, Die Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und am kur(pfalz-)bayerischen Hof zu München 1683–1806, München 2007. 20 Rudolf Grieser, Die Deutsche Kanzlei in London, ihre Entstehung und Anfänge. Eine behördengeschichtliche Studie, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 89 (1952), 153–168. 21 Ebd., 164. 22 In einer philosophisch-rechtlichen Perspektive: Carl Schmitt, Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, 430–439. Vgl. auch Jeroen F. J. Duindam, Myths of Power: Norbert Elias and the Early Modern European
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1.2 Die Geschwister Münchhausen Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, welche Funktion die Brüder Münchhausen in dieser besonderen staatlichen und verfassungsrechtlichen Situation einnahmen. Man weiß leider erstaunlich wenig über das Leben der Geschwister Münchhausen. So ist zum Beispiel nicht bekannt, wie sie konkret dazu kamen, dem Kurfürsten zu dienen. Zwar stammte das Geschlecht der Münchhausen aus Niedersachsen, aber der Großvater war in sächsischem Dienst und der Vater Oberstallmeister des Kurfürsten von Brandenburg gewesen.23 Gerlach Adolph,24 der ältere der beiden Brüder, wurde 1688 als fünftes Kind und dritter Sohn von insgesamt elf Geschwistern – sechs Söhnen und fünf Töchtern – geboren. Nach seinem Jura-Studium in Jena und Halle trat Gerlach Adolph in den kursächsischen Dienst ein, bevor er 1716 durch Georg I. zum Rat im Oberappellationsgericht in Celle ernannt wurde. Nach mehreren Erfolgen in verschiedenen Funktionen wurde er unter Georg II. 1728 Geheimer Rat und leitete die Gründung der Göttinger Universität in den 1730er Jahren.25 Er wurde in der Folge rasch zur herausragenden Persönlichkeit in der Politik Hannovers und ab Beginn der 1740er Jahre bestimmte er diese maßgeblich mit, und zwar bis zu seinem Tod im Jahre 1770.26
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Court, Amsterdam 1995; Pablo Vázquez Gestal, El espacio del poder. La corte en la historiografia modernista española y europea, Valladolid 2005. Erwähnt in Ferdinand Frensdorff, Münchhausen, Gerlach Adolf Freiherr von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 22, Leipzig 1885, 729–745, 729. Am ausführlichsten dargestellt und deshalb als Informationsquelle für den nächsten Abschnitt benutzt: Ebd. Vgl. auch Georges-Bernard Depping, Münchhausen, Gerlach Adolph de, in: Louis-Gabriel Michaud (Hg.), Biographie universelle, ancienne et moderne, Bd. 29, Paris 1821, 566; Uriel Dann, Zur Persönlichkeit Gerlach Adolph von Münchhausen, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 52 (1980), 311–316; Dieter Brosius, Münchhausen, Gerlach Adolph Freiherr von, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1997, 523–524. Münchhausen, Gerlach Adolph von, in: Walther Killy u. Rudolph Vierhaus (Hg.), Dictionary of German Biography, Bd. 7, München 2004, 305. Emil F. Rössler, Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen, Göttingen 1855; Götz von Selle, Die Georg Augusta Universität zu Göttingen 1737–1937, Göttingen 1937; Walter Buff, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen als Gründer der Universität Göttingen, Göttingen 1937; Notker Hammerstein, Die Universitätsgründung im Zeichen der Aufklärung, in: Peter Baumgart u. ders. (Hg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, Nendeln/Liechtenstein 1978, 263–298; Anne Saada, Die Universität Göttingen. Traditionen und Innovationen gelehrter Praktiken, in: Hans Erich Bödeker, Philippe Büttgen u. Michel Espagne (Hg.), Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Wissenschaftliche Praktiken, institutionelle Geographie, europäische Netzwerke, Göttingen 2008, 23–46. Eindeutig zum Beispiel bei Dann, Hannover (wie Anm. 19), 96ff.
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Über den jüngeren Bruder Philipp Adolph27 weiß man noch weniger. 1697 geboren, diente er zunächst in Wolfenbüttel und ab 1724 als Oberappellationsrat in Kursachsen. Ernst August, Bischof von Osnabrück, ernannte ihn 1728 zum Geheimen Rat, aber erst 1741 wurde er im kurbraunschweigischen Dienst als wirklicher Staatsminister eingestellt. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er 1748, als er zum Präsidenten der deutschen Kanzlei in London ernannt wurde, ein Posten, den er bis 1761 innehatte. Wegen gesundheitlicher Probleme musste er nach Hannover zurückreisen, wo er im folgenden Jahr starb. Die große Mehrzahl der Briefe, die sich die beiden Brüder geschrieben haben und die überliefert sind, stammen aus dieser Zeitspanne zwischen 1748 und 1761, und zwar vor allem aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), aus einer Zeitspanne also, in der die beiden Brüder aus hannoverscher Sicht eigentlich die zwei Schlüsselposten in der Personalunion einnahmen: den der Direktion des Geheimen Rates in Hannover und den des Präsidiums der deutschen Kanzlei in London. Außerdem war Gerlach Adolph in dieser Zeit der engste Vertraute Georgs II ., und Philipp derjenige, der dem König räumlich am nächsten war. Schließlich ist zu betonen, dass es sich bei dieser Korrespondenz nicht um die offizielle oder vielleicht besser ausgedrückt um die staatliche zwischen Geheimem Rat und deutscher Kanzlei handelte, die daneben auch existierte, sondern um eine persönliche Korrespondenz. Welche Rolle spielte nun in dieser gegebenen institutionellen Situation die Brüderbeziehung für die Machtstrategie der Münchhausen? Und inwiefern kann überhaupt von einer gemeinsamen Machtstrategie die Rede sein?
2. Eine gemeinsame brüderliche Strategie 2.1 Das politische Verhältnis der beiden Brüder Es scheint in der Tat eindeutig zu sein, dass die beiden Brüder aufeinander abgestimmt agierten und gemeinsame Interessen teilten. Man weiß zum Beispiel nicht genau, wie der Aufstieg Philipps möglich wurde, aber es besteht kein Zweifel, dass sie für Gerlach vorteilhaft war: Die Ernennung Philipps in den hannoverschen Staatsdienst als Staatsminister im Jahre 1741 und vor allem diejenige als Beauftragter der deutschen Kanzlei in London 1748 liegen genau in der Zeitspanne, in 27 Über ihn eigentlich nur: Münchhausen, Philipp Adolph von, in: Christian Gottlieb Jöcher (Hg.), Christian Gottlieb Jöchers allgemeines Gelehrten-Lexikon, Bd. 5, Leipzig 18162. Kurz erwähnt in Dieter Brosius, Münchhausen, v., in: Neue deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1980, 521–522, 522.
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der Gerlach zur Hauptfigur des Geheimen Rates und zum engsten Vertrauten des Königs wurde. Dazu kommt, dass in der institutionellen Situation der Personal union der Leiter der deutschen Kanzlei zum einzigen Konkurrenten für Gerlach Adolph in der Gunst des Königs werden konnte.28 Das Vertrauen, das der König in Gerlach hatte, scheint sich in der Zeit auch auf den jüngeren Bruder übertragen zu haben. Grundlegend hierfür war aber wohl das Verhältnis Gerlachs zum König.29 Unter diesen Voraussetzungen gesehen war die Beziehung zwischen den Brüdern nicht egalitär. Aus den Briefen geht deutlich hervor, dass Philipp seinem Bruder ergeben war und seinen Vorrang anerkannte, was schon Uriel Dann in seiner Studie aufgezeigt hat.30 Die gesamte Korrespondenz könnte hierfür als Beleg genommen werden: Ihre Lektüre lässt klar erkennen, dass Gerlach seinem jüngerem Bruder auseinandersetzt, was er dem König raten soll. Als die deutschen Länder des Königs 1760 durch Frankreich besetzt waren, beschrieb Gerlach in einem sehr langen Brief die Lage der Territorien und ersuchte Philipp, er solle dem König unbedingt erklären, dass „nur zwei Mittel möglich zu seyn [scheinen] wie man solches [den Ruin] verhindern [kann], nämlich dass man sich entweder a) neue Alliierte zu verschaffen suche, oder b) einen baldigen Frieden mache“.31 Doch hier handelte es sich nicht nur um eine Frage einer politischen Strategie, für die man sich entscheiden konnte: In einer politischen Situation, in der sich die Interessen des Königs und der „Länder“ nicht immer vereinbaren ließen – was ein neues und sehr schwerwiegendes Problem für die Minister darstellte –, bestimmte Gerlach auf diese Weise auch, was die Rolle eines deutschen Ministers der englischen Majestät sein musste. Er war also derjenige, der die politische Norm in dieser ungewissen Konstellation setzte. Dass er diese Position einnahm, zeigen zahlreiche seiner Äußerungen wie zum Beispiel die folgende, zitiert aus dem nächsten Brief, den er an seinen Bruder sandte: „Mon cher frère sehen hieraus, dass ich es als die vorzüglichste Pflicht eines Teutschen Ministri Seiner königlichen Majestät betrachte […].“32 Diese Art und Weise zu schreiben, findet man oft in Gerlachs Briefen, und Philipp versuchte dann, in diese Richtung zu handeln. 28 Unter der Leitung der deutschen Kanzlei durch Hattorf zwischen 1723 und 1737 war er derjenige, der die Gunst und das Vertrauen des Königs besaß, was dazu führte, dass die Räte in Hannover versuchten, einen Rat in London neben von Hattorf ernennen zu lassen, was aber nicht funktionierte. Die Konkurrenz zwischen geheimem Rat und deutscher Kanzlei scheint eine Realität gewesen zu sein. Grieser, Die Deutsche Kanzlei (wie Anm. 20), 164ff. 29 Siehe dazu die schon zitierte Literatur über Gerlach Adolph von Münchhausen, siehe auch die Biographien über Georg II., vor allem die jüngst erschienene von Andrew C. Thompson, George II. King and Elector, New Haven, Conn. 2011, zum Beispiel 132f. 30 Dann, Hannover (wie Anm. 19), 95. 31 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 73, fol. 26v. 32 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 73, fol. 44r–45v.
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Nur einmal kam es in der Korrespondenz zu einer Unstimmigkeit – zumindest drückte es Philipp so aus. Am Beginn des Krieges, als Gerlach die fürchterliche Situation der hannoverschen Länder schilderte und die Schuldigen dafür in London sah, widersprach ihm Philipp und versuchte deutlich zu machen, dass man nicht anders hätte handeln können. Handelt es sich hierbei um eine ‚politische Diskussion‘ zwischen Brüdern oder ist es ein Zeichen dafür, dass Minister durch verschiedene Treueverhältnisse eingebunden waren? Dieser Fall bleibt jedoch der einzige in der gesamten Korrespondenz, der eine Divergenz erkennen lässt. Generell scheint es, wie bereits in Zusammenhang mit anderen Geschwisterbeziehungen festgestellt wurde, eine Aufgabe des älteren Bruders zu sein, dem jüngeren eine standesgemäße Position zu verschaffen, während der jüngere dem älteren theoretisch untergeordnet war.33 Mit Philipp Adolphs Ernennung konnte Gerlach nicht nur seiner Rolle als älterer Bruder gerecht werden, sondern über diese – als Ergebnis einer Strategie – auch seine persönliche Macht untermauern. Zumindest war dies das objektive Ergebnis dieser Ernennung. 2.2 In Schlüsselposition zum Machthaber Die Auswertung der Briefe zeigt, wie wichtig die Ernennung Philipp Adolphs in London und die Beziehung der Brüder untereinander für Gerlach Adolphs Machtstrategie in der komplexen Situation der Personalunion wurden. Zunächst ist es deshalb der Fall, weil die größte Gefahr für Gerlach die Distanz zum König war. Philipp konnte so als direkter Beobachter der Wünsche und Ärgernisse des Königs fungieren, die er dem Bruder sorgfältig in seinen Briefen zur Kenntnis brachte. Ein Beispiel dafür ist die Unterzeichnung des Neutralitätsabkommens der deutschen Armee des Königs mit Frankreich durch Cumberland, den Sohn des Königs, im September 1759, was den König wütend machte. Man weiß nicht genau, wie die Räte zu dieser Neutralität standen, aber Philipp berichtete am 20. September seinem Bruder sofort über die Reaktion des Königs: „Seiner königlichen Majestät besonders seyend darüber sehr indigniert und unzufrieden“,34 und am 24. September schrieb er, dass „die Absicht Seiner Königlichen Majestät drinnen auf alle Weise verfehlet“ sei.35 Ein paar Tage später konnte Philipp dann den Inhalt einer vom König gewünschten Konvention genauer vorstellen: „Ich halte mich schuldig, mon cher frère das Königes Bewegungs Uhrsachen derzu 33 Ruppel, Verbündete Rivalen (wie Anm. 5), 126ff. Vgl. auch Linda Pollock, Younger Sons in Tudor and Stuart England, in: History Today 39 (1989), 23–29. 34 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 35, fol. 27. 35 Ebd., fol. 31.
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etwas umständlicher zu explicieren.“36 Man muss betonen, dass er dies persönlich und inoffiziell schreibt, und zwar seinem Bruder, nicht den Räten als Collegium. Ab diesem Moment ist zwischen den Brüdern Münchhausen nur noch von der „fatalen Convention“ die Rede,37 was nicht weiter erstaunt. Auch in der hohen Dienerschaft findet man also die von Sophie Ruppel bereits angedeutete Funktion von Geschwisterbeziehungen als besonders loyale Informationskanäle. Philipp konnte allerdings auch die Aktion seines Bruders vor dem König loben und rechtfertigen. In dieser selben Angelegenheit hatte Philipp zum Beispiel sogleich versucht, das Verhalten seines Bruders zu verteidigen, weil der König glaubte, dass die hannoverschen Räte kollektiv das Neutralitätsabkommen unterstützt hätten. Dies scheint funktioniert zu haben, da der König Gerlach im November schließlich beauftragte, nach Stade zu fahren, um dort die Gegen-Konvention zu verhandeln. Die Präsenz des Bruders in der Nähe des Königs und die dadurch gewährleisteten Informationsflüsse eröffneten Gerlach nicht nur vermittelte Wirkmacht, sondern erhöhten dessen Einflussmöglichkeit auf Entscheidungen des Königs auch in der Situation der persönlichen Abwesenheit. Am 20. April 1758 befanden sich die königlichen Truppen in Köln. Es ging um die Frage, ob das Land Kontributionen zahlen müsse und wenn ja, wie hoch diese sein sollten, was eine heftige Debatte im Geheimen Rat auslöste. In einem persönlichen Brief an seinen Bruder unterstrich Gerlach Adolph, dass es ein politischer Fehler wäre, zu hohe Kontributionen zu verlangen. Denn wie würden die Alliierten in Kassel und Braunschweig darauf reagieren?38 Durch diese spezielle Verbindung zum König hatte Münchhausen einen gewaltigen Vorteil, was seiner Stimme ein großes Gewicht verlieh. Die Ernennung Philipps scheint also für Gerlach eine Antwort auf das Hauptproblem gewesen zu sein, das diese Personalunion für den wichtigsten Geheimen Rat mit sich brachte, nämlich einerseits seine eigene Distanz zum König und andererseits die Anwesenheit eines einzigen Hannoveraners in dessen Nähe. Unter Münchhausen dürften die Geheimen Räte zwar wieder die Macht mit dem König geteilt haben, aber Gerlach Adolph bekam so einen sehr wichtigen Vorsprung gegenüber seinen Kollegen. Die Ernennung Philipps ermöglichte ihm einen sicheren Zugang zum abwesenden König, was ihm die Chance eröffnete, ihn zu beeinflussen und seine Gunst zu erhalten. Linda Pollocks These, dass man die Brüderbeziehungen mit dem Patronagesystem vergleichen könnte, ist hier
36 Ebd., fol. 41. 37 Zum Beispiel ebd., fol. 33. 38 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 43, fol. 17r.
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zumindest partiell zutreffend: Philipp scheint sich nämlich wie ein Klient seines Bruders zu benehmen, verfügte jedoch zugleich über ein spezielles Vertrauen.39 2.3 Das Verhältnis der Brüder im Kontext ihrer Verflechtungen Diese vorteilhafte Situation wurde nun aber von den beiden Brüdern gemeinsam genutzt, um ihre persönliche Macht als Patrone zu untermauern. Die Brüderbeziehung wurde damit zum Knotenpunkt ihrer anderweitigen Verflechtungen und von ihnen instrumentalisiert, um diese zu erweitern. Hierin wird eine Art Familienstrategie deutlich, bei der jeder Bruder die Situation des anderen für sein eigenes soziales Kapital genutzt hat. Über die Ergebenheit des jüngeren Bruders allein lässt sich also die Situation nicht adäquat fassen. Die These Pollocks muss demnach weiter ausdifferenziert werden. Auf der einen Seite konnte Gerlach die Position seines Bruders dazu nutzen, um seine Klienten zu belohnen und auch neue zu gewinnen. Für die Bewohner Hannovers, aber auch des gesamten deutschen Raumes wurden die Brüder Münchhausen nämlich zum einfachsten Weg, in die unmittelbare Umgebung des Königs, der ja als „fountain of favour“40 gesehen werden muss, zu gelangen. Viele Situationen können dies illustrieren. Ab 1757 übernahm Ferdinand von Braunschweig zum Beispiel die Führung der deutschen Armee des Königs,41 und in der Folge begann eine Korrespondenz mit Gerlach, der ihm Informationen lieferte. Obwohl Ferdinand eine sehr wichtige Rolle für den König spielte, war ein direkter Zugang zu diesem trotzdem schwierig für ihn. Als er nach einer Reihe von Erfolgen fand, dass der König seine Arbeit und vor allem die seines Obersts von Reden, der sich ausgezeichnet hatte, nicht angemessen lobte, ließ er Reden am 2. April 1758 an Gerlach schreiben, um sich darüber zu beschweren. Der Minister antwortete am 10. April: „Ich schreibe morgen indes meinem Bruder.“42 Am 5. Mai schrieb er dieses Mal direkt an Ferdinand und eröffnete den Brief mit einer Rüge: „J’avais remarqué qu’on ne marquait pas assez en Angleterre combien on 39 Linda Pollock, Younger Sons (wie Anm. 33), 26. Karl-Heinz Spieß spricht dagegen von „Versorgungsfamilien“ in: Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters: 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 390. 40 Linda Levy Peck, Court Patronage and Corruption in Early Stuart England, London 19912. So lautet der Titel ihrer Einleitung. 41 Siehe jetzt dazu Walther Mediger, Herzog Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg und die alliierte Armee im Siebenjährigen Krieg (1757–1762), für die Publikation aufbereitet und vollendet von Thomas Klingebiel, Hannover 2011. 42 Das Schriftstück ist nur durch Münchhausens Antwort bekannt: StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 43, fol. 7–10.
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était touché de tout ce que ce grand et digne Prince a fait pour nous, et j’ai écrit sur cela à mon frère. J’ai l’honneur de remettre très respectueusement à V.A.S l’original de sa réponse.“43 Von solchen Vermittlungstätigkeiten ausgehend kann man verstehen, warum sich Ferdinand des Öfteren als Freund Münchhausens darstellte und was er von seinen Freundschaftszusicherungen zu gewinnen hoffen konnte.44 Ein anderes Beispiel kann aus den hannoverschen Territorien selbst angeführt werden. Im April 1759 warteten die wichtigsten Offiziere auf die neue Promotion der Generäle des Jahres. Schulenburg, ein wichtiger Soldat in der königlichen Armee, bat Münchhausen, über den Kanal seines Bruders seine Promotion zu unterstützen. Als er im Dezember erfuhr, dass der König kein Vertrauen in ihn habe, war Münchhausen wiederum die einzige Hoffnung. Schulenburg vertraute darauf, dass „S.E Mr votre frere veut bien s’emploier à ce point en ma faveur“.45 Wenn er das tue, versprach er der Familie Münchhausen, für immer ergeben zu sein. Die Lage ist fast genau dieselbe, wenn man sie nun aus der englischen Perspektive betrachtet: Da Gerlach Adolph von Münchhausen die Hauptfigur des Geheimen Rates war, konnte Philipp Adolph sein soziales Kapital rasch vergrößern, indem er einer der besten Ansprechpartner für Engländer oder Deutsche in England wurde. In einem Brief vom August 1759 von Philipp an Gerlach erfährt man, dass die militärische Karriere des Kammerherrn zu Walmoden, Sohn der Comtesse Yarmouth, Mätresse des Königs, der in der Armee unter Ferdinand diente, erst dank Philipps Anfrage an Gerlach und Gerlachs Anfrage an Ferdinand möglich wurde, dass Gerlach seitdem den Sohn im Auge behielt und der Comtesse Nachrichten zukommen ließ, was sie Philipp zufolge ihrerseits „auf das Verbindlichste verpflichtet[e]“.46 Die Brüder wussten also genau, wie die jeweilige Situation zu instrumentalisieren war, um solche Dienstleistungen in ihrer Wirkung zu vervielfachen. Die Beziehung zwischen den Brüdern wurde damit zum Knotenpunkt eines neuen Netzes von Verflechtungen, und man erkennt, dass sich jene Verflechtungen vom einen auf den anderen Bruder offensichtlich übertrugen: Fast immer sprachen die Kommunikationspartner der Brüder von den „zwei Brüdern“, weil die Dienstleistungen nur dank der beiden Münchhausens erfolgten, weil sie als Bindeglied zwischen 43 „Mir ist aufgefallen, dass man in England nicht genug unterstrichen hat, wie sehr man über all das gerührt war, was dieser große und würdige Fürst für uns getan hat, und ich habe meinem Bruder davon geschrieben. Ich habe die Ehre, Votre Altesse Sérénissime, sehr respektvoll das Original seiner Antwort zu übergeben.“ Ebd., fol. 22–23. 44 Ebd., fol. 6. 45 „Seine Exzellenz, Ihr Bruder will sich gerne in diesem Punkt zu meinen Gunsten einsetzen.“ StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 61, fol. 9. 46 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 58, fol. 3.
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den zwei Teilen der Personalunion fungierten. Um diese Beziehung herum wurde also eine neue politische Einheit – die der Geschwister Münchhausen – mit einer eigenen und gemeinsamen Machtstrategie geschaffen, und die anderen Verflechtungen wurden dadurch neu organisiert. Aber warum akzeptierte der König, dass zwei Brüder eine solche Machtstrategie durchsetzten?
3. Die Brüderbeziehung und ihre Bedeutung für den König 3.1 Im Dienste seiner Königlichen Hoheit Wenn die beiden politischen Gebilde der Personalunion aus einer verwaltungstechnischen Perspektive auch getrennt waren,47 so nahm sich die konkrete politische Situation jedoch ganz anders aus. In Kriegszeiten zum Beispiel waren die beiden Territorien de facto miteinander verbunden: Gerade in diesem Kontext stellte die Brüderbeziehung eine Verflechtung dar, die der König umso mehr zu schätzen wusste. Die Briefe zeigen nämlich, dass Philipp auch die Rolle zukam, einen informellen Kontakt zu den englischen Ministern des Königs aufzunehmen. Durch Verflechtungen hofften Gerlach und generell gesehen die Hannoveraner, auf die englische Politik Einfluss zu gewinnen. Dies war umso wichtiger, als die englische Regierung nach 1688 eine wichtige Machtposition einnahm.48 Das Ziel war es also, die Interessen des Königs auch in seiner Rolle als Kurfürst zu unterstützen. Dies war für den König sehr wertvoll, vor allem auch, weil ihn die englische Öffentlichkeit in dieser Zeit oft als „deutschen König“ hinstellte.49 Deshalb war es wichtig, dass sein Hauptminister, Gerlach Adolph, durch seinen Bruder selbst Einfluss auf England erhielt. 47 Wie Anm. 16 u. 17. 48 Über die Frage der Rolle der englischen Regierung und die Debatte über die Identität des effektiven Machtinhabers im England des 18. Jahrhunderts zwischen König, Regierung und Parlament vgl. „National Government“, in: Gerald Newman (Hg.), Britain in the Hanoverian Age, 1714–1837: An Encyclopedia, New York/London 1997, 301–303; Harry T. Dickinson, The British Constitution, in: ders. (Hg.), A Companion to EighteenthCentury Britain, Oxford 2002, 4–18. 49 Diese Kritiken waren immer wieder im Parlament oder in der öffentlichen Meinung zu hören. Vgl. James van Horn Melton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe, Cambridge 2001, vor allem 31f; Graham C. Gibbs, English Attitudes towards Hanover and the Hanoverian Succession in the First Half of the Eighteenth Century, in: Adolf M. Birke u. Kurt Kluxen (Hg.), England und Hannover. England and Hanover, München u. a. 1986, 33–51.
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Im Sommer 1757 befanden sich die deutschen Truppen des Königs in einer sehr schwierigen Lage, da die französischen Truppen einen großen Teil des Kurfürstentums besetzt hatten, was 1759 und 1760 erneut der Fall war.50 In jeder dieser Situationen versuchte Gerlach zu erreichen, dass die Engländer Truppen auf den Kontinent schicken,51 eine Frage, die der König allerdings nicht allein entscheiden durfte. Um dahin zu gelangen, nutzte Gerlach die Präsenz seines Bruders in London. In langen, an Philipp gerichteten Briefen beschrieb Gerlach die dramatische Lage, in der sich die deutschen Länder befanden, und führte Gründe an, wieso die Engländer zur Erreichung ihrer Kriegsziele Truppen nach Deutschland schicken müssten. Adressat der Argumentation war aber weder Philipp noch der König, sondern die englische Regierung, die er auf diesem Wege zu überzeugen versuchte. Er gab seinem Bruder also Mittel an die Hand, um die englische Regierung auf seine Linie zu bringen. Im November 1760, als das Budget des folgenden Jahres in England zur Debatte stand, beauftragte er Philipp sogar, die englische Regierung direkt zu beeinflussen: „Mon cher frère können dieses gewiss nicht deutlich und oft genug vorstellen.“52 Und weiter heißt es „Es ist von der aüßersten Nothwendigkeit, daß das Commissariat anders eingerichtet werde.“53 Philipp versuchte, vor allem mit Newcastle den Kontakt aufrechtzuerhalten, mit dem Gerlach seit Newcastles Reise nach Hannover im Jahr 1748 befreundet war.54 Aus den Newcastle-Papers ist ersichtlich, wie oft – und zwar fast täglich – Philipp in dieser schwierigen Zeit den Minister besuchte, rein informell natürlich. Am 15. Juni 1757 entschuldigte sich Philipp zum Beispiel, dass er nicht zu Newcastle hatte kommen können: „Rien n’aurait pu m’empêcher d’aller faire ma cour à votre Excellence ce matin à mon ordinaire, si ce n’étaient les ordres du roi qui m’a convoqué à Kensington.“55 Oft brachte er Papiere mit, die Gerlach
50 Christof Römer, Niedersachsen im 18. Jahrhundert (1714–1803), in: Christine van den Heuvel u. Manfred von Boetticher (Hg.), Geschichte Niedersachsens, Bd. 3, Teil 1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1998, 221–346, hier Kapitel 3.1: Der Siebenjährige Krieg in Niedersachsen, 287ff. 51 Zum Beispiel StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 73, fol. 7v. u. 7r. 52 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 73, fol. 48r. 53 Ebd. 54 Vgl. Reed Browning, The Duke of Newcastle, New Haven/London 1975, 153. Dann, Hannover (wie Anm. 19), Kapitel 4: Die Münchhausen-Newcastle-Zusammenarbeit. 1749–56, 96–119. 55 „Nichts hätte mich davon abhalten können, Eurer Exzellenz heute Morgen wie üblich meine Aufwartung zu machen, wenn da nicht die Befehle des Königs gewesen wären, der mich nach Kensington bestellt hat.“ British Library, Newcastle paper, Ms. 32.871, fol. 317.
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für Newcastle geschickt hatte.56 Philipp wurde zum Verbindungsglied zwischen den beiden Politikern,57 und diese Freundschaft zwischen Newcastle und Gerlach ermöglichte es, der Personalunion eine politische Kohärenz zu geben. Diese Verflechtungen erwiesen sich umso dienlicher, als sie in der komplexen Dualität dieses politischen Gebildes genutzt werden konnten. Aus Sicht des Königs vermochte also diese Brüderbeziehung, dank des zwischen den Brüdern herrschenden Vertrauens, die Schwierigkeiten der Personal union auszugleichen. Auf Grundlage der Verflechtungen konnten die nächsten Vertrauten des Königs auf beiden Seiten trotzdem zusammenarbeiten: Die Freundschaft zwischen Newcastle und Gerlach Adolph von Münchhausen, die der Personalunion mehr Kohärenz verlieh, konnte nur durch die Verbindung über Philipp von Münchhausen fortbestehen. Nur die Verflechtungen konnten die administrative und räumliche Trennung zwischen den beiden Regierungen überwinden, und so de facto die Politik der gesamten Union effizienter machen. Die hannoversche Stimme, welche die deutschen Interessen des Königs befürwortete, wurde in London umso stärker wahrgenommen, als völliges Vertrauen zwischen dem Präsidenten der deutschen Kanzlei und der Hauptfigur des Geheimen Rates herrschte – und dies konnte anscheinend nicht besser geschehen als durch die beiden Brüder. Eindeutig ist auf alle Fälle, dass die Zusammenarbeit zwischen Hannover und London, vielleicht sogar das Gewicht Hannovers in London, nie größer war als in der Zeit, als die Brüder Münchhausen die genannten Positionen innehatten. 3.2 Diplomatie und Geheimhaltung im Dienste des Königs Das Vertrauen des Königs in Gerlach, das sich auf Philipp offensichtlich übertragen hat, und das Vertrauen zwischen den Brüdern erwies sich in diplomatischen Vorgängen als besonders wichtig, wenn die Geheimhaltung unumgänglich war. In der Diplomatie, wo die Staatsgeheimnisse eine so große Rolle spielten, stellte die Beziehung zwischen zwei Dienern, die Brüder waren, einen sehr diskreten Kanal dar, der mit anderen diskreten Verbindungen benutzt wurde, um die staatlichen und offiziellen Wege zu umgehen. Analysieren wir zum Beispiel, wie die Hannoveraner 1759 versuchten, die Kurpfalz zu überzeugen, die französische gegen die englische Allianz zu tauschen. Alles begann mit inoffiziellen Informationen, die Münchhausen über sein Kontaktnetz bekam. Am 30. März 1759 schrieb er in einem persönlichen Brief an 56 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 22, fol. 7. 57 Dann, Hannover (wie Anm. 19), 95.
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Finckenstein, einen der wichtigsten preußischen Minister, dass er durch einen Freund „avis secrets“ bekommen habe, dass der pfälzische Kurfürst mit seiner Allianz unzufrieden sei.58 Die Alliierten könnten also versuchen, sich dem Kurfürsten diplomatisch anzunähern, doch die Geheimhaltung bleibe das Wichtigste, um eine Chance auf Erfolg zu haben. Münchhausen musste also diskret vorgehen. Er hatte ein paar Tage zuvor seinem Bruder von dieser Angelegenheit geschrieben und bekam dessen Antwort am selben Tag: Philipp hatte den König und auch Newcastle informiert.59 Ende Mai wurden Gerlachs Informationen noch präziser:60 Die Verhandlungen konnten beginnen, aber Frankreich sollte nichts davon erfahren. Doch wie sollte man konkret vorgehen? Keiner der Alliierten hatte einen Agenten vor Ort – in Kriegszeiten änderten sich die Regeln der ‚staatlichen‘ Diplomatie und wurden immer wieder durchbrochen –, einen Agenten zu entsenden war undenkbar, weil damit die Geheimhaltung der Verhandlungen sofort verloren gehen würde. Einen Brief zu schicken, schien auch unmöglich: An wen sollte man diesen senden und wie, wenn man bedenkt, dass die französische Armee die Reichsgebiete, die geographisch zwischen Hannover und Mannheim lagen, zu jener Zeit fast alle besetzt hielt,61 und dass, wie Wolfgang Behringer geschildert hat, die Reichspost während des Siebenjährigen Krieges sehr direkt dem Kaiser gedient hat?62 Im Nachlass Münchhausen findet man einen Brief vom 17. Mai 1759 von Gottfried Achenwall, dem berühmten Professor, der damals Naturrecht und Philosophie an der Universität Göttingen lehrte.63 Achenwall, der Münchhausen zumindest indirekt seinen Posten verdankte,64 unterrichtete ihn in diesem Brief, dass er nach Anfrage Münchhausens eine Nachricht von seinem Schwager aus Frankfurt am
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StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 41/4, fol. 549. StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 51, fol. 1–2. StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 41/4, fol. 616. Römer, Niedersachsen (wie Anm. 50), 291. Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, München/Zürich 1990, 118. 63 Zur Person Achenwalls vgl. Emil Steffenhagen, Achenwall, Gottfried, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1, Leipzig 1875, 30; Friedrich Zahn u. Ernst Meier, Achenwall, Gottfried, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1, Berlin 1953, 32. 64 Johann Stephan Pütter war derjenige, der Achenwall nach Göttingen brachte: Pütter stand Münchhausen selbst sehr nahe und wurde von ihm 1746 zu einer Reihe von Vorlesungen nach Göttingen eingeladen. Buff, Münchhausen als Gründer (wie Anm. 25), 121. Generell hat Münchhausen direkt die Oberhand über die Ernennungen der Professoren behalten und hat diese oft selber ausgesucht. Siehe dazu seine Korrespondenzen mit Gelehrten in Emil F. Rössler, Gründung (wie Anm. 25), ab 40.
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Main bekommen habe.65 Dieser Schwager ist der berühmte Friedrich Karl von Moser, der zwischen 1751 und 1763 in Frankfurt als Vertreter der Landgrafen von Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel am Oberrheinischen Kreistag tätig war.66 Nun gehörte diesem Kreis auch das Herzogtum Pfalz-Lautern an, dessen Fürst seit 1592 der Kurpfälzische Fürst war, eigentlich auch in einer Art „Personalunion“.67 Die Verhandlung konnte nun in einem nach außen völlig abgeschlossenen Kreis geführt werden, und ohne dass man besorgt sein musste, dass die Franzosen die Idee haben könnten, Briefe zu öffnen. So hatte Münchhausen einen Weg gefunden, um die Gespräche zu beginnen, und Moser verhandelte ab diesem Zeitpunkt direkt mit dem Vertreter Karls IV. im Oberrheinischen Kreistag. Münchhausen schrieb an Achenwall68 also im Rahmen eines bereits länger bestehenden Briefwechsels über Universitätsangelegenheiten, was deshalb die Aufmerksamkeit der Spione nicht erweckte. Achenwall schrieb daraufhin einem Angehörigen seiner Familie, und Moser verhandelte dann mündlich, bevor er wieder seinem Schwager schrieb, der seine Briefe an Münchhausen weiterschickte.69 Hier nutzte Münchhausen also die Netze der Gelehrtenrepublik, die er dank seiner Funktion in Göttingen aufgebaut hatte. Nach London sandte er immer wieder persönliche Briefe an seinen Bruder, der anschließend mündlich dem König davon Bericht erstattete, wie Philipp es deutlich am 5. Juni 1761 vermerkte: „…von denjenigen wass vorhin mit Churpfalz durch mon cher frère canal negotieret werden, habe ich seit langer Zeit ihro Majestat völlig an Zeit gesetzt“.70 Keiner der Räte wusste davon, keiner der Minister in England außer Newcastle, keiner der Botschafter, was bei Nutzung der normalen, offiziellen Kanäle der Diplomatie nicht der Fall gewesen wäre. Philipp schrieb am 5. Juni, um seinen Bruder zu beruhigen: „Alhier wollen Ihro Majestat davon niemand etwas wissen lassen.“71 Um William Pitt, die zur Zeit als Secre65 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 51, fol. 6–7. 66 Heinrich Heidenheimer, Moser, Friedrich Karl von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 22, Leipzig 1885, 764–783; Angela Stirken, Der Herr und der Diener. Friedrich Carl von Moser und das Beamtenwesen seiner Zeit, Bonn 1984; Günter Christ, Moser von Filseck, Friedrich Carl Frhr. v., in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1997, 178–181. 67 Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder, München 1988, 410. 68 Die Korrespondenz kann man im Nachlass Münchhausen weiterverfolgen: StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 51, fol. 25ff. 69 Im Jahr 1759 schreibt Achenwall an Münchhausen und berichtet, was die Briefe seines Schwagers enthalten. Im Jahr 1761, als die Hannoveraner wieder versuchen, Kurpfalz für sich zu gewinnen, schickt Achenwall direkt die Briefe Mosers an Münchhausen: StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 51, fol. 109 ist das erste von mehreren Beispielen. 70 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 51, fol. 50. 71 Ebd., fol. 20.
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tary of State for the Southern Department führende Persönlichkeit im englischen Kabinett, davon zu überzeugen, den Vertrag zu unterzeichnen und die Summe für die pfälzischen Truppen zu zahlen, musste nämlich alles und auf einfachste Weise schon vorher geregelt sein. Erst im April 1760 wurden die Verhandlungen konkreter, und Philipp schrieb dann seinem Bruder, dass er dem König den Brief vorgelesen und „den Befehl erhalten [habe], darüber mit den hiesigen Ministris zu reden“.72 Die Verhandlung von Philipp mit Pitt konnte nun beginnen: Auch inoffiziell war Philipp bemüht, Pitt, dessen Freundschaft Philipp seit längerer Zeit suchte, zu überzeugen.73 Was die Geheimhaltung angeht, kann also die Brüderbeziehung als informelle Alternative zu den administrativen oder staatlichen Verfahrenswegen gelten und sie erlaubte sogar, die Informationen nicht mit den anderen Räten und Ministern zu teilen. In diesem Fall war die Beziehung zwischen den Brüdern für den König eine Garantie: Die Verbindung galt als extrem sicher in einer Welt der Räte, wo Parteien und Faktionen zahlreich waren. Da die offizielle Korrespondenz immer von allen Räten gelesen werden musste, wurde im Kontext von diplomatischen Verhandlungen in Kriegszeiten die persönliche Beziehung zwischen den Brüdern der beste Weg, um ein Geheimnis zu bewahren.
4. Schlussbetrachtungen War die Beziehung zwischen Brüdern in der hohen Dienerschaft des 18. Jahrhunderts vertrauensvoll, so konnte sie zu einem politischen Trumpf werden: sowohl für die beiden Brüder persönlich, als auch für die Familie insgesamt, wenn sie eine gemeinsame politische Strategie darauf aufbaute, und nicht zuletzt für den Herren selbst. Dies kam umso mehr im Fall der Personalunion zum Tragen, wo die Verflechtungen eine Antwort auf die damit verbundene politische und administrative Komplexität sein konnten. Es handelt sich hier eindeutig um einen strong tie,74 wie dies oft in der Patronageforschung genannt wird: Das Vertrauen, das die Brüder verband, scheint sich jedenfalls qualitativ von den anderen Verflechtungen zu unterscheiden und muss deshalb auch gesondert analysiert werden.
72 StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 70, fol. 76v. 73 Sehr oft schreibt Philipp über diese Verhandlung, dass er versucht, sich Pitt anzunähern. Zum Beispiel StaHa, Hann 91, G.A.v. Münchhausen, Nr. 70, fol. 79v. 74 Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen 1999, 23. Siehe auch Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), 1360–1380.
Die Brüder Münchhausen und die englisch-hannoversche Personalunion 109
Zugleich bildeten die Brüder hier eindeutig den Knotenpunkt in den Verflechtungen mit Anderen. Die Geschwisterbeziehung wurde also im 18. Jahrhundert – das zeigt sich zumindest in diesem Fall ganz klar – nicht entfunktionalisiert, und viele Aspekte, die Sophie Ruppel für Brüder im regierenden Hochadel des 17. Jahrhunderts herausarbeiten konnte, bleiben hier weiterhin relevant. Auch auf offiziellen Posten im Staat konnten die Brüder politische Vorteile für sich erringen, indem sie ihre Beziehung im Rahmen ihrer anderen Verflechtungen nutzten. Das durch eine solche „starke“ Beziehung hergestellte Vertrauen und die dadurch gewährleistete verlässliche Geheimhaltung konnten für Informationstransfers und die Außenpolitik weiterhin von großem Wert sein, auch wenn es eine offizielle Diplomatie parallel dazu gab. Die Macht eines Premierministers wie Münchhausen beruhte also auch im 18. Jahrhundert noch sehr auf seinen Verflechtungen und auf der Beziehung zu seinem Bruder, die es ihm ermöglichte, seine Vertrauensposition gegenüber dem König bewahren zu können und seine Pflicht als Diener des Herren zu erfüllen.
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Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus Walliser Gemeinden des 18. Jahrhunderts im Vergleich Sandro Guzzi-Heeb
1. Verwandtschaft und Netzwerke: eine begriffliche Standortbestimmung Ist die Verwandtschaft ein Netzwerk? Oft wird von „Verwandtschaftsnetzen“ gesprochen und Verwandtschaft entsprechend als Netzwerk dargestellt. Oder bildet die Verwandtschaft ein – womöglich wesentliches – Element des sozialen Netzwerks eines jeden Menschen? Wenn ja, handelt es sich um die gesamte Verwandtschaft oder um einen Teil davon? Es lohnt sich, kurz über den Zusammenhang zwischen den Begriffen nachzudenken, da diese in der historischen und anthropologischen Forschung nicht immer adäquat auseinandergehalten werden. Vor allem bei traditionellen oder strukturellen Ansätzen wird immer wieder suggeriert, dass Verwandtschaftsbeziehungen an sich wesentliche soziale Verbindungen darstellen. Dabei wird meist nicht näher darauf eingegangen, was dieses formelle Netz überhaupt für die beteiligten Individuen bedeutet.1 Ist es überhaupt ein soziales Netzwerk? Und was ‚macht‘ das Verwandtschaftsnetzwerk genau? Die Debatte über die Verwandtschaft als historischer Faktor wurde wesentlich von dem 1998 erschienenen Buch David Sabeans „Kinship in Neckarhausen“ angefacht.2 Zahlreiche Studien sind daraufhin veröffentlicht worden, welche die Thesen Sabeans zum Teil zu bestätigen, zum Teil zu widerlegen scheinen.3 1
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Ich beziehe mich vor allem auf strukturell ausgerichtete Studien wie zum Beispiel Gérard Delille, Famille et propriété dans le Royaume de Naples (XVIe–XIXe siècle), Paris/Rome 1985; ders., Réflexions sur le „système“ européen de la parenté et de l’alliance, in: Annales H.S.S. (2001), 369–380; Françoise Héritier, L’exercice de la parenté, Paris 1981. David W. Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998. Vgl. auch ders., Simon Teuscher u. Jon Mathieu (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York/Oxford 2007. Für eine Übersicht über neuere Erscheinungen siehe François-Joseph Ruggiu, Histoire de la parenté ou anthropologie historique de la parenté? Autour de Kinship in Europe. Note
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Sabeans Buch beschreibt und interpretiert drei verschiedene Entwicklungen, die in der nachfolgenden Diskussion teils miteinander verwechselt oder vermischt wurden: Erstens die quantitative Zunahme der sozialen Beziehungen innerhalb der Verwandtschaft, besonders sichtbar in der europaweit steigenden Zahl an Eheschließungen zwischen Verwandten; zweitens eine qualitative Veränderung und Neuausrichtung der verwandtschaftlichen Kooperationen seit dem 18. Jahrhundert mit einer Zunahme horizontaler und kognatischer Beziehungen zulasten einer agnatischen und dynastischen Logik; drittens eine steigende Bedeutung der Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Leben, was Sabean mit der bekannten Formel einer „kinship hot society“ im 19. Jahrhunderts pointiert formulierte. Die Interpretation quantitativer Häufigkeiten wurde unter anderem neulich von Christine Fertig in Zweifel gezogen, und zwar mit dem Argument, dass sich critique, in: Annales de démographie historique 1 (2010), 223–256. Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit: David W. Sabean u. Christopher H. Johnson (Hg.), Sibling Relations and the Transformation of European Kinship 1300–1900, New York/Oxford 2011; Marion Trevisi, Au coeur de la parenté. Oncles et tentes dans la France des Lumières, Paris 2008; Margareth Lanzinger u. Edith Saurer (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007; Sabean/Teuscher/Mathieu, Kinship in Europe (wie Anm. 2); Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), 31–77; dies., Kinship Networks, Local Government and Elections in a Town in Southwest Germany, 1800–1850, in: Journal of Family History 30, 4 (2005), 347–365; Historische Sozialforschung / Historical Social Research, Sonderheft 30, 3 (2005), Themenheft: Geschwister – Eltern – Großeltern: Beiträge der historischen, anthropologischen und demographischen Forschung, hg. von Georg Fertig; Ruth Perry, Novel Relations: The Transformation of Kinship in English Culture and Literature 1748–1818, Cambridge 2004; Maurice Godelier, Métamorphoses de la parenté, Paris 2004; Salvatore D’Onofrio, L’esprit de la parenté: Europe et horizon chrétien; préf. Françoise Héritier, Paris 2004; Laurence Fontaine, Pouvoir, identités et migrations dans les hautes vallées des Alpes occidentales: XVIIè–XVIIIè siècle, Grenoble 2003; Jon Mathieu, Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500–1900, in: Historische Anthropologie 10 (2002), 225–244; Ebba Severidt, Familie, Verwandtschaft und Karriere bei den Gonzaga. Struktur und Funktion von Familie und Verwandtschaft bei den Gonzaga und ihren deutschen Verwandten (1444–1519), Leinfelden-Echterdingen 2002; Ulf Brunnbauer u. Karl Kaser (Hg.), Vom Nutzen der Verwandten: Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien 2001; Linda Stone (Hg.), New Directions in Anthropological Kinship, Lanham 2001; Vincent Gourdon, Histoire des grands-parents, Paris 2001; Delille, Réflexions sur le „système“ européen de la parenté (wie Anm. 1); Bernard Derouet, Parenté et marché foncier à l’époque moderne: une réinterprétation, in: Annales H.S.S. 56, 2 (2001), 337–368; Richard Grassby, Kinship and Capitalism. Marriage, Family, and Business in the English-Speaking World, 1580–1740, Cambridge 2001; Michel Nassiet, Parenté, noblesse et états dynastiques. XVe–XVIe siècles, Paris 2000; Didier Lett, Famille et parenté dans l’Occident Médiéval, Ve–XV e siècles, Paris 2000; Janet Carsten (Hg.), Cultures of Relatedness. New Approaches to the Study of Kinship, Cambridge 2000.
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eine hohe Anzahl von Verwandtenehen aus der Dichte des vorhandenen Verwandtschaftsnetzes ergeben kann, auch wenn keine Präferenz für verwandte Ehepartner festzustellen ist, und dass in einem der beiden von ihr untersuchten westfälischen Dörfer die Häufigkeit solcher Eheschließungen auf diese einfache Weise erklärt werden könne.4 Die Überlegung ist entscheidend und müsste für andere Regionen verifiziert werden. Sie bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Thesen des amerikanischen Historikers falsch zu sein brauchen. Abgesehen von der quantitativen Frage lassen sich qualitative Entwicklungen in der Konstruktion der Verwandtschaft für verschiedene Gebiete eindeutig nachweisen.5 Entscheidend ist jedoch der dritte Aspekt: Können wir im 18. und 19. Jahrhundert eine allgemeine Zunahme der Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen und womöglich politischen und kulturellen Leben beobachten? Im Schweizer Val de Bagnes, der Region, die in diesem Beitrag im Detail untersucht wird, zeigt sich beispielsweise keine quantitative Intensivierung der Verwandtschaftsbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert. Trotzdem können wir in diesem Tal der Walliser Alpen feststellen, dass Verwandtschaftssolidaritäten für die Bildung sozialer und politischer Netzwerke, für die Herausbildung kultureller Identitäten, im Sinne der Tradierung gewisser Werte und Haltungen, immer wichtiger werden.6 Deshalb ist es notwendig, die Untersuchung des sozialen Einflusses der Verwandtschaft von den Fragestellungen über die formellen Eigenschaften der Verwandtschaftssysteme zu lösen. Klassisch wurden Verwandtschaftsbande als primäre Beziehungen verstanden, die als grundlegende Kanäle sozialer Solidarität fungieren sollten. Es ist auch einfach, zahlreiche punktuelle Belege dafür zu finden, gerade weil die Informationen über Verwandtschaftsbeziehungen meist unvollständig sind. Da lässt sich meistens ein Vetter finden, der mit einem anderen Vetter kooperiert, oder ein Onkel, der den Neffen oder die Nichte unterstützt. Die Frage ist jedoch, welche Relevanz diese punktuellen Kooperationen innerhalb des jeweiligen Verwandtschaftsnetzwerks hatten und wie sie sich längerfristig auswirkten. Spätestens an 4 5
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Christine Fertig, Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874), Stuttgart 2012. Vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Donne, uomini, famiglia e parentela. Casati alpini nell’Europa preindustriale, Torino 2007. Im Hinblick auf die spirituelle Verwandtschaft vgl. Guido Alfani, Padri, padrini, patroni. La parentela spirituale nella storia, Venezia 2006. So lassen sich auch qualitative Entwicklungen verwandtschaftszentrierter Netzwerke beobachten, beispielsweise bei den Patenschaften. Vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Spiritual Kinship, Political Mobilization and Social Cooperation: A Swiss Alpine Valley in 18th and 19th Century, in: Guido Alfani u. Vincent Gourdon (Hg.), Spiritual Kinship in Europe, 1500–1900, Basingstoke 2012, 183–203.
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diesem Punkt stoßen wir auf ein grundlegendes methodisches Problem: Die für eine systematische Betrachtungsweise nötigen Informationen besitzen wir in der Regel nicht – außer wir verfügen über systematische Genealogien von ausgedehnten Verwandtschaftsgruppen, von Dörfern oder gar ganzen Regionen, welche bis vor Kurzem eher selten waren und noch seltener ausgewertet wurden. Haben wir aber das Glück, mit solchen systematischen Genealogien arbeiten zu können, verändert sich das bisher gewohnte Bild entscheidend. Dies ist auch der Grund, warum sich dieser Beitrag über weite Strecken mit dem Walliser Val de Bagnes befasst: Für diese Region verfügen wir tatsächlich über eine reichhaltige genealogische Datenbank, die dank jahrzehntelanger Arbeit eines ForscherInnenteams eine hervorragende Qualität aufweist.7 Vergleichsmöglichkeiten bieten kleinere Datenbanken, die für die Walliser Dörfer Vouvry und St-Gingolph realisiert wurden. Diese genealogischen Datenbanken sagen jedoch noch nichts über soziale oder politische Netzwerke aus. Um diese genauer zu ergründen, haben wir zahlreiche weitere Quellen und andere Quellentypen in die Datenbank integriert.8 Wir müssen nämlich die genealogischen Informationen mit Quellen verbinden, die uns Aufschluss über das soziale Leben, über politische, religiöse oder andere kulturelle Vorgänge innerhalb der untersuchten Gesellschaft geben. Das Hauptinteresse liegt darauf, was die Verwandtschafts- und die sozialen Netze ‚tun‘ und bewirken, das heißt auf deren Bedeutung im konkreten sozialen Leben der betreffenden Individuen und Gemeinschaften. Die mikrohistorische Perspektive, die sich durch die komplexe Quellengrundlage faktisch aufdrängt, wird zeigen – so hoffe ich – dass die Reproduktion der 7
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Wir haben das Glück, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den aus dem Tal stammenden Akteuren genau rekonstruieren zu können. Dies ist dank einer langen und aufwändigen Arbeit möglich, welche vom Centre régional d’étude des populations alpines (CREPA ) in Sembrancher (VS ) initiiert und koordiniert wurde und in die Publikation der kommentierten Genealogien des Tals mündete. Siehe Maurice Casanova, Jean-Michel Gard u. Alfred Perrenoud (Hg.), Les familles de Bagnes du XIIe au XXe siècle. Généalogie, histoire, étymologie, 5 Bde., Sion 2005–2008. Die Ergebnisse unseres fünfjährigen Forschungsprojektes sind nun in einem Band zusammengefasst: Sandro Guzzi-Heeb, Passions alpines. Sexualité et pouvoirs dans les montagnes suisses (1700–1900), Rennes 2014. Für biographische Informationen sowie für die Patenschaften können wir uns auf die Pfarrregister und auf die vom CREPA in Sembrancher gesammelten Materialien zu Casanova/Gard/Perrenoud, Familles de Bagnes (wie Anm. 7) stützen. Für die Rekonstruktion von sozialen Transaktionen und Klientelen haben wir vor allem die Protokolle des Notars Jean-Bonavenuture Luy im Gemeindearchiv von Bagnes (ACBg, M1) benutzt. Dazu kamen weitere Dokumente aus diesem Archiv sowie aus dem Archiv der Abtei St-Maurice (AASM), aus dem Staatsarchiv des Kantons Wallis (StAW) und weiteren lokalen Archiven.
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Familien und Verwandtschaftsgruppen wesentlich von der Politik bzw. von ideologischen oder religiösen Überzeugungen beeinflusst ist. Dies spiegelt sich unter anderem in dem eindeutigen Umstand wider, dass die Einstellungen der Einzelnen gegenüber nicht-ehelicher Sexualität eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Bildung sozialer Netzwerke und Milieus einnimmt. Dabei stellt sich – wie immer – die Frage, inwieweit die Ergebnisse mikrohistorischer Studien verallgemeinert werden können. Eigentlich können sie es nicht, doch das ist hier nicht der Punkt. Das Ziel der Übung ist vielmehr, darüber nachzudenken, was wir sehen und verstehen können, wenn wir mit systematischen Genealogien statt mit fragmentarischen Daten arbeiten, und wie sich die Sicht auf Verwandtschaftsnetze und soziale Netzwerke verändert, wenn wir nicht nur formelle Verwandtschaftsstrukturen beschreiben, sondern verschiedene Typen von Quellen vergleichen, um die politische und soziale Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen ins Auge zu fassen.9
2. Der Nutzen der Verwandten Es ist schon fast banal, daran zu erinnern, dass die Verwandtschaft eine kulturell definierte Gruppe darstellt, in die man hineingeboren wird, ohne diese gewählt zu haben. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass die Verwandten im konkreten Leben überhaupt eine Rolle spielen. Wie wir alle wissen, gibt es immer Verwandte, die man nicht oder kaum kennt, solche, die man nicht mag und meidet und andere, denen man gleichgültig gegenüber steht. Schon vor Jahren hat Pierre Bourdieu auf die notwendige Unterscheidung zwischen parenté officielle und parenté usuelle hingewiesen.10 Die Unterscheidung weist darauf hin, dass Verwandtschaft eigentlich ein abstrakter, formeller Begriff ist: Worauf es ankommt, ist deren sozialer Gebrauch. Wir müssen deshalb in der Analyse weitergehen und untersuchen, welche Verwandten konkret und zu welchen Zwecken ‚gebraucht‘ werden.11 Als erstes ist es unumgänglich, die Gruppe der aktiven Verwandtschaft eines Individuums zu benennen, im Sinne der Verwandten, die konkret im Leben dieses Individuums eine Rolle spielen und mit ihm interagieren. Denn für die Analyse sozialer Netzwerke – und für 9
Weiterhin nützlich zu diesen Aspekten: Giovanni Levi, Family and Kin – a Few Thoughts, in: Journal of Family History 15 (1990), 567–578; Ruggiu, Histoire de la parenté (wie Anm. 3), 246–248. 10 Pierre Bourdieu, La parenté comme représentation et comme volonté, in: ders., Esquisse d’une théorie de la pratique, précédée de trois études d’ethnologie cabyle, Paris 2000, 82–215. 11 Vgl. Guzzi-Heeb, Donne, uomini, parentela (wie Anm. 5) 79–94 und 107–149.
116 Sandro Guzzi-Heeb
das Verständnis konkreter sozialer Phänomene – spielt ausschließlich die aktive Verwandtschaft eine Rolle. Doch auch die „aktive Verwandtschaft“ ist letztlich ein zu vager Begriff; das konkrete Bild dieser Gruppe hängt nämlich grundlegend davon ab, welche soziale Beziehung – oder welche konkrete Nutzung der Verwandten – betrachtet wird. Ein Beispiel aus dem Westwalliser Dorf Saint-Gingolph, am südlichen Ufer des Genfersees gelegen, macht diesen Unterschied deutlich. Die Analyse des Aufstiegs der Familie de Rivaz im Dorf lässt auf eine intensive politische Zusammenarbeit innerhalb eines breiten Verwandtschaftsnetzes schließen (siehe Abb. 1): Zahlreiche einflussreiche Amtsträger von Saint-Gingolph gehörten im späten 17. Jahrhundert zu dieser Gruppe. Diese Kooperation ermöglichte es den de Rivaz, anfangs des 18. Jahrhunderts die adelige Dynastie der de Tornéry endgültig im Dorf zu entmachten. Das dargestellte „strategische“ Verwandtschaftsnetz – wir können in diesem Sinne von „strategischer Verwandtschaft“ sprechen – entspricht jedoch in keiner Weise den Verwandten, die der Familie de Rivaz im täglichen Leben am Nächsten standen und die in kritischen Momenten zu Hilfe gerufen wurden. Dieses zweite Netz kann als die „primäre“ Verwandtschaft bezeichnet werden, im Sinne der Personen, welche der Kernfamilie primäre, überlebenswichtige Dienste leisteten – wie beispielsweise die Aufnahme und Erziehung verwaister Kinder (siehe Abb. 2). Interessant ist, dass die strategische politische Verwandtschaft eine ausgesprochen agnatische Ausrichtung aufweist: Alle Schlüsselpersonen tragen denselben Namen Derivaz – später standesgemäß de Rivaz geschrieben. Die primäre Verwandtschaft hingegen ist eindeutig von den Verwandten der angeheirateten Ehefrauen dominiert; in diesem Sinne ist sie kognatisch ausgerichtet. Darum ist es an der Zeit, die zu vage Bezeichnung „Verwandtschaft“ für konkrete Analysen durch genauere Begriffen zu ersetzen, damit verschiedene Untergruppen von Verwandten unterschieden werden können, welche über die jeweilige soziale Beziehung definiert werden. Solche Unterscheidungen sind anhand von Einzelfällen möglich. Schwierig wird es, wenn wir mit größeren Populationen arbeiten wollen. Auch in diesem zweiten Fall haben wir jedoch einen brauchbaren – wenn auch unvollständigen – Indikator, um die aktive Verwandtschaft eines Individuums oder einer Familie zu identifizieren: die Patenschaften bzw. die spirituelle Verwandtschaft. Denn Verwandte, welche als Paten oder Patinnen ausgewählt werden, lassen mit großer
N = Notar G = Gerichtsschreiber K = Kastlan O = Officier (Weibel)
Madeleine oo Bernard Chapperon
Michel, O oo Michia Chaperon
Jean, O oo Estienne Chaperon
Nicolas
Jean Claude oo Andria Borcard
Jacques Chaperon
François
Jacquemet
Louis
Henri de Rivaz
François, O
Jean
Guillaume
Laurent
CHARLES-EMMANUEL, N, K
Charles- Joseph, N, K
Pierre- Joseph, N, CH
ETIENNE, N, K
André II
Claude
PIERRE, N, G
CLAUDE, K
André I oo Nicolarde Borcard
Jacques
André
Gingolph
Antoine
Abb. 1: „Strategische Verwandtschaft“ – selektive politische Genealogie der Gruppe de Rivaz aus Saint-Gingolph (ca. 1580–1800)
Abbildung 1: „Strategische Verwandtschaft“ – selektive politische Genealogie der Gruppe de Rivaz aus Saint-Gingolph (ca 1580–1800)
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 117
Symbole :
Ο
Δ
Claude CHRISTIN (zio di Etienne) (T)
Ο
Marguerite Eugène Δ oo 1 A. GAUTHIER de Paradès oo 2 L. Tousard d’Olbec
Δ Ο Δ Ο Ο Δ
Δ
Δ
Δ
Δ
Jeanne M. CAYEN
Δ
Ο
Maurice ODET (T)
?
Juienne oo J-Gaspard ODET
Anne BELLON
M. Elisabeth Ο Δ oo J. Joseph de VENTERY (T) P. Louis du FAY (T)
Emmanuel
Unterstrichen sind Personen, von denen de Rivaz zwischen 1700 und 1800 erben
Charles- Emmanuel oo Marie Caterine de NUCE
Ο Ο Ο Δ
Erbschaften/ Nachfolge
Ο
Eugène-H. (T)
Δ
Antoine du FAY
Philippe-Cl.
(T) : Vormundschaften für Mitglieder der Gruppe de Rivaz
Δ
Ο
M. Julienne de Nucé
Barbe du FAY
oo
Charles-J.
oo
Ο Ο
Georgioz CAYEN oo Hiéronyme RAYMOND
Pierre-F. de NUCE oo Sarah P. du FAY
Pierre-J.
Ο
Joseph (T)
André
Etienne oo Anne M CAYEN
Antoine
Pernette GRENAT oo (2) Hugues BELLON
Hilfeleistungen
Ο Ο Δ Δ Δ
Δ
Bernard
Andrie
Abb. 2: Primäre Verwandtschaft der de Rivaz (ca. 1650–1770)
Abbildung 2: Primäre Verwandtschaft der de Rivaz (ca. 1650–1770) 118 Sandro Guzzi-Heeb
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 119
Wahrscheinlichkeit auf die Teile des Verwandtschaftsnetzes schließen, mit denen aktive Beziehungen unterhalten werden.12
3. Verwandtschaft, Patenschaften und politische Milieus in Bagnes Wir können diese Hypothese anhand der Rolle der Verwandtschaftsbande und der spirituellen Verwandtschaft in der politischen Mobilisierung im Val de Bagnes des 18. Jahrhunderts testen. Wie bereits angedeutet ist dieser Zugriff nicht zufällig ausgewählt: Für diese Region in den Walliser Bergen, die um 1800 rund 3.000 EinwohnerInnen zählte, verfügen wir über systematische Genealogien, die über Verwandtschafts- und Patenschaftsbeziehungen Aufschluss geben. Das Val de Bagnes ist aber auch deshalb interessant, weil sich hier im 18. Jahrhundert zahlreiche Konflikte abspielten, die äußerst spannende Quellen zurückgelassen haben. 3.1 Die Konflikte Die Hauptkonflikte stellten die große Gemeinde Bagnes mit ihren elf Hauptdörfern und einigen Weilern gegen den Abt bzw. die Chorherren der Abtei Saint-Maurice, welche als weltliche und geistliche Herren dem Tal vorstanden. In den Jahren zwischen 1721 und 1724 eskalierte eine langwierige Auseinandersetzung, als der Vikar Pierre Corthay seine amtliche Unabhängigkeit von der Pfarrei – bzw. von der übergeordneten Abtei – beanspruchte. Denn die TalbewohnerInnen hatten die Schaffung des Vikariats mitfinanziert und wollten folglich den Vikar selber bestimmen, was die Chorherren von Saint-Maurice strikt ablehnten. In diesem recht gut dokumentierten Konflikt wird eine Spaltung der Gemeinde sichtbar, die wir auch in späteren Auseinandersetzungen beobachten können. Der ‚abtrünnige‘ Vikar Corthay wurde vom mächtigen Hauptmann des Entremonts, François Bruchez, sowie einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, während sich der Statthalter André Mabillard und die Mehrheit des Rates auf die Seite des Pfarrers bzw. des Abtes schlugen.13 Ein wichtiger Begleitumstand war, dass der Bischof von Sitten, der eine alte Rivalität gegenüber dem Abt von Saint-Maurice hegte, die Opposition stets diskret unterstützte.14 Weitere Konflikte dieser beweg12 Vgl. Ruggiu, Histoire de la parenté (wie Anm. 3), 236–237; Alfani/Gourdon, Spiritual Kinship (wie Anm. 6); Alfani, Padri, padrini, patroni (wie Anm. 5). 13 Notizen von J.-Hilaire Charles, Archivar der Abtei St-Maurice, AASM, T.74/1 / n°7: 1721 und 1722. 14 Noch 1724 weigerte sich der Bischof von Sitten, die Ansprüche des Pfarrers von Bagnes anzuerkennen: AASM, PD – cart XLVIII – 074. Vgl. Joseph Mariétan, La juridiction
120 Sandro Guzzi-Heeb
ten Zeit betrafen verschiedene vom Abt von Saint-Maurice erlassene Mandate. 1740 haben wir Hinweise auf einen Protest der Untertanen gegen einen Erlass von 1737, der den Verkauf von Branntwein und von modischen Seiden- und Baumwollwaren verbieten wollte.15 Im Jahr 1745 fand ein offener Aufstand gegen den Abt statt, nachdem dieser die Kompetenz über die Zulassung neuer Gemeindebürger an sich gerissen hatte. Durch die nachfolgende gerichtliche Aufarbeitung der Bewegung sind wir sehr gut über die Teilnehmer informiert. Der Wille, die Infrastruktur der Gemeinde zu verbessern, wurde in der Auseinandersetzung deutlich, die 1766 in der Errichtung einer Mittelschule (Grande Ecole) in Le Châble mündete. Die Gründung der Grande Ecole ging auf die Initiative eines aus Bagnes stammenden Kapuziners, des Paters Héliodore Bourgoz, zurück. Er wurde tatkräftig vom einflussreichen Gerichtsschreiber Pierre Gard und vom Sittener Bischof unterstützt.16 Dabei können wir ähnliche Fronten feststellen wie bei den früheren Auseinandersetzungen. Die Männer und Frauen, welche die Stiftung der Schule finanzierten, stammten meistens aus den Familien, die schon 1745 am Aufruhr gegen den Abt teilgenommen hatten oder waren mit diesen eng verwandt. Diese Kontinuität deutet auf das Bestehen politischer Gruppierungen hin, die sich entlang verwandtschaftlicher Solidaritäten organisierten. Bemerkenswert ist außerdem, dass mehrere Kernfamilien der oppositionellen Faktion auch in den Behörden der Helvetischen Republik (1798–1803) – zum Teil mehrfach – vertreten waren. Die Republik hatte die weltliche Herrschaft des Abtes beseitigt und war somit einem alten Anliegen der Opposition nachgekommen. Mit einer einzigen Ausnahme bestand ein enges Verwandtschaftsverhältnis zwischen den lokalen Amtsträgern der Helvetischen Republik und den Aufständischen von 1745.17 In Tafel 1 (Bildteil) habe ich versucht, diese politischen Kontinuitäten darzustellen.18 spirituelle de l’Abbaye de St-Maurice, St-Maurice 1925. 15 AASM, T.11/2/9 – 1 et 2; Mandat in AASM T.11/2/9 (1737). 16 Maurice Charvoz, Notes et documents sur l’histoire du Collège de Bagnes, in: Annales valaisannes 21 (1947), 169–258. 17 Ein eindrückliches Beispiel liefert die Familie Masson 8 aus Sarreyer: 1745 nahm JeanPierre Masson an der Bewegung gegen den Abt teil. 1766 scheinen seine Brüder Hilaire und Jean-Etienne unter den Gründern der neuen Schule auf. 1798 und in den folgenden Jahren bekleideten Jean-Etiennes und Jean-Pierres Söhne exekutive Ämter unter der Helvetischen Republik. 18 Die Netzwerkanalysen, die diesem Artikel zugrunde liegen, verdanken viel Pascal Cristofoli, Laboratoire de démographie historique, EEHES Paris; die meisten statistischen Analysen wurden von Arnaud Bringé (INED, Paris) ermöglicht. Beiden möchten wir an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön aussprechen!
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 121
Die Tabelle stellt schematisch die Teilnahme von Vertretern verschiedener Verwandtschaftsgruppen – durch den jeweiligen genealogischen Code gekennzeichnet – an den drei Hauptkonflikten von 1745, 1766 und von 1798 bis 1803 dar. Sie zeigt, dass gewisse politische Traditionen innerhalb von Familien und Verwandtschaftsgruppen weitergegeben wurden, jedoch nicht auf eine rigide und verpflichtende Art: Immer wieder sind Abweichungen und Frontenwechsel zu beobachten. Die Verwandtschaft stellt also einen wichtigen Faktor bei der politischen Mobilisierung dar, erklärt die politischen Solidaritäten jedoch nicht automatisch. 3.2 Spirituelle Verwandtschaft und Politik Um die Logik der lokalen Solidaritäten zu verstehen, müssen wir verschiedene soziale Beziehungen berücksichtigen, insbesondere die spirituelle Verwandtschaft und die ökonomischen Transaktionen zwischen den betreffenden Familien. Zahlreiche Analysen im Val de Bagnes des 18. und 19. Jahrhunderts ergeben, dass auch die Patenschaften eine wichtige politische Komponente enthalten: Sie verbinden auffallend oft – wenn auch nicht immer – politisch Alliierte. Ein lehrreiches Beispiel stellt die Gruppe Michellod 5 dar, ein Kernelement der oppositionellen Faktion (siehe Taf. 2 im Bildteil). Weitere Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zeigen, dass diese politische Funktion der spirituellen Verwandtschaft tendenziell noch weiter zunahm.19 Somit können wir die spirituelle Verwandtschaft als Indikator für zwei Phänomene betrachten: Einerseits festigt sie die Beziehungen und Solidaritäten mit einem Teil der Verwandten, die wir mit der aktiven Verwandtschaft gleichsetzen können; andererseits erweitert sie die sozialen Beziehungen auf Nicht-Verwandte und trägt zum Ausbau eigener sozialer und politischer Netzwerke bei. Die spirituelle Verwandtschaft wurde oft als ein klassischer Kanal für Patronagebeziehungen angesehen. Davon ausgehend könnte man insbesondere die politische Mobilisierung der ländlichen Mittel- und Unterschichten als Folge der Klientelbeziehungen um die mächtigsten Notabeln erachten.20 Dieses Bild 19 Vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Kinship, Ritual Kinship and Political Milieus in an Alpine Valley in 19th Century. in: The History of the Family 14, 1 (2009), 107–123. 20 Für Bagnes siehe Françoy Raynauld, Formation et évolution d’une élite dans une vallée alpestre. Le cas de Bagnes en Valais (Suisse). Mémoire présenté à la faculté des études supérieurs d’anthropologie. Université de Montréal, 1976 (Manuskript in der schweizerischen Landesbibliothek, Bern); vgl. Ulrich Pfister, Politischer Klientelismus in der frühneuzeitlichen Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 42 (1992), 28–68; Charles Tilly, Contention and Democracy in Europe, 1650–2000, Cambridge 2004, Kapitel 6: Switzerland as a Special Case, 168–205, insbes. 187–190; vgl. ebd., 249.
122 Sandro Guzzi-Heeb
erweist sich im Falle von Bagnes jedoch als zu einfach: Denn die detaillierte Analyse von Transaktionen und sozialen Beziehungen zeigt hier keine eindeutigen Abhängigkeitsbeziehungen von mächtigen Patrons. Die sozialen Netzwerke im Tal erscheinen somit als offener und deshalb als komplexer.21 In einem früheren Artikel versuchte ich aufzuzeigen, wie die im Dorf Le Châble wohnenden Aufständischen von 1745 nicht nur durch verwandtschaftliche Beziehungen, sondern zusätzlich durch ein dichtes Netz an sozialen Kontakten mit einander verbunden waren. In diesem Netzwerk spielte die spirituelle Verwandtschaft eine zentrale Rolle.22 Aus dieser Perspektive bildeten die Gegner und Gegnerinnen des Abtes ein besonders dichtes soziales Milieu, das durch gemeinsame politische Ideen und besonders intensive Beziehungen gekennzeichnet war (siehe Taf. 3 im Bildteil). Ein exakt solches Milieu ist hier zugleich als soziales Netzwerk erkennbar. Es gründet nicht nur auf dichten sozialen oder verwandtschaftlichen Kooperationen, sondern auch auf gemeinsamen Ideen, Werten oder Haltungen. Das heißt konkret: Verwandtschaftsbande und Patenschaften, oft auch geographische Nähe, verstärken zwar die Kohäsion des Netzwerks, machen es als Ganzes jedoch nicht aus. Erst die Komponente der gemeinsamen Werte und Haltungen ist für das Milieu konstitutiv.23 Wie wir später sehen werden, verstärken ähnliche sexuelle Haltungen und Verhaltensmuster den inneren Zusammenhalt zusätzlich. Die rituelle Verwandtschaft hatte jedoch keinen direkten Einfluss auf die Transaktionen, das heißt: Paten und Patinnen hatten an sich keine erkennbaren privilegierten Beziehungen mit den Patenkindern und ihren Eltern. Meistens handelte es sich dabei nicht um Kontakte zwischen zwei Personen, sondern vielmehr um Beziehungen zwischen (Verwandtschafts-)Gruppen. Die zugrundeliegende Beziehungsstruktur ist gekennzeichnet durch eine erweiterte Reziprozität nach folgendem Schema (Beispiel): 21 Vgl. Sandro Guzzi-Heeb, Revolte und Soziale Netzwerke. Mechanismen der politischen Mobilisierung in einem alpinen Tal des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 36, 4 (2010), 1–26. 22 Vgl. ebd. Zahlreiche Patenschaften verbanden unter anderem die Gruppen, die nicht miteinander verwandt waren. Die Schlüsselgruppen Terrettaz 7 und Morend 10 waren beispielsweise nicht verwandt; sie waren jedoch durch zahlreiche Patenschaftsbeziehungen miteinander verbunden. Ähnliches gilt für die Terrettaz und die Besse 32. 23 In der Soziologie bezeichnet der Begriff „Milieu“ Gruppen, die sich hinsichtlich ihrer Werthaltungen, Lebensstile, Lebensgestaltung, Mentalitäten und Beziehungen zu Mitmenschen ähneln: vgl. zum Beispiel Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Die gesellschaftliche Entwicklung vor und nach der Vereinigung, Wiesbaden 20023, 126ff; Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 20018, 425ff. Vgl. Guzzi-Heeb, Kinship, Ritual Kinship and Political Milieus (wie Anm. 19).
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 123
Fam. A.
Fam. B.
Fam. E.
Fam. C.
Fam. D.
Wesentlich in diesem politisch-sozialen Milieu waren weniger die vertikalen Beziehungen zu einzelnen Notabeln als eine Summe von horizontalen Beziehungen zwischen alliierten und gleichgesinnten Verwandtschaftsgruppen. Dabei konnten die Notabeln durchaus eine zentrale, vermittelnde Funktion ausüben. Doch war das Netzwerk, wie gesagt, offen und ließ jederzeit andere Beziehungen zu.24
4. Die Konstruktion eines Milieus: Lourtier 1720–1745 Wie konstituiert sich ein solches Milieu? Strukturelle Mechanismen allein – etwa bei der Eheschließung – können den Prozess der Milieubildung nicht erklären. Vielmehr ist es nötig, den Einfluss der Politik, der Religion und anderer sozialer Variablen auf die Allianzpolitik, das heißt auf die Reproduktion der Verwandtschaft zu prüfen. Wir können diesen Zusammenhang im Bergdorf Lourtier, am oberen Ende des Val de Bagnes, näher untersuchen. In Lourtier wurde die Mehrheit der HeiratspartnerInnen innerhalb des Dorfes gefunden, was sehr komplexe Verwandtschaftsstrukturen hervorbrachte. Innerhalb eines so dichten Netzes haben Verwandtschaftsbeziehungen darum nur eine relative Bedeutung. Viel wichtiger ist für uns zu verstehen, welche Kontakte und Kooperationen mit welchen Verwandten privilegiert gepflegt wurden. Vereinfacht ausgedrückt: Wir können hier beobachten und konkret nachweisen, wie die politische Polarisierung infolge der unpopulären Einmischungen des Abtes ins lokale Leben seit der Mitte der 1730er Jahre eine Verdichtung des oppositionellen Milieus bewirkte. Kennzeichnend für diesen Prozess ist zunächst eine Reihe von strategischen Eheschließungen zwischen Familien, die 1745 als lokale Trägerinnen des Widerstandes gegen den Abt in Erscheinung traten. Die 24 Ein einflussreicher oppositioneller Notar wie Jean-Pierre Coutaz aus Le Châble hatte auch Patenkinder außerhalb des geschilderten Milieus. Dieses war somit nur Teil eines komplexeren Netzwerkes. Es ist leider nahezu unmöglich, eine systematische Analyse dieser Netzwerkstruktur zu erstellen, da wir alle beteiligten Personen und ihre Verwandten berücksichtigen müssten, was eine lange und ungewisse Identifikationsarbeit erfordern würde.
124 Sandro Guzzi-Heeb
Liste der Aufständischen aus Lourtier ist relativ lang: Sie umfasst 18 Männer aus 13 verschiedenen Familien. In Tabelle 1 sind die Hauptakteure sowie ihre Ehefrauen jeweils mit ihrem genealogischen Code dargestellt. Vorname
Name
Code
Heirtsdatum
Vorname Ehefrau
Name Ehefrau Code Ehefrau
Jean-François
Bruchez
BRU/25-112
08.06.1744
Marie-Thérèse
Fellay
FEL/20-36
Christophe
Fellay
FEL/2-132
Marcellin
Fellay
FEL/22-14
26.11.1734
0
Marie-Marguerite
0 Maret
MAR/43-146
Sylvestre
Fellay
FEL/26-12
27.05.1743
Anne-Marie
Fellay
FEL/46-141
Sébastien
Fellay
FEL/26-14
02.06.1733
Hélène
Rey
REY/1-44
Christophe
Fellay
FEL/27-36
12.05.1750
Marie-Marthe
Sauthier
SAU/1-513
Christophe
Fellay
FEL/45-144
Gaspard
Gabbud
GAB/10-122
16.01.1714
Marie
Troillet
TRO/3-21
Benoît
Luisier
LUI/4-111
25.05.1741
Marie-Marguerite
Fellay
FEL/22-31
j-françois
Luisier
LUI/7-13
28.06.1706
Marie
Ferrez
FER/7-31
0
0
0
0
0
Jean-Marie
Machoud MAC/5-31
Jean-Maurice
Machoud MAC/5-32
05.06.1742
Marie-Marguerite
0 Rossoz
ROS/5-124
0
Gaspard
Rossoz
ROS/5-122
05.06.1742
Catherine
Bruchez
BRU/25-83
Jean-Georges
Terrettaz
TER/7-3.10.
08.06.1743
Anne-Catherine Fellay
Fellay
FEL/35-241 MAR/39-321
Georges
Terrettaz
TER/7-38
17.02.1738
Geneviève
Maret
Maurice
Troillet
TRO/5-11
31.05.1741
Jeanne-Marie
Rossoz
ROS/6-10.4
Jean-Maurice
Troillet
TRO/5-22
10.06.1732
Me-Marguerite
Terrettaz
TER/2-241
Jean-Pierre
Troillet
TRO/5-25
03.06.1738
Marie
Ferrez
FER/3-75
Tab. 1: Aufständische aus Lourtier 1745 und ihre Ehefrauen Anm.: Bei den genealogischen Codes verweisen die Buchstaben auf den Familiennamen, die Zahl nach dem Querstrich auf die Abstammungsgruppe – welche auf den gleichen bekannten männlichen Vorfahren zurückgeht –, die weiteren Zahlen auf die Generation und den jeweiligen Platz in der Geschwisterreihe. FEL/22-14 bedeutet demnach beispielsweise, dass die betreffende Person zur Gruppe Fellay, Abstammungsgruppe 22, als viertes Kind des ersten Sohnes des gemeinsamen Vorfahrens gehört.
In Lourtier stellen wir ebenfalls eindrückliche familiäre Kontinuitäten innerhalb der reformerischen Faktion fest (siehe Taf. 4 im Bildteil). Verschiedene Nachkommen der Aufständischen fanden sich später in der Gemeindebehörde unter der Helvetischen Republik wieder. Ein republikanischer Gemeinderat – Jean-Maurice Machoud – hatte persönlich am Aufruhr von 1745 teilgenommen; ein weiterer – Jean-Maurice Bruchez – war der Sohn eines Aufständischen, ein dritter war der Schwiegersohn eines weiteren Aufständischen und ein vierter hatte die Nichte eines Aufständischen geheiratet.
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 125
Für die Zeit vor 1745 können wir diesbezüglich beobachten, dass sich die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Gruppe der Aufständischen in den Jahren 1737 bis 1745 – die Zeit der politischen Polarisierung – und insbesondere 1740 bis 1745 entscheidend intensiviert haben. Es lässt sich eine Reihe von politisch strategischen Eheschließungen innerhalb des oppositionellen Milieus nachweisen, inklusive einiger doppelter Allianzen zwischen oppositionellen Familien. 1741 heiratete beispielsweise Bénédict Luisier, künftiger Aufständischer, Marie-Marguerite Fellay, die Cousine eines weiteren Aufständischen; am gleichen Tag verehelichte sich Bénédicts Schwester mit Michel Fellay, Bruder von Marie Marguerite und ebenfalls Vetter eines Aufständischen. 1740 heiratete Ursule Troillet, Schwester eines weiteren künftigen Rebellen, Georges Fellay, ebenfalls Bruder eines Aufständischen. Zwischen 1740 und 1745 fand die Mehrheit der Eheschließungen in den am Aufstand beteiligten Familien innerhalb des eigenen, engen oppositionellen Milieus statt. In Tafel 4 (im Bildteil) finden wir eine Darstellung der Position der oppositionellen Familien innerhalb des dörflichen Allianzsystems. Das Ergebnis ist, unter dem Gesichtspunkt der Allianzen, ein relativ homogenes Netzwerk zwischen den Familien der Opposition. Dabei handelt es sich in keiner Weise um einen Zufall: Die Netzwerkstruktur zeigt eindeutig, dass die Intensität der Beziehungen zwischen den am Aufruhr nicht beteiligten Familien bei weitem nicht so dicht war. Zudem wurden die Allianzen durch die Patenschaften zusätzlich verstärkt: Tafel 5 (im Bildteil) veranschaulicht die bindende Wirkung der spirituellen Verwandtschaft innerhalb des oppositionellen Milieus, die wir auch für das Dorf Le Châble beobachten konnten. Auffällig im Bild ist die Position der Gruppe Terrettaz, welche sich teilweise in Le Châble niedergelassen hatte. Diese Gruppe erfüllte eine typische Brückenfunktion zwischen den zwei Dörfern. Wenn wir von den Terrettaz absehen, erkennen wir, wie die Patenschaften das dichte verwandtschaftliche Milieu zusätzlich verstärken.25 Diese Analyse suggeriert, dass sich die Beziehungen zwischen den Gegnern des Abtes in den Jahren der politischen Polarisierung unmittelbar vor dem Aufruhr merklich intensivierten. In diesem Sinne hing die Entwicklung der Verwandtschaftsstrukturen eng mit der politischen Konstellation zusammen. Das scheint mir eine wesentliche Erkenntnis, welche in den lediglich strukturell 25 Wir haben die Möglichkeit, alle Kinder mit den betreffenden Patenschaften unter die Lupe zu nehmen, die zwischen 1735 und 1765 aus den Familien der Aufständischen aus Lourtier hervorgingen. Das Ergebnis festigt das Bild eines dichten Beziehungsnetzwerks: Ungefähr zwei Drittel der berücksichtigten Kinder hatten einen Paten oder eine Patin, welche aus den Familien der Aufständischen oder ihrer Ehefrauen stammten. Am häufigsten kam der Pate aus einer der erwähnten Familien (45,6 % der analysierten Taufen), auch die Patinnen spielten eine beträchtliche Rolle (42,7 % der Fälle).
126 Sandro Guzzi-Heeb
orientierten Untersuchungen nicht sichtbar wird: Die Reproduktion der Verwandtschaft steht in einer engen Beziehung mit den politischen, religiösen und sozialen Ereignissen innerhalb der untersuchten Gesellschaft.
5. Sexualität und Politik Wie oben angedeutet, wird die Bedeutung gemeinsamer Ideen, Werte und Haltungen innerhalb des Milieus durch den Umstand unterstrichen, dass zahlreiche Familien der oppositionellen Faktion auffällige bis sehr auffällige sexuelle Verhaltensmuster an den Tag legen. Der Zusammenhang wird deutlich, wenn wir die Daten der unehelichen Geburten und vorehelich gezeugten Kinder in den Blick nehmen. Vorehelich gezeugte Kinder, die durch eine Eheschließung legitimiert wurden, und uneheliche Kinder bilden zwar zwei verschiedene soziale Kategorien, die nicht vorschnell gleichgesetzt werden dürfen. Uns interessieren im aktuellen Zusammenhang jedoch in erster Linie die Spuren spezifischer sexueller Verhaltensweisen, die nicht mit den Dogmen der katholischen Kirche im Einklang standen. Aus politischer Sicht können darum beide Kategorien (vereinfachend) als Symptome säkularisierter Vorstellungen oder zumindest als Ausdruck einer kritischen Haltung zum traditionellen Katholizismus betrachtet werden. In diesem Sinne werden alle Kinder, die aus einer aus katholischer Sicht unerlaubten Beziehung hervorgingen, als „außerehelich gezeugte Kinder“ bezeichnet. Zuerst beobachten wir deren signifikante Konzentration in gewissen Abstammungsgruppen, die ein besonderes gesellschaftliches Segment bildeten – was Peter Laslett und Karla Oosterveen als „bastardy-prone sub-society“ bezeichneten.26 Für das gesamte 18. Jahrhundert registrieren die Genealogien von Bagnes 443 Abstammungsgruppen – das heißt Individuen, die von gemeinsamen bekannten Vorfahren stammen. Fast die Hälfte aller zwischen 1650 und 1800 außerhalb der Ehe gezeugten bzw. geborenen Kinder (106 von 214) stammten aber aus nur 22 Abstammungsgruppen. Deren Konzentration auf wenige Verwandtschaftsgruppen bedeutet jedoch nicht, dass diese eine in sich geschlossene, marginale „sub-society“ bildeten – wie Laslett und Oosterveen aus englischen Fallstudien folgerten. Im Gegenteil: Die aus katholischer Sicht fehlbaren Gruppen waren sozial und politisch gut integriert und gehörten nicht selten zur lokalen Mittel- oder gar Oberschicht (siehe Taf. 6 im Bildteil). 26 Peter Laslett, The Bastardy Prone Sub-Society, in: ders., Karla Oosterveen u. Richard M. Smith (Hg.), Bastardy and its Comparative History. Studies in the History of Illegitimacy and Marital Nonconformism in Britain, France, Germany, Sweden, North America, Jamaica and Japan, London 1980, 217–246.
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 127
Die entsprechenden Familien waren im Allianzsystem gut integriert, einige nahmen sogar zentrale Positionen im Netzwerk ein – erkennbar durch die Größe der entsprechenden Kreise. Mehrere Familien dieses Milieus – wie die Besse 3 – waren ausgesprochen wohlhabende und einflussreiche Dynastien. Trotzdem können wir beobachten, dass die Familien mit relativ vielen außerehelich gezeugten Kindern dazu neigten, untereinander privilegierte Netzwerke zu bilden, welche eng mit den Mechanismen der politischen Mobilisierung verbunden waren. Die verschiedenen Abstammungs- und Verwandtschaftsgruppen innerhalb der oppositionellen Faktion – insbesondere derjenigen, die während der gesamten Periode von 1745 bis 1803 zu deren Kern gehörten – hatten tatsächlich bedeutend mehr außerehelich gezeugte Kinder als der Durchschnitt aller Familien.27 Aus dieser Analyse verdichtet sich die eingangs bereits erwähnte Hypothese, dass politische Opposition und lockere sexuelle Disziplin in einem engen inneren Zusammenhang gesehen werden können, wobei selbstverständlich Ausnahmen und Abweichungen immer und jederzeit zu beobachten sind. Mit andern Worten: Sexuelle und politische Haltungen decken sich weitgehend, aber nicht vollumfänglich. Mit Hilfe von Pascal Cristofoli habe ich versucht, den Zusammenhang zwischen politischer Mobilisierung (1745–1766 und 1798) und sexuellen Verhaltensmustern in einer Tabelle zu veranschaulichen (siehe Taf. 7 im Bildteil). In 35 Verwandtschaftsgruppen (von 48, die dem Kern der oppositionellen Faktion angehörten) kann auf einen erkennbaren Zusammenhang zwischen sexueller Indisziplin und politischer Opposition geschlossen werden. Jean-Georges Michellod, der nach 1798 Mitglied des neuen republikanischen Gemeinderats von Bagnes wurde, gehörte nicht nur zu einer Kernfamilie der Opposition, sondern auch zu jener Verwandtschaftsgruppe, in denen es im 18. Jahrhundert am häufigsten außerehelich gezeugte Kinder gab. Gleich mehrere Mitglieder der Gruppe Gard 2 waren 1745 am Aufstand gegen den Abt beteiligt. In der Zeit zwischen 1729 und 1797 gingen aus derselben Gruppe mindestens sieben solcher Kinder hervor. Auch in diesem Fall stammten ihre Partner von ähnlich ‚dissidenten‘ Gruppen, wie den Besse 43, Besson 14, Filliez 7, Fellay 27, Gailland 1 und Vaudan 10-7. Diese Eigenschaft des Allianzsystems hat weitreichende Folgen: Sie zeigt auf, dass viele 27 Die statistische Analyse beruht auf 214 beobachteten außerehelich gezeugten Kindern, die zwischen 1650 und 1800 geboren wurden: Aus unserer genealogischen Datenbank können wir 398 genealogische Informationen, die die Eltern dieser Kinder betreffen, eruieren. Wir haben diese Informationen wiederum mit Daten über die Beteiligung von Männern – und deren Ehefrauen – an politischen Bewegungen bzw. Konflikten verglichen. Dabei wagten wir die Hypothese, dass Ehefrauen, Schwestern und Töchter von politisch aktiven Männern dieselben politisch-religiösen Überzeugungen vertraten, so wie sie meist auch deren sexuelle Haltungen und Verhaltensmuster teilten.
128 Sandro Guzzi-Heeb
der oppositionellen Familien dazu neigten, dichte Netzwerke zu bilden, welche auch auf ähnlichen Einstellungen gegenüber Sexualität und kirchlicher Sexualmoral beruhten.
6. Sexualität, oppositionelle Netzwerke und Milieubildung Der Klarheit halber möchte ich in meiner Analyse exemplarisch von einer Verwandtschaftsgruppe ausgehen, die beim Aufstand von 1745 eine Schlüsselrolle gespielt hat – der Gruppe Besse 3 aus Sarrayer und Villette (siehe Tab. 2). Zu ihr gehörten die Nachfahren von Angelin Besse, einem prominenten Gegner des Abtes zur Zeit des Aufruhrs von 1745. Zugleich sind hier im Jahr 1766 Träger der neuen Mittelschule auszumachen und nach 1798 einige Amtsträger der Helvetischen Republik. Aus dieser Abstammungsgruppe lassen sich zwischen 1718 und 1762 mindestens vier vor- und außerehelich gezeugte Kinder eruieren; bei einem weiteren Kind können wir mit guten Gründen vermuten, dass es ebenfalls vor der Ehe gezeugt wurde.28 Hierbei handelt es sich um eine für diese Zeit außerordentlich hohe Zahl. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass die Partner in den verbotenen vorehelichen Beziehungen aus Familien der Opposition, meist mit ähnlichen Einstellungen gegenüber außerehelichem Geschlechtsverkehr kamen. Bemerkenswert ist, dass es durchwegs die Frauen der Gruppe Besse 3 waren, die voreheliche Beziehungen eingingen. Wenn wir den Einfluss der illegitimen Beziehungen auf die Bildung eines politischen Milieus verstehen wollen, können wir das Netzwerk näher untersuchen, das vor dem Aufstand 1745 um die Besse 3 – zum Teil durch aus katholischer Sicht verbotene Beziehungen – konstruiert wurde (siehe Abb. 3). Dieses enthält zahlreiche weitere wesentliche Gruppen der Opposition sowie zahlreiche Gruppen, in denen es besonders häufig zu außerehelichen Zeugungen kam, wie die Collombin 2, die Michellod 5 und die Gillioz 1.29
28 Wir nahmen an, dass alle Kinder, die in den auf die Heirat folgenden sieben Monaten geboren wurden, als außerehelich gezeugt anzusehen sind. Kinder, welche im achten Monat geboren wurden, haben wir als wahrscheinlich außerehelich gezeugt betrachtet. 29 Patrilineare Abstammungsgruppen sind als soziale Einheit eigentlich zu ungenau: Besser wäre es, engere Verwandtschaftsgruppen zu untersuchen, die nachweislich eine soziale und zum Teil auch eine politische Einheit bilden. Die nähere Untersuchung der abweichenden sexuellen Verhaltensmuster zeigt zum Beispiel, dass diese meistens in engeren Verwandtschaftseinheiten kumuliert auftreten. Ähnliches gilt für die politischen Haltungen: Es sind meistens einzelne Familien oder einzelne Verwandte innerhalb der Abstammungsgruppe, die nachweislich die gleiche politische Orientierung teilen.
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 129 Politisch aktive Abstammungsgruppe
1745
1766
1798
BSE/3-
5
3
2
GIL/1-
3
1
1
BOU/4-5
2
7
1
GAR/7-
2
3
3
SAU/1-5
2
3
1
MAG/7-1
2
2
3
MRE/10-
2
2
3
MAS/8-1
2
2
2
TRO/7-4
2
1
1
CRE/2-
2
1
1
BRU/37-3
1
2
2
MCO/4-
1
2
2
ROD/5-3
1
1
2
DEL/2-
1
1
1
REG/1-1
1
1
1
FEL/45-
1
1
1
GAR/1-
6
4
MCA/14-
5
1
FIL/4-6
3
3
PLO/1-1
3
1
BSE/32-2
2
3
MAR/43-
2
1
BRU/20-11
1
3
MAR/18-3
2
2
BRU/10-10.4
1
2
DUM/13-72
1
2
MCO/5-
7
1
BSE/31-
4
1
TRO/5-
4
1
PRO/1-3
3
1
FIL/14-
2
1
BAU/1-18
2
1
BRO/1-34
2
1
BRU/3-2
2
1
BSE/43-
2
1
TER/7-3
2
1
BSO/12-
2
1
DEL/14-5
2
1
NIC/16-21
2
1
NIC/13-31
2
1
MAR/50-2
2
1
VAU/10-
1
2
PEL/20-
5
MAR/39-
4
GAR/2-
3
MAR/28-41
3
Taf. 1: Abstammungsgruppen und politische Faktionen in Bagnes, 1745–1803
130 Sandro Guzzi-Heeb Taufjahr
Name
Vornamen
Beziehung
Pate: Name
Pate: Vorname
1736
Michellod
Anne-Marie
A
mco
pierre
1737
Michellod
Jean-Théodule
PA
gai
j-françois
1739
Michellod
Marie-Pétronille
VA
mca
j-joseph
1740
Michellod
Jean-Joseph
PA
mco
joseph
Verwandt
ZVwt
1740
Michellod
Anne-Pétronille
A
mco
j-pierre
1741
Michellod
Jean-Georges
A
cas
j-georges
1743
Michellod
Théodule
VA
mca
theodule
1743
Michellod
Marie-Barbe
A
mre
j-michel
Vwt
1744
Michellod
Anne-Marie
PA
mco
theodule
Vwt
1744
Michellod
Marie-Madeleine
PA
gui
j-jacques
Vwt
1745
Michellod
Anne-Christine
PA
may
michel
1745
Michellod
Etienne
VA
col
etienne
1745
Michellod
Théodule
PA
gai
j-françois
1745
Michellod
Marie-Françoise
PA
gai
j-françois
1746
Michellod
Anne-Rose
VA
cre
j-michel
Vwt
1747
Michellod
Marie-Dorothée
A
mca
pierre
ZVwt
1747
Michellod
Jean-Marie
A
mag
f-joseph
Vwt
1747
Michellod
Balthasar
PA
mca
balthasar
1748
Michellod
Marie-Madeleine
PA
mca
françois
1748
Michellod
Jean-Pierre
A
mco
pierre
ZVwt
Vwt
1749
Michellod
Anne-Marguerite
PA
pel
christophe
Vwt
1749
Michellod
Jean-Georges
VA
col
j-georges
Vwt
1749
Michellod
Jean-Georges
VA
pel
joseph
Vwt
1749
Michellod
Marie-Elisabeth
PA
gai
j-françois
1750
Michellod
Jean-Pierre
VA
bru
j-pierre
1750
Michellod
Jean-Pierre
A
bru
j-pierre
1750
Michellod
Jean-François
PA
mca
j-françois
1750
Michellod
Jean-François
PA
mca
j-françois
1751
Michellod
Marie-Marguerite
VA
pro
maurice
1751
Michellod
Jean-Christophe
VA
bru
j-christophe
1752
Michellod
Marie-Barbe
A
mar
j-maurice
1752
Michellod
Jean-Joseph
VA
gar
jean
1752
Michellod
Anne-Marie
PA
mca
f-michel
1753
Michellod
Marie-Marguerite
A
mco
innocent
1753
Michellod
Pierre-Joseph
VA
bov
j-pierre
Vwt
1755
Michellod
Marie-Pétronille
A
bov
j-pierre
Vwt
1755
Michellod
François-Michel
PA
mca
f-michel
1755
Michellod
Jean-Jacques
PA
bso
j-jacques
Vwt
1756
Michellod
Anne-Rose
A
cha
christophe
Vwt
1757
Michellod
Marie-Françoise
VA
mca
j-jacques
1758
Michellod
Marie-Thérèse
A
mca
j-pierre
1758
Michellod
Marie-Thérèse
VA
mca
j-jacques
1759
Michellod
Marie-Agnès
PA
bso
j-jacques
1759
Michellod
Jean-Etienne
PA
bso
j-etienne
Vwt
1761
Michellod
Jean-Michel
A
mca
michel-theodule
ZVwt
1761
Michellod
Marie-Josèphe
VA
mag
p-theodule
Vwt
1761
Michellod
Jean-Joseph
VA
bru
j-joseph
Vwt
1761
Michellod
Jean-Maurice
VA
dum
j-pierre
1762
Michellod
Jean-François
PA
mco
michel-theodule
1763
Michellod
Marie-Rose
A
fus
j-françois
1764
Michellod
Anne-Catherine
PA
may
michel
1764
Michellod
Jean-Maurice
VA
mca
j-jacques
1765
Michellod
Joseph-François
VA
fel
j-theodule
1765
Michellod
Anne-Marguerite
PA
ter
j-georges
1766
Michellod
Michel-Jérôme
VA
bru
f-jerome
Getaufte Kinder aus der Michellod/5 Gruppe PA: Der Pate ist 1745 ein Aufständischer VA: Der Pate ist mit einem Aufständischen eng verwandt A: Andere Paten
Anzahl 55 21 19 15
Vwt
Vwt
Vwt
Vwt
ZVwt
Prozent 100 38 35 27
Taf. 2: Patenschaften und politische Beziehungen in der Gruppe Michellod 5 aus Verbier und Montagnier, 1720–1765
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 131
Taf. 3: Gezeigt werden alle dokumentierten Beziehungen von Aufständischen und ihren Ehefrauen mit anderen Aufständischen und deren Ehefrauen: Patenschaften und Transaktionen, 1720–1760. Die Individuen sind nach Abstammungsgruppen gruppiert. Legende: Rot: Die Aufständischen, Grün: Abstammungsgruppen der Aufständischen, Gelb: weitere Individuen. Die Größe der Symbole ist proportional zur Anzahl der Beziehungen.
132 Sandro Guzzi-Heeb
Taf. 4: Allianzen zwischen Familien aus Lourtier 1700–1745 Die Größe der Kreise entspricht der Zentralität der betreffenden Abstammungsgruppen im Netzwerk. Die Farben zeigen den Grad der Involvierung in den Aufstand von 1745: Die dunkleren Kreise entsprechen den Gruppen mit vielen Aufständischen; die hellen den unbeteiligten Abstammungsgruppen.
Grüne Kreise : Abstammungsgruppen mit Aufständischen Rote Kreise : Abstammungsgruppen, die Ehefrauen von Aufständischen enthalten. Die Größe der Kreise ist proportional zur Anzahl erfasster Beziehungen der Gruppe. Die Breite der Linien ist proportional zur Anzahl Beziehungen zwischen Gruppen.
Milieu Lourtier 18. Jh. / spirituelle Verwandtschaft
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 133
Taf. 5: Spirituelle Verwandtschaft in Lourtier, 1720–1765
134 Sandro Guzzi-Heeb
Taf. 6: Abstammungsgruppen, außerehelich gezeugte Kinder (AGK ) und Allianzsystem in Bagnes nach dem Aufstand, 1745–1770 Hellblau: Gruppen ohne AGK , Violett: Gruppen mit AGK , Rot: Gruppen mit überdurchschnittlich vielen AGK Größe der Kreise: Anzahl erfasster Allianzen der Abstammungsgruppe
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 135 N
AGK
Aussereheliche Kinder
1 MCO/5-
8
2
2 FIL/7
7
2
3 VAU/10-
7
1
4 FEL/8-
6
5 GAR/2-
6
6 BSO/14 7 CRE/2-
Abstamungsgruppe
Datum1
Datim Ende
1745
1766
1798–1803
1
0
7
1
1724
1806
1
1726
1807
5
2
1689
1809
5
2
2
1
1
8 TRO/7-4
5
2
2
1
1
9 MAR/18-3
5
1
2
2
3
2
1
10 BSE/3-
5
11 BSE/43-
5
12 ALT/6-
4
2
1741
1809
13 FIL/5
4
2
1745
1762
14 COR/5-
4
1
15 LUI/20
4
1
1730
1787
16 MCO/4-
4
1
17 BRU/37-3
4
18 COL/2-
4
19 FIL/4-6
4
20 MAR/35
4
21 CRE/8-4115
3
3
22 TER/7-3
3
3
23 TER/2
3
2
24 CAR/9-
3
1
25 MAR/49
3
26 MAY/5 27 MCO/20
2
1
2
1 1
1
1
1720
1799
1738
1810
1705
1755
1
1734
1808
3
1
1730
1761
3
1
1741
1804
28 OIL/3
3
1
1762
1806
29 DEL/2-
3
30 FEL/44-
3
1714
1810
31 FEL/45-
3
32 FIL/3
3
1782
1805
33 GAI/3
3
1701
1763
34 GAR/1-
1 1
2
2
1
2
2
2 3
3
2
1 1
1
1
1
1
1
1
3
6
4
35 GIL/1-
3
3
1
36 MAR/17
3
1733
1771
37 MAY/4
3
1770
1793
38 MCA/14-
3
5
1
39 MCO/11
3
1723
1780
40 NIC/10-
3
1715
1794
1
Taf. 7: Politische Mobilisierung und Anzahl außerehelich gezeugter Kinder (AGK ) in ausgewählten Verwandtschaftsgruppen aus Bagnes
136 Sandro Guzzi-Heeb Jahr
Ehefrau
Ehemann
Bemerkungen
1718
Marie-Pétronille Besse
André Maret
Aufständischer 1745
1726
Marie-Marguerite Besse
Martin Rey
naher Verwandter von Aufständischen
1737
Ludivine Besse
Maurice Perron
Bruder eines Aufständischen 1745*
1740
Marguerite Besse
François-Joseph Tissières
Aufständischer 1745
1762
Anne-Marie Besse
Jean-Etienne Maret
Vetter der Ehefrau eines Aufständischen
* Paare mit vorehelicher Zeugung, aufgrund des Vergleichs zwischen Heiratsdatum und Geburt des ersten Kindes.
Tab. 2: Allianzen in der Gruppe Besse 3, denen eine voreheliche Beziehung vorausging, 1718–1762*
Abb. 7: Illegitime Beziehungen und das politische Milieu um die Gruppe Besse (BSE3), 1680-1745
TRO7*A
PEL10 MRE10
A
BRU3
A
TER7*
BSE4
REY1
TIS1*A
MIR1
DEU1*
GIL1*A
BSE3*A
PRO1A
COL2*
LAN1
PAC1
MCO5*A
MCO4
GAI10A Doppelte Allianz
Ehe
FIL11A
CRE2* BRO1A
MAR39A
GAI1
GAR1A
A
REG1A
FIL4* A
BOU4A
MAG7A
GUI9A Ehe nach vorehelicher Zeugung
Abb. 3: Milieu 1: Vor- und außereheliche Beziehungen um die Besse 3 – das Netzwerk Besse 3 – Perron – Collombin – Michellod …
Der Zusammenhang dieses Netzwerks mit politischen und entsprechenden sexuellen Haltungen erscheint als evident: Im Kern des Netzwerks verbinden strategische Beziehungen verschiedene Kerngruppen der Opposition, insbesondere die Besse (BSE) 3, Perron (PRO) 1, Collombin (COL) 2, Gillioz (GIL) 1, Michellod (MCO ) 5, Maret (MAR ) 39 und Terrettaz (TER ) 7. Mehrere milieustrategische Beziehungen in diesem Kern verraten durch die frühe Geburt des ersten Kindes
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 137
einen vorehelichen Geschlechtsverkehr.30 Mehrere wichtige Allianzen wurden in den Jahren der politischen Polarisierung zwischen 1735 und 1745 geschlossen (Besse3-Perron1; Collombin2-Michellod 5 …) oder kurz nach dem Aufstand, als die Repression die oppositionellen Gruppen traf.31 Verschiedene Verwandtschaftsgruppen mit auffälligem sexuellen Verhalten nehmen schließlich im Milieu eine zentrale Position ein, insbesondere die Collombin 2, die Besse 3 und die Michelod 5; andere Gruppen mit ähnlichem sexuellen Verhalten haben eine strategische Verbindungsfunktion, insbesondere die in der Abbildung am Rande erscheinenden Gruppen Cretton (CRE) 2, Troillet (TRO) 7, Terrettaz (TER) 7 und Filliez (FIL) 4: Diese letzten drei Gruppen figurieren in einem erweiterten oppositionellen Milieu als zentral. Trotzdem gibt es keine vollständige Kohärenz von sexuellen und politischen Haltungen. Das dargestellte Milieu umfasst auch Gruppen, in denen es nur vereinzelt zu Kindszeugungen von unverheirateten Paaren kam. Wir haben am Beispiel der Milieu-Gruppe Michellod 5 gesehen, dass die spirituelle Verwandtschaft die politischen Solidaritäten tendenziell unterstreicht. So finden wir innerhalb des dargestellten Milieus erwartungsgemäß zahlreiche Patenschaften, welche die Solidaritäten innerhalb des Netzwerks gefestigt haben. Dass die Patenschaften entlang der Verwandtschaftsbeziehungen etabliert wurden, ist nicht weiter erstaunlich. Interessant sind jedoch zahlreiche spirituelle Verwandtschaften zwischen nichtverwandten Familien innerhalb des Milieus: zum Beispiel zwischen den Schlüsselgruppen Terrettaz 7 und Michellod 5 im Jahr 1765, zwischen Terrettaz und Lang (LAN) 9 im Jahr 1753 oder verschiedene Patenschaften einer weiteren Schlüsselgruppe – der Filliez 4 – mit den Perron 1 (1739) und den Rey 1 (1741 und 1762). Dies verdeutlicht einmal mehr die milieubildende Rolle der spirituellen Verwandtschaft.32 30 Erinnern wir uns daran, dass die aufgrund von Schwangerschaften sichtbaren illegitimen Beziehungen nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Sie können somit wohl als Spuren einer – vor allem in den besonders betroffenen Familien und Gruppen – verbreiteteren sexuellen Haltung betrachtet werden. 31 Im Jahr 1739 fand beispielsweise eine strategische Eheschließung zwischen den Gruppen Besse 3 (BSE3) und Bruchez 3 (BRU3) statt, welche die indirekten Beziehungen zwischen den zwei Gruppen (über die MCO4 und BSE4) bestätigte und festigte. 32 Hier treten jedoch gewisse methodische Schwierigkeiten der Netzwerkanalyse zutage. In der Tat sind wir nicht in der Lage, das gesamte soziale Netzwerk mit allen Transaktionen darzustellen, da dies eine enorme Zahl an Identifikationen benötigen würde und zudem gewisse Identifikationen unmöglich sind bzw. unsicher bleiben. Das Netzwerk müsste aber als sehr offen dargestellt werden. Wenn wir die Gruppe Terrettaz 7 um die am Aufstand von 1745 beteiligten Brüder Georges und Jean-Georges betrachten, stellen wir fest, dass die Patenschaften auch zahlreiche weitere, in Abbildung 4 nicht dargestellte Gruppen einbezogen haben.
138 Sandro Guzzi-Heeb
Unsere Netzwerkdarstellung kann jedoch irreführend sein, da sie die zeitlichen Entwicklungen nicht deutlich abbildet, ja möglicherweise sogar verwischt. Die Chronologie der Beziehungen ist jedoch entscheidend. Wesentliche Allianzen innerhalb des vorgestellten Milieus wurden wie angedeutet in den politisch ‚heißen‘ Jahren zwischen 1735 und 1745 sowie zwischen 1760 und 1770 geschlossen, als die Opposition unter dem Druck der Konflikte mit dem Abt zusammenzurücken begann. Besonders in den 1760er Jahren sind mehrere Eheschließungen zu verzeichnen, welche die beiden bisher relativ getrennten Milieus um die Besse 3 sowie um die Troillet 7 und Filliez 4 zusammenschweißten. Als netzwerkstrategisch zentral kann zum Beispiel eine Eheschließung zwischen den Gruppen Michellod 5 und Michellod 4 im Jahr 1765, mitten im Konflikt um die neue Mittelschule bezeichnet werden. Eine ähnliche strukturell wichtige Bedeutung hat auch eine Patenschaft von der Gruppe Filliez 4 zur Gruppe Gruppen) Rey 1 im Jahr 1762. Abb. 8: Patenschaften innerhalb des Milieus, 1730–1765 (nur Beziehungen zwischen nicht-verwandten TRO7*A
PEL10 MRE10
A
BRU3
A
TER7*
GAR1A
A
BSE4
MIR1
DEU1*
CRE2* BRO1A
MAB1 GAI1
MCO4
MAR39A
GIL1*
REG1A
FIL4* A
REY1 TIS1*A
BSE3*A
PRO1A
COL2*
LAN9
PAC1
MCO5*A
GAI10A Allianz
FIL11A
BOU4A
MAG7A
GUI9A
Patenschaft (zwischen nicht-verwandten Gruppen)
Abb. 4: Patenschaften innerhalb des Milieus, 1730–1765 (nur Beziehungen zwischen nicht-verwandten Gruppen)
7. Schluss: Konstruktion der Verwandtschaft und soziale Netzwerke Unsere Wahrnehmung der Verwandtschaftsgeschichte ist noch sehr stark durch strukturell orientierte anthropologische und historisch-anthropologische Studien beeinflusst, welche die Untersuchung von Verwandtschafts- und Allianzformen ins Zentrum gestellt und daraus weitreichende Schlüsse auf die Organisation
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 139
der Gesellschaften gezogen haben. Mehr und mehr haben HistorikerInnen und AnthropologInnen in den letzten Jahrzehnten versucht, diese Strukturen zu kontextualisieren, das heißt ihre Wirkung in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext zu untersuchen. Diese Übung bleibt jedoch immer schwierig, da sich bereits die vollständige Rekonstruktion der Genealogien einer bestimmten Gesellschaft als sehr aufwendig erweist und eine vertiefte Analyse der sozialen und politischen Verhältnisse die Kapazitäten einzelner Forschungsprojekte sprengt. Diese Schwierigkeit hat m. E. dazu geführt, dass oft verkürzte Schlüsse über die soziale Wirkung von Verwandtschaftssystemen von deren Struktur abgeleitet wurden.33 Die in der Vergangenheit favorisierte strukturelle Orientierung hatte zu einer gewissen „Anthropologisierung“ der Landbevölkerungen und insbesondere der ländlichen Unterschichten geführt, in dem Sinn, dass Bäuerinnen und Bauern als von ökonomischen, demographischen oder eben „anthropologischen“ Strukturen – zum Beispiel Verwandtschaftssystemen oder Nachbarschaftsformen – gelenkt erschienen. Heute wissen wir, dass dieses Bild nicht ganz stimmen kann. Doch ich räume ein: Es bleibt schwierig, die Komplexität der verwandtschaftlichen und sozialen Strategien bäuerlicher Unterschichten aufzuzeigen. Dieser Beitrag versucht, eine Perspektive zu eröffnen, indem die konkrete soziale Wirkung von Verwandtschaftssolidaritäten durch die Untersuchung politischer, sozialer und sexuell ‚abweichender‘ Netzwerke sozusagen gemessen wird. Dazu sind allerdings systematische genealogische Informationen sowie eine reichhaltige Dokumentation notwendig, die nur in Ausnahmefällen vorhanden sind und sich für uns im Val de Bagnes als Glücksfall erwiesen. Die Untersuchung zeigt, dass die in den klassischen historisch-anthropologischen Studien hervorgehobenen Faktoren wie die Struktur des Allianzsystems, die Form des Haushalts oder der 33 In einem neulich erschienenen, durchaus interessanten Buch hat Dionigi Albera eine kontextualisierte und dynamische Typologie alpiner Verwandtschaftssysteme vorgeschlagen. Dabei hat sich der Autor bemüht, Beobachtungen über die Beziehungen zwischen Verwandten in die Typologisierung einzubeziehen. Grundsätzlich werden aber seine Schlüsse über die Dynamik der Verwandtschaftsbeziehungen von den Strukturen der Verwandtschaft und insbesondere von den Erbsystemen abgeleitet. Dionigi Albera, Au fil des générations. Terre, pouvoir et parenté dans l’Europe alpine (XIVe–XXe siècles), Grenoble 2011. Beim Typ „Bauer“, der durch einen Haupterben und durch die langfristige Einheit des Hofes gekennzeichnet ist, erscheint vor allem die Abstammung wichtig, und die weitere Verwandtschaft wird in der Folge als wenig relevant betrachtet. Dies obwohl andere Studien über Anerbensysteme der Vergangenheit durchaus zeigen, dass die Verwandtschaft eine große Rolle als Regulator von Beziehungen und Konflikten zwischen verschiedenen „Häusern“ und Höfen spielen kann. Vgl. Élisabeth Claverie u. Pierre Lamaison, L’impossible mariage. Violence et parenté en Gévaudan, 17e–18e–19e siècles, Paris 1982.
140 Sandro Guzzi-Heeb
Wohnort der Familien für das Verständnis der sozialen Wirkung von Verwandtschaft nur Teilbereiche darstellen und vermutlich nicht zentral sind. Die strukturelle Entwicklung des Allianzsystems, die sich in Bagnes – entgegen dem europäischen Trend – durch einen Rückgang der Eheschließungen zwischen Verwandten seit 1750 auszeichnet, erscheint für die soziale und politische Organisation der Gemeinde ebenfalls als nicht entscheidend. Der Eindruck einer abnehmenden Bedeutung der Verwandtschaft täuscht über deren zunehmende Relevanz für die Organisation von politischen Gruppierungen, für die Tradierung gewisser ideeller Werte und Vorstellungen sowie gewisser Haltungen oder Identitäten hinweg. Entscheidend sind in dieser Hinsicht Strategien der Organisation einer aktiven Verwandtschaft, die Suche nach politischen oder ideellen Solidaritäten – zum Beispiel durch die Patenschaften – die Teilung und Tradierung ähnlicher Identitäten und Haltungen innerhalb gewisser Familien, Verwandtschaftsgruppen und sozialer Netzwerke, die Suche nach Alliierten gegen den gemeinsamen Feind sowie die Bildung von Faktionen, welche über längere Zeit von verwandtschaftlichen Solidaritäten getragen wurden. Werte und Haltungen erscheinen dann als wesentlich: Politische Ideen sowie sexuelle (und wahrscheinlich religiöse) Haltungen beeinflussten nicht nur die Allianzen und die spirituelle Verwandtschaft, sondern trugen auch wesentlich zur Bildung spezifischer sozial-politischer Milieus bei, die von unterschiedlichen Werthaltungen und Lebensperspektiven gekennzeichnet waren. Solche Milieus interagierten mit Verwandtschaftsgruppen auf eine komplexe Art und Weise: Letztere festigten den Zusammenhalt des Milieus, aber sie erklären ihn nicht. Wichtiger ist die Orientierung der aktiven Verwandtschaft (eigentlich des politisch orientierten Teils der aktiven Verwandtschaft) und der persönlichen sozialen Netzwerke der Einzelnen, welche sich mit anderen ähnlich orientierten Netzwerken in einem entsprechenden sozialen Milieu treffen und überlappen.34 Die Bedeutung spezifischer sozial-politischer Milieus ist zentral in der Perspektive einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft. In Bagnes intensivierte sich dieser Prozess im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends, als sich zwei immer schärfer konkurrierende Faktionen und später zwei verfeindete Parteien herausbildeten, die vor direkten Angriffen und Gewalt nicht zurückschreckten: die Radikal-Freisinnigen auf der einen, die Konservativen auf der anderen Seite.35 Dabei wurde die Haltung zum katholischen Klerus und zur Religion ein immer 34 Ein Milieu ist folglich kein soziales Netzwerk im engeren Sinn; es bildet sich an der Intersektion verschiedener, kulturell ähnlich orientierter persönlicher oder familiärer Netzwerke. Für uns werden diese Milieus teilweise durch die Wirkung politischer Faktionen entlang der lokalen Konflikte sichtbar. 35 Vgl. Raynauld, Formation et évolution d’une élite (wie Anm. 20); Jean-Yves Gabbud, Enquête au temps de la bataille de Corberaye, Sion 1997.
Verwandtschaft, politische Netzwerke und soziale Milieus 141
wichtigerer sozialer und politischer Faktor. Dem entsprechend trat der Zusammenhang zwischen Sexualität, Politik und sozialen Milieus im 19. Jahrhundert noch deutlicher in Erscheinung. Wie gesagt, wir wissen nicht, inwieweit die Bagnes betreffenden Beobachtungen verallgemeinert werden können. Der Vergleich mit den Dörfern Vouvry und Saint-Gingolph legt nahe, dass es sich keinesfalls um eine Ausnahme handelt. Wir können jedenfalls gewisse allgemeine Hypothesen formulieren. Aus theoretischer Sicht scheint die Kreuzung systematischer genealogischer Informationen mit sozialen und politischen Quellen zur Untersuchung der sozialen Wirkung von Verwandtschaftsbeziehungen, wie der Beitrag gezeigt hat, die Bedeutung struktureller Faktoren stark zu relativieren. Dieses Vorgehen stellt eine Chance dar, endlich der strukturorientierten ‚Anthropologisierung‘ der bäuerlichen Mittel- und Unterschichten entgegenzuwirken: Dafür muss die Wirkung von Politik, Religion sowie von kulturellen Identitäten wieder in die Analyse sozialen Verhaltens integriert werden. In dieser Hinsicht muss m. E. die Aufmerksamkeit von der abstrakten Struktur von Verwandtschaftssystemen auf die konkrete soziale Nutzung verschiedener Kategorien von Verwandten gelenkt werden. Natürlich kommen auch wir, mangels ausführlicher deskriptiver Quellen über die bäuerlichen Mittel- und Unterschichten, nicht ohne Untersuchung struktureller Faktoren – wie Allianzen oder Patenschaften – aus. Entscheidend ist jedoch der Versuch, dazu möglichst viele biographische und prosopographische Daten zu sammeln und auszuwerten, die eine feinere Analyse individueller oder familiärer Schicksale zulassen, um auch Frauen und Männern aus den Unterschichten ein Gesicht und eine Identität zu geben.
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Verwandtenheirat – ein aristokratisches Ehemodell? Debatten um die Goody-Thesen und Dispenspraxis Ende des 18. Jahrhunderts Margareth Lanzinger
Kennzeichnend für das christliche Lateineuropa ist, dass keine Heiratsgebote bestehen, dafür aber umso ausgedehntere Heiratsverbote. Phasenweise intensiv wurden deren Entstehungszusammenhänge diskutiert, vor allem im Anschluss an das von Jack Goody 1983 auf Englisch und 1986 auf Deutsch erschienene Buch „Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“.1 Im Fokus standen dabei die Heiratsverbote zwischen Blutsverwandten und Verschwägerten sowie jene zwischen spirituell Verwandten infolge einer Patenschaft. Die von Goody vertretenen Thesen setzten zunächst vor allem in der Alten Geschichte2 sowie in der französischen und angelsächsischen Mediävistik3 Debatten in Gang und wirkten zugleich als Quelle der Inspiration. Die Auseinandersetzungen drehten sich um seine Annahme, dass eine Reihe von restringierenden Regelungen, die ab dem vierten Jahrhundert sukzessive in Kraft gesetzt wurden und die Scheidung, Verwandtenheirat, Konkubinat sowie Adoption verboten,4 eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Sie sollen der Kirche „die Kontrolle […] über Erbschaftsstrategien“ 1 2 3
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Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986 [orig.: The Development of the Family and Marriage in Europe, Cambridge 1983]. Vgl. Jochen Martin, Zur Anthropologie von Heiratsregeln und Besitzübertragung. 10 Jahre nach den Goody-Thesen, in: Historische Anthropologie 1, 1 (1993), 149–162. Vgl. dazu die Bilanz von Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, 275–324. Auf diesem Wege seien, so Bernhard Jussen, „sämtliche Reparaturmechanismen des biologischen Zufalls[…] verschwunden, also all jene Techniken, mit denen Paare ohne leibliche Nachkommen auf ‚künstlichem‘ Wege Nachkommen (d. h. oft: Söhne) erzeugen konnten. Zugleich sei ein umfassendes System von Heiratsverboten etabliert und die Wiederheirat massiv pejorisiert worden – bei gleichzeitiger religiöser Prämierung der asketischen Witwenschaft.“ Bernhard Jussen, Erbe und Verwandtschaft. Kulturen der Übertragung im Mittelalter, in: Stefan Willer, Sigrid Weigel u. Bernhard Jussen (Hg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, Frankfurt a. M. 2013, 37–64, 40.
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ermöglicht haben,5 und zwar indem diese Verbote deren Wachstum, das Goody als einen notwendigerweise kontinuierlichen Prozess auf dem Weg der Etablierung und Konsolidierung ihrer Macht erachtete, „in Form von Einkommen und Stiftungen“ unterstützten und förderten.6 So konstatierte er etwa für England „eine gewaltige Umverteilung von Eigentum aus privatem Besitz in die Hand der Kirche […], die mit der Christianisierung“ einhergegangen sei.7 Die „Kontrolle über Verwandtenehen“ – in dem zuvor genannten breiten Spektrum einschließlich Schwägerschaft und Patenschaft – hebt Goody innerhalb dieses Regelungsspektrums als besondere Technik der Macht hervor.8
1. Verwandtenheiraten, Forschungspositionen und soziale Praxis Der Entstehung der ab dem vierten Jahrhundert formulierten, im sechsten Jahrhundert auf den dritten, später auf den vierten und im elften Jahrhundert auf den siebten Verwandtschafts- und Schwägerschaftsgrad ausgedehnten Eheverbote galt in der Forschungsdiskussion infolgedessen ein besonderes Interesse. Die Einwände gegen Goodys Sichtweise, die darin eine „Art kirchlicher Strategie der Erbschleichung“ identifizierten,9 gingen in mehrere Richtungen. Jochen Martin hat sie 1993 systematisch, nach methodischen und inhaltlichen Erwägungen sortiert, aufgerollt.10 Dem ging im Jahr 1991 ein Themenheft von „Continuity and Change“ zum Thema „Legal Systems and Family Systems: Jack Goody Revisited“11 voraus. Wesentliche Kritikpunkte waren zum einen, dass Goody sein Forschungsfeld isoliere, indem er voraussetze, dass „Formen der Endogamie und Exogamie in Beziehung […] zu Familienformen und -beziehungen und zu Strategien der Weitergabe von Besitz“ stünden und damit zugleich andere Kontexte – religiöse, politische, soziale – ausblende; dass er auf die Normsetzung fokussiere,12 über die 5 6 7 8 9
Goody, Die Entwicklung (wie Anm. 1), 97. Ebd., 233f. Ebd., 59. Ebd., 97. Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung (wie Anm. 3), 292; vgl. auch ders., Erbe und Verwandtschaft (wie Anm. 4), 40–50. 10 Martin, Zur Anthropologie (wie Anm. 2), 150f. 11 Für eine sehr ausführliche Kritik an Jack Goody siehe insbesondere Lloyd Bonfield, Canon Law and Family Law in Medieval Western Christendom, in: Continuity and Change 6, 3 (1991), 361–374. 12 Siehe dazu die grundsätzliche Infragestellung von Anita Guerreau-Jalabert, La Parenté dans l’Europe médiévale et moderne: à propos d’une synthèse récente, in: L’Homme 29, 110 (1989), 69–93, 75: „La chronologie de ses transformations n’est pas toujours bien connue
Verwandtenheirat – ein aristokratisches Ehemodell? 145
sich die Praxis sozialer Beziehungen jedoch nicht erschließen lasse. Zum anderen sei er, bedingt durch den großräumigen Vergleich, „immer wieder gezwungen, feste Einheiten zu bilden“ – wie „Römisches Recht“, „Kanonisches Recht“ etc. Gerade das kanonische Recht habe sich jedoch prozesshaft herausgebildet, und die kanonischen Gebote gingen „auf Quellen unterschiedlicher Autorität“ zurück,13 sodass diesen in der fraglichen Zeit demnach kein Systemcharakter zukomme. Ebenso wenig könne man davon ausgehen, dass „die gesamte Kirche […] immer bewußt mit der Akkumulation von Besitz beschäftigt gewesen [sei]“. Die These eines Zusammenhangs zwischen den Verboten der Verwandtenheirat und kirchlicher Besitzakkumulation wurde infolge dieser Debatten einhellig zurückgewiesen. Jean-Louis Flandrin und Georges Duby hatten bereits vor dem Erscheinen von Goodys Buch Erklärungsansätze für die Ausdehnung der Eheverbote im Mittelalter angeboten. Sie stellten diese in einen Zusammenhang mit der Organisation von Verwandtschaft. Jean Louis Flandrin ortete eine „frappierende“ Parallelität zwischen der Ausdehnung der Verwandtenheiratsverbote und der „évolution des solidarités lignagères“ zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert, während sie im 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Tendenzen einer sich zunehmend patrilinear organisierenden Verwandtschaft wieder zurückgenommen worden seien.14 Diese Rücknahme der verbotenen Verwandtschaftsgrade vom siebten auf den vierten Grad war auf dem vierten Laterankonzil von 1215 erfolgt. Ein Grund für diese Veränderung, die auf normativer Ebene im katholisch-kirchlichen Kontext bis 1917 maßgeblich blieb, kann auch darin gesehen werden, dass sieben Grade kaum rekonstruierbar waren – zumal in einer Zeit, in der es noch keine Kirchenbücher gab, die Trauungen und Taufen verzeichneten. Dies brachte große Unsicherheit bezüglich der Gültigkeit einer Ehe mit sich. Denn ein übersehenes und nicht aufgehobenes Ehehindernis machte eine Ehe grundsätzlich ungültig. Flandrin stellte zwar nicht explizit eine Kausalität her, doch gelangte er zur Hypothese einer gewissen Anpassung des kanonischen Rechts an eine veränderte Verwandtschaftsorganisation. Dem wäre aus der Perspektive der neueren Historischen Verwandtschaftsforschung eine andere Chronologie entgegenzustellen, die diese in der Frage einer zunehmend patrilinearen und damit vertikalen Organisation von dans le détail, même si l’on s’en tient au domaine des règles, plus aisément accessible que celui des pratiques.“ 13 Siehe dazu Michael M. Sheehan, The European Family and Canon Law, in: Continuity and Change 6, 3 (1991), 347–360, 348f. 14 Jean-Louis Flandrin, Familles. Parenté, maison, sexualité dans l’ancienne Société, Paris 1976, 31, zit. nach Michael Mitterauer, Christentum und Endogamie, in: ders., Historisch-Anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien/Köln 1990, 41–85, 49.
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Verwandtschaft in Hinblick auf Sukzession und Erbe vorgeschlagen hat: Sie setzt den Schwerpunkt dieses Prozesses später an und lässt ihn bis ins 17. Jahrhundert andauern.15 Damit würde die Frage nach einer Begründung der ausgedehnten Verwandtenheiratsverbote wieder am Anfang stehen. George Duby ging einen Schritt weiter und sah in den Heiratsverboten „ein Mittel zur Durchsetzung des kirchlichen gegen das aristokratische […] Modell der Ehe“.16 Michael Schröter leitete daraus ab, dass „die Lehre vom Hindernis der Verwandtschaft vor und nach der Jahrtausendwende im Zentrum des kirchlichen Eherechts“ gestanden und „den kriegerischen Herrengruppen der Welt entgegen gehalten“ worden sei, denn die „Lehre von den verbotenen Verwandtschaftsgraden“ habe „der Kirche ein überaus wirksames Machtmittel an die Hand“ gegeben. „Benutzt wurde diese ideologische Waffe […] vor allem gegenüber hochrangigen, insbesondere fürstlichen Personen […]. Da in jenen Kreisen Eheschließungen ein hauptsächliches Instrument der Politik waren, gewann die Kirche auf dem Umweg über ihre Doktrin wohl einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das Zustandekommen politischer Bündnisse […].“ Die Ausdehnung der Eheverbote auf die Schwägerschaft könne damit zusammenhängen, dass „eine Heiratsverbindung eine ‚Freundschaft‘ zwischen den beteiligten Familien stiftete.“ Aus diesen Beobachtungen schloss er, „daß der Kirche daran gelegen war, den Verwandtschaftszusammenhalt, der durch die Sippenendogamie immer wieder bekräftigt wurde, zu durchbrechen“17 – und stimmt damit in den Tenor des gängigen Meinungsbildes ein. Zu einer solchen Annahme führt ebenso eine religiös begründete Erklärung, wie sie insbesondere Michael Mitterauer vertritt,18 und die Bernhard Jussen im Anschluss daran aufgegriffen hat, der die verbotenen Verwandtenheiraten ebenfalls primär in einem „religiösen Sinnuniversum“ verankert sieht. Jussen verknüpft die dahinterstehende Konzeption einer „zölibatären, mithin verwandtschafts- und 15 David Warren Sabean u. Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to LongTerm Development, in: dies. u. Jon Mathieu (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to LongTerm Development (1300–1900), New York/Oxford 2007, 1–32, 6–10. 16 George Duby, Medieval Marriage, Baltimore/London 1978, 17ff, zit. nach Mitterauer, Endogamie und Christentum (wie Anm. 14), 49. 17 Michael Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe“. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1985, 351. 18 Michael Mitterauer, Christendom and Endogamy: Jack Goody Revisited, in Continuity and Change 6 (1991), 293–333; später in einer deutschen Version erschienen unter dem Titel: Christentum und Endogamie (wie Anm. 14); Jussen, Erbe und Verwandtschaft (wie Anm. 4), 43f; ders., Perspektiven der Verwandtschaftsforschung (wie Anm. 3), 293f; vgl. auch Martin, Zur Anthropologie (wie Anm. 2), 152–154.
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sexualitätsfeindlichen Institution“ mit Mary Douglas‘ Vorstellung von Purity and Danger „als Ausdruck der Angst vor Pollution, also vor der Vermischung des Heiligen mit dem Sexuellen“.19 Er folgert: „In die Mitte des christlichen Sinnsystems zielt auch die Deutung, die Verbote seien gegen ein System bevorzugter Ehen im Interesse von Clan-Allianzen gerichtet, also gegen die Praxis, Allianzen zwischen Verwandtengruppen über Generationen hinweg durch immer neue Heiraten zu stabilisieren. Die weit ausgreifende, auch Paten einschließenden Verbote blockierten diese Clan-Allianzen und zwangen zu fernen Ehen.“ Die Heiratsverbote würden in diesem Sinne darauf verweisen, dass die Kirche Praktiken verhindert habe, die familiale Solidaritäten stärkten. Im Gegenzug sei „das monogame und unlösbare eheliche Paar“ ins Zentrum gerückt. Das Christentum habe demnach die Ehe religiös prämiert – „unter massiver Abwertung der Verwandtschaft“.20 Sein Fazit: „Dieser religiös motivierte Schutz der Ehe konterkarierte die Ausbildung von Systemen, die an der langfristigen Stabilisierung verwandtschaftlicher Allianzen über Generationen hinweg orientiert waren. […]. In einem solchen System ist es vergleichsweise schwierig für eine Verwandtengruppe, Besitz beisammenzuhalten.“21 Nicht das Verwandtschaftssystem sei demnach „agnatisch organisiert, sondern die Monopolisierung der Herrschaft durch eine kleine Gruppe“ werde „durch eine agnatische Repräsentation der Herrschaftsträger legitimiert“.22 Beide Stränge, sowohl der auf einen religiösen Begründungszusammenhang der Heiratsverbote setzende als auch der auf das durch diese erreichte Zurückdrängen von Verwandtschaftsgruppen in Hinblick auf deren politische Handlungsräume rekurrierende, kommen letztlich zum selben Ergebnis: Die Macht der Verwandtschaft sollte durchbrochen werden. Dazu ist es – folgt man der Historischen Verwandtschaftsforschung der letzten fünfzehn, zwanzig Jahre und den Beiträgen dieses Bandes – aber eigentlich nicht gekommen. Mit Lloyd Bonfield 19 Inspirierend zum Thema Reinheit, wenn auch nicht in den Kontext von Inzest gestellt, vgl. Peter Burschel, Die Erfindung der Reinheit. Eine andere Geschichte der Frühen Neuzeit, Göttingen 2014. 20 Der „mit Blick auf die religiösen Grundhaltungen“ in Bezug auf Verwandtschaft exogamen Heirat stellt er eine „Endogamiegeschichte“ an die Seite, und zwar „mit Blick etwa auf die grundherrliche Herrschaftskontrolle oder die soziale Logik gemeindlicher Kontrolle des Heiratsverhaltens“. Jussen, Erbe und Verwandtschaft (wie Anm. 4), 46. Das ist dahin gehend zu relativieren, dass es in ausgeprägten Grundherrschaftszusammenhängen zwar eine solche Kontrolle gab, diese aber kein Verbot darstellte. Es bedurfte zumindest in der Frühen Neuzeit lediglich eines grundherrlichen Konsenses für eine grundherrschaftsüberschreitende Eheschließung. 21 Jussen, Erbe und Verwandtschaft (wie Anm. 4), 43f; siehe auch ders., Perspektiven der Verwandtschaftsforschung (wie Anm. 3), 293f. 22 Jussen, Erbe und Verwandtschaft (wie Anm. 4), 52f.
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kann man zudem argumentieren, dass es wenig wahrscheinlich ist, dass sich führende Gruppen im Adel, aber auch in städtischen und ländlichen Milieus in der Frage von Heirat, Besitz und Erbe von der Kirche maßgeblich beeinflussen ließen: „Why were the secular élite prepared to allow meddling in such a crucial area as marriage and inheritance, particularly if the Church established rules to their detriment? I would argue that the secular élite were not, particularly in the area of inheritance. […] Thus in my view Goody wrongly conflates the ability to legislate with the ability to enforce law: to make it stick.“23 Ein Kontext, der eine vergleichbare Konfliktsituation zwischen einem kirchlichen Konzept und gesellschaftlichen Vorstellungen verdeutlicht, ist die Konsensehe. Dieser zufolge war in vortridentinischer Zeit allein die beiderseitige Einwilligung des Paares für die Gültigkeit einer Ehe ausschlaggebend und ausreichend. Städtische Statuten und obrigkeitliche Regelungen schrieben – in Norditalien zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert, in Spanien und Frankreich ab dem 16. Jahrhundert – die väterliche Einwilligung vor und drohten mit empfindlichen Strafen und mit Enterbung, um sozial missliebige Heiraten verhindern zu können.24 Weitere Einwände lassen sich aus der Perspektive der Praxis formulieren: Denn erstens gab es in Bezug auf Verwandtenheiraten nicht nur die weitreichenden Verbote, sondern – und das ist die andere Seite der Geschichte – auch Dispensen als Instrument, um ein Ehehindernis aufzuheben. Davon wurde zu verschiedenen historischen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß Gebrauch gemacht, sowohl was die Art und Anzahl der entsprechenden Ansuchen betrifft als auch die Wahrscheinlichkeit der Erteilung einer Dispens. Jedenfalls bestand im Mittelalter wie in der Neuzeit diese Möglichkeit der Umgehung – und diese wurde in den nahen Graden zunächst und lange insbesondere von fürstlichen Verwandtschaften, Familien und Paaren genutzt.25 In Hinblick auf Besitz und Erbe konnten zweitens diverse Arrangements rechtlich favorisiert oder nach Vereinbarung getroffen werden, die dazu dienten, 23 Bonfield, Canon Law and Family Law (wie Anm. 11), 365. 24 Daniela Lombardi, Storia del matrimonio. Dal Medioevo ad oggi, Bologna 2008, 42–45. 25 Zu denken ist dabei etwa an die spanischen Habsburger; vgl. Michael Mitterauer, „Spanische Heiraten“. Dynastische Endogamie im Kontext konsanguiner Ehestrategien, in: ders., Historische Verwandtschaftsforschung, Wien/Köln/Weimar 2013, 149–212; als chronologisch-geographische Auswahl siehe auch, Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100), Berlin/New York 2008; Ludwig Schmugge, Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin 2008; André Burguière, „Cher Cousin“: Les usages matrimoniaux de la parenté proche dans la France du 18e siècle, in: Annales Histoire, Sciences Sociales 52, 6 (1997), 1339–1360; Margherita Pelaja, Marriage by Exception: Marriage Dispensations and Ecclesiastical Policies in Nineteenth-Century Rome, in: Journal of Modern Italian Studies 1, 2 (1996), 223–244.
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zumindest patrilinearen Besitzerhalt generationenübergreifend abzusichern, im Fall des sich ab 1500 in Europa ausbreitenden Fideikommisses auf lange Dauer hin konzipiert und breitere Verwandtschaftsgruppen integrierend.26 Besonders erfolgreich im Akkumulieren und nachhaltigen Absichern von politischer und ökonomischer verwandtschaftlicher Macht mittels Erb-, Heirats- und Besetzungspolitik in Domkapiteln und von Bischofssitzen war über Generationen die katholische Reichsritterschaft.27 Schließlich kann überall dort, wo ein Mitgiftsystem nach römisch-rechtlichem Modell oder eheliche Gütertrennung vorherrschte, keinesfalls von einer gatten- oder ehezentrierten Gesellschaft gesprochen werden, im Gegenteil. Der Erbverzicht, den adelige Töchter seit dem 15. Jahrhundert leisten sollten, die Abfindung jüngerer Söhne mit Apanachen, deren Platzierung in alternativen Karrieren stellten ebenfalls Teil von Besitzsicherungsstrategien dar.28 Diese waren nicht nur im Adel handlungsleitend, auch im bäuerlichen Kontext begegnet ungeteilte Besitznachfolge verbunden mit ehelicher Gütertrennung oder einem Mitgiftregime, die Ausdruck eines ‚dynastischen‘ Denkens war. Im gewerblichen Bereich gab es ebenfalls Formen, die auf verwandtschaftlichen Verbindungen beruhten: Im frühneuzeitlichen Venedig schlossen sich Vater und Söhne, die im Handel tätig waren, in einer fraterna zusammen, in die nicht selten auch Schwiegersöhne inkorporiert wurden, sodass die Mitgift der Töchter ebenfalls im väterlich-brüderlichen Unternehmen verblieb.29 Ein anderes Blatt wäre jenes, dass die römische Kurie sich selbst maßgeblich über Verwandtschaftsnetzwerke
26 Als Überblick vgl. Margareth Lanzinger, Il fedecommesso nell’area di lingua tedesca. Storia di una lunga fine, in: Mélanges de l‘Ecole française de Rome. Italie et Méditerranée modernes et contemporaines 124, 2 (2012), 351–364. 27 Vgl. Christophe Duhamelle, L’heritage collectif. La noblesse d’Église rhenane, 17e–18e siècles, Paris 1998; Sylvia Schraut, Das Haus Schönborn – eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640–1840, Paderborn 2005; dies., Familie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder – Verwandtschaftsbeziehungen im katholischen stiftsfähigen Reichsadels, in: WerkstattGeschichte 46 (2007), 13–24. 28 Vgl. Anke Hufschmidt, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status – Rollen – Lebenspraxis, Münster 2001, 275f, 291; Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters, 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 327–343; Stephanie Marra, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2007, 97f. 29 Vgl. Anna Bellavitis, Die Mitgift in Venedig zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, in: L’Homme. Z.F.G. 22, 1 (2011), 23–37; zur Bedeutung von Mitgiften in Handelsunternehmen siehe auch Francesca Trivellato, The Familiarity of Stranges. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period. New Haven 2012, Kap. 5.
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organisiert hat.30 Verwandtschaft war das strukturierende Organisationsprinzip in diesen hier nur kursorisch gestreiften Zusammenhängen. Daher ist von einer Gleichzeitigkeit und einem Nebeneinander von stärker ehezentrierten und primär agnatisch bzw. verwandtschaftlich organisierten Modellen, in denen der Ehe unter vermögensrechtlichen Gesichtspunkten ein transitorischer Charakter zukam, in Europa auszugehen – und einem entsprechend unterschiedlichen Umgang mit Besitz und Ressourcen. Ehe und Verwandtschaft wiesen als gesellschaftliche Ordnungsmodelle im Detail eine Vielfalt an möglichen Regelungs- und Ausgleichsinstrumentarien auf, und zwar quer durch die sozialen Milieus hindurch.31 Die Präferenz für das eine oder andere Modell konnte sich im Laufe der Zeit verschieben,32 wobei die Chronologien unterschiedlich waren und auch große Beharrlichkeit aufweisen konnten – sowohl rechtlich als auch in der Praxis. Der Adel ging vermutlich am konsistentesten in Richtung einer patrilinearen Organisation, die auf der Primogenitur basierte, ein Prozess, der – der neueren Forschung zufolge – jedoch erst im Laufe des 17. Jahrhunderts seinen Abschluss fand. So ist auch die von Bernhard Jussen in den Vordergrund gerückte Repräsentationsverwandtschaft durchaus Thema in der neueren Historischen Verwandtschaftsforschung, aber nicht an die Stelle der als Ordnungs- und Organisationsstruktur wirkenden Verwandtschaft gesetzt, sondern als mit dieser in unterschiedlich modellierten Wechselverhältnissen stehend gedacht.33 Die Interessen ‚der‘ Kirche seien „nur durch historische
30 Vgl. Marina D’Amelia, Trasmissioni di offici e competenze nelle famiglie curiali tra Cinquecento e Seicento, in: Renata Ago u. Benedetta Borello (Hg.), Famiglie. Circolazione di beni, circuiti di affetti in età moderna, Roma 2008, 47–81. 31 Vgl. beispielsweise die Ergebnisse eines Vergleichs Margareth Lanzinger u. a., Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln/Weimar/Wien 20152. 32 In Ravensburg sah das Erbrecht bereits im 16. Jahrhundert den überlebenden Teil in kinderlosen Ehen als Universalerben an und setzte damit „den älteren Zusammenhang der blutsverwandtschaftlichen Bindung gänzlich außer Kraft“. Zahlreiche Rechtsstreitigkeiten mit Verwandten im 17. und 18. Jahrhundert waren die Folge. Dies lege den Schluss nahe, „dass das städtisch gesetzte Recht hier nahezu entgegen der in der Bevölkerung angewendeten Gewohnheit stand“. Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt a. M./New York 2006, 174ff, Zitate 188, 189. Zu Bedeutungszuschreibungen an Gütergemeinschaft in Bezug auf die Ehe vgl. Peter Landau, Bamberger Landrecht und eheliche Gütergemeinschaft, in: Horst Gehringer, Hans-Joachim Hecker u. Reinhard Heydenreuter (Hg.), Landesordnungen und Gute Policey in Bayern, Salzburg und Österreich, Frankfurt a. M. 2008, 1–18. 33 Vgl. Sabean/Teuscher, Kinship in Europe (wie Anm. 15), 13f; Simon Teuscher, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln/Weimar/ Wien 1998.
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Forschung zu eruieren“, hatte Jochen Martin in seinem Beitrag festgehalten.34 Gilt das Ziel nicht einer großen Erklärung, dann scheint die Frage nach dem Wie der Praxis lohnend. Eine mögliche Perspektive ist jene, die Logiken, die hinter Verwandtenehen standen, aus Sicht der Dispenspolitik und Dispenspraxis auszuloten.
2. Kanonische Dispensgründe und ständische Privilegierung Die Frühe Neuzeit war im katholischen Kontext nicht nur von verbotenen Verwandtschaftsheiraten, die bis zum vierten Grad, also bis zu den gemeinsamen Ururgroßeltern zurückreichten, geprägt, sondern auch von einer expliziten Privilegierung des (Hoch-)Adels in Hinblick auf die Vergabe von Ehedispensen. Die kirchliche Politik zielte spätestens seit dem Ehedekret des Konzils von Trient von 1563 nicht mehr länger – sofern sie das je getan hatte – auf das Durchbrechen verwandtschaftlicher Macht, die über endogame Heiratsverbindungen hergestellt oder konsolidiert wurde, ab. Jack Goody bezieht sich in dem den verbotenen Verwandtschaftsgraden gewidmeten Abschnitt zwar auf das Konzil von Trient, doch nur dahingehend, dass es durchaus einfach gewesen sein dürfte, „für eine Eheschließung im dritten Grad Dispens zu erlangen, sofern ein ‚hinreichender Grund‘ vorlag“.35 Damit spielt er zum einen auf die Dispenspraxis an, die er als Kontrollinstrument apostrophiert, und zum anderen auf die Notwendigkeit einer Begründung von Heiratsprojekten unter Verwandten. Jedoch erwähnt er eine andere, für die neuzeitliche Fortsetzungsgeschichte relevante Bestimmung des Decretum Tametsi nicht, jene nämlich, die sich auf den zweiten Grad bezieht und eine solche Art von Dispensen sozial beschränkt: „In secundo gradu nunquam dispenseretur, nisi inter magnos Principes, & ob publicam causam“,36 im zweiten Grad sei niemals zu dispensieren, ausgenommen es handle sich um hohe Fürsten oder um öffentliches Interesse. Die den zuvor skizzierten Interpretationen zufolge von den Verwandteneheverboten hauptsächlich angesprochenen – die hohen Fürsten – sind hier nun als zu privilegierende Gruppe in Hinblick auf Dispensvergabe herausgehoben. Michael Mitterauer bringt die im Decretum Tametsi ausgesprochene Bevorzugung, die es bestimmten Kreisen, vorrangig dem der Anzahl seiner Mitglieder nach begrenzten hohen Adel ermöglichen sollte, rangmäßig unter sich bleiben, 34 Martin, Zur Anthropologie (wie Anm. 2), 161. 35 Goody, Die Entwicklung (wie Anm. 1), 161. 36 Decretum Tametsi, Sessio 24, Caput 5. Vgl. dazu Il sacro concilio di Trento con le notizie più precise riguardante la sua intimazione a ciascuna delle sessioni. Nuova traduzione italiana col testo latino a fronte, Venezia 1822, 284.
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mit den infolge der Reformation eingeschränkten Heiratskreisen in Verbindung, die der Norm nach nun konfessionelle Grenzen zu beachten hatten. Dispensen gab es jedoch auch für interkonfessionelle Eheschließungen.37 „Politische Gegnerschaften zwischen einzelnen Dynastien bzw. langfristig konzipierte Allianzen“ hätten ihrerseits dazu beigetragen, „dass endogame Ehen innerhalb eines verengten Heiratskreises zunahmen“. Dem habe die römische Kurie Rechnung getragen, indem sie quasi einen „Freibrief für dynastische Endogamie“ gewährte.38 Zu klären wäre, inwieweit sich die Dispenspraxis – in Bezug auf den Hochadel, aber auch generell – vor 1563 von der nach 1563 tatsächlich unterschieden hat.39 Einen Zugriff auf die Konzeption der Legitimität einer Dispens können die so genannten kanonischen Dispensgründe liefern,40 deren Anzahl im Laufe der Jahrhunderte merklich zunehmen sollte. Sechs relativ offen formulierte Voraussetzungen einer Dispensierung sind im 12. Jahrhundert bei Gratian genannt: besondere Umstände der Zeit, der Person, Gründe der Frömmigkeit, der Notwendigkeit sowie des Nutzens und wenn eine (sexuelle) Überschreitung bereits erfolgt war.41 Diese erste ‚Liste‘ erweiterten und spezifizierten Kanonisten des 16. und 17. Jahrhunderts; 1877 stiegen die offiziell anerkannten Dispensgründe auf 16 an42 und schließlich auf 28 im Jahr 1901.43 Unter den von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert hinein gültigen Dispensgründen finden sich einige, die einen 37 Die konfessionellen Grenzen waren nicht ganz scharf gezogen; dynastische Interessen konnten über konfessionellen Erwägungen stehen. Vgl. mit weiterführender Literatur Cecilia Cristellon, L’inquisizione, il duca di Neoburgo e i matrimoni misti in Germania in età moderna, in: Rivista storica italiana 125, 1 (2013), 76–108; im Druck ist das Buch von Dagmar Freist, Glaube – Liebe – Zwietracht: Konfessionell gemischte Ehen in Deutschland in der Frühen Neuzeit. 38 Michael Mitterauer, „Spanische Heiraten“ (wie Anm. 25), 167f. 39 Ansätze finden sich bei Jutta Sperling, Marriage at the Time of the Council of Trent (1560– 70): Clandestine Marriages, Kinship Prohibitions and Dowry Exchange in European Comparison, in: Journal of Early Modern History 8, 1–2 (2004), 67–108. 40 Zu den verschiedenen Auffassungen vgl. William A. O’Mara, Canonical Causes for Matrimonial Dispensation. An Historical Synopsis and Commentary, Washington 1935, 26–29; grundlegend A[dhémar] Esmein, Le mariage en droit canonique, Bd. 2, Paris 1891, 314–368. 41 Dictum Gratiani, C. 5, C. I, q. 7: „Nisi rigor disciplinae quandoque relaxetur ex dispensatione misericordiae. Multorum enim crimina sunt damnabilia, quae tamen Ecclesia tolerat pro tempore, pro persona, intuitu pietatis, vel necessitatis, sive utilitatis, et pro eventu rei.“ Zit. nach O’Mara, Canonical Causes (wie Anm. 40), 28f. 42 Als die in dieser Frage maßgeblichen Kanonisten nennte O’Mara Vincentius De Justis („De Dispensationibus Matrimonialibus“, 1726), Pyrrhus Corradus („Praxis Dispensationum Apostolicarum pro utroque foro“, 1697) und Thomas S. J. Sanchez („De Sancto Matrimonii Sacramento Disputationum“, 1669), ebd., 29, Anm. 19. 43 Vgl. ebd., 29, 131–135.
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potenziellen Konnex zu Besitz aufweisen: „lites de bonis“(seit dem 17. Jahrhundert, 1877 lautet dieser Grund: lites super successione bonorum), für den Fall, dass ein Rechtsstreit über Erbschaft bereits im Gange war, „bonum pacis“ (erstmals vermutlich bereits im 11. Jahrhundert angewandt), um Frieden wieder herzustellen, „excellentia meritorum“ (seit dem 17. Jahrhundert), für jene, die sich besondere Verdienste um die Kirche erworben hatten.44 Die ersten beiden wurden eingesetzt, wenn es darum ging, Besitzinteressen zu wahren; den dritten machten in der Regel ebenfalls Mitglieder wohlhabender Familien geltend. Nikolaus Knopp nennt in seinem 1854 erschienenen Buch über das katholische Eherecht daneben explizit die conservatio bonorum in eadem illustri familia, also den Schutz und Erhalt von Besitz und Vermögen von Familien, die sich durch besondere Verdienste ausgezeichnet hatten.45 Dass die Wahrung von sozialem Status grundsätzlich ein relevanter Aspekt bei der Festlegung der Dispensgründe war, zeigt sich an dem sehr häufig und nicht immer im engeren Sinn in Rechnung gestellten Dispensgrund der Enge des Ortes (angustia loci), der ausschließlich für Frauen reserviert war.46 Fand eine Frau keinen ihr ebenbürtigen Mann an ihrem Geburts- bzw. Wohnort, sollte sie einen mit ihr Verwandten oder Verschwägerten heiraten dürfen. Aus kirchlicher Sicht hatte demnach das Abwenden des Risikos, an sozialem Status einzubüßen, Vorrang vor dem Verbot einer Verwandtenehe. Darin kann eine ordnungs- und gesellschaftspolitische Funktion der Dispenspolitik gesehen werden. Entscheidend ist, wie diese vorformulierten Dispensgründe in der Praxis zur Anwendung kamen. So soll es im zweiten Teil dieses Beitrags um die Frage gehen, wie mit der ständischen Privilegierung und der Erfordernis eines öffentlichen Interesses – publica causa – im ausgehenden 18. Jahrhundert umgegangen wurde, 44 Weitere kanonische Dispensgründe bezogen sich auf die Enge des Ortes, das vorgeschrittene Alter der Braut, die fehlende oder unzureichende Mitgift, die Armut einer Witwe, bereits erfolgten Geschlechtsverkehr und/oder eine Schwangerschaft, den beschädigten Ruf der Frau, die Revalidierung einer wegen übersehener Verwandtschaft ungültigen Eheschließung, die Vermeidung eines schwerwiegenden öffentlichen Aufsehens. Vgl. ebd., 31–36. 45 Nikolaus Knopp, Vollständiges katholisches Eherecht. Mit besonderer Rücksicht auf die practische Seelsorge, Regensburg 18542, 444. 46 Zwei weitere Dispensgründe – neben einem auf die Situation von Witwen bezogenen – sind Frauen zugedacht. Sie gehen letztlich davon aus, dass eine Ehe – neben dem Kloster – der wesentliche Bestimmungsort von Frauen sei: War eine Frau bis 24 nicht verheiratet (aetas superadulta) oder fehlte es ihr an Mitgift (incompetentia dotis), sollte sie einen mit ihr Verwandten oder Verschwägerten heiraten können. Vgl. dazu Edith Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreichs (1790–1850), in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 345–366.
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als immer mehr und keineswegs nur adelige Paare in den nahen Verwandtschaftsgraden um eine Dispens ansuchten.47
3. Dispensagenden im staatlichen Kontext Hatte es für den Adel in der Frühen Neuzeit kaum ein Problem dargestellt, selbst in sehr nahen Graden – etwa für eine Heirat zwischen Onkel und Nichte – eine päpstliche Dispens zu erhalten, so galt dies keineswegs für die breite Bevölkerung. Zahlreich waren wohl die im dritten und vierten Grad angesuchten und erteilten Dispensen,48 bis dahin selten jedoch jene zwischen Cousin und Cousine oder Schwager und Schwägerin. Die kirchliche Norm änderte sich in der Folge zwar nicht, jedoch erweiterte sich der Kreis jener, die in den nahen Graden der Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft um eine Dispens ansuchten, merklich und zugleich auch die Praxis der Dispensvergabe. Nicht zuletzt liberalisierten zivilrechtliche Kodifikationen und Verordnungen des 18. Jahrhunderts die Eheverbote in katholisch dominierten Ländern: so der Code civil in Frankreich und das josephinische Ehepatent in Österreich. Das Tabu einer Ehe zwischen nahen Verwandten verlor also ab Mitte, spätestens ab Ende des 18. Jahrhunderts sichtlich an Schrecken und Gewicht. Immer mehr Brautpaare – auch aus dem handwerklichen, gewerblichen und bäuerlichen Milieu, aus dem städtischen wie aus dem ländlichen Raum – wollten solche Verbindungen eingehen. Auf diesen Trend einer Zunahme von Heiratsvorhaben zwischen nahe Verwandten in eben diesem Zeitraum verweist eine Reihe von Studien aus unterschiedlichen europäischen Regionen.49 In den Erklärungen dieses Phänomens von Seiten der Historiker und Historikerinnen nehmen sozio-ökonomische 47 Vgl. dazu auch Margareth Lanzinger, Mariages entre parents, l’économie de mariage et le „bien commun“. La politique de dispense de l’Etat dans l’Autriche de l’Ancien Régime finissant, in: Anna Bellavitis, Laura Casella u. Dorit Raines (Hg.), Construire les liens de famille dans l’Europe moderne, Clamecy 2013, 69–83. 48 Vgl. zum Beispiel Raul Merzario, Il paese stretto. Strategie matrimoniali nella diocesi di Como (secoli XVI–XVIII), Torino, 1981; Jean-Marie Gouesse, Mariages de proches parents (XVIe –XXe siècle). Esquisse d’une conjoncture, in: Le modèle familial Européen. Normes, déviances, contrôle du pouvoir. Actes des séminaires organisés par l’École française de Rome et l’Università di Roma, Roma 1986, 31–61. 49 Vgl. Burguière, „Cher Cousin“ (wie Anm. 25); Gouesse Mariages de proches parents (wie Anm. 48); Gérard Delille, Famille et propriété dans le Royaume de Naples (XVe–XIXe siècle), Rome/Paris 1985; Ida Fazio, Parentela e mercato nell’isola di Stromboli nel XIX secolo, in: Ago/Borello, Famiglie (wie Anm. 30), 141–181; Jon Mathieu, Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500–1900, in: Historische Anthropologie
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Faktoren und Zusammenhänge einen prominenten Rang ein: David Sabean beispielsweise hat in Neckarhausen beobachtet, dass Ressourcenflüsse vor dem Hintergrund sozialer und ökonomischer Veränderungen vermehrt über den Weg von Verwandtenehen gelenkt wurden.50 Gérard Delille sah darin in seiner Studie über die süditalienische Manduria eine Möglichkeit des Ausgleichs der Folgen des neuen Erbrechts, das die Erbteilungen zwischen allen Kindern verpflichtend forderte.51 Raul Merzario stellt einen Zusammenhang zwischen gehäuften Verwandtenehen und der Umstrukturierung kommunaler Bodenverhältnisse her.52 In der historischen Verwandtschaftsforschung stark gemacht wurde zuletzt die These, dass Eheschließungen zwischen nahe Verwandten als Heiratsmuster vor allem prägend für das Familienmodell sozial höherer, insbesondere bürgerlicher Kreise in Sinne einer sozialen Abschließung gewesen seien: Soziale Homogamie ging einher mit verwandtschaftlicher Endogamie. Milieukonstituierung bzw. -konsolidierung und Verwandtschaftsintegration werden dabei als zwei Seiten ein und desselben Prozesses erachtet.53 Diese Ergebnisse machen zugleich deutlich, dass wir es zwar im Effekt mit einem vergleichbaren Phänomen zu tun haben – mit der Zunahme von Eheschließungen zwischen nahen Verwandten –, dass es dafür jedoch nicht eine allgemein gültige Erklärung gibt. Je nach lokalen und regionalen, soziopolitischen, rechtlichen und ökonomischen Kontexten hatten durchaus unterschiedliche Faktoren ihren Anteil daran. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass es mit einem Mal für nahe verwandte und verschwägerte Frauen und Männer generell einfach geworden sei, die erforderliche Dispens zu erlangen. In einer vergleichenden Perspektive sind zum einen große konfessionelle Unterschiede zu berücksichtigen: Einer universalen katholischen Norm standen unterschiedliche, von den jeweiligen protestantischen und reformierten Landeskirchen für ihre
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10, 2 (2002), 225–244; David Warren Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998. Sabean, Kinship in Neckarhausen (wie Anm. 49), 414. Delille, Famille et propriété (wie Anm. 49), 369. Raul Merzario, Land, Kinship and Consanguineous Marriage in Italy from the Seventeenth to the Nineteenth Century, in: Journal of Family History 15 (1990), 529–546. Vgl. David Warren Sabean, Kinship and Class Dynamics in Nineteenth-Century Europe, in: Sabean/Teuscher/Mathieu, Kinship in Europe (wie Anm. 15), 301–313; Christopher H. Johnson, Siblinghood and the Emotional Dimensions of the New Kinship System, 1800– 1850: A French Example, in: ders. u. David Warren Sabean (Hg.), Sibling Relations and the Transformation of European Kinship 1300–1900, New York/Oxford 2011, 189–220; Elisabeth Joris, Kinship and Gender: Property, Enterprise, and Politics, in: Sabean/Teuscher/Mathieu, Kinship in Europe (wie Anm. 15), 231–257.
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Territorien festgelegte, vielfach liberalere Regelungen gegenüber.54 Selbst wenn nach kanonischem Recht die Grenze des vierten Grades für die katholische Welt im Prinzip zumindest universale Geltung hatte und die Dispensvergabe durch eine Fülle von ebenso zentralistisch von Rom aus vorgegebenen Regelungen normiert war, konnte deren Umsetzung in der Praxis und die Wahrscheinlichkeit, eine Dispens in einem sehr nahen Grad zu erhalten, in den einzelnen Diözesen beträchtlich variieren. Dies konnte von der politischen Situation vor Ort abhängen wie auch von der in den bischöflichen Konsistorien vertretenen Milde bzw. Strenge oder von der wechselnden päpstlichen Dispenspolitik. Ebenso spielten Art und Ausmaß, in denen ziviles Recht anderslautende Bestimmungen vertrat, eine Rolle und damit sowohl die konkreten kirchlichen als auch die säkularen Verwaltungsabläufe in den Dispensverfahren. Wesentlich für den positiven Ausgang konnte gleichermaßen der persönliche Einsatz jener Geistlichen und/oder Beamten sein, die ein Dispensansuchen vertreten und befördern sollten, wie die Beharrlichkeit eines heiratswilligen Paares.55 Zu einer komplexen Gemengelage führten die in Österreich mit dem Ehepatent Joseph II. von 1783 eingeführten Dispensbestimmungen. Diese reduzierten die Dispenspflicht auf den zweiten Grad. Jenseits des zweiten Grades war also keine Dispens mehr nötig, Paare sollten einfach heiraten können. Bezüglich der noch verbleibenden Eheverbote im ersten und zweiten Grad sah das Ehepatent vor, dass die Bischöfe um die entsprechenden Dispensen nicht länger bei den päpstlichen Stellen in Rom ansuchen durften, sondern diese selbst erteilen mussten. Dadurch würden, so lautete ein Argument, Geldflüsse ins Ausland entfallen. Vor allem aber zielte diese Politik in einem staatskirchlichen Sinn auf eine Stärkung der Position der Bischöfe gegenüber Rom ab. Dies traf sich mit den episkopalistischen Bestrebungen, welche die rheinischen Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier und auch der Erzbischof von Salzburg länger schon vertraten. Nicht alle Bischöfe jedoch nahmen in jener Zeit eine dezidiert rom- und papstkritische Haltung ein. Diese gerieten durch die josephinischen Neuerungen in einen Konflikt. Denn die Forderung, in den nahen Graden selbst zu dispensieren, wäre, der innerkirchlichen Logik zufolge, nur auf Grundlage einer von Seiten des Papstes erteilten Vollmacht
54 Auf strenges Vorgehen in manchen Schweizer Kantonen verweist Anne-Lise Head-König, Forced Marriages and Forbidden Marriages in Switzerland: State Control of the Formation of Marriages in Catholic and Protestant Cantons in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Continuity and Change 8 (1993), 441–465. 55 Vgl. ausführlich dazu Margareth Lanzinger, Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2015.
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legitim gewesen.56 Welche Folgen dies auf der Ebene der Verwaltung und für jene Paare hatte, die davon betroffen waren, soll ausgehend von der besonders stark an Rom orientierten und den staatlichen Eingriffen gegenüber daher tendenziell grundsätzlich abweisend eingestellten Diözese Brixen und ihrer Nachbardiözesen aufgezeigt werden.57 Im Zentrum stehen dabei die unmittelbar auf die Einführung des Ehepatents folgenden Jahre. Dieser Zeitraum ist deshalb besonders interessant, weil er von großer Unsicherheit in den Verwaltungsabläufen und bezüglich des Ausgangs der Dispensverfahren geprägt war. Denn nun waren die politischen Landesstellen in den einzelnen österreichischen Ländern mit den Dispensagenden betraut. Sie fungierten als Drehscheibe der Kommunikation zwischen den bischöflichen Konsistorien, den Kreisämtern und Landgerichten sowie der Hofkanzlei in Wien. Die im Untersuchungsraum zuständige Landesstelle hatte ihren Sitz in Innsbruck. Ihr unterstanden im 18. Jahrhundert die nicht zum fürstbischöflichen Territorium gehörigen Teile der Diözesen Brixen und Trient,58 ein auf Tiroler Gebiet liegender Teil der Diözese Salzburg, des Weiteren kleinere Teile der Diözesen Augsburg, Freising, Chur, Konstanz und Chiemsee, die territorial ebenfalls zu Tirol gehörten. In Innsbruck begutachteten und behandelten in diesen ersten Jahren nach Inkrafttreten des Ehepatents die ursprünglich für die administrativen Abläufe in Zusammenhang mit Klosteraufhebungen eingesetzte Geistliche Kommission59
56 Vgl. Margareth Lanzinger, Staatliches und kirchliches Recht in Konkurrenz. Verwandten ehen und Dispenspraxis im Tirol des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 20, 2 (2011), 92–105. 57 Die hier präsentierten Ergebnisse wurden im Rahmen des vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Hertha Firnberg-Projekts (2005–2007) und des Elise Richter-Projekts (2008–2011) erarbeitet. 58 Sowohl aus den Einträgen der Dispensregister der Diözese Brixen als auch aus Ansuchen geht hervor, dass die Regelungen des Ehepatents im eigenen fürstbischöflichen Herrschaftsbereich bis zu dessen Säkularisierung Anfang des 19. Jahrhunderts keine Anwendung fanden. 59 Die auf Grundlage des Hofkammerdekrets vom 31. Januar 1782 eingerichtete Geistliche Kommission sollte jede Woche eine oder, sofern es die Umstände erforderten, zwei Sitzungen abhalten und die Protokolle an die k. k. Hofkammer in Wien senden. Die in den Protokollen aufscheinenden Agenden diversifizierten sich relativ rasch und schlossen so auch Anfragen rund um Ehedispensen mit ein. Ab 1786 sind Dispensangelegenheiten dann in gesonderten Beständen archiviert. Vgl. Tiroler Landesarchiv (TLA) Innsbruck, Protokolle der Geistlichen Commissions-Sachen vom 21. Februar 1782 bis 19. Februar 1783, Eintrag am Beginn des Bandes.
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sowie das Fiskalamt und manchmal auch noch weitere Ämter im staatlichen Auftrag die Ehedispensansuchen.60 Relativ unklar war in diesem neuen Verwaltungszusammenhang, was die staatlichen Organe als Dispensgrund anerkennen würden, denn die kirchlichen, so genannten kanonischen Dispensgründe galten nicht mehr. Vorausgeschickt werden kann, dass das, was unter staatlichen Gesichtspunkten und das, was die betroffenen Paare unter lebensweltlichen Gesichtspunkten als ausreichende Begründung für eine Eheschließung zwischen Verwandten erachteten, beträchtlich divergierte.
4. Der „allgemeine Nutzen“ als staatlicher Dispensgrund Die staatliche Dispenspolitik und Dispenspraxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts orientierte sich vornehmlich an einer Bestimmung des Decretum Tametsi des Konzils von Trient, nämlich an der publica causa. Diese Bezugnahme kann als paradigmatisch für die Ehegesetzgebung Joseph II. gewertet werden, die zwar aus Sicht der romtreuen Geistlichkeit radikale Änderungen festschrieb,61 sich letztlich aber doch nicht konsequent von kirchlich-religiösen Grundlagen zu lösen vermochte. Ein knappes Jahr vor Einführung des Ehepatents hatte eine kaiserliche Verordnung bezüglich der Dispensvergabe in den nahen Graden bereits den Bezug zum tridentinischen Dekret hergestellt und festgehalten, dass im Fall von Ansuchen in den nahen Graden der Umstand, „ob wahrhaft eine solche causa unterwalte, am sichersten allein von der politischen Stelle […] eingesehen, und beurtheilet werden könne“. Daher sollten nahe verwandte und verschwägerte Paare ihr Dispensansuchen – „zu Vermeidung unnützer Schreibereyen“ – künftig zuerst bei der Landesstelle einreichen, die darüber zu entscheiden hatte, ob die darin genannten Gründe von einer „hinreichenden Erheblichkeit“ waren, bevor das Ansuchen an das bischöfliche Konsistorium weitergeleitet wurde. Die Direktive 60 Ausgewertet wurden für die in diesem Beitrag diskutierten Fragen aus den Beständen des Tiroler Landesarchivs Innsbruck die Protokolle der Geistlichen Kommission von 1782 bis 1786 sowie aus den Beständen des Jüngeren Guberniums die in unterschiedlichen Serien – bis 1785 unter „Ecclesiastica“, dann bis 1793 unter „Placetum Regium“ und in der Folge unter „Ehesachen“ – archivierten Dispensansuchen. Für Brixen liegen für diese Zeit auf Diözesanebene nur Dispensregister vor. 61 Deutlichster Ausdruck dieser unentschlossenen Positionierung ist, dass das Ehepatent zwar die Ehe als einen „bürgerlichen Vertrag“ definiert, aber nur hinsichtlich der Rechtsfolgen, nicht in Bezug auf die Eheschließung selbst. Das heißt, dass es weiterhin – bis zum ‚Anschluss‘ im Jahr 1938 – keine Zivilehe gab, dass jedoch für Ehetrennungen und Ehestreitigkeiten nunmehr weltliche Gerichte zuständig waren.
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lautete, dass jene Ansuchen in den nahen Graden, in denen „nicht evidens ratio boni publici obwaltet, alsogleich ohne weiterem abzuschlagen“ seien.62 Die evidens ratio boni publici, das Kriterium des „öffentlichen Nutzens“, wurde in der Folge für einige Jahre zum ausschlagenden Argument in der relativ strengen Begutachtungstätigkeit der Geistlichen Kommission und des Fiskalamtes in Innsbruck. In den 1790er Jahren finden sich dann nur mehr vereinzelt deren Gutachten im Aktenmaterial, hauptsächlich in jenen Fällen, in denen entgegen der geltenden staatlichen Regelung in Rom um eine Dispens angesucht werden sollte. In dieser Zeit lag die primäre Entscheidung über das Vorhandensein ausreichender Dispensgründe einer neuen Verordnung gemäß wiederum bei den Bischöfen. Diese wenigen Jahre öffnen damit ein Fenster und geben den Blick auf widerstreitende Vorstellungen des „öffentlichen Nutzens“ frei – je nachdem, ob die Argumente von der Logik häuslicher Ökonomie bzw. Organisation oder von jener des staatlichen Interesses geleitet waren. Dies vereinfachte das Erlangen einer Dispens keineswegs, was eigentlich eine der Intentionen der josephinischen Reformen in diesem Bereich gewesen war. Die Frage, ob die evidens ratio boni publici in dem einen oder anderen Dispensansuchen obwalte, ob – so die Übersetzung – die geplante Eheschließung das „gemeine Wohl des Staates“ befördern würde,63 ließ Interpretationsspielraum offen. Etwas an Kontur verlieh diesem nunmehr einzig gültigen Dispensgrund allenfalls dessen Gegenteil, worunter die damit befassten staatlichen Organe den „bloßen privat-Nutzen“ verstanden – und das Ansuchen ablehnten.64 In manchen Fällen klingt unmissverständlich an, worin die Paare aus ihrer Sicht das Staatswohl vermuteten. Das Ansuchen des Siegelamtskontrollors Johann Peter von Tausch beispielsweise war damit begründet, dass ein Vermögen von 8.000 Gulden „auser Land gehen könnte“, sollte die beantragte Ehe nicht zustande kommen. Denn bliebe die Braut unverheiratet und würde sie ohne Erben sterben, würde das Vermögen ihren Verwandten in Bayern zufließen. Die Geistliche Kommission begutachtete das Ansuchen positiv und sprach eine Empfehlung aus. Der nächsthöheren Stelle in Innsbruck jedoch erschienen die angeführten Begründungen – der Bräutigam war zudem Witwer und hatte ein kleines Kind – nicht ausreichend, sodass sie die Frage, wie in diesem Fall vorzugehen sei, in einem sehr ausführlichen Schreiben 62 Verordnung in Publico Ecclesiasticis Nr. 179 vom 11. Mai 1782, in: Sammlung der Kaiserlich-Königlichen Landesfürstlichen Gesetze und Verordnungen in Publico-Ecclesiasticis vom Jahre 1767 bis Ende 1783, Wien 1782, 205–206. 63 Vgl. TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1786, Nr. 8. 64 Gutachten des Johann de Lama vom 17. Juli 1786, TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1786, Nr. 8.
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an die Hofkanzlei in Wien weiterleitete. Diesem lag ein vom Stadtrichter aus Klausen, jenes Ortes, in dem die Braut wohnte, ausgefertigtes Zeugnis bei, welches die geschilderten Vermögensverhältnisse bestätigte. Die Hofkanzlei in Wien teilte lapidar mit, dass das Ansuchen abzuweisen sei.65 Mehr Glück hatte Joseph Anton Rist aus Heimenkirch – damals zur vorderösterreichischen Herrschaft Bregenz-Hohenegg gehörig –, der mit der Witwe seines Onkels Theresia Dempflin eine Ehe eingehen wollte. Er war wie sein verstorbener Onkel, der im bayerischen Allgäu gelebt hatte, im Fuhrwesen tätig. Auch sei zu erwarten, dass die Witwe „eine seinem Wirthschaftsgewerbe ausnehmend zuträgliche Hauswirthin“ sei. Vor allem aber hatte die Witwe ein Vermögen von 10.000 Gulden, das durch die Heirat „in das Oesterreichische Gebieth eingebracht werden“ würde, wodurch „die Masse des innländischen steuerbahren Vermögens einen Zuwachs“ erhielte. „Mit der Witwe würde auch das Fuhrwerk seines Oheims in das Land hereingezogen“ und die beiden Fuhrwerke vereinigt werden. „Der Nahrungsstand des Vorarlbergischen Unterthans würde durch diese Ausbreitung des Kommerzialfuhrwesens verbessert“ werden und zugleich erhöhten sich die Steuer einnahmen aus der Maut. Würde sich die Witwe anderweitig verehelichen, so sei zu befürchten, dass das „nützliche Fuhrwerk leicht von der hiesigen Landstrasse auf eine andere Seite wenden und den Zug durch das Reich nehmen dürfte“. Die Hofkanzlei in Wien erachtete diese Begründung als ausreichend und ordnete an, dass sich Joseph Anton Rist für die weiteren Schritte an das bischöfliche Ordinariat wenden solle. 66 Dies war im ausgewerteten Quellenbestand des Innsbrucker Guberniums eines der wenigen staatlicherseits positiv begutachteten und auch von der Hofkanzlei in Wien akzeptierten Ansuchen in den auf die Einführung des Ehepatents folgenden Jahren. Erfolg mit ihrem Dispensansuchen hatten auch Graf Felix von Spaur und Gräfin Mariana von Kuen Bellasi, Onkel und Nichte. Sie konnten sich mit ihrem Dispensansuchen nach der positiven Begutachtung durch die politische Landesstelle ebenfalls an das für sie zuständige Ordinariat in Trient wenden. Als „Beweggründe“ sind in deren Ansuchen genannt, dass sie erstens kein großes Einkommen hätten, sodass der Bräutigam kaum eine reiche „Parthie“ und die Braut mit ihrem nur mäßigen Heiratsgut schwerlich eine andere „anständige“ Gelegenheit zur Heirat bekommen könne. Zweitens verspreche man sich von „dieser gleichen Vereinigung“ umso sicherer eine beiderseitige „Zufriedenheit und Beruhigung“, aus der drittens „die gute Wirtschaftsführung und die übrigen Ehestands-Vortheile von 65 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1788, Nr. 1. 66 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1789, Nr. 18.
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selbst fließen würden“, insbesondere, da viertens kein großer Altersunterschied zwischen ihnen bestehe und sie fünftens von einer sicheren Dispenszusage vonseiten des zuständigen Bischofs ausgingen.67 Das gräfliche Paar hatte sich mit seinen Dispensgründen zum Teil an der kirchlich-kanonischen Logik orientiert, indem es mit der mäßigen Mitgift der Braut argumentierte und die sich daraus ergebende Schwierigkeit einer anderweitigen standesgemäßen Heirat geltend machte. Insgesamt mussten sie sich nicht besonders anstrengen in dem Dispensverfahren. Was in diesem Fall zählte, waren weniger wohldurchdachte Begründungen als vielmehr der soziale Status des Brautpaares. Das Privileg Adeliger auf Ehedispensen in nahen Graden wirkte so auch unter den Vorzeichen eines ‚aufgeklärten‘ Staates weiter fort. Wie einige Fälle aus dem 19. Jahrhundert in den ausgewerteten Dispensakten zeigen, bedurfte es vonseiten Adeliger keiner ausführlichen Argumentation, um eine Dispens zu erlangen. Selbst die unter den Bischöfen sehr umstrittene Paarkonstellation Onkel-Nichte, der nächstmögliche Grad einer Eheschließung in der Blutsverwandtschaft, stellte in diesen Kreisen offensichtlich kein Problem dar. Als aussichtslos erwies es sich hingegen, wenn Paare aus anderen sozialen Milieus in ihren Bittbriefen versuchten, explizit in Richtung des „öffentlichen Nutzens“ zu argumentieren. Anton Firler, ein Bauernknecht, der die Witwe seines Onkels heiraten wollte, schrieb, dass sie zusammen 3.000 Gulden an Kapital zusammenbringen würden, womit sie die „Wohlfahrt“ der fünf vaterlosen Kinder sicherstellen könnten. Die Witwe habe zudem wenig Aussicht auf eine andere, ihren Umständen angemessene Heirat. Er habe sich alle für das Fortführen des landwirtschaftlichen Betriebes nötigen Kenntnisse im Acker- und Weinbau angeeignet. Bezüglich seines Fleißes berief er sich auf das Zeugnis „seiner geistlichen und weltlichen Vorstehung“. Schließlich verwies er auf seine gute Erziehung und schloss: „Aus allen bisher angeführten Umständen macht sich Unterzeichneter die angenehme Vorstellung, daß selbst die Rücksicht auf das allgemeine Wohl diese seine ehrfurchtsvollste Bitte unterstütze; indem es dabey neben anderen auf die Erhaltung mancher Grundstücke in fruchtbaren Stande; auch zugleich auf die Bildung mehrere Kinder zu nützlichen Weltbürgern ankomme.“ Spätestens aus diesem letzten Passus mit dem expliziten Verweis auf „das allgemeine Wohl“ sowie mit dem Bezug auf wirtschaftliche Prosperität und auf die „nützlichen Weltbürger“ wird deutlich, dass das Paar professionelle Hilfe beim Abfassen des Ansuchens in Anspruch genommen hat und die Formulierungen entlang der vermuteten Erwartungshaltung der adressierten Verwaltungsorgane gestaltete. 67 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1789, Nr. 40.
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Das Kreisamt Bozen sandte das Ansuchen mit dem knappen Vermerk, dass die Gewährung der Bitte, das Ansuchen weiterzuleiten, einzig auf Gnade beruhe, zwar nach Innsbruck weiter. Dort wurde es mit der Begründung, dass es mit „keinen hinlänglichen Gründen unterstützt“ sei, jedoch abgewiesen.68 Ähnlich erging es Anton Wopfner, einem Rotgerbermeister, der um eine Dispens im ersten Grad der Schwägerschaft ansuchte, um die Witwe seines verstorbenen Bruders heiraten zu können. Er begründete sein Vorhaben damit, dass er auf diese Weise das Lederhandwerk sowie die daran angeschlossene Handlung übernehmen und damit den Unterhalt der Witwe und ihrer zwei Kinder sicherstellen könne. Die im Lederhandel erfahrene Witwe würde ihn dabei zudem tatkräftig unterstützen. Sollte die Ehe nicht zustande kommen und er sich anderweitig verehelichen, müsste die Witwe mit den beiden Kindern das Haus verlassen. Er müsste letzteren das väterliche Erbe ausbezahlen, wäre dann aber kaum mehr in der Lage, den Betrieb fortzuführen, woran „doch dem Publiko sehr gelegen wäre“. Unverehelicht könne er mit der Witwe „wegen bereits beschehener Liebeserklärung“ nicht gemeinsam „schicksam“ weiterarbeiten wie bisher. Trotz des expliziten Verweises auf den „Publiko“ befand das Gutachten der politischen Landesstelle kurz und bündig: Es handle sich hierbei um den ersten Grad der Schwägerschaft, doch sei „kein offenbarer Grund zur Dispens in Absicht auf das wirkliche gemeine Wohl vorhanden“. Daher sei der Bittsteller mit seinem Gesuch „nach der bestehenden höchsten Vorschrift“ abzuweisen.69 Wie hier, ging es in den Ansuchen von Bauern, Handwerkern oder (Klein-) Gewerbetreibenden zumeist um das durch die geplante Heirat begünstigte wirtschaftliche Fortkommen und um möglichst gute Voraussetzungen für das Weiterführen der Landwirtschaft oder des Betriebes aufgrund einschlägiger beruflicher Sozialisation, Erfahrungen und Kompetenzen beider Brautleute. Bei gewünschten Verbindungen von Schwager und verwitweter Schwägerin standen oft zusätzlich Besitz- bzw. Erbansprüche oder -interessen der Familie des verstorbenen Mannes dahinter sowie die Erwartung einer verlässlichen Betreuung und guten Erziehung etwaiger Kinder der Witwe oder des Witwers. Das „gemeine Wohl“ oder den „öffentlichen Nutzen des Staates“ vermochten die damit befassten Beamten darin jedoch nicht zu sehen. Dies könnte damit zu erklären sein, dass parallel zur Kontinuität der Privilegierung von Adeligen bei Dispensansuchen ein Denken in Standeskategorien, das heißt die Auffassung von Verwandtenheiraten in den nahen Graden als aristokratisches Ehemodell, weiter fortwirkte. Dass es Vorbehalte bei 68 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1788, Nr. 4. 69 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1786–1789, lfd. Fasz. Nr. 1621, 1788, Nr. 24; Hervorhebung der Verfasserin.
Verwandtenheirat – ein aristokratisches Ehemodell? 163
den zuständigen Amtsträgern gegenüber den sich quer durch das soziale Spektrum ausweitenden Eheprojekten in den nahen Graden gab, zeigt ein Dispensfall aus dem Jahr 1798: das Ansuchen des Bauern Jakob Mutschlechner und dessen Cousine Agnes Harrasserin. Das um seine Einschätzung befragte Kreisamt Bruneck wollte dieses nicht befürworten, denn eine solche Dispenserteilung sei „bey dem Bauernstande“ weder grundsätzlich noch „wegen des großen Aufsehens“, das daraus entstehen würde, ratsam.70 In dieser ständischen Denkungsart ist ein grundlegender Widerspruch des so genannten „aufgeklärten Absolutismus“ zu sehen,71 der die staatlichen Bürokratien im ausgehenden 18. Jahrhundert durchdrungen hat. Eine Änderung der Verfahrensabläufe im Gefolge des Hofdekrets vom 8. Februar 1790, das die Erklärung der Bischöfe erforderlich machte, dass sie aus eigener Vollmacht dispensieren würden und zugleich den Landesstellen auftrug, bei einer entsprechenden Zusage die landesfürstliche Eheerlaubnis ohne Weiteres zu erteilen, setzte dieser Art der staatlich organisierten Begutachtung – wie sich auch aus dem Inhalt der Akten erschließen lässt –, ein Ende. Das „gemeine Wohl“ tauchte da und dort weiterhin in Empfehlungsschreiben und Berichten auf, verlor aber seinen Rang als ausschlaggebendes Kriterium. Trotz der verbleibenden Schwierigkeiten, die mit der Konkurrenz zwischen Kirche und Staat in Dispensfragen zusammenhingen – auf die in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden kann72 –, ebnete der Rückzug des Staates aus der Begutachtung der Ansuchen für so manches verwandte Paar den Weg zu einer Dispens: so auch für Johann Peter von Tausch, der 1790 in einem neuerlichen Anlauf von der Hofkanzlei in Wien die Erlaubnis erhielt, in Rom um eine Dispens ansuchen zu dürfen.73 Die in den 1780er Jahren um eine Ehedispens ansuchenden nahe verwandten und verschwägerten Paare gerieten unweigerlich in die Mühlen der nach unterschiedlichen Logiken agierenden kirchlichen und staatlichen Bürokratien und waren dementsprechend mit Unwägbarkeiten konfrontiert. Die administrativen 70 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 64, Ehesachen, Fasz. 314, 1798, Nr. 156. 71 Vgl. dazu Helmut Reinalter, Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus – ein Forschungsproblem? Gesellschaftlicher Strukturwandel und theresianisch-josephinische Reformen, in: Wolfgang Schmale, Renate Zedinger u. Jean Mondot (Hg.), Josephinismus – eine Bilanz / Échecs et réussites du Joséphisme, Bochum, 2008, 19–33, 30. Er schreibt bezüglich des genannten Widerspruchs: „Während die Aufklärung zumindest ansatzweise zur Überwindung ständischer Strukturen tendierte, beruhte der Absolutismus auf ständischen Strukturen und konservierte diese noch.“ 72 Vgl. dazu Lanzinger, Staatliches und kirchliches Recht (wie Anm. 56). 73 TLA Innsbruck, Jüngeres Gubernium, Hauptgruppe 57 Placetum Regium, 1790–1793, lfd. Fasz. Nr. 1622, 1790, Nr. 17 und Nr. 21.
164 Margareth Lanzinger
Abläufe wurden in dieser Zeit mehrfach geändert und angepasst. Eine Routine wollte sich bis zum Ende des Ancien Régime und in das beginnende 19. Jahrhundert hinein, also über mehr als 20 Jahre lang, nicht wieder einstellen. Vordergründig ging es dabei um einen von mehreren Schauplätzen in dem zwischen Kirche und Staat in der josephinischen Ära ausgetragenen Machtkampf – jedenfalls in Diözesen, die sich weiterhin an Rom orientierten. Die juristische Diskussion jener Zeit drehte sich um die Frage, ob der Landesfürst in Gesetze eingreifen dürfe, die nicht seine Gesetze waren. In Bezug auf die Ehedispensen selbst ging es aber auch um unterschiedliche Vorstellungen bezüglich des Gewichts von Eheverboten, des Ausnahmecharakters von Verwandtenehen und um den Stellenwert der Dispensgnade. Der Sand kam aber nicht nur durch das Zurückdrängen kirchlicher Kompetenzen ins Getriebe der Dispenspraxis, sondern auch dadurch, dass der vonseiten des Staates hauptsächlich geforderte Dispensgrund des „allgemeinen Nutzens“ für die breitere Bevölkerung kaum zu erfüllen war, und zwar deshalb, weil deren Argumente in diese Richtung keine Anerkennung fanden. Die Logiken der politischen Behörden, insbesondere auf den höheren Ebenen des Innsbrucker Guberniums, in den Kreisämtern und in der Wiener Hofkanzlei folgten anderen Vorstellungen als den Nöten und Bedürfnissen der Männer und Frauen, die ein Ansuchen stellten, auch wenn diese primär auf ökonomische Argumente setzten. Ansuchen und Bittbriefe bilden nicht einfach lebensweltliche Situationen ab, sondern fokussieren in eine bestimmte Richtung und sind daher immer als strategische Kommunikation zu lesen, die sich an den Adressaten orientiert und an deren vermuteter Erwartungshaltung. Mit wirtschaftlichen Erwägungen dürften die Ansuchenden die Hoffnung verbunden haben, damit den Voraussetzungen für eine Dispens nachkommen zu können. Das Problem war, dass die damit befassten Behörden diese Sicht nicht teilten.
5. Schluss Wie passen nun die beiden ‚Geschichten‘ zusammen? Der Blick auf die Verbote der Verwandtenheirat im Mittelalter ist geprägt von zwei Perspektiven: der einen, die der Kirche Besitzinteressen und die Absicht, die Macht verwandtschaftlicher Verbände zu durchbrechen, zuschreibt, indem sie Verwandtenheiraten zu verhindern suchte, und der anderen, die diesbezüglich religiös konnotierte Reinheitsvorstellungen geltend macht und eine Stärkung der Position des Ehepaares gegenüber der Verwandtschaft als Movens von Seiten der Kirche annimmt. In einem gewissen Widerspruch dazu steht die bislang kaum in diesem Zusammenhang
Verwandtenheirat – ein aristokratisches Ehemodell? 165
thematisierte Privilegierung des Adels und sozial höher stehender Kreise, wenn es um die Erteilung von Dispensen geht, mit deren Hilfe ein Eheverbot aufgehoben werden konnte. Zweifelsohne ist die Chronologie in Rechnung zu stellen: Das entsprechende tridentinische Dekret stammt nicht aus dem Mittelalter, sondern aus dem 16. Jahrhundert. Jedoch scheint der betreffende Passus keine radikale Neuerung gebracht, sondern vielmehr bestehende Praxis bestätigt zu haben. Unter dieser Privilegierungsperspektive könnte es sich daher lohnen, aus mediävistischer Sicht nochmals neu in die Debatte einzusteigen. Bezogen auf das Narrativ des sich im ausgehenden 18. Jahrhundert herausbildenden liberalen Staates hat sich für Österreich zum einen gezeigt, wie eng abgesteckt der Entscheidungsrahmen ziviler Behörden in dieser Sache sein konnte, sodass die Kirche mit den klassischen kanonischen Dispensgründen – trotz restriktiver Phasen auch noch im 19. Jahrhundert – gegenüber dem Staat im Endeffekt für nahe verwandte oder verschwägerte Brautpaare ein kalkulierbareres Gegenüber dargestellt hat. Das staatliche Ziel, den Zugang zu einer Dispens zu erleichtern, wurde damit klar verfehlt. Zum anderen entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass gerade in der Zeit eines hart geführten Machtkampfes, im Zuge dessen der josephinische Staat bestrebt war, die Kompetenzen der Kirche zurückzudrängen, die zivilen Behörden ein kirchliches Dekret als Handlungsgrundlage vorgelegt bekamen, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge: Das öffentliche Interesse rangierte in der Dispensbegünstigung hier vor den hochadeligen Familien. Damit begegnet auch in diesem Bereich die zeittypische und nachhaltig wirksame Trennung zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ – die Ehe und Verwandtschaft in diesem Fall allerdings einen ‚öffentlichen‘ Rang zuwies. Zugleich blieb eine ständisch orientierte Denkart weiterhin unübersehbar präsent: Dem Beamten im Kreisamt erschien der Umstand, dass nun selbst ein Bauer seine Cousine heiraten wollte, als ein Anlass, der Aufsehen erregen würde, also eine Überschreitung darstellte. Die angesichts der im Laufe des 19. Jahrhunderts steigenden Zahl von Ansuchen herausgeforderte Kirche beharrte in ihrem Versuch, Verwandtenheiraten einzubremsen, auf Argumenten, für die sich ebenfalls lange Vorgeschichten rekonstruieren lassen: Ihr ging es um „Sittlichkeit“ – also darum, Sexualität aus dem sozialen Nahbereich der Verwandten und Verschwägerten möglichst herauszuhalten – sowie um das – nicht zuletzt unter einem Verteilungsaspekt – befürwortete Einbeziehen von ‚Fremden‘ in den Kreis der Familie und Verwandtschaft mittels Eheschließung, aber zunehmend explizit auch um das Abwenden negativer Folgen. Die Warnungen beschränkten sich dabei nicht auf potenzielle gesundheitliche Gefährdungen der Kinder, auf Kinderlosigkeit oder erhöhte Kindersterblichkeit; kirchliche Repräsentanten gingen so weit, einen unglücklichen Verlauf solcher Ehen zu prognostizieren. Aber auch
166 Margareth Lanzinger
allzu vordergründig ökonomisch argumentierende Paare riskierten eine Abweisung ihres Dispensansuchens. Diese komplexe Gemengelage tut sich nur unter einer Perspektive der Nähe auf, die staatliche und kirchliche Positionierungen in Beziehung zueinander setzt, ebenso wie Diskurse um Eheverbote und die Logiken der Dispenspraxis.
167
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Jürgen Schlumbohm
Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), das im Jahre 1900 im Deutschen Reich in Kraft trat, galt das uneheliche Kind als nicht verwandt mit seinem leiblichen Vater; nur zu Unterhaltszahlungen war dieser ihm verpflichtet. Gegenüber der Mutter und deren Verwandten hatte es hingegen „die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes“.1 Wie sahen die Verwandtschaftsbeziehungen unehelicher Kinder ein Jahrhundert vor der großen Kodifikation aus? Die Rechtslage in verschiedenen deutschen Territorien und die Debatten der Juristen sind relativ gut erschlossen.2 Anders steht es um die Praxis, die gelebten Beziehungen der beteiligten Kinder, Frauen und Männer. Hier ist die Quellenbasis für Aussagen, die über den Einzelfall hinausreichen, problematisch, zumal wenn es um Perioden geht, die weder durch Interviews erhellt werden können noch eine Vielzahl von Selbstzeugnissen hinterlassen haben.3 Aufschluss versprechen am ehesten Mikrostudien, die eine Vielzahl von Quellen zu einzelnen Personen und Familien kombinieren. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die Stadt Göttingen und ihr weiteres Umland. Herangezogen werden vor allem die personenbezogenen Akten des Entbindungshospitals der Universität; hinzu kommen Erhebungen der Göttinger Armenverwaltung und Polizei sowie Gerichtsakten von Vaterschaftsprozessen. Zu einigen Aspekten wird ein vergleichender Blick auf die Ergebnisse anderer Mikrostudien geworfen. 1
2
3
BGB §§ 1705–1708: http://de.wikisource.org/wiki/B%C3%BCrgerliches_Gesetzbuch (Aufruf am 07.11.2012); vgl. Sybille Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900 bis 1970, Göttingen 2004, 73ff. Gertrud Schubart-Fikentscher, Die Unehelichen-Frage in der Frühzeit der Aufklärung, Berlin 1967; Beate Harms-Ziegler, Illegitimität und Ehe. Illegitimität als Reflex des Ehe diskurses in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1991. Für die Zeit seit dem späten 19. Jahrhundert: „Als lediges Kind geboren …“. Autobiographische Erzählungen 1865–1945, Wien 2008; Michael Mitterauer, Verwandte als Eltern. Familienbeziehungen von Ziehkindern im Ostalpenraum, in: Margareth Lanzinger u. Edith Saurer (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 99–115; Christa Hämmerle, „La recherche de la paternité est interdite“. Ledige Väter um 1900 im Spannungsverhältnis von Recht und populärer Autobiographik, in: Josef Ehmer, Tamara K. Hareven u. Richard Wall (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Michael Mitterauer zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M./ New York 1997, 197–227; in Romanform: Franz Innerhofer, Schöne Tage, Salzburg 1974.
168 Jürgen Schlumbohm
1. Ledige Mütter im Entbindungshospital Bei den mehr als 3.500 Entbindungsfällen, die von 1791 bis 1829 im Göttinger Hospital vorfielen, gaben 2,2 % der Patientinnen an, verheiratet zu sein; 1,5 % bezeichneten sich als Witwen, eine als geschieden. Doch auf die Frage nach dem Kindsvater benannten die meisten Witwen und ein Viertel der Verheirateten einen anderen als den Ehemann. Demnach waren 98,0 % der in der Anstalt geborenen Kinder unehelich.4 Laut ihren Berufsangaben waren die Patientinnen eine sehr homogene soziale Gruppe (siehe Tab. 1). Über 90 % arbeiteten als Dienstmädchen oder Magd in einem städtischen oder ländlichen Haushalt. Die übrigen leisteten speziellere häusliche Dienste als Köchin, Kindermädchen, Amme oder dergleichen (3 %), waren in Textilberufen (2 %) oder als Tagelöhnerin (1 %) tätig. Nur von vier Frauen meinte der Direktor, dass sie „öffentliche Huren“ seien. Tabelle 1: Berufe der Patientinnen des Göttinger Entbindungshospitals, 1795–1814 Beruf
Zahl
% aller Patientinnen
% der Patientinnen mit Berufsangabe
Dienstmädchen, Magd u. ä.
903
67,9
92,7
Spezielle häusliche Dienste
27
2,0
2,8
Textil: Spinnerin, Näherin u. ä.
22
1,7
2,3
Tagelöhnerin, Arbeiterin
11
0,8
1,1
4
0,3
0,4 0,7
Prostituierte Sonstige Ohne Angabe Summe
7
0,5
355
26,7
1.329
100,0
Quelle: Bibliothek der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen: Archiv materialien aus dem Bestand der Universitäts-Frauenklinik der Universität Göttingen (=AUFK Gö), A 1–8 (Tagebücher, Bd. 4: 1795–97, Bd. 6–7: 1799–1802, Bd. 10–14: 1806–14).
4
Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012, hier 282; vgl. ders., „Verheiratete und Unverheiratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin“. Die Patientinnen des Entbindungshospitals der Universität Göttingen um 1800, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.), Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Stuttgart 1997, 324–343.
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 169
Tabelle 2: Berufe der Väter der Patientinnen des Göttinger Entbindungs hospitals, 1795–1814 Bereich
Beruf
Land- und Forstwirtschaft
Zahl
13,6
Ökonom, Verwalter, Förster u. ä.
14
2,0
Bauer, Ackermann
43
6,0
9
1,3
Gärtner Hirt, Knecht, Feldhüter u. ä. Gewerbe
31 319
4,3 44,6
Ingenieur, Steiger
6
Bergmann, Hüttenmann u. ä.
8
1,1
299
41,8
Handwerker Manufakturarbeiter u. ä. Häusliche Dienste
1,1
6 24
Kaufmann, Krämer, Wirt u. ä. Schiffer, Fuhrmann Amtsträger
0,8 2,0
8
Einfache Dienste: Bedienter u. ä. Handel, Transport etc.
0,8
6 14
Spezielle Dienste: Koch, Kutscher u. ä.
0,8 3,4
15
2,1
9
1,3
39 Inspektor, Sekretär, Schreiber u. ä.
5,5 13
1,8
(Stadt-)Musikant
9
1,3
Einfacher Dienst
17
2,4
Intelligenz
25
3,5
Professor, Pastor, Arzt, Chirurg, Notar u. ä.
11
Lehrer, Schulmeister u. ä.
12
1,7
2
0,3
Student Militär
93 Offizier
1,5
13,0 7
1,0
Unteroffizier u. ä.
14
2,0
Soldat, Invalide u. ä.
72
10,1
Sonstige
104 Tagelöhner
14,5 103
Scharfrichter
14,4
1
Summe
715
Keine Angabe
614
Quelle: Wie bei Tab. 1.
%
97
715
0,1 100,0
100,0
170 Jürgen Schlumbohm
Breiter streuten die Berufe der Väter der Patientinnen (siehe Tab. 2). Handwerker waren mit zwei Fünfteln die größte Gruppe; selten wurde zwischen Meistern und Gesellen unterschieden. Die ‚ärmeren‘ Handwerke wie Schuhmacher, Schneider und Leineweber wurden am häufigsten genannt. Als Gruppen fallen noch ins Gewicht die Töchter von Tagelöhnern (14 %), Soldaten (10 %), Bauern (6 %) sowie Hirten, Knechten u. ä. (4 %). Überwiegend deuten die Angaben der Frauen also auf eine Herkunft aus der Unter- oder der unteren Mittelschicht. Doch bisweilen kamen auch Pastoren-, Professoren-, Arzt- und Offizierstöchter (3 %) in das Gebärhaus; einige von ihnen räumten freilich ein, dass sie außerhalb der Ehe geboren waren.
2. Verhältnis des unehelichen Kindes zu seinem Vater Den Berufsangaben nach gehörten die meisten Kindsväter der gleichen Schicht an wie die Mütter (siehe Tab. 3). Annähernd ein Drittel scheinen Handwerksgesellen gewesen zu sein; Soldaten (18 %) und Knechte (9 %) stellten die nächstgrößten Gruppen. Da Gesellen, Soldaten und Gesindepersonen in der Regel unverheiratet waren, werden die Frauen die Beziehung meist mit der Hoffnung auf eine Eheschließung aufgenommen haben. Soldaten brauchten zur Heirat allerdings die Zustimmung ihres Regimentschefs. Etwa ein Zehntel der angegebenen Väter zählte jedoch zu einem höheren Stand als die große Mehrheit der Mütter. Das gilt insbesondere für die Studenten (4 %), Offiziere (3 %) sowie Pastoren, Ärzte, Notare und sonstige Honoratioren (2 %). Ein weiteres Zehntel der unehelichen Kindsväter gehörte einem Stand an, für den in der Regel die Eheschließung Voraussetzung war, so die Bauern (3 %), die Kaufleute, Krämer, Wirte (3 %) und die Handwerksmeister (mindestens 2 %). Sofern sie nicht verwitwet waren (der Familienstand ist selten angegeben), bestand in diesen Beziehungen also keine Aussicht auf Heirat. Nicht selten werden dabei Abhängigkeitsverhältnisse im Spiel gewesen sein; weibliches Gesinde war oft Übergriffen der ‚Herrschaft‘ ausgesetzt. Wie wurde der uneheliche Vater ermittelt? In verschiedenen Ländern war es üblich, dass die Hebamme ledige Gebärende auf dem Höhepunkt der Wehen danach fragte. Diese Prozedur bedeutete eine Pein für die Kreißende, wenn die Hebamme bis zum ‚Geständnis‘ die Hilfe verweigerte und wenn diese Behandlung darauf zielte, ‚Unzucht‘ zu bestrafen und Unterstützungszahlungen von der Armenkasse abzuwehren. In anderen Kontexten aber half dieses Verfahren der ledigen Mutter, ihre Ansprüche gegen den Vater durchzusetzen; denn vielerorts maß man der im Augenblick der heftigsten Schmerzen gemachten Aussage
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 171
Tabelle 3: Berufe der Männer, die von Patientinnen des Göttinger Entbindungs hospitals als Väter ihrer Kinder angegeben wurden, 1791–1829 Bereich
Beruf
Land- und Forstwirtschaft
Zahl
%
492 Ökonom, Verwalter, Förster u. ä.
15,1 41
1,3
108
3,3
Gärtner
30
0,9
Hirt, Feldhüter u. ä.
36
1,1
277
8,5
Bauer, Ackermann
(Acker-, Bauern-) Knecht Gewerbe
1.191 Bergmann, Hüttenmann u. ä. Handwerker (ohne Angabe, ob Meister oder Geselle)
36,4 16
0,5
611
18,7
(Handwerks-)Meister
60
1,8
(Handwerks-)Geselle
502
15,4
Manufakturarbeiter u. ä. Häusliche Dienste
2 194
Spezielle Dienste: Koch, Kutscher u. ä.
53
Einfache Dienste: Bedienter u. ä. Handel, Transport etc.
1,6
141 151
Kaufmann, Krämer, Wirt u. ä. Schiffer, Fuhrmann Kaufmanns-, Handlungsdiener u. ä. Amtsträger
0,1 5,9 4,3 4,6
104
3,2
26
0,8
21 124
0,6 3,8
Inspektor, Sekretär, Schreiber u. ä.
70
2,1
(Stadt-)Musikant
32
1,0
Einfacher Dienst Intelligenz
22 211
Pastor, Arzt, Chirurg, Notar u. ä.
73
Lehrer, Schulmeister u. ä. Student Militär
0,7 6,5 2,2
6
0,2
132
4,0
745
22,8
Offizier
84
2,6
Unteroffizier u. ä.
70
2,1
Soldat, Invalide u. ä. Sonstige
591 161
Graf, Baron, Patrizier, Herr Tagelöhner Summe Keine Angabe Quelle: AUFK Gö, C 1–2 (Aufnahmebuch, Bd.1–2: 1791–1829).
3.269 367
18,1 4,9
9
0,3
152
4,6
3.269
100,0
100,0
172 Jürgen Schlumbohm
Wahrhaftigkeit und rechtliche Geltung zu.5 Im Göttinger Entbindungshospital jedoch wurden die Frauen nicht während der Wehen von der Hebamme oder dem Geburtshelfer gefragt, sondern gewöhnlich erst im Wochenbett vom Verwalter. Aufgrund dieser Angabe wurde der uneheliche Vater im Kirchenbuch registriert, das als Personenstandsurkunde diente, und das Kind führte seinen Nachnamen – es sei denn, er hätte durch einen ‚Reinigungseid‘ die Vaterschaft ‚abgeschworen‘. Auch in etlichen anderen deutschsprachigen Gegenden trugen uneheliche Kinder damals regelmäßig den Familiennamen des Vaters.6 Im Hannoverschen – wie in vielen anderen Gegenden Deutschlands – hatte die Aussage der Gebärenden, selbst auf dem Höhepunkt der Wehen, keine starke Geltung. Die ledige Mutter war vielmehr darauf verwiesen, vor Gericht eine Vaterschaftsklage einzureichen. Dabei ging es vor allem um Zahlungspflichten; die Ansprüche des Kindes auf Unterhalt sowie die Forderungen der Frau nach Erstattung der Entbindungskosten und Entschädigung für die verletzte ‚Geschlechtsehre‘ wurden gewöhnlich zusammen verhandelt. Bestritt der Mann die Aussage der Frau, blieb ihr in der Regel als einziges Beweismittel, ihm einen ‚Reinigungseid zuzuschieben‘. Erfahrene Zeitgenossen gingen davon aus, dass in solchen Verfahren besonders häufig Meineide geschworen wurden.7 In Göttingen war die Möglichkeit, durch eine Vaterschaftsklage Leistungen vom Kindsvater zu bekommen, stark eingeschränkt, wenn es sich um einen Studenten handelte. Zwar benannten nur 4 % aller Hospitalpatientinnen einen Studierenden als Schwängerer (siehe Tab. 3). Doch kamen viele Frauen von auswärts; nur 23 % 5
6
7
Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln 1998, 148ff; Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der frühen Neuzeit, Paderborn 1999, 277f; Eva Sutter, „Ein Act des Leichtsinns und der Sünde“. Illegitimität im Kanton Zürich: Recht, Moral und Lebensrealität 1800– 1860, Zürich 1995, 71, 95, 108ff, 129; Laurel Thatcher Ulrich, A Midwife’s Tale. The Life of Martha Ballard, Based on her Diary, 1785–1812, New York 1990, 149ff; Laura Gowing, Common Bodies. Women, Touch and Power in Seventeenth-Century England, New Haven 2003, 159ff, 186ff. Eitel Georg Kopp, Namensrecht der Unehelichen vor dem Inkrafttreten des BGB in Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin 1959, 44ff; Schlumbohm, Lebendige Phantome (wie Anm. 4), 283, Anm. 24; Ulrike Gleixner, „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit, 1700–1760, Frankfurt a. M./ New York 1994, 65f; Michael Mitterauer, Familienformen und Illegitimität in ländlichen Gebieten Österreichs, in: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), 123–188, hier 140; Josef Klemens Stadler, Der Familienname des unehelichen Kindes in Altbayern, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 9 (1936), 432–439. Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen 1990, 407.
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 173
lebten und arbeiteten in der Universitätsstadt,8 sodass von ihnen immerhin etwa jede sechste mit einem Studenten zu tun hatte. 1793 hatte die Universität bei der Regierung eine Verordnung erwirkt, nach der eine Vaterschaftsklage innerhalb von acht Wochen nach der Geburt einzureichen und ausschließlich vor dem Universitätsgericht zu verhandeln war; keinesfalls konnte der Erzeuger in seinem „Vaterlande“ verklagt werden, und alle außergerichtlichen Vergleiche waren unwirksam, selbst wenn der studierende Vater sie eidlich bekräftigt hatte. Begründet hatten Universität und Regierung diese Regelung damit, dass „schlechte Weibespersonen“ „beträchtliche Summen“ von Studenten erpressten, die nicht als Vater eines unehelichen Kindes bekannt werden wollten. Das Ministerium handelte also aus „Vorsorge für unsere Universität“ und ihre Studierenden. Gewännen deren Eltern den Eindruck, dass die Söhne in Göttingen auf die schiefe Bahn kamen, würde die Anziehungskraft der Universität leiden. Die Professoren sahen „lüderliche Weibsbilder“ und geschäftstüchtige Notare den Studenten, die „noch Gefühl für wahre Ehre“ und „Furcht vor Schande“ hatten, alles abpressen, „was sie haben oder hoffen“. Manche von diesen Frauen „spekulierten“ – so argwöhnte der berühmte Professor Schlözer – auf eine uneheliche Schwangerschaft, „um von ihrem Schwächer ein paar hundert Taler zu erobern, durch die ein Geselle Meister werden kann“ (also um eine Mitgift für die Ehe mit einem Handwerker zu gewinnen). Wenn die Universität den Blick auf einzelne Frauen richtete, die ihre Schwangerschaft nutzten, um finanzielle Vorteile auf Kosten unerfahrener Studenten zu erzielen, so sahen Polizei und Armenverwaltung vielmehr die zahlreichen ledigen Mütter, die für ihre Kinder keine oder ganz unzureichende Leistungen vom Vater erhielten, und drängten die Frauen, den Kindsvater zu verklagen.9 Wie ein ehemaliger Liebhaber sich zu drehen und wenden wusste, selbst wenn er seine Zuständigkeit nicht leugnen konnte, erfuhr die 29-jährige Christiane Ruppert. Vermutlich auf Vorladung zeigte sie am 30. Juni 1805 dem Pastor Wagemann als Haupt der Göttinger Armenverwaltung und Mitglied der Polizeikommission an, „sie habe sich von dem Herrn Grafen Sievers […] schwängern lassen, und erwarte auf Michaelis [29. September] dieses Jahres ihre Niederkunft“. Der Graf stammte aus Livland, der Ostseeprovinz des russischen Reiches; Christiane diente ihm als „Aufwärterin“, das heißt sie besorgte seinen Haushalt, ohne dort zu wohnen. Die Vertraulichkeit zwischen ihnen war nicht so weit gegangen, dass er sich von ihr mit dem Vornamen hätte anreden lassen: Seinen „Taufnamen“ kannte sie nicht. Versuche einer außergerichtlichen Übereinkunft, wie sie zunächst Christiane 8 9
Schlumbohm, Verheiratete (wie Anm. 4), 341. Schlumbohm, Lebendige Phantome (wie Anm. 4), 364, 366ff, auch zum Folgenden; Brüdermann, Studenten (wie Anm. 7), 399ff.
174 Jürgen Schlumbohm
selbst, dann der Pastor sowie ein Mitglied des Universitätsgerichts – entgegen der Verordnung von 1793 – unternahmen, schlugen fehl, obwohl Graf Sievers sich „des unerlaubten Umganges mit ihr schuldig“ bekannte und „nicht als Vater des Kindes im Publikum zu erscheinen“ wünschte. Als die Sache dann vor dem Universitätsgericht verhandelt wurde, weigerte er sich „in Rücksicht meines Standes“, persönlich zu erscheinen. Dass er – wie von Christiane angegeben – von „14 Tage nach Weihnachten bis gegen Ostern […] mehrmal“ den „Beischlaf “ mit ihr vollzogen habe, leugnete der Graf nicht, doch wollte er höchstens die Hälfte der geforderten Alimente zahlen. Zudem bestritt er, seine Aufwärterin verführt zu haben; denn nur wenn „eine würkliche Verführung“ erwiesen war, musste er eine Entschädigung für die Verletzung ihrer Ehre leisten. Indem er durch seinen Anwalt verlangte, sie solle Einzelheiten angeben, öffnete er die Schleusen. Nun sparten die Advokaten nicht mit „ekelhaftem Detail“, und beide Seiten erzählten den „Roman ihres Lebens“ nach den Mustern, die den Richtern geläufig waren: „Ein unschuldiges, jede Liederlichkeit verabscheuendes Mädchen“, eine Magd, „welche zu jeder Stunde in ihrem Dienste zu einem jungen Manne auf das Zimmer muss“ und von diesem „teils durch Verführung, teils durch Gewalt“ in sein Bett und auf sein Kanapee geworfen wird; oder die „leichtfertige Dirne“, die ein „sehr gemeines, freches und gefährliches Gewerbe“ treibt, und aus „Geldspekulation“ die Jugend und das „lebhafte Temperament“ des „unverdorbenen“ Jünglings ausnutzt. Doch wagte der Beklagte nicht zu behaupten, die Klägerin habe in den fraglichen Monaten auch mit anderen Männern verkehrt. Während die Anwälte immer weitere Schriftsätze produzierten, gebar Christiane Ruppert am 20. Oktober 1805 einen Sohn. Am 3. November wurde er Georg Friedrich Otto getauft, und Georg Alexander Graf von Sievers aus Livland als Vater im Kirchenbuch eingetragen. Der Vater war zugleich Pate, was sonst ganz ungewöhnlich war, bei unehelichen Vätern aber gelegentlich zu finden ist. Wenn das Ausdruck eines Interesses an seinem illegitimen Spross war, so hielt es ihn nicht davon ab, in den folgenden Wochen durch seinen Anwalt der Mutter nachsagen zu lassen: Wer sie „wirklich geschwängert haben mag, das weiß sie gewiss so wenig als ich“. Da das Kind versorgt werden musste, entschied das Gericht nun, dass der Beklagte zwölf Taler für die Kosten von Entbindung und Wochenbett sowie monatlich zwei Taler Alimente zu zahlen habe. Weiter strittig blieb die Forderung nach Entschädigung für die Defloration. Der Anwalt des Grafen argumentierte, dass einer Dienstmagd ohne Vermögen, wie Christiane es war, keine Satisfaktion zukomme, da sie, wenn überhaupt, nur einen Tagelöhner als Ehemann finde, und dem komme es nur auf eine „arbeitsame Frau“, nicht auf ihre Jungfräulichkeit an. Als der Sohn ein halbes Jahr alt war, trafen die Eltern am 29. April 1806 erstmals vor dem Gericht zusammen. Graf Sievers war jetzt an einem
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 175
gewissen Einvernehmen interessiert, denn er wollte abreisen, und das durfte er nach einem früheren Gerichtsbeschluss nicht vor Beendigung des Rechtsstreites. Also bevollmächtige er seinen Anwalt, den Prozess in seinem Namen fortzusetzen, und versicherte an Eides statt, die Alimente und alles, wozu er eventuell noch verurteilt werde, treulich zu bezahlen. Christiane Ruppert erklärte sich damit zufrieden und hatte „nicht das mindeste Misstrauen“. Am folgenden Tag hinterlegte der Graf 24 Taler, die Alimentationsgelder für ein Jahr, bei einem Kantor, zeigte das dem Gericht eigenhändig an und verließ bald danach Göttingen. Dreieinhalb Jahre danach, im Januar 1810, heiratete Christiane einen fünf Jahre jüngeren Schneider und gebar ihm im Laufe von zwölf Jahren sieben Kinder. Die Alimentenzahlungen des Grafen Sievers erhielt Christiane bis Oktober 1807 planmäßig durch den Kantor. Dann trat eine Stockung ein, bis ihr 1810/11 ein russischer Student, der Sievers nahestand, 40 Taler als Abschlag überbrachte. Danach waren „gütliche Anmahnungen“ Christianes ebenso erfolglos wie 1816 ein Brief des Universitätsgerichts an den Grafen, der nun „im Reichscollegio der auswärtigen Angelegenheiten in Petersburg“ tätig war. Am 20. Oktober 1819 wurde sein Göttinger Sohn 14 Jahre alt. Bald danach nahm die Mutter erneut einen Anwalt, um die überfälligen Unterhaltszahlungen von dem hochgestellten Vater einzutreiben. Das konnte sie nur dank Prozesskostenhilfe; die Stadt Göttingen stellte ihr und ihrem Ehemann das ‚Armutszeugnis‘ aus, dass sie keinen Grundbesitz hatten, aber eine „starke Familie“ und ungenügende Einkünfte aus dem „geringen Betrieb seiner Profession“. Für zehn Jahre und vier Monate forderte der Anwalt die Summe von 248 Talern zuzüglich Verzugszinsen; die Sache solle vom Universitätsgericht auf dem offiziellen Weg über den hannoverschen Gesandten in St. Petersburg betrieben werden. Das Gericht vermutete, dass dem Grafen „die Ergreifung dieser Maßregel unangenehm“ wäre, und richtete im März 1820 erneut ein persönliches Schreiben an ihn. Es erwähnte nebenbei, dass „sich die Ruppert in den dürftigsten Umständen befindet“, und setzte eine Frist von vier Wochen; danach müsse man verfahren, wie von der Klägerin beantragt. Ob Graf Georg Alexander Sievers seine Schuld beglichen hat, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Freilich gab es auch Männer, die ihre Verpflichtung bereitwilliger anerkannten. Der Jäger Johann Friedrich Stelter aus Pommern, der als Diener den seit einem guten Jahr in Göttingen studierenden Grafen Werner von Veltheim begleitete, schien sich zunächst seiner Verantwortung zu entziehen: Er weilte nicht mehr in der Stadt, als Dorothea Jordans wegen ihrer Schwangerschaft am 6. Juli 1805 vor die Polizeikommission geladen war. Also wurde ihr aufgegeben, Stelter vor dem Universitätsgericht – das auch für die Bedienten von Studenten zuständig war – zu verklagen. Zwar durfte Dorothea, wie sie beabsichtigte, im Göttinger Gebärhospital entbinden; gleich nach ihrer Entlassung aber sollte sie mit ihrem Kinde
176 Jürgen Schlumbohm
Abbildung 1: Johann Friedrich Stelter erklärt sich zur Zahlung von Alimenten bereit: „Götting d. 4.ten September 1805 / Da die Dorotea Jordan wi si sagt, / sich von mier Schwangerbefindet, / worüber wier Förmlich Gesprochen haben, / ich Ihr nach der Entbindung auf daß / Kindt Mohnatlich 1. rtl. [=Reichstaler] geben wil, welches / si zu Friden wahr; kan ich ins künftige an / ihr oder daß Kindt mehr thun, / oder imstandebin daß Kint zu Erzihen / werde ich nicht Ermangeln / Johann Friderich Stelter / Jähger“ – Universitätsarchiv Göttingen, Universitätsgericht, B XXX 4.
„die Stadt räumen“. Doch das Unerwartete geschah: Im September 1805 war Stelter zurück in Göttingen, besprach die Angelegenheit mit Dorothea und verpflichtete sich schriftlich, ihr monatlich einen Taler für das Kind zu zahlen. „Kann ich ins Künftige“, so setzte er hinzu, „an ihr oder das [!] Kind mehr tun oder im Stande bin, das Kind zu erziehen, werde ich nicht ermangeln.“ (siehe Abb. 1) Vor dem Universitätsgericht erklärte er sich auf Drängen von Dorotheas Anwalt einverstanden, in den beiden ersten Jahren einen Drittel Taler pro Monat mehr und zusätzlich drei Taler für das Wochenbett zu übernehmen. Von Sicherheiten für die Erfüllung seiner Pflicht war allerdings nicht die Rede. Am 29. Oktober 1805 wurde Dorothea in das Gebärhaus aufgenommen, am 1. November von einem Sohn entbunden, der nach drei Tagen in der Taufe die Vornamen seines Vaters erhielt.
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 177
Anfang 1796 erstellte die Armenverwaltung eine „Liste der Kinder, welche hier in Göttingen zur Verpflegung ausgetan sind“. Sie enthielt 65 Kinder, sämtlich unehelich geboren, und zwar von 58 Müttern; sieben Frauen waren mit zwei Kindern vertreten. Das Alter streute von drei Wochen bis zwölf Jahren, abgesehen von einem 15-Jährigen, von dem es hieß: „Der Knabe stehet in der Lehre.“ Von den 65 Kindern dieser Liste erhielten 25 Zahlungen des Vaters. Von dem Friseurgesellen Johann Gottfried Lattmann, der selbst aus Göttingen stammte, wurde allerdings vermerkt, dass er nur „nach Vermögen“ für seinen Sohn aufkomme; im Übrigen blieb die 23-jährige Mutter, Dorothea Voigten, zuständig. Das Kind war bei ihr; vielleicht konnte sie auf etwas Hilfe von ihren Eltern rechnen, ihr Vater war Perückenmacher in Göttingen. Einige Väter bezahlten durch Advokaten oder andere Personen ihres Vertrauens, der englische Student Robert Colhoun zum Beispiel durch einen Medizinprofessor, bei dem er zeitweilig gewohnt hatte; und der Bremer Kaufmann Hübotter schaltete als Mittelsmann einen Advokaten ein, um die Zahlung für seine Tochter an die Mutter bzw. den Pflegevater gelangen zu lassen. Für zwei Kinder war die Unterhaltspflicht „abgekauft“, das heißt durch eine einmalige Pauschalsumme abgegolten. Mindestens 20 Väter leisteten keine Zahlung. Der Göttinger Bäcker Dräger hatte sich „freigeschworen“, das heißt, er hatte durch einen Reinigungseid rechtskräftig ‚erwiesen‘, dass er entgegen der Behauptung von Dorothea Warneken nicht der Vater ihres Sohnes war. „Entlaufen“ war der „Musicus“ Töteberg aus Northeim, den Sophie Meyern, ebenfalls aus Northeim, im September 1795 bei der Entbindung im Hospital als Vater ihrer Tochter angegeben hatte. Zwei Kindsväter waren inzwischen tot, beide Soldaten, die vermutlich den Feldzügen gegen die Französische Revolution zum Opfer fielen. Um die Alimente für sechs Kinder wurde noch geklagt, drei davon hatten bereits das dritte, siebte, ja achte Lebensjahr erreicht.10 Ein noch düstereres Bild zeichnete die Göttinger Polizeikommission Ende 1805, als sie sich mit dem Problem der Versorgung unehelicher Kinder befasste. 70 Jungen und Mädchen wurden aufgelistet. Nur bei 17, also in einem Viertel der Fälle, zahlten die Väter. Allerdings waren etliche von den illegitimen Geburten noch gar nicht erfolgt, sondern es ging darum, möglichst schon im Vorfeld die Alimente zu sichern. Auch jetzt gab es einzelne Väter, die ihrer Pflicht gewissenhaft nachkamen. So meldete Christina Wettig, dass sie für ihr uneheliches Kind von dem Vater, „dem ehemaligen Studiosus, nachherigen Doktor Wachsmuth in Stadthagen“, die „Alimenta“ bis vor drei Jahren „ausgezahlt erhalten“ habe, „auch 10 Schlumbohm, Lebendige Phantome (wie Anm. 4), 334ff, auch zum Folgenden; Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, München 1995, insbes. 188ff.
178 Jürgen Schlumbohm
sogar nach seinem Tode von dessen Witwe“. Die intime Beziehung zwischen den beiden muss in die Zeit zwischen 1788 und 1790 fallen, als Georg Wilhelm Wachsmuth in Göttingen Medizin studierte. Auf Christina Wettigs Bitte schrieb Pastor Wagemann an einen Gewährsmann in Bückeburg und bat um Nachricht, „ob die Witwe des H[e]r[rn] Doktor Wachsmuth wohl noch zu der Zahlung der übrigen Alimenten zu bestimmen sein möge“. Die Antwort lautete, „dass sie zwar guten Willen, aber nicht Vermögen dazu habe“. Es gab eine Minderheit von Vätern, die in einer näheren Beziehung zu ihrem unehelichen Kind standen. Einige nahmen es bei sich auf (siehe Tab. 4); andere spielten noch im späteren Leben des Kindes eine Rolle. Rosine Charlotte Schepler, uneheliche Tochter des Göttinger Bäckers David Schepler und 1793 selbst im Accouchierhaus geboren, ließ sich 1813 als erstmals Schwangere aufnehmen. Sie war Dienstmädchen in einem Dorf, etwa 15 km von Göttingen, nahe dem Städtchen Dransfeld, aus dem ihre Mutter stammte. Warum sie dann doch nicht im Hospital entbunden wurde, erklärte der Direktor am Rande des Tagebuchs: „Nachdem sie c[ir]c[a] 14 T[a]g[e] hier war, bat sie um Erlaubnis, nach Hause gehen und ihren kranken Vater besuchen zu dürfen, kam aber daselbst den andern Tag nieder.“ Anscheinend gab der Vater Rosine Charlotte die Möglichkeit, ihr Kind in seinem Hause zur Welt zu bringen; sie zog das der Geburtsklinik vor, sah sie doch ihr „zu Hause“ bei ihm. Einzelne Frauen fanden auch ohne Gericht einen Weg, den pflichtvergessenen Vater an seine Verantwortung zu erinnern. Dorothea Elisabetha Junk, Dienstmädchen aus einem nordhessischen Dorf, gebar am 6. September 1800 im Göttinger Hospital ihr zweites Kind, das wie sie die Namen Dorothea Elisabetha bekam. Am 17. September verließ sie die Klinik. Gleich am 18., so erfuhr der Professor durch eine Anfrage des Amtes Münden, setzte sie die Tochter etwa 10 km westlich von Göttingen in Varmissen aus – dem Dorf, aus dem der Kindsvater, der Ackerknecht Wilhelm Feliges, stammte. Offenbar legte Dorothea Elisabetha dem Erzeuger, dessen Familie oder Gemeinde die Tochter gewissermaßen vor die Tür. Sie ging dabei ohne Heimlichkeit vor. Beim Abschied sagte sie im Accouchierhaus, „sie wolle zu ihren Schwiegereltern nach Varm[is]sen“. In dem Dorf nannte sie ihren Namen, sprach von der Entbindung im Göttinger Hospital und bettelte, da sie „nichts zu leben habe“. Für die Zeitgenossen war es anscheinend nicht ungewöhnlich, dass eine Mutter das außereheliche Kind dem Vater oder dessen Familie zustellte. Das machte sich die 25-jährige Marie Gottschalk, Tochter eines Militärchirurgen aus Kassel, zunutze. Am 25. November 1811 im Göttinger Geburtshospital von einer Tochter entbunden, wurde sie am 10. Dezember morgens entlassen. Wie der Direktor später notierte, „reisete sie in einem Wagen mit Gutsch[er = Kutscher] Dieterich nach Kassel ab, nahm aber ihr Kind nicht mit, sondern sandte es durch eine
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 179
hiesige Person, Schölperin, nach Wolprechtshausen [einem Dorf, 13 km nördlich von Göttingen] mit einem Brief an den dort sein sollenden Förster und einem an den Maire. Ersterer sollte der Vater ihres Bräutigams sein und das Kind erziehen wollen. Allein es zeigte sich, dass alles erdichtet war, um das Kind vom Halse zu schaffen. Denn es war dort gar kein Förster, und der Maire sandte die Person mit dem Kinde wieder zurück, wovon ich dann der hies[igen] Polizei eine Anzeige machte.“ Die Möglichkeit, dass der ‚Bräutigam‘ die Unwahrheit zu Marie Gottschalk gesagt haben könnte, zog Professor Osiander nicht in Betracht. Auch sonst hören wir gelegentlich von der Aussetzung unehelicher Kinder vor dem Haus des Erzeugers.11 Es scheint, als hätten manche Frauen an der älteren, in der Schweiz zum Teil noch im frühen 19. Jahrhundert geltenden Rechtsanschauung12 festgehalten, dass der Vater die Pflicht habe, sein uneheliches Kind aufzuziehen. Jedenfalls handelten einige, wenn sie sich nicht anders zu helfen wussten, nach dem Grundsatz, dass ein uneheliches Kind den Vater nicht weniger angehe als die Mutter. Als die 34-jährige Louise Schrader von dem Theologiestudenten Johann Ludwig Heim aus dem Meininger Oberland ein Kind erwartete, brachten monatelange Verhandlungen zwischen ihr, Heim, der Polizei- und Armenkommission und dem Universitätsgericht kein Ergebnis in der Frage der Alimente. Erst acht Tage, nachdem sie am 16. August 1805 im Entbindungshospital einen Sohn geboren hatte, gab ihr der Gerichtsbeisitzer Professor Meiners durch Pastor Wagemann zu verstehen, nunmehr möge sie Heim wegen der Alimente „belangen“. Louise folgte der Weisung auf ihre Art, brachte „ihr Kind auf das Zimmer des Herrn Heim“ und entfernte sich aus der Stadt, wie dem Pastor gemeldet wurde. Alarmiert ließ Wagemann das Kind von Heims Stube holen; der Student hatte sich seiner nicht angenommen, sondern das Zimmer verlassen. Außerdem wurde Louise Schrader gesucht und zu dem Pastor gebracht. Dieser übergab ihr das Kind und dazu – die Notlage anerkennend – eine „Beihülfe zu ihrer Subsistenz“. Als im Oktober das Universitätsgericht zusicherte, „für die Berichtigung der Alimenten ihres Kindes“ zu sorgen, forderte die Polizeikommission Louise auf, binnen acht Tagen „die Stadt zu verlassen, da ihre Sache so weit ins Reine ist, dass sie die Alimenta, welche sie erhält, sich nach Nienburg [ihre Heimatstadt] schicken lassen kann“.
11 Meumann, Findelkinder (wie Anm. 10), 149f, 160. 12 Ulrike Strasser, State of Virginity. Gender, Religion, and Politics in an Early Modern Catholic State, Ann Arbor, Mich. 2004, 113ff; Burghartz, Reinheit (wie Anm. 5), 267ff; Sutter, „Act“ (wie Anm. 5), 94, 102, 124ff.
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3. Andere Verwandte des unehelichen Kindes Während Entbindungshospitäler oft, besonders in katholischen Ländern, mit einem Findelhaus verbunden waren,13 gab es in Göttingen keine Findelanstalt; und das örtliche Waisenhaus wehrte sich gegen die Aufnahme Unehelicher. Also musste die Mutter ihr Kind, wenn es lebte, bei der Entlassung aus der Geburtsklinik mitnehmen. Da die allermeisten Patientinnen Mägde oder Dienstmädchen waren, konnten sie es schwerlich auf die Dauer bei sich behalten.14 Fanden sie eine Stelle als Amme, sollten sie ausschließlich das fremde Kind nähren und betreuen. In den ersten drei Monaten kümmerten sich die ledigen Mütter durchweg selbst um ihr Kind, so lässt sich aus der Liste der Göttinger Armenverwaltung von 1796 schließen; danach mussten sich die meisten von ihm trennen. Nach Möglichkeit gaben sie das Kind an Verwandte. Denn der Platz bei einer Pflegefamilie kostete 1796 acht bis 24 Taler im Jahr (im Durchschnitt 14 Taler). Da weibliches Gesinde in Göttingen meist nur zehn bis zwölf Taler pro Jahr als festes Bareinkommen erhielt, waren die Mütter also dringend auf die Zahlungen des Kindsvaters angewiesen.15 Der Direktor des Göttinger Entbindungshospitals fragte seine Patientinnen im Rahmen der Anamnese nach früheren Schwangerschaften und Geburten. Lebte das Kind noch, interessierte ihn auch, bei wem es untergebracht war. So erfahren wir von über hundert unehelichen Kindern, wer sich um sie kümmerte (siehe Tab. 4). Auf den ersten Blick überrascht, dass mehr von ihnen beim Vater (neun) als bei der Mutter (sieben) lebten. Doch sowie man die Verwandtschaft einbezieht, verschiebt sich das Bild. Insgesamt wohnte nur ein Zehntel des außerehelichen Nachwuchses bei der väterlichen Seite, fast drei Viertel bei Angehörigen mütterlicherseits. Die Eltern der Mutter hatten nahezu die Hälfte dieser Kinder aufgenommen, während die Eltern des Vaters nur ausnahmsweise einsprangen. Fast ein Fünftel lebte bei anderen Verwandten der Mutter, am häufigsten bei deren Schwester, manchmal bei deren Bruder, Tante oder Onkel. Ein Sechstel dieser unehelich Geborenen war bei Fremden in Pflege, was gewiss bedeutete, dass Kostgeld gezahlt werden musste.
13 Hans-Christoph Seidel, Eine neue „Kultur des Gebärens“. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 1998, 232ff. 14 Nur in einigen Gebieten mit besonders großem Gesindebedarf waren die Dienstherren bereit, eine Magd mit Kind aufzunehmen: Mitterauer, Familienformen (wie Anm. 6), 143, 148, 157, 161f; Georg Fertig, Äcker, Wirte, Gaben. Ländlicher Bodenmarkt und liberale Eigentumsordnung im Westfalen des 19. Jahrhunderts, Berlin 2007, 57. 15 Schlumbohm, Lebendige Phantome (wie Anm. 4), 334f.
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 181
Tabelle 4: Wo leben frühere uneheliche Kinder der Patientinnen des Göttinger Entbindungshospitals (1795–1814)? Zahl Bei der Mutter
%
7
6,3
Bei den Eltern (bzw. einem Elternteil) der Mutter
52
46,8
Bei anderen Verwandten der Mutter
21
18,9
2
1,8
Davon: Bei Schwester der Mutter Bei Bruder der Mutter Bei FreundIn der Mutter
10 5
Bei dem Vater
9
8,1
Bei den Eltern (bzw. einem Elternteil) des Vaters
2
1,8
18
16,2
111
100,0
Bei Fremden/ in Kost gegeben Summe Quelle: Wie bei Tab. 1.
Ziehen wir zum Vergleich ein ländliches Kirchspiel des Osnabrücker Landes heran, aus dem für die Mitte des 19. Jahrhunderts ähnliche Daten vorliegen (siehe Tab. 5),16 so fällt als erstes auf, dass dort fast ein Drittel der unehelich Geborenen durch nachfolgende Eheschließung der Eltern legitimiert war und bei ihnen lebte. Solche Fälle kommen in den Akten des Geburtshospitals nicht vor, weil die Frauen nach einer Heirat ihre Kinder in aller Regel nicht mehr in der Klinik, sondern zu Hause gebaren. Lässt man die nachträglich Legitimierten beiseite, findet sich nur ein Vater, der sein außereheliches Kind bei sich hatte, und kein einziger Verwandter von der väterlichen Seite betreute ein solches Kind. Mehr als die Hälfte wohnte bei der Mutter, fast ein Fünftel zwar nicht bei der Mutter, aber bei mütterlichen Großeltern. Nahezu ein Viertel war bei Fremden untergebracht. Außer den Eltern der ledigen Mutter nahmen keine Verwandten ein außerehelich 16 Interessante Ergebnisse zum sozialen Netz unehelicher Kinder liefert Silke Goslar, Nicht eheliche Kinder auf dem Land. Eine vergleichende Analyse zweier westfälischer Kirchspiele im 19. Jahrhundert, MA-Arbeit (maschinenschriftlich), Universität Münster 2005, mangels Volkszählungslisten jedoch nicht zu der Frage, bei wem sie lebten. Mitterauer, Familienformen (wie Anm. 6), 137–168, bringt zahlreiche Fälle zu dieser Frage, jedoch keine quantifizierten Aussagen.
182 Jürgen Schlumbohm
geborenes Kind auf. Von den Frauen, die in das Göttinger Geburtshospital gingen, befanden sich viele in einer besonders prekären Situation: Sie hatten niemand, der sie bei der Entbindung und im Wochenbett beherbergte; doch das Verwandtschaftsnetz, das ihre unehelichen Kinder aufnahm, war weiter gespannt als in dem ländlichen Kirchspiel. Tabelle 5: Wo leben die unehelich Geborenen unter 15 Jahren (Kirchspiel Belm 1858)? Alle Zahl
Ohne Legitimierte %
Zahl
%
Bei ihrem Vater und ihrer Mutter, die geheiratet haben
20
32,8
Bei ihrer Mutter
11
18,0
26,8
Bei ihrer Mutter und deren Eltern(teil)
12
19,7
29,3
Bei ihren mütterlichen Großeltern (bzw. Elternteil)
8
13,1
19,5
Bei ihrem Vater
1
1,6
2,4
Bei Nicht-Verwandten
9
14,8
22,0
61
100,0
Summe
41
100,0
Quelle: Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860, Göttingen 19972, 308: Tab. 5.09.
4. Städtische Armenkasse und Selbsthilfe in Familie und Verwandtschaft Das Göttinger Armenwesen wurde im späten 18. Jahrhundert dank der eifrigen Publizistik Pastor Wagemanns17 überregional beachtet; es zielte darauf, durch Erziehung der bedürftigen Kinder (unter anderem in ‚Industrieschulen‘) die Ursachen der Armut zu bekämpfen und so in der nächsten Generation die Armut weitgehend zu beseitigen. Doch das ehrgeizige Projekt wurde durch chronische Unterfinanzierung stark behindert; denn für die Beiträge galt das Prinzip der 17 Ludwig Gerhard Wagemann (Hg.), Göttingisches Magazin für Industrie und Armenpflege, 6 Bde, Göttingen 1788–1803 (Nachdruck, hg. von Ulrich Herrmann, Vaduz 1983; elektronische Version: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/goettmaginduest/index.htm, Aufruf am 07.11.2012).
Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern 183
Freiwilligkeit. Um die Zahl der Empfänger zu vermindern, wendete man – wie vielerorts – das ‚Heimatprinzip‘ so strikt wie möglich an, wehrte Fremde ab und wies sie in enger Zusammenarbeit mit der Polizei aus der Stadt oder dem hannoverschen Staatsgebiet. Als eine zentrale Ursache der Überlastung der Armenkasse stellten die Vorsteher in den 1790er Jahren die stark wachsenden Aufwendungen für „verlassene Kinder“ heraus. In Wirklichkeit musste 1790 lediglich für 33 Jungen und Mädchen das Kostgeld aufgebracht werden – in einer Stadt von fast 10.000 Einwohnern; nicht mehr als 8 % der Gesamtausgaben der Armenanstalt entfielen auf diesen Posten, und er war im verflossenen Jahrzehnt nicht überproportional gestiegen.18 Trotzdem konzentrierte sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf diese Personengruppe, und an ihr wurden in den folgenden Jahren sichtbare Exempel statuiert, nicht selten in drakonischer Weise. Ledige Mütter, die nicht aus Göttingen stammten oder keinen Rückhalt in der Stadt hatten, wurden mit ihren Kindern ausgewiesen – wie Louise Schrader. Dabei mussten die Verantwortlichen gelegentlich selbst einräumen, dass diese Kinder nicht regelmäßig der Armenkasse zur Last fielen, „sondern von ihren Müttern, solange diese […] als Aufwärterinnen dienen oder sonst auf erlaubte und unerlaubte Weise sich durchbringen können, mit versorgt werden oder bei Eltern und Verwandten solcher Personen sich aufhalten und da […] mit zehren“, solange diese nicht selbst in „völlige Armut“ fielen.19 Das heißt: Zuständig auch für die Versorgung unehelicher Kinder waren Familie und Verwandtschaft, faktisch vor allem die Mutter und ihre Verwandten, in geringerem, aber nicht ganz unbedeutendem Umfang der Vater und seine Angehörigen. Erst wenn die Mittel der Mutter und ihrer Verwandten erschöpft waren und vom Vater nichts zu holen war, wendete man sich an die Armenkasse.
18 Schlumbohm, Lebendige Phantome (wie Anm. 4), 353ff, auch zum Folgenden; vgl. Meumann, Findelkinder (wie Anm. 10). 19 Universitätsarchiv Göttingen, Sekretariat, 635.3, Fasz. 12: Polizeikommission an Universität 12. August 1805.
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Verwandte Paten und wohlhabende Freunde Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen des 18. und 19. Jahrhunderts Christine Fertig
Am 16. November 1847 heirateten der 36-jährige Anton Schulthoff und die 33-jährige Louise Dörendahl, kurz nachdem Anton den elterlichen Hof, die Schulthoffs Colonie zu Stocklarn (Kirchspiel Borgeln, Kreis Soest), übernommen hatte. Wie im nordwestdeutschen Anerbengebiet üblich, musste Anton seinen Eltern ein Altenteil auf dem übertragenen Hof gewähren und seine sieben Geschwister sowie die Kinder eines bereits verstorbenen Bruders auszahlen.1 Eher ungewöhnlich war, dass das erste Kind des nicht mehr ganz so jungen Ehepaares erst über ein Jahr nach der Heirat auf die Welt kam. Bei Bauern wie bei Tagelöhnern entsprach es eher der Regel als der Ausnahme, dass das erste Kind bei der Hochzeit bereits unterwegs war.2 Auffällig war aber auch, dass Braut und Bräutigam in einem recht nahen Verwandtschaftsverhältnis standen: Louises Großmutter war eine Schwester von Antons Großvater. Hier vermählten sich also Cousin und Cousine zweiten Grades. Diese Eheschließung passt also auf den ersten Blick gut zu einer neueren Verwandtschaftsgeschichte, wie sie insbesondere von David Sabean, Simon Teuscher und Jon Mathieu vertreten wird. Demnach kann man eine langfristige 1
2
Datenbank Borgeln, Version vom 19.10.2008: OFBIDs 3988 und 3987; Kirchbücher der evangelischen Kirchgemeinde Borgeln; Hofübergabevertrag: Nordrhein-Westfälisches Landesarchiv, Staatsarchiv Münster, Bestand Amtsgericht Soest, Grundakten Soest, Nr. 7268, S. 81 (KonID 770). Die Datenbanken für die Kirchspiele Borgeln (Kreis Soest) und Löhne (Kreis Herford) sowie das sauerländische Kirchspiel Oberkirchen sind im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte erstellt worden, die unter der Leitung von Ulrich Pfister am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Münster durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgesellschaft gefördert wurden. Für eine detaillierte Beschreibung der Datenbanken siehe Georg Fertig, Äcker, Wirte, Gaben: Ländlicher Bodenmarkt und liberale Eigentumsordnung im Westfalen des 19. Jahrhunderts, Berlin 2007, 229ff. Vgl. Georg Fertig, „Wenn zwey Menschen eine Stelle sehen“: Heirat, Besitztransfer und Lebenslauf im ländlichen Westfalen des 19. Jahrhunderts, in: Christophe Duhamelle u. Jürgen Schlumbohm (Hg.), Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts: Muster und Strategien, Göttingen 2003, 93–124, hier Tabelle 4 auf S. 110.
186 Christine Fertig
Entwicklung verwandtschaftlicher Beziehungen ausgehend vom Hochmittelalter beobachten, die von einer deutlich vertikalen Orientierung sozialer Netzwerke zu einer ausgeprägten Horizontalisierung im ausgehenden 18. Jahrhundert führte. Die Bedeutung der Vorfahren wurde dabei abgelöst durch eine Hinwendung zu den Verwandten derselben Generation, die im Alltag eine immer größere Rolle spielten.3 In diesem Sinne könnte die oben erwähnte Eheschließung von Anton Schulthoff und Louise Dörendahl als sozial wie verwandtschaftlich endogame Ehe verstanden werden, die zur Horizontalisierung der sozialen Netzwerke und damit zur Klassenbildung im ländlichen Westfalen beitrug. Nun ist es schwierig, von einer einzelnen oder auch einer größeren Anzahl verwandtschaftsendogamer Ehen auf gezielte familiäre Strategien zu schließen. Hierzu ist es unerlässlich, die jeweiligen Brautpartner und ihre Familien in den sie umgebenden sozialen Kontext einzuordnen. Wie an anderer Stelle gezeigt worden ist, kann die Relevanz von Verwandtenehen nur dann angemessen eingeschätzt werden, wenn sie mit der Dichte verwandtschaftlicher Beziehungen in einer lokalen Gesellschaft verglichen werden kann.4 In diesem Aufsatz soll es darum gehen, die relationale Struktur zweier westfälischer Kirchspiele auszuleuchten und aufzuzeigen, wie die Analyse von Verwandtschafts- und Patenschaftsbeziehungen zu einem besseren Verständnis ländlicher Gesellschaften beitragen kann. Unter relationaler Struktur wird dabei die Ausgestaltung der lokalen Netzwerke verstanden, die Beziehungen zwischen Menschen, Familien und gesellschaftlichen Schichten. Die Untersuchung sozialer Netzwerke kann helfen, die Wahrnehmung (nicht nur) historischer Gesellschaften als durch Standes- oder Klassenzugehörigkeit geprägte Lebensräume zu modifizieren. Will man den inneren Zusammenhang einer sozialen Formation erfassen, greift die Charakterisierung von Gesellschaften anhand von Berufen oder Landbesitz, die sich aufgrund der oft gut greifbaren Quellen anbietet, zu kurz. Die Analyse sozialer Netzwerke kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, indem die von den Akteuren selbst gebildeten Formationen und Beziehungen zur Grundlage der Analyse gemacht werden.
3
4
David W. Sabean u. Simon Teuscher, Kinship in Europe, A New Approach to Long-Term Development, in: dies. u. Jon Mathieu (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York/Oxford 2007, 1–32. Vgl. Christine Fertig, Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874), Stuttgart 2012, 199ff.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 187
Löhne und Borgeln in Westfalen Die vorliegende Studie ist als vergleichende Mikrostudie angelegt. Untersucht werden zwei ländliche Kirchspiele in der preußischen Provinz Westfalen. Für die beiden untersuchten Kirchspiele sind Datenbanken aufgebaut worden, deren Kern Familienrekonstitutionen bilden. Diese Datenbasis wurde durch Informationen zu Landbesitz, Belastungen von Grundbesitz, Patenschaften und durch Familienverträge ergänzt. Da beide Orte in der preußischen Provinz Westfalen lagen, waren die institutionellen Rahmenbedingungen sehr ähnlich. Der preußische Staat führte im frühen 19. Jahrhundert verschiedene, für den ländlichen Raum bedeutsame Reformen durch, unter anderem die Auflösung der Gemeinheiten, die Einführung von Hypothekenbüchern und die katastermäßige Erfassung des Grundbesitzes zwecks Erhebung der Grundsteuer.5 Daneben bestanden aber auch ältere Traditionen weiter fort, etwa das in Nordwestdeutschland verbreitete Anerbenrecht, nach dem die Höfe ungeteilt vererbt wurden. In Westfalen vererbten oder übertrugen Bauern, wie in den meisten Regionen Nordwestdeutschlands, Höfe nur geschlossen, ohne das Land unter den Kindern aufzuteilen. Die Erbansprüche von Geschwistern der Hoferben wurden in Naturalien und zunehmend auch Bargeld ausbezahlt. In der Regel heirateten die Geschwister und verließen den elterlichen Hof, auch wenn ledige Geschwister manchmal auf den Höfen blieben und sich dort ihren Lebensunterhalt verdienten. Nur einem Teil derjenigen Bauernkinder, die den elterlichen Hof nicht übernehmen konnten, bot sich die Möglichkeit, ihrerseits einen Hoferben oder eine Hoferbin zu heiraten und so selbst in den Besitz eines Hofes zu gelangen. Viele Bauernkinder stiegen dagegen in die unterbäuerlichen Schichten ab und ernährten sich und ihre Familien durch ein protoindustrielles Gewerbe, Handwerk oder als agrarische Tagelöhner. Das Wachstum der Bevölkerung Westfalens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts führte zu einer beständigen Abwärtsmobilität der Bauernkinder in die unterbäuerlichen Schichten, die um 1800 herum längst den größeren Teil der ländlichen Bevölkerung ausmachten.
5
Letztere bildete die wichtigste Steuer des preußischen Staates, von der lediglich Grundbesitz ausgenommen war, der von den adeligen Besitzern selbst genutzt wurde. Siehe Eckart Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas. England, Frankreich, Preußen und das Deutsche Reich 1800 bis 1914, Berlin u. a. 1994.
188 Christine Fertig
Abbildung 1: Die Kirchspiele Borgeln und Löhne in Westfalen Karte erstellt von Johannes Bracht 11_Fertig_Karte_deutsch.gif[13.11.2015 12:25:45]
Löhne in Ostwestfalen (heute Kreis Herford) war im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die protoindustrielle Produktion von Garn geprägt; Nahrungsmittel mussten dagegen zusätzlich zur Produktion im Dorf importiert werden, um den lokalen Bedarf zu decken. Da in Nordwestdeutschland die ungeteilte Vererbung praktiziert wurde, konnte grundsätzlich nur ein Kind mit Hof und Land versorgt werden, während die weiteren Geschwister oftmals in die unterbäuerliche Schicht abstiegen. Im 18. Jahrhundert begann die westfälische Bevölkerung stark anzuwachsen, was aufgrund der gleichbleibenden Zahl an bäuerlichen Höfen zu einer starken Expansion der unterbäuerlichen Schichten führte, die in manchen Regionen über das Heuerlingssystem in die lokale Gesellschaft eingebunden wurden.6 Heuerlinge waren eigentumslose Familien, die Wohnraum und etwas Land auf einem Hof mieteten, wofür sie den Bauern auf Anforderung ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen mussten. Diese Familien standen damit in einer relativ engen und zumindest mittelfristig beständigen Beziehung zu den Bauern, was auch einen gewissen Anspruch auf Unterstützung beinhaltete. Ihre Pacht leisteten sie zumindest zum Teil über Arbeitsleistungen ab, mussten sich aber darüber hinaus über Tagelohn oder Garnspinnerei den Lebensunterhalt eigenständig verdienen. Im 19. Jahrhundert lebten hier über die Hälfte der Familien 6
Auch in anderen Gebieten des nordwestdeutschen Textilgürtels konnten sich landlose Familien bei Bauern als Heuerlinge einmieten. Siehe hierzu besonders Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe: Die Bauern und Heuerleute des osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860, Göttingen 1994.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 189
von der Garnspinnerei; viele Kleinbesitzer ergänzten die unzureichenden Erträge ihres knappen Landes ebenfalls durch protoindustrielle Produktion.7 Borgeln in der Soester Börde (heute Kreis Soest) war dagegen eine rein agrarische Gemeinde, in der die Überschussproduktion von cash crops eine lange Tradition hatte. Im 19. Jahrhundert kam dann das schnell expandierende Ruhrgebiet als Exportregion hinzu. Beinahe alle Erwachsenen arbeiteten hier in der Landwirtschaft: als Bauern, von denen die Vollbauern aber weniger als ein Fünftel der ansässigen Familien ausmachten; als Handwerker, die hier recht zahlreich waren, aber wohl zumindest zeitweise in der Landwirtschaft tätig waren; als landlose Tagelöhner, die etwa zwei Drittel der Familien stellten; und schließlich als landwirtschaftliches Gesinde, das immerhin etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung ausmachte, zumeist (aber nicht immer) unverheiratet und oftmals aus der Umgebung zugewandert war. Beide Untersuchungsorte waren protestantisch, wobei die Erweckungsbewegung in Ostwestfalen eine wichtige Rolle spielte, in der Soester Börde dagegen nicht. Die beiden Gemeinden waren also in überregionale Märkte integriert, auf denen die Bevölkerung Nahrungsmittel bzw. protoindustrielle Produkte absetzte. Aber auch andere Märkte können hier beobachtet werden. In beiden Orten existierten im 19. Jahrhundert lebhafte Kreditmärkte, die allerdings von gravierenden strukturellen Unterschieden geprägt waren. Während sich Landbesitzer in Borgeln aufgrund ihrer offenbar hohen Kreditwürdigkeit praktisch überall Geld leihen konnten und ihre Nachbarn als Geldleiher weitgehend mieden, war die Löhner Bevölkerung auf lokale Geldgeber und einen vornehmlich lokalen Kreditmarkt verwiesen. Dem stand ein recht ausgeprägter Bodenmarkt gegenüber, auf dem Parzellen und – wenn auch selten – ganze Höfe den Besitzer wechselten, was zum Teil mit Kreditaufnahmen einherging. In Borgeln wurde Land dagegen kaum jemals verkauft. Die Familien bemühten sich in der Regel erfolgreich, Grund und Boden in der Familie zu halten.8 7
8
Unklar ist, ob sich auch Bauern an der Garnspinnerei beteiligten. Für ein weiter westlich gelegenes Gebiet ist dies von Markus Küpker gezeigt worden. Markus Küpker, Weber, Hausierer, Hollandgänger. Demographischer und wirtschaftlicher Wandel im ländlichen Raum, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. G. Fertig, Äcker, Wirte, Gaben (wie Anm. 1); ders., „Der Acker wandert zum besseren Wirt“? Agrarwachstum ohne preisbildenden Bodenmarkt im Westfalen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 52 (2004), 44–63; ders., Zwischen Xenophobie und Freundschaftspreis: Landmarkt und familiäre Beziehungen in Westfalen, 1830–1866, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2005), 53–76; Johannes Bracht, Geldlose Zeiten und überfüllte Kassen – Sparen, Leihen und Vererben in der ländlichen Gesellschaft Westfalens (1830–1866), Stuttgart 2013; ders., Reform auf Kredit: Grundlastenablösung in Westfalen und ihre Finanzierung durch Rentenbank, Sparkasse
190 Christine Fertig
Trotz sehr ähnlicher institutioneller Rahmenbedingungen wiesen die beiden Untersuchungsorte also sehr unterschiedliche sozio-ökonomische Strukturen auf. In diesem Aufsatz soll es nun darum gehen, die schichtenübergreifende Vernetzung oder aber die Herausbildung von Klassengrenzen in den beiden ländlichen Gemeinden auf Grundlage einer Analyse von Patenschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen aufzuzeigen. Die sozialen Netzwerke werden sowohl anhand einfacher deskriptiver Statistik als auch durch formale Netzwerkanalyse untersucht. Im ersten Abschnitt werden die Patenschaften im Mittelpunkt stehen, im zweiten geht es dann um die Heiratsnetzwerke der Bauern und Hausbesitzer. Im folgenden Abschnitt wird zunächst diskutiert, welchen Erkenntniswert eine Untersuchung von Patenschaften haben kann. Dann werden die Beziehungen zwischen den sozialen Schichten in den beiden Kirchspielen vorgestellt. Daran anschließend steht die Frage nach der Funktion von Patenschaft und Verwandtschaft im nordwestdeutschen Heuerlingssystem im Zentrum. Zum Schluss wird erläutert, wie sich die Bedeutung von Verwandten in den Patennetzen über die Zeit veränderte.
Patenschaften – Indikatoren für soziale Struktur Es gibt verschiedene Auffassungen zu der Frage, ob die Patenschaft in der mittelalterlichen Welt als eine besondere Form der Verwandtschaft angesehen wurde. Sie ist vielfach als ‚rituelle‘, ‚fiktive‘ oder ‚künstliche‘ Verwandtschaft charakterisiert worden; in diesem Sinne scheint Patenschaft als ‚uneigentliche‘ Form von Verwandtschaft zu gelten. In jüngerer Zeit haben Mediävisten jedoch darauf verwiesen, dass Verwandtschaft ein begriffliches Ordnungssystem war, mit dem Beziehungen aller Art definiert werden konnten. Innerhalb dieses Ordnungssystems stand die geistliche neben der fleischlichen Verwandtschaft als verbindende Kraft, die im und privaten Kredit (1830–1866), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 54 (2006), 55–78; ders., Abschied von der hohen Kante? Zur Bedeutung der frühen Sparkasse für ländliche Kapitalmärkte und Wirtschaftsbeziehungen am Beispiel Westfalens (1830– 1866), in: Ira Spieker, Elke Schlenkrich, Johannes Moser u. Martine Schattkowsky (Hg.), UnGleichzeitigkeiten. Transformationsprozesse in der ländlichen Gesellschaft der (Vor-) Moderne, Dresden 2008, 37–60; Christine Fertig, Kreditmärkte und Kreditbeziehungen im ländlichen Westfalen (19. Jh.): Soziale Netzwerke und städtisches Kapital, in: Gabriele B. Clemens (Hg.), Schuldenlast und Schuldenwert. Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300–1900, Trier 2008, 161–175; dies., Urban Capital and Agrarian Reforms: Rural Credit Market in Nineteenth-Century Westphalia, in: Phillipp R. Schofield u. Thijs Lambrecht (Hg.), Credit and the Rural Economy in North-Western Europe, c. 1200–c. 1850, Turnhout 2009, 169–196.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 191
Prinzip alle Christen umfasste. „Spezifische Formen dieser geistlichen Verwandtschaften (durch Patenschaft, Profess, Weihe, Mitgliedschaft in einer Pfarrei usw.) bedeuteten nur eine Statusmodifikation, deren Spannweite variierte von einer engen Verwandtschaft wie der Patenschaft zu Verwandtschaftsbeziehungen, die kaum mehr wert waren als eine Redekonvention.“9 Für die Neuzeit gibt es bislang erst wenige Untersuchungen der Bedeutung von Patenschaft.10 Neben HistorikerInnen haben auch EthnologInnen nach der Relevanz von Patennetzen in europäischen Gesellschaften gefragt. Da es kaum Quellenmaterial zum qualitativen Inhalt von Patenschaft gibt, sind vor allem die Konstruktionen der Netzwerke in den Blick genommen worden. Es gibt aber Hinweise darauf, dass diese Beziehungen auch im neuzeitlichen Europa mit Handlungserwartungen belegt waren, die insbesondere auf gegenseitiges Vertrauen und Unterstützung in Notzeiten rekurrierten.11 Patenschaften dienten einerseits generell dazu, die soziale Umgebung zu stabilisieren. Anderseits erlaubten diese im Vergleich zur Heirat flexiblere Beziehungsformen, die persönlichen Netzwerke über den unmittelbaren sozialen Nahbereich hinaus auszudehnen, um so an andere soziale Bereiche anzuknüpfen.12 Auf diesem Wege konnten weitreichende Netz9
Bernhard Jussen, Künstliche und natürliche Verwandte? Biologismen in den kulturwissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft, in: Juri L. Besmertny u. Gerhard Otto Oexle (Hg.), Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und der russischen Kultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2001, 39–58, hier 56; siehe auch Michael Mitterauer, Geistliche Verwandtschaft im Kontext mittelalterlicher Verwandtschaftssysteme, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Ostfildern 2009, 171–194; Anita Guerreau-Jalabert, Spiritus et caritas. Le baptême dans la société médiévale, in: Francoise Héritier-Auge u. Elisabeth Copet-Rogier (Hg.), La parenté spirituelle, Paris 1995, 133–203; Joseph Morsel, Ehe und Herrschaftsproduktion zwischen Geschlecht und Adel (Franken, 14.–15. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Frage nach der Bedeutung der Verwandtschaft in der mittelalterlichen Gesellschaft, in: Andreas Holzem u. Ines Weber (Hg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn 2008, 191–224. 10 Siehe vor allem Guido Alfani, Philippe Castagnetti u. Vincent Gourdon (Hg.), Baptiser. Pratique sacramentelle, pratique sociale (XVIe–XXe siècles), Saint-Étienne, 2009; Guido Alfani u. Vincent Gourdon (Hg.), Spiritual Kinship in Europe, 1500–1900, New York 2012. 11 Vgl. Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der frühen Neuzeit, Weimar 2000; dagegen verweist Mitterauer auf die Rolle von Nicht-Verwandten und auch Paten bei der Versorgung von Ziehkindern: Michael Mitterauer, Verwandte als Eltern. Familienbeziehungen von Ziehkindern im Ostalpenraum, in: Margareth Lanzinger u. Edith Saurer (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 99–115. 12 Vgl. Sidney W. Mintz u. Eric R. Wolf, An Analysis of Ritual Co-Parenthood (Compadraz go), in: Steffen W. Schmidt, Laura Guasti, Carl H. Lande u. James Scott (Hg.), Friends, Followers and Factions: A Reader in Political Clientelism, Berkeley 1977, 1–15.
192 Christine Fertig
werke geschaffen werden, die zu gegenseitiger Hilfe, Fairness in ökonomischen Beziehungen und der Weitergabe von Informationen verpflichteten.13 Ein frühes, aber wenig bekanntes Beispiel für eine ethnologische Netzwerk analyse von Patennetzen stammt von George Foster. Er hat untersucht, wie Patennetze in der mexikanischen Gemeinde Tzintzuntzan aufgebaut wurden, und dabei Variablen wie geographische und soziale Herkunft, die vorhergehende Beziehung zwischen Eltern und Paten, die Beziehungen der Paten untereinander, den Geburtsrang des getauften Kindes und die Haushaltsform in den Blick genommen. Paten wiesen oftmals denselben Status auf wie die Kindseltern, stammten aus der Nachbarschaft und waren nur selten mit der Familie verwandt. Insbesondere bei den ersten Geburten wurden Verwandte eher gemieden. Die Erklärung für diese Zurückhaltung sieht Foster in den starken Verhaltenserwartungen, die mit einer Patenschaft verbunden waren. Die jungen Eltern lebten zunächst weiter im Haushalt ihrer Eltern bzw. Schwiegereltern und konnten ihnen deshalb kaum aus dem Weg gehen, wodurch die Gefahr von Konflikten relativ groß war. Da Kindseltern und Paten sich aber mit äußerstem Respekt begegnen sollten, trugen viele Eltern den Großeltern eine Patenschaft erst dann an, wenn sie in der Lage waren, einen eigenständigen Haushalt zu gründen.14 Eine systematische, formale Netzwerk analyse hat in jüngerer Zeit Michael Schnegg geleistet, indem er Patenschaftsund Verwandtschaftsbeziehungen im mexikanischen Ort Belén in historischer Perspektive untersuchte. Während Patenschaften zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch vor allem dazu dienten, verlässliche Beziehungen innerhalb der unmittelbaren sozialen Umgebung zu etablieren, werden heute vor allem außenstehende und zugewanderte Familien, die nicht Teil des endogamen Heiratsnetzes sind, durch Patenschaften integriert.15 Das Verhältnis von Patenschaft und Verwandtschaft ist auch für historische Gesellschaften thematisiert worden. Martine Segalen hat gezeigt, dass Patenschaften im Süd-Bigouden (Bretagne) dazu dienten, den zentrifugalen Kräften des europäischen Verwandtschaftssystems entgegenzuwirken. Hier wurden Menschen, 13 Vgl. Barbara Göbel, Risk, Uncertainty, and Economic Exchange in a Pastoral Community of the Andean Highlands (Huancar, N.W. Argentina), in: Thomas Schweizer u. Douglas R. White (Hg.), Kinship, Networks, and Exchange, Cambridge 1998, 158–177. 14 George M. Foster, Godparents and Social Networks in Tzintzuntzan, in: Southwestern Journal of Anthropology 25 (1969), 261–278. 15 Michael Schnegg, Das Fiesta Netzwerk. Soziale Organisation in einer mexikanischen Gemeinde 1679–2001, Münster 2005; ders., Blurred Edges, Open Boundaries. The LongTerm Development of a Peasant Community in Rural Mexico, in: Journal of Anthropological Research 63 (2007), 5–31; ders. u. Douglas R. White, Getting Connected: Kinship and Compadrazgo in Rural Tlaxcala, Mexiko, in: Clemens Greiner u. Waltraud Kokot (Hg.), Networks, Resources and Economic Action, Berlin 2009, 37–52.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 193
zu denen das verwandtschaftliche Verhältnis aufgrund der mit jeder Generation wachsenden Distanz in Vergessenheit zu geraten drohte, wieder über eine neue formale Beziehung an die Familie gebunden.16 Sandro Guzzi-Heeb hat dagegen für das schweizerische Val des Bagnes festgestellt, dass Familien durch Patenschaften ihre sozialen Beziehungen diversifizierten und so zu enge Abhängigkeiten vermieden.17 Die meisten Studien konzentrieren sich jedoch auf die Vernetzung der sozialen Schichten durch Patenschaften. Solveig Fagerlund hat für das südschwedische Helsingborg demonstriert, dass Patenwahlen entweder horizontal oder aufwärtsorientiert waren, aber niemals Personen aus einer niedrigeren Schicht um Übernahme einer Patenschaft gebeten wurden.18 Im 15. Jahrhundert war es dagegen in Florenz üblich, dass Kaufleute durch Patenschaften bewusst formalisierte Beziehungen in die niedrigeren Schichten knüpften, indem sie auch sozial unter ihnen Stehende um die Übernahme von Patenschaften baten.19 In seiner Untersuchung von Patenschaften in der nordschwedischen Stadt Umeå hinterfragt Tom Ericsson die in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gängige Einteilung sozialer Schichten anhand von ökonomischen Daten oder Berufsbezeichnungen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren hier alle sozialen Schichten mit Ausnahme der Oberschicht und der untersten sozialen Schicht gut miteinander vernetzt. Aus relationaler Perspektive bildeten Handwerker, Angestellte und kleine Unternehmer eine homogene Gruppe, von der sich nur eine schmale Elite absetzte. Damit zeigt Ericsson auf, dass die übliche Unterteilung historischer Gesellschaften in Berufs- oder Besitzgruppen die soziale Wirklichkeit nicht unbedingt angemessen abbilden kann. Um soziale Klassen bestimmen zu können, muss das Bewusstsein der historischen Akteure berücksichtigt werden. Da aber in vielen Gesellschaften nur Eliten schriftliche Quellen hinterlassen, die Auskunft über das eigene Selbstverständnis geben, kann die Untersuchung sozialer Netzwerke und damit der alltäglichen Beziehungspraxis hier Einblick geben.20 David Sabean hat in seiner Neckarhausen-Studie Patenschaft neben der Verwandtschaft als zweite fundamentale Institution identifiziert, die langfristige 16 Martine Segalen, Fifteen Generations of Bretons. Kinship and Society in Lower Brittany 1720–1980, New York 1991. 17 Sandro Guzzi-Heeb, Kinship, Ritual Kinship and Political Milieus in an Alpine Valley in 19th Century, in: History of the Family 14 (2009), 107–123. 18 Solveig Fagerlund, Women and Men as Godparents in an Early Modern Swedish Town, in: The History of the Family 5 (2000), 347–357. 19 Vgl. Louis Haas, Il mio buono compare: Choosing Godparents and the Uses of Baptismal Kinship in Renaissance Florence, in: Journal of Social History 29, 2 (1995), 341–356. 20 Tom Ericsson, Godparents, Witnesses and Social Class in Mid-Nineteenth Century Sweden, in: The History of the Family 5 (2000), 273–286.
194 Christine Fertig
Beziehungen zwischen Menschen stiftete. Im frühen 18. Jahrhundert dienten Patenschaften ähnlich wie Heiraten noch dazu, schichten-, generationen- und statusübergreifende Netzwerke zu etablieren. Im 19. Jahrhundert war dann die große Mehrheit der Paten und Patinnen mit den Kindseltern verwandt und sie gehörten sowohl der gleichen Generation als auch derselben sozialen Schicht an. Die Patennetze folgten der Entwicklung der Heiratsbeziehungen, sodass sich horizontal orientierte Netzwerke herausbildeten, die zur Klassenbildung in Neckarhausen beitrugen. Sabean hat demnach für Neckarhausen zunächst ein ähnliches Phänomen beobachtet wie Ericsson für Umeå. Die Klassifizierung der dörflichen Gesellschaft anhand von Besitz- oder Steuerdaten spiegelt die historische soziale Realität, die Integration der lokalen Gesellschaft durch die sozialen Netzwerke, nicht wider. Erst im 19. Jahrhundert orientieren sich die sozialen Beziehungen an den ökonomischen Gegebenheiten, sodass Sabean hier zu Recht von Klassenbildung spricht.21 Josef Mooser, der Ostwestfalen als „ländliche Klassengesellschaft“ beschrieben hat, hat weder Verwandtschaftsbeziehungen noch Patenschaften näher untersucht und sich weitgehend auf ökonomische Variablen gestützt.22 Jürgen Schlumbohm hat bereits deutlich gemacht, dass die sozialen Verhältnisse im nordwestdeutschen Textilgürtel, der sich von Ostwestfalen bis ins Tecklenburger Land zog, damit nur unzureichend beschrieben sind. Anhand von zwei Stichproben hat er die Vernetzung der sozialen Schichten im osnabrückischen Belm durch Patenschaft aufgezeigt. Bauern waren begehrte Paten, die auch bereitwillig Patenschaften von Heuerlingskindern übernahmen, während Kindseltern es eher vermieden, Menschen mit niedrigerem sozialen Status die Übernahme einer Patenschaft anzutragen. Diese Ergebnisse passen zu Schlumbohms generellem Befund, dass von einer „ländlichen Klassengesellschaft“ in dieser nordwestdeutschen Gesellschaft noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Rede sein kann.23 Im Folgenden wird die Etablierung von Patenschaftsbeziehungen in den beiden westfälischen Kirchspielen Borgeln und Löhne untersucht. Dabei werden Patenschaften als Indikator für die relationale Struktur ländlicher Gesellschaften herausgearbeitet. Im Zentrum steht die Frage, ob man Prozesse gesellschaftlicher Segregierung und ländlicher Klassenbildung durch die Analyse sozialer Netzwerke nachweisen kann. 21 David W. Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998. 22 Allerdings sind die Heiratskreise in die Untersuchung einbezogen worden. Siehe Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984. 23 Schlumbohm, Lebensläufe (wie Anm. 6).
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 195
Bauern und ländliche Unterschichten: Netzwerkkonstruktion bei der Taufe In den beiden westfälischen Kirchspielen Löhne und Borgeln finden sich in den Kirchenbüchern nicht nur Bauern als Paten, sondern ein Teil der Paten kam auch aus der ländlichen Unterschicht. Tagelöhner, Ackerknechte, Kleinstbesitzer und (in Löhne) Heuerlinge waren insgesamt zwar unterrepräsentiert, wurden aber sogar von Bauern regelmäßig um die Übernahme einer Patenschaft für ein Kind gebeten. Anders als etwa im württembergischen Neckarhausen, wo jedes Elternpaar nur zwei Paten auswählte und jedes weitere Kind von denselben Paten begleiten ließ, wurden hier zum einen mehr Paten je Taufe beigebracht – etwa drei in Löhne und fünf in Borgeln – und zum anderen wurden für jedes Kind neue Paten gesucht. Die Patennetze der Eltern waren daher mit durchschnittlich elf Paten in Löhne und 15 Paten in Borgeln deutlich größer. In diese im Vergleich relativ großen Patennetze wurden auch dann oftmals Handwerker, Tagelöhner und Heuerlinge aufgenommen, wenn die Eltern selbst Bauern waren.24 Die Eltern und Paten in den beiden Untersuchungsorten wurden nach den Angaben, die aus verschiedenen Quellen gewonnen werden konnten, in drei bzw. vier soziale Schichten eingeordnet. In Löhne findet man Bauern, die aber nur zum Teil ihren Lebensunterhalt vollständig aus der Landwirtschaft als Vollerwerbsbauern generieren konnten, sogenannte Neubauern, Handwerker und Heuerlinge. Als Neubauern wurden Familien bezeichnet, die selbst ein Haus gebaut und einen neuen, in der Regel sehr kleinen Hof gegründet hatten. Handwerker übten ein Handwerk aus, manche hatten daneben aber auch etwas Landbesitz. Heuerlinge waren, wie bereits erläutert, ohne eigenen Landbesitz und wohnten in einem Miet-Arbeitsverhältnis bei einem Bauern. In Borgeln war dieses Heuerlingssystem nicht bekannt. Dort lebten landlose Familien als Tagelöhner, von denen die meisten zwar auch Wohnraum anmieten mussten, die aber in keinem so engen und institutionalisierten Verhältnis zu einem Bauern standen. Der Begriff des „Neubauern“ kommt in den Borgeler Quellen nicht vor, obwohl auch hier einige neue Häuser gebaut wurden. Diese Familien galten wohl nicht als Bauern, sondern als Tagelöhner, da sie auf diesem Wege den größten Teil ihres Lebensunterhalts bestreiten mussten. Für Borgeln werden deshalb drei soziale Schichten angenommen: Bauern, Handwerker und Tagelöhner.
24 Siehe für die folgenden Ausführungen auch C. Fertig, Familie (wie Anm. 4), Kapitel 3.3 und Kapitel 5.
196 Christine Fertig
Tabelle 1: Patenbeziehungen zwischen sozialen Schichten, Löhne (1800–1856) Eltern
Bauern
Neubauern
Paten
N
%
N
%
Bauern
410
62,3
135
54,2
Neubauern
81
12,3
34
Handwerker
25
3,8
12
142
21,6
658
100,0
Heuerlinge Summe
Handwerker
Summe
Heuerlinge
%
N
%
N
%
53
41,4
358
51,1
956
55,1
13,7
19
14,8
99
14,1
233
13,4
4,8
12
9,4
35
5,0
84
4,8
68
27,3
44
34,4
208
29,7
462
26,6
249
100,0
128
100,0
700
100,0
1735
100,0
N
Anmerkung: Chi 32,3***; Quelle: Datenbank Löhne 2
In Löhne gehörten knapp zwei Drittel der Paten von Bauernkindern ebenfalls zur bäuerlichen Schicht, aber jeder fünfte Pate war ein Heuerling. Umgekehrt ist es den Heuerlingen gelungen, jeden zweiten Paten aus der bäuerlichen Schicht zu rekrutieren. In Borgeln wurde die unterbäuerliche Schicht dagegen viel deutlicher ausgegrenzt. Hier blieben Bauern weitgehend unter sich, kaum ein Zehntel der Paten von Bauernkindern waren Tagelöhner, mehr als 80 % waren Bauern. Tagelöhner versuchten ebenfalls, möglichst viele Bauern zu Paten ihrer Kinder zu machen. Obwohl in Borgeln fast zwei Drittel der Familien zu den landlosen Tagelöhnern gehörten, wurden insgesamt nur knapp 16 % der Paten aus dieser Gruppe rekrutiert. Daneben standen hier, anders als in Löhne, wo es kaum Gesinde gab, unverheiratete Knechte und Mägde als potentielle Paten zur Verfügung, die etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung stellten. Die Patenwahl konzentrierte sich also in Borgeln stark auf die bäuerliche Oberschicht und mied die breite Schicht der landlosen Tagelöhner, während die Heuerlinge in Löhne im Vergleich deutlich besser integriert waren. Tabelle 2: Patenbeziehungen zwischen sozialen Schichten, Borgeln (1766–1859) Eltern Paten Bauern
Bauern
Handwerker
N
%
N
Tagelöhner
%
N
%
Summe N
%
1671
82,8
594
67,3
1291
67,1
3556
73,7
Handwerker
155
7,7
143
16,2
222
11,5
520
10,8
Tagelöhner
191
9,5
146
16,5
412
21,4
749
15,5
2017
100,0
883
100,0
1925
100,0
4825
100,0
Summe
Anmerkung: Chi2 173,4***; Quelle: Datenbank Borgeln
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 197
Auch mit Blick auf die Altersabstände zwischen Eltern und Paten kann man für die Kirchengemeinde Borgeln eine deutliche Aufwärtsorientierung feststellen. Paten waren durchschnittlich 40 Jahre alt, mehr als die Hälfte der Paten war älter als die Kindsmütter, nur jeder Fünfte jünger. In Löhne waren die Paten zum einen generell jünger, zum anderen wurden sie nicht so häufig unter älteren Menschen gesucht: Sie waren durchschnittlich 34 Jahre alt, jeweils etwa 30 % der Paten waren gleich alt oder jünger als die Mutter des Patenkindes. Eine formale Netzwerkanalyse des Patennetzes weist in dieselbe Richtung: Die netzwerkanalytischen Maße für die Zentralisierung der Gesamtnetze und für die Zentralität der Akteure belegen, dass das Patennetz in Borgeln deutlich stärker hierarchisiert war als das Löhner Patennetz.25 Um ein Beispiel zu nennen: Das Input Degree-Maß misst die Häufigkeit, mit der ein Akteur gewählt wird, in diesem Fall also eine Patenschaft angetragen bekam und dieser Bitte auch nachgekommen ist.26 In Löhne übernahm Johann Heinrich Fischer gen. Eversmeyer bereits 1802, mit 22 Jahren, seine erste Patenschaft. Sein Patenkind war Carl Heinrich Gottlieb Nolting, das sechste Kind eines Löhner Heuerlings. Nachdem seine beiden einzigen Töchter 1815 bzw. 1816 als Kleinkinder verstorben waren, vergrößerte sich die Schar seiner Patenkinder beinahe jährlich, bis er 1856 zum letzten Mal als Pate fungierte. Insgesamt hatte Fischer gen. Eversmeyer mindestens 27 Patenkinder; auch sein Neffe Ernst Richter, der später seinen Hof übertragen bekam, war darunter.27 In Borgeln wurden, anders als in Löhne, auch Pfarrer und Schullehrer um die Übernahme von Patenschaften gebeten. Mit 54 Patenkindern war Dettmar Sachse, Borgeler Pfarrer von 1797 bis zu seinem Tod 1835, der populärste Pate. Sein Nachfolger, Friedrich Seidenstücker, der zuvor dem Gymnasium in Soest als Schulleiter vorgestanden hatte, war ebenfalls als Pate begehrt, ebenso Heinrich Pötter, der ab 1824 das Amt des Schullehrers und Küsters innehatte. Die Ehefrauen dieser Männer waren als Patinnen fast gleichermaßen beliebt; die Ehefrau des Letzteren, Angeline Schulze zu Borgeln, stammte zudem von einem der größten Höfe des Kirchspiels. Erst
25 Siehe C. Fertig, Familie (wie Anm. 4), 116–120. 26 Daneben wurden weitere gängige Zentralitätsmaße herangezogen, wie input domain, closeness centrality und betweenness centrality. Hier wird nur auf das intuitiv verständliche input degree näher eingegangen. Eine Erläuterung der verschiedenen Maße und die Ergebnisse sind in C. Fertig, Familie (wie Anm. 4), 116–120 zu finden. 27 Es wurden nur die Patenschaften in die Analyse einbezogen, bei denen die Paten sicher zugeordnet werden konnten. Das war nicht bei jedem Kirchenbucheintrag der Fall; siehe hierzu C. Fertig, Familie (wie Anm. 4), 104. Fischer genannt Eversmeyer ist in der Datenbank Löhne unter der ID 14124 zu finden, Ernst Richter unter ID 17670 und Friedrich Dove unter ID 13613.
198 Christine Fertig
nach diesen Pfarrer- und Lehrerfamilien scheint mit Franz Dahlhoff ein Borgeler Bauer in der Liste der populärsten Paten auf.28 Mit jeder Kindstaufe hatten die Eltern im protestantischen Westfalen eine neue Gelegenheit, ihr persönliches Netzwerk zu erweitern. Neben die Blutsverwandtschaft, in die man hineingeboren wird, und die Heiratsverwandtschaft, die man durch die Wahl eines Ehepartners erhält, tritt mit der Taufe der Kinder das Netzwerk der Paten, die das Netzwerk der persönlichen, aber eben auch formalen Beziehungen ergänzten. Kindseltern in Borgeln hielten sich bei der Wahl der Paten bevorzugt an sozial höherstehende Personen und Familien, und anders als Löhner Kindseltern hielten sie sich gerne an Paten, die weniger in als vielmehr über der lokalen Gesellschaft standen. Sie gestalteten ihre Netzwerke mit Blick auf soziale Hierarchien, die Paare aus der unterbäuerlichen Schicht zu überwinden suchten. Die Bauern blieben dagegen gerne unter sich, nahmen nur selten Handwerker und Tagelöhner aktiv in ihre Patennetze auf. Diese Orientierung an höherrangigen Personen spiegelt sich auch in den Altersabständen zwischen Eltern und den zumeist älteren Paten wider. In Löhne waren Patennetze dagegen deutlich egalitärer organisiert. Die Altersabstände zwischen Eltern und Paten waren geringer, und hier bemühten sich nicht nur die Familien der ländlichen Unterschicht, formalisierte Beziehungen mit den Bauern zu etablieren, sondern die Bauern wandten sich ihrerseits auch an Handwerker oder Heuerlinge und baten sie um die Übernahme einer Patenschaft. Mit diesem Verhalten legten die Löhner Bauern einen deutlichen Schwerpunkt auf die Integration der unterbäuerlichen Familien in ihre sozialen Kreise, was die Bauernschaft in Borgeln weitgehend vermied.
Bauern und ihre Heuerlinge: Patenschaft in Löhne Das in Ostwestfalen verbreitete Heuerlingssystem ermöglicht eine genauere Analyse der Patenbeziehungen zwischen Bauern und Heuerlingen. Heuerlinge waren eng in die bäuerliche Hofwirtschaft eingebunden. Sie mieteten oder pachteten ein ganzes oder halbes Haus, zu dem etwas Land gehörte. So konnten sie ein Einkommen erwirtschaften, indem sie zum einen Garn für die überregionalen protoindustriellen Märkte spannen, zum anderen aber Obst, Gemüse, Kartoffeln und etwas Korn selbst anbauten. Ihre Pacht leisteten sie größtenteils durch 28 Die genannten Personen sind unter den folgenden Einträgen in der Datenbank Borgeln zu finden: Dettmar Sachse (747), Sophia Wever verh. Sachse (748), Friedrich Seidenstücker (749), Heinrich Pötter (711), Angeline Schulze zu Borgeln verh. Pötter (712), Franz Dahlhoff (226).
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 199
Arbeitsleistungen der verschiedenen Familienmitglieder ab. Für die bäuerlichen Hofbesitzer hatte das den Vorteil, dass sie flexibel nach Bedarf auf die Arbeitskraft der Heuerlinge zurückgreifen konnten, die ihre Dienste nicht verweigern durften. Die Heuerverträge wurden in der Regel für vier Jahre abgeschlossen. Diesem System war eine klare Zuordnung von Heuerlingsfamilien zu Höfen inhärent, die sich in den Wohnortangaben in den Kirchenbüchern niederschlug; dass die Einträge der Pfarrer nicht immer so eindeutig waren, wie die Historikerin sich dies wünschen würde, steht auf einem anderen Blatt.29 Jürgen Schlumbohm hat gezeigt, dass Heuerlinge sich darum bemühten, Beziehungen zur bäuerlichen Schicht aufzubauen. Viele Familien baten die Bauern, bei denen sie lebten und arbeiteten, die Patenschaft eines Kindes zu übernehmen. In Belm stellten die Bauernfamilien, bei denen die Heuerlingsfamilien lebten, etwa ein Fünftel der Paten von Heuerlingskindern. Umgekehrt vermieden es die Bauern, Paten unter den Heuerlingen zu suchen.30 In Löhne kam es deutlich seltener vor, dass Bauern Patenschaften für Kinder ihrer Heuerlinge übernahmen. Nur 55 der 1.025 Heuerlingskinder im Sample hatten ein Mitglied der Bauernfamilie, bei der die Familie zur Zeit der Geburt lebte, zum Paten.31 Mit nur 4 % aller Paten war dieses Verhalten hier also weniger verbreitet als in Belm. Darüber hinaus bauten diese Patenschaften fast alle auf Verwandtschaftsbeziehungen auf. Über die Hälfte der bäuerlichen Paten waren sehr nahe mit den Kindseltern verwandt, nur für sieben Paten konnte keine verwandtschaftliche Beziehung ermittelt werden.32 Auch umgekehrt gab es Fälle, in denen Bauern ihren Kindern Paten gaben, die als Heuerlinge auf dem Hof lebten. Von 945 Bauernkindern hatten 14 solche ‚eigenen‘ Heuerlinge als Paten (1,5 %). Alle Paten waren Verwandte der Bauern, in acht Fällen handelte es sich um relativ nahe Blutsverwandtschaft: vier Schwestern, 29 Siehe C. Fertig, Familie (wie Anm. 4), 130f. Da die ländliche Gesellschaft der Soester Börde das Heuerlingssystem nicht kannte und so die Wohnorte der Tagelöhnerfamilien praktisch nicht zu ermitteln sind, können die Patenschaftsbeziehungen zwischen Bauern und ihren Mietern in Borgeln nicht untersucht werden. Für eine ausführliche Erläuterung der Beziehungen zwischen Bauern und Heuerlingen siehe Schlumbohm, Lebensläufe (wie Anm. 6), 539–614. 30 Schlumbohm, Lebensläufe (wie Anm. 6), 595ff; ders., Quelques problèmes de microhistoire d’une société locale. Construction de liens sociaux dans la paroisse de Belm (17e–19e siècles), in: Annales. Histoire, Science Sociales 4 (1995), 775–802. 31 Berücksichtigt wurden nur die Kinder, bei deren Geburt ein eindeutiger Wohnort ermittelt werden konnte. 32 Die nahen Verwandtschaftsbeziehungen reichten über Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten bis zu Cousins ersten Grades, deren Ehepartnern, Schwägern sowie deren unmittelbaren Familienangehörigen. Die weiter entfernte Verwandtschaft reicht bis zu sieben Schritten (in ethnologischer Notation).
200 Christine Fertig
zwei Brüder, einen Neffen, einmal auch die Großmutter des Kindes. Andere waren über Heiratsbeziehungen verwandt, wie Schwäger, ein Stiefvetter der Mutter oder der Mann einer Cousine zweiten Grades. Bauern neigten nicht unbedingt dazu, ihre Heuerlinge zu Paten ihrer Kinder zu machen. Sie nahmen aber durchaus Verwandte als Heuerlinge auf den Hof, und dann kam es auch vor, dass sie die bestehende Beziehung durch eine Patenschaft intensivierten. Insgesamt hatten 165 der erwähnten Bauernkinder im Sample einen Heuerling (zum Teil auf anderen Höfen wohnhaft, zum Teil mit unbekanntem Wohnort) zum Paten, von denen die Hälfte nahe verwandt und weitere 13 % entfernt blutsverwandt waren; nur jeder dritte Heuerling als Pate war nicht oder entfernt verschwägert. Auch bei den insgesamt 541 Patenschaften, die Bauern für Heuerlingskinder übernahmen, baute jede zweite auf naher Blutsverwandtschaft bzw. Schwägerschaft oder aber entferntere Blutsverwandtschaft auf. Da die meisten Heuerlinge bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Geschwister von Hoferben aus der bäuerlichen Schicht abgestiegen, sondern selbst als Heuerlingskinder geboren waren, war einem großen Teil der Heuerlinge dieser Zugang zur bäuerlichen Schicht verwehrt.33 Daran wird nochmals deutlich, wie stark die Einbindung der Heuerlinge in die Patennetze der Bauern von Verwandtschaft bestimmt war. In dieser von Abwärtsmobilität geprägten ländlichen Gesellschaft, in der es vielen Bauernkindern nicht gelang, den Status der Eltern zu halten, machten verwandtschaftliche Beziehungen mit Bauern einen entscheidenden Unterschied aus. Sie bildeten ein wichtiges soziales Netz, das manche Unsicherheit der Heuerlingsexistenz aufzufangen vermochte, zumal wenn es durch Patenschaften und die Aufnahme als Heuerling auf den Hof verstärkt wurde. Wenn die Patennetze der Bauern aber nur denjenigen Angehörigen der unterbäuerlichen Schicht offenstanden, mit denen bereits formale, verpflichtende Beziehungen bestanden, so blieb die Mehrheit der Heuerlinge davon ausgeschlossen. In diesem Sinne bedeutete die Verstärkung verwandtschaftlicher Bande durch Patenschaften zugleich einen wirksamen Ausschluss aller anderen, die von der mit Verwandtschaft und Patenschaft verbundenen Unterstützung in Notzeiten abgeschnitten blieben. Verwandtschaft, so belegen diese Ergebnisse, war ein wichtiges Element der Gestaltung der sozialen Beziehungen zwischen Bauern und nicht-besitzenden Familien in Ostwestfalen, aber sie gewährte eben nur einer kleinen Minderheit Zugang zu den Kreisen der Bauern. 33 Mooser hat für das nahe gelegene Kirchspiel Quernheim eine Selbstrekrutierungsrate von über 80 % ermittelt; in Schlumbohms Studie kamen am Ende des 18. Jahrhunderts noch über 20 % der Heuerlinge aus Bauernfamilien, in der Mitte des 19. Jahrhunderts aber nur noch 10 %. Siehe Mooser, Klassengesellschaft (wie Anm. 22), Tabelle 27 im Anhang auf S. 486; Schlumbohm, Lebensläufe (wie Anm. 6), 370ff.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 201
Hinwendung zur Verwandtschaft? Schichtenspezifische Strategien David Sabean hat argumentiert, dass sich Klassenbildung im 18. und 19. Jahrhundert zunächst als Orientierung an den eigenen Verwandten und erst im zweiten Schritt als Orientierung an der eigenen sozialen Schicht ausdrückte. Das gelte für die Wahl der Paten ebenso wie für die Wahl der Heiratspartner: Wurden Verwandte in Neckarhausen zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch regelrecht gemieden, so war im 19. Jahrhundert jeder zweite Pate mit den Kindseltern verwandt. Über die Zeit hat sich bei den Patenschaften, wie zuvor bei den Heiraten, eine klare verwandtschaftliche Endogamie entwickelt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war nur ein Fünftel der Paten mit der Familie des Patenkindes verwandt. Die Paten waren im Durchschnitt zehn Jahre älter als die Kindseltern, und sie waren in der Regel reicher und von höherem Status. Bis zum 19. Jahrhundert veränderte sich die Gestalt der Patennetze. Die Paten waren nun etwa gleich alt wie die Eltern und in den meisten Fällen mit den Eltern verwandt. Allein ein Drittel der Paten kam aus der Kernfamilie des einen oder anderen Elternteils, viele weitere aus dem Bereich der Cousins und Cousinen ersten Grades oder der Schwäger und Schwägerinnen. Gleichzeitig wurden die Netzwerke mit Bezug auf den sozialen Status homogener: Paten und Eltern waren nun in etwa gleich wohlhabend, sodass Patenschaften nicht mehr Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten verbanden, sondern zur Herausbildung einer ländlichen Klassengesellschaft beitrugen.34 Guido Alfani und Vincent Gourdon weisen in ihrem Band zur Patenschaft in Europa darauf hin, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert Verwandte als bevorzugte Paten durchgesetzt hätten, und deuten diese Entwicklung als Bedeutungsverlust der Patenschaft.35 Man kann diese Hinwendung zu Verwandten aber auch als Aufwertung der verwandtschaftlichen Beziehungen sehen. In der Netzwerkanalyse bezeichnet man die mehrfache Belegung von Beziehungen als Multiplexität. Multiplexe Beziehungen zeichnen sich durch eine besondere Stabilität aus, da sie verschiedene soziale Rollen, wie zum Beispiel Arbeitskollege und Freund, oder eben Cousin und Pate vereinen.36 Die Entscheidung, Verwandte um die Über34 David W. Sabean, Social Background to Vetterleswirtschaft: Kinship in Neckarhausen, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, 113–132. 35 Die Autoren gehen davon aus, dass Verwandtschaft die gesellschaftlich weniger bedeutsame Patenschaft überlagern würde und bewerten die Auswahl verwandter Paten als Verzicht auf Patenbeziehungen. Guido Alfani u. Vincent Gourdon, Spiritual Kinship and Godpar enthod: an Introduction, in: dies. (Hg.), Spiritual Kinship (wie Anm. 10), 1–46. 36 Vgl. Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse: Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen 2003, 104ff.
202 Christine Fertig
nahme einer oder gar mehrerer Patenschaften zu bitten, hat jedoch auch Folgen für das persönliche Netzwerk der Kindseltern. Mit jeder Geburt und jeder neuen Kindstaufe eröffnete sich den Eltern im Westfalen des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, das Netzwerk der sozial Nahestehenden um neue Personen zu ergänzen. Die Beziehungen zu den Nachbarn konnten stärker formalisiert und damit vertieft werden, aus Freundschaften konnten formale Beziehungen werden, Tagelöhner und Heuerlinge konnten versuchen, verbindliche Kontakte mit einzelnen Bauern zu etablieren. Baten Eltern nun aber ihre eigenen Verwandten darum, eine Patenschaft zu übernehmen, so verzichteten sie mit diesem Schritt darauf, ihre persönlichen Netzwerke zu erweitern. Sie bevorzugten Menschen aus ihrem sozialen Nahbereich, verdichteten das sie umgebende Beziehungsgeflecht und hielten das persönliche Netzwerk damit eher klein. Nimmt man die gesamte lokale Gesellschaft in den Blick, ging mit dieser Entscheidung gegen eine Ausweitung der Beziehungen eine Tendenz zur sozialen Abschließung einher. Sabean hat diese Entwicklung für Neckarhausen beschrieben: Indem zunächst die Oberschicht, dann auch andere ihre Beziehungen auf diejenigen konzentrierten, mit denen man schon zuvor eng verbunden war, trennten sich die Lebensbereiche der sozialen Gruppen mittelfristig. Eine Tendenz zur Bevorzugung von Verwandten geht somit immer mit einer zunehmenden Entflechtung und Desintegration einer Gesellschaft einher. Im folgenden Abschnitt wird der Frage nach einer zunehmenden Verwandtschaftsorientierung in den beiden hier untersuchten Kirchspielen nachgegangen. Zunächst wird geschaut, wie viele Paten in den beiden Untersuchungsorten aus dem Bereich der Verwandtschaft kamen, und wie sich die Patennetze der verschiedenen sozialen Schichten gestalteten. Verfolgten Bauern und Familien der unterbäuerlichen Schichten dieselben Ziele oder konstruierten sie ihre persönlichen Netzwerke unterschiedlich? Im letzten Schritt wird danach gefragt, wie sich die Beziehung zwischen Patenschaft und Verwandtschaft über die Zeit veränderte: Kann man wirklich von einer allgemeinen Hinwendung zu den Verwandten während der Sattelzeit sprechen? Die aus den Taufregistern der Kirchenbücher erhobenen Patenbeziehungen können mit Verwandtschaftsbeziehungen abgeglichen werden. Familienrekonstitutionen enthalten nicht nur Beziehungen innerhalb von Familien, sondern verbinden über Abstammung und Heirat auch nahe und entfernte Verwandte miteinander. Folgt man den Pfaden der Verwandtschaft über Geburten und Heiraten, so können auch sehr weit entfernte Verwandte identifiziert werden. In der Praxis stellt sich dann aber zum einen die Frage, über welche Distanz Beziehungsketten verfolgt werden können, wo die technischen Möglichkeiten also an ihre Grenzen stoßen. Zum anderen muss man aber auch inhaltlich fragen, bis zu
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 203
welchem Abstand Menschen als verwandt gegolten haben. Werden Personen, zu denen eine verwandtschaftliche Beziehung besteht, die über eine Ahnin in sechster Generation läuft, noch als verwandt wahrgenommen oder ist diese Beziehung längst in Vergessenheit geraten? Verwandtschaft wird in vielen Gesellschaften sehr unterschiedlich definiert. Im christlichen Europa ist es generell üblich, väterliche wie mütterliche Verwandte als gleich verwandt anzusehen, aber die Tiefe des verwandtschaftlichen Bewusstseins ist nicht einfach zu erfassen. Die kognatische Grundstruktur des europäischen Verwandtschaftsverständnisses führt dazu, dass nur Vollgeschwister dieselben Verwandten haben, während ihre Eltern jeweils eigene Verwandtschaften haben. Durch dieses Prinzip ist das Verwandtschaftssystem in hohem Maße offen und flexibel: Jenseits der Kernfamilie und ihrer unmittelbaren Umgebung kann man unter den entfernteren Verwandten auswählen und bestimmte Beziehungen pflegen, andere vernachlässigen oder auch gänzlich in Vergessenheit geraten lassen.37 Die verwandtschaftlichen Beziehungen in Borgeln und Löhne wurden bis zum siebten Schritt ermittelt. „Schritte“ sind hier direkte verwandtschaftliche Verbindungen, entsprechend der in der Ethnologie üblichen Notation. Bei den Blutsverwandten wäre etwa eine Cousine dritten Grades als entfernte Verwandte klassifiziert.38 In den folgenden Analysen gelten Blutsverwandte innerhalb von drei Schritten, also bis zu Cousins und Cousinen ersten Grades, als nahe Verwandte, und bis zu sieben Schritten als entfernte Verwandte. Bei den affinalen Verwandten, die über Heiratsbeziehungen verbunden sind, reicht die nahe Verwandtschaft nach der hier gewählten Definition bis zu den unmittelbaren Verwandten der Schwäger (Eltern, Geschwistern oder Kindern) und auch zu den angeheirateten Onkeln und Tanten. Auch hier umfasst die entfernte Verwandtschaft sieben Schritte, schließt also zum Beispiel die Schwester des Ehemanns der Nichte der angeheirateten Tante (MBWBDHZ) mit ein.39 Mit den entfernten Verwandten wird also ein Bereich abgedeckt, bei dem man davon ausgehen kann, dass den Zeitgenossen eine verwandtschaftliche Beziehung bekannt war. Bei den 37 Vgl. Heidi Rosenbaum, Verwandtschaft in historischer Perspektive, in: Michael Wagner u. Yvonne Schütze (Hg.), Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart 1998, 17–33. 38 Bei einer Cousine dritten Grades könnte sie nach anthropologischer Notation zum Beispiel wie folgt aussehen: FMMZSDD (= Vaters Mutters Mutters Schwesters Sohns Tochters Tochter, oder, etwas verständlicher, die Tochter der Enkelin der Urgroßmutter); siehe auch die nächste Fußnote. 39 Die Notation folgt den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe: M = mother, F = father, Z = sister, B = brother, D = daughter, S = son, W = wife, H = husband. Schwestern werden mit Z bezeichnet, da der Buchstabe S für ‚Sohn‘ steht.
204 Christine Fertig
Blutsverwandten kann man auch bei entfernten Verwandten, wie etwa Cousins dritten Grades, annehmen, dass die Beteiligten um die genaue Form der Beziehung wussten. Bei den affinalen Verwandten ist das nicht so klar. Dass eine entfernte Form der angeheirateten Verwandtschaft bestand, dürfte aber auch hier den meisten Protagonisten vor Augen gestanden haben. In beiden Kirchspielen suchten die meisten Bauern Paten für ihre Kinder, die mit der Familie verwandt waren. Sowohl Paten aus der bäuerlichen Schicht als auch jene ohne oder mit nur geringem Landbesitz waren in mehr als 80 % der Fälle mit ihren Patenkindern verwandt. Wenn zuvor festgestellt worden ist, dass die Löhner Bauern in aller Regel nur verwandte Heuerlinge in die Patennetze integrierten, so muss dieser Befund vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Bauern generell wenig dazu neigten, Paten jenseits der eigenen Verwandtschaft zu suchen. In Löhne war der Anteil der Verwandten sogar noch höher, wenn die Paten selbst Bauern waren, und auch in Borgeln waren nicht-verwandte Paten beinahe eine Ausnahme. Bei den Heuerlingen und Tagelöhnern fällt der Anteil der Verwandten deutlich geringer aus: In Löhne lag er bei etwa drei Vierteln der Paten, in Borgeln bei gut der Hälfte. Familien der unterbäuerlichen Schichten hatten also auf den ersten Blick eine geringere Neigung, Verwandte um die Übernahme einer Patenschaft zu bitten. In Tabelle 3 wird die Struktur der Patennetze in Löhne genauer nach sozialer Schichtung und verwandtschaftlichen Verhältnissen aufgezeigt. Zwischen Bauern wurden Patenbeziehungen in der Regel nur dann etabliert, wenn die Familien bereits miteinander verwandt waren. Bei fast zwei Dritteln der Patenbeziehungen zwischen Bauernfamilien waren die Eltern und Paten nahe verwandt. Heuerlinge wurden dagegen auch dann um die Übernahme einer Patenschaft gebeten, wenn sie nur entfernt verwandt waren. Umgekehrt bemühten sich Heuerlinge, ihre persönlichen Netzwerke stärker zu differenzieren und legten nicht ganz so viel Wert auf Verwandtschaft, wenn sie ihre Patennetze gestalteten. Sie berücksichtigten nahe und ferne Verwandte; jeder vierte Pate kam jedoch nicht aus dem Bereich der Verwandtschaft. Wie andere Analysen gezeigt haben, fanden Bauern und Heuerlinge in diesem Kirchspiel ähnlich viele Verwandte vor, sodass sich die Unterschiede in den Patennetzen mit unterschiedlichen Präferenzen erklären lassen.40 Heuerlinge diversi40 An anderer Stelle ist gezeigt worden, dass junge Menschen auf dem Heiratsmarkt unterschiedlich viele Verwandte vorgefunden haben. In Löhne waren die Unterschiede zwischen jungen Erwachsenen aus der bäuerlichen und der unterbäuerlichen Schicht nicht sehr groß: Bauernkinder waren mit 69,0 % der potentiellen Heiratskandidaten verwandt, Heuerlingskinder mit 72,0 %. In beiden Gruppen gehörten die meisten dieser Verwandten aber zum Bereich der entfernten Heiratsverwandtschaft (45,1 % bei den Bauern, 50,6 % bei den Heuerlingen). Siehe C. Fertig, Familie (wie Anm. 4), 199–205.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 205
fizierten ihre persönlichen Netzwerke, indem sie sie über ihren sozialen Nahbereich ausweiteten und die Mehrzahl der Paten jenseits der engen Verwandten suchten. Tabelle 3: Patenbeziehungen von Bauern und Heuerlingen, nach Verwandtschaft und Schicht, Löhne (1800–1856) Eltern
Bauern
Paten
Bauern
Heuerlinge
Heuerlinge
Bauern
Heuerlinge
N
%
%
N
%
Nahe Verwandte
255
62,2
72
50,7
137
38,3
97
46,6
Entfernte Verwandte
108
26,3
50
35,2
134
37,4
57
27,4
%
N
47
11,5
20
14,1
87
24,3
54
26,0
410
100,0
142
100,0
358
100,0
208
100,0
Nicht Verwandte Summe
N
Quelle: Datenbank Löhne
Die Patennetze der Borgeler Bauern und Tagelöhner sind in Tabelle 4 dargestellt. Wie in Löhne sind auch in Borgeln die Patenbeziehungen zwischen Bauernfamilien von naher Verwandtschaft bestimmt. Erhebliche Unterschiede gibt es aber bei den nicht-bäuerlichen Paten. Sie machen einen bei weitem kleineren Anteil in den bäuerlichen Patennetzen aus und kamen in der Regel aus der nahen Verwandtschaft. Tagelöhner wurden also nur dann um die Übernahme einer Patenschaft gebeten, wenn sie der Herkunftsfamilie eines Elternteils angehörten oder die Position eines Onkels, einer Tante, eines Cousins oder einer Cousine innehatten. Auf diesem Wege wurden also die sozialen Absteiger in einer bäuerlichen Gesellschaft, die von Abwärtsmobilität geprägt war, stärker in die sozialen Netze eingebunden. Bereits in der nächsten Generation galt dies aber nicht mehr: Entfernte Verwandte waren die kleinste Gruppe unter diesen Paten. Tabelle 4: Patenbeziehungen von Bauern und Tagelöhnern, nach Verwandtschaft und Schicht, Borgeln (1800–1856) Eltern Paten
Bauern Bauern N
%
Tagelöhner
Tagelöhner N
Bauern
%
N
Tagelöhner
%
N
%
Nahe Verwandte
721
63,0
98
74,8
286
30,7
157
48,9
Entfernte Verwandte
235
20,5
14
10,7
203
21,8
22
6,9
Nicht Verwandte
188
16,4
19
14,5
444
47,6
142
44,2
1.144
100,0
131
100,0
933
100,0
321
100,0
Summe Quelle: Datenbank Borgeln
206 Christine Fertig
Die Borgeler Tagelöhner diversifizierten ihre Patennetze dagegen stark. Knapp die Hälfte der Paten war nicht mit der Familie des Patenkindes verwandt, und die Eltern suchten die Paten lieber unter den Bauern als innerhalb der eigenen sozialen Schicht. Allerdings muss man berücksichtigen, dass Tagelöhner in Borgeln, anders als die Löhner Heuerlinge, generell schlecht in verwandtschaftliche Netzwerke eingebunden waren. Schaut man auf den dörflichen Heiratsmarkt, wird dies deutlich: Bei den Bauernkindern waren 41,4 % der potentiellen Heiratspartner verwandt, bei den Tagelöhnerkindern aber nur 12,6 %. Tagelöhner in Borgeln waren also nicht von dichten Verwandtschaftsnetzen umgeben. Bei der Konstruktion der Patennetze setzten sie auf eine recht ausgewogene Mischung aus verwandten und nicht-verwandten Paten, die zu einem erheblichen Teil aus der bäuerlichen Schicht stammten. Der Vergleich der schichtenspezifischen und verwandtschaftlichen Struktur der von den Kindseltern konstruierten Patennetze zeigt zum einen erhebliche Unterschiede zwischen den sozialen Schichten. Bauern hatten eine ausgeprägte Tendenz, ihre sozialen Kreise zu schließen und Paten vornehmlich aus ihrem sozialen Nahbereich zu rekrutieren. Damit hielten sie ihre persönlichen Netzwerke eher klein und schlossen sie gegen Außenstehende ab. Die Familien der unterbäuerlichen Schichten legten dagegen Wert auf heterogene persönliche Netzwerke. Sie nutzten das Instrument der Patenschaft, um ihre sozialen Kreise zu erweitern. So baten sie auch viele nicht-verwandte Personen, Patenschaften zu übernehmen, und wandten sich bevorzugt an Bauern und deren Kinder, um dauerhafte Beziehungen zu den bäuerlichen Schichten zu etablieren. Die sozialen Gruppen verfolgten also in beiden Kirchspielen deutlich unterschiedliche Strategien. Zum anderen kann man aber auch deutliche Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsorten erkennen. Bauern waren überall die beliebteren Paten, aber in Borgeln wurden die Tagelöhner weitgehend aus den Patennetzen der Bauern ausgeschlossen, sofern sie nicht zur unmittelbaren Verwandtschaft gehörten. In Löhne war der Anteil der nicht oder nur entfernt verwandten Paten dagegen sogar höher, wenn die Paten aus einer niedrigeren sozialen Schicht kamen. Hier waren Bauern eher bereit, formalisierte Beziehungen zu Menschen und Familien aus den landlosen Schichten einzugehen. Dieses Verhalten passt gut zum Heuerlingssystem, wie es Jürgen Schlumbohm für den Osnabrücker Raum untersucht hat. Bauern und Heuerlinge gingen Beziehungen ein, die eine gewisse Zeit überdauern sollten und weitreichende gegenseitige Rechte und Verpflichtungen umfassten. Diese Gesellschaft war somit deutlich stärker von inklusiven sozialen Netzwerken gekennzeichnet als die soziale Struktur in Borgeln, die stärker von Klassengegensätzen – und dem Bemühen, die sozialen Grenzen zu festigen – geprägt war.
Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen 207
Wurden die Beziehungen zu den Verwandten zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert nun wichtiger? Schaut man auf die Patenschaften, so kann man die Frage für das Kirchspiel Borgeln zunächst bejahen: Bis zu den 1790er Jahren waren weniger als 40 % der Paten mit der Familie des Patenkindes verwandt; in den 1840er Jahren stellten Verwandte dann etwa 60 % der Paten. Hier nahm die Bedeutung der Verwandten für die Patennetze deutlich zu. In Löhne findet man dagegen eine ganz andere Entwicklung. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts waren mehr als 80 % aller Paten verwandt, deren Anteil fiel dann aber auf unter 60 %. In Löhne kann man also eher von einem Bedeutungsverlust der Verwandtschaft sprechen. Auch hier ist wieder ein Blick auf das unterschiedliche Verhalten der sozialen Schichten aufschlussreich. Die Löhner Heuerlinge bauten vor allem vermehrt Beziehungen zu Menschen auf, mit denen sie nur entfernt und nicht blutsverwandt waren, während die Bauern weiterhin viel Wert auf vertiefte Beziehungen zu ihren nahen Verwandten legten und ihre Verbindungen zu den entfernten Verwandten eher reduzierten. Auch in Borgeln baten die Familien der Tagelöhner vor allem Menschen aus der entfernten angeheirateten Verwandtschaft verstärkt darum, eine Patenschaft zu übernehmen. Bei den Bauern wurden dagegen vor allem nahe Blutsverwandte, aber auch Schwäger und Schwägerinnen immer wichtiger. In beiden Kirchspielen bemühten sich die unterbäuerlichen Familien also um eine stärkere Diversifizierung ihrer Patennetze, während die Bauern eine ausgeprägte Präferenz für ihre nähere Verwandtschaft hatten.
Schluss Paten waren neben den Verwandten wichtige Akteure in den persönlichen Netzwerken vorindustrieller ländlicher Gesellschaften. Die Patenschaft wird oft in die Nähe der Verwandtschaft gerückt, da beide Beziehungsformen auf Dauer angelegt, mit gewissen Verhaltenserwartungen belegt und formalisiert waren. Die beiden Beziehungsformen sind jedoch nicht zu verwechseln, da die Patenschaft eine aktiv gesuchte Beziehung darstellt, die nur auf Betreiben der Kindseltern und durch Akzeptanz der Paten zustande kommt. Dies unterscheidet sie deutlich von der Blutsverwandtschaft, die man sich nicht aussuchen kann, und auch von der angeheirateten Verwandtschaft, die man bei der Wahl des Ehepartners zumindest in Kauf nimmt. In der sozialen Praxis wird Verwandtschaft jedoch immer auch gestaltet. Im christlichen Europa wird zum einen die Ehe stark betont, zum anderen sind auch Formen des unverheirateten Lebens sozial akzeptiert. Beide Varianten sind mit einem Verlassen der Herkunftsfamilie, und damit auch der Verwandtschaft, verbunden, die die Pflege der weiteren familiären oder
208 Christine Fertig
verwandtschaftlichen Beziehungen zur bleibenden Aufgabe der Protagonisten macht. In der sozialen Praxis kann man beobachten, dass verwandtschaftliche Beziehungen mit zunehmender Entfernung auch nur mit einem gewissen Aufwand aufrechterhalten werden können. Dies eröffnet Raum für Entscheidungen: Verwandtschaft kann gepflegt, vernachlässigt, nach langer Zeit wieder aktiviert oder auch vergessen werden. Die Analyse von Patenschaften ist ein Weg, um der Bedeutung von Verwandtschaft nachzuspüren. Für die hier untersuchten Kirchspiele konnte gezeigt werden, dass die Konstruktion der persönlichen Netzwerke im ländlichen Westfalen des 18. und 19. Jahrhunderts nicht nur regional unterschiedlich war, sondern auch von der sozio-ökonomischen Position der Menschen mitbestimmt wurde. Die unterbäuerlichen Familien bemühten sich um breite, stark diversifizierte Netzwerke, während die Bauern sich eher an ihren sozialen Nahbereich hielten. Die sozio-ökonomischen Strukturen waren in beiden Kirchspielen zunächst ähnlich. Beide wurden bestimmt durch das nordwestdeutsche Anerbenrecht, das zu einer Konzentration von Immobilienbesitz in den Händen weniger Bauern und zu einer breiten Schicht landloser Familien führte. Jenseits dieser Besitzverteilung gab es aber Gestaltungsmöglichkeiten, die zu sehr unterschiedlichen Beziehungsstrukturen innerhalb der Gemeinden führten. Bauern tendierten dazu, ihre sozialen Netzwerke eher klein zu halten, aber in Löhne waren sie bestrebt, neben engen Verbindungen zu Verwandten oder Nachbarn auch dauerhafte Beziehungen in die unterbäuerliche Schicht hinein zu etablieren. Sie baten regelmäßig Heuerlinge darum, Patenschaften für ihre Kinder zu übernehmen. So waren Bauern zwar die beliebteren Paten, zwischen bäuerlicher und unterbäuerlicher Schicht entstand aber ein fest gewebter Teppich aus dauerhaften, formalisierten Beziehungen. Die Borgeler Bauern legten wenig Wert auf Beziehungen mit ihren Tagelöhnern, die über ein einfaches Arbeitsverhältnis hinausgingen. Zu Paten baten sie Menschen ohne eigenen Besitz nur dann, wenn sie mit ihnen verwandt waren. Die Konstruktion der Patennetze lässt erkennen, dass Beziehungen zur näheren Verwandtschaft in den ländlichen Oberschichten einen höheren Stellenwert hatten als in den unterbäuerlichen Schichten.
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Reverenz und Referenz Zwei Weisen der populären Genealogie seit dem 19. Jahrhundert und ein neuer genealogischer Universalismus? Elisabeth Timm
In den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sind die ökonomische, soziale, kulturelle, politische Entwicklung und die gegenwärtige Dynamik von Familie und Verwandtschaft gut untersuchte Gegenstände.* Nach der fachbegründenden Position von kinship in der Ethnologie, der strukturfunktionalistischen Konzentration auf Familie oder gar Kernfamilie in der Soziologie und der sozialhistorischen und diskursanalytischen Vermessung von Verwandtschaft und Familie als Untersuchungsgegenstände unter anderem in der Geschichtswissenschaft stehen nun in allen Disziplinen ähnliche analytische Perspektiven auf der Tagesordnung: ein praxeologisch konzipiertes Studium von Familie und Verwandtschaft als doing kinship1 sowie Fragen nach der Korrespondenz dieser Praktiken mit Prozessen der Subjektivierung und (sich wandelnder) gesellschaftlicher und politischer Ordnung heute. Das beinhaltet zudem eine intensivierte erkenntnistheoretische Problematisierung der analytischen Begriffe und Kategorien:2 Wenn Repräsen* Erste Fassungen dieser Überlegungen habe ich auf der 18. Herbsttagung des Arbeitskreises Historische Demographie der DGD in Münster im Oktober 2011 und als 13th Meertens Ethnology Lecture am Meertens Institut in Amsterdam im Juni 2012 vorgetragen. 1 In der ethnologischen Diskussion zunächst making kinship (Mary Weismantel, Making Kin. Kinship Theory and Zumbagua Adoptions, in: American Ethnologist 22 (1995), 685–709); siehe den Überblick dazu bei: Michael Schnegg u. a., Verwandtschaft heute: Positionen, Ergebnisse und Forschungsperspektiven, in: Erdmute Alber u. a. (Hg.), Verwandtschaft heute. Positionen, Ergebnisse und Perspektiven, Berlin 2010, 7–44. Bourdieus Differenzierung zwischen dem „offiziellen“ und dem „praktischen“ Nutzen von Verwandtschaft hatte diese Richtung bereits eingeschlagen; für die Geschichtswissenschaft systematisiert von Margareth Lanzinger und Edith Saurer als Unterscheidung von „usueller“ und „konzeptueller“ Verwandtschaft (Pierre Bourdieu, Sozialer Nutzen der Verwandtschaft, in: ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987, 288–351, 297; Margareth Lanzinger u. Edith Saurer, Politiken der Verwandtschaft. Einleitung, in: dies. (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 7–22, 18). 2 Immer noch grundlegend ist die frühe, in der sozialhistorischen, soziologischen und volkskundlichen Familienforschung erarbeitete Problematisierung von „Familie“ und
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tationen, Medien und Operatoren von Familie und Verwandtschaft – kulturelle Formate wie Bilder, materielle Objekte, soziale Formen und Aussagesysteme wie Diskurse – nicht mehr als Indikatoren familialer und verwandtschaftlicher Systeme verwendet werden, sondern eigene Untersuchungsgegenstände sind,3 müssen hergebrachte analytische Kategorien neu befragt werden. Die Wissenschaftsgeschichte von Familie und Verwandtschaft ist produktiv in Bearbeitung. Frühe diskursanalytische Untersuchungen haben in ihrer Auseinandersetzung mit der Mentalitätsgeschichte gezeigt, dass die Erforschung von Familie und Verwandtschaft dem epistemischen Doppelpack von Produktion und Dokumentation ihres Erkenntnisgegenstandes kaum entkommen kann: „[D]ie Realität des Familienlebens“ kann nicht isoliert (zum Beispiel mentalitäts-)historisch dokumentiert werden, weil sich „die Familie nicht als Ausgangspunkt, sondern als bewegliche Resultante, als unbeständige Form“ zeigt, „deren Erkennbarkeit darauf beruht, daß man das System der Beziehungen zwischen ihr und der sozio-politischen Entwicklung untersucht, indem man alle praktischen Vermittlungen zwischen diesen beiden Ebenen offenlegt und die wirksamen Transformationslinien aufgreift, die diesen Bereich wechselseitiger Durchdringung durchlaufen.“4 Auch die neue Verwandtschaftsforschung in der Ethnologie, die new kinship studies,5 reflektieren die daraus erwachsene Aporie: „[…] this book is at least as much about
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„Verwandtschaft“ als Analysekategorien, vgl. nur: Michael Mitterauer, Problematik des Begriffs „Familie“ im 17. Jahrhundert, in: Heidi Rosenbaum (Hg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, Frankfurt a. M. 19884, 73–82; Carola Lipp, Dörfliche Formen generativer und sozialer Reproduktion, in: Wolfgang Kaschuba u. dies., Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaften, Tübingen 1982, 288–598; Heidi Rosenbaum, Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft. Kritik grundlegender Ansätze der westdeutschen Familiensoziologie, Stuttgart 19782. Exemplarisch für die Ethnologie: Mary Bouquet, Family Trees and their Affinities. The Visual Imperative of the Genealogical Diagram, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute 2, 1 (1996), 43–66; für die historische Forschung programmatisch und als Überblick der Forschungsentwicklung zu dynastischen Genealogien: Elizabeth Harding u. Michael Hecht (Hg.), Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation, Münster 2011. Jacques Donzelot, Die Ordnung der Familie. Mit einem Nachwort von Gilles Deleuze, Frankfurt a. M. 1979, 15, sowie 14–20 kritisch zur Mentalitätsgeschichte von Philippe Ariès und Jean-Louis Flandrin. Sarah Franklin u. Susan McKinnon, New Directions in Kinship Study. A Core Concept Revisited, in: Current Anthropology 41, 2 (2000), 275–279; dies. (Hg.), Relative Values. Reconfiguring Kinship Studies, Durham 2001.
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what has happened to the anthropological study of kinship in recent years as it is about what has happened to our everyday experience of kinship.“6 Daraus ergibt sich die Konsequenz, Familie und Verwandtschaft wissenshistorisch zu untersuchen. Ich möchte im Folgenden am Beispiel der populären Genealogie die Dimensionen dieser Problemstellung aufzeigen: Zum einen resümiere ich für Formen und Formate von Genealogie zwei Dynamiken, nämlich Reverenz (Genealogien, die primär Unterschiede herstellen) und Referenz (Genealogien, die primär nicht qualifizierte Verbindungen herstellen). Im Modus der Reverenz findet stets eine Entscheidung statt zwischen Personen, die in die historische Verwandtschaft aufgenommen werden – weil sie Prestige bringen und distinguiert sind – und anderen, die herausgelassen werden, obwohl eine Beziehung – gemessen an den jeweils plausiblen Sinnsystemen – dokumentierbar wäre. Das gilt beispielsweise für adelige Genealogien. Ich nenne diesen Modus Reverenz, weil er nur bestimmte Personen als Verwandte qualifiziert und (ein)schätzt, andere dagegen ausschließt, und dieses Unterscheidungsvermögen ist sowohl Strategie als auch Medium und Effekt der Reverenz. Der andere Modus ist Referenz: Hier wird nicht prinzipiell unterschieden zwischen Personen, die in die historische Verwandtschaft aufgenommen werden sollen oder nicht. Umgangssprachlich formuliert: Im Modus der Referenz kann man sich Verwandte nicht aussuchen – wenn eine Person durch einen Quellenbeweis als verwandt evident gemacht werden kann, ist ein Ausschluss nicht mehr möglich; dieses Inklusionsvermögen ist sowohl Strategie als auch Medium und Effekt der Referenz, und in der populären Genealogie gelten sehr unterschiedliche Indizien als Quellenbeweise. Zum anderen: Auf den ersten Blick handelt es sich bei Reverenz und Referenz um zwei sehr unterschiedliche Fälle von Genealogie. Bei genauerem Hinsehen aber wird deutlich, dass in beiden Fällen ein Ontologieverdacht die genealogische Artikulation in Gang bringt – das ist ihre Gemeinsamkeit: Beide Weisen der Genealogie gründen die geschaffenen Beziehungen auf vorangegangene Verbindungen. Dabei sind aber auch Unterschiede zu beobachten: Für die gegenwärtige populäre Genealogie steht die Phantasie, dass alle verstorbenen und lebenden Menschen miteinander verwandt sind, vor einer digital-technischen Realisierung. Im Unterschied zu historischen Universalgenealogien, die Allverbundenheit hierarchisch strukturiert haben, fehlen heute qualifizierende Unterschiede im Universum der Verwandtschaftsdatenbanken der populären Genealogie. Und anders als historische Universalgenealogien, die historische und mythische Zeit, Menschen und Götter, Natur und Kultur integrierten, diskriminieren sich die Menschen in der
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Janet Carsten, After Kinship, Cambridge 2004, 7f.
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populären Genealogie von heute mit einer absoluten Trennung menschlicher Beziehungen von allen anderen möglichen Beziehungen.
Reverenz: Genealogie schafft ausgezeichnete Beziehungen In der spontanen populären wie wissenschaftlichen Wahrnehmung und auch in ihrer Praxis war Genealogie bis ins 19. Jahrhundert identisch mit Reverenz. Die Geschichte der Genealogie in Europa ist ein Teil der Geschichte ständischer Ordnung im Allgemeinen und Teil von Adelsgeschichte im Besonderen. Die dynastische Organisation des Adels über Abstammung, mit der Herrschaft qua Anciennität legitimiert wird, ist ein gut untersuchter Gegenstand. Sozial, politisch, spirituell und kosmologisch weisen diese Genealogien stets nach oben – etwa auf ritterbürtige Ahnen oder zu Religionsstiftern und Göttern oder in eine vorhistorische Zeit oder in eine beispielsweise philosophisch und politisch präferierte historische Zeit, vor allem in die Antike. Aus allen möglichen familialen oder verwandtschaftlichen Verbindungen werden nach dem Prinzip der Reverenz nur spezifische als Beziehungen erkannt und anerkannt, viele mögliche Verbindungen hingegen werden verworfen, obgleich sie dokumentierbar wären. Die neuen Forschungen zur dynastischen Genealogie haben auf den Wandel und die Vielfalt dieser Praxis hingewiesen. Stammbäume, die geschichtswissenschaftlich lange als prosopographische Quellen und Dokumente fungierten, werden nun als zielgenaue, strategische Schöpfungen zugunsten politischer und anderer Interessen rekonstruiert.7 Verwandtschaft ist auf der Grundlage dieser Quellen kein Fund, sondern, wie beispielsweise Jörn Garber für mittelalterliche und frühneuzeitliche Abstammungstheorien ausgewiesen hat, stets eine Kombination 7
Für programmatische Einzelstudien zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Genealogien siehe Harding/Hecht, Ahnenprobe (wie Anm. 3); Kilian Heck, Ahnentafel und Stammbaum. Zwei genealogische Modelle und ihre mnemotechnische Aufrüstung bei frühneuzeitlichen Dynastien, in: Jörg Jochen Berns u. Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktion und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien u. a. 2000, 563–584; Gert Melville, Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter-Johannes Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, 203–309; Wolfgang Brückle, Noblesse oblige. Trojasage und legitime Herrschaft in der französischen Staatstheorie des späten Mittelalters, in: Kilian Heck u. Bernhard Jahn (Hg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit, Tübingen 2000, 39–65; Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004.
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von Fund und Erfindung.8 Am Beispiel der dynastischen Genealogie von bzw. zu den Franken und Habsburgern (bzw. Merowingern) erörtert Garber, inwiefern der Adel im Mittelalter zwischen historischem und mythischem Beleg nicht kategorisch unterschied. Er zeigt das am Beispiel des seit dem 12. Jahrhundert weit verbreiteten genealogischen Gebrauchs des Trojamythos auf: Sowohl Karl der Große als auch habsburgische Herrscher begründeten und legitimierten ihren Machtanspruch über eine genealogische Verortung der fränkischen bzw. merowingischen Genealogien in Troja. Diese Form der Reverenz war durch ein weiteres Merkmal bestimmt: Solche Genealogien schlossen alle Völker ein, was Garber als „genealogischen Universalismus“ charakterisiert. Erst nach dem Humanismus und der Reformation begann die genealogische Legitimierung adeliger Herrschaft, nationale Geschichten zu produzieren, die nicht mehr alle Völker, sondern nur noch eine spezifische Gruppe umfasste, die später als ‚Nationalvolk‘ identifiziert wurde. Im Vergleich zum genealogischen Universalismus wurde der Blick humanistischer Gelehrter auf die griechische und römische Antike (sowie insgesamt im Kontext der Renaissance) zu einem historisch-kritischen. Das machte es nicht mehr möglich, die Lücke zwischen den mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Reichen und dem antiken Griechenland und Rom mit genealogischer Fiktion zu schließen, die überdies die klassische Mythologie integrierte. Solche Forschungen zur dynastischen Genealogie haben herausgearbeitet, inwiefern diese eben weniger die Geschichte adeliger Häuser und Linien dokumentieren, sondern vor allem ein Ausdruck adeliger Kunstfertigkeit im Gebrauchen von Geschichte zur Konstatierung, Legitimierung und Sicherung von Macht sind. Dynastische Genealogie also produzierte ihr Material mit dem Modus der Reverenz: Diejenigen Personen, die (nach Evidenzerzeugung über Ahnenprobe u. ä.) in eine Abstammungslinie eingereiht wurden, sind positiv qualifiziert worden – als ritterbürtig oder gar als göttlicher Herkunft, als Herrscher eines präferierten Staatswesens. Dynastische Genealogie arbeitete immer mit einem diskreten und absoluten Unterschied zwischen den Personen, die aufgenommen wurden in die Verkettung von Beziehungen, und den Personen, die nicht und niemals aufgenommen werden können. Nicht kategorisch unterschieden wurde hingegen zwischen Menschen und anderen Wesen wie Göttern. Diese Geschichte und Mythos integrierende Form, die humane und göttliche Wesen verknüpfte, wurde schon lange vor modernen wissenschaftlich-genealogischen Vorstellungen von Biologie, Abstammung und genetischer Vererbung unplausibel. Fallstudien zeigen, 8
Jörn Garber, Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ‚Nationale‘ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung, in: Klaus Garber (Hg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, 108–163 (dort auch das Folgende).
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wie in diesem Genre auf die Entstehung der Idee von dokumentierter Geschichte (die wiederum verwoben und angewiesen war auf neue Drucktechniken) reagiert wurde: Roberto Bizzocchi dokumentiert eine Intensivierung der „généalogies fabuleuses“ im 16. und 17. Jahrhundert in Europa und interpretiert diese als Reaktion auf die in der Renaissance beginnende Unterscheidung zwischen historisch-kritisch belegbarer Geschichte und literarisch-mythischer Überlieferung der römischen Antike sowie als Reaktion auf die damit verbundene Relativierung biblischer Mythologie als Geschichte: Damit brachen die zwei tragenden Säulen der Genealogien mit teleologischer und universaler Reverenz weg.9 Schließlich, so Bizzocchi in Anspielung auf die Guillotine der Revolution, wurden den „généalogies fabuleuses“ durch die Aufklärung und den Wandel von der dynastischen zur politisch-kontraktuellen Verfasstheit von Gesellschaft der Grund der Autorität und der Herrscher als Reverenz zugleich entzogen: „Mais il ne semblera pas inopportun de terminer en suggerant qu’il a dû exister un rapport entre le fait de couper les racines des arbres généalogiques et celui de couper la tête des hommes qui, grâce à eux, légitimaient leurs privilèges.“10 Die Etymologie des Lateinischen nennt zu Reverenz mehrere Anhaltspunkte, etwa das Verb vereri – fürchten, sich scheuen, verehren –, aber auch das Sub stantiv reversum im Sinne von Antwort. Reverenz ist ein Modus der Distinktion, Repräsentation, Legitimation, Auszeichnung durch Genealogie. Solche Orientierungen speisten lange auch die bürgerliche Genealogie, insbesondere zur Zeit ihrer Formierung in Vereinen seit dem späten 19. Jahrhundert. Dass die Gründung der nationalen genealogischen Vereinigungen – um nur zwei der ältesten zu nennen: „Herold“ in Berlin 1869 und „Adler“ in Wien 1870 – als Verein möglich war, hatte die Liberalisierung des Vereinsrechts zur Voraussetzung. Die großen genealogischen Gesellschaften Europas produzierten damit eine Spannung, welche die gewandelte Plausibilität von Reverenz um die Jahrhundertwende und deren widersprüchliche Ausgestaltungen dokumentiert: Zusammengeschlossen nach dem Prinzip der freien Assoziation, bewiesen sie gesellschaftliche Ordnung nach wie vor im ständischen Modus, nämlich qua Geburt und Abstammung. Wie David Sabean in einer Fallstudie zu bürgerlichen Familienvereinen im deutschen Kaiserreich gezeigt hat, verwendeten auch diese bürgerlichen Genealogen Reverenz als Operator: Ihr Verwandtschaftsbegriff präferierte patrilineale Verwandtschaft und führte diese zurück auf wenige ausgewählte Ahnherren.11 Obgleich ebenso wie 9
Roberto Bizzocchi, Généalogies fabuleuses. Inventer et faire croire dans l’Europe moderne. Préface de Christiane Klapisch-Zuber, Paris 2010. 10 Ebd., 259. 11 David W. Sabean, Constructing Lineages in Imperial Germany: eingetragene Familienvereine, in: Michaela Fenske (Hg.), Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des
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in adeligen Genealogien prestigeträchtige Ahnen gesucht und gefunden wurden, beschränkte diese bürgerliche Genealogie ihre Beziehungsreiche jedoch auf die historische Zeit. Das Fundament der sozialen Welt waren immer noch Geburt oder zumindest Überlieferung (zum Beispiel gute Erziehung), der in Anspruch genommene Horizont war nach wie vor ein hierarchisch auszeichnender,12 aber nicht mehr ein universell integrierter und auch nicht mehr ein den Mythos einschließender. Zentral war die Verbindung von biographischer und historischer Zeit, ausgedrückt durch das Verständnis von Genealogie als „Forschung“.13 Der Adel wiederum reagierte widersprüchlich auf die Erschütterung des Geburtsprinzips. In der österreichisch-ungarischen Monarchie etwa führte die Nobilitierungspraxis des Kaisers einerseits zu einer Entwertung von Titeln: Adelstitel wurden zu einer Art Ware, die mit einer komplexen Mischung von ökonomischem und symbolischem Kapital erworben werden konnte.14 Andererseits reagierte das Haus Habsburg vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Schließung der Genealogie durch eine Verschärfung der Ahnenprobe für ein Amt am Hof und wurde dadurch, wie William Godsey nachgewiesen hat, zu einer der sozial exklusivsten Dynastien in Europa.15
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Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp, Münster 2010, 143–157. Vgl. Jason Tebbe, Landscapes of Remembrance: Home and Memory in the Nineteenth-Century Bürgertum, in: Journal of Family History 33, 2 (2008), 195–215. Vgl. Jason Tebbe, From Memory to Research. German Popular Genealogy in the Early Twentieth Century, in: Central European History 41, 2 (2008), 205–227. Die Geschichte genealogischer Medien war jedoch schon länger auch Wirtschaftsgeschichte geworden. Für die österreichischen Erblande etwa sind „Wappenbüros“ oder „Wappenkontore“ seit dem 18. Jahrhundert gewerberechtlich nachgewiesen. Vgl. Hanns Jäger-Sunstenau, Wappenbüros in Österreich, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 40 (1987), 320–345, 325. Auch im Horizont bürgerlicher Gesellschaft sind um 1900 komplexe Aushandlungsprozesse bezüglich der Konvertierbarkeit ökonomischen und symbolischen Kapitals beschrieben, zum Beispiel zum Kaiserreich: Gudrun M. König, Jüdische Kommerzienräte und die Titelkaufdebatte, in: Freddy Raphaël (Hg.), „… das Flüstern eines leisen Wehens …“. Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Festschrift für Utz Jeggle, Konstanz 2001, 325–344; komparativ zu Preußen, Österreich und Großbritannien: Kai Drewes, Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2013. William D. Godsey jr., Quarterings and Kinship. The Social Composition of the Habsburg Aristocracy in the Dualist Era, in: The Journal of Modern History 71, 1 (1999), 56–104. Die mittlerweile vorliegenden eingehenden Fallstudien zur populären Genealogie belegen immer wieder solche reaktiven Mobilisierungen, vgl. zur Reaktion von „Roots-crazed white ethnic groups“ auf die black genealogy der 1960er Jahre (siehe Anm. 18): Matthew Frye Jacobson, Roots Too. White Ethnic Revival in Post-Civil Rights America. Cambridge, MA 2006; Amber N. Nickell, Cultivating ‚Roots‘. Towards a Diasporically Imagined Transnational
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Das Jahr 1918 markiert einen der Endpunkte der konstitutionellen Instituierung des Geburtsrechts. Damit aber wurde die genealogische Praxis der Reve renz keineswegs Geschichte. Als kulturelle Form hatte sie längst weite Verbreitung gefunden. In der von Fachleuten der Archive und Geschichtswissenschaft überlieferten Folklore der Lesesäle finden sich zahllose Geschichten und Witze über die Phantasien und Wünsche nach Reverenz, die in der populären Genealogie zu belächelten Irrtümern führten.16 Die strengen und angestrengten Formulierungen in einschlägigen Handbüchern und Ratgebern dokumentieren bis heute, dass solche Phantasien nicht aus Unkenntnis resultieren, sondern sich aus sozialen und kulturellen Formen und Formaten speisen, die mit Information nicht aufzuklären sind: „Daß das Wörtchen ‚von‘ vor einem Ortsnamen hier dasselbe ist wie das heutige ‚aus‘, soll nicht unerwähnt bleiben, gibt es doch nur zu oft Anlaß zur Verwechslung mit einem adeligen Familiennamen. Einem jeder vernünftigen Grundlage entbehrenden Wunschtraum von der adeligen Herkunft ehrbarer Bürgerlicher, die angeblich wegen Verarmung oder anderer widriger Umstände ihren Adel ‚ablegten‘, haftet stets Lächerlichkeit an. Zugrunde liegt häufig die Feststellung, daß der Name der bürgerlichen Familie auch mit einem Adelsprädikat vorkommt. Soweit der Name auch Ortsname ist, wurde er in früher[er] Zeit nicht nur für ein dort ansässiges Adelsgeschlecht zum Familiennamen, sondern ebenso für zahlreiche nichtadelige Bewohner, die in der Fremde nach diesem Herkunftsort benannt wurden. Eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen diesen beiden Gruppen ist ebensowenig vorauszusetzen wie zwischen Angehörigen der zweiten Gruppe untereinander.“17 Historisch-kritisch betrachtet Community, The American Historical Society of Germans from Russia, 1968–1978, in: Traversea 2 (2012), 4–16, 5 (Zitat). 16 Die jüngere Geschichte des Wandels der Archive durch ihre Nutzung ist noch zu schreiben. Zu neueren Fallstudien und Forschungsprogramm vgl. Philipp Müller, Archives and History. Towards a History of „the Use of the State Archives“ in the 19th Century, in: History of the Human Sciences 26, 4 (2013), 27–49. Für die USA hatte das Zusammenfallen des Bicentennial mit der Publikation des genealogischen Romans „Roots“ (siehe Anm. 18) zu einer Intensivierung der Archivnutzung geführt, die so massiv war, dass sie deren Abgrenzungen grundlegend änderte: „This growing interest in family history is effecting a broad change in the attitude of librarians and archivists toward the genealogist and genealogical research. In the past the usual library attitude has not supported service to genealogists […]. It is anticipated that this issue will help librarians understand the fervor of genealogists and might generate an attitude of real assistance to them instead of the more common feeling of such researchers being second-class citizens.“ Diane Foxhill Carothers, Introduction, in: Library Trends 32, 1 (1983), 3–5. 17 Margarete Joachim, Arbeitsweise des Familienforschers, in: Wolfgang Ribbe u. Eckart Henning (Hg.), Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Neustadt an der Aisch 199511, 21–27, 23.
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ist das ein Problem von Dilettantismus und mangelnder Quellenkritik und somit kein Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit; in kulturanthropologischer Perspektive hingegen sind solche Missdeutungen starke Daten einer longue durée von Reverenz. Egal, ob aus Unachtsamkeit oder als heimlicher Wunsch: Solche Fehler weisen auf Manifestationen des genealogischen Modus der Reverenz hin, die sozial über die rechtliche Geltung dynastischer Genealogien hinausgehen und historisch weit ins 20. Jahrhundert hineinreichen. Zudem formierten sich im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Kontexten neue Varianten der Reverenz, eine davon soll hier erörtert werden: Im Gefüge der Regionalisierung populärer Genealogie entwickelten sich in der Zwischenkriegszeit vielfältige Netzwerke zwischen neuen Gruppen genealogischer Aktivisten, historischer Vereinsgenealogie, (eugenischer) Bevölkerungswissenschaft und völkischer bzw. faschistischer Genealogie. Einer dieser Fälle war die steirische und bayerische Volksgenealogie mit ihrer Suche nach bäuerlichen Ahnen in Deutschland und Österreich. Ab den 1970er Jahren entstand ausgehend von den USA die Bewegung der black genealogy, die sich auf die historische Suche der als Sklaven aus Afrika deportierten Vorfahren machte.18 Beide Fälle genea18 Für die USA gut untersucht ist die Bewegung der black genealogies, die auch in Reaktion auf den Roman „Roots. The Saga of an American Family“ entstand, publiziert 1976 und 1977 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Vgl. David Chioni Moore, Routes: Alex Haley’s Roots and the Rhetoric of Genealogy, in: Transition 64 (1994), 4–2. In diesem Roman erzählt der Schriftsteller Alex Haley seine Ahnenforschung, mit der er sich auf einen Sklaven namens Kunta Kinte, verschleppt im Jahr 1767 aus Gambia, zurückführt. Insbesondere die Verfilmung des Romans, ausgestrahlt 1977, hatte, wie Fallstudien dokumentieren, unmittelbar einen sehr starken Anstieg der genealogischen Nutzungen in Archiven zur Folge (siehe Anm. 15). Vgl. Peggy Tuck Sinko u. Scott N. Peters, A Survey of Genealogists at The Newberry Library, in: Library Trends 32, 1 (1983), 97–109, 102f. Der Roman ist auch heute noch eine Referenz für root-seeking, selbst dann, wenn genetische Tests mitverwendet werden. Vgl. Alondra Nelson, Bio Science. Genetic Genealogy Testing and the Pursuit of African Ancestry, in: Social Studies of Science 38, 5 (2008), 759–783, 763. Diese Reverenz an die ersten Sklaven wirkte mobilisierend und als empowerment in der US-amerikanischen black community nach innen: „Roots made Black family history and genealogy chic.“ Joyce E. Jelks u. Janice White Sikes, Approaches to Black Family History, in: Library Trends 32, 1 (1983), 139–159, 150. Das Interesse an black genealogy ist im weiteren Kontext der Re-Ethnisierung US-amerikanischer melting-pot-Konzepte zu situieren. Vgl. James A. Hijiya, Roots: Family and Ethnicity in the 1970s, in: American Quarterly 30, 4 (1978), 548–556. Nach außen erzeugte diese postkoloniale Variante des Freud’schen Familienromans symbolisches Kapital, indem sie diesen auf den Kopf stellte. Sigmund Freud hatte als „Familienroman der Neurotiker“ (1909) Tagträume charakterisiert, in denen der Neurotiker „beide Eltern durch vornehmere ersetzt“ und von einer vorpubertären „Phantasie des Kindes“ geschrieben, „die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen“. Sigmund Freud, Der Familienroman der
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logischer Praktiken belegen sowohl das Fortbestehen als auch den Wandel von Reverenz als Modus populärer Genealogie. In beiden Fällen wurde die Richtung von Reverenz umgekehrt: Bisher entwertete, ausgeschlossene, missachtete Personen und Gruppen wurden nun als respektabel positioniert; in beiden Fällen verbanden die Aktivisten das mit der Absicht, die Koordinaten der politischen und sozialen Welt zu verändern. Mit der Volksgenealogie versuchten katholische Pfarrer in der Steiermark und in Bayern, die durch die Industriemoderne in Veränderung befindliche bäuerliche Welt buchstäblich zu nobilitieren. Hier sollen weniger die Bezüge und Beziehungen dieser genealogischen Bewegung mit der sich herausbildenden (rassistischen) Bevölkerungsforschung und Demographie thematisiert werden,19 sondern es geht um die explizite Richtungsänderung der Reverenz. In den Dörfern mit der zunehmenden Land-Stadt-Wanderung konfrontiert, fanden die katholischen Pfarrer die Adressen für das vereri nicht mehr an den Palais der Bürger oder am adeligen Hof und nicht mehr in den Städten, sondern auf dem Land, an den Höfen von „Bauernadelsgeschlechtern“.20 Diese Umwertung geschah nicht lediglich konstatierend, sondern mit hohem argumentativem Aufwand und auf der Grundlage von intensiver Quellenarbeit. Die populäre Genealogie der Volksgenealogen nach dem Ersten Weltkrieg unterschied sich von den einzelnen genealogischen Aktivitäten von Pfarrern und Lehrern im ländlichen Raum Europas, die seit dem
Neurotiker, in: ders., Gesammelte Werke chronologisch geordnet, Bd. VII: Werke aus den Jahren 1906–1909, hg. von Anna Freud u. a, Frankfurt a. M. 1999, 227–231 (dort auch die folgenden Zitate). Kulturanthropologisch ist hier relevant, dass Freud die phantasierten Eltern nicht nur emotional, sondern auch sozial beschrieb, nämlich als „höher“, „vornehmer“, „großartiger“. Die Suche nach deportierten Sklaven kehrt die Richtung der Untersuchung im Kontext der Bürgerrechtsbewegung um: Der amerikanische Traum blieb den black americans verwehrt; und eine der Strategien im Kampf um die Realisierung gleicher Rechte war die Umwertung der Geschichte: „Großartig“ ist die Geschichte an Gewalt und Unterdrückung, die ein deportierter Sklaven-Ahn erlitten hat, und die Reverenz darauf machten black genealogists zum Argument ihrer Würde. 19 Siehe dazu Brigitte Fuchs, „Rasse“, „Volk“, Geschlecht. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850–1960, Frankfurt a. M/New York 2003, 244–247; Thomas Mayer, Family Matters. The Rise of Family Research as a Scientific Method and the Scientification of Eugenics in Vienna after World War I, in: Hermann Hunger, Felicitas Seebacher u. Gerhard Holzer (Hg.), Styles of Thinking in Science and Technology. Proceedings of the 3rd International Conference of the European Society for the History of Science, Vienna, September 10–12, 2008, Wien, 2009, 1068–1080; Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2013. 20 Joseph Demleitner, Stephan Glonner, ein Volksgenealoge, in: Blätter des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde V, 2 (1941), 73–77.
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frühen 19. Jahrhundert belegt sind, vor allem darin, dass sie sich als Assoziation und Bewegung verstand.21 Ihre Protagonisten, insbesondere der steirische Theologe und Pfarrer Konrad Brandner, formulierten ein Forschungsprogramm, statteten die Bewegung mit Medien wie Zeitschriften aus,22 entwickelten Methoden zur Auswertung von Matriken (Kirchenbüchern) ganzer Dörfer und versuchten, Genealogie als kollektives Zusammenstellen von Daten zu realisieren. Konrad Brandner hatte von August 1905 bis August 1907 seine erste Pfarrstelle als Kaplan in der Pfarre Haus im Ennstal.23 Nach seiner Promotion an der Universität Graz arbeitete er zunächst als Präfekt und Lehrer am Bischöflichen Knabenseminar in Graz; ab 1922 war er dort Direktor des Bischöflichen Gymnasiums. Er starb im Oktober 1939 infolge eines schweren Herzleidens in Graz im 59. Lebensjahr. Wie kam Brandner auf die Idee einer Genealogie, die die Richtung ihrer Suche nach Respektabilität umdreht? Brandner selbst stellt seinen Weg als aus den Quellen erwachsen dar: Nachdem er den Sommer des Jahres 1919 im Hause seines Pfarrkollegen und Theologen Dr. Josef Steiner, Pfarrprovisor in Weichselboden, über den dortigen Matriken verbracht hatte, formulierte er in der 1920 folgenden Veröffentlichung dieser Forschungen seine volksgenealogische Programmatik: „Die genealogische Forschung hat sich bisher fast nur mit der Abstammung der Mitglieder regierender Häuser und adliger Familien befasst. […] Eine Genealogie jedoch, die das gesamte Volk einer Gemeinde oder eines Landstriches oder eines ganzen Landes umfasst, gibt es bisher nicht. Man könnte eine solche Genealogie, die nicht einzelne Persönlichkeiten für sich, sondern im Zusammenhang mit der Abstammung die ganze Bevölkerung eines Ortes behandelt, Volksgenealogie nennen.“24 21 Das unterscheidet sie auch von Genealogien mit bäuerlicher Autorschaft, zu denen nur wenig Forschung vorliegt. Dicht dokumentiert und programmatisch in der Argumentation bäuerlicher Genealogie nicht als Dokument, sondern als distinguierendes Argument: Roland Linde, „… daß die Zweige dem Stamm folgen müßen.“ Bäuerliche Familienüberlieferungen in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe, in: Frank Göttmann u. Peter Respondek (Hg.), Historisch-demographische Forschungen. Möglichkeiten, Grenzen, Perspektiven. Mit Fallbeispielen zur Sozial- und Alltagsgeschichte Westfalens (14.–20. Jahrhundert), Köln 2001, 107–137. 22 Konrad Brandner (Hg.), Mitteilungen über die Fortschritte der steirischen Volksgenealogie, Heft 1–11, Graz 1922–1929. 23 Diözesanarchiv Graz-Seckau, Graz, Personalakten Priester, Dr. Konrad Brandner (dort auch die folgenden biographischen Angaben). 24 Konrad Brandner, Die Bevölkerung der Pfarre Weichselboden in Steiermark. Genealogisch dargestellt. Nebst einigen Gedanken über die Schaffung einer steirischen Volksgenealogie. Sonderabdruck aus dem Jahresbericht des Fürstbischöflichen Gymnasiums am Seckauer Diözesan-Knabenseminar Carolinum-Augustineum in Graz am Schlusse des Schuljahres 1919/20, Graz 1920, 1 (Hervorhebung im Original).
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Konrad Brandner kannte die zeitgenössische Literatur zur Genealogie und verwies auch auf sie;25 allerdings stellte diese für ihn laut eigenem Bekunden keine seinem Vorhaben passende Methodik für die vollständige Auswertung von Kirchenbüchern bereit. So erläuterte er zu seiner Methodik, dass er „diese Grundsätze“ „erst allmählich gewonnen“ habe, und er unterstrich, dass er sie „auch gegenwärtig noch keineswegs für abgeschlossen betrachte“.26 Der bayerische Protagonist der Bewegung, Pfarrer Josef Demleitner, mit dem Brandner korrespondierte, kam hinsichtlich der Fachliteratur zum selben Schluss: „Kennen Sie: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung v. Dr. Fr. Wecken, Leipzig 1922? Das Büchlein ist gut und gibt viele praktische Winke, freilich für unser Arbeitsgebiet die Volksgenealogie müssen wir uns manch neue Wege bauen.“27 Brandner hatte für die erste Publikation im Jahr 1920 aus dem ihm zur Verfügung stehenden Material gezielt ausgewählt: „In der hier folgenden genealogischen Arbeit versuchte ich nun, an einem Beispiel die oben entwickelten Grundsätze zu erproben und anzuwenden. Da mir an dieser Stelle nur ein beschränkter Raum zur Verfügung steht, musste ich eine kleine Pfarre mit möglichst jungen Matriken wählen.“28 Ausschlaggebend für diese Entscheidung war gerade nicht Historie, sondern Didaktik für eine kommende populäre Genealogie des „Volkes“: „Die Bedeutung dieser Genealogie liegt daher nicht in dem Alter und Umfang der Stammbäume.“ Angesichts der von Brandner hier konterkarierten Kriterien der Materialwahl für dynastische genealogische Praxis („Mitglieder regierender Häuser und adliger Familien“) – Reverenz durch Auswahl exklusiver Linien oder Häuser, Reverenz durch Anciennität – wird deutlich, welchen programmatischen Unterschied Brandner mit dieser Entscheidung machte: Für das Lehrstück der Volksgenealogie, für die erste gedruckte Publikation, verabschiedete er sich von Distinktion und Anciennität als Relevanzkriterien. So erläutert er zu einer anderen, später publizierten Auswertung zur Pfarre Haus, in der er 1919 begonnen hatte: „Dadurch wurden sämtliche in der Pfarre Haus seit 1586 geborene und in den dortigen Matrikeln
25 Das waren: Ottokar Lorenz, Lehrbuch der gesammten wissenschaftlichen Genealogie, Stammbaum und Ahnentafel in ihrer geschichtlichen, sociologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung, Berlin 1898, Otto Forst de Battaglia, Genealogie, Leipzig 1913 und Friedrich Wecken, Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Leipzig 1919. 26 Konrad Brandner, Über Volksgenealogie, in: Familiengeschichtliche Blätter 24 (1926), 225–228 u. 293–296, 227. 27 Diözesanarchiv Graz-Seckau, Graz, Personalakten Priester, Dr. Konrad Brandner, Pfarrer Demleitner an Konrad Brandner, 22.12.1922. 28 Brandner, Weichselboden (wie Anm. 24), 9.
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eingetragenen Personen in genealogischen Zusammenhang gebracht, also eine Volksgenealogie im oben geschilderten Sinne für diesen Ort hergestellt.“29 Quantitativ und qualitativ brachte diese Methode jedoch keine Aggregierung von Daten hervor, sondern eine diese vervielfältigende Neuordnung. Die Auswertung der Matriken der Pfarre Haus im Ennstal ergab nämlich „mehr als 5.200 Stammtafeln“. Die verfügbaren Medien und Darstellungsformen waren dem gewaltigen genealogischen Vorhaben, für das Konrad Brandner mehrere Jahrzehnte Bearbeitungszeit veranschlagte, nicht gewachsen: „Es schwebte mir dabei der Gedanke vor, für das ganze Land Steiermark eine umfassende Volksgenealogie zu schaffen. Wenn das Interesse ein allgemeineres wäre, wäre die Sache zu erreichen. Steiermark hat 987.000 Einwohner.“30 Von den geplanten Auswertungen wurden nur wenige realisiert, und noch weniger kamen als Publikation in den Druck. Schon 1924 konnte keine neue Fertigstellung mehr gemeldet werden; zudem vermerkte Brandner, dass einige der Mitarbeiter wieder ausgestiegen seien – zu diesem Zeitpunkt (1924) wurden jedenfalls 32 Prozent der steirischen Pfarren mit 18 Prozent der Bevölkerung des Landes bearbeitet – also vor allem die kleinen Pfarren.31 Das Jahr 1925 steht für einen Wandel in der volksgenealogischen Bewegung: Brandner meldete in den von ihm seit 1922 herausgegebenen „Mitteilungen über die Fortschritte der steirischen Volksgenealogie“ eine letzte Fertigstellung – insgesamt waren nun sieben Pfarren dokumentiert und eine davon monographisch gedruckt worden (der Band zur Pfarre Weichselboden von 1920). Die in Bearbeitung befindlichen Erfassungen wurden „aus Platzmangel“ nun erstmals nicht mehr aufgelistet.32 Zugleich aber gab es zunehmend Aufmerksamkeit für die Aktivitäten der steirischen Bewegung: Im September 1925 präsentierte Brandner seine Forschung auf der Tagung der bayerisch-österreichischen heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft des Inn-Salzach-Gaues; im selben Jahr zeigte er die Volksgenealogie in einer Ausstellung in Wien. Außerdem hatten (genealogische) Zeitschriften im In- und Ausland über die genealogischen Aktivitäten der steirischen
29 Brandner, Volksgenealogie (wie Anm. 26), 227 (dort auch das folgende Zitat im Text). Zur Produktion von Sesshaftigkeit als Distinktionskriterium und Agenda der Volksgenealogie vgl. Timm, Grounding the Family (wie Anm. 37). 30 Brandner, Volksgenealogie (wie Anm. 26), 228. 31 Konrad Brandner, Die steirische Matrikenarbeit im Jahre 1924, in: Mitteilungen über die Fortschritte der steirischen Volksgenealogie 4 (1924), 1–3, 1. 32 Konrad Brandner, Der Gedanke der Volksgenealogie außerhalb Steiermarks, in: ders., Mitteilungen über die Fortschritte der steirischen Volksgenealogie 5 (1925), 1–2 (dort auch die folgenden Zitate im Text).
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Pfarrer berichtet.33 Inhaltlich war Brandners Editorial von 1925 der erste Text, in dem er Bezug auf Vererbungslehre und Rassenkunde nimmt. Zu den Besprechungen der Volksgenealogie in genealogischen Zeitschriften erklärt er: „Der Herausgeber dieser Blätter glaubt daraus zu erkennen, daß das angestrebte Ziel einer genealogischen Darstellung der Gesamtbevölkerung des Landes ein wertvoller Beitrag zur Kenntnis unseres Volkes wäre. Die Kenntnis der Abstammung der Bevölkerung gibt auch der in neuester Zeit aufstrebenden Wissenschaft über Vererbung und Rassenzugehörigkeit der einzelnen Menschen Anhaltspunkte und eröffnet dadurch Ausblicke auf die Erklärung geschichtlicher Vorgänge, die heute noch gar nicht zu ermessen sind.“ Der innere und der äußere Wandel der Volksgenealogie bilden einen Angelpunkt in der Geschichte genealogischen Wissens: Brandner nimmt auf die „Wissenschaft über Vererbung und Rassenzugehörigkeit“ 1925 erstmals explizit Bezug, also vier Jahre nachdem „Die menschliche Erblehre“ von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz erschienen war.34 Zwischen der populären Genealogie – hier: der Volksgenealogie – und der wissenschaftlichen Genealogie – hier: der Erblehre und Rassenhygiene – bestand somit ein komplexes Verhältnis: Der quellennah arbeitende Volksgenealoge Brandner konnte seiner detailverliebten Fleißarbeit mit den Matriken 1925 durch die Bezugnahme auf eine „aufstrebende Wissenschaft“ Legitimität und Relevanz verleihen; umgekehrt füllten Erblehre und Rassenhygiene ihr Programm erst spät, ab Mitte der 1920er Jahre, mit visualisierten Genealogien auf, also mit genealogischen Formaten, die populär schon länger, breit und wenig standardisiert praktiziert worden waren. 33 Viktor Lebzelter, Steirische Volksgenealogie, in: Wiener Zeitschrift für Volkskunde 28 (1923), 90–92. 34 Erwin Baur, Eugen Fischer u. Fritz Lenz, Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 2 Bde., München 1921. In der wissenschaftsgeschichtlichen Rezeptionsforschung zur Vererbungslehre wird dieses Buch als vom Verlag wirtschaftlich und politisch genau kalkulierter „Versuch […], die sich entwickelnden multidisziplinären Ansätze rassenhygienischer Wissenschaft zu einem Gesamtkomplex zu einen“ positioniert. Vgl. Heiner Fangerau, Etablierung eines rassenhygienischen Standardwerkes 1921–1941. Der Baur-Fischer-Lenz im Spiegel der zeitgenössischen Rezensionsliteratur, Frankfurt a. M. 2001, 245 u. 247. Fangerau dokumentiert in seiner buchhistorischen Untersuchung, wie der Band von den Rezensionen innerhalb von wenigen Jahren zu einem „Standardwerk“ „geschrieben“ wurde (ebd., 247). Das war begleitet von einer visuellen Akzentuierung des Werks bei dessen Erweiterung: Fangerau erörtert, dass der Anstieg der Seitenzahlen von rund 550 Seiten der ersten Auflage im Jahr 1921 auf fast 800 Seiten der vierten Auflage (1936) bis zu über 500 Seiten allein für einen weiteren Teilband des ersten Bandes in der fünften Auflage im Jahr 1940 „in erster Linie durch eine Zunahme der aufgeführten Tabellen, Tafeln und Vererbungsstammbäume bedingt“ war (ebd., 52f).
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Markant ist, dass im selben Jahr, in dem die Reverenz auf steirische „Bauerngeschlechter“ mit „Rasse“ akzentuiert wird, eine weitere Modifikation stattfindet: Ab 1925 gibt es in den „Mitteilungen“ die neue Rubrik „Anfragen und Auskünfte“. Diese Sparte wird zu Beginn noch unspezifisch verwendet und sowohl mit Recherchefragen als auch mit Metakommunikation zu den „Mitteilungen“ bestückt. Zum einen ging es hier um das Schließen von Lücken in den Genealogien (die letztlich aus Migration resultierten, welche die Matriken nicht abbildeten, und die die Volksgenealogen zwar bemerkt, aber aus der Dokumentation ausgeschlossen hatten). Zum anderen verwendete Brandner diese aber auch zur Herausgeber-Kommunikation: „Anfragen und Auskünfte. 1. Wer kann etwas über die Geburtsdaten des am 22. Februar 1804 im Alter von 62 Jahren zu Kaisersberg in Obersteiermark verstorbenen Georg Walter mitteilen? Er dürfte aus einer Pfarre Obersteiermarks stammen. Mitteilungen erbeten an Emmerich Zenegg, Klagenfurt, Herrengasse 14. 2. Wer in den Matriken etwas über den Namen Hilber findet, wird ersucht, dies Herrn Richard Clement Hilber, Hauptmann a. D. in München, Marienplatz 29, 2. Stock, mitzuteilen. 3. Der Herausgeber bittet, frühere Folgen der ‚Mitteilungen‘, falls sie entbehrlich sind, zur Verfügung zu stellen, da wiederholt nach denselben gefragt wird.“ Auch wenn es zunächst nicht zu einem Wandel des Modus der Reverenz führte, so war doch mit der Rubrik „Anfragen und Auskünfte“ eine Richtung eingeschlagen worden, die eine entortete Vernetzung genealogischer Daten zum Ziel hatte. Solche Interessen, die Verbindungen nicht nach Blut und Boden ordneten, sollten bei der rechtlichen und politischen Verwendung von Genealogie ab den 1930er Jahren im deutschen Machtbereich keine Rolle mehr spielen. Die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 instituierten rassistische, antisemitische Reverenz als genealogische Praxis.35 Dabei griff der NS-Staat durch die Kooperationen des Reichssippenamtes mit genealogischen Vereinen und Gesellschaften und mit den christlichen Kirchen bestehende genealogische Aktivitäten auf, trieb diese aber auch rassistisch voran.36 35 Eric Ehrenreich, The Nazi Ancestral Proof. Genealogy, Racial Science, and the Final Solution, Bloomington 2007; Thomas Pegelow, Determining ‚People of German Blood‘, ‚Jews‘ and ‚Mischlinge‘: The Reich Kinship Office and the Competing Discourses and Powers of Nazism, 1941–1943, in: Contemporary European History 15 (2006), 43–65; Thomas Pegelow Kaplan, Die Praxis der Bestimmung „rassischer“ Abstammung. Staatliche Sippenforschung, rassistischer Diskurs und Gewalt im NS -Deutschland der Vorkriegszeit, in: zeitgeschichte 34, 1 (2007), 25–42. 36 Einige Fälle solcher Kooperationen sind hier untersucht: Alexandra Gerstner, Genealogie und völkische Bewegung. Der „Sippenkundler“ Bernhard Koerner (1875–1952), in: Herold-Jahrbuch NF 10 (2005), 85–108; Manfred Gailus (Hg.), Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Göttingen 2008.
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Referenz: Genealogie schafft unendliche Verbindungen Die populäre Genealogie von heute nun ist an Reverenz nicht oder nicht primär interessiert.37 Ich verwende den Begriff „populäre Genealogie“ für eine Reihe an genealogischen Praktiken: genealogische Forschungen in Kirchenbüchern und Grundbüchern, Einspeisen der Funde in Datenbanken, Such- und Fundmeldungen in Mailinglisten, kollektive und autonom organisierte Indizierungs- und Digitalisierungsprojekte, sog. „Forscherhilfe“ (Paläographie, Quellenkunde, Archivrecht oder Tausch von Recherchearbeit an unterschiedlichen Orten).38 Dokumentiert werden mit solchen Techniken nicht nur alle möglichen und alle gefundenen Verbindungen, sondern sogar Personen, die (etwa wegen Namensgleichheit) als potentielle Verwandte gelten, wofür aber noch ein historisch-kritisch akzeptabler Beleg fehlt. Auf diese Weise schaffen sich die Aktiven heute einen neuen Typus von Verbindungen: undokumentierte Verwandte.39 Die Unendlichkeit und die durch digitale Medien, Online-Formate und darauf basierende kollektive Erfassungen (mit sprechenden Projektnamen wie „manibus unitis“ oder „1000 Augen“) herstellbare Größe solcher Datenbanken legen es nahe, statt von Referenz sogar von rêverie als Modus dieser Genealogie zu sprechen: einem ahnungsvollen, stets aufnahmebereiten Sammeln potentieller Verwandter, mit denen sich die Recherchierenden prinzipiell verbunden wissen, auch wenn die Beziehungen im Detail zunächst nicht immer lückenlos dokumentiert sind. Als Beispiel nenne ich einige Beiträge aus der austria-Liste, einer moderierten Mailingliste zur Familienforschung in Österreich. Eine Abonnentin sandte am 12. Oktober 2011 folgenden Hinweis: „Liebe Forscherkollegen, für die Jahre 1797 bis 1827 habe ich eine Anzahl von Personen, die von Olmütz wegzogen bzw. nach Olmütz zogen. Falls jemand den Verdacht hat, einer seiner Vorfahren sei von Olmütz in 37 Grundlage für diese Ausführungen sind meine Forschungen zur populären Genealogie in Österreich seit dem 19. Jahrhundert; vgl. dazu Elisabeth Timm, „Ich fühle mich absolut verwandt.“ Entgrenzung, Personalisierung und Gouvernementalität von Verwandtschaft am Beispiel der populären Genealogie, in: Alber, Verwandtschaft heute (wie Anm. 1), 47–71; dies., Genealogie ohne Generationen. Verwandtschaft in der populären Forschung, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, Münster 2011, 147–179; dies., Grounding the Family. Locality and its Discontents in Popular Genealogy, in: Ethnologia Europaea: Journal of European Ethnology 42, 2 (2012), 36–50; dies., „Meine Familie“. Ontologien und Utopien von Verwandtschaft in der populären Genealogie, in: Zeitschrift für Volkskunde 109, 2 (2013), 161–180. 38 Siehe die ausführliche Darstellung in Timm, Genealogie ohne Generationen (wie Anm. 37), zum Beispiel Grabsteine als genealogische Quellen; dies., Grounding the Family (wie Anm. 37), zum Beispiel Hochzeitsindex des Vereins Familia Austria. 39 Timm, „Meine Familie“ (wie Anm. 37), 174–176.
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diesem Zeitraum weggegangen oder zugezogen, schau ich gern nach dem Namen. Mit freundlichen Grüßen U. (H.) geb. P. Dauersuche: evtl. Hochzeit und Tod (in St. nicht zu finden) der: Anna P. geb. 23.7.1876 in St. XXX (St.).“ (Hervorhebung u. Anonymisierung d. Verf.); ebenfalls aus der austria-Liste, vom 26. September 2013: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Liephart-Fund in Brunn am Gebirge: Liephart Margarete, Erstnennung als Hausbesitzerin 1469, Hafnerhaus/ Magdalenerhaus, Konskriptions-Nr. 75, 1906: Feldstraße 6, Frau des Münzmeisters von Oesterreich Valtin Liephart, Tochter des Osthaimer Hans Herzliche Grüße R. xxx“; und ein Posting an die austria- und die sachsen-Liste, vom 16. Februar 2014: „sucht den jemand? Christoph DIEZ S.d. Nicolay DIEZ (auch DIETZ, DIETZE?) aus Heidelbach/ Hallo, liebe Mitforscher, hier ein Zufallsfund aus dem Buch „Die Glasindustrie in Solnhofen 1649–1810 von 1987: KB Solnhofen 12.07.1697 Christoph Diez, Sohn des Nicolay Diez, Glasmacher zu Heidelbach in Sachsen und dessen Ehefrau Elisabeth, mit Helena, Tochter des Matthias Fleckinger, Fracht- und Handelsmann zu Gastein in Tirol, einem Dorf 7 Meil hinter Innsbruck copuliret. Achtung! Das ist keine wortwörtliche Abschrift aus dem KB!“ „Verdacht“, „Dauersuche“ und „Zufallsfund“ können durch solche technisch-digitalen Möglichkeiten überhaupt erst sinnvoll artikuliert und ertragreich zueinander in Kontakt gebracht werden, und manche Menschen werden gefunden, bevor eine Suche nach ihnen begonnen hat. Im Unterschied zu den „Häusern“, „Linien“ und Bäumen der Reverenz schafft die Referenz keinen definierten oder diskreten genealogischen Raum der Unterschiede und des Unterscheidens, sondern sie produziert offene Datenbanken mit einer offenen Relaistechnik der Verbindungen und des Verbindens. Das bleibt keineswegs virtuell bzw. digital; das Anliegen der Aktiven in der populären Genealogie ist nicht immer nur ein historisches. Wenn es das Material und die Expertise der Mitglieder einer Mailingliste hergeben, wird auch persönlich Kontakt aufgenommen mit Personen, die ohne vorausgegangene monate- oder jahrelange Recherchen in Archiven und ohne die Verlinkung in einer Datenbank nie voneinander erfahren hätten, geschweige denn davon, dass sie miteinander verwandt sind:40 Als etwa H. K. aus B. bei Hannover sich am 23. September 2011 auf der austria-Mailingliste vorstellte, weil es, wie er formuliert, „Namensträger nach Wien verschlagen hatte“, erhielt er nach wenigen Stunden des Sendens genealogischer Details das Angebot des Listenadministrators, „in der G.gasse 41 nach diesen Kemms zu fragen“, „ich wohne nämlich hier“ (also im 18. Wiener Gemeindebezirk, wo die G.gasse liegt). Das Anliegen dieser genealogischen Forschungen ist nicht Exklusivität, sondern Inklusion, sogar Inklusion auf Verdacht. Es geht um Referenz – lateinisch 40 Siehe ein Beispiel in Timm, Genealogie ohne Generationen (wie Anm. 37), 162–173.
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definiert als referre, auf etwas zurückführen, sich auf etwas beziehen, berichten. Dieser Modus zeigt sich in der populären Genealogie von heute insbesondere daran, dass er unterschiedliche Interessengruppen im Feld verknüpft und verbindet – in Form einer Ethik des Datentausches, der geteilten Quellenkunde und der kollektiven Digitalisierung von analogen Daten. Diese Prinzipien bringen Mormonen, Namenforscher, Familienforscher, jüdische Genealogie sowie Heimat- und Ortsgenealogen, um nur einige der markanten Orientierungen populärer Genealogie zu nennen, zusammen; und sie sind auch relevant für die zunehmenden Kooperationen zwischen Archiven und populärer Genealogie, welche die früher sorgsam gehütete Abgrenzung von Fachleuten, Gelehrten und Laien längst hinter sich gelassen haben.41 Diese Entwicklung einer Entgrenzung der populären genealogischen Praktiken begann in den 1960er Jahren (mit der Verfügbarkeit der Papierkopie) und gewann in den 1990er Jahren durch die digitale Datenverarbeitung an Intensität und Breite; diese Veränderung wurde zudem befördert durch die Standardisierung und Öffnung der Möglichkeiten zur Benutzung von Archiven.42 Die Mediengeschichte ist neben der „Verwissenschaftlichung“ oder der „Demokratisierung von Wissen und Kontrolle von Ursprungsmythen“43 eine eigene Dynamik des Wandels genealogischer Modi Operandi. Digitale Techniken der Datenverarbeitung gehen der Referenz weder sachlich noch zeitlich voraus; gleichwohl wäre die heute dominierende Referenz ohne relationale Datenbanken nicht möglich: „Das Verschwinden der ‚großen Erzählungen‘, die einen Zusammenhang der Welt behaupten,44 ließ es erst möglich werden, die Welt als etwas Unzusammenhängendes, gewissermaßen als eine Ansammlung von Daten, wahrzunehmen und 41 Herausragend in diesem Feld sind die Aktivitäten des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen: Bettina Joergens u. Christian Reinicke (Hg.), Archive, Familienforschung und Geschichtswissenschaft. Annäherungen und Aufgaben, Norderstedt 2006; Bettina Joergens (Hg.), Biographie, Genealogie und Archive gemeinsam im digitalen Zeitalter. Detmolder Sommergespräche 2006 und 2007, Insingen 2009; Bettina Joergens (Hg.), Jüdische Genealogie im Archiv, in der Forschung und digital. Quellenkunde und Erinnerung, Essen 2011. 42 Diese Zusammenhänge sind bisher nicht systematisch und detailliert aufgearbeitet; exemplarisch und instruktiv gerade auch wegen der kritischen Benennung der Beteiligung von Archivaren und Genealogen an Recherchen zur Auslieferung der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit (bzw. hier: zur Zeit der deutschen Okkupation der Niederlande): Cornelis Dekker, L’archivistique néerlandaise et la généalogie, in: International Council on Archives (Hg.), Archives and Genealogical Sciences, München u. a. 1992, 165–172. 43 Tebbe, From Memory to Research (wie Anm. 13) zur Verwissenschaftlichung; Karla B. Hackstaff, Who Are We? Genealogists Negotiating Ethno-Racial Identities, in: Qualitative Sociology 32 (2009), 173–194 zur Demokratisierung, Übersetzung der Verfasserin. 44 In der populären Genealogie z. B.: patrilineare Abstammung.
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gleichzeitig sei es die Datenbank als symbolische Form, die uns die Welt als eine solche Anhäufung von Daten allererst erkennbar werden lässt.“45 Die Reverenz verfährt genealogisch, indem sie manche Verbindungen auszeichnet und andere Verbindungen ausschließt und auf diese Weise diskriminierende Teilungen produziert. Das genealogische Verfahren der Referenz unterscheidet sich davon insbesondere durch die Verknüpfung aller gesammelten und produzierten Daten. Auf Stammbäumen, Ahnentafeln oder Ahnenlisten oder in einer volksgenealogischen Darstellung der steirischen Bewegung waren die Personen festsitzende Punkte eines abgeschlossenen Gesamtwerks.46 In der Datenbank ist jede Person ein Relais mit lateralen, linealen, affinalen und konsanguinen Schnittstellen in jede Richtung. Die Volksgenealogen der Zwischenkriegszeit saßen nach jahrelanger Lektüre von Matriken einigermaßen ratlos vor ihren Auswertungen, deren materialer Umfang die Quellengrundlage weit übertraf. So fabrizierte etwa, wie oben erwähnt, der steirische Pfarrer Konrad Brandner bei der vollständigen Auswertung der Matriken einer kleinen Gemeinde mehr als 5.200 Stammtafeln – neue Verbindungen konnte er darin kaum finden. Neue Medien und neue Informations- und Kommunikationstechnologien haben diese Blockade des ontologischen Begehrens digital überwunden. Nun gibt es keine medialen, technischen Grenzen des Verbindens mehr. Zwar beginnen die Aktiven in der populären Genealogie auch heute von einem Punkt aus – in der Regel ist das die eigene Familiengeschichte47 – und in der Regel steht am Beginn die Vorstellung, dass „meine Familie“ aus einem bestimmten Ort stammt. Während diese Verortungen im Modus der Reverenz den Endpunkt der Recherchen darstellten, sind sie heute deren Anfang: Die Vorstellung, dass ‚Familie‘ 45 Harald Hillgärtner, „Oh, wie süss ist doch die Datenbank“. Zum Aspekt nicht-hegemonialer Datenbanken, in: Stefan Böhme, Rolf F. Nohr u. Serjoscha Wiemer (Hg.), Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen. Die Datenbank als mediale Praxis, Münster u. a. 2012, 137–157, 138. Hillgärtner erörtert hier Lev Manovichs These von der Datenbank als „symbolische Form“ als heute „vorherrschende[r] Modus der Welterkenntnis“; dieser bezieht sich wiederum auf Erwin Panofskys These zur Perspektive als „symbolische Form“, insbesondere zur Zentralperspektive als Signatur der Renaissance (ebd., 137f). Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge, Mass. 2002; Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“, in: Hariolf Oberer u. Egon Verheyen (Hg.), Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1992, 99–167. 46 Obgleich diese, wie eingangs zusammengefasst, auch in der dynastischen Praxis durch Techniken des Aufschwörens u. ä. argumentativ in Bewegung gesetzt wurden; vgl. Harding/Hecht, Ahnenprobe (wie Anm. 3). 47 Wobei das auch die aufgrund einer Erzählung oder Erinnerung als interessant geltende Familiengeschichte eines oder einer Angehörigen sein kann; vgl. Timm, „Ich fühle mich absolut verwandt“ (wie Anm. 37).
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und Lokalität über viele Jahrhunderte miteinander verknüpft sind, wird nach den ersten Funden im Archiv, in Datenbanken und vor allem nach dem ersten Tausch von Daten in Mailinglisten aufgeklärt.48 Das ist einer der Gründe, warum die Organisation der populären Genealogie in lokalen Vereinen heute an ihre Grenzen stößt: „Ich habe Vorfahren in Mitteldeutschland. Welcher Gesellschaft soll ich jetzt beitreten: der westfälischen oder der mitteldeutschen?“ fragte eine interessierte Genealogin den referierenden Archivar beim Westfälischen Genealogentag 2013.49 Das führte dazu, dass die genealogischen Gesellschaften und Vereine auch heute noch lokal arbeiten. Diese Ortsbezogenheit hat sich allerdings markant gewandelt: Der Ort oder die Region oder die „Landschaft“ der Kulturraumforschung ist heute nicht mehr der Recherchegegenstand und das Erkenntnisobjekt der Vereine und Gesellschaften, sondern ein Recherchemittel und eine Erkenntnistechnik – Information über lokale und regionale Archive, Digitalisierung von Quellen, Erarbeitung von Suchinstrumenten – solche Expertise bezieht sich aufgrund des Provenienzprinzips der Archive weiterhin auf spezifische Regionen. Die Vereine und Gesellschaften sind damit selbst zu einer Schnittstelle geworden: zwischen den lokal entstandenen Quellen und deren Verbleiben in der Ordnung der Registraturen des alten Europa und dem Interesse an Vernetzung, das die populäre Genealogie von heute bestimmt. Im Unterschied zur Reverenz zielt die Referenz nicht auf die Abgrenzung eines sozialen oder kulturellen Kollektivs. Zwar folgen die Recherchen zunächst dem Provenienzprinzip der Archive und damit der Ordnung des alten Europa. Die 48 Vgl. Timm, Grounding the Family (wie Anm. 37). 49 Forschungstagebuch, 16. März 2013. Die Antwort des Referenten: „Die WGGF ist zuständige für die Familienforschung in Westfalen.“ (ebd.) Gemeint ist die Westfälische Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung, die 1920 als „Westfälische Gesellschaft für Familienkunde“ gegründet wurde (Friedrich von Klocke, Die Geschichte der organisierten genealogischen Arbeit für Westfalen 1920–1956, in: Beiträge zur westfälischen Familienforschung XIV, 1/2 (1955/1956), 1–12, 1. Die WGGF ist damit eines der Beispiele für die Regionalisierung der populären Genealogie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg; Klocke berichtet, dass genealogisch Interessierte in den Gründungsjahren „um Aufnahme mit der Bemerkung [baten], daß ihre ‚Vorfahren hauptsächlich aus Westfalen‘ stammten“ (ebd., 6). Daraus schlussfolgerte er Regionalität als Prinzip der genealogischen Forschung: „Man erkannte also, daß in der einzelnen Landschaft als geschichtlichem Raumgebilde mit besonderem Charakter doch eine Antriebskraft für das genealogische Interesse beruhte und daß deren Einschaltung dem genealogischen Wirken nützlich sein konnte.“ (ebd., 3) Zu Klocke siehe: Katja Fausser, „Das Institut zu neuem Leben erweckt“? Entwicklungen am Historischen Seminar 1920 bis 1960, in: Daniel Droste, Sabine Happ u. Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960 Bd. 2, Münster 2012, 647–688, 659–667, sowie Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen (wie Anm. 19), 166–174.
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Digitalisierung aber verknüpft die Bande, die die Produzenten und Verwalter der Akten und Bände durchschnitten haben. Es ist gerade dieses Verknüpfen, Verbinden und Enthüllen, und das Durchschauen der grenzschaffenden Prinzipien der Archive und Quellentypen, welches den Recherchierenden Vergnügen bereitet: Potentiell sind alle Menschen miteinander verwandt – was hier produziert werden kann, ist nicht mehr nur eine Nation oder eine Rasse oder eine Gruppe, sondern die Menschheit.50 Trotz fundierter Hinweise auf die Produktion von Sesshaftigkeit, race und anderen Trennungen durch populäre Genealogie51 ist das in komparativer Perspektive ein neuer Fall von Verwandtschaft. Die bisherige Forschung hat auf diese genealogische Möglichkeit stets ex negativo verwiesen, um klarzumachen, was die jeweils untersuchte Verwandtschaft gerade nicht ist: In einer früheren Studie über Familienverbandstreffen in den USA, die trotz des bilateralen US-amerikanischen Verwandtschaftsbegriffs ein unilineales Kollektiv zusammenbringen (in der Regel eine Patrilinie), postulierte die Ethnologin Millicent Ayoub: „To operate efficiently or to operate at all, a kinship system, like a language, requires the selection of a few significant units from a wider field of choice. Nature seems to abhore a genuinely multilineal system.“52 Oder, wie Marilyn Strathern in einer ihrer Studien zu euro-american kinship konstatierte: „[T]race far enough back and everyone shares substance with everyone else.“53 „However, in contrast to universes of kin where affines are already consanguines […] for Euro-Americans the possibility is either rhetorical or belongs to the class of bizarre truths.“54 Die 50 Auf dieses Potenzial weist auch Julia Watson hin: „Genealogy as a liberatory method of relationality without pedigree [that, d. Verf.] may become, for the reflective subject, a means of getting a new kind of life“, Julia Watson, Ordering the Family: Genealogy as Autobiographical Pedigree, in: Sidonie Smith u. dies. (Hg.), Getting a Life. Everyday Uses of Autobiography, Minneapolis, MN 1996, 297–323, 319. 51 Vgl. Timm, Grounding the Family (wie Anm. 37), oder Catherine Nash, „They’re Family!“ Cultural Geographies of Relatedness in Popular Genealogy, in: Sara Ahmed, Claudia Castaneda u. Anne-Marie Fortier (Hg.), Uprootings/Regroundings. Questions of Home and Migration, Oxford 2003, 179–203, 200f. 52 Millicent R. Ayoub, The Family Reunion, in: Ethnology. An International Journal of Cultural and Social Anthropology 5, 4 (1966), 415–433. 53 Marilyn Strathern, Cutting the Network, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute, NS 2 (1996), 517–535, 529. 54 Ebd., 533, Anm. 19. Mit „where affines are already konsanguines“ spielt sie auf Claude LéviStrauss’ Unterscheidung von „elementaren“ und „komplexen“ Verwandtschaftssystemen an: „Unter ‚elementaren Strukturen der Verwandtschaft‘ verstehe ich solche, in denen die Nomenklatur es ermöglicht, den Kreis der Blutsverwandten und der Schwiegerverwandten unmittelbar zu bestimmen: Systeme, welche die Heirat mit einem bestimmten Typus von Verwandten festlegen; oder, wenn man es lieber will, Systeme, die zwar alle Mitglieder der Gruppe als Verwandte definieren, diese jedoch in zwei Kategorien unterteilen: mögliche
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populäre Genealogie macht aus solchen Beobachtungen zur euro-amerikanischen Verwandtschaft historische Thesen: Das „wider field of choice“ überfordert weder das Interesse der Recherchierenden noch die Programmierung einer Datenbank, der physikalische Code verlangt nicht mehr – wie die sozialen Codes der Reve renz – eine „selection of a few significant units“; dass angeheiratete Verwandte auch Blutsverwandte sein können, lässt sich digital darstellen; dass nach weiterer Digitalisierung Verbindungen zwischen jeder beliebig gewählten lebenden und/ oder verstorbenen Person evident gemacht werden können (ob mit einem positivistischen oder mit einem historisch-kritischen Verständnis der Quellen, ist hierbei nicht relevant), ist nur eine Frage der Zeit, keine „bizarre truth“ mehr.55
Ein neuer genealogischer Universalismus? Im Kontext der neuen Verwandtschaftsforschung stellt sich nun die Frage, ob die populäre Genealogie von heute einen neuen Typus von Familie und Verwandtschaft hervorbringt. Gibt es einen historisch eindeutigen Wandel der Genealogie von der Reverenz zur Referenz im Prozess der Moderne? Ist aus dem „Familienroman“, dessen Kernstück Sigmund Freud (1909) als die Phantasie „vornehmerer Eltern“ beschrieben hat, die dem bürgerlichen Subjekt Ordnung und Gesetz gab, ein Bewusstseinsstrom geworden, in dem der Nachweis der linealen wie lateralen Verwandtschaft aller mit allen nur noch ein digital-technisches Problem oder eine Frage des Recherchefleißes ist? Genau genommen nicht. Obgleich der Modus der Referenz der populären Genealogie von heute vieles hinter sich lässt, was die Reverenz an Einschränkungen gefordert hatte, gibt es dennoch eine Gemeinsamkeit: Gatten und verbotene Gatten. Den Namen ‚komplexe Strukturen‘ behalten wir jenen Systemen vor, die sich darauf beschränken, den Kreis der Verwandten zu definieren und die Bestimmung der Gatten anderen, ökonomischen oder psychologischen, Mechanismen überlassen“, Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1993, 15. 55 Heimito von Doderer hatte, wohl nicht zufällig nach seiner Konfrontation mit dem Archiv, diese Phantasie, dass alle Menschen miteinander verwandt sind, in seinem grotesken Roman „Die Merowinger oder Die totale Familie“ in der Hauptfigur des Freiherrn personifiziert, der sich durch virtuose Heiratspolitik alle (männlichen) Positionen in einem Verwandtschaftsnetzwerk verschaffen will, die (bürgerlich) möglich sind. Heimito von Doderer, Die Merowinger oder Die totale Familie, Wien 1962. Seine „totale Familie“ ist die groteske Variante des genealogischen Universalismus. Vgl. dazu Stefan Willer, Die Wiederkehr der Merowinger. Heimito von Doderers Roman über eine „totale Familie“, in: Simone Costagli u. Matteo Galli (Hg.), Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, 59–70.
Zwei Weisen der populären Genealogie 231
Auch im Modus der Referenz nehmen die Recherchierenden an, dass Beziehungen aus Beziehungen hervorgehen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Aktiven nicht irgendwo mit der Recherche beginnen, sondern in der als „eigene“ bezeichneten Familie. Sowohl die Reverenz als auch die Referenz operieren mit einem Ontologieverdacht. Dieser Begriff meint, dass die Verbindungen in den von der populären Genealogie geschaffenen Beziehungsreichen weder willkürlich noch zufällig sind. Und es sind auch keine freien Assoziationen, benötigen sie doch im Unterschied zu diesen immer eine vorangegangene Evidenz von Verbundenheit. Kulturanthropologisch und komparativ betrachtet, hat die populäre Genealogie hier einerseits kulturelle Virtuosität und Innovativität bewiesen: Nachdem Aufklärung, Gesellschaft als Kontrakt und die historisch-kritische Methode sowie digitale Verschaltungen Reverenz sowohl desavouiert als auch technisch überwindbar gemacht haben, plausibilisieren die Datenbanken eine neue Ontologie: Jede/r war und ist mit allen anderen Menschen potenziell gleich gültig verbunden in einem anthropogenen Beziehungsreich. Dieser neue genealogische Universalismus integriert zwar nicht mehr Menschen und Götter, aber er ist immer noch großartig genug, um Sinn statt Zufälligkeit und Willkür des Lebens zu artikulieren. Und dass Menschen ihre Reproduktion mit Sinn versehen, ist andererseits nichts Neues – allerdings eine Dynamik, welche die neuere historische wie ethnologische Verwandtschaftsforschung mit ihren Fragen nach Praxis, Politik, Ökonomik, Symbolik, Strategie und Medialität von Verwandtschaft kaum noch thematisiert.
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„In Fühlung treten“ Netzwerke in der Frauen- und Friedenspolitik Brigitte Rath und Barbara Heller-Schuh
Die Bedeutung von Netzwerken für die Geschichte der Frauenbewegung wurde in einer Vielzahl von Untersuchungen betont. Sei es Margaret McFaddens Buch,1 die Untersuchung von Ulla Wischermann über Frauenzeitschriften2 oder Ute Gerhard3 – sie alle stellten für die Frauenbewegung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts fest, welcher Stellenwert der „politics of friendship“ beizumessen ist. So plädierte Ute Gerhard für eine stärkere Beachtung der internationalen Vernetzungen innerhalb der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung, eine Forderung, die nach wie vor für diese Phase der österreichischen Frauenbewegung zu stellen ist.4 Auf die Vielfalt der verschiedenen Ergebnisse und Zugangsweisen der Netzwerkforschung hat auch die Historikerin Edith Saurer aufmerksam gemacht. Sie wies auf die Wichtigkeit der auf Grundlage von autobiographischen Quellen dokumentierbaren – jedoch nur schwer rekonstruierbaren – Frauenfreundschaften für die Organisation der Frauenbewegung hin.5 Dabei ist zu beachten, 1 2
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Margaret McFadden, Golden Cables of Sympathy. The Transatlantic Sources of Nineteenth-Century Feminism, Lexington 1999. Ulla Wischermann, Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke, Gegenöffentlichkeiten, Protestinszenierungen. Königstein/Taunus 2003. Hierbei unterscheidet Wischermann drei Ebenen: zunächst die „Bewegungskultur“, worunter die Autorin die persönliche Beziehungen der Akteurinnen untereinander – also Bekanntschaften, Verwandtschaften sowie Freund- und Feindschaften – fasst, sodann die „Bewegungsöffentlichkeit“, eine „Binnenöffentlichkeit“, die durch autonome Kommunikationsstrukturen, Organisations- und Versammlungsöffentlichkeit sowie bewegungseigene Medien gebildet wird, und schließlich die breite Öffentlichkeit, auf die mit Hilfe der Massenmedien eingewirkt wird und deren Sympathie gewonnen werden soll. Ute Gerhard, Christina Klausmann u. Ulla Wischermann, Frauenfreundschaften – ihre Bedeutung für Politik und Kultur der alten Frauenbewegung, in: Feministische Studien 11, 1 (1993), 21–37. Ute Gerhard, National oder International. Die internationalen Beziehungen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung, in: Feministische Studien 12, 2 (1994), 34–52. Edith Saurer, Frauenbewegung und soziale Netzwerke. Kommentar zur Karriere eines Begriffs, in: Anja Weckert u. Ulla Wischermann (Hg.), Das Jahrhundert des Feminismus. Streifzüge durch nationale und internationale Bewegungen und Theorien, Berlin 2006, 77–94, 80ff.
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dass formelle und informelle Beziehungen häufig nicht einfach zu trennen sind. Ebenso wichtig erscheint es, das Augenmerk auf Ein- und Ausschlüsse innerhalb der ersten Frauenbewegung in Österreich zu legen.6 Nicht nur diese, sondern auch Grenzen und Grenzziehungen, Fragen nach den Rändern der Bewegung und den damit verbundenen Akteurinnen erscheinen für die Geschichte der Frauenbewegung von Interesse, war damit historisch doch auch Inklusion und Exklusion verbunden.7 Die biographische Rekonstruktion von Olga Misař (1876–1950),8 einer heute kaum erinnerten Akteurin der Frauenbewegung sowie der Friedensbewegung in der Ersten Republik und Kriegsdienstgegnerin der 1920er und 30er Jahre zeigt, welche Rolle soziale Beziehungen im Lebenslauf spielten. Gerade ihr Engagement in unterschiedlichen Bereichen macht deutlich, in welchem Ausmaß diese Vernetzungen und persönlichen Verbindungen in verschiedenen politischen Feldern zum Tragen kamen. Damit wird zugleich sichtbar, wie wichtig das Erforschen von Biographien für die empirische Untersuchung von Netzwerken ist. Von Olga Misař existiert kein privater Nachlass. Daher sind ihre familiären Beziehungen nur in groben Zügen darstellbar. Sie wurde am 11. Dezember 1876 in Wien in die jüdische Familie Dietrich und Friederika Popper geboren, heiratete 1899 den Mathematikprofessor Wladimir (auch Vladimir) Misař, der ab 1919 bis zu seiner Emigration 1939 als Sekretär der Großloge Wien tätig war. Am 6. März 1900 brachte sie die Töchter Olga und Vera zur Welt.9 Aufgrund ihrer journalistischen, schriftstellerischen und nicht zuletzt politischen Arbeit ließ sie in Archiven und Publikationen eine Vielzahl von schriftlichen Spuren zurück. Diese beleuchten die Kommunikation und Kontakte zu einem breiten Spektrum von Personen, die für ihre politische Arbeit von Bedeutung waren. Damit erhält die biographische Analyse neue und umfassendere Dimensionen. Die Rekonstruktion dieser Sozialbeziehungen, Freundschaften und Netzwerke in ihrer unterschiedlichen Intensität im chronologischen Verlauf stehen im Zentrum dieses Textes. Die graphische Darstellung der sozialen Beziehungen Olga Misařs am Beispiel ihrer Vereinsmitgliedschaften und ihrer Zeit im Exil (siehe Abb. 1) bietet einen systematischen Blick auf diese Verbindungen.
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Vgl. dazu vor allem Hanna Hacker, Wer gewinnt? Wer verliert? Wer tritt aus dem Schatten? Machtkämpfe und Beziehungsstrukturen nach dem Tod der „großen Feministin“ Auguste Fickert (1910), in: L’Homme. Z.F.G. 7, 1 (1996), 97–106. Vgl. dazu auch Natascha Vitorelli, „Ne vse in ne za vse […]“. Studien zu Historiographien von Frauenbewegungen um 1900, Dissertation, Wien 2005, 140–145. Der Name Misař erscheint im Quellenmaterial in unterschiedlichen Schreibweisen. Vera oder Wjera stirbt 1935 in Wien.
Abbildung 1: Netzwerk der Vereine und ausgewählter Mitglieder im Umfeld von Olga Misař
Personen
Vereine Zeit im Exil
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Abbildung 1 zeigt ein bi-partites Netzwerk,10 das aus zwei verschiedenen Arten von Knoten besteht. Dunkelgraue Knoten stellen Vereine bzw. Ereignisse dar, in denen Olga Misař bzw. ihr nahestehende Personen aktiv waren. Hellgraue Knoten repräsentieren ausgewählte Personen, mit denen Olga Misař in Verbindung stand und die in den folgenden Abschnitten des Textes zur Sprache kommen. Über die Verbindung zwischen einer Person und einem Verein wird deren Vereinsmitgliedschaft dargestellt. Die Größe der Knoten ist durch die Anzahl der benachbarten Knoten bestimmt, das heißt die Größe der Vereinsknoten (dunkelgrau) erklärt sich über die Anzahl ihrer Mitglieder und die Größe der Personenknoten (hellgrau) über die Anzahl der Vereine, in denen diese aktiv waren. Die Position der Knoten wird über gemeinsame Mitgliedschaften definiert, das heißt Knoten von Personen sind nahe zueinander positioniert, wenn diese Personen Mitglieder derselben Vereine waren. Über die graphische Darstellung dieses Netzwerks werden zentrale Persönlichkeiten im Leben von Olga Misař erkennbar, mit denen sie über vielfältige Aktivitäten in Verbindung stand und die darüber im Netzwerk auch nahe zu ihr positioniert sind. So konzentrieren sich Vereine der bürgerlichen Frauenbewegung auf der rechten Seite. Die wichtige Position, die Rosa Mayreder darin hatte, bildet sich klar ab. Auch die personellen Überschneidungen und Verflechtungen mit der Frauenfriedensbewegung, die im weiteren Text noch ausführlicher behandelt werden, treten in der Abbildung deutlich zutage. Die Nähe zu Leopoldine Kulka sowie zu Yella Hertzka, die auf überlappende Interessen und vielfältige gemeinsame Aktivitäten beruht, ist offensichtlich. Der österreichische Bund für Mutterschutz setzte sich sowohl aus Frauen, die sich in der Frauenbewegung engagierten, als auch aus Vertreterinnen und Vertretern anderer Vereine zusammen. Für den Bund der Kriegsdienstgegner war Olga Misař eine wichtige Kontaktperson zu einem weiten – vor allem weiblichen – Publikum. Gemeinsame Interessen und Überschneidungen im politischen Engagement zeigen sich ganz deutlich in der Beziehung zum Ehemann Wladimir. Für die Zeit im Exil tritt ein Personenkreis in den Blickpunkt, der bis dahin weniger deutlich sichtbar war: die Familie.
Vernetzungen I: Frauenbewegung Enge personelle Verbindungen, Freundschaftsnetzwerke und Mehrfachmitgliedschaften in der breiten Vereinslandschaft der so genannten ersten Frauenbewegung 10 Vgl. Stanley Wassermann u. Katherine Faust, Social Network Analysis. Methods and Applications, Cambridge 1994.
Netzwerke in der Frauen- und Friedenspolitik 237
sind aus Untersuchungen wie jener von Harriet Anderson oder Elisabeth Malleier über die bürgerliche (jüdische) Frauenbewegung in Wien um die Jahrhundertwende bekannt.11 Auch wenn eine Geschichte der bürgerlichen Frauenbewegung in Österreich nach wie vor wegen der Unzugänglichkeit der Materialien der Dachorganisation der Frauenvereine, des „Bundes österreichischer Frauenvereine“, nicht geschrieben werden kann, lassen sich im folgenden Abschnitt Beziehungen von Olga Misař zu einzelnen AkteurInnen der Frauenbewegung rekonstruieren. Im Frauenverein „Diskutierklub“ referierte Olga Misař im Februar 1908 zum Thema „Das Neue Heim“. Darin setzte sie sich mit der Organisation und Kosten ersparnis von Einküchenhäusern auseinander. Eine Vielzahl von Feministinnen führte die Debatte um die Einführung von Einküchenhäusern, um hier nur Hedwig Dohm zu nennen,12 ebenso wie sie von Frühsozialisten und von Anarchisten beispielsweise bei Kropotkin thematisiert wurde. Der 1903 gegründete Verein „Diskutierklub“ nahm am 14. Jänner 1910 auf Antrag von Malvine Fried mann gemeinsam mit Dora Urban Olga Misař in den Vorstand auf.13 So gab es beispielsweise mit Leopoldine Kulka (1872–1920)14 zahlreiche Parallelen und Berührungspunkte das politische Engagement betreffend. In dieser Beziehung zeigen sich die vielfältigen Verknüpfungen und Überschneidungen in Kontakten mit anderen AkteurInnen, die in unterschiedlichen Kontexten lokalisierbar und mitunter auch in ihrer chronologischen Abfolge auszumachen sind. Leopoldine Kulka scheint als Schriftführerin der pädagogischen Gruppe dieses Vereins auf. Die Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin und zentrale Akteurin des radikalen Flügels der sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung war in unterschiedlichen Vereinen tätig. Bekannt ist ihre Mitarbeit im „Allgemeinen Österreichischen Frauenverein“ (AÖF), den zu dieser Zeit Auguste Fickert leitete, nach deren Tod Kulka und Emil Fickert, der Bruder von Auguste.15 Diese Nähe im Engagement ist in der Netzwerkgraphik deutlich abgebildet. 11 Harriet Anderson, Utopian Feminism. Women’s Movements in fin de siècle Vienna, New Haven, 1992 (deutsch: Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de siècle Wiens, Wien 1994.); Elisabeth Malleier, Jüdische Frauen in Wien 1816–1938. Wohlfahrt – Mädchenbildung – Frauenarbeit, Wien 2003. 12 Vgl. Ulla Terlinden u. Susanna von Oertzen, Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933, Berlin 2006, 137. 13 In: Mitteilungen des Frauenvereins Diskutierklub 6, 1 (1910), 2. 14 Elisabeth Malleier, Jüdische Frauen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung 1890– 1938, Wien 2001, 49–59. Malleier streicht besonders die antiklerikale Einstellung von Kulka heraus. Auch bei Anderson, Utopian Feminism (wie Anm. 11), wird ihre zentrale Rolle in der Frauenbewegung deutlich sichtbar. 15 Vgl. Hacker, Wer gewinnt, wer verliert (wie Anm. 6).
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Olga Misař trat in den AÖF ein, in dem sie Kontakte zu weiteren wichtigen Akteurinnen der österreichischen bürgerlichen radikalen Frauenbewegung aufnahm, wie beispielsweise zur bekannten Philosophin, Schriftstellerin und Malerin Rosa Mayreder. Gemeinsam mit diesen Frauen engagierte sie sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs für Friedensangelegenheiten. Mit Leopoldine Kulka nahm sie an der Friedenstagung in Den Haag teil. Leopoldine Kulka war zudem in der sogenannten „Friedenspartei“ tätig, die 1917 in Wien Versammlungen für einen Verständigungsfrieden abhielt, und der ebenso Else Beer-Angerer und Misař angehörten. Kulka trat am 24. Jänner 1919 in einer Wahlveranstaltung der „Deutschen Mittelstandspartei“ auf, die Ernst Viktor Zenker16 gegründet hatte und für die Olga Misař kandidierte. Von der Frauengruppe der „Deutschen Mittelstandspartei“ organisiert, richtete sich diese besonders an „Erwerbende Frauen und Hausfrauen“, um sie zur Teilnahme an den Wahlen zu motivieren. „Von Euch und eurer Wahl hängt alles ab, erscheint also in Massen“, hieß es auf dem entsprechenden Plakat. Die Verbindungen zwischen Leopoldine Kulka und Ernst Viktor Zenker werden ebenfalls in unterschiedlichen Kontexten sichtbar. Kulka publizierte eine Vielzahl von Artikeln vor allem zu frauenpolitischen Themen in der von Zenker herausgegebenen Zeitschrift „Die Wage“. Die Rezeption internationaler Einflüsse lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass 1914 in dieser Zeitschrift ein Text mit dem Titel „Die Frau und der Krieg“, ein Auszug einer von Kulka vorgenommenen Übersetzung des 1911 von der südafrikanischen Sozialistin und Feministin Olive Schreiner verfassten Buches „Women and Labour“ erschien. Darin argumentierte diese folgendermaßen: „Also nicht, weil die Frau zu feige oder unfähig ist, noch weil ihre Moral im allgemeinen eine höhere ist, wird sie dem Krieg ein Ende bereiten, sobald ihre Stimme allgemein, entscheidend und klar sich in der Staatenlenkung Gehör verschaffen wird – sondern weil in diesem einen Punkt und fast allein in diesem einen das Wissen der Frau, einfach als Frau, dem des Mannes überlegen ist. Sie kennt die Geschichte des menschlichen Fleisches, sie weiß, was es kostet, er nicht.“17 Zenker war 1917 bei den Friedenskundgebungen, die im Namen des AÖF veranstaltet worden waren, bereits als Redner aufgetreten. So berichtete Ernestine von Fürth, eine Akteurin des „Stimmrechtskomitees“, über eine Friedensversammlung im Dezember 1917: „Diese Sehnsucht der Frauen Österreichs nach einem Verständigungsfrieden kam auch in einer stattlichen Reihe von Versammlungen 16 Ernst Viktor Zenker war Reichsratsabgeordneter, im Eherechtsreformverein tätig und Herausgeber der Zeitschrift „Die Wage“; er verfasste die erste historische Untersuchung über Anarchismus. 17 Olive Schreiner, Die Frau und der Krieg, in: Die Wage 17, 31 (1914), 715–720, 718.
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zum Ausdrucke, die der Allgemeine Österreichische Frauenverein im Laufe der letzten Wochen einberief. In den verschiedenen Bezirken von Wien fanden diese Veranstaltungen statt und überall stellte sich ein solcher Massenbesuch ein, daß Hunderte von Einlaßheischenden zurückgewiesen werden mussten. Auch die Sonntag, den 2. Dezember, im ehemaligen Kolosseum einberufene Versammlung war überfüllt und die Vortragenden, Frau Leopoldine Kulka, Frau Dr. Touaillon18 und Max Adler19 riefen mit ihren Ausführungen stürmischen Beifall hervor. In den anderen Versammlungen hatten die Frauen Elsa Beer-Angerer, Yella Hertzka20, Anita Müller21, Olga Misar, Berta Pauli22 und Dr. Laura Stricker23 und die Herren Colbert, Herbst, RA. Dr. Ofner und RA. Zenker gesprochen. Selbstverständlich wurde in allen diesen Versammlungen gleichzeitig […] auch die Forderung nach Demokratisierung des politischen Lebens und Zuerkennung des aktiven und passiven Wahlrechtes an die Frauen erhoben.“24 Dieser Text zeigt, wie intensiv die Verflechtungen zwischen Frauen, die für das Wahlrecht eintraten, und der Friedensbewegung waren. Mit Laura Stricker war auch eine ungarische Feministin und Aktivistin der Frauenfriedensbewegung vertreten. Die Zusammenarbeit von Männern und Frauen, für die bürgerliche erste Frauenbewegung eine häufige Konstellation, wird auch in dieser Versammlung deutlich. Der Jurist und Reichsratsabgeordnete Julius Ofner hatte eine Vielzahl von Petitionen des AÖF unterstützt und war für eine Reform der Dienstbotengesetzgebung eingetreten. Olga Misař verfasste zu seinem 70. Geburtstag einen Text, der sein umfangreiches Engagement für die Frauenbewegung dokumentierte und wertschätzte. „[…] und so kam es, daß er als Advokat, als Politiker und in seiner Vereinstätigkeit zum Anwalt der
18 Dr. Christiane Touaillon (1878–1928), Germanistin und Mitglied im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein. 19 Max Adler (1873–1937), Jurist und Sozialphilosoph. 20 Vgl. Corinna Oesch, Yella Hertzka (1873–1948). Vernetzungen und Handlungsräume in der österreichischen und internationalen Frauen- und Friedensbewegung, Innsbruck/ Wien/Bozen 2014. 21 Vgl. Dieter J. Hecht, Zwischen Feminismus und Zionismus. Die Biographie einer Wiener Jüdin. Anitta Müller-Cohen (1890–1962), Wien/Köln/Weimar 2008. 22 Berta Pauli (1878–1927), Journalistin. 23 Dr. Laura Stricker-Polányi, Pädagogin und Feministin, vgl. Judith Szapor, The Hungarian Pocahontas. The Life and Times of Laura Polanyi Stricker 1882–1959, New York 2005, 34. Die Frauenaktivistin war mit ihrem Ehemann 1913 von Budapest nach Wien gezogen. Sie war mit der Familie Adler bekannt; Alfred Adler war ihr Arzt. 24 Ernestine von Fürth, Frieden und Demokratie, in: Zeitschrift für Frauenstimmrecht 7, 9–10 (1917), 1.
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Arbeiter, der Frauen und Kinder wurde und daß sein Name wohl auf immer, mit den Fortschritten der Arbeiter- und Kinderschutzgesetzgebung verquickt ist.“25 Leopoldine Kulka starb aufgrund ihrer Schwäche während der großen spanischen Grippeepidemie am 2. Jänner 1920. Ihr Tod wurde international von der Frauenbewegung wahrgenommen und betrauert. So schrieb Gisela Urban einen Nachruf in der Zeitschrift „Jus suffragii“ der International Woman Suffrage Alliance (IWSA ) und betonte darin deren Friedensengagement. „By her death the women of Vienna lose an undaunted leader, a passionate worker for equal rights, for improving the lot of all those who are oppressed, for freedom of conscience and will, for intellectual progress, and for the removal of all social and political evils.“26 Helene Stöcker würdigte sie in ihrem Nachruf in der Zeitschrift „Die neue Generation“: „Leopoldine Kulka ist mir persönlich seit zwei Jahrzehnten bekannt, und besonders seit Ausbruch des Krieges wie der Revolution kam von Zeit zu Zeit ein warmer Gruß von ihr herüber, der immer zeigte, wie starken Anteil sie an unserer Bewegung und speziell auch an unserer Zeitschrift nahm, deren Führung ihr eine Bestätigung und Stärkung für den eigenen, schweren Kampf in Österreich bedeutete.“27 In einem Brief an den Kriegsdienstverweigerer und Anarchisten Rudolf Grossmann, der sich Pierre Ramus nannte, schreib Misař am 7. Jänner 1920: „Wissen Sie schon, dass Fr. Kulka plötzlich an Grippe gestorben ist? Sie war meine beste Freundin und ich bin wegen ihres Verlustes sehr betrübt.“28 Diese Nähe zu Olga Misař wird auch im Netzwerk deutlich. In Zusammenhang mit Kulkas Tod wird auch ersichtlich, in welchem Ausmaß persönliche Verbindungen für internationalen Austausch eine Rolle spielten: Rosa Mayreder vermittelte durch ihre Kontakte zu der schwedischen Feministin Ellen Kleman einen Nachruf von Olga Misař. „Liebes verehrtes Fräulein Kleman, ich habe sogleich einen Nachruf für Frau Kulka bei einer Kollegin von ihr, Schriftstellerin Frau Misar bestellt – denn ich selbst konnte ihn nicht verfassen, weil ich durch die Krankheit meines Mannes viele Jahre lang nicht in Kontakt mit ihr war und keine genaue Kenntnis ihrer Thätigkeit habe. Ihr Tod ist ein schwerer Verlust
25 Olga Misař, Reichsratsabgeordneter Dr. Julius Ofner. Zu seinem 70. Geburtstag, in: Zeitschrift für Frauenstimmrecht 5, 7 (1915), 4. Zur Geschichte des Kinderschutzes vgl. auch: Elisabeth Malleier, „Kinderschutz“ und „Kinderrettung“. Die Gründung von freiwilligen Vereinen zum Schutz misshandelter Kinder im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Innsbruck/ Wien/Bozen 2014. 26 Gisela Urban, Austria, in: Jus suffragii (Februar 1920), 74. 27 Helene Stöcker, Leopoldine Kulka, in: Die Neue Generation 16 (1920), 155f. 28 IISH Amsterdam, Pierre Ramus Papers 151, Österreich.
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für [die] W[iene]r Frauenbewegung.“29 Daraufhin erschien in der schwedischen Frauenzeitschrift „Hertha. Tidskrift för den svenska kvinnorörelsen“ ein Nachruf, der beschreibt, dass Kulka wegen ihres Friedensengagements während des Krieges nicht nur von der Regierung verfolgt wurde, sondern auch Angriffen anderer Frauengruppen ausgesetzt war, die ihr Landesverrat vorwarfen.30
Vernetzungen II: Der österreichische Bund für Mutterschutz Ab 1912 war Olga Misař als verantwortliche Redakteurin im 1907 gegründeten „Österreichischen Bund für Mutterschutz“ tätig.31 „Der Bund sucht eheliche und uneheliche bedürftige und schutzlose Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und strebt die Beseitigung der gegen ledige Mütter und deren Kinder herrschenden Vorurteile an.“ So formulierten die Statuten dessen Ziele.32 Als Vereinsgründer traten der Kaufmann Hugo Berdach,33 der Gynäkologe Hugo Klein34 sowie der Direktor des privaten Lebens- und Aussteuervereins „Gisela“ und Freimaurer Hans Neeser auf. Die Vereinstätigkeit konzentrierte sich auf Wien. Die alle zwei Monate erscheinende Zeitschrift „Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz“ berichtete über die internationale und nationale rechtliche Entwicklung des Mutterschutzes und daran angeschlossene Themen, aber auch über laufende Tagungen wurde referiert und Vorträge wurden abgedruckt. So schrieb beispielsweise der Ethiker Wilhelm Börner über „Moderne Sexualtheorien“, Rosa Mayreder über „Die Krise der Vaterschaft“, Julius Ofner
29 Meine theuren, fernen Freundinnen. Rosa Mayreder schreibt an Ellen Kleman und Klara Johanson, in: Text und Kontext, Sonderreihe, Bd. 47, kommentiert und mit einem Nachwort von Karin Bang, Kopenhagen/München 2004, 52. 30 Olga Misař, Leopoldine Kulka, in: Hertha 3 (1920), 42f. 31 Vgl. Gabriella Hauch, Arbeit, Recht und Sittlichkeit, in: Die Habsburgermonarchie 1848– 1919, Bd. 8/1, Wien 2006, 993–996; Britta McEwen, A Home for Mothers in Vienna, in: Jason Coy u. a. (Hg.), Kinship, Community and Self. Essays in Honour of David Warren Sabean, New York 2015, 61–72. 32 Diese sind fast gleichlautend mit § 1 der Satzung, in: Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik. Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz 1, 6 (1905), 258. 33 Hugo Berdach, geboren 1872 in Wien – gestorben 1942 in Theresienstadt. 34 Hugo Klein, gestorben 1937 in Wien. Vgl. dazu Marcus G. Patka, Freimaurerei und Sozialreform. Der Kampf für Menschenrechte, Pazifismus und Zivilgesellschaft in Österreich 1869–1938, Wien 2011, passim. Laut Patka ging der Verein aus der „Sozialen Gruppe der Ethischen Gesellschaft“ hervor, deren Mitglied Hugo Klein war.
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über „Die soziale und rechtliche Lage der unehelichen Mutter und ihres Kindes“.35 Misař selbst hielt Vorträge über Mutterschutz, beispielsweise am 12. Dezember 1911 im Frauenverein „Diskutierklub“.36 Jährlich veröffentlichte der Bund eine Liste der Mitglieder, in der die Höhe ihrer Spenden angeführt wurde. Wie in der Abbildung sichtbar wird, findet sich darunter eine Vielzahl von Frauen, die sich in der Frauenbewegung engagierten, beispielsweise Ernestine von Fürth, Marianne Hainisch, Daisy Minor und Regine Ulmann.37 Am 3. April 1914 wurde innerhalb des AÖF eine neue „Sektion für Mutterschaftsversicherung“ gegründet. Die Zusammenarbeit von Frauen aus unterschiedlichen Vereinen, um die rechtliche Situation von Frauen zu verbessern, wird in folgender Aktion deutlich: „Da unser Gesetz die Frauen als Vormünderinnen nicht zugelassen hatte, wandte sich das Stimmrechtskomitee in einer Petition an das k. k. Justizministerium, um diese lang erhobene Forderung der Frauen in dem leider so kritischen Moment in eindrücklichster Weise zu erneuen. Frau von Fürth und Frau Olga Misař überreichten die Petition dem Sektionschef im Justizministerium Herrn Dr. Franz Ritter von Schauer, der in bekannt einsichtsvoller und wohlwollender Weise die Argumentation der Frauen als stichhaltig begrüßte und seine Unterstützung zusagte.“38 Klarerweise engagierte sich nicht nur die bürgerliche Frauenbewegung für Mutterschutz, auch die proletarische Frauenbewegung beschäftigte sich damit. So setzte sich beispielsweise die Sozialdemokratin Emmy Freundlich bereits 1901 in den „Dokumenten der Frauen“ mit dem gesetzlichen Recht der Mutter und dem Problem der Scheidung auseinander und verwies auf die benachteiligte Stellung unehelicher Kinder.39 Die spätere Nationalratsabgeordnete und wichtige Mitarbeiterin im Konsumverein hatte bereits 1913 am „Internationalen Genossenschaftskongress“ Kontakte geknüpft und führte diese auch während des Krieges fort. Sie nahm 1929 an einer Veranstaltung der „Women’s International League for Peace and Freedom“ (WILPF) in Budapest teil. Später wird sie in der Emigration in England den Kontakt zu Olga Misař aufrechterhalten. Bekannter als der „Österreichische Bund für Mutterschutz“ war der deutsche „Bund für Mutterschutz und Sexualreform“, den hauptsächlich Helene Stöcker 35 Wilhelm Börner, Moderne Sexualtheorien, in: Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz 2, 1 (1912), 1–6, Julius Ofner, in: Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz 1, 3 (1912), 1. 36 Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz 2, 4 (1912), 3. 37 Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz 2, 4 (1912). 38 Zeitschrift für Frauenstimmrecht 5, 1 (1915), 2. 39 Roswitha Strommer, Emmy Freundlich (25. Juni 1878–16. März 1948). Ein bewegtes Leben für die Genossenschaft, Wien 2008, 24f.
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leitete.40 Seine Bedeutung erhielt der Verein wohl auch aufgrund seiner prominenten personellen Zusammensetzung – so gehörten Lily Braun (1865–1916), Henriette Fürth (1861–1938), Olive Schreiner, Werner Sombarth (1863–1941) und Max Weber (1864–1920), um nur einige zu nennen, zu dessen Gründungsmitgliedern. Der Verein erlangte überregionale Bedeutung, und es kam zur Gründung von zahlreichen Gruppen in ganz Deutschland.41 Er gründete Heime für unverheiratete Mütter und deren Kinder und setzte sich für die rechtliche Gleichstellung von unehelichen Kindern ein. Stöcker gab die Zeitschrift „Die neue Generation“ heraus. Zwischen Helene Stöcker und Olga Misař gab es eine Vielzahl von Berührungspunkten. So verfassten beide sexualethische Schriften. Helene Stöcker hatte bereits 1906 die Schrift „Die Liebe und die Frauen. Ein Manifest der Emanzipation von Frau und Mann im deutschen Kaiserreich“ veröffentlicht, in der sie die Frage der Liebe ohne Ehe thematisierte. Unterschiedliche Disziplinen, die Rechtswissenschaften waren nur eine davon, setzten sich um 1900 mit der „Krise der Ehe“, wie Caroline Arni dies im Untertitel ihrer Untersuchung über Ehescheidungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz formulierte, auseinander.42 Im gesamten europäischen Raum lässt sich dieser intensive Diskurs verfolgen. „So 40 Wann und wo sich die beiden Mutterschutz- und Friedensaktivistinnen kennengelernt haben, konnte ich bisher noch nicht eruieren. In der Biographie von Christl Wickert, Helene Stöcker, 1869–1943: Frauenrechtlerin, Sexualreformerin, Pazifistin, Bonn 1991, konnten dazu keine Angaben gefunden werden. Zahlreiche Forschungen setzen sich mit ihren vielfältigen Aktivitäten auseinander. Vgl. Regina Braker, Helene Stöcker’s Pacifism in the Weimar Republic: Between Ideal and Reality, in: Journal of Women’s History 13, 3 (2001), 70–97; Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995; Amy Hackett, Helene Stöcker. Leftwing Intellectual and Sex Reformer, in: Renate Bridenthal, Atina Grossmann u. Marion Kaplan (Hg.), When Biology became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany, New York 1984, 112–119; Gudrun Hamelmann, Helene Stöcker, der „Bund für Mutterschutz“ und „Die Neue Generation“, Frankfurt a. M. 1992; Heide Schlüpmann, Radikalisierung der Philosophie. Die Nietzsche Rezeption und die sexualpolitische Publizistik Helene Stöckers, in: Feministische Studien 3, 1 (1984), 10–34; Peter Davies, Transforming Utopia: The ‚League for the Protection of Mothers and Sexual Reform‘ in the First World War, in: Alison S. Fell u. Ingrid Sharp (Hg.), The Women’s Movement in Wartime International Perspectives, 1914–1919, Basingstoke 2007, 211–226. Die Autobiographie von Helene Stöcker habe ich in einer Kopie im Frauenarchiv Kassel eingesehen. Auch darin fanden sich keine Hinweise auf die Bekanntschaft mit Olga Misař. Vgl. auch die Edition von Reinhold Lütgemeier-Davin u. Kerstin Wolff (Hg.), Helene Stöcker. Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, Köln/Weimar/Wien 2015. 41 Vgl. Wickert, Helene Stöcker (wie Anm. 40). 42 Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln/Weimar/Wien 2004. Ausführlich dazu auch Edith Saurer, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2014.
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eindeutig und selbstverständlich war nämlich um 1900 nicht, wie das Wesen der Ehe beschaffen sei, wie sich deren Verhältnis zu Staat und Gesellschaft gestalten sollte, ja ob es die Ehe überhaupt brauche und wenn ja, wie sie rechtlich zu regeln sei. Um diese Fragen kreiste ein hochgradig polarisierter und vielstimmiger Diskurs, der in ganz Europa Juristinnen und Politiker, Soziologen und Sozialreformerinnen, Literatinnen, Philosophen und Feministinnen aufs Intensivste beschäftigte […].“43 Eine der österreichischen Feministinnen, die in diesen Diskurs eingriff, ist Olga Misař. Sie publizierte 1919 „Neuen Liebesidealen entgegen“, das bereits 1921 unverändert in einer zweiten Auflage erschien. Darin setzte sie sich mit Wesen und Zielen der Sexualethik auseinander, behandelte die Einstellung der Frauenbewegung zur Ehe, übte eine Kritik der Ehe, um dann das freie Verhältnis, Liebeskonflikte und die Versorgung der Kinder zu erörtern. Bereits am Beginn betonte sie, „auf einem der schwersten Gebiete der Sittlichkeit, der Sexualethik, einige Richtlinien“ geben zu wollen und entwickelte „praktische Reformen“.44 Helene Stöcker und Olga Misař traten für das Wahlrecht der Frauen ein, setzten sich bereits während des Ersten Weltkrieges für Friedensangelegenheiten ein und nahmen 1915 an der Tagung der Frauen aus kriegführenden und neutralen Nationen in Den Haag teil. Beide engagierten sich in den 1920er und 30er Jahren für den „Bund der Kriegsdienstgegner“, waren im „International Council“ der „War Resisters International“ (WRI), besuchten Konferenzen dieser internationalen Organisation und publizierten gemeinsam. Mit Stöcker und Martha Steinitz (1889–1966), einer in England lebenden deutschen Aktivistin der Internationale der Kriegsdienstgegner, verfasste Olga Misař die erste historische Untersuchung über Kriegsdienstgegner in Deutschland und Österreich, eine Schrift, die im Verlag von Helene Stöcker erschien. In der Graphik ist ihre Position durch „Die Neue Generation“, den Bund der Kriegsdienstgegner ebenso wie durch Kontakte im Exil bestimmt. Dennoch erwähnt Stöcker in ihren in der Emigration in Schweden 1937 verfassten autobiographischen Aufzeichnungen Olga Misař mit keinem Wort. Begründungen dafür können nicht gebracht werden bzw. liegen im Bereich der Spekulation.
Vernetzungen III: Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Im Jahr 1914 war die Begeisterung in der österreichischen Bevölkerung für den Krieg groß und dieser fand auch in der bürgerlichen Frauenbewegung breite 43 Arni, Entzweiungen (wie Anm. 42), 24. 44 Olga Misař, Neuen Liebesidealen entgegen, Wien 1919, 5.
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Zustimmung. Die Frauen sahen es als ihre patriotische Pflicht, für den Krieg einzutreten.45 Allein im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein ergriffen einige wenige mutige und engagierte Friedensaktivistinnen das Wort gegen die Wirkmacht des „wie eine Hypnose die Gemüter beherrschenden Kriegsrausches und Völkerhasses“.46 Ab 1915 erschien in der Zeitschrift des „Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins“ mit dem Titel „Neues Frauenleben“ eine Rubrik „Für Frieden und Völkerverständigung“, und im April unterzeichneten 21 Frauen einen Aufruf zur Organisation eines Frauenkongresses gegen den Krieg in Den Haag. Dazu gehörten Else Beer-Angerer, Alice Fuchs, Johanna Friedjung, Bertha C. Fröhlich, Adele Gerber, Marie Goldscheid, Yella Hertzka, Eugenie Hoffmann, Hertha Jäger, Emilie K[a]ssowitz, Leopoldine Kulka, Klara Körber, Elisabeth Luzzatto, Rosa Mayreder, Olga Misa[ř], Mathilde Prager-Holm, Aurora Pollak, Rudolfine Sperber, Ela Spitzer, Dr. Christine Touaillon, Regine Ul[l]mann.“47 Im Jahr 1918 wurden im „Neuen Frauenleben“ die Geschehnisse rund um die Entsendung zur Friedenstagung folgendermaßen dargestellt: Der Verein „sammelte für den Haager Frauenkongress die in der damaligen kriegstollen Zeit nicht ganz klein erscheinende Zahl von tausend Zustimmungskundgebungen in Form von Unterschriften und Geldbeiträgen und entsendete zum Kongreß zwei Delegierte, Olga Misař – die treibende Kraft in dieser Sache – und seine Vizepräsidentin Leopoldine Kulka“.48 Dieser internationale Kongress fand vom 26. bis zum 28. April 1915 in Den Haag statt. Die Niederländerin Aletta Jacobs und andere Aktivistinnen der internationalen Stimmrechtsbewegung (IWSA ) organisierten die Zusammenkunft: Jane Adams aus den USA, die Gründerin der Settlement Bewegung49 und Stimmrechtsaktivistin, nahm gemeinsam mit über tausend Frauen und einigen wenigen Männern aus Deutschland, England, Belgien und den skandinavischen Ländern daran teil. Wer tatsächlich dort war, lässt sich nicht exakt eruieren, da auf der Anwesenheitsliste der Tagung Frauen verzeichnet sind, die nachweislich nicht dabei waren. 45 Vgl. Maureen Healy, Becoming Austrian: Women, the State, and Citizenship in World War I, in: Central European History 35, 1 (2002), 1–35, betont vor allem die Verbindung bürgerlicher, katholischer und sozialdemokratischer Frauen in der Frauenhilfsaktion. 46 Neues Frauenleben 20, 4–5 (1918), 86. 47 Oesch, Yella Hertzka (wie Anm. 20), 167f. 48 Neues Frauenleben 20, 4–5 (1918), 86. 49 Über die Settlement Bewegung in Wien vgl. Elisabeth Malleier, Das Ottakringer Settlement. Zur Geschichte eines frühen internationalen Sozialprojekts, Wien 2005. Mineke Bosch, Aletta Jacobs (1854–1929). Een onwrikbaar geloof in rechtvaardigheid, Uitgeberij Balans, Amersfoort 2005; Aletta Jacobs, Memories. My Life as an International Leader in Health, Suffrage and Peace, hg. von Harriet Feinberg, New York 1996.
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Dass jedoch auch beim Haager Kongress die vielbeschworene völkerverbindende Freundschaft zwischen den Frauen mitunter von Brüchen und Sprüngen gekennzeichnet war, beschreibt die vergleichende Untersuchung von Annika Wilmers.50 Gerade zwischen deutschen und belgischen Frauen kam es nach den brutalen Vorfällen im Krieg zu offen gezeigten Differenzen bei der Tagung in Den Haag. Dennoch wurde nach der Konferenz die Solidarität zwischen den Frauen betont. So bekräftigte beispielsweise Rosa Mayreder in einer vom AÖF organisierten Versammlung, der Kongress habe „die internationale Solidarität, die zu den ideellen Grundlagen der Frauenbewegung gehört, unter den schwierigen Verhältnissen beglaubigt“.51 Rosa Mayreder, zu diesem Zeitpunkt bereits als Philosophin und Gesellschaftstheoretikerin sowie als Schriftstellerin und Multifunktionärin bekannt, war jahrelang in der 1919 in der „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (Women’s League for Peace and Freedom) umbenannten Organisation im österreichischen Zweig als Präsidentin und später dann als Ehrenpräsidentin tätig. Diese wichtige Position ist auch in der Graphik abzulesen. Kulka betonte in ihrer Rede anlässlich dieser Versammlung die parteiübergreifende Wirkung der Veranstaltung, indem sie anmerkte, dass „die Grüße der sozialistischen Frauen-Internationale aufgenommen“ worden seien, „die namens der Generalsekretärin Klara Zetkin von der holländischen Genossin Ankersmit überbracht wurden, wenn ich nicht irre, das erste Mal, daß die Sozialistinnen solche an eine Tagung bürgerlicher Frauen sandten“.52 Aufgrund des von Zetkin ausgesprochenen Verbotes für die proletarische Frauenbewegung, mit der bürgerlichen zusammenzuarbeiten, war dies ein Zeichen besonderer Anerkennung.53 Im „Neuen Frauenleben“ wurden immer wieder Grußadressen von Frauen aus verfeindeten Ländern ausgetauscht, so ein „Weihnachtsgruss englischer Frauen an die Frauen in Deutschland und Österreich“ im Dezember 1915.54 Da eine neue Vereinsgründung nicht möglich war, übernahm der AÖF die Führung der Ländergruppe für permanenten Frieden unter seinem Namen und organisierte in der folgenden Zeit verschiedene Veranstaltungen, in denen der Friedensgedanke unter „verhüllenden Titeln“ propagiert wurde. Im Februar 1916 50 Annika Wilmers, Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung 1914–1920. Handlungsspielräume, politische Konzeptionen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Essen 2008, 40ff. 51 Neues Frauenleben 17, 5 (1915), 98–101. 52 Neues Frauenleben 17, 5 (1915), 105. Im Original gesperrt gedruckt. 53 Vgl. Marilyn J. Boxer, Rethinking the Socialist Construction and International Career of the Concept „Bourgeois Feminism“, in: Karen Offen (Hg.), Globalizing Feminisms. 1789–1945, London/New York 2010, 286–301. 54 Neues Frauenleben 18, 1 (1916), 11.
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eröffneten die Frauen im AÖF – ebenso wie die deutschen Pazifistinnen – eine Leihbibliothek mit pazifistischer Literatur.55 Wohl nach amerikanischem Vorbild56 konstituierte sich unter dem Vorsitz von Else Beer-Angerer im Dezember 1917 in Wien eine „Friedenspartei“.57 Diese veranstaltete ab Jänner 1918 große Friedensversammlungen und gab Flugschriften heraus.58 Die Versammlung vom 18. November 1918, in der Berta Pauli, Anitta Müller und Olga Misař im Niederösterreichischen Gewerbevereinssaal (im großen sowie in einem kleinen Saal) sprachen, fand regen Zulauf. Berta Pauli referierte über das „Selbstbestimmungsrecht der Frau“, Anitta Müller über „Soziale Reformen“ und Olga Misař über die „Aufgaben der Frau in der Friedenspolitik“.59 Diese Verflechtungen zwischen radikaler bürgerlicher Frauenbewegung sowie der Frauenfriedensbewegung ist auch graphisch durch die Vereinszugehörigkeiten sichtbar. Die Frauen der proletarischen Frauenbewegung nahmen eine ambivalente Position zur Friedenspolitik ein, unterstützten jedoch die Vorschläge des AÖF, „die sich mit unseren fast ganz decken“.60 Bruna Bianchi stellte fest, dass diese turbulenten Jahre, die die Niederlage des liberalen und demokratisch orientierten Sozialismus und Pazifismus markierten, zur selben Zeit ein Ausgangspunkt für Ideen, Praktiken und Kontakte waren, die den Weg für einen neuen Pazifismus in der Nachkriegsperiode ebneten.61 Das gilt auch für viele der bis 1919 im AÖF engagierten Frauen, die für Friedens politik eingetreten waren. Sie führten nach Kriegsende ihre Tätigkeit in der 55 Olga Misař an das Büro in Amsterdam, WILPF, Reel 55. 56 „The Women’s Peace Party“ wurde im Jänner 1915 in Washington von Jane Adams, Carrie Chapman Catt und anderen gegründet. Vgl. Marie Louise Degen, The History of the Woman’s Peace Party, Baltimore 1939. 57 Neues Frauenleben 20, 4–5 (1918), 88. Über die Friedenspartei existieren nur wenige Quellen. 58 Am 28. Jänner fand im großen Konzerthaussaal eine von der Friedenspartei veranstaltete Versammlung statt, auf der Schuldirektor Kemetter, Else Beer-Angerer und Ernst Viktor Zenker sprachen. Neues Frauenleben 20, 1–2 (1918), 20. Am 20., 22. und 23. März organisierte die Friedenspartei Versammlungen, auf denen der Bezirksvorsteher des zweiten Bezirks Dr. Leopold Blasel sowie Zenker, Beer-Angerer, Kulka und Misař als RednerInnen vorgesehen waren. Neues Frauenleben 20, 3 (1918), 20. 59 Neues Frauenleben 20 (1918). 60 Arbeiterinnenzeitung 1 (1916), 6. Die Arbeiterinnenzeitung berichtete auch ausführlich über den Kongress in Den Haag und konstatierte: „Dem österreichischen Frauenverein fällt in der bürgerlichen Frauenbewegung das Verdienst zu, daß er, getreu seinen […] Traditionen, in dieser Zeit der Völkerverhetzung die Fahne der Internationalität und des Friedensgedankens hochgehalten hat.“ In: Arbeiterinnenzeitung 24, 11 (1915), 1. 61 Bruna Bianchi, Towards a New Internationalism: Pacifist Journals Edited by Women, 1914–1919, in: Christa Hämmerle, Oswald Überegger u. Birgitta Bader-Zaar (Hg.), Gender and the First World War, New York 2014, 176–194, 176.
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„Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF ) fort und nahmen an den internationalen Tagungen teil, etwa in Zürich 1919. Dort ergriffen Leopoldine Kulka und Yella Hertzka als österreichische Delegierte das Wort. Durch die guten internationalen Kontakte von Yella Hertzka wurde es möglich, den Dritten Internationalen Kongress der IFFF 1921 in Wien abzuhalten. Olga Misař fungierte dabei nicht nur als Übersetzerin vom Englischen ins Deutsche, sondern gemeinsam mit Helene Scheu-Riesz auch im Pressekomitee, im Komitee „Pazifismus in der Praxis“ sowie gemeinsam mit Yella Hertzka im Subkomitee für die Abendtreffen. Yella Hertzka war im „Board of Officers“ vertreten, Else Beer-Angerer und Misař als „Consultative Members“. Ihr wichtigster Beitrag zu dieser Konferenz – neben vielfältigen Organisationsarbeiten und Übersetzungstätigkeit – war wohl das „Pedge to Refuse War Service“, das als „Gelöbnis, keinen Kriegsdienst zu leisten“, bekannt wurde: „Die Mitglieder des Kongresses glauben, dass jeder Krieg ungerecht ist und dass die Bewaffnung der Völker zur See, auf dem Festlande oder in der Luft Verrat an der geistigen Einigkeit und der Vernunft des Menschen bedeutet. Sie beabsichtigen deshalb, niemals an einem Kriege teilzunehmen, sei es ein Offensiv- oder ein Defensivkrieg, ein internationaler oder ein Bürgerkrieg. Sie wollen keine Waffen tragen, keine Munition erzeugen oder gebrauchen, keine Kriegsanleihe wissentlich zeichnen, oder arbeiten, um andere für den Kriegsdienst frei zu machen. Sie geloben auch, an der Beseitigung aller Ursachen des Krieges zu arbeiten, und wollen, was in ihrer Macht steht, zur Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung, die auf der gemeinsamen Arbeit aller für das allgemeine Wohl beruht, beitragen.“62 Dieses Gelöbnis wurde als Wiederholung des Gelöbnisses der Tagung in Zürich 1919 angesehen und nach intensiver Diskussion angenommen. Es wurde in der Zeitschrift „Erkenntnis und Befreiung“ abgedruckt. Diese 14-tägig erscheinende Zeitschrift gab der Kriegsdienstgegner im Ersten Weltkrieg, Antimilitarist, Anarchist und federführend im Bund herrschaftsloser Sozialisten engagierte Rudolf Grossmann heraus. Olga Misař, selbst im Bund herrschaftsloser Sozialisten als Rednerin tätig, stellte somit das Bindeglied zwischen anarchistischen und bürgerlichen-feministischen Positionen dar. Im Rahmen der Tagung fand am 15. Juli in den Rosensälen in Favoriten eine Versammlung statt, die „massenhaft, meist von Proletarierfrauen“ besucht wurde. Olga Misař führte den Vorsitz, Isabella Ford aus England, Jeanne Melin aus Frankreich und Rosa Genoni aus Italien sprachen über Friedensfragen.63 Im November 1922 kam es zu einer Spaltung der Wiener Gruppe der IFFF in eine politische und eine soziale Gruppe, deren Gründe schwer zu eruieren sind 62 Internationaler Kongreß in Wien, Genf 1921, 103ff. 63 Arbeiterinnen Zeitung, 17. Juli 1921, 7.
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und die möglicherweise auf persönlichen Differenzen beruhten. Aber auch unterschiedliche Ansichten über die politische Ausrichtung sowie über Bündnispartner der österreichischen Sektion können als Ursachen für die Spaltung genannt werden.64 Yella Hertzka und Olga Misař waren gemeinsam mit Else Beer-Angerer in der politischen Gruppe tätig, während Mayreder, die Gymnasiallehrerin Marianne Zycha, die auch bereits vor dem Krieg im AÖF tätig gewesen war, und viele andere in der sozialen Gruppe arbeiteten. Corinna Oesch konnte feststellen, dass sich die politische Gruppe in den 1920er und 1930er Jahren durch die Arbeit von Hertzka und Misař im Exekutivkomitee stärker in der internationalen Organisation der WILPF einbringen konnte als die soziale Gruppe. Die politische Gruppe wählte als ihren Sitz die Räumlichkeiten des „Neuen Wiener Frauenklubs“, in dem Yella Hertzka federführend agierte, in den Tuchlauben 11 im 1. Bezirk in Wien.65 Gewöhnt daran, gegen den Strom zu schwimmen, traten Olga Misař und Yella Hertzka 1926 in der Dezemberausgabe der Zeitschrift „Die Frau im Staat“ gegen den weitverbreiteten Anschlussgedanken Österreichs an Deutschland gemeinsam mit den beiden deutschen Pazifistinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heimann auf.66 „Aber wir fanden alles gegen uns vereint. Die Zeitungen wollten aus dem einen oder anderen Grunde nichts von einer Ablehnung des Anschlusses hören; wir machten die eigentümliche Erfahrung, daß nicht ein Wiener Blatt unsere Kundgebung, aber fast alle Proteste dagegen brachten.“67 Mit ihren Äußerungen positionierten sie sich klar gegen den politischen Mainstream. Ungeachtet der Spannungen und Spaltungen innerhalb des österreichischen Zweiges der IFFF dürfen die Verbindungen, die sich beispielsweise in gemeinsam abgehaltenen Veranstaltungen äußerten, nicht unerwähnt bleiben. Solche Gemeinsamkeit von Interessen trotz Differenzen tritt deutlich in Bezug auf die 1923 von der ersten promovierten Studentin der Universität Graz, Seraphine Puchleitner gegründeten Grazer Gruppe der IFFF zutage. Auch wenn diese Gruppe vehement gegen die von Hertzka und Misař geäußerte Ablehnung eines Anschlusses auftrat, kam es 1928 zu einem „Good will day“ in Graz. „Es war mehr als ein Versuch, durch die Tagung der Grazer Gruppe der Internationalen Frauenliga für die Friedensarbeit in dieser Stadt eine breitere Grundlage zu schaffen“ – so das Fazit. Der erste Abend am 17. Mai 1928, an dem Vertreterinnen von mehreren Frauenorganisationen sprachen, hatte „Die Stellung der Frau zur Friedensbewegung“ zum Thema. „Bei der Eröffnung widerlegte die Vorsitzende, Puchleitner, den von völkischer Seite in Flugschriften erhobenen Vorwurf, wonach der Pazifismus nur 64 65 66 67
Oesch, Yella Hertzka (wie Anm. 20) 196ff, hier besonders 205. Ebd., 61f. Ebd., 208. Olga Misař, Arbeiten und nicht verzweifeln, in: Die Frau im Staat (1927), 8–9, 8.
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in den besiegten Ländern, wie z. B. in Österreich propagandiert werde und die Friedensbewegung die Ungerechtigkeiten der Friedensverträge geflissentlich übersehe. Sie wies darauf hin, daß die Friedensvereine in Mitteleuropa viel später als jene in den westeuropäischen Ländern ihre Tätigkeit begonnen haben und bei uns in Oesterreich die Mitgliederzahl der Friedensvereine bedauerlicherweise noch weit hinter der in den westlichen Staaten zurückbleibe. Die Nichtbeachtung der ungerechten Friedensverträge könne nur von solchen Gegnern, die sehr wenig, oder garnichts [sic!] von den pazifistischen Vereinigungen wissen, den Pazifisten gegenüber als Vorwurf erhoben werden. Allerdings treten letztere für die Beseitigung aller Ungerechtigkeiten und nicht nur allein des einen Spezialfalles ein. Die Forderung nach Rückerhalt der deutschen Kolonien muß aber abgelehnt werden, da man nicht das Recht hat, besonders wenn man für sich Gerechtigkeit verlangt, andere Völker gegen ihren Willen zu beherrschen. […] Frau Olga Misar entwickelte zum Schluß die Anschauungen der Kriegsdienstgegner.“68 Es gelang ihr also, Differenzen in den politischen Anschauungen zu überwinden und mit den Gegnerinnen wieder zusammenzuarbeiten. Zusammenarbeit mit anderen Vereinen wird im „Tätigkeitsbericht der politischen Gruppe der Frauenliga für Frieden und Freiheit […] für die Zeit vom November 1926 bis Mai 1929“ dokumentiert. „Die politische Gruppe gründete zusammen mit anderen Vereinen ein Komitee für innere Abrüstung und versuchte, Politiker beider Richtungen zu einer Friedensaktion zu gewinnen.“69 Die Position von Olga Misař im Netzwerk veranschaulicht diese Funktion, unterschiedliche friedenspolitische Gruppen zu verbinden.
Vernetzungen IV: Der Bund der Kriegsdienstgegner Die friedenspolitischen Tätigkeiten von Olga Misař beschränkten sich nicht auf ihre Arbeit in der IFFF. Seit 1923 war sie für eine weitere Non-Governmental Organization, den 1921 gegründeten „Bund der Kriegsdienstgegner Österreichs“, tätig, den sie ganz wesentlich mitgestaltete. Als Sekretärin des Bundes warb sie neue Mitglieder, gab Flugblätter heraus, veröffentlichte eine Vielzahl von Zeitungsartikeln und organisierte Vorträge. Der Bund beteiligte sich an großen Antikriegsdemonstrationen. Auch die Gründung neuer regionaler Gruppen, beispielsweise in der Steiermark, fand ihre Unterstützung.70 Die Geschichte der englischen 68 Österreichisches Staatsarchiv, AdR, 523-1-12, 4. 69 Österreichisches Staatsarchiv, AdR, 523-1-12, 4. 70 Vgl. dazu Reinhard Müller, Der aufrechte Gang am Rande der Geschichte. Anarchisten in der Steiermark zwischen 1918 und 1934, in: Robert Hinteregger, K. Müller u. Eduard
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KriegsdienstgegnerInnen im Ersten Weltkrieg machte sie 1926 durch die Übersetzung von „Friedenshelden im Weltkrieg“, der von John W. Graham 1922 mit dem Titel „Conscription and Conscience“ im Quäker Verlag erschienenen Publikation, im deutschen Sprachraum bekannt. Besonders in den Jahren nach dem Krieg existierte eine vielfältige Zusammenarbeit mit den Quäkern in Wien, die sich besonders in der Hilfe für hungernde Kinder einen Namen gemacht hatten.71 Der österreichische Verein war Teil der „War Resisters International“ (WRI) und Misař dessen österreichische Vertreterin. Die transnationale Kommunikation wurde durch Tagungen im Zweijahres-Rhythmus aufrechterhalten. 1928 fand die II. Internationale Tagung der WRI am niederösterreichischen Sonntagberg statt, die im Wesentlichen Olga Misař organisiert hatte. Im Tätigkeitsbericht des Jahres 1929 wird das Engagement von Olga Misař ausführlich beschrieben: „Im Laufe des Jahres hat Olga Misar 12 Vorträge über Kriegsdienstverweigerung in uns nahestehenden Vereinen gehalten, wobei auch immer Literatur verkauft und Mitglieder geworben wurden. Von diesen Vorträgen fanden sechs in verschiedenen Bezirken Wiens und Umgebung in Freidenkerkreisen statt, drei in der politischen Gruppe der Frauenliga für Frieden und Freiheit, einer im Verein ‚Die Kette‘, einer im Verein abstinenter Frauen und einer in einem Elternverein des 10. Bezirkes.“72 Eine Vielzahl von Referaten zur Friedensthematik und der Frage der Kriegsdienstgegnerschaft wurde auch in der Zeitschrift „Erkenntnis und Befreiung“ des „Bundes herrschaftsloser Sozialisten“ angeführt. „Unsere Agitation und Bewegung. Graz. Nie wieder Krieg! Demonstration in den Steinfelder Sälen. Sehr gehaltvoll, von edelweiblicher Innigkeit und vehementer Leidenschaft gegen den Krieg war das Referat der Kameradin Olga Misar aus Wien.“73 Ab 1930 erschienen 14-tägig Mitteilungen aus Österreich in der „Friedensfront“, dem „Organ des Bundes der Kriegsdienstgegner, Deutscher Zweig der War Resisters International“, die von Dr. Arnold Kalisch in Berlin-Hermsdorf herausgegeben wurde. Darin warnte sie bereits 1930 vor einem drohenden Bürgerkrieg sowie vor der Wiedereinführung einer Miliz. Als Vertreterin des Bundes der Kriegsdienstgegner war Olga Misař in der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Friedensvereine tätig. Ein Eintrag in der „Friedensfront“ vom Juni 1930 beleuchtet diesbezügliche Aktivitäten. „Am Mittwoch, den 7. Mai war eine Deputation, Staudinger (Hg.), Auf dem Weg in die Freiheit. Beiträge zur steirischen Zeitgeschichte, Graz 1984, 163–196. Vgl. dazu auch die materialreiche, aber durch ungenaue Zitierweise gekennzeichnete Arbeit von Christian Neubauer, Rudolf Grossmann (Pierre Ramus) und der österreichische Anarchismus von 1907–1934, 3 Bde., Dissertation, Wien 1999, 309ff. 71 Vgl. Sheila Spielhofer, Stemming the Dark Tide. Quakers in Vienna 1919–1942, York 2001. 72 International Institute of Social History, WRI 165, Mappe Ben Mandel. 73 Erkenntnis und Befreiung 5, 30 (1923), 1.
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der Arbeitsgemeinschaft der Friedensvereine Österreichs, bestehend aus Staatsrat Dir. A. M. Kemetter74, Miß B. B. Hoystedt75 und Frau Olga Misar beim Minister des Inneren [Vinzenz Schumy], um ihm Vorstellungen darüber zu machen, daß die Verhältnisse unerträglich seien, daß die ständigen Aufmärsche und die Gefährdung des Bürgerfriedens eine Schande vor ganz Europa seien und das Ansehen, die Sicherheit und das Wirtschaftsleben Oesterreichs in Grund und Boden ruinieren. Der Minister stellte in Aussicht, daß in der nächsten Zeit zwar nicht das Verbot, wohl aber eine wesentliche Einschränkung der Aufmarschtätigkeit erfolgen werde.“76 Im Namen des österreichischen Abrüstungskomitees77 verfasste sie am 22. Oktober 1931 als eine der drei Präsidentinnen (neben Helene Brings und der Direktorin Mathilde Hanzel78) einen Brief, der an Mr. Gandhi, London, adressiert war und diesen nach Wien einlud. „I wish therefore to repeat our warmest invitation for your visit to Vienna in the name of the Austrian War Resisters, the Disarmament Committee, deprising 22 peace societies and the Union of Austrian Peace Societies. All of us would be happy and honoured if we could once in our lives see Ghandi, who is for us the personification of non-violence and who has practically realised our ideals.“79 Gandhi kam nicht nach Wien, ein Antwortschreiben ist nicht erhalten.
Vernetzungen V: Exil Wladimir und Olga waren im nationalsozialistischen Österreich mehrfach gefährdet: als FriedensaktivistInnen sowie er als Freimaurer und sie als Jüdin. Am 74 Der Reichsratsabgeordnete (1907) August Maria Kemetter war 1905 Direktor der niederösterreichischen Landeslehrerbildungsanstalt am Pädagogikum in Wien. 75 Sie war Leiterin der österreichischen Gruppe des Versöhnungsbundes. 76 Friedensfront 2 (1. Juni 1930), 11. 77 Diesem waren folgende Vereine angeschlossen: die politische und soziale Gruppe der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, Bund der Kriegsdienstgegner, Bereitschaft, Österreichische Friedensgesellschaft, Liga für Menschenrechte, Allgemeine Nährpflicht, Tolstoibund, Weltjugendliga, Gesellschaft für Friedenserziehung, Reichsorganisation der Hausfrauen, Frauenpartei, Frauenklub, Abstinente Frauen, Fachverein der Gastwirte, Religiöse Sozialisten, Monistenbund, Freundesbund für internationalen Dienst, Verband der Kriegsblinden, Freidenkerbund, Friedensbund österreichischer Katholiken, Landesverband Wien der Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen Österreichs. 78 Vgl. Monika Bernold u. Johanna Gehmacher, Auto/Biographie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel, Politische Schriften von Mathilde Hanzel-Hübner (1884–1970), Wien/ Köln/Weimar 2003. 79 Brief aus dem Archiv des Sabarmati-Aschram.
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13. April 1939 verließ das Ehepaar Misař Wien, um nach London aufzubrechen. Dahin war im Herbst 1938 bereits die Tochter Olga mit ihrem Ehemann Ernst Schwarz emigriert, sodass die Eltern dieses familiäre Netz nutzen und bei diesen in Enfield, nördlich von London, wohnen konnten. Ein erhaltener Nachlass von Briefen mit dem ebenfalls emigrierten Ehepaar Wilhelm und Stephanie Börner,80 die 1938 nach New York geflohen waren, gibt Einblick in eine Vielzahl von wichtigen Fragen zur häufig vernachlässigten alltäglichen Lebensgestaltung im Exil, lässt wiederum soziale Netzwerke sichtbar werden und zeigt sich auch in der graphischen Darstellung.81 Gerade in dieser Situation des Exils spielten vorhandene Beziehungen und das Fortführen derselben bedeutende Rollen, was sich auch in der Graphik abzeichnet. Ein Affidavit, das ist die Bürgschaft für die Aufnahme im Exilland, bekam das Ehepaar Misař über die Vermittlung der WRI . Bereits kurz nach dem Eintreffen in England stellte es Kontakte zum früheren friedenspolitischen Netzwerk her. Die Tochter Olga berichtete im Mai 1939: „[…] meine Mutter steht in regem Kontakt mit der hiesigen Frauenliga und früheren Freunden.“82 Bestehende Kontakte wie beispielsweise zu Yella Hertzka, die mit ihr in der IFFF in Wien aktiv gewesen war, und zu Helene Stöcker, mit der sie auch im „International Council“ der „War Resisters International“ engagiert hatte, wurden aufrechterhalten – das gilt zumindest für ihre Zeit in Enfield.83 In diesen Briefen erwähnte das Ehepaar Misař, mit welchen anderen EmigrantInnen es Kontakte pflegte, wer wohin gelangt war. So hatte Olga Misař etwa Kontakt zu dem Ehepaar Kobler.84 Der Jurist Franz Kobler hatte 1928 in Österreich das Handbuch der Gewaltlosigkeit herausgegeben, in dem auch ein von Olga Misař verfasster Beitrag erschienen war.85 Das Ehepaar Kobler war über die Schweiz nach England geflüchtet und emigrierte später weiter in die USA. Neben den Sozialbeziehungen, die in Briefen fortgeführt wurden, ging es im Exil darum, Sozialbeziehungen vor Ort (wieder-)herzustellen und zu festigen. 80 Der 1882 in Niederösterreich geborene Börner wurde durch sein Studium bei Friedrich Jodl (1849–1914) zum Ethiker und führenden Mitglied der ethischen Gemeinschaft. 81 Vgl. Brigitte Rath, „… ehe sie Europa für immer verlassen.“ Biographie und Exil, in: Julia Maria Mönig u. Anna Orlikowski (Hg.), Exil interdisziplinär. Exilformen, Beweggründe und politisch-kulturelle Aspekte von Verbannung und Auswanderung, Würzburg 2015, 35–49. 82 Brief von Olga Schwarz an Wilhelm Börner vom Mai 1939. 83 Brief von Wladimir Misař an Wilhelm Börner vom 29. Juni 1939. 84 Brief von Olga Misař an Wilhelm Börner vom 9. Juni 1945. 85 Franz Kobler (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich/ Leipzig 1928; Evelyn Adunka, Franz Kobler (1882–1965): Rechtsanwalt und Historiker, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, München/Zürich 1994, 97–122.
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Olga Schwarz berichtete am 19. Juli 1945: „Es ist so, dass die traurige Darstellung vom Gemütszustand meiner Mutter nun glücklicherweise schon lange nicht mehr ganz zutrifft; sie findet doch allmählich verschiedene Betätigungsgebiete, teils in der Cooperative Movement und teils in der Arbeit für Refugees, Sammlung von Kleidern für den Kontinent, usw. die ihr eine gewisse Freude und Befriedigung geben. Dazu kommt, dass ihr das eigene Heim und der Garten viel Freude machen, […].“ Die „International Guild of Cooperative Women“ existierte bereits seit 1921. Die österreichische Sozialistin und Friedensaktivistin Emmy Freundlich hatte in dieser Organisation eine bedeutende Rolle gespielt.86 Über sie schrieb Olga Misař: „Emmy Freundlich war unser erster Gast hier, als ich sie einlud, in der Frauengilde einen Vortrag zu halten […].“87 In welchem Ausmaß in diesem Kontext familiale Netzwerke für die Arbeitsplatzsuche von Relevanz waren, kommt in einem Brief von Wladimir am Neujahrstag 1942 zum Ausdruck, in dem er mitteilte, dass er „von einem Fabriksbesitzer in Huddersfield, einem Vetter meiner Frau die Anfrage [erhielt], ob ich sofort in sein Bureau einzutreten gewillt sei“.88 Er nahm die Arbeitsstelle an, verbrachte dort die ersten Wochen allein, dann folgte ihm seine Frau und sie lebten in einer Pension. In Huddersfield lebten auch Martha, die Schwester von Olga, und deren Mann. Bevor Olga Misař ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, nach Österreich zu reisen, verstarb sie ganz plötzlich an einem Herzversagen und wurde im Londoner Friedhof „Golders Green“ am 12. Oktober 1950 kremiert.
Resümee Die biographische Annäherung an Olga Misař zeigt ganz deutlich die Bedeutung, die den unterschiedlichen Netzwerken im Lebensverlauf zukommt. In der graphischen Umsetzung werden die vielfältigen Kontakte in ihrer Verwobenheit sichtbar. Diese Verwobenheit macht zugleich deutlich, wie klein der Kreis der friedenspolitisch engagierten AktivistInnen war, dem eine zunehmende Gewalt in der Politik der 1930er Jahre gegenüberstand.89 Die Abbildung spiegelt wider, 86 http://www.nationalarchives.gov.uk/a2a/records.aspx?cat=050-DCX &cid=0#0 (Zugriff September 2011). „The first president was Emmy Freundlich of the Austrian Women’s Guild and the first secretary was Honora Enfield of England.“ 87 Brief von Olga Misař an Wilhelm Börner vom 9. Juni 1945. Vgl. auch Strommer, Emmy Freundlich (wie Anm. 39). 88 Brief von Wladimir Misař an Wilhelm Börner vom 8. Februar bzw. 23. März 1942. 89 Vgl. Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1938, München 1983².
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dass in den Friedensvereinen die Verbindungen weniger intensiv als in den frauenpolitischen Vereinen waren. Dennoch war ein breites politisches Spektrum von ganz links bis bürgerlich-liberal vertreten und durch persönliche Beziehungen miteinander verbunden. Diese persönlichen Beziehungen schlagen sich in den hinterlassenen Quellen, wie dem Briefwechsel zwischen den Ehepaaren Börner und Misař, nieder. In der Abbildung des Netzwerkes wird darüber hinaus deutlich, in welchem Ausmaß sowohl regionale als auch internationale Kontakte eine Rolle für die politische Betätigung spielten. Olga Misař engagierte sich in zwei wesentlichen Tätigkeitsfeldern, in der Frauenbewegung und in der Friedensbewegung, auch wenn damit nur ein Teil ihres journalistischen Schaffens abgedeckt werden kann. Besonders in Krisenzeiten – wie es die Situation im Exil darstellt – wurde die Wichtigkeit von familiären Beziehungen sichtbar.
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Die Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy
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Biographie als Basis verwandtschaftlicher und politischer Netzwerkstrukturen Ute Sonnleitner
Goldy Parin-Matthèy,2 antifaschistische Widerständige, Psychoanalytikerin und Mitbegründerin der Ethnopsychoanalyse, kam im Mai 1911 in Graz (Steiermark) zur Welt. Sie war das erste Kind der großbürgerlichen Unternehmerfamilie Matthèy-Guenet, ihr Bruder August, genannt Gustl, wurde drei Jahre später geboren. Von frühester Kindheit an verband die Geschwister eine außerordentlich enge Beziehung, die als Ausgangspunkt und Vorbild der „Brüdergemeinden“ Goldy Parin-Matthèys verstanden werden kann. Das Konzept der „Brüdergemeinde“ war von zentraler Bedeutung für das Leben Goldys; es prägte ihre persönlichen Beziehungen ebenso wie ihr intensives gesellschaftspolitisches Engagement und ihre berufliche Karriere. Eine Analyse im Sinne einer Definition des Wortes, aber auch der konkreten Manifestation in Goldys Lebensgeschichte wird an späterer Stelle vorgenommen. Bereits zu diesem Zeitpunkt kann jedoch festgehalten werden, dass die enge Zusammenarbeit einer Gruppe von Menschen, die durch eine 1
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Die intensive Beschäftigung mit Leben und Wirken Goldy Parin-Matthèys nahm im Jahr 2004 mit dem Beginn der Recherche zur Diplomarbeit der Verfasserin ihren Anfang. Ute Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy 1911–1997, Diplomarbeit, Graz 2005. Die Auseinandersetzung mit der außergewöhnlichen Lebensgeschichte ist seitdem nicht abgerissen. Dank der Möglichkeit, Einsicht in den Nachlass zu erhalten, konnten zudem neue Erkenntnisse erzielt werden. Vgl. dazu Ute Sonnleitner, Landkarten der Territorien des Selbst – Selbstzeugnis und weibliche Identität am Beispiel der Briefe Goldy Parin-Matthèys, in: Gerald Lamprecht, Ursula Mindler u. Heidrun Zettelbauer (Hg.), Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, Bielefeld 2012, 129–140. Die Dissertation der Autorin war dem Thema „Widerstand“ gewidmet, weshalb auch eine Verknüpfung mit dieser Thematik stattfinden wird. Ute Sonnleitner, Widerstand gegen den „Austrofaschismus“ in der Steiermark 1933–1938, Dissertation, Graz 2009. Goldys Taufname lautete Elisabeth-Charlotte, bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg lautete ihr „nom de guerre“ Lieselot, sie wurde jedoch bereits seit ihrer Kindheit Goldi/Goldy genannt, wie Briefe von Verwandten belegen. Vgl. dazu auch Franz Josef Schober, Goldy Parin-Matthèy – (k)eine Grazerin. Ein Beitrag zur Geschichte des „anderen“ Graz, in: Blätter für Heimatkunde, hg. vom Historischen Verein für Steiermark 77, 2 (2003), 49–74.
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gemeinsame Überzeugung miteinander verbunden waren, große Wirkkraft entwickelt hatte. Verwandtschaft spielte, dies belegt bereits die Wahl der Begrifflichkeit, eine zentrale Rolle: die „Gemeinschaft der Brüder“, der auch der leibliche Bruder angehörte und die durch diese und weitere verwandtschaftliche Verknüpfungen erst zustande gekommen war. Gleichzeitig wird die Konstrukthaftigkeit des Konzeptes Verwandtschaft offenkundig. Der gesamte Lebenslauf Goldy Parin-Matthèys wurde von verschiedenen „Brüdergemeinden“ bestimmt. Das Muster blieb stets das Gleiche, wofür sicherlich Goldy in entscheidender Weise verantwortlich war. Anhand des „Kreises in der Morellenfeldgasse“, einer der ersten derartigen Gemeinschaften, sollen die komplexen Strukturen nachgezeichnet werden, welche diese Gruppen auszeichneten, wobei insbesondere dem Einfluss der Kategorie Geschlecht in seiner intersektionalen Bedeutung Rechnung zu tragen ist.3 Die Position Goldys innerhalb der ineinander verzweigten, teilweise miteinander verwandtschaftlich verflochtenen Beziehungsebenen dient als zentraler Analysefaktor. Anhand ihrer Biographie soll das „Netzwerk Brüdergemeinde“ aufgeschlüsselt werden. Daher erfolgt zunächst eine Vorstellung Goldy Parin-Matthèys und ihres bewegten Lebens, ehe die Entstehung der ersten „Brüdergemeinde“ und deren Bedeutung erläutert werden, um solcherart den Ansatz der Betonung eines biographischen Zugangs zu Netzwerkstrukturen zu verdeutlichen. Die Aussagekraft subjektiver Erfahrungen und Erlebnisse der Einzelperson steht im Zentrum der Überlegungen. Die Quellenlage zu Goldy Parin-Matthèy und dem Kreis in der Morellenfeldgasse ist einerseits äußerst weitläufig und andererseits sehr dünn. Aus der Zeit seines tatsächlichen Bestehens existieren mit Ausnahme einiger weniger Bilder keine Quellen.4 Erst in späteren Jahren, teilweise im Abstand von Jahrzehnten, ist eine 3
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Das Konzept der Intersektionalität wurde entwickelt, um auf die zahlreichen Verflechtungen und wechselseitigen Beziehungen einander beeinflussender Faktoren auf einen Lebenslauf hinzuweisen. Dabei gilt es zu betonen, dass die verschiedenen Kategorien ständigen Veränderungen unterliegen, dennoch aber immer miteinander interagieren, also nicht lediglich an bestimmten Kontaktpunkten oder Kreuzungen (intersection) miteinander in Kontakt treten – aus diesem Grund wurde an der Bezeichnung „Intersektionalität“ teilweise auch Kritik geübt. Vgl. Minna-Kristiina Ruokonen-Engler, „Unsichtbare“ Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie, Bielefeld 2012. Eine erste – unzusammenhängende – Darstellung des Kreises in der Morellenfeldgasse findet sich in dem Buch zur gleichnamigen Ausstellung „Moderne in dunkler Zeit“. Peter Weibel u. Günter Eisenhut (Hg.), Moderne in dunkler Zeit – Widerstand, Verfolgung und Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933–1948, Katalog zur Ausstellung, Neue Galerie, 24.3.–30.6.2001, Graz 2001. Wichtige Schritte der Aufarbeitung wurden von Heimo Halbrainer gesetzt, der die Biographie des Architekten und Widerstandskämpfers
Die Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy 259
Reihe von Selbstzeugnissen entstanden, die den „Kreis“ thematisieren.5 In einigen Interviews der ExponentInnen finden sich Hinweise.6 So erscheint auch aus quellenkritischer Sicht eine Re-Konstruktion der Netzwerkstruktur an Hand der Einzelbiographie bzw. deren Einbindung in die Gruppe sinnvoll. Das rekonstruktive Konzept findet in Anlehnung an Theorien der Rekonstruktiven Sozialforschung Verwendung.7 Die Tatsache einander überlagernder Erinnerungsebenen wird
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Herbert Eichholzer nachzeichnete. Heimo Halbrainer (Hg.), Herbert Eichholzer 1903–1943. Architektur und Widerstand, Katalog zur Ausstellung, Graz 7.1.–22.2.1998, Graz 1998. Jene Bilder, die in der Folge in diesem Text besprochen und gezeigt werden, stammen aus dem Nachlass Goldy Parin-Matthèys, der als Kryptonachlass Paul Parins sich nunmehr im Besitz von Prof. Johannes Reichmayr befindet. Dank seiner freundlichen Genehmigung können die Photos gezeigt werden. Maria Biljan-Bilger, Bemerkungen zu meinem Leben, in: Friedrich Kurrent (Hg.), Maria Biljan-Bilger, Keramik – Plastik – Textil, Salzburg 1987, 6–18; Walter Fischer, Kurze Geschichten aus einem langen Leben, Mannheim 1986; Karl Schiffer, Über die Brücke. Der Weg eines linken Sozialisten ins Schweizer Exil, Wien 1988; Goldy Parin-Matthèy, Meine Freundin Maria, in: Kurrent (Hg.), Maria Biljan-Bilger, 19–21. Der von Goldy Parin-Matthèy verfasste Text stellt eine Besonderheit dar, da Goldy eine lebenslange Abneigung dagegen verspürte, Texte für die Publikation zu verfassen. Grundsätzlich schrieb sie nicht gerne, konnte für sich auch keine Notwendigkeit erkennen, weil ihr Mann Paul Parin viel und gerne publizierte. Die beiden agierten stets in enger Übereinstimmung, und Goldy hatte das Gefühl, dass alles Wichtige von Paul festgehalten würde. „Es genügt, wenn einer in der Familie schreibt“, lautete ihr Argument. Brief von Paul Parin an Ute Sonnleitner vom 8.10.2004. Alle im Text zitierten Briefe sind im Original oder in Kopie im Besitz der Verfasserin. Zu seiner Person vgl. Ursula Rütten, Im unwegsamen Gelände – Paul Parin: erzähltes Leben, Hamburg 1996. Zu Ausnahmen kam es nur, wenn es sich um Themen handelte, denen Goldy große Bedeutung zumaß. Vgl. etwa: Goldy Parin-Matthèy, Subkulturelle Chance, in: Susanne Eversmann u. Antje Kunstmann (Hg.), When I’m Forty-Four – Kursbuch Älterwerden, München 1993, 211–214. „Ist der Spanische Bürgerkrieg Geschichte?“, Interview mit Goldy Parin-Matthèy, Freier Zürcher Sender LORA, 7.8.1986, Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen, Bild- und Tonarchiv, Tonband 1.399. Biographische Ansätze werden gerade in den vergangenen Jahren vielfach genutzt, wobei mehrheitlich diverse Interview-Techniken als methodische Grundlage dienen. Es existieren aber auch zahlreiche Versuche historischer Aufarbeitung von Biographien weiter zurückliegender Epochen, die „moderne“ Fragestellungen berücksichtigen. Als Beispiel können die Migrationsforschung, vor allem aber die Geschlechterforschung genannt werden. Ursula Apitzsch u. Mechthild Jansen (Hg.), Migration, Biographie und Geschlechterverhältnisse. Münster 2003; Gabriele Jancke u. Claudia Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Berlin 2005; Meike Penkwitt (Hg.), Erinnern und Geschlecht, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2006; Karin M. Schmidlechner, Oral History als Methode der Historischen Frauenforschung, in: dies. (Hg.), Signale. Veröffentlichungen zur historischen und interdisziplinären Frauenforschung 1, Graz 1994, 9–24.
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solcherart in die Überlegungen miteinbezogen. Die wechselseitigen Beeinflussungen persönlicher Erfahrungen und gesellschaftlicher Vorgaben, wie sie sich auch in einem kollektiven Gedächtnis widerspiegeln, werden aufgezeigt und in ihrem Gehalt hinterfragt.8 Dabei gilt es auch und vor allem, den Einfluss von Emotionen zu berücksichtigen.9 Nicht allein Handlungsmuster einer Person sind auf diese Weise nachvollziehbar. Gefühls-Äußerungen offenbaren in all ihrer historischen Bedingtheit wertvolle Einblicke in Rollen-Muster und -Vorstellungen. Insbesondere vergeschlechtlichte Zuschreibungen einer persönlichen Beziehungsebene werden greifbar, können in ihren mannigfachen Verflechtungen erfasst werden.10 Erst unlängst wurde darauf hingewiesen, dass Mikro und Makro in ständiger Beziehung zueinander zu verstehen sind.11 Detailstudien verfügen über das Potenzial, Verzahnungen offen zu legen, die Verstrickungen 8
Vgl. dazu die Arbeiten von Aleida Assmann, Geschlecht und kulturelles Gedächtnis, in: Meike Penkwitt (Hg.), Erinnern und Geschlecht, Bd. 1, Freiburg i.Br. 2006, 29–46; dies. u. Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M. 1999; Karin M. Schmidlechner, Oral History: Considerations on a Never Ending Story, in: Ulrike Tischler (Hg.), From „milieu de memoire“ to „lieu de memoire“. The Cultural Memory of Istanbul in the 20th Century, Graz 2006, 125-138. 9 Die Frage der biologischen Bedingtheit oder historischen Bestimmtheit von „Emotionen“ ist umstritten. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass gewisse Grund-Affekte existieren (Anziehung, Ablehnung usw.), deren Wahrnehmung, Äußerung, Deutung und Beschreibung jedoch stark kontextbezogen ist, historische wie gruppenbezogene Differenzen aufweist. Vgl. Luc Ciompi u. Elke Endert, Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama, Göttingen 2011, 13–44. 10 In der Geschichtswissenschaft wurde bereits der „emotional turn“ ausgerufen. Trotz einer vermehrten Beschäftigung mit dem Gehalt von Emotionen sind zahlreiche Themenbereiche in dieser Hinsicht noch vollständig unbearbeitet. Gerade in Hinblick auf die Kategorie Geschlecht scheinen wertvolle Erkenntnisse möglich, ist doch bereits das Empfinden von Gefühlen selbst in seiner Wahrnehmung unterschiedlichsten – einem stetigen historischen Wandel unterliegenden – Zuschreibungen unterworfen, die sich oftmals entlang einer Geschlechter-Dichotomie bewegen. Vgl. dazu Manuel Borutta u. Nina Verheyen, Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und Emotion in der deutschen Geschichte, in: dies. (Hg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010, 11–39; Sabine Flick u. Annabelle Hornung (Hg.), Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel, Bielefeld 2009. 11 In Hinblick auf die Analyse von Netzwerken und Verflechtungen wird betont, wie wichtig die Untersuchung des Lokalen ist, um alle Strukturebenen erfassen und in ihren komplexen Wechselwirkungen analysieren zu können. Vgl. dazu Margareth Lanzinger, Das Lokale neu positionieren im actor-network-Raum – globalgeschichtliche Herausforderungen und illyrische Steuerpolitiken, in: Beate Binder u. Michaela Fenske (Hg.), Historische Anthropologie. Standortbestimmungen im Feld historischer und europäisch ethnologischer Forschungs- und Wissenspraktiken, Historisches Forum 14 (2012), 51–63, http://edoc. hu-berlin.de/e_ histfor/14.
Die Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy 261
der Beziehungsgeflechte erkennbar werden zu lassen.12 Die Biographie vermag in all der Besonderheit der Einzelperson, ihrem Leben mit, ihren Reaktionen auf und Widerständen gegen gesellschaftliche Gegebenheiten enorme Aussagekraft zu entwickeln.
1. Lebenslauf13 1911 in Graz zur Welt gekommen, wuchsen Goldy und ihr 1913 geborener Bruder August, während der ersten Jahre ihres Lebens in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater leitete die familieneigene lithographische Kunstanstalt.14 Als diese verkauft werden musste, begann in den frühen 1920er Jahren der finanzielle Abstieg der Familie, der gegen 1927 in der kompletten Verarmung endete. Trotz der akuten Geldnöte und dem gleichzeitigen Zerspringen der „Familienglocke“, wie Goldy es bezeichnete, war es ihr möglich, zunächst die Bürgerschule und in weiterer Folge die Kunstgewerbeschule Graz zu besuchen, die sie 1931 mit sehr gutem Erfolg abschloss.15 Sie fühlte sich dennoch in keiner Weise zu einer künstlerischen Laufbahn berufen, wollte nicht als Keramikerin tätig sein. Der Wunsch, Medizin zu studieren, wiederum konnte keinesfalls finanziert werden, und so entschloss sie sich, verschiedene Ausbildungen in medizinischen Hilfsberufen zu absolvieren. Im Verlauf der 1930er Jahre wurde Goldy Parin-Matthèy zur Röntgenassistentin und zur Laborantin ausgebildet. Daneben war diese Zeit bereits von intensivem politischem Engagement geprägt. Regelmäßige Treffen im FreundInnenkreis, die Agitation unter den Studierenden der Grazer Universität, der Kampf gegen 12 Vgl. dazu beispielsweise auch die Initiativen von Michael Mitterauer, Wege nach Wien – Migration im Rückblick (Wiener Vorlesungen 86), Wien 2002, 13. 13 So nicht anders vermerkt basiert der folgende Abschnitt auf Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 1). 14 August Matthèy sen. erwies sich jedoch als Geschäftsmann als vollständig unbegabt, weshalb die Firma schlussendlich verkauft werden musste. Goldy verübelte ihrem Vater den finanziellen Kollaps niemals. Sie sah ihn vielmehr als Opfer unglücklicher Umstände. Vgl. „Menschenbilder – Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy“, Aufzeichnung aus der Sendereihe von Ö1 vom 9.4.1989, Universalmuseum Joanneum, Multimediale Sammlungen, Bild- und Tonarchiv. 15 Paul Parin u. Goldy Parin-Matthèy, Subjekt im Widerspruch, Frankfurt a. M. 1988, 253. Die Kunstgewerbeschule Graz – nach ihrem Gründer später in die heute noch bestehende Ortweinschule umbenannt – kann als das Zentrum einer steirischen Kunstausbildung verstanden werden, weshalb es sich auch zu einem Knotenpunkt des Kennenlernens zahlreicher künstlerisch tätiger Persönlichkeiten entwickeln konnte. Vgl. dazu Eugen Gross (Hg.), Die Grazer Ortweinschule: Bau – Kunst – Design 1876–2001, Graz 2001.
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Exponenten des damaligen austrofaschistischen und des zukünftigen nationalsozialistischen Regimes bestimmten ihr Leben. Die antifaschistische Überzeugung, der Wunsch sich aktiv zu beteiligen, führte Goldy 1937 in den Spanischen Bürgerkrieg, wo sie als medizinische Assistentin und schließlich in ihrer Funktion als Leiterin des zentralen Labors in Albacete bis 1939 blieb, ehe sie nach dem Sieg Francos praktisch in letzter Minute die Grenze nach Frankreich überquerte. Wie alle Flüchtlinge aus Spanien wurde auch sie in eines der sogenannten „camps d’accueil“ verbracht. Auf Grund ihrer Schweizer Staatsbürgerschaft – einer ihrer Vorfahren war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Schweiz in die Steiermark gewandert und die Familie hatte die Staatsbürgerschaft beibehalten – war Goldy Parin-Matthèy in der privilegierten Position, das französische Internierungslager relativ rasch verlassen und in die Schweiz reisen zu können. Sie ging nach Zürich, wo sie ihr Bruder Gustl bereits erwartete. Der von ihm aufgebaute Freundeskreis half ihr die ersten schwierigen Wochen und Monate zu überbrücken. Das geregelte Leben in der Schweiz widersprach Goldys Vorstellung der Notwendigkeit, sich aktiv am Kampf gegen den Faschismus beteiligen zu müssen, und sie beteiligte sich begeistert, als eine Gruppe Schweizer Ärzte den Plan entwickelte, nach Jugoslawien zu gehen, um dort den PartisanInnen medizinische Unterstützung zukommen zu lassen. Der Equipe Schweizer Ärzte gehörten auch ihr Bruder Gustl und Paul Parin16 an. Paul Parin hatte sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Zürich kennengelernt. Er war die prägende Figur der zweiten Lebenshälfte Goldys. Sie verbrachten gemeinsam die Jahre 1944/45 und 1946 in Jugoslawien,17 beide ließen sich zu Beginn der 1950er Jahre zu PsychoanalytikerInnen ausbilden und unternahmen als Dreierteam
16 Paul Parin war in Slowenien am Gut seines Vaters aufgewachsen, besaß aber ebenfalls auf Grund seiner Schweizer Vorfahren von Geburt an die Schweizer Staatsbürgerschaft. Seine Familie war jüdischer Herkunft, weshalb er 1938 aus Graz, wohin er ein Jahr zuvor zum Medizinstudium gegangen war, in die Schweiz aufbrach. In Zürich lernte er Gustl Matthèy kennen, der ebenfalls Medizin studierte. Die Erzählungen über eine Goldy, die im Spanischen Bürgerkrieg war, faszinierten ihn und er wollte die junge Frau unbedingt treffen. Bald nach dem ersten Kontakt wurde aus Goldy Matthèy und Paul Parin ein Paar. Vgl. Rütten, Im unwegsamen Gelände (wie Anm. 5), 34f. 17 Der erste Jugoslawien-Aufenthalt war der medizinischen Unterstützung der KämpferInnen im Widerstand gegen die deutschen Besatzer gewidmet. 1946 baute Goldy Matthèy in Prijedor eine Poliklinik auf. Die zunehmende Hierarchisierung der politischen Strukturen, die die ursprüngliche „brüderliche“ Gemeinschaftlichkeit unter den PartisanInnen verdrängte, stieß Goldy und Paul ab und die beiden beschlossen daher nach einigen Monaten, das Land wieder zu verlassen. Vgl. dazu die Berichte in Paul Parin, Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen, Berlin 1991.
Die Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy 263
mit Fritz Morgenthaler zahlreiche Forschungsreisen nach Afrika.18 Die Afrikareisen waren zunächst als reine Urlaubsfahrten geplant, doch entwickelte sich auf Grund einer stark empfundenen Faszination an „Land und Leuten“ rasch der Wunsch, sich auch auf wissenschaftlicher Ebene mit West-Afrika auseinander zu setzen.19 Die Verknüpfung gesellschaftspolitischer Interessen mit der Faszination für individuelle Ausdrucksformen führte zur entscheidenden Weiterentwicklung der Forschungsrichtung der Ethnopsychoanalyse.20 Zwei bekannte, zu „Kultbüchern“ gewordene Publikationen entstanden während der Afrika-Aufenthalte: „Die Weißen denken zu viel“ dokumentierte die Forschung bei den Dogon (beheimatet im Staatsgebiet von Mali) und „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst“ ging aus der Arbeit mit den Agni (Staatsgebiet der „Elfenbeinküste“) hervor.21 Neben ihrer forscherischen Betätigung behielten Goldy und Paul stets auch ihr Engagement in politischen Fragen bei, setzten sich etwa sehr für die Zürcher Jugendbewegung in den 1980er Jahren ein. Goldy Parin-Matthèy verstarb im April 1997. Zwei Jahre vor ihrem Tod gab sie ein Interview, in dessen Verlauf sie auf die bestimmende Institution ihres Lebens hinwies: die Brüdergemeinde, die Goldy als „Glücksbedingung“ ihres Lebens bezeichnete.22 Tatsächlich war sie ihr ganzes Leben hindurch Teil solcher Gemeinschaften gewesen – in Zürich in Form einer PsychoanalytikerInnenrunde, in Jugoslawien und Spanien als antifaschistische Kämpferin. Zuvor jedoch hatten zwei „Brüdergemeinden“ bestanden, die in ihrer zentralen Bedeutung für Goldy Parin-Matthèy nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Diese sollen daher im Mittelpunkt der Überlegungen stehen und werden im Folgenden näher vorgestellt, um sie in einem weiteren Schritt auf ihren Bedeutungsgehalt zu untersuchen.
18 Fritz Morgenthaler war im Team des zweiten Jugoslawien-Aufenthaltes gewesen. Goldy und Paul retteten ihm, als er schwer erkrankte, das Leben, was die drei eng zusammenschweißte. Fortan bestritten sie beinahe alle wichtigen Schritte ihres Lebens gemeinsam. Sie gründeten nach ihrer Ausbildung eine gemeinsame Praxis für Psychoanalyse, entschlossen sich, gemeinsam Reisen zu unternehmen. 19 Brief von Paul Parin an Ute Sonnleitner vom 23 9.2004. 20 Ansätze hatten bereits zuvor bestanden, das Team Parin – Morgenthaler – Parin-Matthèy tat jedoch den entscheidenden Schritt ins „Feld“. Vgl. Johannes Reichmayr, Einführung in die Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Theorien und Methoden, Frankfurt a. M. 1995, 98f. 21 Paul Parin, Fritz Morgenthaler u. Goldy Parin-Matthèy, Die Weißen denken zuviel: psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika, Hamburg 1993 [1963]; Paul Parin, Fritz Morgenthaler u. Goldy Parin-Matthèy, Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst: Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika, Frankfurt a. M. 19912. 22 Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 254, 256.
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2. „Brüdergemeinde“ Was hat es nun mit der ominösen Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy auf sich? Der Begriff könnte missverständlich gedeutet werden. Die lexikalische Definition des Wortes verweist auf den Bereich der Religion. Freikirchliche Gruppen und deren Organisationsstruktur einer gleichberechtigten Gemeinschaft von männlichen (!) Religionsangehörigen firmieren unter der Bezeichnung „Brüdergemeinden“.23 Goldy Parin-Matthèy jedoch stand jeglicher religiöser Deutung vollkommen fern.24 Vielmehr wurde von ihr, in Ableitung einer Definition Freuds zur sogenannten Bruderhorde, die Begrifflichkeit der „Brüdergemeinde“ gewissermaßen kreiert, um ihre Erfahrungswelt zu um- und beschreiben. 25 In ihrem Verständnis handelte es sich bei der Brüdergemeinde um eine Gemeinschaft verschiedenster Menschen, die durch ein gemeinsames Ziel bzw. gemeinsame Werthaltungen und Überzeugungen miteinander verbunden waren. Dabei war es keineswegs vollkommene Übereinstimmung, die als Voraussetzung angesehen wurde. Intensive Diskussionen prägten vielmehr die Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Grundhaltung, nicht aber durch doktrinäre Gleichschaltung verbunden war. Wichtig zu betonen ist die unhierarchische Struktur, die für Goldy die grundlegende Voraussetzung für das Zusammensein darstellte.26 Die Wortwahl fand durch Goldy keine nähere Erläuterung. Neben der Reverenz an Freud dürfte die Person ihres leiblichen Bruders Gustl entscheidenden Einfluss genommen haben. Die Beziehung zu ihm war von zentraler Wichtigkeit für sie. „Goldicka“ und „Gusticek“, wie das Geschwisterpaar einander nannte, formten das ‚Urbild‘ der „wilden Horde“, wie sie sich in der Morellenfeldgasse manifestierte.27 In die 23 Vgl. beispielsweise Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 4, Mannheim 198719, 44. 24 Goldy hatte keine religiöse Erziehung erfahren. Die Familie war protestantisch, was Goldy dazu bewog, eine Sonder- und Abseitsstellung im katholisch geprägten Graz zu konstruieren. Dies stellt einen interessanten Hinweis auf ihren Wunsch des Nicht-Dazugehörens zu einer – größtenteils rechts stehenden – Grazer „besseren Gesellschaft“ dar. Vgl. Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 1), 18f. 25 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Hamburg 1971 [1921], 74. 26 Die Ablehnung von Hierarchien war eine – entscheidende – Konstante in Goldy Parin-Matthèys Leben. Diese Überzeugung verband sie auch mit Paul Parin. Beide verweigerten aus diesem Grund stets die Mitgliedschaft in einer Partei. Paul Parin begründete dies damit, dass die Notwendigkeit, alle Entscheidungen eines Parteigremiums mittragen zu müssen, die Vorstellung von „Führerpersönlichkeiten“ ihnen widerstrebt hätten. Zudem sei von ihnen nie eine „Heimat“ gesucht worden. Goldy und Paul gaben sich gegenseitig jenen Halt, den andere in Parteien suchten. 27 Vgl. hierzu die Briefe, die jene „zärtlichste Liebe“ wiederspiegeln, die Goldy für ihren Bruder empfand. Brief von Goldy Parin-Matthèy vom 28.3.1955.
Die Brüdergemeinde der Goldy Parin-Matthèy 265
„Brüdergemeinde“ wurden Männer und Frauen in Goldy Parin-Matthèys Verständnis gleichermaßen mit einbezogen, wobei Frauen als „Bruderin“ bezeichnet wurden28 – eine Benennung, die insbesondere in Hinsicht auf Geschlechterrollen interessant erscheint, worauf noch detaillierter einzugehen ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Paul Parin, die Beziehung zu ihm, die zweite Lebenshälfte Goldy Parin-Matthèys bestimmte – der Bruder Gustl wiederum war von entscheidender Bedeutung für den ersten Lebensabschnitt. Goldys Kindheit und Jugend wurden durch ihn geprägt.29 Mit der Geburt Gustls im Jahr 1913 war ein – vielleicht „der“ entscheidende – Bruch im Leben Goldys verbunden. Sie berichtete darüber, ihren Status als „Liebling der Familie“ verloren zu haben, fortan stand nur mehr der „Goldsohn“ im Mittelpunkt der familiären Aufmerksamkeit.30 Insbesondere von der Mutter fühlte sich Goldy „emotional fallen gelassen“.31 Mit ihrem Vater verband sie eine relativ gute Beziehung, doch konnte auch er der Tochter keine Stütze sein. Nach dem finanziellen Zusammenbruch der Familie unternahm er keinerlei Versuche, eine Besserung der schwierigen Situation herbeizuführen, verfiel im Gegenteil in vollkommene Passivität und zog sich vollständig zurück. Dieses Verhalten wurde ihm von Goldy nicht verübelt, sie empfand vielmehr Mitleid mit dem gebrochenen Vater. Auch stellte die angespannte Finanzlage der 28 Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 254; Bigna Rambert, „Macht doch net so a Gschiss“ – Abschied von Goldy Parin-Matthey, in: WERKBLATT . Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 37 (1996), 9–12; Berthold Rothschild, Ansprache zur Trauerfeier, in: ebd., 4–8, 7f. 29 Die enge Beziehung zwischen den Geschwistern ist thematisiert in Sonnleitner, Landkarten (wie Anm. 1). Auch Bigna Rambert verweist auf die Bedeutung der Figur des Bruders, Rambert, Macht doch net (wie Anm. 28). Die historische Erforschung geschwisterlicher Beziehung stellt ein Desiderat dar. Erste Ansätze fokussieren meist auf das 19. Jahrhundert, insbesondere das 20. Jahrhundert bleibt ausgeklammert. Vgl. das von Karin Hausen und Regina Schulte herausgegebene Themenheft „Die Liebe der Geschwister“, L’Homme. Z.F.G. 13, 1 (2002). Zuletzt erschienen ist der Band: Christopher H. Johnson u. David Warren Sabean (Hg.), Sibling Relations and the Transformations of European Kinship 1300–1900, New York/Oxford 2011. Eine der raren Ausnahmen stellt ein Artikel zu Victor Klemperer im Geschwisterkontext dar. Claudia Margraf-Buhles weist darin die prägende und durch Ambivalenzen gekennzeichnete Beziehung Klemperers zu seinen Brüdern nach. Claudia Margraf-Buhles, Victor Klemperer im Kreise seiner Geschwister: Rebell und Hoffnungsträger, in: Historical Social Research 30, 3 (2005), 195–204, http://www.gesis.org/hsr/ archiv/2005/303-siblings-parents-grandparents/. Der potenziell politische Charakter von Geschwisterbeziehungen wird zumeist auf den Adel der frühen Frühen Neuzeit bezogen. Siehe dazu auch den Beitrag von Sébastien Schick in diesem Band. – Ich danke an dieser Stelle Christine Fertig und Margareth Lanzinger für die zahlreichen wertvollen Hinweise! 30 Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 253; Brief von Paul Parin an Ute Sonnleitner vom 3.11.2004. 31 Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 253.
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Familie in ihrem Empfinden keine Belastung dar.32 Lediglich in einem Fall wurde das mangelnde Geld als Problem wahrgenommen. Goldy hätte gerne Medizin studiert, was ihr jedoch verwehrt blieb, da nur einem Kind ein Studium finanziert werden konnte. Den Gegebenheiten der Zeit entsprechend war dies selbstverständlich der Bruder. Gustl begann noch in Graz sein Medizinstudium, das er schließlich – im Übrigen durch Goldy finanziert – in Zürich abschloss.33 Goldy trug die Entscheidung ohne jeglichen Protest oder Widerstand mit, von ihrer Seite wurde das Studium des Bruders – das in mehrfacher Hinsicht auf ihre Kosten bezahlt wurde – nie in Frage gestellt. Vor allem in Kindheit und Jugend scheinen keinerlei Konflikte die Geschwisterbeziehung belastet zu haben. Ganz im Gegenteil bestand zwischen den Geschwistern ein äußerst enges, von tiefem Vertrauen bestimmtes Verhältnis. Die beiden fanden aneinander Halt, sie waren einander jene Stütze, die ihnen die Rebellion gegen eine als größtenteils feindlich erlebte Erwachsenenwelt ermöglichte.34 Gerade die familiäre Umgebung schien keinerlei Sicherheit zu bieten, die verwandtschaftliche Beziehung war vielmehr in zahlreichen Punkten von Frustrationen bestimmt. Die Kinder wurden nicht vernachlässigt oder gar misshandelt, konnten aber in den sie umgebenden Erwachsenen keine Vorbilder finden. Die Mutter, die den Sohn favorisierte – was von diesem nicht goutiert wurde – und zur Tochter niemals ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen konnte, stellte, wie auch der Vater, der nach dem beruflichen Zusammenbruch nicht mehr aktiv wurde, in den Augen der Kinder eine Enttäuschung dar. Onkel und Tanten wiederum sahen sich nicht bemüßigt, in der schwierigen Situation des finanziellen Niederganges helfend einzugreifen. So wurde der Familie zwar ein Quartier im herrschaftlichen Mehrparteienwohnhaus zugestanden, die Wohnung war jedoch im Souterrain angesiedelt. In welcher Weise auch immer geartete Unterstützung scheint es nicht gegeben zu haben. Die von Teilen der Verwandtschaft schließlich vollzogene Hinwendung bzw. Sympathie zum Nationalsozialismus bestärkte und bestätigte später 32 Goldy äußerte sich ganz im Gegenteil sehr positiv zu dem Umbruch, der, wie sie es formulierte, die Öffnung der „Familienglocke“ bedeutete. Sie hatte das Leben als bevorzugtes Großbürgermädchen kennengelernt und nahm die Armut der Familie als bereichernde Erfahrung wahr. Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 253. 33 Anfang der 1940er Jahre lebten Goldy, Gustl und Paul Parin gemeinsam in einer Wohnung. Die beiden Männer studierten und Goldy sorgte für den gemeinsamen Unterhalt, indem sie ein hämatologisches Labor betrieb und im Auftrag mehrerer Ärzte, die ihre genaue Arbeit sehr schätzten, Blutbilder erstellte. Vgl. Rütten, Im unwegsamen Gelände (wie Anm. 5), 35. 34 „Goldy Parins Idealbildungen jedoch wurden von ihren adoleszenten, rebellischen Erfahrungen in einer Brüdergemeinde geprägt, in welcher ihr leiblicher Bruder eine ganz tragende Rolle spielte, einer Brüdergemeinschaft, die sich auf die Stärke nach innen, in die Gruppe hinein konzentrierte (…).“ Rambert, Macht doch net (wie Anm. 28), 10f.
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die seit Kindheitstagen bestehende Ablehnung zusätzlich.35 Diese ersten Tendenzen einer Abwendung von der traditionell bürgerlich liberalen Elternwelt potenzierten sich mit dem Kennenlernen eines Kreises von FreundInnen. An dessen Entstehung war Goldy maßgeblich beteiligt; der Aufbau und die erfolgreiche Pflege von Freundschaften waren Stärken, die sie ihr Leben lang begleiteten.36 Goldy Matthèy besuchte ab 1927 die Ortweinschule, an der sie zur Keramikerin ausgebildet wurde. Hier lernte sie Maria Biljan-Bilger kennen – ihre lebenslang beste Freundin.37 Durch sie und deren damaligen Freund Karl Schiffer, einen Linkssozialisten jüdischer Herkunft,38 kam Goldy in Kontakt mit der Grazer Linken und mit ihr auch Gustl. An den Geschwistern Matthèy vollzog sich der „Klassensprung“. Paul Parin, in gewisser Weise selbst Betroffener, erklärte das solchermaßen titulierte Phänomen, demgemäß gerade zahlreiche Angehörige der linken „Eliten“ ursprünglich dem – gehobenen – Bürgertum entstammten, mittels eines psychoanalytischen Ansatzes.39 Die von jenen genossene liberale, großbürgerliche Erziehung stellt entsprechend dieser Theorie die ideale Voraussetzung für eine offene Rezeption „linken“ Gedankengutes dar. Kommt es zusätzlich zu Enttäuschungen an der Erwachsenenwelt, die ihre Vorbildfunktion dadurch verliert, findet der „Klassensprung“ vom liberalen Bürgertum hin zur „Linken“ statt. Ein anderer Erklärungsansatz wäre in liminalen / liminoiden Umbrüchen, dem Wunsch nach Anschluss an Vertraute in Umbruchs- und Übergangszeiten, zu finden.40 Auch solcherart ist die Hinwendung zu einer Gruppe, oder – nach Goldys Diktion – einer Brüdergemeinde plausibel nachzuvollziehen. 35 Vgl. Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 1), 71f. 36 Paul Parin wies darauf hin, dass auch sein weiter Freundeskreis beinahe ausschließlich auf die Initiative Goldys, auf ihre Anziehungskraft auf Menschen zurückzuführen sei. 37 Der Kontakt zwischen Goldy Parin-Matthèy und Maria Biljan-Bilger blieb Zeit des Lebens der beiden Frauen bestehen. Auch in späteren Jahren, Goldy lebte in Zürich, Maria in Wien, war ein enges Vertrauensverhältnis gegeben, regelmäßige gegenseitige Besuche fanden statt. Maria starb nur fünf Tage nach Goldy am 1. Mai 1997. Vgl. die Briefe von Paul Parin vom 27.11.1997 und 23.9.2004. 38 Das Paar war diversen Anfeindungen ausgesetzt. Maria wirkte, wie ihre FreundInnen sie beschrieben, „südländisch fremd und schön“, Attribute, die im Graz der damaligen Jahre ein Abseitsstehen gleichsam erzwangen. Karl war auf Grund seiner politischen Überzeugung und im Klima eines grassierenden Antisemitismus stetigen Angriffen ausgesetzt. Vgl. Parin-Matthéy, Meine Freundin (wie Anm. 5), 19; Wander Bertoni, Von einem alten Feuer gespeist, in: Friedrich Kurrent (Hg.), Maria Biljan-Bilger, Keramik – Plastik – Textil, Salzburg 1987, 21–24. 39 Paul Parin, Der Traum von Ségou. Neue Erzählungen, Hamburg 20013, 113f; Paul Parin, Die Seele, in: Du – Das Kulturmagazin 788 (Juli/August 2008), 96–99. 40 Vgl. Andreas Kraft, „nur eine Stimme, ein Seufzer“. Die Identität der Dichterin Nelly Sachs und der Holocaust, Frankfurt a. M. 2010, 33.
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Im Falle Goldy Parin-Matthèys war bereits die Schulzeit von Treffen mit FreundInnen und politischem Engagement geprägt. Ab 1930 kam es schließlich zur allmählichen Herausbildung des Kreises in der Morellenfeldgasse, dem in wechselnder „Besetzung“ etwa 18 Personen angehörten.41 Es handelte sich dabei um den Bibliothekar und Schriftsteller Wolfgang Benndorf (1901–1959),42 den Chemiker und Künstler Ferdinand Bilger (1903–1961), die Künstlerin Maria Biljan-Bilger (1912–1997), den Regisseur Karl Drews (1901–1942), den Architekten Herbert Eichholzer (1903–1943), die Keramikerin Helene Mau Fischer, den Redakteur des „Arbeiterwille“ Ernst Fischer (1899–1972), Otto Fischer, den Arzt Walter Fischer (1901–1978), den Künstler Axl Leskoschek (1889–1976), den Medizinstudenten Gustl Matthèy-Guenet (1913–1960), die Röntgenassistentin und Laborantin Goldy Matthèy-Guenet (1911–1997), den Journalisten Kurt Neumann, den Lehrer und Maler Rudolf Pointner (1907–1991), die Künstlerin Gertrud Ring (1897–1945), den Astrologen und Künstler Thomas Ring (1892–1983), den Autor Theodor Sapper (1905–1982), den Journalisten Karl Schiffer (1910–1987), den Arzt und Künstler Franz Weiß. Den Namen „Kreis in der Morellenfeldgasse“ erhielt die Gruppe nachträglich. Mangels einer Selbstbenennung wurde der Ort der Zusammenkünfte in der Wohnung Ferdinand Bilgers in der Grazer Morellenfeldgasse als titelgebendes Element herangezogen. Ferdinand Bilger, genannt Ferdl, war ein Cousin Goldy Parin-Matthèys, mit dem sie ein inniges Verhältnis verband. Zehn Jahre älter als sie fungierte er als Vorbild und Idol: Den konservativ rechts eingestellten Vater herausfordernd wandte sich der promovierte Chemiker dem Kommunismus zu und lebte das Leben eines Abenteurers. Bereits in den 1920er Jahren unternahm er mit einer Gruppe Grazer Freunden eine Expedition nach Äthiopien, er arbeitete auf Java und war künstlerisch tätig. 1933 heiratete Ferdl Goldys beste Freundin Maria Biljan, womit die Kerngruppe des „Kreises“ gebildet war, der neben Goldy und Gustl auch Karl Schiffer, der Exfreund Marias, angehörte.43 Rasch fanden sich weitere FreundInnen und Bekannte, die einander in regelmäßigen, aber nicht fix vorgegebenen 41 Die Zahl von 18 Mitgliedern ist keineswegs gesichert. Sie wurde vielmehr aus wechselseitigen Erwähnungen der an den Treffen Teilnehmenden rekonstruiert. Es ist anzunehmen, dass in einem weiteren Umfeld noch zahlreiche, allerdings nicht regelmäßig an den Zusammenkünften beteiligte Personen, existierten. Vgl. Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 1), 39. 42 Die Berufsbezeichnungen beziehen sich auf den Stand der 1930er Jahre. Viele vollzogen Berufswechsel. Teilweise müssen Angaben unvollständig bleiben, da nur einzelne Aspekte bekannt sind. Zum „Kreis in der Morellenfeldgasse“ und seinen ExponentInnen vgl. Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 1), 39–55; Sonnleitner, Widerstand (wie Anm. 1), 350–363; Weibel/Eisenhut, Moderne (wie Anm. 4). 43 Vgl. Weibel/Eisenhut, Moderne (wie Anm. 4), 173f.
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Abständen in wechselnder Zusammensetzung trafen. In einem der Bücher Paul Parins44 findet sich eine Beschreibung des Kreises, die ob ihrer illustratorischen Kraft angeführt werden soll: „In den 20er Jahren45 wurde das Inselreich [Park hinter dem Haus Morellenfeldgasse Nr. 42 – Anm. d. Verf.] der Matthèy-Kinder das Zentrum einer Jugend die ,anders‘ war. Graz war die Stadt verarmter Kleinbürger und apathischer Arbeitsloser. Katholische Staatsbeamte und steirisch-nationale Studenten prägten das öffentliche Leben. In die Brüdergemeinde fand Einlass, wer radikal gegen alles war, was die Insel umgab. Im Park oder Wintergarten trafen sich Künstler und Kommunisten, Dichter und schöne Mädchen, Architekten und Germanisten. Sie tranken Rotwein und türkischen Kaffee und diskutierten bis zum Morgengrauen. Goldy sang Chansons von Brecht zur Gitarre, und Wolfgang Benndorf trug die Lieder vor, die er komponiert hatte.“46 Nächtelange Diskussionen, Feiern, die Planung und Durchführung von Aktionen gegen Exponenten der gegenwärtigen austrofaschistischen und zukünftigen nationalsozialistischen Diktaturen standen im Zentrum der Aktivitäten. Im Februar 1934 waren viele der FreundInnen an den Kämpfen beteiligt. Gustl Matthèy wäre beinahe erschossen worden. Otto Fischer musste ein Bein amputiert werden. Er hatte aber dennoch Glück im Unglück, da er sich aufgrund dessen im Krankenhaus verstecken konnte und einer drohenden standrechtlichen Erschießung entkam. Ferdl Bilger wurde wegen seiner Tätigkeit als Telefonist und Verbindungsmann festgenommen und blieb einige Wochen inhaftiert. Trotz massiver Anfeindungen stellten die ExponentInnen des „Kreises“ ihre Aktivitäten nicht ein. Goldy erinnerte sich, dass die FreundInnen auch während der folgenden Jahre einer immer intensiveren „Polarisierung zwischen links und rechts“47 ihren „Tanz auf dem Vulkan fort[setzten]“, „nächtelang diskutierten“, „planten und provozierten“.48 Ein allmähliches Ende der Zusammenkünfte stellte sich schließlich durch die weltpolitische Entwicklung ein: Drei der FreundInnen brachen nach Spanien auf. Goldy Parin-Matthèy, Ferdl Bilger und Walter Fischer 44 Goldy und ihr Ehemann verfassten Bücher stets in gemeinsamer Schreib/Erzählarbeit. Paul Parin betonte oft, er schreibe nur für Goldy. Wurde ein Text nicht von ihr „bestätigt“ und für gut befunden, gelangte er nicht zur Veröffentlichung. Somit kann der oben angeführte Textausschnitt als ‚authentische‘ Beschreibung verstanden werden. Zur gemeinsamen Schreibweise vgl. den Brief von Paul Parin vom 8.10.2004. 45 Hier kam es allem Anschein nach zu einer „Vorverlegung“ der historischen Ereignisse. Es muss sich um die 1930er Jahre handeln, da sich zuvor maßgebliche ExponentInnen des Kreises nicht kannten bzw. – im Falle Ferdinand Bilgers – außer Landes befanden. 46 Paul Parin, Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und andere Erzählungen, Hamburg 1995, 165f. 47 Interview mit Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 6). 48 Goldy Parin-Matthèy, Meine Freundin Maria (wie Anm. 5), 19f.
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waren als Angehörige der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg beteiligt. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen kam es zum endgültigen Auseinanderbrechen des „Kreises“. Viele der Mitglieder zogen sich in die innere Emigration zurück.49 Andere wiederum waren gezwungen, aus Graz zu fliehen, da sie sich zu sehr exponiert hatten. Karl Schiffer, auf Grund seiner Herkunft und seiner politischen Betätigung doppelt gefährdet, flüchtete in die Schweiz.50 Maria Biljan-Bilger ging nach Wien. Sie hoffte, hier untertauchen zu können, setzte aber bald ihre widerständige Tätigkeit fort. So auch Herbert Eichholzer, der als Angehöriger der Kommunistischen Partei aus seinem Exil in Istanbul nach Österreich zurückkehrte. Auf Grund seiner politischen Betätigung wurde er verhaftet und hingerichtet.51 Während viele der Angehörigen des „Kreises in der Morellenfeldgasse“ ihrer Überzeugung auch in den Jahren der nationalsozialistischen Verfolgung treu blieben und aktiven Widerstand gegen die Diktatur leisteten, gestaltete sich das Verhalten anderer weitaus ambivalenter, war von Anpassung und – durchaus nachvollziehbarem – Opportunismus geprägt. Goldy, die selbst stets äußerst engagiert als antifaschistische Kämpferin auftrat, konnte kein Verständnis aufbringen, zeigte sich tief enttäuscht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es zu keiner „Wiederbelebung“ des „Kreises“, wenn auch einzelne Kontakte aufrecht blieben.52 Neue Brüdergemeinden begannen sich für Goldy zu entwickeln bzw. waren teilweise bereits entstanden. Trotz deren Stellenwert im Leben Goldy Parin-Matthèys blieben die 49 Dies führte insbesondere bei Goldy zu Verbitterung. Sie konnte die Haltung der FreundInnen nicht nachvollziehen und brach mit vielen den Kontakt ab. Vgl. dazu den Brief von Paul Parin vom 23.9.2004. 50 Karl Schiffer hatte bereits seit einigen Jahren in Wien gearbeitet, war aber regelmäßig nach Graz gereist, um seine FreundInnen zu treffen. 1938 gelang es ihm, auf abenteuerlichem Weg in die Schweiz einzureisen. Wie viele andere Flüchtlinge war es für ihn schwer, Fuß zu fassen. Er wurde sogar in ein Arbeitslager verbracht. Die Schweizer Grenzkontrollen jener Zeit wurden bewusst verschärft, um Flüchtlingen einen – illegalen – Grenzübertritt zu verunmöglichen. So kam es zu einer „intensivierten Grenzüberwachung“, die teilweise sogar mit Hunden durchgeführt wurde. Vgl. Zollrundschau. Sonderausgabe zum Jubiläum des Grenzwachtkorps 1894–1994, 2 (1994), 65, http://www.ezv.admin.ch/ezv/00434/03618/ index.html?lang=de (Zugriff 8.10.2012); Schiffer, Über die Brücke (wie Anm. 5), 183–185; Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz: Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938–1945, Innsbruck 1997, 299f. 51 Vgl. Weibel/Eisenhut, Moderne (wie Anm. 4), 176; Halbrainer, Herbert Eichholzer (wie Anm. 4). 52 Maria Biljan-Bilger, Karl Schiffer und Wolfgang Benndorf sind in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben. Vgl. den Brief von Paul Parin vom 23.9.2004.
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ersten Erfahrungen der Gemeinschaft, darauf wies sie auch selbst dezidiert hin, von unerreichter Bedeutung.53 Bereits die deskriptive Nacherzählung des Kennenlernens zwischen Goldy / Gustl und einigen der Gruppenmitglieder weist auf die Wichtigkeit einer biographisch basierten Betrachtung von Netzwerkstrukturen hin und lässt zugleich eine Reihe sich eröffnender Interpretationsmöglichkeiten erkennen. Im Folgenden soll die einfache Betrachtungsweise der „Nacherzählung“ durch die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht erweitert und somit ein entscheidender Rahmen für die Analyse hinzugefügt werden.
Abbildung links: Goldy und Gustl; Abbildung rechts: Goldy (Mitte), Ferdinand Bilger (vorne 54 links), Gustl Matthèy (vorne rechts).
53 Insbesondere das sogenannte „Mittwochs-Kränzchen“, in dessen Rahmen sich PsychoanalytikerInnen im Zürcher Cafe Select trafen, zeitigte große Nachwirkungen. Das Psychoanalytische Seminar Zürich ging aus diesen Treffen hervor, das sich vor allem auf Grund der demokratischen Strukturen und der Offenheit auch Nicht-MedizinerInnen gegenüber auszeichnete. Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 256; Emilio Modena, Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel, in: Journal für Psychoanalyse 39 (2000), 22–39. 54 Die Aufnahmen entstammen dem Nachlass Goldy Parin-Matthèys. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung Johannes Reichmayrs.
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3. Geschlechterbeziehung Die Betrachtung spezifischer Einzelerfahrungen in all ihrer Besonderheit gewinnt mittels der klar aufzeigbaren Relevanz gesellschaftlicher Vorgaben starke Aussagekraft. Insbesondere in Geschlechterverhältnissen kommen derartige Muster deutlich zum Tragen.55 Die Feinheit der biographischen Analyse ermöglicht es, Ambivalenzen aufzuzeigen, die Verschränktheit unterschiedlicher Strukturebenen nachzuvollziehen, Brüche darzustellen. Goldy Parin-Matthèys Erfahrungen im Kreis in der Morellenfeldgasse können hierfür als exemplarisch gelten. Sämtliche Mitglieder der Gruppe hatten sich dezidiert „modernen“ Vorgaben der Gleichstellung von „Mann“ und „Frau“ verschrieben, unterstützten ein „linkes“ Modell der Gleichberechtigung.56 Dessen Gehalt gilt es nunmehr zu hinterfragen. Allem Anschein nach nahmen oftmals Frauen an den Treffen teil und bildeten zentrale Bestandteile der Gruppe. In der historischen Rückschau jedoch fiel der „weibliche“ Beitrag einem „männlichen“ Vergessen anheim: Die teilnehmenden Frauen wurden bestenfalls unter der Anwesenheit „schöner Mädchen“ subsumiert.57 Wahrnehmungsmechanismen werden offenkundig, die Frauen automatisch als ‚unwichtig‘ ausklammern bzw. sie unter einem Gesichtspunkt ‚ferner liefen‘ abhandeln und sie solcherart gleichsam zum ‚Verschwinden‘ bringen. Einmal mehr bestätigt sich damit die Notwendigkeit einzelbiographischer Analysen, ist doch nur auf diesem Weg die ‚Sichtbarmachung‘ insbesondere von Frauenleben erreichbar.58 Im Falle des Kreises in der Morellenfeldgasse fanden lediglich drei Frauen Eingang in das allgemeine männliche Erinnerungsbild. Alle waren eng mit männlichen Exponenten verbunden bzw. mit ihnen verwandt: Maria Biljan-Bilger, Goldy Parin-Matthèy und Gertrud Ring. Zwischen ihnen und einem Teil der männlichen Mitglieder des „Kreises“ bestanden auf verschiedenen Ebenen Beziehungsstrukturen, die zunächst wohl die Zugehörigkeit legitimierten und in weiterer Folge das Erinnern beförderten. Maria Biljan-Bilger, die engste und beste Freundin Goldy Matthèys, war mit Ferdl Bilger verheiratet, in dessen Wohnung 55 Vgl. Meike Penkwitt, Einleitung, in: dies. (Hg.), Erinnern und Geschlecht, Bd. 1, Freiburg i. Br. 2006, 1–26; Ingrid Bauer, Christa Hämmerle u. Gabriella Hauch (Hg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien/Köln/Weimar 2005. 56 Die kommunistische / linkssozialistische Überzeugung vieler Mitglieder spielte hier eine entscheidende Rolle. Die in der Ideologie verankerte Forderung nach Gleichberechtigung konnte trotz vieler positiver Ansätze – bis zum heutigen Tage – nicht vollständig umgesetzt werden. 57 Vgl. die weiter oben zitierte Textstelle aus Parin, Sonnenuhr (wie Anm. 46), 165f. 58 Die Biographieforschung der vergangenen Jahre hat sich insbesondere mit Fragen der Geschlechterforschung auseinandergesetzt und umgekehrt.
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die Treffen des „Kreises in der Morellenfeldgasse“ stattfanden. Ferdl Bilger wiederum war der Cousin der beiden Geschwister Goldy Parin-Matthèy und Gustl Matthèy. Gertrud Ring, verheiratet mit Thomas Ring, war freundschaftlich eng mit Goldy Matthèy verbunden. Diesen drei Frauen wurde in der ‚Nach-Erzählung‘ eine Rolle zugewiesen, sie wurden als wichtige Elemente der Gruppe anerkannt und benannt. Ihre Verankerung aber geschah in als ‚typisch‘ weiblich konnotierten Bereichen des sich Kümmerns und Sorgens, sie wurden als emotionale Zentren, als „Herz“ der Gemeinschaft verortet. Zuschreibung und Selbstbild überlagerten einander, Strömungen der Zeit, Muster und Raster werden offenkundig. Goldy selbst war es, die Maria, wohl um deren zentrale Position und Wichtigkeit hervorzuheben, als „Herz“ der Gemeinschaft titulierte.59 In weiterer Folge verwundert es kaum, dass in Erzählungen männlicher Exponenten zwar die Butterbrot schmierende Maria Biljan erwähnt wird,60 nicht jedoch die Tatsache, dass Maria und Goldy von Nationalsozialisten an den Haaren aus der Grazer Oper gezerrt wurden oder dass Maria einen Demonstrationszug gegen das austrofaschistische Regime anführte und dabei eine rote Fahne schwang.61 Derartige Erinnerungen gaben die Frauen selbst oder Freundinnen wieder. Die Aktionen waren keineswegs außerhalb der Wahrnehmung des „Kreises“ vonstattengegangen, sondern waren vielmehr gemeinschaftlich besprochen, teilweise auch geplant worden, hatten jedoch keinen Eingang in die erzählte Erinnerung der Männer gefunden. Die Einbeziehung von Frauen in politische Aktionsräume und deren Akzeptanz stellten in der historischen Situation der 1930er Jahre in der Steiermark, das gilt es festzuhalten, eine Besonderheit dar. Es wird deutlich, dass ein stetiger Aushandlungsprozess zwischen der Öffnung neuer Wege und der Verfestigung gewohnter Vorgaben stattfand. Die Labilität der Positionierung der Frauen und der von ihnen erbrachten Leistungen und Erfolge wird unter anderem in der – nicht vorhandenen – Erinnerungsleistung der Männer offenkundig. Die Ambivalenz des Geschlechterverhältnisses ist exemplarisch an den Ge schwistern Matthèy nachvollziehbar. Goldy Matthèy war keine Feministin bzw. bezeichnete sich nie als solche, da sie Kategorisierungen jeglicher Art strikt ablehnte.62 Ein gleichberechtigtes Miteinander von Mann und Frau – ein gerechter Anteil für „beide Seiten des Himmels“ – stellte aber für sie eine Selbstverständlichkeit 59 Parin-Matthèy, Meine Freundin (wie Anm. 5). 60 Vgl. Schiffer, Über die Brücke (wie Anm. 5), 114, 188. 61 Vgl. Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 1), 40; Biljan-Bilger, Bemerkungen (wie Anm. 5), 8f; Weibel/Eisenhut, Moderne (wie Anm. 4), 173f. 62 In den 1980er Jahren wurde sie zu ihrer Einschätzung des Feminismus befragt. In dem Interview betonte sie vehement die Notwendigkeit, gemeinsam zu kämpfen, Energien
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dar.63 Auch war sie bereits seit ihrer Kindheit äußerst kritisch, was vorgegebene Geschlechterrollen anbelangte. Die Erfahrung, dass der Vater nach dem finanziellen Zusammenbruch keinerlei Schritte mehr setzte, um gegen die schwierige Situation anzukämpfen, die Mutter aber, eine großbürgerliche Frau, als Putzfrau zu arbeiten begann, um die finanzielle Versorgung der Familie sicherzustellen, verdeutlichte ihr auf eindrückliche Weise die Konstrukthaftigkeit gesellschaftlicher Geschlechterbilder.64 Goldy setzte sich gegen Rollenzuschreibungen auch aktiv zur Wehr und führte beispielsweise intensive Diskussionen mit ihrem Lehranalytiker, dessen Frauenbild sie massiv ablehnte.65 Mit einem Kollegen wiederum sprach sie tagelang kein Wort, weil er sie, als einzige an der Mission in Jugoslawien teilnehmende Frau, dazu verpflichten wollte, abgerissene Knöpfe anzunähen.66 Gleichzeitig jedoch empfand Goldy Matthèy es als selbstverständlich, dass sie in entscheidenden Punkten ihres Lebens mit ihren Wünschen und Zielen hinter einem Mann zurücktrat: ihrem Bruder Gustl. Ihr Verzicht auf das Medizinstudium zu Gustls Gunsten stellt das wohl augenfälligste unter vielen Beispielen dar. Seinen Bedürfnissen wurde stets der Vorzug erteilt. So war es Goldy, die in weiten Teilen sein Studium in Zürich finanzierte und unter schwierigsten Bedingungen den Alltag in der Schweiz organisierte.67 Diesem Leben gehörte ab 1951 auch die Mutter an, denn Gustl hatte bestimmt, dass Franziska Matthèy nach dem Tod des Vaters im Jahr 1950 in die Schweiz kommen sollte. Um die Pflege der nicht in einen „Kampf der Geschlechter“ zu legen. Interview mit Goldy Parin-Matthèy (wie Anm. 6). 63 Ebd. 64 Vgl. Parin/Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 256. Ab diesem Zeitpunkt kam es zu einer gewissen Versöhnung zwischen Mutter und Tochter. Zwar war auch weiterhin kein inniges Verhältnis zwischen den beiden gegeben, doch Goldys Ablehnung verwandelte sich in Respekt gegenüber den Leistungen der Mutter. Vgl. dazu auch den Brief von Paul Parin vom 3.11.2004. 65 Rudolf Brun habe sich vorgestellt, Frauen hätten brav und nett zu sein, erzählte Goldy. Sie habe das abgelehnt und ihm auch deutlich vermittelt: „Ich kann mich erinnern, dass der Brun fand, Frauen hätten liebreizend zu sein, zu heiraten und Kinder zu haben. Das waren so seine Vorstellungen, und ich hab viel mit ihm gestritten. ‚Ihr Ideal ist die Förster-Christel‘, habe ich zu ihm gesagt, ‚da können sie lang warten, bis ich so werde‘.“ Parin/ Parin-Matthèy, Subjekt (wie Anm. 15), 256. 66 Dabei empörte sie in erster Linie die Selbstverständlichkeit, mit der sie als Frau eingeteilt werden sollte, die Näharbeit zu verrichten. Vgl. Parin, Es ist Krieg (wie Anm. 17), 59. 67 Das von Goldy betriebene „hämatologische Labor“ war in der gemeinsamen Wohnung untergebracht und bestand in wesentlichen Teilen aus einer alten Schreibmaschine und dem Studien-Mikroskop Paul Parins. Vgl. Rütten, Im unwegsamen Gelände (wie Anm. 5), 31, 36.
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bereits gebrechlichen Frau hatte sich selbstverständlich Goldy zu bemühen.68 Sie selbst nahm die Einschränkungen nicht wahr bzw. entlastete sie Gustl von jeglicher Verantwortung hierfür.69 Selbst in späteren Jahren, als Goldy – auch geschult durch die Psychoanalyse – sehr reflektiert und teilweise selbstkritisch das eigene Verhalten betrachtete, fand keinerlei Revidierung der Einstellung gegenüber dem geliebten Bruder statt. Die durch ihn erfahrenen Einschränkungen nahm sie als selbstverständliche Tatsachen wahr; das „großbürgerliche Mädchen“ blieb in der Beziehung zu ihm stets präsent. Die Rollenverteilung in der „Urbrüdergemeinde“ zwischen Goldy und Gustl, das Kümmern und Sorgen, fungierte in weiten Teilen, wie bereits angeführt, auch in der Morellenfeldgasse als role model. Ein Umstand, der in der Sozialisation der ExponentInnen, dem Einwirken – teilweise von der Gruppe zwar bereits hinterfragter, aber keineswegs in vollem Umfang überwundener – gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen eine Erklärung findet.70
68 Franziska Matthèy litt an einer Herzschwäche und war auf Grund einer Erkrankung beinahe vollständig taub, weshalb sich auch die Kommunikation mit ihr und für sie schwierig gestaltete. Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy waren es, die sich um die Mutter kümmerten. Gustl sei hierfür zu ungeduldig gewesen, konstatierte Paul Parin in einem Brief. Erschwerend kam hinzu, dass die Mutter weiterhin alle Liebe und Aufmerksamkeit auf den „Goldsohn“ fokussierte und der Tochter für ihre Bemühungen kaum Anerkennung zollte. Vgl. Brief von Paul Parin vom 3.11.2004. 69 Es gilt an dieser Stelle stets mitzudenken, dass Gustl Matthèy sehr früh verstarb. Eventuell kam es zu Entlastungshandlungen. Unter Umständen sehr wohl vorhandene Konflikte sollten das Bild der harmonischen Geschwisterbeziehung nicht trüben. Paul Parin schildert Streit, der zwischen Goldy und ihm wegen des Bruders aufkam. Dem steht entgegen, dass bereits zu Lebzeiten Gustls eine gewisse Verklärung seiner Person stattfand. Vgl. hierzu die Briefe Goldys an Gustl sowie Sonnleitner, Landkarten (wie Anm. 1). 70 Die von Karin Hausen in ihrer Entfaltung im 19. Jahrhundert nachgewiesenen „Geschlechts charaktere“ beweisen in diesem Zusammenhang ihre Wirkmächtigkeit. Die gerade im bürgerlichen Umfeld tief verankerten Modellbilder – insbesondere über den Weg der Schul-Bildung vermittelt – bewahren in verschiedenen Aspekten bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt Bedeutung. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363–393, Nachdruck in Sabine Hark, Dis/kontinuitäten: feministische Theorien, Wiesbaden 2007, 173–196, 191f; vgl. dazu auch Walburga Hoff, Elke Kleinau u. Pia Schmid (Hg.), Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung, Köln/Weimar 2008.
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4. Verwandtschaft – Frauen – Widerstand Die bereits im Kontext des „Kreises in der Morellenfeldgasse“ konstatierte Nichtwahrnehmung der Leistung von Frauen respektive das Stillschweigen über die „weibliche Teilhabe“ an widerständigen Handlungen korreliert mit den Ergebnissen zahlreicher weiterer Untersuchungen zur – linken – Widerstandstätigkeit.71 Der Widerstand von Frauen ist als maßgeblich für das Bestehen zahlloser organisierter wie auch individueller Formen des Widerstandes zu bezeichnen.72 Das von ihnen ausgefüllte Rollenspektrum war vielfältig und von Ambivalenzen bestimmt. So wurde teilweise mit dem vorherherrschenden Frauenbild gespielt, frau bediente bewusst Klischees und nutzte diese, um Widerständigkeit zu ermöglichen.73 Trotz der vielfältigen, von Frauen erbrachten Leistungen ist es äußerst schwer, diese in historischen Darstellungen zu erfassen. Oftmals waren es die beteiligten weiblichen Widerständigen selbst, die – unbewusst – zu einer Verschleierung ihrer Tätigkeiten beitrugen. Diese Tatsache ist teilweise auch aus den Quellen zu erklären. Widerstandsforschung steht stets vor der grundsätzlichen Schwierigkeit, nur ein eingeschränktes Quellenspektrum zur Verfügung zu haben: Aktenmaterialien der Verfolger spiegeln lediglich eine Sichtweise des bekämpften Systems, während Propagandamaterial und – zu einem späteren Zeitpunkt entstandene – Selbstzeugnisse zwar aus der Hand der Widerständigen stammen, jedoch ebenfalls nur unter Vorbehalt auszuwerten sind.74 Insbesondere in den Polizeiakten ist der 71 Für den Raum Steiermark vgl. Heimo Halbrainer (Hg.), Maria Cäsar – „Ich bin immer schon eine politische Frau gewesen“, Graz 2006; Sonnleitner, Widerstand (wie Anm. 1); sowie als Pionierinnen-Arbeit im deutschsprachigen Raum Karin Berger, Elisabeth Holzinger, Lotte Podgornik u. Lisbeth N. Trallori, „Der Himmel ist blau – Kann sein“. Frauen im Widerstand, Österreich 1938–1945, Wien 1985; Ingrid Strobl, „Sag nie, du gehst den letzten Weg“. Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung, Frankfurt a. M. 1989. 72 Der thematischen Überschneidung wegen wird in diesem Text vor allem der Widerstand gegen das austrofaschistische Regime und den Nationalsozialismus (im Raum Österreich) angesprochen; ähnliche Strukturen waren aber auch in gänzlich anderen Zusammenhängen gegeben. Die Problematik der Nichtwahrnehmung der Leistung von Frauen in Organisationen kann nahezu als allumfassendes Phänomen verstanden werden. 73 Frauen waren vielfach als Kurierinnen tätig, da ihnen Widerstandsarbeit nicht zugetraut wurde. Spielten sie nun ihre „schwache, hilflose“ Rolle, war es ihnen leichter möglich, Kontrollen zu vermeiden bzw. nicht verdächtigt zu werden. Vgl. Sonnleitner, Widerstand (wie Anm. 1),183–192; Maria Cäsar, „Ich bin immer schon eine politische Frau gewesen“ – Widerstandskämpferin und Zeitzeugin. Eine Würdigung aus Anlass ihres Geburtstages, Graz 2006. 74 Gerade die Selbstzeugnisse sind stark der jeweiligen Zeit verpflichtet, in der sie entstanden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese gerade in Österreich noch
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Wahrheitsgehalt von Aussagen äußerst schwer zu analysieren. Behaupteten Frauen in Verhören etwa, nur aus Liebe zu einem im Widerstand involvierten Mann gehandelt zu haben, so konnte dies der Wahrheit entsprechen, ebenso plausibel jedoch eine Taktik dargestellt haben, um einer Bestrafung zu entgehen. In zu einem späteren Zeitpunkt festgehaltenen Erzählungen waren es wiederum häufig die gesellschaftlichen Rollenvorstellungen, denen Frauen sich anpassen wollten, weshalb sie ihre „Unwichtigkeit“ betonten und eigene Leistungen kleinredeten. Realiter standen widerständige Frauen oftmals mit männlichen Widerständigen in – verwandtschaftlicher – Beziehung, waren Freundinnen, Ehefrauen, Schwestern oder Töchter. Derartige strukturelle Gegebenheiten könnten in der Analyse wiederum dazu verleiten, die Dynamiken von Widerstand und Verfolgung verkennend, Frauen als „Kämpferinnen aus Liebe“ zu positionieren. Zwar war auch das der Fall: Frauen konnten unversehens in Situationen schlittern, die akut Reaktionen forderten, und die Leistungen dieser Frauen sind ebenso wenig gering zu schätzen wie jene politisch bewusst agierender Widerständiger. Gleichzeitig jedoch sind zahlreiche Beispiele bekannt, die eindeutig belegen, dass bewusste Entscheidungen gefällt wurden, sei es aus politischer, religiöser oder moralischer Motivation, aktiv tätig zu werden und den Kampf aufzunehmen.75 Dabei konnten, wie bereits ausgeführt, die Mittel variieren, den Gegebenheiten angepasst durchaus auch klischeehaften Charakter aufweisen.76 So gilt es festzuhalten, dass keinesfalls eine verallgemeinernde Feststellung zu treffen ist, wonach instrumentalisiert, um den Opfermythos gegenüber den Alliierten zu unterstützen und darauf hinzuweisen, dass es sehr wohl Bestrebungen für eine Selbstständigkeit des Landes gegeben habe. In weiterer Folge wurde die Thematik des Widerstandes sowohl auf breiter gesellschaftlicher Basis wie auch im forscherischen Umfeld nahezu vollständig verdrängt. In der Phase des Kalten Krieges waren die ehemaligen kommunistischen Widerständigen starken Anfeindungen ausgesetzt. Zu einer intensiveren Auseinandersetzung kam es in Österreich erst ab den 1980er Jahren. Frauen waren von den jeweiligen Strömungen in nochmals stärkerem Ausmaß betroffen. Tendenzen der Fortschreibung nationalsozialistischer Zuschreibungen („rote Huren“) waren maßgeblich daran beteiligt, Frauen ihr Schweigen beständig fortsetzen zu lassen. In den Erzählungen ihrer Kameraden fanden sie kaum jemals Erwähnung. Der Widerstand gegen den Austrofaschismus unterlag nochmals schwierigeren Bedingungen der Erinnerung. Durch die Kontinuität der Akteure (ÖVP / SPÖ) war es politisch nicht opportun, diesen Aspekt österreichischer Zwischenkriegsgeschichte zu beleuchten. Vgl. dazu Sonnleitner, Widerstand (wie Anm. 1), 18–25; 98f; Heimo Halbrainer, „In der Gewissheit, dass ihr den Kampf weiterführen werdet“. Briefe steirischer WiderstandskämpferInnen aus Todeszelle und KZ, Graz 2000. 75 Vgl. Sonnleitner, Widerstand (wie Anm. 1); Cäsar, Widerstandskämpferin (wie Anm. 73). 76 Der „Liebespaartrick“ stellte beispielsweise eine beliebte Methode dar, illegales Material zu transportieren. Zwei Widerständige trafen einander in Parks, bei – gespielten – Umarmungen wurden Zeitungen und ähnliches mehr ausgetauscht. Auch sind Fälle belegt, in denen
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Verwandtschaftsbeziehungen im Widerstand dafür gesorgt hätten, dass jemand nur „dem anderen zuliebe“ teilgenommen hätte. Die vielfach existierenden, in verschiedensten Konstellationen auftretenden verwandtschaftlichen Beziehungen können vielmehr in einem weitaus breiteren Verständnis interpretiert werden. Beim Aufbau eines widerständigen Netzwerkes spielte das Wissen um die Vergangenheit potenzieller Mitglieder eine zentrale Bedeutung. Die Einschleusung von Spitzeln wurde stets gefürchtet und bildete ein reales Gefahrenpotenzial. Langjährige persönliche Beziehungen, ein enges Vertrauensverhältnis stellten die alleinige Chance dar, Spionage und Verrat zu verhindern. Wer also wäre dementsprechend besser geeignet, widerständige Organisationen zu bilden als Verwandte oder – in einem weiteren Schritt – Freunde und Freundinnen aus Kinder- und Jugendtagen. So findet die Tatsache oftmals bestehender enger Bindungen ihre Erklärung in den Notwendigkeiten widerständiger Arbeit. Psychologische Studien über „widerständige“ Charaktere weisen zudem auf die Bedeutung der Erziehung als maßgeblichen Faktor hin, weshalb es auch aus diesem Gesichtspunkt nur logisch erscheint, dass es vielfach Geschwister waren, die gemeinschaftlich zu WiderstandskämpferInnen wurden.77 Zurückkehrend zum „Kreis in der Morellenfeldgasse“ ist das Verhalten seiner einzelnen Mitglieder selbstverständlich nur in den Gegebenheiten der historischen Situation zu verstehen und zu interpretieren. Aus den gesellschaftlichen Realitäten der 1920er und 30er Jahre können bereits die Gemeinschaftlichkeit von Männern und Frauen in der Gruppe bzw. die männlich Akzeptanz der weiblichen Teilhabe und somit auch der „Kreis in der Morellenfeldgasse“ als äußerst fortschrittlich bezeichnet werden. Seine Verankerung fand dieses Modell in den progressiven Vorstellungen einer linken Überzeugung – weshalb es, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung in Kreisen der „Linken“, insbesondere aber in Widerstandsgruppen, mehrfach zu finden war. So können strukturelle Parallelen gezogen werden – deren Bewertung ist vielfach nur aus der präzisen biographischen Einzelanalyse möglich. Auch kritische Frauen mit Kleinkindern unterwegs waren – und im Kinderwagen Propagandamaterial transportierten. 77 Wenn ‚Nein sagen‘, sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzen, von frühester Kindheit an von den Eltern und dem Umfeld gut geheißen wird, kann ein derartiges Verhalten auch im späteren Leben leichter umgesetzt werden. Gerade die Sozialisation der Sozialdemokratie und insbesondere die zahlreichen Freizeitaktivitäten, die für Kinder angeboten wurden („rote Falken“, „sozialistische Jugend“), wirkten sich äußerst positiv auf die Ausbildung eines widerständigen Charakters aus. Vgl. Christian G. Allesch, Mutter Courage aus persönlichkeitspsychologischer Sicht, in: Sabine Aschauer-Smolik u. Alexander Neunherz (Hg.), Zivilcourage und widerständisches Verhalten. Dagegenhalten, Innsbruck 2006, 75–92.
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Hinterfragung, nicht allein der historischen Ereignisse, sondern auch deren Erinnerung und Darstellung, wird dadurch möglich. Die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht erscheint dabei von besonderer Relevanz. Erst der Blick auf die Frauenbiographie erschließt zentrale Aspekte der Gemeinschaft, wobei Verwandtschaft eine bedeutende Rolle zukommt. In der Rückschau beteiligter ExponentInnen dient sie der Legitimation der Teilhabe von Frauen bzw. gleichsam als ‚Erinnerungsstütze‘ für deren Existenz.
5. Netzwerk – Verwandtschaft – Biographie Zum Abschluss soll der Fokus nun nochmals auf Goldy Parin-Matthèy gelegt werden. Die Rebellion mit dem Bruder bewirkte eine starke Solidaritätserfahrung, die als weichenstellende Instanz verstanden werden kann. In ihrem Cousin Ferdl fanden die Geschwister Matthèy eine Vorbild-Figur, die sie während ihres gesamten Aufwachsens begleitete und der schließlich zu einem engen Freund wurde. Die schlechte Beziehung mit der überwiegenden Mehrzahl der Verwandten einerseits und das Kennenlernen von engen FreundInnen andererseits bedingten und prägten die Teilhabe an der „Brüdergemeinde“. So ist in der Frage des Einflusses von Verwandtschaft auf Netzwerke bzw. deren Interaktion ein ambivalentes Bild zu zeichnen – wobei schlussendlich alle Elemente auf die Bildung der „Brüdergemeinde“ hinarbeiteten. Grundsätzlich und als zu verallgemeinernder Schluss kann die zentrale Rolle der Sozialisationen festgehalten werden. Dies ist nicht in einer überkommenen Sichtweise misszuverstehen, wonach Einflüsse aus Kindheit und Jugend als alleinprägende Faktoren einer Lebensentwicklung fungieren. Vielmehr ist der Lebenslauf als stetiger Prozess zu erachten. Erfahrungsebenen verschiedenster Lebensabschnitte stehen nebeneinander, überlagern sich, beeinflussen einander. Die Bedeutung einzelner Phasen variiert, erfährt durch hinzugekommene Erlebnisse Umdeutungen und Neubewertungen.78 Die Aus- und Einwirkungen der diversen Faktoren auf die spezifische Einzelperson gilt es zu untersuchen, und dabei im Sinne einer „klassischen“ Biographieforschung die Einbettung der Person in die sie umgebende Gesellschaft vorzunehmen und deren Interaktionen aufzuzeigen, um damit auch Rückschlüsse über die 78 Kindheit und Jugend dürfte dennoch eine Sonderstellung zukommen. In dieser Phase erfahrene Einflüsse sind demnach von besonders prägendem Gehalt – können jedoch durch spätere Erfahrungen auch vollkommene Neu- und Umdeutungen erhalten bzw. vollständige Überlagerung erleben. Vgl. hierzu Peter Rossmann, Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters, Bern 2004, 146–148; sowie den Ansatz der Intersektionalität (wie Anm. 3).
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Gesamtgesellschaft ziehen zu können. Die Einbeziehung zusätzlicher Analyse kategorien – wie in diesem Fall „Geschlecht“ – ermöglicht nutzbringende Erweiterungen und Einsichten in Beziehungsmuster, deren anscheinende Eindeutigkeit auf diese Weise hinterfragt werden kann. An der Brüdergemeinde des Kreises in der Morellenfeldgasse kann in der Geschlechterrollenverteilung die Wirksamkeit des Konzeptes Verwandtschaft abgelesen werden. Dieses kam sowohl bei der Etablierung der Gruppe als auch in deren Re-Konstruktion aus der Erinnerung zum Tragen.
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Die Autorinnen und Autoren Christine Fertig, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster Andreas Hansert, Dr., Frankfurt am Main Barbara Heller-Schuh, Mag., MSc, Austrian Institute of Technology, Wien Sandro Guzzi-Heeb, PD Dr., Université de Lausanne Margareth Lanzinger, PD Dr., Universität Innsbruck | Universität Wien Brigitte Rath, Dr., Wien Sébastien Schick, MA, Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne | LMU München Jürgen Schlumbohm, Dr., Dr.h.c., Göttingen Ute Sonnleitner, Dr., Universität Graz Elisabeth Timm, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster Sabine von Heusinger, Prof. Dr., Universität zu Köln Charlotte Zweynert, MA, Leibniz Universität Hannover
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Sachregister Abschließung, soziale 14f, 70, 155, 202 Ahnenprobe 15, 213, 215 Bruder, brüderlich, Gebrüder 13, 16–18, 20, 29, 38–41, 43f, 47–54, 57–65, 76, 91–94, 96–109, 120, 125, 136f, 149, 162, 180f, 185, 200, 237, 257f, 261f, 264–266, 274f, 279 –– Halbbruder 78 Brüderbeziehung 18, 43, 94, 97, 100f, 103, 105, 108 Cousin 15, 154, 185, 199, 201, 203–205, 268, 273, 279 Cousine 15, 125, 154, 163, 165, 185, 200f, 203, 205 endogam, Endogamie, verwandtschafts endogam 15, 68, 80, 144, 151f, 155, 186, 192, 201 –– Sippenendogamie 146 Endogamiegeschichte 147 Erbe, erben, Erben, Erbschaft (siehe auch Vererbung) 14–18, 20, 29, 44, 46f, 50–53, 56, 59, 62–65, 83, 146, 148, 159, 162 –– Anerbengebiet 16, 185 –– Anerbenrecht 187, 208 –– Haupterbe 139 –– Hoferbe 187, 200 –– Universalerbe 50, 52, 59, 63, 150 Feind, feindlich, verfeindet 20, 140, 233, 246, 266 –– Anfeindungen 88, 267, 269, 277 Freund 13, 34, 91, 94, 102, 106, 181, 185, 201, 253, 267–270, 278f –– Blutsfreunde 8 Freundeskreis, FreundInnenkreis 261f, 267 Freundin 13, 181, 240, 267–270, 272f, 277–279 Freundschaft, freundschaftlich, befreundet 8, 13, 91, 104f, 108, 146, 202, 233f, 246, 267, 273 –– Frauenfreundschaft 233 Freundschaftsbeziehungen 11 Freundschaftsnetz, Freundschaftsnetzwerk 13, 25, 236 Freundschaftsperspektiven 14 Freundschaftszusicherung 102
Genealogen 214, 216, 226 –– black genealogists 218 –– Heimat- und Ortsgenealogen 226 –– Volksgenealogen 218, 222f, 227 Genealogie, genealogisch 21, 46, 69, 81, 85, 114f, 117, 119, 121, 124, 126f, 139, 141, 209–231 –– black genealogy 215, 217f –– généalogies fabuleuses 214 –– Vereinsgenealogie 217 –– Volksgenealogie, volksgenealogisch 21, 217–222, 227 –– Universalgenealogie 211 Generation 16f, 43f, 49, 55, 60, 62, 68f, 74f, 81, 83, 89, 124, 147, 149, 182, 186, 193f, 203, 205 –– „Die neue Generation“ (Zeitschrift) 240, 243f –– intergenerationell 64, 84 Generationenabfolge 67f generationenlang 83 Generationentiefe 9 generationenübergreifend, -umspannend 49, 51, 63, 149, 194 Generationswechsel 79, 81 Geschwister 20, 39, 43f, 67, 96, 103, 185, 187f, 199f, 203, 257, 265–267, 273, 278f –– Halbgeschwister 20 –– Vollgeschwister 203 Geschwisterbeziehung 18, 39, 43, 91–94, 99f, 109, 265f, 275 Geschwisterpaar 264 Geschwisterreihe 124 Geschlechter (Adel, Patriziat) 73, 75–77, 96 –– Adelsgeschlecht 216 –– Bauernadelsgeschlechter 218 –– Bauerngeschlechter 223 –– Geschlechterbücher 85 –– Geschlechterforschung 85 Geschlecht, Geschlechter (Kategorie), geschlechtsspezifisch, vergeschlechtlicht 14, 16f, 80, 258, 260, 271, 274, 279f Geschlechterbeziehungen 19, 272 Geschlechterbilder 274 Geschlechterforschung 259, 272 Geschlechterrollen, Geschlechterrollen verteilung 265, 274, 280
284 Sachregister Geschlechterverhältnisse 272f Geschlechtscharaktere 275 Geschlechtsehre 172 Großeltern 19, 81f, 182, 192 Großmutter 45, 185, 200 Großvater 85, 89, 96, 185 Konflikt 10, 22, 35, 40, 44, 59, 64, 119, 127, 138–140, 156, 192, 266, 275 –– Hauptkonflikt 119, 121 –– Liebeskonflikt 244 Konfliktanfälligkeit, konfliktträchtig 43, 53, 63 Konfliktpotenzial 11, 40f, 43, 49, 56, 65 Konfliktsituation 148 Konkurrenz, konkurrierend 11, 15, 17, 25, 35, 37, 39, 41, 43, 49, 54, 59, 62–64, 98, 140, 163 Nachbarn, benachbart 189, 202, 208, 236 Nachbarschaft 32, 192 Nachbarschaftsbeziehung 11 Nachbarschaftsformen 139 Neffe 17, 38, 41, 54, 57, 60–65, 113, 197, 200 Nichte 38, 113, 124, 154, 160f, 203 Onkel 25, 29, 61–63, 113, 154, 160f, 180, 199, 203, 205, 266 Pate 9f, 28, 116, 122, 125, 130, 147, 174, 185, 191f, 194–202, 204–208 Patenamt 78 Patenkind 9, 122f, 197, 201, 204, 206f Patenschaft, Patenbeziehung, Patenschafts beziehung, Patennetz 8–11, 28, 113f, 116, 119, 121f, 125, 130f, 137f, 140f, 143f, 186f, 190–202, 204–208 Patenwahl 193, 196 Patin 9f, 116, 122, 125, 194, 197 Patriziat, patrizisch 14, 24f, 29f, 32, 34, 67–81, 83f, 86–90, 171 –– antipatrizisch 88 –– nichtpatrizisch 89 Patriziatsforschung 69, 85 Patrizierfamilien 69 Patriziergesellschaft 14f, 73–76, 78f, 89 Patriziersohn 80–82, 86 Patriziertochter 80 politics of friendship 233 Politik 8, 14, 19, 23, 34f, 55, 91, 96, 103, 105, 115, 121, 123, 126, 141, 146, 156, 231, 254 –– Allianzpolitik 123
–– Ämterpolitik 44 –– Außenpolitik 109 –– Besetzungspolitik 149 –– Dispenspolitik 151, 153, 156, 158 –– Friedenspolitik 13, 233, 247 –– Heiratspolitik 34, 80, 230 –– kirchliche 151 –– patrilineare 46, 64 –– Ratspolitik 86 Politikbegriff 22 Politiker 105, 239, 244, 250 Politikverständnis 22 politisch 8, 18, 25, 30, 72, 74, 76, 85, 92–94, 108, 113f, 121, 125f, 138, 140f, 212, 218, 222, 239f, 249, 255, 263, 265, 277 –– Akteur 34 –– aktiv, AktivistIn 13f, 127, 129 –– Alliierte 121 –– Amt 30 –– Anschauung, Ausrichtung, Überzeugung 127, 249f, 267 –– Arbeit, Aufgabe, Betätigung 29, 234, 255, 270 –– Aspekte 13 –– Bedeutung 9, 18, 115 –– Behörden 164 –– Bewegung 13, 127 –– Beziehung 130 –– Bühne 14 –– Bündnis 146 –– Diskussion 88, 99 –– Einfluss 42, 85, 87f –– Einheit 103, 128 –– Einstellungen 9 –– Engagement 13, 236f, 261, 268 –– Entwicklung 209 –– Erfahrung 30 –– Erwägungen 19 –– Faktion 129, 140 –– Faktor 22, 141 –– Fehler 100 –– Feld 12, 22, 234 –– frauenpolitisch 238, 255 –– friedenspolitisch 250, 253f –– Führungsposten 31 –– Funktion 92–94, 121 –– Funktionsverlust 18 –– Gebilde 94, 103, 105 –– Gegnerschaft 152 –– Genealogie 117
Sachregister 285 –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––
geschichtspolitisch 70 gesellschaftspolitisch 153, 257, 263 Gruppe, Gruppierung 120, 140, 248–252 Haltung 10, 127f, 136f Handeln 12, 23 Handlungsfähigkeit, Handlungsraum, Aktionsraum 22, 147, 273 Handlungsressource 22 Handlungszusammenhänge 8 Ideen 122, 140 Implikationen 20, 22 Interessen 212 Kardinal 43 Karriere 34 Kategorie 22 kirchenpolitisch 43 Kohärenz 105 Konstellation 53, 125 Kontaktnetze 13 Kontinuität 120 Landesstelle, Stelle 157f, 160, 162 Macht 25f, 48, 149 Milieus 10, 119, 123, 128, 140 Mobilisierung 10, 119, 121, 127, 135 Motivation 277 Netzwerk, Netzwerkstruktur, Freund schaftsnetzwerk 13, 25, 111, 113f, 121, 139, 257 Norm, Normsetzung 98, 144 Opposition 127 Ordnung 209 Organisation 140 Orientierung 128 Partei 75 Partizipation 25 Polarisierung 123, 125, 137 Rahmenbedingungen 94 sexualpolitisch 243 Situation 24, 98, 103, 156 Solidarität 121, 137, 140 sozio-politisch 8, 10, 155, 210 Stellenwert 17 Strategie 98, 108 Strukturen 262 Tagesgeschäft 95 Tätigkeit 13 Testament 40 Tradition 121 Trumpf 108 Umfeld 14
–– Verbindungen 13 –– Verfasstheit 214 –– Verhältnis 97, 139 –– Vermächtnis 46, 63 –– Verwandtschaft 116 –– Verwendung 223 –– Vorteil 109 –– weltpolitisch 269 –– Wirkmacht 22 –– Zusammenarbeit 116 Politische, das 12, 22 Schwager (siehe auch Verschwägerte) 15, 31, 106f, 154, 162, 199–201, 203, 207 Schwägerin 15, 56, 154, 162, 201, 207 Schwägerschaft (siehe auch Verschwägerung) 8, 144, 146, 154, 162, 200 Schwägerschaftsgrad 144 Schwester 17, 20, 38f, 41, 46f, 64, 125, 127, 180f, 185, 199, 203, 254, 277 Sexualethik, sexualethisch 243f Sexualität 19, 115, 126, 128, 141, 165 sexualitätsfeindlich 147 Sexualmoral 10, 78, 128 Sexualreform 242 Sexualtheorien 241 Stiefkind 91 Stiefvetter 200 Streit 275 –– Ehestreitigkeiten 158 –– Rechtsstreit, Rechtsstreitigkeiten 150, 153, 175 Tante 38, 180, 199, 203, 205, 266 uneheliches, nicht eheliches, voreheliches, außerehelich gezeugtes Kind 10, 17–20, 40f, 45, 49, 51f, 56f, 60–63, 65, 78, 126–128, 134– 137, 167f, 170, 172f, 177–183, 242f uneheliche Mutter 241f unehelicher Vater 170, 172, 174 uneheliche Schwangerschaft 173 Unehelichkeit 79 Urgroßeltern 81f Urgroßmutter 203 Urgroßvater 85 UrUrgroßeltern 151 UrUrgroßvater 85 Vererben (siehe auch Erbe) 29, 38, 41, 55, 58
286 Sachregister Verschwägerte, verschwägert 9, 15, 143, 153, 155, 158, 163, 165, 200 Verschwägerung 67 Verwandte 8, 10, 15, 18f, 29, 34, 40, 46, 50, 52, 58f, 62, 68, 112, 115f, 121, 123, 128, 136, 139– 141, 143, 150f, 153–155, 158f, 165, 167, 180f, 183, 185f, 190, 192, 199–205, 207f, 211, 224, 229f, 257, 278f –– Blutsverwandte 9, 143, 203f, 207, 229f –– Handwerksverwandte 8 –– Heiratsverwandte 11 –– Innungsverwandte 8 –– Nicht-Verwandte 121, 182, 191, 205 –– Ratsverwandte 8 –– Reichsverwandte 8 –– Schirmverwandte 8 –– Schutzverwandte 8 –– Schwiegerverwandte 229 –– Seitenverwandte 67 –– Universitätsverwandte 8 Verwandtenehe 15, 113, 144, 151, 153, 155, 164, 186 Verwandteneheverbote, Verwandtenheirats verbot 145f, 151 Verwandtenheirat, Verwandtschaftsheirat 143– 146, 148, 151, 162, 164f Verwandtschaft 7–12, 14–18, 20–22, 40–42, 56, 67f, 88, 91, 111–113, 115–119, 121–123, 125f, 137–140, 145–148, 150, 153, 164f, 167, 180, 182f, 190–193, 199–212, 214, 229–231, 233, 258, 266, 276, 279f –– Blutsverwandtschaft 154, 161, 198–200, 207 –– geistliche oder spirituelle Verwandtschaft 9, 113, 116, 121, 133, 137 –– Heiratsverwandtschaft 8, 21, 198, 204 –– Repräsentationsverwandtschaft 150 –– Wahlverwandtschaft 18 verwandtschaftlich, verwandt, Verwandtsein 8f, 11–15, 17–20, 28, 38–42, 54f, 60, 64f, 69, 75f, 78, 80, 112f, 119f, 122, 125, 130, 138–140, 147, 149–151, 155, 158, 163–165, 167, 186, 192–194,
199–201, 203f, 206–208, 210–212, 216, 225, 229f, 257f, 266, 272, 277f –– blutsverwandt, blutsverwandtschaftlich 150, 200, 207 Verwandtschaftsachse 83 Verwandtschaftsbande 113, 119, 122 Verwandtschaftsbegriff 8, 28, 214, 229 Verwandtschaftsbeziehungen 21, 28, 32, 111–115, 119, 123, 125, 137, 139, 141, 167, 186, 190–192, 194, 199, 202, 278 Verwandtschaftsdatenbanken 211 Verwandtschaftsformen 138 Verwandtschaftsforschung 7, 22, 38, 44, 145, 147, 150, 155, 210, 230f Verwandtschaftsgeschichte 138, 185 Verwandtschaftsgrad 76, 78, 144–146, 151, 154 Verwandtschaftsgruppen, Verwandtengruppen 114f, 121–123, 126–128, 135, 137, 140, 147, 149 Verwandtschaftsintegration 155 Verwandtschaftskonzeption 18 Verwandtschaftsnetz, Verwandtschaftsnetzwerk 11, 22, 25, 28, 111, 113–116, 119, 149, 182, 206 Verwandtschaftsorganisation 67f, 145 Verwandtschaftsorientierung 202 Verwandtschaftsposition 16, 56 Verwandtschaftspraxis 20 Verwandtschaftsraum 17 Verwandtschaftssolidarität 113, 139 Verwandtschaftsspektrum 11 Verwandtschaftsstrukturen 68, 115, 123, 125 Verwandtschaftssystem 113, 139, 141, 147, 192, 203, 229 Verwandtschaftsverbände 75 Verwandtschaftsverbindung 21 Verwandtschaftsverbot 88 Verwandtschaftsverhältnis 40, 69, 120, 185, 203 Verwandtschaftsverständnis 203 Verwandtschaftsvorstellungen 8 Verwandtschaftszusammenhalt 146 Verwandtschaftszusammenhang 77
MARGARETH LANZINGER
VERWALTETE VERWANDTSCHAFT EHEVERBOTE, KIRCHLICHE UND STAATLICHE DISPENSPRAXIS IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT
Verwandtschaft strukturiert soziale Beziehungen. Besonders markant im ausgehenden 18. Jahrhundert war der beobachtbare Anstieg von Heiraten in nahen Verwandtschaftsgraden: zwischen Cousin und Cousine, Schwager und Schwägerin. Solchen Verbindungen standen nach kanonischem Recht jedoch Eheverbote entgegen, zu deren Auf hebung es einer päpstlichen Dispens bedurfte. Zudem griff der Staat nun in diese bis dahin kirchliche Domäne ein. Auf die wechselnden Dispenspolitiken reagierten Behörden, bischöfliche Konsistorien und Brautpaare auf vielfältige Weise. Die Studie untersucht die Dispenspraxis in den vier Diözesen Brixen, Chur, Salzburg und Trient. Sie verknüpft die aufwändigen kirchlichen und staatlichen Verfahrenswege mit Logiken der häuslichen Organisation. 2015. 405 S.13 S/W-ABB. U. TAB. GB. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-78752-5
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