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German Pages [235] Year 2023
Themenorientierte Literaturdidaktik
Band 4
Herausgegeben von Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning
Sabine Anselm / Sieglinde Grimm / Berbeli Wanning (Hg.)
Werte der Klassiker – Klassiker der Werte Zukunftsperspektiven im Rückblick
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die Titelgrafik wurde erstellt mit https://www.jasondavies.com/wordcloud/; © Jason Davies, 12. 08. 2022. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3537 ISBN 978-3-7370-0701-6
Inhalt
Einführung der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Familien, Freundschaften, Beziehungen zwischen den Geschlechtern Aline Seidel Nähe, Fremde und Begegnung in Familie und Kulturen. Differente Werte anhand der Josefsgeschichte im Literaturunterricht integrieren . . . . . .
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Julia von Dall’Armi Werteerziehung im Sinne der Aufklärung: Lessings Nathan der Weise im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nathalie Kónya-Jobs Werteerziehung im Literaturunterricht: Arthur Schnitzlers Reigen und die Werte in Geschlechterbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gewalt und/oder Tugend Judith Leiß Wert? Norm? Tugend? Ethische Kompetenz als Instrument und Zieldimension eines werteorientierten Literaturunterrichts – am Beispiel von Kleists Michael Kohlhaas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiko Ullrich Racheverzicht – gewaltloser Widerstand – Psychoterror. C. F. Meyers Ballade Die Füße im Feuer (1882) im Literaturunterricht . . . . . . . . . . 105 Rolf Füllmann Didaktik der Werte, Wert der Natur: Zu Tiersymbolik und Treueideal in Marie von Ebner-Eschenbachs schüler_innengerechter Novelle Krambambuli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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Inhalt
Cornelius Herz Kafkas Strafkolonie als Klassiker zum Schreiben von Werten in Daten? Deutschdidaktische Selbstbetrachtung zu Externalisierung, Kontrolle und Schreibprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Einsamkeit – Existenz – Identität Ines Heiser »Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!« Goethes Werther und die Diskussion um Werte im Literaturunterricht der Sekundarstufe II . . 163 Bastian Dewenter Kein Ankommen?! Der überflüssigste Mensch in Joseph Roths Roman Die Flucht ohne Ende (1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Anna Waczek »In meiner Einsamkeit habe ich getanzt« – Der Wert der Einsamkeit bei Astrid Lindgren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Florian Bär Krabat von Otfried Preußler als Klassiker der Werteerziehung und die ethischen Bildungspotenziale von Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 213 Autor_innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Einführung der Herausgeberinnen
Kaum eine Frage bewegt die wiederkehrenden Debatten so sehr wie die nach den Werten unserer Kultur. Oftmals fehlt die Orientierung im Chaos der Wertvorstellungen, und im Karussell der Kulturen gibt es keinen Kompass. Die Reflexion darüber, was die im klassischen Sinne gemeinsam geteilten Werte sind, wird zum Prüfstein für den Fortbestand einer pluralistischen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang kommt der Schule als sozialisierender Institution eine zentrale Aufgabe zu, und zwar vor allem deswegen, weil die Personen, die zukünftig stärker in der Gesellschaft mitbestimmen, bereits heute in den Klassenzimmern sitzen. Und hier sind die sprachlichen Fächer – besonders der Deutschunterricht – gefordert wie selten zuvor: Die Entwicklung von Kulturbewusstheit vollzieht sich zunächst über das vertiefende Erlernen der Sprache. Ausdrucks- und Differenzierungsvermögen sind elementare Voraussetzung für Wertbildungsprozesse und Identitätsentwicklung; weitergehende affektive und wertvolle Bindungen werden vermittelt durch Bilder und Narrationen, über literarische Texte und zunehmend mittels digitaler Medien. Literarisches Lernen sowie kulturelles Verstehen gehen Hand in Hand. Dies führt zu der Frage, welche Texte im Deutschunterricht gelesen werden sollen und welches die Klassiker der Literatur im Kontext der Werteerziehung sind. Ausgehend vom Dialog mit den Klassikern können sich neue Perspektiven öffnen, die Orientierung und Lösungsansätze für gegenwärtige und zukünftige Aufgaben bieten. Nicht zuletzt angesichts der Herausforderung einer durch Migration und Flucht bedingten Veränderung der Schülerschaft sind anwendungs- und inhaltsorientierte didaktische Konzepte gefragt, welche die neue gesellschaftsbezogene Verantwortung des Deutschunterrichts für gelingende Integration entwickeln und mitgestalten. Es geht dabei auch um die Frage, welche Lernprozesse die Bewusstwerdung von Werten begünstigen und zur Umsetzung in der Lebenswelt der Schüler_innen anregen. Ziel ist zum einen die Entwicklung von futures literacies, das heißt von identifikatorischer, transformatorischer, partizipatorischer und antizipatorischer Lesefähigkeit, sowie zum anderen von ethical literacy. Diese besteht darin,
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Kritikfähigkeit im Umgang mit Sprache, Literatur und Medien auszubilden. Denn Literaturunterricht ist weder zweck- noch wertfrei. Im Gegenteil: Werte werden in besonderem Maße durch literarische Texte, Filme sowie – in wachsendem Umfang – durch digitale Medien vermittelt. Stärker als ausschließlich kognitive Akte steuern sie individuelles Verhalten, vor allem vermögen sie zu einem wertereflexiven Handeln zu motivieren. Da Werte starke Bindungskräfte entfalten können, wirken sie sich unmittelbar auf das Verfolgen eines eigenen Lebensplans und das gesellschaftliche Zusammenleben aus. Das bedeutet zugleich, dass Werten für gelingende Bildungs- und Sozialisationsprozesse eine hohe Bedeutung zukommt. Parallel dazu sind moderne Gesellschaften durch eine beständig steigende Pluralisierung von Wertvorstellungen gekennzeichnet. Damit verbunden stellt sich die Frage, wie viel Wertepluralität eine Kultur verträgt bzw. wie groß das Minimum an geteilten Wertvorstellungen sein muss, damit ein erfolgreiches Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft möglich ist. Aspekte wie diese und eine grundsätzliche Ambivalenz von Werten lassen Werteerziehung als schulische Bildungsaufgabe zu einem wichtigen und zukunftsweisenden Moment des (Deutsch-)Unterrichts werden. Werte sind – im Unterschied zu Normen – auf das Selbstverständnis eines jeden Menschen gerichtet. Sie bestimmen die Persönlichkeit des/der Einzelnen, prägen Einstellungen und müssen von jeder und jedem Einzelnen für sich gebildet werden (vgl. Anselm 2012a). Dass schulische Bildung immer auch Persönlichkeitsbildung einschließt, ist unbestritten. Die Crux im Kontext der heutigen Bildungswissenschaften besteht jedoch darin, dass deren Forschungen oftmals mit dem Anspruch der Messbarkeit verbunden sind. Dabei fragt sich, ob bzw. in welcher Weise ›Evaluation‹, also ›Bewerten‹ im Sinne einer für die Bildung maßgebenden Instanz wie etwa PISA, die innere Befindlichkeit der Schüler_innen überhaupt betrifft, da die Aufgaben meist im Multiple Choice-Format erfolgen und sowohl auf kontinuierliche, z. B. erzählende Texte, wie auch auf diskontinuierliche Texte, z. B. Tabellen oder Diagramme, gerichtet sind. Wenn PISA verlangt, dass Schüler_innen digitale Texte dahingehend prüfen, inwieweit sie vertrauenswürdig erscheinen bzw. inwieweit sie bei einer bestimmten Fragestellung weiterhelfen, so hat dies nicht unbedingt etwas zu tun mit den Inhalten persönlicher, wertorientierter Überzeugungen. Der PISA-Kritiker Richard Münch hat die Gegenläufigkeit von Persönlichkeitsbildung und metrisch gedachter Bewertung gerade bei den großen Bildungsstudien – etwas polemisch – auf den Punkt gebracht: Die dunkle Seite dieses Programms ist die Abrichtung der Lehrer auf das Einpauken standardisierter Prüfungsaufgaben, gleichzeitig werden die Schüler zu konditionierten Lernmaschinen. Auf der Strecke bleibt Bildung als kreativer Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Der Mensch wird zum Punktejäger gemacht. (Münch 2009, S. 80)
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In der Tat: Es zählt nicht allein, was sich rechnet und wofür ein empirischer Nachweis erbracht wird. Werte wie im klassischen Sinn etwa Toleranz, Gerechtigkeit, Freundschaft oder Treue lassen sich nicht messen, sondern entziehen sich diesem Anspruch (vgl. Mau 2017, S. 217). Fest steht, dass Werte immer schon Gegenstand von Literatur und Kunst sind, die traditionellerweise das Unaussprechliche, das, was auf direkten Wegen nicht mitteilbar ist, zur Sprache bringen. Werte der klassischen Dichtung können also den Bereich ›Reflektieren und Bewerten‹ mit Inhalten füllen. Insbesondere literarische Texte haben Potenzial für Bildungsprozesse und Werteerziehung, da sie moralisch und ethisch brisante Situationen thematisieren und inszenieren. Sie involvieren die Leser_innen, fordern sie geradezu heraus, die Diskrepanzen auszuhalten bzw. einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Literatur kann somit einen vielfältigen Erfahrungsraum bieten, der zur Selbstverortung herausfordert, aber durch die ästhetische Distanz von einem Druck befreit, sogleich für die ethischen Konsequenzen der Handlungen einstehen zu müssen. Literatur changiert also zwischen Zumutung und Ermutigung. Im Zusammenhang mit dem Lesen geht es um sehr viel mehr als um die Frage, welches die richtigen Lesekompetenzen sind. Nicht zuletzt deswegen ist die Entscheidung darüber, was zu lesen ist, eine komplexe Herausforderung. Denn ebenso wichtig wie die Tatsache, dass gelesen werden kann, ist die Entscheidung dafür, was gelesen werden soll. Texte – literarische zumal – haben ein identitätsbildendes Potenzial. Ob ethical literacy – verstanden im doppelten Sinn des Wortes als reflexiv-kritische Lesefähigkeit und als moralische Bildung – positive Wirkung entfaltet, dafür tragen auch Deutschlehrer_innen Verantwortung. Darum ist ein gesteigertes Problembewusstsein im Blick auf die Fragestellung zu entwickeln, welche Literatur Schüler_innen zumutbar ist. Spätestens 20 Jahre nach dem PISA-Schock sind Lesen und Literatur im Unterricht als positiv verstandene Zumutung zu begreifen (vgl. Anselm 2020). Literatur bietet den Leser_innen einen imaginären Raum, der ihnen die Möglichkeit zur Befreiung von inneren, psychischen Zwängen wie auch von äußeren, gesellschaftlichen Konventionen zugesteht. Literatur erlaubt es gewissermaßen, ein anderes Leben zu führen als jenes, in das die Einzelnen als sozial handelnde Menschen eingespannt sind. Dadurch wird der Erfahrungsraum über den unmittelbaren Wahrnehmungsbereich hinaus erweitert, und es entsteht im Sinne Ulrich Becks eine Art imaginierte »Fernmoral« (Beck 2015, S. 217) auf der Basis von gemeinsam geteilten Werten. Die Frage der Werte hat historisch gesehen bis ins 18. Jahrhundert und darüber hinaus zurückreichende Wurzeln. Aus dem Wegfall eines übergeordneten Wertehorizonts im Zuge der Aufklärung ergibt sich für das menschliche Subjekt die Notwendigkeit einer Revision der Werte aus sich selbst heraus; dies zeigt ein Blick auf die Rolle von Dichtung und Literatur im 18. und 19. Jahrhundert. Mit
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den aufklärerischen Schriften Immanuel Kants wird der Erkenntnisanspruch der menschlichen Vernunft in die Grenzen verwiesen. Bislang gültige – in erster Linie religiöse – Werte werden damit brüchig. Literatur und Kunst, die seit der Antike Vorbilder für menschliches Handeln bereitstellen, können kaum mehr übergeordnete Anhaltspunkte bieten. Kant demonstriert dies am Status der Urteilskraft, die auf die schönen Künste gerichtet ist. Demzufolge gilt das Schöne als das, »was ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird.« (Kant 1974, KdU S. 124 [B 17]) Zu sehen ist hier, dass sich mit dem aufklärerischen Vernunftdenken der Anspruch von Wahrheit und Verbindlichkeit auf die Ebene des begrifflich-logischen Erkennens verschiebt. Weil das Schöne auf sinnlicher Anschauung beruht, kann dessen Bewertung bzw. das Urteil darüber den Status des Begriffs nicht mehr erreichen.1 Umso wichtiger ist es, dass Schüler_innen in die Lage versetzt werden, Entscheidungen zu treffen. Diese – mit Max Weber gesprochen – »Akte der Dezision« (Anselm 2012b, S. 409) basieren auf Werten, die individuell gültig sind und in deliberativen Prozessen mittels Wertereflexionskompetenz erfasst werden können. Gleichwohl muss der Umgang mit der neuen, von der Aufklärung gewährten Freiheit aber auch individuell erlernt werden. Da Werte in besonderem Maße durch Vorbilder und überhaupt durch ein Vorleben vermittelt werden, sind Momente der Veranschaulichung elementar wichtig. Für Vermittlungsprozesse ist in diesem Zusammenhang die Modellwirkung literarischer Texte bedeutsam. Auch darin besteht die Relevanz von Werten der Klassiker für die aktuelle Diskussion um die Klassiker der Werte im Rahmen von Überlegungen zu schulischer Werteerziehung. Beispielsweise sind in den Dramen von Friedrich Schiller durch das ›sentimentalische‹ Reflektieren viele Figuren geprägt – man denke etwa an Wallensteins berühmtes Zögern, welcher Seite er sich im Krieg zuwenden solle: »Wär’s möglich? Könnt’ ich nicht mehr, wie ich wollte? / Nicht mehr zurück, wie mir’s beliebt? Ich müßte / Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, […] In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; / Die Freiheit reizte mich und das Vermögen.« (Schiller: Wallensteins Tod, I. Akt, 4. Aufzug)2
Während es sich in Schillers Dramen meist um zwei einander komplementär zugeordnete Figuren handelt – hier Wallenstein und Max –, ist im Wilhelm Tell die Spannung von naiver und sentimentalisch-reflektierender Bestimmung an ein und derselben Figur zu beobachten, nämlich am Tell selbst (vgl. Grimm 2003, 1 Rüdiger Bubner schreibt: »Mit der Erhebung zum Niveau des Begriffs endet aber jede ungebrochene Wirkung des ästhetischen Scheins, die just an der Unmittelbarkeit hängt. Der als Schein erkannte Schein ist depotenziert und hat seinen Zauber verloren.« (1989, S. 93f.) 2 Wallensteins Reflexionen betreffen die Frage, ob er mit den Schweden paktieren oder dem Kaiser treu bleiben soll.
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S. 425). Schillers Tell-Drama lässt sich inhaltlich grob in drei Abschnitte fassen: Die Eingangsidylle am Vierwaldstätter See zeigt Tell zunächst als beherzten Helfer, der den Schweizer Baumgarten ohne weitere Fragen vor seinen Verfolgern rettet. Baumgarten ist auf der Flucht vor den kaiserlichen Reitern; er wird verfolgt, weil er den von den Habsburgern eingesetzten Burgvogt erschlagen hat, der sich an seiner Frau vergehen wollte. Während er hier noch ganz den ›naiven‹ TatMenschen gibt, der ohne Zögern zur Stelle ist, wenn Hilfe gebraucht wird, denkt er in der Apfelschussszene, in der er gezwungen wird, die Armbrust auf sein eigenes Kind zu richten, nach – er reflektiert. »Ei, Tell, du bist ja plötzlich so besonnen!« (V. 1903) – so lautet der ironische Kommentar Gesslers. Als Ergebnis seines Nachdenkens nimmt Tell einen zweiten Pfeil und steckt ihn in den Köcher. Hätte er sein Kind getötet, so erfahren wir später, dann hätte der zweite Pfeil Gessler gegolten. Die Phase der höchsten emotionalen Anspannung provoziert geradezu das Nachdenken, die Reflexion über die gestellte Aufgabe des Apfelschusses. Beide, emotionale und reflektierende Momente, greifen ineinander und steigern sich gegenseitig. Darüber hinaus lässt sich eine dritte Phase annehmen, die geprägt ist durch den Monolog im Sinne einer ›dramatischen Reflexion‹, in dem Tell sein Vorhaben, Gessler als Tyrann zu töten, als eine notwendige Befreiungstat erklärt. Der Tyrannenmord wird legitimiert durch den Vergleich mit Johannes Parricida, dem Herzog von Schwaben, der allein aus Ehrsucht zum Mörder seines Onkels und damit zum Kaisermörder geworden ist (vgl. Grimm 2003, S. 435ff.). Inwiefern nun die gerade dargestellten Werte des Klassikers zu Klassikern der Werte geworden sind, lässt sich ausgehend von einem Rezeptionsdokument erkennen: Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule erzählt die Geschichte Tells aus der Sicht Gesslers und verbindet sie mit einem interkulturellen Aspekt. Hilfreich für die Diskussion der Werte ist der Ansatz Iris Bäckers, die bei literarischen Texten von einem an den Figuren festgemachten »wertemäßigen Koordinatensystem« (Bäcker 2018, S. 149) ausgeht. Diesbezüglich lässt sich sagen, dass Frisch die Koordinaten gewissermaßen umdreht. Tell und seine Landsleute werden als stockkonservative Hinterwäldler dargestellt, die allem Neuen mit Skepsis begegnen. Tells Entschluss zum Apfelschuss ist eine Folge auch kulturell bedingter Missverständnisse, Dickköpfigkeit und Stolz. Der Schuss wird jedoch in letzter Sekunde von Gessler verhindert. Gessler tritt auf als dicklicher »Ritter Konrad oder Grisler« (Frisch 1971, S. 8), der die Sitten der »Bergler« nicht versteht und sich als »Ausländer« (ebd., S. 18) fühlt: Wie es Ausländern heute noch eigen ist, bemerkte der dickliche Ritter lauter Eigentümlichkeiten, die nicht typisch sind oder die nur die Einheimischen zu würdigen wissen. Manchmal fürchtete er sich vor diesen Berglern; ihre Seele blieb ihm verschlossen. (Ebd.)
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Grisler fühlt sich ausgegrenzt: »Schon daß einer sich in ihre Täler wagt, machte ihn verdächtig; die Sennen, die einen Sommer allein auf ihrer Alp verbrachten, redeten lieber mit den Geistern als mit einem Unbekannten.« (Ebd., S. 20) Die reflektierende Haltung – so lässt sich feststellen – wird im Unterschied zum Ausgangstext bei Schiller nicht an der Titelfigur, sondern eher an Gessler festgemacht. Diese Fortschreibung des Klassikers von Friedrich Schiller durch den Autor Max Frisch veranschaulicht, dass eine Aktualisierung durch den Bezug auf einen anderen Kontext und eine andere Lebenswelt möglich ist. Beide Texte werden vergleichend in einen neuen und zugleich anspruchsvollen Zusammenhang gebracht und machen so auf moralische Probleme und Konflikte aufmerksam. Dadurch werden die Konsequenzen des Befolgens oder Verletzens moralischer Normen für die Betroffenen veranschaulicht. Denn mit der Darstellung von Normenanwendungen in konkreten Einzelfällen werden bestimmte Werthaltungen suggeriert, hinterfragt bzw. Impulse zu ethischen Überlegungen gegeben. In unterschiedlicher Intensität manifestieren die Texte durch moralisierende bzw. problematisierende Struktur – in gewissen Genres mehr, in anderen weniger – eine wertende Haltung gegenüber dem Handeln der Figuren oder den zugrundeliegenden Normen. Durch die Thematisierung im Literaturunterricht erfahren Schüler_innen, dass Literatur wie kein anderes Medium existentielle Fragen verhandelt, die den Menschen immer wieder auf ähnliche Weise, wenn auch in anderen Zusammenhängen, betreffen und herausfordern. Die Werte der Klassiker werden zu Klassikern der Werte. Das Nachdenken über das Gelesene und die emotionale Bezugnahme auf die eigene Lebenswelt – über den Text hinaus – bietet die Chance, dass Literatur lebendig bleibt – eine wichtige Zielsetzung in der literaturdidaktischen Diskussion. In ähnlicher Weise betrachten die folgenden Beiträge die Werte der Klassiker. Dabei beeindrucken die Verfasser_innen durch die Vielfalt der gewählten literarischen Beispiele, die sich nicht allein in der gänzlich unterschiedlichen Entstehungszeit zeigt. Sie sind gewissermaßen Archive der alten und Quellen für neue Ideen, wenn die Vermittlung gelingt. Der Blick auf ästhetische und ethische Traditionen bedient nicht eine Sehnsucht nach Vergangenheit, sondern legt die überraschende Aktualität und die zukunftsbezogene Bedeutung der kulturellen Fundamente frei. Zunächst geht es um Texte, welche sich mit Beziehungen innerhalb einer Familie oder auch in Freundschaften beschäftigen. Aline Seidel stellt in ihrem Beitrag die tief im kulturellen Gedächtnis verankerte biblische Josefsgeschichte vor, in deren Zentrum die literarische Figur Josefs mit seinem verschlungenen Lebensweg von einem als Sklaven verkauften Bruder bis hin zum obersten ägyptischen Mitregenten steht. Seidel arbeitet heraus, dass Josefs Immigrationserfahrungen als Spiegelungsfolie für aktuelle ethische und politische Herausfor-
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derungen der Migration, aber auch für Herausforderungen im Rahmen von Familien- und Geschwisterkonflikten dienen und somit in vielfältiger Weise Gegenstand schulischer Wertereflexion werden können. Beim Blick auf die Josefsgeschichte als Novelle wird der Aufstieg eines Immigranten in Analogie zu einem dramatischen Handlungsbogen gesetzt, wobei die Lösung am Ende in gegenseitiger Vergebung gesucht wird. Beleuchtet werden Kleidung und Träume als wichtige mit der Novelle verflochtene Motive, welche den dramatischen Familien- und Geschwisterkonflikt mit poetischen Mitteln spannungsvoll strukturieren. Bei der Darstellung der Geschichte als weisheitliche Lehrerzählung stehen die aus den Lebenserfahrungen des Protagonisten hervorgehenden Tugenden im Mittelpunkt. Seidel zeigt, dass sich in diesen Lehrerzählungen dem Protagonisten einerseits große Spielräume im Rahmen eines ethisch geordneten Verhältnisses zwischen Mensch und Gott eröffnen; andererseits werde menschliches Streben aber auch beschränkt, was sich bei Josef in einer gebrochenen Heldendarstellung niederschlägt. Bedingt durch diese Spannung bietet die Josefsgeschichte zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für wertegeleitete Diskussionen zu dem Thema Fremdheit oder auch – gestützt auf die Auseinandersetzung Josefs mit Potifars Frau – dem Thema Gender. Ausgehend von der Überzeugung, dass Literatur die Ausbildung eines überindividuellen Wertebewusstseins fördert und der Beobachtung, dass bei Schüler_innen eine grundsätzliche moralische Motivation sowie ein rudimentäres Toleranzverständnis vorhanden sind, zeigt Julia von Dall’Armi am Beispiel von Lessings Nathan der Weise als einem Text der Aufklärung, inwiefern sich über die Titelfigur Grundmaximen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten vermitteln lassen. Als zentral dafür stellt von Dall’Armi vor allem die Ringparabel mit ihren religionsübergreifenden Wurzeln ins Licht, die auch für die heutige interkulturelle Werteerziehung noch Relevanz besitzt und von Schüler_innen gut auf die aktuelle Lebenswelt übertragen werden kann. Als im Unterricht zu verfolgendes Erkenntnisziel arbeitet von Dall’Armi heraus, dass die Wahrheit des Glaubens nicht nur dem guten Handeln, sondern auch dem Wettbewerbsgedanken unterstellt wird. Sie macht aber zugleich deutlich, dass der Ring auch als Projektionsfläche für individuelle Wünsche fungiert, wodurch das Eintreten der Lernenden in die Auseinandersetzung um Werte angebahnt werden kann. Herausragende Relevanz spricht von Dall’Armi zudem verschiedenen Dilemmasituationen zu. Als vorbildhaft hierfür gilt wiederum die Figur des Nathan, der mögliche Reaktionen und Konsequenzen seines Handelns sorgfältig auf das Für und Wider hin abwägt. Über die bisherige Fokussierung auf den Toleranzgedanken hinaus werden somit in Lessings Vorstellung einer Menschheitsfamilie Möglichkeiten eines kulturübergreifenden, wertebezogenen Kompetenzerwerbs deutlich, der im Sinne der Auf-
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klärung auch Vernunftorientierung, Vorurteilsfreiheit und Gerechtigkeit mitberücksichtigt. Nathalie Kónya-Jobs beschäftigt sich mit Möglichkeiten der Werteerziehung im Literaturunterricht am Beispiel von Arthur Schnitzlers Skandalstück Reigen. Zehn Dialoge. Sie betont dessen anhaltende Relevanz für Werturteilsdiskussionen und argumentiert für fachdidaktische Potenziale auf mehreren Ebenen. Mit Rückgriff auf die literarische Interdiskurstheorie arbeitet sie textnah heraus, dass Schnitzlers Stück zwei wissenschaftliche Spezialdiskurse als kulturelle Narrative der Jahrhundertwende poetisiert: die Psychoanalyse(-Kritik) und die Geschlechterstereotypen der Sexualpathologie. Sie gibt Hinweise auf die unterrichtliche Behandlung des Textes im Horizont dieser Problematiken. In einer stärker textüberschreitenden Perspektive widmet sie sich anschließend der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Reigen und verbindet ihre literatursoziologische Expertise mit didaktischen Schlussfolgerungen zur unterrichtlichen Behandlung des historischen Literatur-Skandals um Schnitzlers Stück und die Reigen-Prozesse. Dergestalt zeigt sie auf, wie die Hinterfragung moralisch-sittlicher Normen innerhalb der Sexualökonomie einer Gesellschaft, Geschlechterrollen in intimen Konstellationen und die rechtlichen und ethischen Grenzen literarischer Freiheit in der Zusammenschau von Literaturgeschichte und Gegenwartsbezug mit Lernenden der späten Sekundarstufe I und der gymnasialen Oberstufe reflektiert und bewertet werden können. Das Zusammenspiel von Machtausübung durch Gewalt im Gegensatz zu Tugendkonzepten ist das Thema weiterer Beiträge. Judith Leiß argumentiert für die wechselseitige Stärkung von ethischer Kompetenz und Aspekten literarischen Lernens am Beispiel von Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas. Sie stellt die Begriffe »Werte«, »Normen« und »Tugenden« ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit Ansätzen der Werteerziehung im Literaturunterricht. Weiter diskutiert sie die jeweiligen Vorzüge formaler und materialer Werteerziehung und identifiziert »ethische Kompetenz«, verstanden als Fähigkeit zur Differenzierung und reflektierten Auseinandersetzung mit Werten, Normen und Tugenden, als ein Ergebnis formaler Werteerziehung. Für den Literaturunterricht hebt Leiß hervor, dass ethische und literarische Kompetenzen als ineinander verschränkt zu begreifen sind und einander im Erwerb gegenseitig unterstützen. Dies exemplifiziert Leiß an Kleists Novelle, indem die Schüler_innen herausarbeiten, welche anthropologischen, sozialen und psychologischen Fragen und Probleme in der Erzählung gestaltet werden. Dabei eröffnet die Unterscheidung von Werten, Normen und Tugenden den Blick auf wichtige Deutungspotenziale. Leiß skizziert, wie eine Bewertung der Figur des Michael Kohlhaas im Spannungsverhältnis von Normkonformität und Tugendhaftigkeit sowohl ethische Kompetenz als auch die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive literarischer Figuren aufruft. Sie plädiert dafür, Schüler_innen zumin-
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dest in Ausschnitten die »Diskurspluralität« des Textes aufzuzeigen, die aus besagtem Spannungsverhältnis hervorgeht und bereits in theologischen und naturrechtsphilosophischen Diskursen der frühen Neuzeit verhandelt wurde. Literatur könne – dies sollen Schüler_innen Leiß zufolge erkennen – somit die Offenheit der vielen Diskursperspektiven auf das Verhältnis von Werten, Normen und Tugenden zeigen. Heiko Ullrich eröffnet in seinem Beitrag verschiedene Zugänge, um die Schüler_innen an die Werte heranzuführen, die C. F. Meyers Ballade Die Füße im Feuer verkörpert. Es geht um den Verzicht auf Rache, um gewaltlosen Widerstand, aber auch um Psychoterror, der in diesem Zusammenhang entstehen kann. Ullrich stellt die Ballade in den Kontext ihrer zahlreichen Quellen, um den Lernenden die Gelegenheit zu geben, intertextuelle Erfahrungen zu sammeln und sich selbst auf die Spuren mehrfacher Deutungen zu begeben. Sorgfältig legt Ullrich diese Intertexte frei, die eine ganze Bandbreite zentraler Wertekulturen darstellen: Von diversen Bibelstellen über themenverwandte Balladen von Seume und Chamisso bis zu Grimmelshausens Simplicissimus führt er den literaturhistorischen Wandel des Racheverzichts vor und zeigt Aktualisierungen durch ein literarisches Beispiel aus diesem Jahrhundert, Markus Werners Roman Am Hang, sowie durch die transmediale Adaption des Themas in einem Krimi aus der Reihe Tatort. Dabei lenkt er den Blick auf die fließenden Übergänge, die ein vertieftes Verständnis, aber auch die kritische Sicht auf die jeweiligen Texte ermöglichen, wenn sich die Lernenden in den verschiedenen, sowohl produktiven als auch analytischen Herangehensweisen mit dem Stoff auseinandersetzen. Die so im Verfahren der agonalen Intertextualität erworbenen Kompetenzen führen die Lernenden mittels der Auseinandersetzung mit literarischen Werten dahin, eigene Wertvorstellungen zu entwickeln und zu vertreten. Ausgehend von der Tiersymbolik betrachtet Rolf Füllmann das Treueideal in Marie Ebner-Eschenbachs (1830–1916) realistischer Novelle Krambambuli um einen schon mit dem Titel genannten Jagdhund aus den ›Dorf- und Schlossgeschichten‹ (1883) im Kontext der Gattungs- und Wertedidaktik. Die Novellenhandlung wird zuvörderst durch ein organisches Tier- und Kollektivsymbol geprägt, das in einer geradezu ikonologischen Weise für den sozialen Wert der Treue steht, den treuen Hund, der den entsprechenden Wert konkret verkörpert; darüber hinaus repräsentiert der Hund gemäß der Novellentheorie Paul Heyses (1830–1914) das Zentralmotiv der besagten Novelle. Heyses ›Falke‹ ist hier gleichsam ›auf den Hund gekommen‹. Füllmann zeigt, dass und in welcher Weise der konzentrierte Novellentext, der im transkulturellen Raum der altösterreichischen Landschaft Mähren angesiedelt ist, sowohl ein werte- als auch ein gattungsdidaktisches Potenzial im Sinne des Prototypenmodells bietet. Das typologische ›Ähnlichkeitsdenken‹ kann anhand der Textur von Krambambuli und ihrem dramatisch gerafftem Handlungsschema gattungsspezifisch gefördert
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werden. Berührende Treue wechselt im konkreten Fall mit gerechtem Zorn angesichts sozialer Missstände in der altösterreichischen Ständegesellschaft Mährens. Einen Schwerpunkt der Darstellung bildet die zentrale Konfliktlage, in welche die tierische Titelfigur der Novelle gesetzt ist, wenn ihre Treue gegenüber dem Förster und Hundehalter einerseits und einem Wilderer andererseits, der der Vorbesitzer des Hundes war, auf die Probe gestellt wird. Die hierbei auf die Treue zentrierte Werteerziehung ist mit der literarischen Bildung eng verknüpft. Cornelius Herz nutzt Kafkas In der Strafkolonie (1919) als Anlass zur (Selbst-)Reflexion über Bildungssystem und Deutschdidaktik, statt den Deutungshorizont auf übliche Bereiche der Textzugänge zu beschränken. Zunächst werden die Handlung sowie der Umfang an Interpretationsansätzen skizziert, dann die Bedeutung (scheinbarer) Automatisierung und menschlicher Interaktionen als Teil maschineller Prozesse im Bereich der Bildung beleuchtet. Dabei spielt sowohl der Schreibprozess als ständig evaluierende und evaluierte Praxis im engeren Sinne eine Rolle als auch eine weiter gefasste Vorstellung von (Selbst-)Optimierung und (Selbst-)Regulierung. Unter Heranziehung von Carl Schmitts wissenschaftssatirischem Text Die Buribunken (1918), dessen politische Fragwürdigkeit zwischen Erstem Weltkrieg und NS-Vergangenheit zunächst problematisiert wird, geht der Autor auf Datenerhebungen im Sinne der Schriftmacht ein: Nicht nur in totalitären Systemen, sondern eben auch in modernen demokratischen Verwaltungen sowie in Schule und Universität werden durch Leistungserfassung, -bewertung und Zertifizierung Daten erhoben und gespeichert. Im Hinblick auf die Veröffentlichung und Speicherung von Daten im Rahmen der Digitalisierung spielt dabei zugleich Medienkompetenz eine Rolle. Darum werden abschließend mögliche Konsequenzen der Automatisierung und Evaluierung im Bildungssystem thematisiert – wie das Fehlen von Freiräumen für unbewertetes Probehandeln oder das Erlernen von durch Kontrollinstanzen suggerierten Schemata anstelle einer tiefergehenden eigenständigen Auseinandersetzung. Ein dritter Themenblock betrifft Fragen von Einsamkeit, Existenz und Identität. Der Beitrag von Ines Heiser beschäftigt sich ausführlich mit Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers. Die Autorin hinterfragt, inwiefern der diesem Werk zugeschriebene Klassikerstatus die Rezeption der darin vertretenen Werte beeinträchtigen könnte, deren universaler Geltungsanspruch gleichwohl besteht und auch eine gewisse Berechtigung hat. Die vom Protagonisten Werther in Frage gestellten Werte sind von persistierender Aktualität, betreffen sie doch Moralgebote von Ehe und Familie, die Bedeutung von bürgerlicher Arbeit, die Relevanz von Standesgrenzen und einiges mehr, bis Werther schließlich durch seinen Selbstmord sogar den Wert des Lebens anzweifelt. Dem begegnet die Literaturwissenschaft mit zahlreichen Deutungsversuchen, von denen Heiser gezielt diejenigen auswählt, die in einem modernen Literaturun-
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terricht Verwendung finden könnten. Die unkonventionellen Ansichten, die Werther vertritt, seine flexible Haltung, seine emotionale Labilität können die Schüler_innen nach dessen Vorbild zu ernsthaften Debatten führen, die philosophischen Lehrgesprächen glichen, unterschieden sie sich nicht davon in einem wichtigen Punkt: Sie bleiben ergebnisoffen und geben keine moralischen Positionen vor. Indem die Lernenden die offene Diskursstruktur des Briefromans rezipieren, lernen sie wirkmächtige Argumentationsmuster kennen und stärken so ihre Wertereflexionskompetenz. Wie Heiser deutlich macht, profitieren die Schüler_innen besonders dann von diesem ›Klassiker‹, wenn sie die verhandelten Werte historisch einordnen und in ihrer Gewordenheit erkennen. Bastian Dewenter setzt sich in seinem Beitrag anhand von Joseph Roths Roman Die Flucht ohne Ende (1927) mit dem Motiv des ›überflüssigen‹ Menschen auseinander, der unbehaust ist und nirgendwo ankommt noch hingehört. Die Ziel- und Orientierungslosigkeit der Hauptfigur Franz Tunda, Soldat im Ersten Weltkrieg, wirft Fragen nach Identität und Menschlichkeit auf, die vor dem Hintergrund verlorener ›Heimat‹ wertereflexiv von den Schüler_innen diskutiert werden können. Menschen, die ständig unterwegs sind und nie ankommen, bezeichnet Roth metaphorisch als ›Luftmenschen‹ und als überflüssig. Dewenter zeigt verschiedene Hintergründe, vor denen erörtert werden kann, welche ethisch-moralischen, sozial-gesellschaftlichen oder emotional-psychologischen Wertmaßstäbe sich letztlich hinter einer solchen Attribuierung eines Menschen verbergen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Reflexion der Sprache, durch die Tunda zum überflüssigsten Menschen auf der Welt erklärt wird, was seine soziale Isolation nochmals verschärft. Die Lernenden erkennen, was der Erste Weltkrieg aus Franz Tunda gemacht hat, der zuvor ein allgemein anerkannter Oberleutnant war, jedoch nun als geschlagener Kriegsheimkehrer der Nachkriegsgesellschaft nur noch ›überflüssig‹ erscheint. In einem historisch ausgerichteten Unterrichtssetting lernen die Schüler_innen die Schicksale der Kriegsheimkehrer in der Weimarer Republik kennen; besonders eindringlich dann, wenn sie das Denkmal des Unbekannten Soldaten als einen literarischen Erinnerungsort reflektieren. So erleben sie die literarische Macht der ›Denkbilder‹ und geben den Figuren und Geschichten dieses Romans mit offenem Ende in ihrem eigenen Erfahrungskontext immer wieder neue Konturen. Ein ungewöhnlicher Wert und dessen unerwartet positive Bewertung stehen im Mittelpunkt der Überlegungen von Anna Waczek: Astrid Lindgrens Werk wird häufig vor allem unter dem Aspekt der idyllischen Kindergemeinschaft im ländlichen Schweden wahrgenommen. Die Figur des einsamen Kindes, die den Leser_innen in zahlreichen Erzählungen begegnet, ist hingegen weit weniger präsent. Dabei finden sich ambivalente Darstellungen des Motivs der Einsamkeit in vielen Werken Lindgrens. Waczek leuchtet zunächst die dialektische Bewertung auch in psychologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive aus und
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zeigt dann anhand ausgewählter Textbeispiele aus dem Werk Lindgrens auf, welche Werte der Einsamkeit zugeschrieben werden und unter welchen Bedingungen Einsamkeit als positive Kraft wahrgenommen werden kann. Drei Spielarten werden dabei vorgestellt: Autonomie, Resonanz und Fantasie. Diese Überlegungen münden in didaktische Reflexionen über die unterrichtliche Beschäftigung mit der Frage nach dem Wert der Einsamkeit. In Otfried Preußlers Krabat ist bereits mit der prototypischen Gegenüberstellung von Gut und Böse die Frage nach Werten und Wertsystemen angelegt. Florian Bär skizziert die Aktualität einer über 50 Jahre alten Erzählung eines historischen Sagenstoffs und zeigt die Komplexität und Vielschichtigkeit moralischer Wertungen in Inhalt und Rezeption und die daraus folgenden Herausforderungen für den Literaturunterricht auf. Diese werden zunächst allgemein problematisiert in der Betrachtung der ästhetischen Gebundenheit und der Uneindeutigkeit literarischer Texte sowie der Konsequenzen aus einer rezeptionsästhetischen Herangehensweise, die die eingeschränkte Vorhersagbarkeit der Textwirkung berücksichtigt. In der Folge beschäftigt sich die Wert- und Normanalyse mit den Fragen, WIE in Krabat von Werten erzählt wird und von welchen Werten erzählt wird. Die deskriptiven Erkenntnisse münden in Reflexionen auf der didaktisch-pädagogischen Ebene zum Umgang mit den verhandelten Wertfragen im Literaturunterricht, die eingebettet werden in Überlegungen zum literar-ethischen und literar-ästhetischen Lernen sowie in das Konzept einer Wertreflexionskompetenz. Die in diesem Band enthaltenen Beiträge zu exemplarisch ausgewählten literarischen Klassikern thematisieren auf vielfältige Weise die Klassiker der Werte und lassen einerseits Perspektiven für eine Umsetzung im Deutschunterricht sowie andererseits Anregungen für die Lehrer_innenaus- und -weiterbildung entstehen. Dadurch erfährt der Band »Er-lesene Zukunft« aus dem Jahr 2019 eine produktive Fortsetzung. Köln, Siegen und München im August 2022 Sieglinde Grimm, Berbeli Wanning und Sabine Anselm
Literatur Anselm, Sabine (2020): ›20 Jahre PISA-Schock – Literatur(unterricht) als Zumutung?!‹ In: Rieger-Ladich, Markus/Sosna, Anette (Hg.): Literatur und Bildung. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 67. Jg./H. 1, Göttingen, S. 34–42. Anselm, Sabine/Grimm, Sieglinde/Wanning, Berbeli (Hg.) (2019): Er-lesene Zukunft. Fragen der Werteerziehung mit Literatur. Göttingen.
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Anselm, Sabine (2012a): ›Vom Wert des Lesens. Variationen über ein aktuelles Thema‹, in: Dies./Geldmacher, Miriam/Hodaie, Nazli et al. (Hg.): Werte – Worte – Welten. Werteerziehung im Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 15–31. Anselm, Sabine (2012b): ›Ethische Bildung durch Wertereflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht)‹, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 59/4, 401–415. Bäcker, Iris (2018): ›Lesen und Verstehen (Sinnbildung)‹, in: Honold, Alexander/Parr, Rolf/ unter Mitwirkung von Küpper, Thomas (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Berlin/Boston, S. 140–155. Beck, Ulrich (2015): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. 22. Aufl., Frankfurt/Main. Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt/Main. Frisch, Max (1971): Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt/Main. Grimm, Sieglinde (2003): ›Ästhetische Erziehung revisited: Schillers »Wilhelm Tell«‹, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 50, Doppelheft 2/3, S. 420–442. Kant, Immanuel (1989): Kritik der Urteilskraft. Werke in 12 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. X. Frankfurt/Main. Mau, Steffen (2017): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin. Münch, Richard (2009): Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, MCKinsey & Co. Frankfurt/Main. Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/Main. Schiller, Friedrich (1994): Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. II Wallensteins Tod. Stuttgart. Schiller, Friedrich (1996): Wilhelm Tell. Stuttgart: Reclam.
Familien, Freundschaften, Beziehungen zwischen den Geschlechtern
Aline Seidel
Nähe, Fremde und Begegnung in Familie und Kulturen. Differente Werte anhand der Josefsgeschichte im Literaturunterricht integrieren
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Einführung und didaktischer Schwerpunkt
Die Josefsgeschichte ist bis in unsere Gegenwart hinein tief im kulturellen Gedächtnis verankert, da sowohl die literarische Figur Josefs mit seinem verschlungenen Lebensweg vom Sklaven bis zum obersten Mitregenten als auch die Motivik der Novelle gleichermaßen seit Jahrhunderten rezipiert worden sind. Entstehungsgeschichtlich ist die Josefsgeschichte je nach Datierung bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. oder bis ins 6. oder 4. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen (vgl. Gertz 2010, S. 282, und Jeremias 2015, S. 81). Bei der letzteren Möglichkeit entstand sie wahrscheinlich in israelitischen Verfasserkreisen der ägyptischen Diaspora (vgl. Lux 2014, S. 40ff.) bzw. in der persischen Diaspora, wenn sie ins 4. Jahrhundert v. Chr. datiert wird.1 Die Rezeptionsgeschichte der Josefserzählung umfasst weitreichende Auswirkungen auf die Kunst und Malerei (die wohl bekanntesten Bilderzyklen stammen von Rembrandt van Rijn und Marc Chagall), auf die Literatur (z. B. Thomas Manns Romanzyklus Joseph und seine Brüder), auf die Musik (z. B. Tom Rices und Andrew Lloyd Webbers Musical Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat) und auch auf die moderne Ökonomie. Der Ökonom Tomásˇ Sedlácˇek sieht in der Josefserzählung »den ersten in unserer schriftlich festgehaltenen Historie verzeichneten Konjunkturzyklus sowie den ersten Versuch, die Gründe für diesen Zyklus zu erklären« (Sedlácˇek 2012, S. 86). Gattungsbedingt eignet sich die Josefsgeschichte als Novelle und als weisheitliche Lehrerzählung sowie durch ihre Motive, um mit Schüler_innen erfahrungsbezogen eigene und als fremd wahrgenommene Werte zu reflektieren. Diese Art der Reflexion, welche im Kompetenzbereich ›Reflektieren und Be1 Die Datierung orientiert sich an der Diasporathematik der Josefsgeschichte: Der israelitische Protagonist gelangt zu Wohlstand und Ansehen an einem ausländischen Königshof. Diese Vorstellung barg Identifikationspotenzial für die Rezipient_innen in der Diaspora und konnte so literarisch wirksam werden (vgl. Gertz 2010, S. 284).
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werten‹ zu verorten ist, ist m. E. Voraussetzung für eine gelingende kulturelle Bildung. Sowohl ethisch als auch interreligiös können sich Menschen im Dialog nur dann auf Augenhöhe begegnen, wenn Positionen und Standpunkte von Welt- und Normenmodellierung wahrgenommen, verstanden und für die eigene Lebenswelt der Schüler_innen in kritischer Auseinandersetzung und eventueller Annahme fruchtbar gemacht werden. Der Beitrag schließt sich damit der Position des Ethical Turns in der Literaturwissenschaft an, wonach Literatur in ihrer erzählenden Darstellung von Welt ethische Fragestellungen und Positionen als konstitutives Moment einer Kultur enthält, tradiert, hinterfragt und auch konterkariert (vgl. Erll/Grabes/Nünning 2008), die während der Rezeption individuell und konstruktivistisch deutungsoffen nachvollzogen werden können. Dabei ist auch das inhaltliche Erfassen der Erzählung als kulturelles kanonisches Erbe ein erster wichtiger Schritt. Sicherlich sind die Lebenswelten und Wertvorstellungen mancher biblischen Geschichten in Teilen weit vom aktuellen Lebensbezug der Schüler_innen entfernt. Gerade aber durch die Thematik einer Immigrationserfahrung kann die Josefsgeschichte zum einen als »Spiegelungsfolie« (Mendl 2013, S. 267) zu aktuellen politischen und ethischen Debatten gelesen werden. Zum anderen kann sie durch den durchgängig behandelten Familien- und Geschwisterkonflikt und das Coming-of-Age des jungen Helden Josef zur ›Spiegelungsfolie‹ für eigene Lebenserfahrungen von Schüler_innen werden. Damit wird im Folgenden die hermeneutische Vorentscheidung getroffen, die Novelle nicht ausschließlich ›an sich‹ als kanonischen Textbestand, sondern auch als ›Spiegelungsfolie‹ für Lebensgestaltung und gegenwärtige ethische Positionen und Debatten zu lesen. Zunächst wird das Geschehen bzw. der Plot zur Orientierung zusammengefasst, um die Josefsgeschichte mit den Schüler_innen inhaltlich als kulturelles kanonisches Erbe zusammen erarbeiten zu können (1), bevor sie als Novelle und weisheitliche Lehrerzählung vorgestellt wird. Anhand der Gattungsbestimmung als Novelle (2), die auch mittels der Josefsgeschichte gelernt werden kann, und ihren dazugehörigen Motiven (3) wird der Spannungsaufbau und das Deutungspotenzial als dramatischer Familien- und Geschwisterkonflikt erfahrungsbezogen erarbeitet. Durch die weitere Gattungsbestimmung als weisheitliche Lehrerzählung (4) können daran anknüpfend ethische Positionen und Werte für Lebensgestaltungen herausgearbeitet werden (4.1–4.2), die anschlussfähig für aktuelle ethische, politische und interkulturelle Debatten sind (4.3). Als Erzählung mit dem Helden Josef stellt die Novelle durch die erzwungene Migration in ein anderes Land eine traumatische Erfahrung dar, welche durch einen dramatisch zugespitzten Familienkonflikt ausgelöst wurde. Josef wird als jüngster Sohn von seinem Vater bevorzugt; er selbst berichtet seinen Brüdern als junger Mann von zwei Träumen, in welchen diese sich in Zukunft vor ihm verneigen werden. Der dadurch ausgelöste Neid und auch Hass der Brüder Josefs
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und sein eigenes Hervortun führen schließlich zu Mordüberlegungen aufseiten der Brüder, welche der Bruder Juda dahingehend umwandeln kann, dass Josef als Sklave nach Ägypten verkauft wird. Dem Vater erzählen sie, ein wildes Tier habe seinen jüngsten Sohn getötet; als angeblichen Beweis zeigen sie Josefs schönes Gewand – ein Geschenk des Vaters – vor, das sie vorher in das Blut eines Ziegenbocks tauchten (vgl. Gen 37). In Ägypten wird Josef als Sklave von Potifar gekauft, der ein Kämmerer des Pharaos und Oberbefehlshaber der königlichen Leibwache ist. Da sich Josef verdient macht, wird er zur Aufsicht über den ganzen Besitz seines Herren bestellt, bis dessen Ehefrau Josef einer versuchten Vergewaltigung bezichtigt, sodass Potifar ihn ins Gefängnis werfen lässt (vgl. Gen 39). Dort deutet er zwei Mitgefangenen zwei Träume, die später in Erfüllung gehen. Als die Wahrsager und Gelehrten am Hofe einen Traum des Pharaos nicht deuten können, erinnert man sich an Josefs Fähigkeit und er wird an den Hof vor den Pharao geholt (vgl. Gen 41). Er vermag den Traum des Pharaos als eine nach sieben erntereichen Jahren über das Land kommende Hungersnot zu deuten und schlägt vor, einen »verständigen und weisen Mann [Übersetzung der Autorin, A. S.]« (Gen 41, 33) einzusetzen, der vorbereitend das Einsammeln eines Teils des Getreides in den wirtschaftlich ertragreichen Jahren zur Vorratsspeicherung überwacht. Der Pharao überträgt ihm als einen v. a. durch seine Traumdeutekunst weisen Mann diese Aufgabe und verleiht ihm im Staatsapparat die zweithöchste Würde direkt unter ihm selbst (vgl. Gen 41). Sobald die Hungersnot über Ägypten und die umliegenden Länder hereinbricht, kommen auch Josefs Brüder, um Getreide zu erwerben. Er gibt sich ihnen nicht zu erkennen, sodass sie sich tatsächlich – wie damals in seinem Traum als junger Mann – vor ihm verneigen, da sie ihn als Repräsentanten der ägyptischen Macht wahrnehmen. Er beschuldigt sie, Spione zu sein, und fordert von ihnen, den jüngsten, zurückgelassenen Sohn Benjamin als Beweis herzubringen, dass sie wirklich einer unschuldigen Hirtenfamilie entstammen, wie sie es in ihrer Rede behauptet haben. Der Familienkonflikt spitzt sich an dieser Stelle dramatisch zu, bis er später in einer friedvollen Vereinigung gelöst wird, da der alternde Vater neben Josef diesen jüngsten Sohn besonders liebt, und ihn nur der Hungersnot wegen nach Ägypten mitziehen lässt (vgl. Gen 42). Josef ist sich dessen bewusst. Durch eine List möchte er Benjamin bei sich behalten, wohl um die Brüder unter Druck zu setzen, indem er seinen Kelch in Benjamins Reisegepäck hineinlegt und ihn dann des Diebstahls bezichtigt. Der Bruder Juda stellt sich als Ersatz für Benjamin bereit, weil er seinem Vater versprochen hat, dass Benjamin unbehelligt zum Vater zurückkommen werde (vgl. Gen 43f.). Nun gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen, er sinnt nicht auf Rache, sondern trägt ihnen auf, dem Vater von seinem guten Ergehen in Ägypten zu berichten. Die Brüder sollen zusammen mit dem Vater Jakob erneut nach
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Ägypten zurückkehren (vgl. Gen 45). Durch Josefs Macht und das Wohlwollen des Pharaos wird ihnen dabei ermöglicht, mit der gesamten Familie und ihren nachfolgenden Generationen im wirtschaftsstärksten Teil des Landes in großem Reichtum zu wohnen (vgl. Gen 46). Die restlichen Kapitel der Josefsnovelle (vgl. Gen 47ff.) können durch ihre retardierenden Momente mit Schüler_innen in Ausschnitten gelesen werden. Sie entfalten weiter das Wohlergehen und kluge Handeln des Protagonisten Josef in seinen Regierungsgeschäften sowie den Kinderreichtum und die wirtschaftliche Prosperität der gesamten Familie. Ebenfalls wird Jakobs Lebensende erzählt. Kurz vor seinem Tod spricht er seinen Kindern und Enkeln einen letzten Segen zu. Das glückliche Ende des Familienkonfliktes ohne Rachegedanken vonseiten Josefs, der sein Leben im Rückblick (vgl. Gen 50, 20) als sehr erfüllend und unter der segnenden Hand Gottes trotz menschlichen Fehlhandelns begreift, sollte als Schlusspointe der Novelle wiederum im Unterricht genauer fokussiert werden. Als Textausgabe empfiehlt der Rat der EKD für Jugendliche eine sehr aktuelle (2021), urtextnahe und sprachlich leicht verständliche dt. Übersetzung: die BasisBibel.2 Die zwar für den kirchlichen Gebrauch sonst als sprachlich geeignete und empfohlene poetische Übersetzung von Martin Luther (2017) könnte an manchen Stellen hingegen schwieriger zu verstehen sein. Je nach Welt- und Glaubensmodellierung der Schüler_innen wird die Erzählung als fiktionale oder auch als realistische Geschichte wahrgenommen werden. Dies gilt es vonseiten der Lehrkraft zu beachten und unter den Erkenntnissen der konstruktivistischen Didaktik als selbstverantwortliche und eigenständige Positionen der Schüler_innen zu würdigen.
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Die Josefsgeschichte als Novelle
Bei der Josefsgeschichte handelt es sich, als Novelle erzählt, zum einen um den rasanten Aufstieg eines Immigranten an der politischen Machtzentrale – eine auch heute leider nur schwer zu erreichende Karriere – und zum anderen um einen sehr drastischen Familienkonflikt, der sich im Verkauf des jüngsten Bruders an Sklavenhändler äußert. Der Familienkonflikt und mögliche Lösungsperspektiven sowie die zugehörigen ethischen Dimensionen können mit Schüler_innen herausgearbeitet werden. Von einer oralen Tradition herkommend, richtet sich die Novelle an das Interesse von Zuhörer_innen und Leser_innen, 2 Die oft mit Jugendlichen im Religions- oder Konfirmationsunterricht verwendeten Übersetzungen: Hoffnung für Alle oder Gute Nachricht übersetzen den Originaltext freier und teils auch paraphrasierend bzw. ausdeutend. Bei der BasisBibel finden sich zudem kurze Erläuterungen am Seitenrand zu zentralen Begriffen.
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etwas Neues und Interessantes kennenzulernen. (Dieses Merkmal des Neuen ist wünschenswert für den Literaturunterricht, da es das Interesse von Schüler_innen wecken kann.) Die Josefsgeschichte gehört zur Tora innerhalb des Alten Testaments und schließt das erste Buch des Pentateuchs, die Genesis,3 als Erzählung mit den Kapiteln 37–50 ab. Unstrittig unter alttestamentlichen Exeget_innen wird die besondere kompositorische Geschlossenheit und der organische Zusammenhang der Erzählung bemerkt,4 sodass sie literaturwissenschaftlich betrachtet einen Spannungsbogen und einen dazugehörigen Plot besitzt, wodurch sie als selbstständig feststehende Erzählung Eingang in den Wachstumsprozess der Tora gefunden hat (vgl. Gertz 2010, S. 283).5 Unter Berücksichtigung von gattungstheoretischen Kriterien kann sie ferner als Novelle bezeichnet werden, da die dieser Gattung zugeordneten Formmerkmale größtenteils auf sie zutreffen, ohne dass dabei ihr oder anderen Novellen ihre jeweiligen individuellen Muster abzusprechen wären. Die Gattung Novelle ist generell eine Erzählung mittlerer Länge im Verhältnis zu anderen prosaischen Gattungen wie der des Romans. Lesepsychologisch gesehen beinhaltet dies die Möglichkeit, das Werk in einem Zug zu lesen (vgl. Aust 2012, S. 11), sodass die Josefsnovelle entweder im Ganzen oder in wichtigen Ausschnitten, die in diesem Beitrag diskutiert werden, gemeinsam mit den Schüler_innen gelesen werden kann. Möglich ist auch eine Projektarbeit, in der die Novelle von Schüler_innen eigenständig gelesen, bearbeitet und dann im Unterricht präsentiert wird. Die äußere, eher kürzere Form gibt gleichzeitig die inhaltliche Konzentration auf vorwiegend ein Ereignis mit einem zentralen Konflikt (vgl. Gertz 2010, S. 281) vor. Ähnlich einem Drama folgt sie in ihrem Aufbau den Elementen Exposition, Klimax und Lösung und beinhaltet retardierende Momente. Die Novelle enthält daher keine längeren, komplex verschlungenen Erzählstränge oder Multiperspektivität. Bei der Josefsnovelle lässt sich dieser Aufbau mit Schüler_innen gut nachzeichnen: Die Exposition in Gen 37 und der sich entwickelnde Konflikt basieren darauf, dass der Vater Josef gegenüber den anderen Söhnen bevorzugt 3 Die Genesis wird im Deutschen auch als 1. Buch Mose bezeichnet. 4 Die Kapitel 38; 46, 1–5; 48f. (vgl. Gertz 2010, S. 284) werden hierbei als zum eigentlichen Kern der Ursprungserzählung hinzugefügt betrachtet. Dieser literarische Wachstumsprozess der Novelle in ihrer Stellung innerhalb der Tora muss im Literaturunterricht nicht weiter thematisiert werden. Ich empfehle daher, das 38. Kapitel beim Unterrichten aus der Novelle herauszulösen, da es mit dem Erzählzusammenhang durch Wortwiederholungen in Gen 37, 32f. und Gen 38, 25f. nur sehr locker verbunden (vgl. Rendtorff 2000, S. 41f.) und dadurch für die Komposition und das Verständnis der Novelle nicht weiter von Belang ist. 5 Es finden sich spärliche Verknüpfungen der Novelle zu dem vorigen und weiteren Verlauf der Erzählungen der Tora (vgl. Gen 46, 1–5a; 50, 24ff.), die zudem sekundär eingefügt worden sind (vgl. Gertz 2010, S. 283).
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und Josef sich durch das Schildern seiner Träume hervortut. Der Konflikt spitzt sich durch die ungewollte Immigration – dem Verkauf als Sklave nach Ägypten – weiter bis zur Klimax zu. Dass Josef nach seinem mehrjährigen Geschick als Sklave und als zu Unrecht verurteilter Gefangener (vgl. Gen 39ff.) zum zweithöchsten Regenten des ägyptischen Staates erhöht wird und die Möglichkeit erhält, eine eigene Familie zu gründen (vgl. Gen 41, 37–46, 50ff.), kann nicht über den ungelösten Familienstreit hinwegtäuschen. Dieser Streit wird deutlich in der erneuten Begegnung mit den Brüdern in Gen 42 bis zur List Josefs (vgl. Gen 44) und Judas Entschluss, sich nach der erfolgten List anstelle von Benjamin als Sklave zu offerieren. Die Klimax bzw. der Wendepunkt der Novelle tritt in Gen 45 ein. Nach den Auseinandersetzungen gibt sich Josef seinen Brüdern endlich zu erkennen, sie können wieder miteinander reden (vgl. V. 15) und er verzeiht ihnen. Der Konflikt der Novelle löst sich in diesem Fall durch die Bereitschaft Josefs und seiner Brüder, sich gegenseitig zu vergeben, auf. Diese Versöhnungsbereitschaft, die einen eigenen Wert darstellt, bleibt eine von den Rezipient_innen zu füllende Leerstelle der Novelle, da sie nicht explizit benannt wird. Doch da die Brüder nicht über Josefs List und dessen früheres Betragen klagen, sondern – wie von ihm gewünscht – alles wahrheitsgemäß ihrem Vater berichten und mit diesem zu ihm zurückkehren, kann von einer beidseitigen Lösung des Konflikts gesprochen werden. Darüber hinaus bereuen die Brüder, wie sie Josef vormals behandelt haben (vgl. Gen 42, 21 und 50, 17f.). Die in diesem Fall geglückte Lösung des Konflikts erfolgt nach den retardierenden Momenten (vgl. Gen 47ff.). Diese entfalten sich durch die erneute Beschreibung der Hungersnot in Ägypten und in den umliegenden Ländern sowie der klugen Regierungsgeschäfte Josefs und in der Begegnung mit seinem Vater, dessen Segen über Kinder und Enkel und seinen Tod. In Kapitel 50, am Schluss der Novelle, wird der entstandene Familien- bzw. Geschwisterkonflikt erneut aufgegriffen. Nach dem Tod des Vaters fürchten die Brüder, dass der Familienfriede nicht tragend gewesen, sondern nur unter dem Schein von Liebe vorgespielt sein könnte, um den alten Vater zu beruhigen und zu trösten. Es kommt nun zu einer erneuten bzw. zu einer erst wirklich realistischen – dies ließe sich mit Schüler_innen diskutieren – Aussöhnung der Brüder, bei der Josef bestätigt, dass er ihnen vergibt und sie und ihre Kinder wirtschaftlich versorgen wird (vgl. Gen 50, 21). Dabei hat er seine Rachegedanken mit der List auch etwas ausgelebt und empfiehlt die Brüder nun Gottes Urteil zur Gnade oder Gericht an (vgl. Gen 50, 19). Somit lässt sich im Unterricht anhand der Josefsnovelle auch die Gattungsbestimmung und der Aufbau von Novellen erarbeiten. Bei der Gattungsbestimmung ist Goethes Definition der Novelle als ›unerhörte Begebenheit‹ zu klären, da diese auch gegenwärtig weiterhin in der wissen-
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schaftlichen Diskussion einen maßgeblichen Einfluss besitzt.6 In der Josefsnovelle handelt es sich bei der ›unerhörten Begebenheit‹ zum einen um den rasanten Aufstieg eines Immigranten in der politischen Machtzentrale und zum anderen um den sehr dramatischen Familienkonflikt. Damit wird die Novelle von der Legende und dem Märchen abgegrenzt, die gleichfalls prosaisch, kürzer und inhaltlich konzentriert sowie oralen Ursprungs sind. Im Gegensatz dazu impliziert die Novelle aber ein real vorstellbares Ereignis innerhalb des menschlichen Lebens (zu Gattungsbestimmungen der Legende, des Märchens und der Sage vgl. Lüthi 2004, S. 7–10).7 Als zu einem Sagenkranz gehörige Erzählung sind in der Josefsnovelle noch Spuren der oralen Erzähltradition zu finden. Im Gegensatz zur Legende bzw. Hagiographie enthält sie keine herausgestellten übernatürlichen Eingriffe wie etwa Wunder. Ganz im Gegenteil befindet sich das Göttliche, der Gott JHWH, als weltordnende und lebensspendende Kraft im Hintergrund (vgl. bes. Gen 50, 20), wie der Abschnitt zur weisheitlichen Lehrerzählung noch zeigen wird. Müller weist jedoch darauf hin, dass weisheitliche Lehrerzählungen märchenhafte bzw. legendäre Züge enthalten können (vgl. 1992, S. 42). Die Josefsgeschichte besitzt einzelne Facetten der Legende: Der Protagonist verbleibt in seinem Glauben und verhält sich tugendsam trotz widriger Umstände in Sklaverei und Gefangenschaft. Auch Gottes Beistand und Wohlgefallen an Josefs Handeln (vgl. Gen 39, 21f.) ist inhaltlich ein zusätzliches Merkmal der Hagiographie. Das Wunderhafte, Zauberhafte (wie z. B. verzauberte Gegenstände) und Übernatürliche, das besonders im Märchen im Vordergrund steht, ist m. E. nur noch an einer Stelle der Novelle als märchenhaftes Merkmal zu erkennen: Josefs Kelch wird als Gegenstand beschrieben (vgl. Gen 44, 5), den er zum Wahrsagen benutzt. Diese kleine Notiz gesteht dem Protagonisten übernatürliche Fähigkeiten zu, die wie im Märchen an ein gegenständliches Objekt gebunden sind. Seine andere übernatürliche Fähigkeit, nämlich Träume auszulegen, wird hingegen Gott zugeschrieben (vgl. Gen 40, 8; 41, 16. 28.) und steht damit in der mantischen weisheitlichen Tradition, wie sie sich z. B. auch in Dan 2 findet. Abgesehen davon bewegt sich die Geschichte gemäß der Gattungskonvention der Novelle im Bereich des realistisch Möglichen. Weiterhin definiert sich die Josefsgeschichte als ein Widerfahrnis von Ereignissen innerhalb menschlicher Konstruktionen des Lebenssinns, das nicht 6 »[W]as ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen.« (Eckermann, 29. 01. 1827, S. 221). 7 Die ›Begebenheit‹ soll im Bereich des realistisch Möglichen liegen, wenngleich sie im Sinne des ›Unerhörten‹ so außergewöhnlich und einmalig sein soll, dass sie erzählenswert wird – durchaus auch im Sinne des Noch-nicht-Gehörten, Neuen (darauf verweist auch der Name Novelle vom lat. novus).
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selbstverantwortet geschieht – Josef kann sich seinen Lebensweg in einem anderen Land und seine dort erfolgende Karriere nicht frei auswählen – die Novelle beschreibt folglich Lebenserfahrungen, welche durch Einbrüche und Wendepunkte mit einer lösenden Schlusspointe eher passivisch als Widerfahrnis geschehen.8 Dem Merkmal der Novelle, dass die Ereignisse dem Protagonisten eher zuteilwerden, als dass er sie aktiv lenkt, steht Josefs entschiedenes Handeln im späteren Verlauf der Novelle entgegen. Josef ist ein aktiv die Handlung prägender Protagonist, indem er sowohl fordert, den jüngsten Sohn nach Ägypten zu bringen und sich weiter vor ihm zu erklären (vgl. Gen 42), als auch durch seine geplante und durchgeführte List (vgl. Gen 44) und durch seine Rolle als fremder Herrscher und Gastgeber. In dieser Rolle und mit der damit verbundenen Macht bestimmt er sogar alleinig die Settings und Gesprächsinhalte in den Begegnungen mit den Brüdern (vgl. Gen 42, 45 und auch 47). Fox bemerkt hierzu, dass dies laut dem Exegeten von Rad dem Sinn alttestamentlicher Weisheitsliteratur geschuldet sei. Von Rad ordnet die Josefsnovelle als weisheitliche Erzählung ein. Wie andere solcher weisheitlichen Erzählungen soll sie junge Männer lehren, besonders an Höfen Ansehen, Macht und Reichtum zu erlangen, erfolgreich sein zu können und dabei gleichzeitig tugendhaft zu werden und zu bleiben (vgl. Fox 2000, S. 49). Soweit wurden novellistische Elemente der Josefserzählung herausgearbeitet. Darüber hinaus ist sie auch als weisheitliche Lehrerzählung zu charakterisieren. Zuvor wird im nächsten Schritt allerdings auf die Verwendung von Motiven eingegangen, da die formale Bündigkeit der Novelle oftmals zu der poetischen Verwendung von Motiven bzw. einem Leitmotiv führt, um das dramatische Geschehen in seiner menschlich brüchigen Existenzdarstellung doppelbödig und tiefgründig darstellen zu können.
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Motive der Josefsgeschichte
Motive gelten innerhalb von Erzählungen als kleinstes strukturierendes und bedeutungsvolles Element. Sie entfalten in ihrer poetischen Qualität Deutungspotenzial, erzeugen Spannung und fördern zusätzlich die Anschaulichkeit des Plots (vgl. Lubkoll 2013, S. 542). In der Josefsnovelle sind die Träume und Kleidungsbeschreibungen wichtige Motive, welche durchgängig in die Novelle verflochten sind und somit den dramatischen Familien- und Geschwisterkonflikt poetisch darstellen und spannungsvoll strukturieren. Diese Motive sollen 8 Die Merkmale zur Gattungsbestimmung sind v. a. dem zweiten Kapitel aus Austs Monographie zur Novelle entnommen (vgl. Aust 2012, S. 10–24).
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mit den Schüler_innen analysiert werden, um ihre poetische Verwendung an einem Beispiel zu erlernen und daran anknüpfend den Konflikt auf eigene Erfahrungen und Lebensgestaltung deutend transferieren zu können.
3.1
Kleidung
Nicht von ungefähr enthält der Titel von Rices und Webbers Musical Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat bereits das erste in der Novelle auffallende Kleidungsstück.9 Josef erhält im Gegensatz zu seinen Brüdern ein buntes (vgl. Gen 37, 3) und damit, nach damaligen Verhältnissen, ein wesentlich teureres Kleidungsstück als seine Brüder, das durch seine Farben noch zusätzlich heraussticht. Als Bild führt es den Brüdern innerhalb der Erzählung und den Leser_innen anschaulich die Bevorzugung Josefs und den Neid der Brüder vor. Es ist somit nicht weiter verwunderlich, dass die Brüder ihm gerade dieses Gewand ausziehen, bevor sie ihn töten wollen (vgl. Gen 37, 23). Die Bevorzugung und auch Würde soll ihm durch dieses symbolische Handeln genommen werden, und er wird nackt und damit schutzlos. Er soll nicht zu dem Bruder werden, vor dem sie sich verneigen. Weiterhin erhält das Gewand eine besondere Bedeutung, als Josefs Brüder von ihrem ursprünglichen Plan absehen, ihn zu töten. Sie entscheiden sich stattdessen, ihn nach Ägypten zu verkaufen, und tränken Josefs Gewand in Blut. Es soll dem Vater als Beweisstück für den angeblichen Tod seines jüngsten Sohnes dienen (vgl. Gen 37, 31ff.). Das Kleidungsstück wird nicht nur ausgezogen, sondern durch das Blut auch unnütz und unbrauchbar gemacht. Das Deutungspotenzial des Motivs verweist auf die Intentionen der Brüder, den jüngsten Bruder nicht mehr beneiden zu müssen: Es spiegelt ihr Bestreben, alles zu versuchen, damit sich die Träume Josefs nicht erfüllen werden. Im Laufe der Novelle wird dieses Deutungspotenzial ein weiteres Mal genutzt und dient dem Spannungsaufbau: Der Protagonist Josef verliert sein Gewand ein zweites Mal bei der Flucht vor Potifars Frau (vgl. Gen 39, 12). Die mit der Nacktheit implizierte Schutzlosigkeit Josefs wird deutlich, als Potifars Frau ihn fälschlicherweise als Täter bezichtigt und dabei das Kleidungsstück ebenfalls als Beweismittel verwendet. Beim ersten Verlust sollte es Jakob Josefs angeblichen Tod beweisen, beim zweiten Mal soll es Potifar eine versuchte Vergewaltigung plausibilisieren. Das Verlieren des Gewandes führt auf diese Weise jeweils zu Josefs Gefangenschaft und in beiden Fällen werden diejenigen Personen getäuscht, die Josef besonders liebten bzw. ihm vertrauten: Jakob und Potifar. Demgegenüber realisiert das darauffolgende Einkleiden Josefs auch bildlich seine Erhöhung und die damit einhergehende Machtbefugnis (vgl. Gen 41f.). Er 9 Zugleich spielt dieser Titel auf das zweite wichtige Motiv der Novelle an: auf die Träume.
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wird mit Insignien wie der goldenen Kette ausgestattet und erhält ein Gewand aus »kostbarer Seide [Übersetzung der Autorin, A. S.]« (Gen 41f.). Die Erfahrung von Nacktheit, Schutz- und Machtlosigkeit wird umgekehrt; seine machtvolle Position zu Beginn der Novelle wird wiederhergestellt, in welcher er ebenfalls mit einem teuren, bunten Gewand eingekleidet gewesen war. Zugleich liegt hier eine Steigerung vor. Die Seide ist noch prächtiger als das bunt gefärbte Gewand, und Josefs Kleidung wird ihm vom Pharao persönlich mit zusätzlichen Insignien der Macht überreicht. Das Motiv des Einkleidens korrespondiert mit dem Spannungsaufbau der noch nicht erfüllten Träume. Er wird später tatsächlich durch seine Kleidung und Insignien symbolisch repräsentativ und machtvoll über den Brüdern stehen, die sich vor ihm verneigen werden. Genauso wird sich sein Vater später vor seiner Macht indirekt verneigen, falls man diesen mit dem Traumsymbol der Gestirne (Sonne oder Mond) gleichsetzen möchte; denn der Vater erkennt Josefs Autorität in Ägypten an, indem er die Zuteilung von Land und Essen an seine Familie und für sich annimmt. Die Klimax der Novelle, nämlich Vergebung und Versöhnung, wird ebenfalls mit dem Motiv des Kleidererhalts veranschaulicht (vgl. Gen 45, 22). Die Brüder bekommen zusätzliche Festgewänder von Josef geschenkt. Josef entkleidet seine Brüder nicht, so wie sie ihn entkleidet haben, sondern schenkt ihnen Kleidung, wobei er seinen leiblichen und jüngsten Bruder Benjamin mit der fünffachen Menge beschenkt. Das Motiv der ungerechten Bevorzugung des Jüngsten durch den Vater wird damit vom Sohn Josef durchaus wiederholt. Insgesamt sieht Josef seinen Lebenslauf als von Gott vorgezeichnet an und bedenkt wiederum seine Machtposition in Ägypten als Möglichkeit, ihnen ihr Leben trotz der Hungersnot zu erhalten und sie zusätzlich über ihr Hirtendasein hinaus durch seinen Reichtum zu erheben (vgl. Gen 45, 5–11).
3.2
Träume
Das Träumen kann insgesamt als Leitmotiv bezeichnet werden, weil sich dieses Motiv durch den gesamten Spannungsbogen der Geschichte hindurchzieht und die Handlung jeweils entscheidend voranbringt und dadurch bestimmt. Mit dem Begriff des Leitmotivs ist eine sich im Text systematisch wiederholende Formeinheit gemeint, die der Strukturierung der Handlung und ihrer symbolischen Vertiefung dient (vgl. Lubkoll 2013, S. 542). Beides gilt für das Traum-Motiv. Die beiden Träume Josefs am Anfang (vgl. Gen 37) lösen den Konflikt der Novelle aus, die zwei Träume der Hofbeamten und die Träume des Pharaos (vgl. Gen 40f.), die Josef zu deuten weiß, führen zur Einsetzung Josefs als zweithöchsten Regenten des Landes (vgl. Gen 41). Durch Josefs zukunftsgerichtete Auslegung der Träume und sein vorsorgliches kluges Handeln in der Gegenwart verringert
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sich die später auftretende Hungersnot. Besonders aber die beiden Träume vom Beginn finden ihre inhaltliche Erfüllung erst am Ende des Spannungsbogens der Geschichte, als sich die Brüder wirklich vor Josef verneigen (vgl. Gen 43, 26). Zudem führen sie zur Klimax der Novelle hin (vgl. Gen 45). Der Konflikt findet mit retardierenden Momenten schließlich sein Ende in der Versöhnung der Brüder untereinander und in der Zusammenkunft mit dem Vater in Ägypten (vgl. Gen 47 bzw. 50). Das weitere gemeinsame und reiche Leben als Familie wird ermöglicht. Die ›unerhörte Begebenheit‹ wird somit dramaturgisch durch die motivische Erfüllung des symbolischen Traumes in einem glücklichen Schluss und damit einem ›traumhaften‹ Ende aufgelöst. Wie schon beim zweimaligen Ent- und Einkleiden Josefs und später seiner Brüder ist die Doppelung des folgenden Traummotivs auffällig. Es werden jeweils zwei korrespondierende Träume in einem Kapitel hintereinander erzählt: Josef träumt zweimal, dass sich seine Brüder und auch seine Eltern vor ihm verneigen werden, was sich symbolisch durch das Verneigen von Garben oder Gestirnen in Gen 37, 6–11 ausdrückt. Die beiden Hofbeamten träumen ebenfalls jeweils in Gen 40, 9ff. und in Gen 40, 16f. Die Symbole in ihren Träumen korrespondieren mit ihrem jeweiligen Beruf. Der Pharao wiederum träumt wie Josef zweimal den gleichen Traum, der die kommende Hungersnot symbolisch durch das Sterben bzw. Vergehen von Kühen und Ähren in Gen 41, 1–7 ausdrückt. Diese Dubletten sind nicht einem unaufmerksamen Erzähl- oder Verschriftlichungsprozess geschuldet, sondern sie stellen ein poetisches Stilmittel der Wiederholung dar. Auf diese Weise wird ihre Bedeutung für die Handlung hervorgehoben. Entsprechend zur doppelten Erzählweise von Träumen gibt es weitere Elemente in der Josefsgeschichte, die zweifach auftreten. So wird von zwei Gefangennahmen Josefs berichtet (in der Zisterne und im ägyptischen Kerker in Gen 37 bzw. Gen 39–41), von zwei Reisen der Brüder nach Ägypten (vgl. Gen 42f.) und von zwei Versuchen, den jüngsten Bruder Benjamin mit nach Ägypten zu nehmen einschließlich jeweils zweier Audienzen vor Josef sowie der zweimaligen Rückerstattung des Getreidekaufpreises (vgl. Gen 42ff.). Auffällig ist, dass Josefs Träume nicht zweimal, sondern sogar dreimal in der Realität erfüllt werden: Die Brüder verneigen sich vor ihm in Gen 42, 6. 9; 43, 26 und in Gen 50, 18. Dies könnte die Schlusspointe (vgl. Gen 50, 20) vorbereiten: Menschliches Handeln hat zwar große Auswirkungen auf das Leben mit seinen Bedingungen; gleichzeitig steht es aber innerhalb der alttestamentlichen und im damaligen gesamten Orient verbreiteten weisheitlichen Vorstellung einer Gottesmacht, welche die Welt strukturiert und ordnet. Darauf wird insofern hingewiesen, als alle anderen Träume der Hofbeamten und des Pharaos trotz oder durch menschliches Handeln erfüllt werden (vgl. Gen 40, 20ff. und 41, 47ff. 53–57). Dies lässt sich in der Josefsnovelle auch am prophetischen Deutungselement von Träumen ablesen. Der Deutungsgehalt der Pharaoträume wird von psy-
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chologischen Erklärungsmöglichkeiten bis hin zu Interpretationen verschoben, die der Offenbarung Gottes selbst obliegen (vgl. Gen 40, 8; 41, 16). Nicht umsonst werden die Wahrsager des Hofes für die Deutung bemüht. An diesen für den Fortgang der Erzählung relevanten Sequenzen findet menschliche Weisheit ein Ende und wird stattdessen von divinatorischer Erkenntnis bestimmt, die sich unverfügbar und in diesem Falle wohlgefällig zeigt. Je nach Wert- und Lebensvorstellungen von Schüler_innen wird sich das Verhältnis von menschlicher Weisheit bzw. Vernunft und transzendenter bzw. darüber hinausreichender Erkenntnis und Lebensbestimmung über den Menschen entweder sehr fremd oder vertraut anfühlen. Genauso kann man sich aber auch auf das Verhalten des Protagonisten Josef während der Konfliktsituationen der Erzählung beschränken, um mit Schüler_innen über Ethik und Lebensgestaltung, die nach damaliger Auffassung der Weisheit zugehörten, ins Gespräch zu kommen. Die Entwicklung und der Diskurs über Werte und Lebenskunst im Literaturunterricht orientieren sich nun im Folgenden an der zweiten obig bestimmten Gattung: der Josefsgeschichte als weisheitlicher Lehrerzählung.
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Die Josefsgeschichte als weisheitliche Lehrerzählung
Bei der weisheitlichen Lehrerzählung werden in poetischer Weise Tugenden durch die gemachten Lebenserfahrungen des Helden paradigmatisch dargestellt, die sich nach der Exposition der Erzählung bis zur Konfliktlösung bewähren und bestätigen sollen. Die Figuren der Erzählung befinden sich dabei innerhalb eines Weltverhältnisses, das ihnen freie Handlungsspielräume im Rahmen eines ethisch geordneten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch ermöglicht (vgl. Müller 1992, S. 39; 42). Weisheitliche Lehrerzählungen eignen sich dadurch für Wertdiskurse in besonderer Weise, da sie sowohl erfahrungsbezogen als auch interkulturell und -religiös anschlussfähig sind und der Unterricht sich somit an den Lernenden orientieren kann.
4.1
Weisheit und Gottesbegriff
Der Protagonist verhält sich in der Tat gemäß der allgemeinen weisheitlichen Forderung fast durchgängig tugendhaft. Bereits relativ zu Beginn der Erzählung lässt er sich als junger Mann nicht verführen (vgl. Gen 39) und schläft nicht mit einer verheirateten Frau (vgl. u. a. Spr 5). Der ›typisch‹ weisheitliche Tun-Ergehen-Zusammenhang, welcher tugendsames Verhalten und darauffolgendes Wohlergehen des Menschen im Leben zusammendenkt, wird hier aber durch-
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brochen. Denn dem tugendhaften und sich ethisch an die Gebote Gottes haltenden und danach handelnden Protagonisten wird kein äußerlicher Erfolg durch Ehre, Familienglück und Reichtum zuteil, wobei aber auch in der klassischen Weisheitsvorstellung kein kausaler Zusammenhang zwischen richtigem Handeln und äußerlichem Erfolg besteht. Stattdessen wird mit dem Protagonisten das Bild eines Menschen gezeichnet, der wegen seines tugendsamen Verhaltens Leid und Misserfolg ertragen muss und in völlige Unfreiheit bzw. in ein Gefängnis gerät. Als Sklave verkauft zu werden, stellt den wohl tiefsten Punkt seines Ergehens im Plot der Erzählung dar, wobei sein Dasein im Gefängnis allerdings gesegnet ist (vgl. Gen 39, 21f.). Trotz dieser äußerlichen Umstände lässt Josef nicht von seinen in der Weisheit geforderten Glaubensvorstellungen ab. Unter weisheitlicher Vorstellung wird Gott wiederum als Handelnder im Beziehungsgeflecht der Figuren und im Plot der Erzählung nicht vordergründig als deus ex machina gehandelt, der unmittelbar eingreift, sondern er erscheint als verborgene Quelle des Lebens.10 Entgegen aller zwischenmenschlichen Verwicklungen wirkt er dabei heilvoll und über eine verborgene Ordnung zur Lebenserhaltung hinaus, die für den Menschen unverfügbar bleibt (vgl. Gen 50, 19f.).11 Im Sinne des Tun-Ergehens-Zusammenhangs segnet er (vgl. Gen 39, 2f. 5) verantwortliches Handeln der Figuren, ohne dass die Lebensumstände für die Figuren glücken müssten. Eine Diskussion mit Schüler_innen über Werte lässt sich durch die paradigmatisch dargestellten Tugendvorstellungen an dieser Stelle der Novelle gut anschließen. Inwiefern tragen ethische und religiöse Werte Menschen auch innerhalb von Leidens- und Konfliktsituationen im Leben? Welche Werte sind in welchen Situationen zu hinterfragen oder beizubehalten? Welche in der Erzählung dargestellten Werte überzeugen? Aus welchen Gründen überzeugen sie möglicherweise auch nicht? Welche Gottesvorstellungen finden sich in der Erzählung und wie verhalten sie sich zu gegenwärtig diskutierten?
4.2
Der Protagonist Josef und seine Rolle innerhalb des Familienkonfliktes
Über die besprochene Stelle hinaus entspricht Josefs Regierungshandeln, insbesondere seine Bemühungen zur Bekämpfung der Hungersnot (vgl. Gen 41, 47ff. und 55ff. und 47, 13–26),12 der Vorstellung von einem weisen Mann. So wird 10 Nur ein einziges Mal findet sich in der Josefserzählung eine unmittelbare Gotteserfahrung, bei der Jakob aufgefordert wird, nach Ägypten zu ziehen (vgl. Gen 46, 1–5). 11 Vgl. zum weisheitlichen Gottesbegriff: Jeremias 2015, S. 49ff. 12 An dieser Stelle ist Josefs Handeln nach weisheitlicher Vorstellung ambivalent zu bewerten: Zwar ermöglicht er die Lebenserhaltung von Menschen und Tieren und kümmert sich um die weitere Existenz von Priestern, aber er nutzt seine Macht gleichzeitig, um die Menschen von
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er auch vom Pharao in Gen 41, 39 bezeichnet. Dem weisheitlichen Ideal folgend, handelt Josef in seiner praktischen Lebensgestaltung sowohl gottesfürchtig als auch klug, gerecht und umsichtig.13 Ebenso wird der spätere Verzicht auf Rache gegenüber seinen Brüdern nicht nur von der nicht-fokalisierenden Erzählinstanz positiv gewertet, sondern Josef wird insgesamt ein Lebensende zuteil, das schon fast paradiesisch erscheint: Josef ist oberster Mitregent am ägyptischen Hof (vgl. Gen 47), seine Söhne werden von seinem Vater gesegnet (vgl. Gen 48), der nun mit der gesamten Familie auf Geheiß des Pharaos in einer prosperierenden Region leben und arbeiten darf (vgl. Gen 47, 6). Darüber hinaus wird Josef ein langes Leben geschenkt, das er am Ende als von Gott erfüllt und gesegnet versteht (vgl. Gen 50, 20–23). Ich möchte an dieser Stelle jedoch auf eine gebrochene Heldenvorstellung hinweisen, die es im Unterricht herauszuarbeiten gilt. Josef ist keineswegs in der Erzählung der ausschließlich tugendsame Held des weisheitlichen Ideals, wie er des Öfteren einseitig und vereinfacht dargestellt wird (vgl. z. B. Kraft 2013, S. 306). Ganz im Gegenteil schürt er durch seine Traumerzählungen vielmehr den Neid seiner Brüder und verwehrt sich auch nicht dagegen, dass ihn der Vater allen anderen vorzieht (vgl. Gen 37). Zusätzlich teilt er diesem eigentlich Vertrauliches der Brüder mit (vgl. Gen 37, 2) und lebt seine Rachegedanken in gemäßigter Form durch seine Machtstellung über die Brüder in seiner Maskerade und in seiner List aus (vgl. Gen 42ff.). In fast allen biblischen Erzählungen des Alten Testaments, zu denen die Josefsnovelle zählt, findet sich diese realistische Gebrochenheit menschlicher Existenz in ihren Heldenfiguren.14 Lernpsychologisch gesehen ist das sehr zuträglich, da Schüler_innen anhand von realistischen Vorbildern mit positiven und schwierigen Charaktereigenschaften lernen können, sich als Jugendliche in ihrer entwicklungspsychologischen Aufgabe zu orientieren und daran eigene Vorstellungen vom Leben und Handlungsperspektiven auszubilden. Ihnen können in den Erzählungen Vorbilder im Sinne narrativer Heldenfiguren begegnen, die ›Helden auf Augenhöhe‹ bzw. ›Helden des Alltags‹ sind und keine unerreichbaren ›Superheroen‹ darstellen. Ebenfalls werden den Lernenden Familienkonstellationen mit ihren oftmals dazugehörigen Konflikten wie Geschwisterneid bekannt sein, sodass sich in der ihrem Regenten ökonomisch abhängig zu machen; laut Lux war das aber wiederum übliche Rechtspraxis in Ägypten (vgl. Lux 2014, S. 208f.). 13 Zu dieser weisheitlichen Vorstellung vgl. Fox 2000, S. 49. Josef folgt in der Josefsnovelle spätem Weisheitsdenken, wonach die Ehrfurcht vor Gott der Anfang und die wichtigste Erkenntnis des Menschen ist (vgl. bes. Spr 1, 7). Josef weist die Frau Potifars mit der Begründung zurück, dass Ehebruch eine Sünde vor Gott sei (vgl. Gen 39, 9), er spricht die Auslegung von Träumen der von Gott geoffenbarten Erkenntnis zu (vgl. Gen 40, 8), und er begründet seinen Racheverzicht gegenüber den Brüdern mit dem Hinweis auf seine Gottesfurcht (vgl. Gen 42, 18 und 50, 19). 14 Vgl. z. B. die Davidserzählung in 1 Sam, 16–1 Kön, 2.
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Erzählung von Josefs Leben Erfahrungen verdichten, die sich auf die Lebensgeschichten der Schüler_innen übertragen lassen (vgl. Kraft 2013, S. 306). Komplizierte psychologische Konstellationen und Gedanken werden erzählerisch entfaltet und können als ethische Positionen mit ihren dazugehörigen Werten den Kompetenzbereich des Urteilens und Bewertens stärken, wenn im Unterricht die literarisch dargestellten Positionen und Konflikte besprochen und auf ihre Lösungsmodalitäten hin analysiert werden.15 Ein Transfer auf das eigene Leben sollte, falls überhaupt im Unterricht angesprochen, in Einzelarbeit oder nur in sehr vertrauten Gruppen erfolgen, um die Privatsphäre der Schüler_innen zu schützen. Hier ist besonders das Verhalten und Handeln des Protagonisten und seiner Brüder als psychologischer Konflikt zu thematisieren, der ethische Positionen beinhaltet. Am Beginn der Novelle steht dabei der Geschwisterneid, der seine Begründung in Jakobs Bevorzugung seines Sohns Josef und durch Josefs eigenem Hervortun findet. Damit verbunden ist die ›Coming-of-Age‹-Thematik des jungen Protagonisten, der nicht überlegt, wem er seine Träume auf welche Weise erzählt. Psychologisch ausdeutend könnten sie mehr als nächtliche Träume sein, nämlich die Hoffnung, als jüngster Bruder eine Karrierestufe zu erreichen, die ihn höher und bedeutender als alle älteren Brüder werden lässt. Die Brüder bezeichnen und deuten (Gen 50, 17) ihr eigenes Handeln später selbst als »Sünde«.16 Sie werden nur durch Josefs Bereitschaft, ihnen zu vergeben, vor dem Hungertod gerettet, wodurch ihnen ein weiteres Leben ermöglicht wird. Außerdem wird aufgedeckt, dass sie ihren Bruder verkauft und vor dem Vater für tot erklärt haben. Diese Fehler werden in dem Sinne geahndet, dass sie sich der Macht Josefs und seinen listigen Plänen beugen müssen, was sie selbst als hereinbrechende Strafe Gottes deuten (vgl. Gen 42, 21f. und Gen 44, 16). Der Tun-Ergehen-Zusammenhang in der Novelle entfaltet sich dadurch als positiver und als negativer Schluss fast logisch im Sinne der klassischen Weisheit. Interessant für die Bearbeitung mit Schüler_innen ist, dass der in der Novelle vorhandene Wert der Vergebungsbereitschaft und das gnadenvolle Handeln Gottes als verborgene Quelle des Lebens (vgl. bes. Gen 50, 19f.) den Tun-ErgehenZusammenhang in dem Sinne auflöst, dass die Brüder an Josefs zufriedenem Lebensausgang Anteil haben dürfen. Diesem Wert kommt in der Novelle eine Schlüsselfunktion zu. Dramentheoretisch gesehen wird dadurch die Klimax auf15 Positionen, Werte und Lösungsmodalitäten in Bezug auf den Konflikt können individuell sehr unterschiedlich ausfallen: von Treue und Loslösung aus familiären Kontexten, bekannten Kulturen und Gesellschaften, hin zu unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, noch dazu bei Bevorzugung von Geschwistern, bis hin zu Rachegedanken, friedlicher Beilegung von Konflikten oder auch Vergebungsbereitschaft. 16 Im hebräischen Ursprungstext stehen dafür zwei Wörter mit gleichem semantischen Bedeutungsgehalt; damit wird in dem Satz das Wort ›Sünde‹ wörtlich und inhaltlich hervorgehoben.
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gelöst, die sich durch den eingesetzten Wert der Vergebung von der Form der Tragödie mit negativen Folgen für die Brüder und den Vater hin zur Komödie mit einem guten Ende wandelt. Laut Winkler (vgl. Winkler 2006, S. 570ff.) sind Novellen bereits aufgrund ihrer Gattungsmerkmale – ein fesselnder Plot, ein Konflikt, der gelöst werden muss – sehr für Schüler_innen geeignet, um sich wertend mit ihnen auseinanderzusetzen. Hier steigert der im spannenden Erzählverlauf eingeflochtene Wert der Vergebungsbereitschaft die Vorstellung von Josef als weisem Handlungsträger, da Weisheit in der weisheitlichen Literatur Leben erhalten und fort von freudlosen und konfliktreichen Lebenswegen führen soll (vgl. Fox 2000, S. 4). Es lässt sich mit Schüler_innen diskutieren, inwiefern sie diesen Wert auf Konfliktsituationen in ihrem eigenen Leben anwenden können und wollen. Es stellt sich die Frage, ob dieser Wert klassisch und vielleicht auch als wünschenswert verbleibt oder für die zukünftige Welt- und Lebensgestaltung herangezogen wird. In den großen Weltreligionen ist Vergebungsbereitschaft in Verbindung zur Gottes- und Nächstenliebe eine der zentralen Anforderungen an den Menschen und eine Grundkonstante ethischer Orientierung für Gläubige. Sie bezeichnet eine klassische Vorstellung von ethisch erwünschtem Verhalten sowie eine gegenwartsbezogene und zugleich zukunftsweisende Wertvorstellung. Auch dies ist im Unterricht zu beachten. Ein weiterer Wert, der sich dem Ethical Turn gemäß in der Josefsgeschichte erzählend konstituiert und anhand der virulenten Debatten in Europa durch die Flucht- und Immigrationsbewegungen mit Schüler_innen diskutiert werden sollte, ist der hier geforderte Wert der Fremdenliebe.17 Dies wird im Folgenden ausgeführt.
4.3
Die Josefsgeschichte als Spiegelungsfolie für gegenwärtige ethische Positionen zu Fremdheit und Integration
Auch wenn es sich um eine nicht-fokalisierte Erzählung handelt, thematisiert die Josefsgeschichte durchgängig das Geschick und Ergehen von Josef und seiner Familie als Immigrant_innen, sodass Schüler_innen die Möglichkeit erhalten, diese Perspektive von menschlichem Erleben kennenzulernen, die ihnen im Klassenverband durch eigene Immigrationserfahrungen entweder vertraut oder wiederum fremd erscheinen werden. In diesem Zusammenhang kann die Lebensgeschichte von Josef und seiner Familie im Literaturunterricht als Spiegelungsfolie dienen, um eigene ethische Standpunkte und Positionen zu hinterfragen und zu entwickeln und auf das gegenwärtige Zeitgeschehen zu übertragen 17 Er steht als Gebot in Lev 19, 18. 33f. (und Dtn 10, 18f.) in direkter Nähe zum dreifachen Liebesgebot (vgl. Lev 19, 18 und Dtn 6, 4f.), Gott, den Nächsten und die Nächste und sich selbst zu lieben, und besitzt damit eine hohe Bedeutung für die christliche Religion.
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(vgl. Mendl 2013, S. 269). Dies wird am Beispiel der folgenden Bemerkung von Potifars Frau erläutert: Und sie rief die Diener ihres Hauses und sagte zu ihnen: Seht, brachte er nicht zu uns einen hebräischen Mann, um über uns zu lachen? Er kam zu mir, um mit mir zu schlafen, aber ich schrie mit lauter Stimme. [Übersetzung der Autorin, A. S.] (Gen 39, 14)
Durch die Aussage von Potifars Frau werden in dieser Textstelle Vorurteile gegenüber Männern geschürt, die aus anderen Ländern und Kulturen nach Ägypten gekommen sind. Darüber kann mit den Schüler_innen eine Diskussion entstehen und geführt werden. Dabei ist zu untersuchen, welche Vorurteile den Schüler_innen gegenwärtig gegenüber Männern und Frauen aus anderen Ländern begegnen, die nun in Deutschland leben. Es geht mir nicht um eine Verzweckung der literarischen Novelle im Sinne von sozial und ethisch erwünschten Schüler_innenantworten, sondern um die affektive Aneignung, sich empathisch in die Perspektive von Immigrant_innen hineinzuversetzen, sowie darum, die Kompetenz des Bewertens und Urteilens zu fördern. In dieser Auseinandersetzung kann ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, dass Pauschalisierungen und ein Generalverdacht Vorurteile gegenüber Immigrant_innen enthalten, wie sie hierzulande gerade in sozialen Netzwerken und auf Demonstrationen verhandelt werden. Darüber hinaus können Pauschalisierungen in dieser Diskussion als unzulänglich bzw. sogar als verleumderisch reflektiert werden, wie es in ähnlicher Weise die Behauptung von Potifars Frau aufzeigt. Es können ggf. thematisch über Medien u. a. die Vorfälle vom 31. 12. 2015 am Kölner Hauptbahnhof als ›Kristallisationspunkt der Diskussion‹ aufgegriffen werden, die keinesfalls zu beschönigen sind, die aber wie im Fall von Potifars Frau je nach politischem Standpunkt des Mediums und von Personen dafür genutzt werden, um eine Korrelation zwischen fremder Kultur bzw. Herkunft und sexualisierter Gewalt besonders gegenüber Frauen herzustellen. Auch dass übergriffiges und kriminelles Verhalten überhaupt mit Josefs fremder Herkunft in Verbindung gebracht wird – Potifars Frau hätte ihn stattdessen in ihrer Formulierung beim Namen nennen und persönlich verantwortlich machen können – ist ein geeigneter Anknüpfungspunkt, um solche Generalisierungen mit Schüler_innen rassismuskritisch zu hinterfragen. Daran anschließend können auch ›Gender-Konzepte‹ in Gesellschaften hinterfragt werden; die Frau Potifars als weibliche Identifikationsfigur tritt nur hier auf und verkörpert den Prototyp der verführerischen und listigen femme fatale. Zumindest werden ihr keine individuellen Charakterzüge zugeordnet. Sie ist eine Randfigur in der Novelle und wird ausschließlich als Antiheldin in der einen Episode der Erzählung (vgl. Gen 39) erwähnt. Ich möchte abschließend eine weitere Stelle der Novelle besprechen, welche Belange entfaltet, die insbesondere ethisch zu diskutieren sind, nämlich die In-
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thronisationsszene Josefs in Gen 41, 40–46. Sie beschreibt den regierenden Pharao, der Josef einerseits wohlwollend ermächtigt, aber andererseits Josefs fremde Herkunft und Kultur nicht integriert, sondern ihm einen ägyptisch klingenden Namen gibt und ihn mit einer ägyptischen und damit andersgläubigen Frau verheiratet. Der Name bedeutet aber immerhin ehrenvoll: »Gott spricht: Er möge leben!« (Gen 41, 45) und die Eheschließung mit der Tochter eines angesehenen ägyptischen Priesters unterstreicht den sozialen Aufstieg von Josef (vgl. Lux 2014, S. 140). Hier ist dennoch nicht von wirklicher Integration innerhalb einer Gesellschaft zu sprechen. Im Sinne einer performativen Didaktik kann diese Szene nachgespielt und aus den verschiedenen Rollenperspektiven heraus besprochen werden, um sich mit Schüler_innen empathisch die sich daraus ergebende ethische Problematik anzueignen. Die Josefsgeschichte kann als erzählende Spiegelungsfolie auf die gegenwärtige Situation übertragen werden, bei der durch Flucht- und Immigrationsbewegungen sehr differente ethische Positionen entstehen, welche zwischen Abschottung, Assimilation oder Integration bzw. Inklusion changieren. Gemäß dem Ethical Turn in den Literaturwissenschaften eignet sich gerade Literatur durch ihre Rezeptionsoffenheit, um hieran die Kompetenz eigenständigen Bewertens und Urteilens im Hinblick auf ethische Positionen, Werte und Vorstellungen zu stärken. Dies verhält sich ähnlich in der alttestamentlichen Weisheitslehre, die ebenfalls verantwortetes Handeln im Leben stärken möchte und dafür keine direkten Handlungsanweisungen vorgibt (vgl. hierzu Jeremias 2015, S. 46). Die Josefsgeschichte bietet sich für Schüler_innen demnach insgesamt in ihrer poetischen Qualität als Novelle und weisheitliche Lehrerzählung an, um ethische Positionen und Konzepte kennen, wahrnehmen, aneignen oder hinterfragen zu lernen.
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Werteerziehung im Sinne der Aufklärung: Lessings Nathan der Weise im Deutschunterricht
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Interkulturalität, Werteerziehung und Deutschunterricht: Zu den Eckpunkten eines Spannungsfelds
Das sich durch Migrationsbewegungen verstärkende Nebeneinander von Werteund Normensystemen unterschiedlicher Kulturkreise in Deutschland lässt auch den Sozialisationsraum ›Schule‹ immer mehr zum kulturellen Begegnungsfeld werden. Gegensätze zeigen sich in unterschiedlichen, den Alltag der Menschen bestimmenden Wertvorstellungen und hieraus abgeleiteten, nicht selten religiös motivierten Normen.1 Die Parallelität miteinander um Deutungshoheit konkurrierender Systeme führt schließlich auch bei Jugendlichen zu Unsicherheiten im Umgang miteinander, die sich mitunter in offen oder verdeckt ausgetragenen Konflikten entladen können (vgl. etwa Kreft 1986, S. 214).2 Dem Deutschunterricht als interdisziplinärem Schnittfeld vieler Unterrichtsfächer kommt mit der Behandlung textinternen kulturellen Wissens neben der Vermittlung der deutschen Sprache eine wegweisende Rolle bei der bewussten Auseinandersetzung mit ›dem Fremden‹ zu. Zusätzlich sieht der pädagogische Auftrag der Lehrkräfte im schulischen Kontext aber vor, den Heranwachsenden eine gemeinsame Orientierungshilfe für ein konstruktives Miteinander jenseits kulturspezifischer Verbindlichkeiten zu bieten, was mithilfe des Literaturunterrichts sinnvoll erreicht werden kann und worauf die folgenden Überlegungen fußen.3 Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf kulturellen Un-
1 Zur Identifizierung vieler junger muslimischer Migranten mit dem ursprünglichen Herkunftsraum der Familien vgl. Bernlochner 2013, S. 201: »Mehr muslimische als nichtmuslimische Schüler(innen) geben in Untersuchungen an, sich dem Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern mehr verbunden zu fühlen als dem Land ihrer Geburt: Deutschland.« 2 Zum Spannungsverhältnis zwischen westlichen und muslimischen Wertediskursen vgl. Krämer 2005, S. 469f. 3 Zur Bedeutung des Literaturunterrichts für die moralische Entwicklung der Schüler_innen vgl. etwa Kreft 1986, S. 212.
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terschieden, sondern darauf, dass sich alle Seiten auf ein gemeinsames ethisches Fundament besinnen. Anhand der Wertereflexion nach Volker Ladenthin lässt sich das didaktische Potenzial einer solchen Herangehensweise an Texten veranschaulichen. Zunächst reklamiert Literatur für sich selbst eine interpretatorisch zu erfassende »ästhetische Dimension« (Ladenthin 1989, S. 48), deren Merkmale nicht zwangsläufig an einen Kulturraum gebunden sind. Deutsche Literatur enthält beispielsweise nicht nur motivische Besonderheiten ihres Herkunftsraums; vielmehr erweisen sich vermeintlich regionale literarische Motive und Handlungsstrukturen nicht selten als global rekurrent, eine Tatsache, die schablonenhaften Typisierungen des ›Eigenen‹ sowie des ›Fremden‹ entgegenwirken könnte. Daneben vermag das literarische Wort auf einer reflexiven Metaebene kulturübergreifende Werte und Normen theoretisierend zu vermitteln (vgl. ebd., S. 47), indem bewusst über Werte gesprochen und bei den Schüler_innen das Bewusstsein für ihre Bedeutung geschärft wird. Schließlich führt das Einfühlen der Rezipient_innen in eine Figurenrolle auf der konkreten literarischen Handlungsebene unweigerlich zur Auseinandersetzung mit fremden Standpunkten und dem Überdenken eigener und anderer Meinungen (vgl. ebd., S. 46), die sich durch dieses ›Rollenspiel‹ möglicherweise relativieren.4 Insgesamt erhält die Literatur dadurch, dass sie Schüler_innen die Existenz und Notwendigkeit kulturübergreifender Werte vor Augen führt, eine wichtige didaktische Funktion für theoretisches Probehandeln (vgl. Knödler-Pasch 2007, S. 159f.), die die Ausbildung eines überindividuellen Wertebewusstseins fördert: Da ich aber für mich immer das Gute will […] will ich, da ich zugleich der andere bin, insofern, als wir beide Menschen sind, […] zugleich das Gute für den anderen. […] Die Fähigkeit zum Mitleiden ist demnach die denknotwendige Voraussetzung guten Wollens. (Ladenthin 1990, S. 30)
Die Notwendigkeit, kulturübergreifende Konventionen als Basis sozialen Zusammenlebens zu vermitteln, sorgt jenseits kultureller Differenzen für die Erkenntnis eines notwendigen ›gemeinsamen Nenners‹. So propagiert Gerald Fischer etwa einen »Wertepluralismus« als Schnittmenge unterschiedlichster Kulturkreise, der auf der »Akzeptanz gegenüber anderen Kulturen und Werten« (2012, S. 154) beruhe. Hierzu gehörten insbesondere »Grundwerte« wie die »Achtung der Menschenwürde«, die »Vorurteilsfreiheit« sowie die »Kooperati4 Nach Spinner ist »Literatur […] nicht nur ein Medium der Selbsterkundung, sondern des Fremdverstehens. Lesend imaginiert man andere Umwelten, vollzieht Gefühle und Gedanken von Figuren nach und übersteigt so den eigenen Erfahrungshorizont. […] Die ethische Dimension ist bei einem solchen Verständnis also dem literarischen Verstehen inhärent« (2004, S. 105f.).
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ons- und Kommunikationsfähigkeit in interkulturell bedeutsamen Situationen« (ebd., S. 155). Wenngleich der Erfolg einer solchen Werteerziehung (noch) nicht (immer) empirisch greifbar ist, so lassen sich Parameter wie ›Toleranz‹ und ›Wertschätzung‹ ebenso wie eine Veränderung von Einstellungen durch Kulturkontakte prinzipiell ›messen‹,5 woraus implizit auf eine Veränderbarkeit von Meinungen und Positionen über Interventionsmaßnahmen geschlossen werden kann. So zieht beispielsweise Anna Klein aus ihrer Studie den Rückschluss, dass »das Hineinversetzen in den anderen und die emotionale Anteilnahme zentral [sind]« (2014, S. 198), um Vorurteile abbauen zu können. Blickt man auf die empirischen Studien zur moralischen Motivation und zu den Ziviltugenden Jugendlicher, so zeigt sich hier bereits ein rudimentäres Toleranzverständnis gegenüber Angehörigen fremder Kulturen: »[K]napp drei Viertel sind Ausländern gegenüber neutral oder positiv eingestellt […] zwei Drittel haben im Prinzip ein achtungsbasiertes Toleranzverständnis entwickelt, das bloße Duldung übersteigt.« (Nunner-Winkler 2006, S. 218f.)6 Dabei sind sich viele Jugendliche der Tatsache bewusst, dass moralisches Handeln zwar klar definiert, aber nicht immer leicht zu vollziehen ist: So gut wie alle Befragten wissen um die Verbindlichkeit basaler moralischer Normen und die allermeisten kennen Situationen, in denen die Frage nach Recht und Unrecht klar entscheidbar ist. Gleichwohl finden sich auch Anzeichen relativistischen Denkens. […] [D]rei Viertel kennen Situationen, in denen zwischen Recht und Unrecht nicht klar entscheidbar [sic!] ist. (Ebd., S. 219)
Dem Deutschunterricht obliegt es nun, die in den Schüler_innen grundsätzlich angelegten Werthaltungen zu verstärken und bei Prozessen der Entscheidungsfindung unterstützend zu wirken. Mit der Wahl eines deutschen ›Klassikers‹ im Deutschunterricht lassen sich die genannten Funktionsweisen konkretisieren.
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Der Text als (didaktischer) Wert: Lessings ›Ringparabel‹ im Referenzrahmen ›Aufklärung‹
Als sinnvoll erweist sich die Entscheidung für einen Text der Aufklärung insofern, als er auf einer poetologischen Metaebene schon zeitgenössisch einen didaktischen Anspruch vertritt, also belehren will. Insbesondere Lessing propagierte die Notwendigkeit des Mitleidens mit den Protagonist_innen und die 5 Vgl. zur empirischen Nachweisbarkeit von Werten Lind 2000, Schmidt 2010, Klein 2014 oder Würtz 2014. 6 Befragt wurden 200 16-jährige west- und ostdeutsche Jugendliche aller Schulformen (vgl. Nunner-Winkler 2006, S. 24).
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Furchtempfindung davor, ein ähnliches Schicksal zu erfahren wie die Figuren, um so zur moralischen Läuterung zu gelangen (vgl. Ladenthin 1989, S. 117). Im Drama der Aufklärung wird auf diese Art der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen zur ›Vernunft‹ offenbar. Die Literatur dieser Epoche erweist sich per se als pädagogisch ›wertvoll‹, weil »Lektüre und Erziehung in diesem Lessingschen Idealsinn nahezu eins werden« (Müller Nielaba 2000, S. 32). Möglicherweise ist auch dies als Grund dafür anzusehen, weshalb in den Lehrplänen vieler Bundesländer Nathan der Weise als Pflicht- oder Wahllektüre vorgesehen ist.7 Dabei steht diese Auswahl nicht zufällig in der Tradition eines Jahrhunderte übergreifenden schulischen Lektürekanons, der Lessings Drama offenkundig einen hohen literarischen wie ethischen (Stellen-)Wert zuweist (vgl. Gansel/Siwczyk 2009 oder Schramm 2017, S. 175–178). Im Mittelpunkt des Stücks scheint die von Peter Bekes propagierte Notwendigkeit der »überzeitlichen Geltung« einer »ethischen Dignität klassischer Texte« auf, die die »Fundamentalkategorien der Bestimmung des Menschen und des menschlichen Zusammenlebens« (Bekes 2009, S. 6) festlege. Anschlussfähig ist dieses Wissen insbesondere im Hinblick auf die Titelfigur des Nathan, der trotz seines eigenen schweren Schicksals Grundmaximen eines Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit vermittelt. Obwohl dieses Differenzkriterium die Spannungen zwischen den Figuren verursacht, lässt es sich ebenso gut durch die individuellen Wertvorstellungen einer Einzelperson ersetzen,8 weshalb auch für den Fall, dass die Schüler_innen sich als religiös indifferent oder atheistisch zu erkennen geben, eine Anbindung an ihre Lebenswelt gewährleistet ist. Auch der ästhetische Wert des Textes kann von den Schüler_innen gewürdigt werden, wenn einige Aspekte im Vorfeld Berücksichtigung finden. Allgemein ist die Behandlung des Textes in der Sekundarstufe II vorgesehen; eine Interpretation zu einem früheren Zeitpunkt erscheint angesichts der Komplexität seiner Inhalte kaum empfehlenswert. Da das Drama durch den epochenspezifischen Sprachduktus ein hohes Maß an passiver Sprachkenntnis voraussetzt, lässt es sich kaum zur Gänze in Klassen mit hohem Migrationsanteil behandeln. Stattdessen könnte eine Textpassage mit für die Handlung besonders repräsentativem Anspruch ausgekoppelt und für die Phase der ersten Literaturbegegnung genutzt werden. Die ›Ringparabel‹ ver7 Vgl. hierzu die im Internet abrufbaren (Deutsch-, Ethik-, Religions-)Lehrpläne der einzelnen Bundesländer. Die heutige Omnipräsenz des Nathan ist auch insofern aus ethischen Gesichtspunkten besonders bemerkenswert, als der Text während des Nationalsozialismus aus dem deutschen Lehrplan getilgt und erst in der Nachkriegszeit wieder in die Ländercurricula eingefügt wurde. 8 Vgl. zu der in der ›Ringparabel‹ angedeuteten »bloßen Zeichenhaftigkeit von Religion« plausibel Kiefer 2006/2007, S. 325 oder Kougblenou 2010, S. 79.
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dichtet die im gesamten Drama verhandelten Wertehierarchien und ihre Kollisionen in überschaubarem, unterrichtsrelevantem Umfang und bietet eine sinnvolle Arbeitsgrundlage. Der in Blankversen gehaltene Text ist zudem in vielerlei vereinfachten Nacherzählungen erhältlich, die durch ergänzende Bilder auch jenseits transkultureller Überlegungen einen niedrigschwelligen Zugang zur Thematik für heterogene Lerngruppen ermöglichen.9 Insbesondere der Orient weist eine ausgeprägte Erzähltradition auf und die in der Parabel verwendeten Tropen mögen manche Schüler_innen mit Migrationshintergrund an den bildhaften Charakter dort angesiedelter Märchen erinnern. Zusätzlich kann die Lehrkraft davon ausgehen, dass sich Schüler_innen kulturübergreifende Sprachbilder leichter erschließen als kulturraumgebundene. Insbesondere im vorliegenden Fall sollte daraus Nutzen gezogen werden, denn »ring- oder ringanaloge Geschichten hat es auch ausserhalb [sic!] Europas gegeben – im Kulturraum des Islam. Hier finden sich sogar die ältesten Texte von der Toleranz der Religionen« (Kuschel 2009, S. 5).10 Die Erkenntnis, dass sich Handlungs- wie Motiv- und Symbolstrukturen der deutschen Literatur nicht selten aus dem Reservoir anderer Kulturräume speisen und damit eigentlich ›fremden‹ Ursprungs sind (und umgekehrt), ist ebenso ein erstrebenswertes Lernziel wie die Information, dass die ›Ringparabel‹ auf muslimischen, christlichen und jüdischen Überlieferungswegen basiert (vgl. Mecklenburg 2008, S. 319–339) und damit religionsübergreifende Wurzeln vorweisen kann. Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten sind die Schüler_innen in der Lage, ein Bewusstsein für die räumliche wie zeitliche Übertragbarkeit von Werten zu entwickeln. So lässt sich mit Norbert Mecklenburg resümieren: »Literarische Universalien können interkulturelles Verstehen nicht garantieren, sie können es aber nachhaltig fördern« (ebd., S. 212). Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich nun mit der Frage, welcher Kompetenzerwerb auf der literarischen Handlungsebene möglich ist.
9 Vgl. etwa Bollinger 2004 oder Pressler 2011. 10 Kuschel führt etwa das ›Gleichnis von einer Perle‹ an, das eine Variation der ›Ringparabel‹ mit der gleichen Botschaft darstellt: »Der rechte Glaube ist wie eine wertvolle Perle, die jeder zu besitzen meint, deren Echtheit aber erst im Jenseits erkannt wird, im Diesseits höchstens durch eine Andeutung der guten Werke.« (2009, S. 5f.)
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Textinterne Lösungsstrategien und ästhetische Werteerziehung in der ›Ringparabel‹
Die Parabel operiert mit einer Reihe literarischer Tropen, die zusammen mit den Schüler_innen dechiffriert werden müssen, um zentrale Textaussagen zu erfassen. Der ästhetische Wert des Textes, seine »Anschaulichkeit, Unterhaltsamkeit und Problemhaltigkeit« (Ladenthin 1989, S. 48) lassen sich so mit der moralischen Werteerziehung verbinden. Die Ausgangssituation ist geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen dem Erblasser, seinem Wunschobjekt, dem zu vererbenden Ring, und der Nachkommenschaft, den drei Söhnen, die die Festlegung eines einzigen rechtmäßigen Erben unmöglich machen. Bildhaft schlägt sich schon im Familiengedanken die Vorstellung eines topographisch gemeinsamen Ursprungs aller Religionen »in Osten« (V. 1911)11 und die enge Verwandtschaft unterschiedlicher Religionen (und Kulturen) nieder. Der Vater und seine Nachkommen lassen sich als Metaphern für Gott und die unterschiedlichen Weltreligionen lesen, aber auch für die Nationen und Kulturen, denen er das Leben geschenkt hat (vgl. Wölke 2015, S. 70), eine Bedeutungsebene, die es zusammen mit den Schüler_innen zu entschlüsseln gilt. Der zu vergebende Ring ist als exklusives Dingsymbol für die eine wahre Religion anzusehen. Das kostbare Objekt dient als Zeichen, das nach außen hin nicht nur den Erb- und religiösen Wahrheitsanspruch dokumentiert, sondern auch dafür sorgt, »vor Gott und Menschen angenehm« zu erscheinen (V. 2016). Diese Bedeutung als »Symbol der Bindung, Ewigkeit und Vollendung, des materiellen Reichtums sowie der Identität, Macht und Autorität« (Vogelgsang 2008, S. 298) gilt es zusammen mit den Schüler_innen zu erarbeiten. Ausgehend von dieser Interpretation versinnbildlicht der Ring zugleich die Absolutheit persönlicher, nicht zwingend kulturspezifischer Werte. Insbesondere ist dabei zu berücksichtigen, dass die absoluten materiellen Eigenschaften des Wertgegenstands durch die ideellen Zuschreibungen persönlicher Wertvorstellungen relativiert werden. Denn in das Schmuckstück eingelassen ist ein undurchsichtiger Opal, »der hundert schöne Farben spielte« (V. 1914) und dadurch von außen kommende Umwelteindrücke reflektiert. Unschwer ist der Stein als Projektionsfläche für die Träume und Wünsche der Menschen anzusehen, als individuell zu füllendes Wertekonstrukt unterschiedlicher Weltreligionen (vgl. V. 1974f.). Seine irisierenden Farben setzen somit die Subjektgebundenheit jeglicher Werteund Normenkonzepte anschaulich um.
11 Lessings Nathan der Weise wird im Folgenden zitiert unter Angabe der betreffenden Verse nach der in der Schule üblicherweise verwendeten Reclam-Ausgabe (2017).
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Indem der Vater zwei weitere gleichaussehende Ringe anfertigen lässt (vgl. V. 1945–1950) und allen Söhnen jeweils einen hinterlässt, will er jedoch die Wunschobjekte »voneinander ununterscheidbar machen« (Wölke 2015, S. 70), um einen Streit zwischen seinen Nachkommen zu verhindern. Hierin zeigt sich die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Kulturräume ebenso wie die Gleichrangigkeit der den Menschen zugeschriebenen Werte. Dennoch kommt es nach dem Tod des Vaters zum Konflikt zwischen den Brüdern (vgl. V. 1959ff.), die jeder für sich die Echtheit ›ihres‹ Ringes und damit die Authentizität des Glaubens beanspruchen, eine Metapher für die »Geschichte der Religionskriege« (Wölke 2015, S. 70). Diese Sichtweise mag sich den Schüler_innen nicht unmittelbar erschließen, handelt es sich hier doch um eine Vorstellung, die nur bei vollständiger Textlektüre nachvollzogen werden kann. Wohl aber können sie im Konflikt eine Auseinandersetzung um die Deutungshoheit in Wertediskussionen erkennen. Diese müssen erneut nicht zwangsläufig kulturgebunden erscheinen, sondern können zugleich zur Abwägung privater Entscheidungen dienen. Die Lehrkraft sollte deshalb die Relevanz dieses ›Streitobjekts‹ zur Disposition stellen und fragen, inwiefern in der Angelegenheit angesichts der Identität der Ringe überhaupt ein Urteil gesprochen werden kann. Das angerufene Schiedsgericht führt in Nathans Geschichte keine endgültige Lösung herbei. Stattdessen fordert der Richter die zerstrittenen Brüder auf, miteinander in moralischem Verhalten zu konkurrieren, um so auf indirekte Art und Weise die Echtheit des Rings unter Beweis zu stellen: ›Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe jeder von euch um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun / Mit innigster Ergebenheit in Gott / Zu Hülf!‹ (V. 2041–2048).
Dieser »Appell an die Religionsgemeinschaften, durch gutes Handeln die Wahrheit ihres Glaubens zu erweisen« (Wölke 2015, S. 70), muss als wesentliches Erkenntnisziel herausgearbeitet werden. Gleichzeitig ist diese Aufforderung auf der persönlichen Ebene als vorweggenommener ›kategorischer Imperativ‹ im Sinne Kants zu verstehen, der zu einem respektvollen Miteinander jenseits kultureller Zuschreibungen aufruft. Im Anschluss ließe sich gemeinsam ein konkreter Werte- und Normenkatalog für die Gegenwart erarbeiten, der in der heutigen Gesellschaft Geltung haben könnte. Dabei implizieren Nathans Aussagen durchaus ein Konkurrenzdenken zwischen den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften mit dem Ziel, das vorbildlichste Verhalten an den Tag zu legen (vgl. Hermes 2010, S. 139). Dieser Wettbewerbsgedanke findet sich aber auch auf der ökonomischen Ebene wieder, wenn »die Brüder [sich] mit Eifer und Zielstrebigkeit ausstechen – sodass insgesamt der maximale Beitrag zur Vermehrung des Guten in der Welt geleistet
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wird« (ebd.). Dass »der Kapitalakkumulation ein moralisch vorbildliches Verhalten gegenüber anderen Kulturen vorausgeht« (ebd., S. 140), ist eine These, die gemeinsam mit den Schüler_innen diskutiert werden sollte, sind doch kulturelle wie religiöse Konflikte nicht selten zusätzlich durch ein ökonomisches Ungleichgewicht motiviert. Will man zumindest einen Teil der komplexen Gesamthandlung in die didaktische Reflexion miteinbeziehen, so ergibt sich für die Schüler_innen die Möglichkeit, eine Perspektive zu übernehmen oder »aus einer distanzierten Position« (Ladenthin 1989, S. 47, im Original kursiviert) über das Figurenverhalten nachzudenken. Die spezifische Kommunikationssituation, in die Nathans Geschichte eingebettet ist, muss hierbei Berücksichtigung finden.
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Dilemmata, Stereotypen und textinterne Lösungsstrategien in der ›Ringparabel‹
Die zur ›Ringparabel‹ gehörige Rahmenhandlung erweist sich für Nathan als heikel. Die Denkprozesse, die er durchlaufen muss, um sich im interkulturellen Handlungsraum Jerusalem ›richtig‹ verhalten zu können, knüpfen zusätzlich an die Lebenswelt der Schüler_innen an, denn das heutige Leben in Gemeinschaften setzt ebenso den Umgang mit (eigenen und fremden) Vorurteilen, Werteabwägung und einen das Gegenüber respektierenden Handlungsstil voraus. Bei Lessing ist es das Setting Jerusalem, dessen spannungsvolles Nebeneinander unterschiedlicher Religionen zu militärischen Auseinandersetzungen führt. Weil Sultan Saladin für seinen Kampf gegen die Kreuzfahrer im ›Heiligen Land‹ Geld benötigt, wendet er sich an den reichen Nathan. Da er davon ausgeht, dass der Jude einem Muslim nicht freiwillig mit Geld aushilft, stellt er ihm eine »Falle« (Patzer 2001, S. 52), indem er ihn nach der einzig wahren Religion fragt (vgl. hierzu ebd.). Die Schüler_innen entwickeln möglicherweise bereits zu diesem Zeitpunkt ein Gespür für die gesetzten Stereotypen vom Reichtum des Juden sowie der Gewaltbereitschaft des Muslims und problematisieren im Vorfeld die starren Rollenzuweisungen, die überhaupt erst die schwierige Ausgangssituation schaffen. Nathan empfindet Saladins Vorgehen als heimtückisch (vgl. V. 1875), denn eine klare Antwort zu geben würde sein Verderben bedeuten. So kann er seine eigene Religionszugehörigkeit, das Judentum, nicht nennen, weil er damit Saladin brüskieren würde. Desgleichen verbietet es sich für ihn, den Islam oder das Christentum anzuführen, da Nathan damit seine eigene Religion in Frage stellen würde (vgl. V. 1884ff.). Eine klassische Dilemmasituation deutet sich an, für welche den Schüler_innen noch vor der gemeinsamen Textlektüre die Suche nach geeigneten Lösungen aufgegeben werden kann. Methodisch geht dieses
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Vorgehen zurück auf Kaspar H. Spinner, der bei der Moralerziehung im Literaturunterricht für die Anwendung dieser entwicklungspsychologischen Vorgehensweise plädiert:12 »Im Gegensatz zu den moralischen Geschichten […] führen die Dilemmasituationen nicht zu moralischen Lehrsätzen, die übernommen werden sollen, sondern halten dazu an, daß Leser bzw. Hörer selbst in eine Argumentation eintreten.« (Spinner 1989, S. 16)
Spinners Vorschlag besteht nun darin, dass sich die Schüler_innen zu einer Textstelle, an der von einer Figur eine konkrete Entscheidung gefordert wird, überlegen, welche Gedanken ihr durch den Kopf gehen könnten (vgl. Spinner 2004, S. 108). Indem sie reflektieren, welche Antwort Nathan geben soll, ohne sein Gesicht zu verlieren, müssen sie seine Perspektive übernehmen. Wichtig ist hierbei die Situationsgebundenheit der Schüler_innenentscheidung. So soll es nicht darum gehen, einen religiösen Disput vom Zaun zu brechen, der es erforderlich macht, sich zu einer Weltreligion zu bekennen oder sich von Fragen der Religionszugehörigkeit allgemein zu distanzieren. Stattdessen müssen sie sich in Nathan hineinversetzen und erfassen, dass aus seiner Perspektive die ›richtige‹ Antwort zu geben nahezu unmöglich ist. Mit dieser Erkenntnis lässt sich sowohl die Lösung der Parabel als auch die des Dramas vorwegnehmen oder eine diesbezügliche Erwartungshaltung aufbauen. Dieses Verfahren ist nun noch auf weitere Dilemmasituationen anwendbar. Auf der intradiegetischen Ebene der Parabel können Konfliktlösungsstrategien der Brüder angesichts der Gleichartigkeit der Erbstücke erörtert werden. Auch das Urteil des Richters verdient eine ausführliche Behandlung. Fortführen lässt sich die Perspektivenübernahme am Ende der Parabel, wenn es gilt, die möglichen Reaktionen des Sultans nach der Interpretation der ›Ringparabel‹ gegeneinander abzuwägen. Mithilfe der moralischen Stufen nach Lawrence Kohlberg kann die Lehrkraft zusätzlich den Entwicklungsstand der Schüler_innen im Literaturunterricht feststellen, eine wichtige Erkenntnis, die für weitere Textanalysen von großer Bedeutung sein dürfte, um den maximal möglichen Kompetenzerwerb abschätzen zu können. Während die »instrumentell-relativistische« Stufe von »Bestrafung und Gehorsam« ausgeht, beruht die »postkonventionelle« Ebene auf einer »Orientierung an sozialen Vereinbarungen« mit »allgemeingültigen ethischen Prinzipien« (Spinner 1989, S. 15). Je nach Alters- und Reifegrad der Schüler_innen werden die Heranwachsenden sich unterschiedlich entscheiden. Schüler_innen argumentieren dann auf einer instrumentell-relativistischen Ebene, wenn Nathan der Frage aus Angst vor Strafe ausweichen soll und stattdessen Saladins eigentlichem An12 Vgl. zu dieser Vorstellung auch Kreft 1986, S. 216.
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sinnen, der Geldforderung, unmittelbar nachkommt. Saladin wiederum hätte auf die ›Ringparabel‹ wütend reagieren und Nathan für seine ablenkende Antwort strafen können. Stattdessen erweisen sich die tatsächlichen Verhaltensweisen beider Figuren im Text als »postkonventionell« (Spinner 1989, S. 15); sie beruhen auf einer Denkweise, deren Nachvollzug erst jungen Erwachsenen zugetraut werden kann.13 Die Figuren entscheiden sich letztlich für die Aufrechterhaltung ethischer Werte, ein Umstand, der – sofern die Schüler_innen selbst (noch) nicht argumentativ dazu fähig sind – nach der Lektüre gemeinsam reflektiert werden sollte. Mit seiner Antwort verweigert sich Nathan nämlich Saladins simplifizierender Logik aus Befehl und Gehorsam und nimmt dennoch selbstbewusst Stellung zu dessen Frage. Gleichzeitig deutet er aber die Irrelevanz dieser Frage auf Erden an, da es dem Menschen nicht zukommt, über die Wahrheit zu entscheiden. Indem Nathan eine friedliche Existenz der Weltreligionen postuliert,14 »erzieht« er Saladin (Kougblenou 2010, S. 91). Dieser reagiert beschämt und bittet Nathan um dessen Freundschaft (vgl. V. 2060). Der weise Jude muss ihn schließlich noch an den Anlass des Treffens erinnern (vgl. V. 2061f.), ein Hinweis darauf, dass der Sultan, gereift und geläutert, vom ursprünglichen Vorhaben, den Feind in die Falle zu locken, abgelassen hat. Schließlich bietet Nathan von sich aus an, Saladin Geld zu schenken (vgl. V. 2071ff.), was den Sultan aus seiner misslichen Lage befreit. Gleichzeitig aber dient die Parabel nicht einer konsequenten Demütigung Saladins, denn erstmals wird eine Ring-Geschichte christlicherseits projüdisch und proislamisch weitererzählt. Denn gut steht in der Geschichte nicht nur der Jude da, der sich ›geschickt‹ aus der Affäre zu ziehen weiss [sic!]. Gut steht auch der Muslim da. Er ist fähig, seine anfangs gehegte Geldgier zurückzustellen und sich durch die Klugheit des Juden mäßigen zu lassen. (Kuschel 2009, S. 9f.)
Neben der postulierten Ebenbürtigkeit der Religionen negiert Nathan gleichzeitig kulturelle Stereotype, indem er die Zuschreibung von Eigenschaften – die Gewalttätigkeit und Geldgier des Sultans – zurückweist und an die situative Gebundenheit persönlichen Handelns und die Entwicklungsfähigkeit des Menschen glaubt. Damit geht er davon aus, dass Figuren nicht pauschal negativ handeln, sondern sich von der Vernunft situativ lenken lassen und auf ein universales Menschentum besinnen können, auf dessen Basis respektvolles Handeln möglich ist. 13 Zum postkonventionellen Verhalten von Figuren in Nathan der Weise vgl. Kreft 1986, S. 214– 218. 14 Vgl. hierzu Müller Nielaba 2000, S. 229: »Die Erzählung vom ›Ring‹ diskutiert die Möglichkeit einer gewaltlosen Verständigung mündiger Subjekte, innerhalb derer sich oppositionelle Standpunkte nicht in Konfrontation begegnen, sondern in einer Weise ›vernünftig‹ vermittelt werden […].«
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Zusammenfassung: Kulturübergreifender, wertebezogener Kompetenzerwerb in Nathan der Weise
Insgesamt stellt sich die Frage, welche Werte in der Parabel eigentlich vermittelt werden. Häufig findet sich in der Sekundärliteratur die Behauptung, das Stück sei in erster Linie als Plädoyer für Toleranz zu verstehen (vgl. Freimark 1986 und Benedikt 2010). Blickt man auf die vielgestaltigen Toleranzdefinitionen, so lassen sich nach Rainer Forst insbesondere vier Subtypen unterscheiden. Neben einer bloßen »Erlaubnis-Konzeption« (2000, S. 124), die die Existenz des Andersartigen als Gnadenerweis zeitweilig gewährt, diese Gunst aber jederzeit wieder entziehen könne, geht die »Koexistenz-Konzeption« (ebd., S. 125) von einer Art »Waffenstillstand« (ebd., S. 126), einer friedlichen Parallelexistenz zweier Kulturen, aus. Erst bei wechselseitigem Kontakt zwischen zwei kulturellen Systemen entwickele sich die neutrale »Respekt-Konzeption« (ebd., S. 127) oder die sympathisierende, auf wechselseitiger Bereicherung fußende »WertschätzungsKonzeption« (ebd., S. 129). Berücksichtigt man diese Einteilung, so lässt sich für die Kommunikationssituation, in die die ›Ringparabel‹ selbst eingebettet ist, sowie für die bildhafte Erzählung bezüglich des Verhältnisses zwischen den Kulturen von einer »Respekt-Konzeption« ausgehen. »Wertschätzung« bringen sich die Figuren auf einer menschlichen Ebene entgegen. Streng genommen liegt so der Schwerpunkt der ›Ringparabel‹ nicht (nur) auf der Vermittlung interkultureller Toleranz, denn weder die Parabel noch das Drama insgesamt lassen sich auf eine Abwägung zwischen kulturellen Differenzen ein. Stattdessen propagieren sie in erster Linie Vernunftorientierung, Vorurteilsfreiheit und Gerechtigkeit, wie selbst schulische Lektürehilfen herausstellen (vgl. hierzu z. B. Patzer 2001, S. 41, 52) – Werte, die jenseits kultureller Spezifika eine anthropologische Konstante bilden sollten und als einem »dritten Raum« zugehörig zu interpretieren sind.15 Vor diesem Hintergrund kann Nathan der Weise als Teil einer »neuen Weltliteratur« gelesen werden, »die sich weder auf das Nationale festlegen lässt, noch sich in eine vage Universalität verflüchtigt« (Kreutzer 2008, S. 69), ein Beleg für die außergewöhnliche Aktualität dieses Klassikers.16
15 Zur Raumtheorie vgl. Kreutzer 2008 [Stichwort: Homi K. Bhabha], S. 68f. 16 Zum postmodernen Charakter der ›Ringparabel‹ vgl. auch Fick 2016, S. 454.
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Sekundärliteratur Bekes, Peter (2009): ›Warum Klassiker lesen?‹, in: Deutschunterricht 62, H. 2, S. 4–10. Benedikt, Hans-Jürgen (2010): Der Aufklärer. Wie Gotthold Ephraim Lessing die Religionen zur Toleranz ermunterte. Berlin. Bernlochner, Max (2013): Interkulturell-interreligiöse Kompetenz. Positionen und Perspektiven interreligiösen Lernens im Blick auf den Islam. Paderborn. Fick, Monika (2016): Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart. Fischer, Gerald (2012): ›»Wertvolle« Schulen in der Migrationsgesellschaft‹, in: Anselm, Sabine/Geldmacher, Miriam/Hodaie, Nazli et al. (Hg.): Werte – Worte – Welten. Werteerziehung im Deutschunterricht. Hohengehren, S. 149–160. Forst, Rainer (2000): ›Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft‹, in: ders. (Hg.): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend. Frankfurt/Main, S. 119–143. Gansel, Carsten/Siwczyk, Birka (Hg.) (2009): Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen. Hermes, Stefan (2010): ›Reichtum schändet nicht – Interkulturelle Kompetenz und ökonomischer Erfolg in Lessings Nathan der Weise‹, in: Gutjahr, Ortrud (Hg.): ›Nathan der Weise‹ von Gotthold Ephraim Lessing. Würzburg, S. 127–146. Kiefer, Klaus (2006/2007): ›Deutschunterricht und Wert(e)erziehung. Aperҁus und Beispiele‹, in: Nubert, Roxana/Lutz, Johannes (Hg.): Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien. Bukarest 5–6, S. 314–329. Klein, Anna (2014): Toleranz und Vorurteil. Zum Verhältnis von Toleranz und Wertschätzung zu Vorurteilen und Diskriminierung (=promotion, Band 5). Opladen [u. a.]. Knödler-Pasch, Margarete (2007): ,Ethisch-moralische Fragen im Literaturunterricht’, in: Ammicht Quinn, Regina/Badura-Lotter, Gisela/Knödler-Pasch, Margarete et al. (Hg.): Wertloses Wissen? Fachunterricht als Ort theoretischer Reflexion. Bad Heilbrunn. Kougblenou, Komi Kouma (2010): Studien zur Entwicklung der kulturellen Norm »Toleranz«. Die Forderung nach Toleranz gegenüber den Juden in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gründerzeit (=Studien zur deutschen und europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 67). Frankfurt/Main [u. a.].
Werteerziehung im Sinne der Aufklärung
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Julia von Dall’Armi
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Werteerziehung im Literaturunterricht: Arthur Schnitzlers Reigen und die Werte in Geschlechterbeziehungen
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Werteerziehung als Aufgabe des Literaturunterrichtes?
Die literaturdidaktische Theoriebildung hat die Tradition der im 18. Jahrhundert entstandenen moralischen Lebenshilfedidaktik hinter sich gelassen. Das Ziel einer zeitgemäßen Werteerziehung im Rahmen literarischer Bildungsprozesse ist nicht länger der entmündigende Gesinnungsunterricht, der einen Tugendkatalog mittels Geschichten vermittelt, deren vorbildliche Helden zur Nachahmung empfohlen werden und in denen Schurken als abschreckende Beispiele für die Schüler_innen dienen (vgl. Spinner 1989, S. 73f.). Die deutschdidaktische Forschung der letzten Jahre hat angesichts kulturkritischer Stimmen aus Politik und Gesellschaft, die einen Werteverfall beklagen und die Schulen für die Werteerziehung in die Pflicht nehmen, vielmehr herausgestellt, dass »die Gefahr zur Ideologisierung« des Wertbegriffs dann besteht, wenn dessen grundsätzliche Interpretationsoffenheit vergessen oder verschleiert wird. […] Die meisten Wortführer eines Programms schulischer Werteerziehung treten gar nicht für Werteerziehung überhaupt ein, sondern für eine Erziehung nach ihren eigenen Werten. (Anselm 2012a, S. 402–405)
Bei aller berechtigten Kritik (vgl. Spinner 1989, S. 78) an einzelnen Vorannahmen und Folgen von Lawrence Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung (vgl. Oser/Althoff 1992) hat sich mit Blick auf die kognitionspsychologische Theorie des moralischen Urteils die Einsicht durchgesetzt, dass das Antrainieren autoritativer moralischer Lehrsätze – sensu Lebenshilfedidaktik (s. o.) – durch die selbständige Reflexion von Wertefragen im Kohlberg’schen Sinne ersetzt werden müsse. Das zwingend individuelle Entwicklungsziel eines jeden Schülers und jeder Schülerin lautet also, für Werte sensibel zu werden, mündiges Denken einzuüben und angesichts moralischer Dilemmata verantwortliche Entscheidungen für sich selbst und andere treffen und begründen zu können. Es fragt sich indes, inwiefern dies ein Ziel des Literaturunterrichts sein kann und welche Eigenschaften literarische Gegenstände zu geeigneten Lernmedien für dieses An-
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liegen machen? Fiktionale Literatur entwirft mögliche Welten, die unserer ähneln, und ermöglicht damit ein Probehandeln. Sie beinhaltet divergierende Perspektiven, ist mehrdeutig und bedarf der Auslegung: »Die besondere Leistung des Literaturunterrichts liegt im Wechselspiel von Empathie, Perspektivenübernahme und Argumentation.« (Spinner 1989, S. 81) Literatur verwickelt die Lesenden und damit auch die Schüler_innen stets in Wertediskussionen, sodass keineswegs etwas Fremdes von außen an die Texte herangetragen, sondern Ureigenes betrachtet wird, wenn Werte in der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit Literatur problematisiert werden. Für Lehrer_innen bedeutet dies, »dass Werteerziehung nicht nur durch die Ebene der Stoffauswahl, die geeigneten Aufgabenstellungen und die Arbeitsziele verwirklicht wird, sondern dass gerade auch die einzelnen Reaktionen von Lehrerin und Lehrer entscheidend sind« (Anselm 2012b, S. 28). Die besonderen Herausforderungen an die Gestaltung des Unterrichtsgesprächs und die schriftliche Auseinandersetzung mit dem Text lassen sich wie folgt aus der Sachlogik des literarischen Verstehens heraus begründen: Die Einladung zur Autonomie des Urteilens, die literarische Texte oft bereithalten, liegt […] in den spezifischen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten begründet: Literatur liefert in aller Regel keine Lösung moralischer Fragen, sondern delegiert die Problematik an ihre Leser. Ein Literaturunterricht, der gewissermaßen diesen Ball aufnimmt, realisiert auch unterrichtsmethodisch, dass Interpretationen von Texten nicht dekretiert werden können, sondern unter Wahrung […] der Urteilsautonomie der Beteiligten ausgehandelt werden müssen: Es ist nicht die Lehrperson, die die ›richtige‹ Textauslegung liefert, sondern das freie Gespräch, in dem die Horizonte des Textes intersubjektiv verhandelt und ausdifferenziert werden. (Rosebrock/Wirthwein 2014, S. 96f.)
An dieser Stelle lohnt es sich, vermeintlich selbstverständliche Basisannahmen der Literaturtheorie zu rekapitulieren und sie mit literaturdidaktischen Überzeugungen zu verknüpfen: Jeder Zugriff des Menschen auf Realität ist auf Medien angewiesen, das grundlegende Medium des Menschen ist die Sprache, eine spezifische, von jeder anderen unterschiedene Verwendungsweise der Sprache ist die Literatur, denn diese folgt als Symbolsystem ihren eigenen Regeln, bewegt sich pragmatisch in der Sphäre des ›Als-Ob‹ und hat neben anderen Aufgaben auch die, wechselnde kulturelle Sinnbildungsprozesse darzustellen, die Gegenstand der Anschlusskommunikation werden (können). All dies ist nicht ohne die der Literatur eigene spielerische Behandlung von strittigen Wertefragen möglich. Als Alternative zur unerwünschten Indoktrination von Wertvorstellungen gilt nicht nur im Fach Deutsch daher die ethische Kommunikation im Unterricht. […] Denn das Werten kann sich nicht mehr an Werten orientieren, sondern die Werte entstehen beim Werten, so könnte man pointiert formulieren. […] Allerdings sollte das Ziel der Schule aus den genannten Gründen eher darin bestehen, zu einer Wertreflexionskompetenz im Sinne eines kritischen Umgangs mit den Werten zu erziehen. (Anselm 2012a, S. 407–410)
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Ich beginne mit Bemerkungen zur Relevanz des Lerngegenstandes Reigen im Literaturunterricht und begründe meine Lektüreauswahl mit Blick auf fachdidaktische Potenziale der Behandlung des Stückes für die Vermehrung kritischer Wertreflexionskompetenz. Sodann fahre ich fort mit Ausführungen zur literarhistorischen Stellung des Stückes. Anschließend gehe ich auf unterrichtliche Perspektiven anhand der literarischen Interdiskurse ein, an welchen der Text dominant partizipiert. Dies sind die Schnitzler’sche Psychoanalysekritik sowie Konzepte der Sexualpathologie und damit verbundene Geschlechterstereotypen der Jahrhundertwende. Im Folgenden erweitere ich die textimmanente Perspektive auf die literarischen Interdiskurse um eine textüberschreitend-literatursoziologische Betrachtungsweise: Anhand des ›Reigenskandals‹ (vgl. Pfoser et al. 1993, Bd. 1) und der ›Reigenprozesse‹ (vgl. ebd., Bd. 2) soll aufgezeigt werden, wie die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dieses umstrittenen Textes Schüler_innen zu Reflexionen über den Wert der Autonomie der Literatur führen kann.
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Die anhaltende Relevanz des Reigen in Wertediskussionen
Tagebucheinträge zeigen, dass Arthur Schnitzler in drei Wintermonaten zwischen 1896 und 1897 (vgl. Fiedl 1996, S. 25ff.) einen Zyklus von zehn Szenen schreibt, die er als Ein Liebesreigen und später als Reigen bezeichnet (vgl. Rovagnati 2004, S. 19–21). Die Zukunft der Szenenfolge am Theater schätzt der Autor pessimistisch ein. Er schreibt am 07. Januar 1897 an den befreundeten Theaterleiter und Regisseur Otto Brahm: »etwas Unaufführbareres hat es noch nie gegeben« (Schnitzler zitiert nach Seidlin 1975, S. 30). Das Finden eines Verlages hält er ebenfalls für schwierig. Die literarische Qualität seines Dialogdramas taxiert Schnitzler unmittelbar nach der Fertigstellung nicht hoch. In einem Brief an seine Freundin Olga Waissnix vom 26. Februar 1897 räumt er stattdessen die große Aussagekraft des Stücks als kulturgeschichtliche Quelle ein: Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eine Scenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber, nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Theil unsrer Cultur eigentümlich beleuchten würde. (Schnitzler zitiert nach Sprengel 2007, S. 101)
In der Tat gestaltet sich die Veröffentlichung und frühe Spielpraxis des Dramas problematisch. Der Reigen löst einen internationalen Skandal und Strafprozesse aus. Seine spektakuläre Wirkungsgeschichte ist untrennbar mit Debatten um staatliche Zensur, literarische Wertung, Freiheit der Literatur und deren politische Instrumentalisierung verbunden. Dies alles macht das Stück zu einem wertvollen Lerngegenstand in einem literaturgeschichtlich orientierten und
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wertesensiblen Deutschunterricht im Übergang von der Sekundarstufe I zur Oberstufe und in dieser selbst. Längst hat sich in der Wissenschaft ein Konsens darüber gebildet, dass der Reigen entgegen der bescheidenen Einschätzung seines Autors sehr wohl von beachtlichem literarischem Wert ist. Die zehn Dialoge gelten als beispielhaft für die Ästhetik der Wiener Moderne und als bedeutendes Zeugnis für eine Erneuerung des um 1900 in die Krise geratenen Dramas. Schnitzler zeichnet ein Porträt der dekadenten Wiener Gesellschaft am Ausgang des 19. Jahrhunderts mit ihrer Doppelmoral, der Bigotterie, dem Hedonismus und der Orientierungslosigkeit angesichts des verfallenden Wertesystems der Österreichisch-Ungarischen-Doppelmonarchie. Die kulturgeschichtliche Signifikanz des Stücks hat sein Autor zurecht betont. Den notwendigen zeitlichen Abstand für eine adäquate Rezeption hat er mit mehreren hundert Jahren jedoch grob überschätzt. Der Reigen verfügt aufgrund seines Quellenwertes und der damit verbundenen diskursiven Möglichkeiten heutzutage über ein hohes didaktisches Potenzial für einen themenorientierten Literaturunterricht, der ethische Fragestellungen akzentuiert. Lernende können sich über die Beschäftigung mit dem Reigen der Kultur Wiens um 1900 annähern und im entdeckenden Lernen deren Charakteristika studieren. Die Beobachter_innenposition, in die der Text jede_n Lesende_n und Zuschauende_n versetzt, fordert zu Beurteilungen des Figurenhandelns heraus. Die Lernenden werden in der Hauptsache über die zeitliche Alterität darauf gestoßen, dass für sie vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie die Standards moralischen Handelns, ein verbindliches Wertesystem, Geschlechterrollen und Identität bildende Codes in Wirklichkeit historisch variabel sind. Einsichten aus der kritischen Lektüre können auf die eigene Lebenswelt transferiert und mit Blick auf sich selbst und die Mitmenschen problematisiert werden. Das Drama Reigen thematisiert Sexualität als Grundlage der menschlichen Existenz und zeigt auf, dass die biologisch-anthropologische Konstante der Geschlechtlichkeit de facto in hohem Maße kulturell überformt und mit ideellen Sinnbildungsprozessen verwoben ist. Der Reigen thematisiert die Unaufrichtigkeit im Umgang mit Sexualität, (Un-) Treue, Doppelmoral, Tabus, weibliche und männliche Geschlechterrollen im Vergleich sowie die gesellschaftliche und familiäre Kontrolle über die sexuelle Identität und spricht damit Entwicklungsaufgaben der Schüler_innen in der Spät- und Postpubertät an.
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Zur Begründung der Lektüreauswahl: Didaktische Potenziale zur Förderung der Wertreflexionskompetenz mit Schnitzlers Reigen
Das Stück Reigen macht abstrakte Wertekonflikte für Schüler_innen dadurch anschaulich und lebendig, dass es die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Handlung der Figuren auf aufschlussreiche und gleichzeitig unterhaltsame Art vorführt. Durch den Widerspruch zwischen den in der Figurenrede postulierten moralischen Standards und den jeweiligen Taten der Figuren wird die Doppelmoral der Gesellschaft im Bereich der Geschlechterbeziehungen decouvriert. Diese Doppelmoral wird im Stück mit kulturellen Narrativen verbunden, die im Wien der Jahrhundertwende neuartig und populär waren, die aber auch heute noch bekannt sind und auf die regelmäßig in öffentlichen Wertediskussionen rekurriert wird: erstens die für ihre moralische Entlastungsfunktion kritisierte Psychoanalyse Sigmund Freuds, zweitens biologisch-medizinische Geschlechterstereotype, die insbesondere Frauen, aber auch Männern bestimmte Rollen in der ›Liebe‹ zuweisen und deren Nicht-Einhaltung als Werteverstoß sanktionieren, und drittens das Aufeinanderprallen der Konzepte ›Kunst‹ und ›Pornografie‹ in der literarischen Wertung von Texten, die die Scheinheiligkeit in Liebesdingen enthüllen und damit dem Publikum die Uneindeutigkeit vermeintlich eindeutiger Werteinstellungen peinlich bewusst machen. Das Herausarbeiten dieser kulturellen Narrative im Unterricht zum Reigen ist demgemäß kein verzichtbares Surplus, sondern unverzichtbar für eine Behandlung der Kernproblematik des Stückes. Die Fokussierung auf diese kulturellen Narrative führt zu der Erkenntnis, dass es hier nicht um individuell-private Konflikte der Figuren geht, sondern um die gesamtgesellschaftliche und allgemeinmenschliche Dimension des thematisierten Wertekonflikts. Damit steht die Voraussetzung dafür, dass Schüler_innen den Wertekonflikt des Reigen auf ihre Gegenwart und Lebenswelt übertragen können. Ohne einen solchen aktualisierenden Transfer ist ein Ausbau der Wertreflexionskompetenz im Literaturunterricht nicht möglich. Die Lernchancen im Bereich des Reflektierens und Bewertens von Wertekonflikten in der Literatur werden durch die spezifische Wechselbeziehung zwischen Form und Inhalt des literarischen Gegenstandes Reigen obendrein verstärkt. Der pragmatischen Situation eines jeden dramatischen Textes gemäß kann im Reigen jede Figur nur das Geschehen und die Rede während ihrer eigenen Auftritte überblicken. Die Schüler_innen kennen hingegen sämtliche Dialoge und Handlungen sowie die komplette Figurenkonstellation. Die Aufgabe des Unterrichtes ist es, die Beobachter_innenposition der Rezipient_innen, welche im Stück per se angelegt ist, in eine Bewertungsposition der Schüler_innen zu überführen. Konkret heißt dies, dass die Schüler_innen das Unausgespro-
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chene des Stückes in Worte fassen und damit aus der impliziten Botschaft eine explizite Botschaft machen. Um dies zu leisten, bedarf es geeigneter Impulse, methodischer Verfahren und zielgerichteter analytischer und produktionsorientierter Arbeitsaufträge durch die Lehrperson. Eine Konsensbildung der gesamten Lerngruppe oder gar die Letztbegründung einer Auffassung durch die Lehrperson sind vor dem Hintergrund des Postulats der Urteilsautonomie der Schüler_innen jedoch nicht Ziele der Wertediskussion um Schnitzlers Reigen. Vielmehr sollte die Lehrkraft das Unterrichtsvorhaben so modellieren, dass sich der Erkenntnisprozess der Lerngruppe stufenweise vollziehen kann. Diese Stufen folgen gedanklich dem Dreischritt des Textverstehens-Modells der PISA-Studie mit seinen Stufen »Lokalisieren von Informationen«, »Textverstehen«, »Reflektieren und Bewerten« (Reiss et al. 2018, S. 51). Die Reflexion und das Bewerten im Sinne des kritischen Urteilens sind darauf gerichtet, dass Schüler_innen sich von Texten und den mit ihnen verbundenen, im Unterricht erarbeiteten Problemstellungen angesprochen fühlen, indem sie literarische Inhalte mit ihren biographischen Entwicklungsaufgaben und Fragen der eigenen Lebensumwelt verknüpfen. Auf der ersten Stufe sollte die moralische Problematik, die das Stück vorführt, überhaupt als solche erkannt werden und die Lernenden sollten in der Lage sein, sie konkret anhand von Beispielen aus dem Text zu benennen. Fragen nach den Interessen der Figuren, ihren Motivationen und den Folgen der Verhaltensweisen sollten hier gestellt und beantwortet werden. Ist dieses basale Verständnis gesichert, können die Schüler_innen auf der nächsten Stufe, der Stufe des Textverstehens, am Beispiel von Schnitzlers Reigen über die Eindeutigkeit von moralischen Orientierungen der Figuren nachdenken und dabei die Entstehungszeit des Stückes als Faktor mit einbeziehen. An dieser Stelle muss geklärt werden, von welchen Wertvorstellungen die einzelnen Figuren geleitet werden und wie die Positionen innerhalb der Figurenkonstellation aufeinander bezogen werden können. Bei der anschließenden Frage nach der Berechtigung der Wertekonzepte werden deren Abhängigkeit von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen eine Rolle spielen. Damit die Schüler_innen diese im weiteren Verlauf kriterienorientiert beurteilen können, erhalten sie Kenntnis von historischen Kontextinformationen und Quellen der frühen Rezeptionsgeschichte (vgl. Pfoser et al. 1993, Bd. 1 und Bd. 2). Ist die kulturhistorische Kontextualisierungsarbeit mit einem hierfür adäquaten Materialpaket abgeschlossen, wird die Lerngruppe auf der dritten Stufe aufgefordert, gemeinsam über die Diskrepanz zwischen den Werteeinstellungen der Figuren und deren Handeln zu diskutieren, ihre Deutungsbemühungen auf der Basis des Textes zu vertreten sowie Urteile zu fällen und zu begründen.
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Nun soll sich die Lerngruppe auch überlegen, ob der Reigen in ihrer Gegenwart spielen könnte und welche Anpassungen an die heutige Zeit für eine Inszenierung oder Neuverfilmung sie vornehmen würden. Als Zwischenresümee zur Adaption des PISA-Stufenmodells des Textverstehens lässt sich Folgendes festhalten: Die Lernchancen betreffen erstens die ›Literarische Bildung‹. Sie umfassen Kenntnisse über das Handlungsfeld Literatur (vgl. Abraham/Kepser 2009, S. 19) und befähigen zur Teilhabe am literarischen Leben. In diesen Lernbereich fällt der Erwerb von Orientierungswissen über die Epoche der Wiener Moderne mit ihrem bedeutenden Vertreter Arthur Schnitzler, die Kenntnis des hierfür paradigmatischen Werkes Reigen, Gattungswissen, domänenspezifisches Wissen über Motivgeschichte sowie über literarische Kontexte. Die Kenntnis der Rezeptionsgeschichte des Reigen bietet darüber hinaus im Rahmen literarischer Bildungsprozesse einen Einblick in das Sozialsystem der Literatur. Hier können sich über das konkrete Beispiel hinaus Fragen nach der Stellung literarischer Texte und Medien in der Gesellschaft anschließen. Und es können die rechtlichen und ethischen Grenzen künstlerischer Freiheit beurteilt werden. Neben den Lernchancen für die literarische Bildung sind die Lernpotenziale im Bereich des ›Literarischen Lernens‹1 zu nennen. Diese entfalten sich im literarischen Lesen, in der kritischen Analyse, im Reflektieren und Bewerten sowie beim Erörtern von Fragen der Anschlusskommunikation. Die Interpretation eines literarischen Werkes aus dem Blickwinkel eines bestimmten geisteswissenschaftlichen Diskurses kann fraglos zu Erkenntnissen führen, die durch eine textimmanente Behandlung nicht zu erzielen wären. Deshalb werden in Kapitel 5 und 6 des vorliegenden Beitrags zwei solche Interdiskurse2 – namentlich die
1 »Literarisches Lernen meint schulische Lehr- und Lernprozesse zum Erwerb von Einstellungen, Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten, die nötig sind, um literarisch-ästhetische Texte in ihren verschiedenen Ausdrucksformen zu erschließen, zu genießen und mit Hilfe eines produktiven und kommunikativen Auseinandersetzungsprozesses zu verstehen.« (Büker 2006, S. 120ff., hier S. 121) Leubner, Saupe und Richter unterscheiden auf der Seite des literarischen Lernens im Zeichen der Kompetenzorientierung die »Kompetenz zum Erkennen von Textelementen, die Deutungskompetenz und die Bezugskompetenz«. (Leubner/Saupe/ Richter 2012, S. 53) 2 Gemäß der generativen Interdiskurstheorie besteht die Gesamtkultur einerseits aus dem Spektrum ihrer arbeitsteilig organisierten Spezialdiskurse, andererseits aus kompensatorischen Interdiskursen, die diese ausdifferenzierten Spezialdiskurse wieder re-integrieren und eine Verständigung über deren Grenzen hinweg ermöglichen. Jürgen Link postuliert, dass »der literarische Diskurs struktural-funktional wie generativ […] als auf spezifische Weise elaborierter Interdiskurs (bzw. genauer: als Elaboration interdiskursiver Elemente) begriffen werden kann.« (Link 1988, S. 284ff., hier S. 286) Literaturanalyse als Interdiskursanalyse habe demnach die Aufgabe, die Entstehung literarischer Texte aus einem je historisch spezifischen, diskursintegrativen Spiel nachzuzeichnen. (Vgl. Parr 2014, S. 202ff., hier S. 205)
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Psychoanalyse3 und die Sexualpathologie – für literaturdidaktisch motivierte Wertediskussionen fruchtbar gemacht.4 Die Ausführungen richten sich gemäß der Konzeption des Bandes primär an Lehramtsstudierende und sekundär an Berufsanfänger_innen im Schuldienst und dienen der Verknüpfung von Fachwissen und literaturdidaktischer Expertise. Die themenzentrierte und problemorientierte Präsentation des Reigen muss funktional mit der (späteren) Unterrichtspraxis verknüpft werden können. Das macht die didaktische Reduktion und pragmatische Einbindung der hier vorgestellten kulturellen Narrative in Lehr-Lern-Arrangements notwendig. Dabei gilt es zu bedenken: Schüler_innen sollen (in aller Regel) nicht mit der hier präsentierten Informationsfülle auf diesem Abstraktionsniveau konfrontiert werden.
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Formale Analyse, literatur- und motivgeschichtliche Zusammenhänge des Stückes
Die formale Analyse des Dramas und dessen (literatur-)geschichtliche Einordnung bereiten die themenorientierte Interpretation und die Diskussion von Wertefragen vor. Form und Inhalt stehen in diesem Stück in raffinierter Weise miteinander in Beziehung und sollten integriert betrachtet werden. Reigen stellt in zehn Szenen die Begegnungen einer Frau und eines Mannes dar. Jeder Dialog wird von einem sexuellen Zwischenspiel unterbrochen. An der Stelle des Geschlechtsverkehrs finden sich Gedankenstriche im Text. Jede Figur tritt in zwei aufeinanderfolgenden Szenen mit wechselnden Partner_innen auf. Das Figurenensemble umfasst die sozialen Stände des damaligen Wiens und ordnet den Vertreter_innen Orte in der städtischen Topografie zu. Die Dirne verkehrt mit dem Soldaten am Donauufer. Der Soldat verführt das Stubenmädchen in den Praterauen. Das Stubenmädchen schläft mit dem jungen Herrn in der Villa ihrer Arbeitgeber_innen. Der junge Herr genießt das Stelldichein mit der verheirateten jungen Frau im eigens angemieteten, vornehmen Salon. Die junge Frau schläft mit ihrem Ehemann im Schlafzimmer ihres großbürgerlichen Hauses. Der
3 Perlmann 1987, S. 42: »Der Reigen macht auf einer […] tiefenpsychologischen Ebene […] sichtbar, wie der Umgang mit der eigenen Sexualität verstellt wird, in dem die Folgen einer schichtenspezifischen [sowie geschlechtsspezifischen, Anm. d. Verf.’in] repressiven Erziehung sichtbar werden.« 4 Weitere Themenkomplexe, die für die Behandlung des Reigen anschlussfähig sind, auf die hier aus Platzgründen und wegen des gesetzten Fokus jedoch verzichtet wird, sind: Sprach- und Ich-Skepsis (z. B. Hofmannsthal: Ein Brief, Schnitzlers so genannter ›kernloser Mensch‹), der Empiriokritizismus Ernst Machs, Hermann Bahrs Ästhetik der ›Nervenkunst‹ und Friedrich Nietzsches ›Gott ist tot‹ und der sich anschließende damit verbundene moralische Relativismus (z. B. in Genealogie der Moral).
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Ehemann betrügt seine Gattin mit dem ›Süßen Mädel‹5 im Chambre Séparée eines innerstädtischen Lokals. Das ›Süße Mädel‹ hat ein sexuelles Abenteuer mit dem Dichter in dessen Appartement in einem bescheidenen Künstlerviertel. Der Dichter und die Schauspielerin unternehmen eine gemeinsame Landpartie und lieben sich im schlichten Pensionszimmer. Die Schauspielerin verführt den Grafen, der ihr seine Aufwartung nach gelungener Theaterpremiere macht, in ihrem eleganten Schlafgemach. Der Graf ist Freier der Dirne im schäbigen Dachzimmer eines Vorstadt-Bordells. Ihre verallgemeinerten Bezeichnungen weisen die Figuren als Typen aus. Der sozioökonomische Status steigt von der Unterschicht über das kleine und mittlere Bürgertum zum Großbürgertum, der künstlerischen Bohème und der Aristokratie an, um schließlich wieder bis zur Unterschicht abzufallen (vgl. Neuse 1972, S. 356ff., hier S. 357). Die sozialen Unterschiede zeigen sich in der verwendeten Sprache,6 der Länge und Situationsgebundenheit oder Entkopplung des Gesprächs sowie in der Raumregie.7 Der sprachlich-ideologische Aufwand, der [für die Erfüllung des Sexualwunsches, Anm. d. Verf.’in] betrieben werden muss, ist innerhalb von Beziehungen in der Unterschicht am geringsten; er steigt, wenn eine der Figuren dem Bürgertum angehört […]. Allemal geht es darum, das dominant sexuelle Interesse zu tarnen und folglich im Vor- bzw. Nachspiel ein Minimum an emotionaler Zuneigung […] zu simulieren. (Wünsch 2014, S. 72)
Mit dem Wiederauftreten der Dirne erweckt die Szenenfolge den Eindruck der Geschlossenheit und Wiederholbarkeit. Die beiden Auftritte der Prostituierten bilden eine Art Rahmen, wodurch Schnitzler das kompositorische Problem löst, dass der Reigen potenziell ins Unendliche erweiterbar ist (vgl. Sprengel 2007, S. 111f.). In der ältesten Handschrift des Stückes ist von einem Hemicyclus (d. i. ein Halbkreis) die Rede. Dies spricht für die Auffassung des Autors, dass er für einen vollständigen Kreislauf die Handlung vom Grafen wieder hinunter zum Soldaten führen müsste (vgl. Rovagnati 2004, S. 32). Schnitzler wählt als Untertitel des Dramas Zehn Dialoge statt des für einen Bühnentext üblichen Ausdruckes ›Szenen‹, was für die Beeinflussung des Werkes durch die antike literarische Tradition des Dialogs spricht. Dabei fungieren weniger die philosophischen (Lehr-)Dialoge Platons, Ciceros und Augustinus’ als Vorbilder als vielmehr die 5 Vgl. zu diesem literarischen Typus: Nickl/Schnitzler 2011, S. 110f. 6 Eine ausführliche Analyse und Deutung der Figurensprache unternimmt Fiedl 1996, S. 28ff. 7 Elke Maria Clauß führt hierzu aus: »Bei aller Wiederholbarkeit des Geschehens und aller Austauschbarkeit seiner Akteure auf das Prinzip des Immergleichen gelingen Schnitzler erstaunliche Differenzierungen. Dies gilt für die soziale Hierarchie der Gesellschaft und ihre entsprechenden Sprachprofile […] ebenso wie für die Typisierung der unterschiedlichen Beziehungsmuster: gewerbliche Prostitution, Gelegenheitsprostitution, bezahlte und unbezahlte Verhältnisse, eheliche Liebe. Und so zeigt Schnitzlers Studie über das Sexualverhalten seiner Zeit den Funktionszusammenhang zwischen einem bestimmten Verhaltenskodex und der gesellschaftlichen Struktur.« (Clauß 2013, S. 156f.)
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satirischen Dialoge des Lukian von Samosata (2. Jh. n. d. Z.). Dessen Dialoge, wie die Toten- oder Hetärengespräche, zeichnet eine bissige Sozialsatire aus. Ähnlich wie im Reigen werden auch dort die verpassten Ideale, Schwächen und Eitelkeiten der Menschen in kritischer Weise thematisiert und es gibt eine stilistische Nähe zur (Tragi-)Komödie.8 Schein und Sein, Reden und Taten, die äußere und innere Handlung geraten im Reigen in gravierende Widersprüche, was humoristische und ironische Effekte hervorruft und dem Text Züge eines Lustspiels verleiht. Ebenfalls typisch für die Komödie ist mit Blick auf den Reigen das Spiel mit dem Wissensvorsprung der Rezipient_innen: Wenn sich etwa die junge Ehefrau unmittelbar nach ihrem Seitensprung gegenüber dem scheinheiligen und ebenfalls untreuen Gatten bieder und naiv gibt, dann weiß der amüsierte Zuschauer als einziger über alle(s) Bescheid. Schnitzler vollzieht mit Reigen einen Traditionsbruch mit der pyramidalen Form des fünfaktigen, geschlossenen Dramas. Das Stück ist mit seiner Schematik, den stereotypen Wendungen, dem Wiederholungscharakter, der Leitmotivik (z. B. der von Helligkeit und Dunkelheit) sowie dem komplexen Netz von Verweisungsstrukturen durchgehend anti-illusionistisch. Anders als im Fall seines Einakter-Zyklus Anatol, in welchem die sieben Einakter auch für sich stehen könnten, da ihre Reihenfolge für das Verständnis des Zyklus unwesentlich ist, beanspruchen die Dialog-Szenen im Reigen jedoch keine Eigenständigkeit. Die Dialoge sind nicht verschiebbar und »Stationen eines seriellen Prozesses […], die nur im Zusammenhang [angemessen, Anm. d. Verf.’in] gewürdigt werden können« (Sprengel 2007, S. 104). Die Gedankenstriche, die für den Geschlechtsakt stehen, bilden gleichwohl eine Ellipse innerhalb jeder baugleichen Szene, sodass mit dem Vorspiel, dem ausgesparten Gipfel und dem Nachspiel die abgelöste »dramatische Pyramidenform« (Neuse 1972, S. 358) indirekt wieder aufgerufen wird. Die Abkehr vom klassischen Fünfakter ist ein literarischer Reflex auf eine kulturelle Umbruchsituation um 1900.9 Der rasante Zivilisationsprozess, die Technisierung und die Zunahme der gesellschaftlichen Komplexität führen zu einer existenziellen Verunsicherung. Hinzu kommen wissenschaftliche Erkenntnisse, die in ihrer Perspektive allesamt vom Individuum abrücken. Der Marxismus versteht die Geschichte nicht länger als Ausdruck der (Helden-)Taten einzelner, sondern als Klassenkampf. Die Evolutionstheorie Darwins lässt den Menschen als ein instinktgesteuertes Säugetier unter anderen 8 Schnitzler war mit Lukians Werken vertraut. Sie gehörten in Christoph Martin Wielands deutschsprachiger Übersetzung sowie im altgriechischen Original zum festen Kanon des von ihm besuchten Akademischen Gymnasiums und er erwähnt sie auch nach der Schulzeit wiederholt in seinen Tagebüchern (vgl. Rovagnati 2004, S. 30). 9 Vgl. zu den zeitgeschichtlichen und weltanschaulichen Kontexten des Reigen im Folgenden: Kim/Saße 2007, S. 9ff.
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erscheinen. Die Psychoanalyse Freuds stellt die Macht des Unbewussten heraus. Die zeitgenössische Philosophie (Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner, Ernst Mach u. a.) tilgt die vormals selbstverständliche Verbindung von Sprache und Wahrheit und kritisiert das Ich als inkonsistent. Das Subjekt wird als Deutungsund Orientierungsinstanz fragwürdig. Ferner schwindet die integrierende Kraft des christlich fundierten Weltbildes und traditioneller Lebensmodelle. Diese Fragmentierung der Außenwelt wird mit einer Dissoziation der psychischen Innenwelt in Beziehung gebracht. Der Wortführer der Literatengruppe JungWien, Hermann Bahr, fordert dementsprechend 1891 die Überwindung des Naturalismus in der Literatur und die Wendung vom Außen nach Innen in einer ›Nervenkunst‹.10 Die Psychoanalyse und die Wiener Moderne bilden sich zur gleichen Zeit und am selben Ort aus.11 In der Metropole des Habsburger-Reiches entwickelt sich eine besondere Spielart der literarischen Strömung des Fin-deSiècle (etwa 1890–1914), für die die Mischung von Endzeitstimmung, Dekadenz, Elitebewusstsein, Genuss-Sucht und Psychologisierung typisch ist. Arthur Schnitzler ist als Mitglied der Dichter-Vereinigung Jung-Wien einer der Wortführer dieser neuen Ästhetik. Die zahllosen Wahrnehmungen und Empfindungen, die sich nicht mehr zu einem kohärenten Ganzen verbinden lassen, verlangen nach neuen Formen künstlerischer Darstellung. Es gibt keine geordnete Welt mehr, in der die Menschen ihren festen Ort haben und mit souveränen rationalen Handlungen interagieren. Der Reigen ist mit seiner Aufspaltung in Einzelszenen, dem Verzicht auf eine dramatische Handlungsfolge und der fehlenden Progression auf das komische oder tragische Finale hin eine Reaktion auf die beschriebene Weltanschauung. »Analog zum Verfall des klassischen Fünfakters zerfällt im Reigen die konventionelle theatralische Paarbindung: Aus A und B […] wird B und C, C und D und so weiter« (Fiedl 1996, S. 26). Das Dargestellte betrifft mit seiner anthropologischen Dimension alle Menschen. Die Figuren sind, anders als im klassischen Drama, keine individuellen Held_innen mehr, die sich in einer Schicksalsprüfung bewähren oder scheitern, sondern typisierte Figuren, die für das Ewig-Menschliche stehen, was sie für didaktische Anliegen der Wertereflexion relevant macht. Schüler_innen können vor dem Hintergrund des Dargestellten dazu aufgefordert werden, über die Interdependenz von Form, moralischer Botschaft sowie zeitspezifischen Geistes- und Werteauffassungen zu reflektieren. 10 Vgl. Bahr 2004; er führt aus: »Wir haben nichts als das Außen zum Innen zu machen, daß wir nicht länger Fremdlinge sind, sondern Eigentum erwerben.« (Ebd., S. 13) Und später heißt es: »Ich glaube also, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch eine nervöse Romantik; noch lieber möchte ich sagen: durch eine Mystik der Nerven.« (Ebd., S. 130) 11 »Die Entwicklung des Jungen Wien [gemeint ist der Literaturzirkel, welcher auch unter dem Namen Jung-Wien bekannt ist, Anm. d. Verf.’in] verlief den Entdeckungen Freuds parallel«, stellt Michael Worbs in seiner einflussreichen Studie fest (Worbs 1988, S. 62).
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Die bildkünstlerischen Traditionslinien, in die der Reigen eingeordnet werden kann, bieten die Möglichkeit, das Bilder-Lesen und Text-Lesen unterrichtsmethodisch zu verbinden und beides in die Reflexion von Wertefragen münden zu lassen. So verweist das Titelmotiv des Reigens auf die kulturelle Tradition des Tanzes als gesellschaftlich legitimiertes erotisches Vorspiel. Was im Reigentanz die vorgegebenen Schrittfolgen sind, sind in den Begegnungen des Stückes die ungeschriebenen Regeln des erotischen Werbens. Es wird in der Forschung12 verschiedentlich auf die Nähe des Reigens zu den mittelalterlichen TotentanzDarstellungen verwiesen. Es handelt sich bei Totentänzen um Medien, die Bild und Text miteinander verbinden. Sie stellen einen allegorischen Reigentanz von Personen aller Stände und Altersgruppen dar. Dabei steht der Tod – dargestellt als Skelett – in der Mitte und geigt die Melodie, oder die Skelette tanzen im Wechsel mit den lebenden Figuren. Der Totentanz ist ein Ausdruck des Memento-Mori-Gedankens und hat auch erotisch-frivole Untertöne, wenn der Tod als Buhle dargestellt wird. Totentänze wurden in der Frühen Neuzeit auch szenisch aufgeführt. Der Totentanz zeigt die Allgewalt des Todes über alle Menschen so wie der Reigen die Allgewalt des sexuellen Verlangens zeigt. Angesichts der beiden existenziellen Bestimmungen, der Geschlechtlichkeit und der Sterblichkeit, sind alle Menschen gleich. Als stoffgeschichtliches Vorbild für den Reigen kann Giovanni Boccaccios illustrierte Novellensammlung Decamerone von 1353 genannt werden, in der die sexuelle Lust über den Tod triumphiert, wenn die Erzählerfiguren der Rahmenhandlung sich angesichts einer lebensbedrohlichen Pestepidemie gegenseitig erotische Geschichten erzählen.13 Auch der Reigen zeichnet sich durch eine morbide Stimmung aus und die sexuelle Lust wird mit der Endlichkeit des Lebens in Verbindung gebracht (vgl. Reigen. Zehn Dialoge14, S. 9, 33, 51, 66, 112). Thematisch verwandt ist der Reigen mit William Hogarths (1697–1764) Modern Moral Subjects. Mit diesen Vorläufern der Comics prangert der britische Maler und Kupferstecher Sitten und Missstände seiner Zeit mit beißender Ironie an. Die Bilderfolge Before and After (1736) lässt sich inhaltlich auf Schnitzlers Stück beziehen. Sie stellt »in drastischer Form den Unterschied zwischen dem glühenden männlichen Werben vor dem Koitus wie dem entsetzten Innehalten danach heraus.« (Pfoser 1993, Bd. 1, S. 15).15
12 Vgl. u. a. Alewyn 1982, S. 299ff.; Schiffer 1983, S. 7ff.; Rovagnati 2004, S. 37ff. 13 Die von Boccaccio begründete Tradition der frivol-erotischen Renaissancenovellen mit mehr oder weniger moralischem Unterton wurde u. a. von Matteo Bandello und Margarete von Navarra weitergeführt. 14 Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge, hg. v. Michael Scheffel, Stuttgart 2002. Im Folgenden zitiert mit der Sigle R unter der Angabe der Seitenzahl. 15 Vgl. die Abbildungen ebd., S. 16f.
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Der Psychoanalyse-Interdiskurs und die moralische Verantwortung des Subjekts im Reigen – Textseitige Expertise und didaktische Schlussfolgerungen
Der Reigen poetisiert – wie bereits oben bemerkt – wissenschaftliche Spezialdiskurse als kulturelle Narrative der Jahrhundertwende. Im weiteren Verlauf werden zwei davon näher betrachtet: die frühe Psychoanalyse und die Sexualpathologie. Beide spiegeln als literarische Interdiskurse Krisen des gesellschaftlichen Wertesystems wider. Der Reigen wird im Folgenden zunächst als eine literarische Adaptation der Psychoanalyse(-Kritik) gelesen. Es sollen Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen dem psychoanalytischen und literarischen Diskurs gedeutet und auf moralische Fragen bezogen werden. Das vorliegende Teilkapitel schließt mit Hinweisen auf eine mögliche unterrichtliche Behandlung des Textes im Horizont dieser Problematik. Dabei soll jedoch die individuelle und auf eine konkrete Lerngruppe bezogene Unterrichtsplanung keineswegs in einem fertigen Unterrichtsmodell vorweggenommen werden. Eine Reihe der Indikatoren, welche Thomas Anz (vgl. Anz 2006, S. 11ff.) für eine Verarbeitung psychoanalytischen Wissens in Literatur nennt, sind im Reigen zu finden: Manifestationen des Unbewussten und nicht bewusstseinsfähiger psychischer Prozesse, symbolische Verschlüsselungen tabubesetzter Inhalte, sexuelles Handeln und Begehren sowie Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit (vgl. ebd., S. 25). Neben textinternen Indikatoren treten im Falle Schnitzlers textexterne (vgl. ebd.) in Form von (auto-)biographischen Zeugnissen hinzu. Arthur Schnitzler, der bei Professoren Freuds studierte, spezialisierte sich als Nervenarzt auf psychosomatische Erkrankungen des Sprechapparates,16 er war von 1885–1893 als Medizinjournalist tätig und wandte in einer Wiener Klinik und später in seiner Privatpraxis Hypnose und Suggestion zu Therapiezwecken an. Schnitzler nahm regen Anteil an der psychiatrischen Forschung der Jahrhundertwende, insbes. zu Hysterie und Neurasthenie (Jean Martin Charcot, Hippolyte Bernheim, Ludwig Breuer). Er rezensierte die Arbeiten des vor-analytischen Freud und verfolgte die Psychoanalyse bereits in ihrem Entstehungsprozess mit (vgl. Pfohlmann 2006, S. 47).17 Das kritische Interesse an der Entwicklung und Ausdifferenzierung der psychoanalytischen Schule hielt bis zu 16 Arthur Schnitzler war in seiner Funktion als wissenschaftlicher Assistent seines Vaters Johann Schnitzler, eines Professors für Laryngologie (d. i. Kehlkopfleiden), Oberarzt an der allgemeinen Poliklinik in Wien und später niedergelassener Laryngologe. Er wurde mit einer Dissertation »Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion« im Jahr 1889 promoviert. Diese und andere heilkundliche Publikationen des Autors finden sich in Thomé 1991, hier S. 176ff. 17 Vgl. zur Rezeption und Kritik der Psychoanalyse bei Schnitzler des Weiteren: Worbs 1988, S. 179ff.
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seinem Tode 1931 an. Davon zeugen Tagebücher des Autors und seine Briefwechsel mit zahlreichen Freud-Schüler_innen.18 Es lassen sich Textverfahren nennen, mit denen dieses Spezialwissen in einen literarischen Text transferiert werden kann. Darunter fallen semantische Oppositions- und Äquivalenzbeziehungen oder Leitdifferenzen der Textelemente, welche für psychoanalytische Diskurse konstitutiv sind und in den literarischen Text übernommen werden (vgl. Anz 2006, S. 26ff.). Das Gegensatzpaar Bewusstsein und Unbewusstes steht hierbei im Mittelpunkt und wird mit der Dichotomie Geist versus Körper sowie den Themen Moralität und Sexualität verbunden. Ich argumentiere für die Position, dass die Leitmotivik um Licht und Dunkelheit – auch Helligkeit, Finsternis, Zwielicht und daraus folgende Sichtverhältnisse – die sich im Reigen in der Figurenrede findet, zentrale psychische Konflikte im Stück abbildet, konkretisiert und sie ausschärft, was mit Schüler_innen analytisch und produktiv herausgearbeitet werden kann: Denn die Leitmotivik erlaubt es, die nicht explizit ausgesprochenen moralischen Haltungen der Figuren zu erschließen.19 Das 18 Darunter Theodor Reik, Lou Andreas-Salomé, Alfred von Winterstein, Fritz Wittels, Rudolf von Urbantschitsch u. a. 19 Vgl. die zentralen Textstellen im Reigen mit Licht-und-Dunkel-Leitmotivik: Die Dirne und der Soldat: Dirne: Gib Obacht, da ist so dunkel. (R, 9); Der Soldat und das Stubenmädchen: Stubenmädchen: Sie, da ist aber dunkel. Ich krieg so eine Angst. […] – Und so dunkel! Soldat: ’s wird schon lichter. (R, 12) Soldat: Und wenn schon einer kommen tät, man sieht ja nicht zwei Schritt weit. Stubenmädchen: Ich seh gar nichts. (R, 14) Stubenmädchen: Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn. (R, 15) Stubenmädchen: Es ist so dunkel. Soldat: Morgen früh ist schon wieder licht. […] Ich geh nicht gern in der finstern (R, 16); Das Stubenmädchen und der junge Herr: Der junge Herr: Jetzt sieht man aber gar nichts zum Lesen (R, 19); Stubenmädchen: Aber junger Herr….schaun S’…es ist so licht…(R, 22); Der junge Herr und die junge Frau: Die junge Frau: Ich habe ja gar nichts gesehen. Der junge Herr: – ich werde Sie doch wenigstens sehen dürfen. (R, 27) Die junge Frau: ….Und es ist so hell…. Der junge Herr: Da drin ist es gar nicht hell. (R, 33) Der junge Herr: Ein schönes [Zimmer] und ganz dunkel. (R, 34) Der Gatte und das süße Mädel: Das süße Mädel: Da ist mir der Mann von meiner Kusine nachg’stiegen in der Dunkeln […]. (R, 56); Das süße Mädel und der Dichter: Das süsse Mädel: Ah! Das ist aber schön! Nur sehen tut man nichts! Der Dichter: Deine Augen müssen sich an das Halbdunkel gewöhnen. (R, 72) Das süße Mädel: Geh, willst nicht lieber Licht machen? Der Dichter: Diese Dämmerung tut ja so wohl. Wir waren heute […] wie in Sonnenstrahlen gebadet. Jetzt […] schlagen … [er verhaspelt sich: Anm. d. Verf.’in] die Dämmerung wie einen Bademantel […]. (R, 74); Der Dichter (leise): Sonne, Bad, Dämmerung, Mantel…so (steckt das Notizbuch ein) (R, 75) Der Dichter: Wir können doch irgendwohin gehen, wo uns niemand sieht […]. Man sieht nichts mehr! Ich kann deine Züge nicht mehr ausnehmen. (R, 76) Das süße Mädel: Willst nicht lieber Licht machen? (R, 77); Der Dichter: Erlaube, ich will nur Licht machen. Ich habe dich noch nicht gesehen, seit du meine Geliebte bist. (R, 80) Der Dichter: Warte, ich zünde Dir noch ein paar Kerzen an. Das süße Mädel: Nicht herschauen (R, 82); Der Dichter und die Schauspielerin: Dichter: Das Licht. – Aber wir brauchen keins. Schau, es ist ganz hell. Wunderbar! (R, 85); Der Dichter: Jetzt werd ich übrigens Licht anmachen, meinst du nicht? (R, 87); Die Schauspielerin und der Graf: Graf: Pardon – wenn man so von der Straßen hereinkommt … ich seh nämlich noch rein gar nichts. (R, 98) Schauspielerin: Dich hätte ich auch lieber nie erblicken sollen (R, 105) Schauspielerin: Und so dunkel, wie wenn’s Abend wär…
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Prinzip der Wiederholung, welches den Reigen in der Makrostruktur trägt, wird dergestalt in der motivischen Mikrostruktur aufgegriffen. Die vorliegende Semantik von Licht und Dunkelheit lässt sich mit Schnitzlers Vorstellung von einem ›Mittelbewusstsein‹ in Verbindung bringen: Die Menschen hausen meistens nur im mittleren Stockwerk ihrer Lebensvilla, dort, wo sie sich behaglich […] eingerichtet haben. Selten steigen sie in die unteren Räume hinab, wo sie Gespenster vermuten, vor denen ihnen schaudern könnte; selten klimmen sie zum Turme auf, wo der Blick ins Tiefe und Weite sie schwindeln macht. Manche Leute freilich gibt’s, die sich just im Keller aufzuhalten lieben, weil ihnen im Dämmern und Gruseln wohler ist als in Licht und Verantwortung, und andere wieder klettern gerne auf den Turm, um den Blick in unergründliche Fernen zu verlieren, die ihnen ewig unerreichbar bleiben. Die unseligsten Subjekte aber sind diejenigen, die zwischen Keller und Turm ruhelos treppauf und treppab rennen und die zum eigentlichen Wohnen bestimmten Räume verstauben und verwahrlosen lassen [Hervorh. d. Verf.’in] (Schnitzler zitiert nach Weiss 1967, S. 278).
Ein zentraler Einwand20 Schnitzlers gegen die Freud’sche Psychoanalyse bezieht sich auf die Überschätzung der Macht des Unbewussten und die damit verbundene Herabsetzung der moralischen Verantwortlichkeit des Individuums. In seinen Aufzeichnungen über Psychoanalyse entwickelt er das gegen Freuds ›Instanzen-Modell der Seele‹ gerichtete Konzept vom ›Mittelbewusstsein‹. Das ›Mittelbewusstsein‹ entspricht in Freuds Diktion der Kategorie des Vorbewussten.21 Es ist jedoch in Umfang und Funktion gegenüber diesem deutlich erweitert. Die psychologischen Prozesse, welche sich dort abspielen, kann sich das Subjekt prinzipiell zu Bewusstsein bringen: Die Trennung in Ich, Über-Ich und Es ist geistreich, aber künstlich. Eine solche Trennung gibt es in Wirklichkeit nicht […]. Das Mittelbewusstsein […] ist das ungeheuerste Gebiet des Seelen- und Geisteslebens; von da steigen die Elemente ins Bewusste auf oder sinken ins Unbewusste hinab. Das Mittelbewusstsein steht ununterbrochen zur Verfügung. Auf seine Fülle, seine Reaktionsfähigkeit kommt es vor allem an. (Schnitzler zitiert nach Anz und Pfohlmann 2006, S. 182) (reißt ihn an sich). Es ist Abend…es ist Nacht…Mach die Augen zu, wenn’s dir zu licht ist. Komm… Komm! (R, 108). [Hervorh. d. Verf.’in] 20 Weitere Kritikpunkte sind die Theorie der infantilen Sexualität, das Überdeterminieren, die Generalisierung von Ödipuskomplex, Penisneid und Kastrationsangst, welche Schnitzler lediglich für pathologische Sonderfälle hält, und die Monomanie von Symboldeutungen etwa in der Traumdeutung (vgl. Schnitzler nach Anz und Pfohlmann 2006, S. 163ff.). 21 Horst Thomé weist auf eine Konfusion Schnitzlers in der Rezeption der I. Topik Freuds hin. Schnitzler kombiniert den experimentalpsychologischen Begriff des Elements (Triebimpulse, Gedankensplitter etc.) mit bewusstseinstheoretischen Vorgaben der Psychoanalyse. Dabei verwendet er seinen Begriff des Mittelbewussten im Sinne von halbbewusst. Diese Unterscheidung ist jedoch mit Freuds I. Topik inkonsistent. Denn dort unterscheiden sich Vorbewusstes und Unbewusstes nicht im Grad ihrer Bewusstheit, sondern durch die Modi der Bewusstwerdung (vgl. Thomé 1993, S. 634ff.).
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»Dank dieses Konzepts […] bleibt dem Subjekt nach Schnitzler zumindest eine Schwundstufe seiner individuellen Autonomie gewahrt oder besser gesagt: nicht erspart.« (Pfohlmann 2006, S. 132)
Dieses Menschenbild Schnitzlers sollte in Wertediskussionen mit Schüler_innen auf Grundlage seiner Texte berücksichtigt werden. Schnitzler vertritt die kritische Ansicht, dass die Psychoanalyse den Menschen von der Verantwortung für sein Handeln zu befreien versuche und lehnt diese Intention ab: »Statt uns zu mühen, lassen wir uns gehen.« (Schnitzler zitiert nach Anz und Pfohlmann 2006, S. 164). Er sieht es als die Aufgabe der Literatur an, diese kulturelle Fehlentwicklung der Psychoanalyse zu korrigieren. Über Psychologische Literatur führt er aus: Nach einer Epoche der […] Bequemlichkeit in Hinsicht auf die dunklen Reiche der Seele, entdeckten einige neueren Dichter, […], daß die Seele im Grunde kein so einfaches Ding sei […], daß außer dem Bewußtsein allerlei Unbewußtes in der Seele […] wirksam sei. […] Man entdeckte ferner […] eine Art fluktuierendes Zwischenland zwischen Bewußtem und Unbewußtem. Das Unbewußte fängt nicht so bald an, als man glaubt, oder manchmal aus Bequemlichkeit zu glauben vorgibt […]. Die Begrenzungen zwischen Bewußtem, Halbbewußtem und Unbewußtem so scharf zu ziehen, als es überhaupt möglich ist, darin wird die Kunst des Dichters vor allem bestehen. (Schnitzler zitiert nach Weiss 1967, S. 454f.)
Schnitzler vertritt die Position, dass die ethische Pflicht des Individuums unhintergehbar sei und verwehrt sich gegen die seines Erachtens deterministischen Konsequenzen des Freud’schen Seelenmodells (vgl. Perlmann 1987, S. 184). Er kritisiert Unredlichkeit auf Seiten der Befürworter der Psychoanalyse, insofern diese vorschnell die »Gloriole des Unbewußtgewesenseins« (Schnitzler zitiert nach Anz und Pfohlmann 2006, S. 178) ins Feld führen. So ruft die junge Frau im Reigen kurz vor ihrem Ehebruch voll Koketterie aus: »Nein, nein, nein, ich darf nicht zum Bewußtsein kommen… Sonst müßte ich vor Scham in die Erde sinken« (R, 32). In seinen Aphorismen räsoniert Schnitzler: »Die psychoanalytische Methode biegt ins Unbewußte oft ohne Nötigung, lange ehe sie es dürfte, ein« (Schnitzler zitiert nach Anz und Pfolhlmann 2006, S. 181). Und dem FreudSchüler Theodor Reik entgegnet er: »[N]ach dem Dunkel der Seele gehen mehr Wege […] als die Psychoanalytiker sich träumen […] lassen. Und gar oft führt ein Pfad noch mitten durch die erhellte Innenwelt, wo […] Sie […] allzu früh ins Schattenreich abbiegen zu müssen glauben« (Schnitzler zitiert nach Worbs 1988, S. 217f.) [Hervorh. d. Verf.’in]. Die Licht-Dunkel-Metaphorik dieser Aussage korrespondiert m. E. nicht zufällig mit der einschlägigen Leitmotivik im Reigen, denn es ist das Mittelbewusstsein,22 in welchem die Figuren auch dort agieren. 22 Übereinstimmend mit meiner Lesart äußert sich Horst Thomé (1998): »Die Rollen widersprechen den Taten und Verhältnissen zu sehr, als daß sie unbewußt agiert werden könnten, und sie sind zu sehr automatisiert, als daß sie als bewußt kalkulierte und kontrollierte
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Der Appell von Schnitzlers psychologischer Anthropologie lautet, sich dem Prozess der Bewusstwerdung zu stellen, den sexuellen Wunsch als rein sexuellen anzunehmen, statt seine Wünsche in unehrlichen Rollenspielen zu verschleiern. Das psychische Areal des Mittelbewusstseins beherbergt laut Schnitzler nicht nur die triebhaften Wünsche, sondern es ist auch ein Ort der Reflexion. Ein Zugriff darauf ist möglich, wenn das Individuum eine Auseinandersetzung mit diesem Teil seines Ichs wünscht. Mit Rückgriff auf Schnitzlers Lichtmetaphorik lässt sich resümieren: Dort, wo eine Bewusstwerdung mit dem Hinweis auf das Dunkel der Seele und die Machtlosigkeit gegenüber den Trieben unterbleibt und aus Bequemlichkeit oder Feigheit das Zwielicht des sozialen Maskenspiels vorgezogen wird, entsteht moralische Schuld. Der oder die Betreffende meidet aus Furcht vor Ächtung das helle Licht der eigenen Vernunft sowie des gesellschaftlichen Urteils und flüchtet sich in ein zwielichtiges Doppelleben: Wir sagen von einem, daß er ein Doppelleben führe; führt er nicht manchmal gerade erst ein ganzes, ein wirkliches, also sein eigenes Leben dadurch, daß er scheinbar zwei verschiedene Leben führt? Und wie viele führen ein halbes Leben, weil sie nicht den Mut haben, ein ganzes zu führen, das anderen wie ein Doppelleben erscheine. (Schnitzler zitiert nach Weiss 1967, S. 267)
Schüler_innen können in einem problemorientierten Unterricht, der Multiperspektivität, Kontroversität und Fremdverstehen als Prinzipien anerkennt, in verschiedener Weise mit Textausschnitten zu diesem Konflikt arbeiten. Auf analytischer Ebene lassen sich auf der Stufe des Verstehens Sequenzen näher betrachten, in denen eine der zehn Figuren mit zwei wechselnden Partner_innen auftritt. Hinsichtlich der Frage nach der Doppelmoral und dem Doppelleben im Lichte der Psychoanalyse-Kritik lassen sich im Übergang von der Stufe des Erklärens zu der des Anwendens Beurteilungen schreiben, präsentieren und zur Diskussion stellen. Auf der Produktionsebene bietet sich die Anfertigung eines inneren Monologes oder Tagebucheintrages einer Figur der Wahl an, in welchem der psychische ›Kampf‹ mit dem eigenen Mittelbewusstsein deutlich wird. Dabei wird Implizites explizit gemacht, was Bemühungen auf der Stufe des Erklärens voraussetzt. Standbilder und lebende Skulpturen können als Elemente der szenischen Interpretation herangezogen werden, um den Kontrast zwischen innerer und äußerer Handlung interpretatorisch zu schärfen, die Diskrepanz zwischen Selbstund Fremdbild darzustellen oder den Wandel der Beziehung der Partner_innen vor und nach der erotischen Begegnung zu verdeutlichen. Im produktionsorientierten Rahmen können an geeigneter Stelle auch alternative Handlungsver-
Heuchelei einzustufen wären. Für Schnitzler haben sie die Qualität des Halbbewußten.« (Thomé 1998, S. 102ff.)
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läufe für die Szenen erwogen werden, was die Kompetenzen des Anwendens und Applizierens (bzw. Reflektierens und Bewertens) anspricht und auch Aktualisierungsbemühungen umfassen kann.
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Der Sexualpathologie-Interdiskurs im Reigen – Textseitige Expertise und didaktische Schlussfolgerungen zu Wertungen in Geschlechterbeziehungen
Bisher wurden Fragen der Sexualökonomie und moralischen Verantwortung des Subjekts im Reigen vor dem Hintergrund der Psychoanalyse-Kritik Schnitzlers gedeutet. Nun sollen historische Konzepte von männlicher und weiblicher Sexualität mit einbezogen werden, um die Wertedebatte auch literatur- und kulturgeschichtlich zu akzentuieren. Die Aussagen des Gatten im Ehegespräch des zentralen fünften Dialogs drücken die offizielle bürgerliche Sexualmoral der Zeit aus. Das Verhalten aller Figuren-Paare ist ein impliziter Kommentar (vgl. Thomé 1998, S. 102) auf diese sittliche Doktrin. Andreas Wicke arbeitet zum Problem der Ehe in der Wiener Moderne heraus: Geradezu plakativ hat Arthur Schnitzler die beiden um 1900 relevanten Ehediskurse – ›bürgerlich‹ vs. ›modern‹ – in seinem Theaterstück Reigen dargestellt. [Es] verkörpert der Mann [im fünften Dialog, Anm. d. Verf.’in] den alten Diskurs einer bourgeoisen Doppelmoral, der von einer starren Fixierung der Geschlechtscharaktere ausgeht, die Frau vertritt, stets moderat, den modernen Diskurs und versucht diese Fixierung zu lockern. (Wicke 2000, S. 173f.)
So unterscheidet der Gatte Karl strikt zwischen der »Heiligkeit« der Ehe (R, 43) mit »anständige[n] Frauen« (R, 47): »Man liebt nur, wo Reinheit und Wahrheit ist« (R, 52) und Verhältnissen mit den »armen Geschöpfe[n]« (R, 46), auf die die Männer vor der Ehe »angewiesen sind« (ebd.) und die dazu verdammt sind, immer tiefer zu fallen und früh zu sterben. Allzu stürmische Bekundungen der Sinnlichkeit seiner Frau quittiert er mit: »denk doch, daß du Mutter bist […] daß unser Mäderl da drin liegt« (R, S. 48). Worauf seine Frau Emma ihm entgegnet: »Geh sei nicht so […] freilich bin ich deine Frau […] aber ich möchte auch ein bissel deine Geliebte sein« (ebd.). Karls Ausführungen zum Unterschied des sexuellen Charakters von Mann und Frau, bürgerlicher Ehe und Mutterschaft sowie der Verwerflichkeit des weiblichen und der Bagatellisierung des männlichen Ehebruchs entsprechen der Lehrmeinung des Psychiaters und Rechtsmediziners Richard von Krafft-Ebing. Dieser begründete mit Psychopathia Sexualis (vgl. Krafft-Ebing 1893) die deutschsprachige Sexualwissenschaft. Schnitzler
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kannte das Werk gut, wie aus seinen Rezensionen hervorgeht.23 Krafft-Ebings Standardwerk diente der Erfassung und Kategorisierung sexueller Perversionen und dem Aufzeigen möglicher Therapieformen. Als Forensiker möchte er den Krankheitswert eines Sexualverhaltens feststellen und die ›Betroffenen‹ vor Strafverfolgung schützen. Um die Abweichungen von der Norm betrachten zu können, muss er diese Norm jedoch zuvor definieren. In Fragmente einer Psychologie des Sexuallebens definiert Krafft-Ebing das gesunde sexuelle Empfinden von Männern und Frauen (vgl. Krafft-Ebing 1893, S. 14ff.). So habe der Mann einen stärkeren Geschlechtstrieb als die Frau, doch fülle dieser ihn nicht aus, sondern stehe, sobald das Verlangen gestillt sei, hinter anderen Interessen und Aufgaben zurück. Dies unterscheide den Mann sexuell von der Frau: Anders das Weib. Ist es geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. […] Gleichwohl macht sich im Bewusstsein des Weibes das sexuelle Gebiet mehr geltend als in dem des Mannes. [A]ber [ihre] Liebe ist mehr eine geistige als eine sinnliche. (Ebd., S. 14)
Die weibliche Sexualität sei passiv und monogam, die des Mannes von Natur aus polygam. Die Frau suche in erster Linie den geeigneten Vater für künftige Kinder und nicht den Liebhaber: »Vor der Mutterliebe schwindet die Sinnlichkeit.« (Ebd.) Deshalb erlebe die Frau im ehelichen Geschlechtsverkehr weniger die sexuelle Befriedigung als vielmehr den Beweis der Liebe und Fürsorge des Gatten und Kindsvaters. Aus dem Gesagten leitet Krafft-Ebing ab, dass weiblicher Ehebruch widernatürlich sei und schwerer wiege als der des Ehemannes (vgl. ebd., S. 15). Die Gesellschaft verlange von der unverheirateten Frau zurecht Keuschheit, denn »[a]uf der Culturhöhe des heutigen gesellschaftlichen Lebens ist eine socialen sittlichen Interessen dienende sexuale Stellung des Weibes nur als Ehefrau denkbar« (ebd., S. 16). Krafft-Ebing versteht die bürgerliche Ehe und Familie als das Resultat einer kulturellen Höherentwicklung der menschlichen Natur. Diese sei bislang lediglich in Europa und der europäisch geprägten Welt und auch dort nur unter Ausnahme der Unterschichten erreicht (vgl. ebd., S. 2ff.). Innerhalb dieser Kulturstufe können Verstöße gegen die sittliche Norm nur als Resultat einer krankhaften Degeneration (in Folge des Großstadtlebens und der Überfeinerung der Aristokratie) oder mit einer ererbten Konstitution der Nerven oder der Genitalien erklärt werden. In jedem Fall seien sie behandlungsbedürftig. Dass sich alle männlichen und weiblichen Figuren im Reigen deviant verhalten, ohne pathologisch zu wirken oder Teil ›fremder‹ Kulturen
23 Schnitzler rezensierte Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis in der Internationalen Klinischen Rundschau 5 (1891) und 7 (1893) (vgl. Thomé 1991, S. 239ff., S. 315f.).
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oder prekärer sozialer Verhältnisse24 zu sein, zeigt, dass die Normen der Sexualwissenschaft, auf die sich der Ehemann beruft, nicht mit der Triebnatur des Menschen übereinstimmen können: »Was alle tun, kann nicht krank sein, wenn der Begriff der Krankheit einen Sinn haben soll« (Thomé 1998, S. 107). Schnitzlers Reigen bildet dementsprechend das Medium eines subversiven Gegendiskurses, weil es den Kontrast zwischen Norm und Praxis aufzeigt. Freilich haben alle Figuren die sittlichen Normen, gegen die sie verstoßen, verinnerlicht. Sie opponieren keineswegs offen gegen die bürgerliche Sexualmoral, die Eheideologie und die Geschlechterrollen von Mann und Frau. Vielmehr simulieren sie im Zuge des Übertretens deren Geltung, was sie in einen lügnerischen (Selbst-)Widerspruch führt. Die Frauen zieren sich, täuschen Scham vor, geben sich passiv, unwissend, verführt und überwältigt. Durch das Aufsuchen des für den Sexualkontakt bestimmten Ortes (R, 12, 26, 55 u. a.) und allerlei vorbereitende Handlungen (R, 20, 34, 40) wird der falsche Schein jedoch entlarvt. Die Männer werben aggressiv um die Frauen, camouflieren aber das rein sexuelle Interesse mit Versatzstücken des romantischen Liebesdiskurses (R, 12, 13, 22, 32, 36, 63, 71, 88 u. a.). Die Frauen fordern postkoital Liebesbekundungen ein (R, 16, 31, 63, 66 u. a.). Frauen wie Männer entschuldigen die rasche sexuelle Begegnung mit der Erinnerung an eine frühere Liebe, die die Ähnlichkeit des aktuellen Partners wecke (R, 116, 59, 63 u. a.). Nur die Dirne und die Schauspielerin nehmen die aktive Rolle des Mannes im Liebeswerben ein, was dazu führt, dass die mit ihnen interagierenden Männer umgekehrt ›feminines‹ Verhalten annehmen. Schnitzler erscheint mit Reigen als Moralist in den Diensten der Vernunftorientierung und Aufklärung, indem er die Sittlichkeitsideologie des Wiener Bürgertums als Fassade für die allgegenwärtige Doppelmoral entlarvt: »Wer den Prinzipien [Hervorh. i. O.] nicht getreu zu leben versteht, die er verkündigt, ist ein Hochstapler und ein umso schlimmerer, je ernsthafter er selbst an diese Prinzipien glaubt« (Schnitzler zitiert nach Weiss 1967, S. 284), urteilt Schnitzler mit dem hier Herausgearbeiteten übereinstimmend in einem Aphorismus. Analytische didaktische Zugriffe auf die skizzierte Problematik können sich darauf beziehen, dass die Schüler_innen die zeitgenössischen Geschlechterstereotype auf Grundlage des Ehegesprächs und von Textschnipseln aus KrafftEbings Publikation mit eigenen Worten erläutern (d. i. die Stufe des Verstehens) und in einem nächsten Schritt mit den Handlungen und Reden aller oder ausgewählter weiblicher oder männlicher Figuren des Stückes vergleichen (d. i. die Stufe des Erklärens). Darauf aufbauend sollten Deutungsbemühungen der Lernenden hinsichtlich der Botschaft des Stückes im Lichte der damals geltenden 24 Eine Ausnahme könnte man in der Dirne sehen, wobei zu beachten ist, dass Leocadia sich trotz ihres gesellschaftlich verrufenen Berufes Freundlichkeit und Herzenswärme bewahrt hat und nicht übermäßig an der Prostitution zu leiden scheint.
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Rollenmodelle von Mann und Frau folgen (d. i. die Stufe des Erklärens im Rahmen eines höheren Anforderungsniveaus). Der Transfer der Fragestellungen auf die Gegenwart und die eigene Lebenswelt kann mit geeigneten Impulsen angebahnt werden. So lässt sich nach der Aktualität des Geschlechter-Konflikts im Reigen fragen und es können thematisch verwandte Diskussionen in der medialen Öffentlichkeit zur Rolle von Frauen (Müttern) und Männern (Vätern) der letzten Jahre recherchiert und diese in die Beurteilung mit einbezogen werden (Stufe der Anwendung und Applikation).25 Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie Schüler_innen die Aufführbarkeit von Schnitzlers Stück einschätzen: Sollte es heutzutage im Theater gespielt werden? Ist es dann nur von literatur- und kulturgeschichtlichem Interesse oder kann das Stück den Zuschauer_innen auch bei der Reflexion und Bewältigung aktueller Wertekonflikte des Geschlechtslebens helfen? Welche Modernisierungsbemühungen bieten sich für eine Theaterinszenierung oder Verfilmung an?
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Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte – Fachliche Expertise und didaktische Schlussfolgerungen zum Reigen-Skandal und den Reigen-Prozessen
Die Wirkungsgeschichte »gehört eng und illustrativ zum Text« (Fiedl 1996, S. 33) und sollte ein Bestandteil der unterrichtlichen Behandlung des Reigen sein. Die kritische Beurteilung des Reigen-Skandals ist dank der detaillierten Dokumentation (vgl. Pfoser et al. 1993, Bd. 1) relevanter Briefe, Berichte, Rezensionen, Gutachten und Prozessberichte möglich. Der Text erscheint im Jahr 1900 als Privatdruck mit 200 Exemplaren für ausgewählte Personen. Im Vorwort bittet der Autor um einen diskreten Umgang damit (vgl. Pfoser et al. 1993, Bd. 1, S. 211). Schnitzlers Berliner Verleger Samuel Fischer empfiehlt ihm, mit dem Buch zunächst die liberalere Vorzensur im Habsburgerreich zu passieren, um einer Veröffentlichung in Deutschland den Boden zu bereiten.26 1903 erscheint das Drama in Österreich im wenig angesehenen Wiener Verlag und wird zur literarischen Sensation. 1904 wird der Text erstmals als unzüchtig beschlagnahmt, was sich anschließend in Deutschland und Österreich mehrmals wiederholt. Ein Verbotsverfahren reiht sich an das nächste, sodass die jeweiligen Ausgaben aus den Buchhandlungen entfernt und nicht mehr ausgeliefert werden dürfen, solange ein Verfahren anhängig ist. Erst 1931, kurz vor dem Tod seines Autors, erscheint Reigen in Schnitzlers Hausverlag S. Fischer in Berlin. Im Mai 1933 wird 25 Dazu können jüngere öffentliche Debatten herangezogen werden wie »Regretting Motherhood« (vgl. Donath 2016) oder die »Me-Too-Debatte« (vgl. Kantor / Twohey 2020). 26 Fischer an Schnitzler, 30. August 1899 (vgl. ebd., S. 209f.).
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es von den Nationalsozialisten öffentlich verbrannt. Die frühe Aufführungsgeschichte ist ebenfalls turbulent. Bereits im November 1903 wurde eine geplante öffentliche Lesung mit dem Literaturkritiker Hermann Bahr polizeilich verboten. Uraufführungen des Dramas erfolgen am 23. Dezember 1920 am Berliner Schauspielhaus und am 01. Februar 1921 an den Wiener Kammerspielen. Gegen die Wiener Aufführung wird mit Hetzkampagnen in diversen Zeitungen agitiert. Es kommt in der österreichischen Hauptstadt zu antisemitisch motivierten Protesten gegen das Stück und den Autor, die in pogromartigen Störungen der Theaterabende gipfeln. Ein ähnlicher Aufruhr entsteht in der Berliner Spielstätte. »Nur zu gern wollte man mit diesem Stück das Vorurteil vom unmoralischen, sittenzersetzenden jüdischen Literaten bestätigt sehen« (Gutjahr 1988, S. 71). Im November 1921 wird in Berlin ein juristischer Prozess um das Stück angestrengt.27 Angeklagt sind die Schauspieler, der Regisseur und die Theaterdirektion wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Beihilfe dazu. Der Prozess endet mit dem Freispruch aller Angeklagten, da kein unzüchtiges Verhalten auf der Bühne nachgewiesen werden kann. Der Richter betont in seinem Urteilsspruch vielmehr den ethischen Gehalt28 des Stückes und lobt die dezente Inszenierung, die jeden Anstoß vermeide. Die Verteidigung stellt fest, dass nationalistische und antisemitische Stimmungen den Streit um den Reigen befördert haben. Die Skandale um den Reigen weisen im Rückblick auf die Kulturpolitik des nationalsozialistischen Regimes voraus. Die antisemitischen Kampagnen und der pauschale Pornografie-Vorwurf lassen Schnitzler selbst weitere Aufführungen des Dramas untersagen. Diesem Wunsch entspricht sein Sohn, Heinrich Schnitzler, bis in das Jahr 1981 (vgl. Pfoser et al. 1993, Bd. 1, S. 9). Seit der Aufhebung des autorseitigen Aufführungsverbotes durch die Schnitzler-Erben ist eine rege Aufführungspraxis des Reigen festzustellen und die filmischen Adaptionen sind zahlreich (vgl. Schneider 2008). Diese Wirkungsgeschichte kann im Unterricht für Reflexionen und Urteile im Rahmen literarischer Bildungsprozesse herangezogen werden, indem vor dem Hintergrund geeigneter Informations- und Hilfsmaterialien kritisch erörtert wird, was als Pornografie und was als Literatur bzw. Kunst gelten kann und 27 Es hatte bereits im Januar desselben Jahres einen Zivilprozess zwischen der Hochschule für Musik und dem Kleinen Schauspielhaus in Berlin gegeben, der mit einem Vergleich geendet hatte. Der Vorwurf der Unsittlichkeit des Stückes diente den Vertretern der Hochschule dabei als Mittel zum Zweck, um das Theater vor Vertragsablauf aus ihren Räumlichkeiten zu entfernen (vgl. Pfoser et al. 1993, Bd. 2, S. 46; die folgenden Ausführungen zu den Prozessen beziehen sich stets auf diese Publikation). 28 »Das Stück verfolgt nun, wie das Gericht aus der Beweisaufnahme feststellt, einen sittlichen Gedanken. Der Dichter will darauf hinweisen, wie schal und falsch das Liebesleben sich abspielt. Er hat […] bei Abfassung seines Werkes nicht die Absicht gehabt, Lüsternheit zu erwecken. Der Inhalt ist auch nach Überzeugung des Gerichts ein ethischer. Der Dichter wollte durch sein Werk bessernd wirken.« (Pfoser et al. 1993, Bd. 2, S. 266f.)
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welche ästhetischen und rechtlichen Maßstäbe zur Kategorisierung dienen. Es bieten sich hinsichtlich des Fallbeispiels Reigen produktionsorientierte Arbeitsaufträge auf der Stufe der Anwendung und Applikation an, wie einen Brief mit der persönlichen Einschätzung an den Autor zu schreiben, die Rezension des Theatertextes oder einer Inszenierung bzw. Verfilmung anzufertigen sowie für oder gegen die Inszenierung des Stücks in einem Jugendtheaterprojekt zu argumentieren. Makromethoden aus dem Bereich der Rollenspiele wie eine Debatte zum Verbotsverfahren, die Simulation einer Talkshow oder Podiumsdiskussion sowie einer Gerichtsverhandlung zu der Frage, ob der Reigen jugendgefährdend und sittenzersetzend sei, versprechen ebenfalls differenzierte Beiträge zur Wertereflexion. Hierbei können andere klassische oder auch aktuelle Beispiele von Literatur-Skandalen und Rechtsstreitigkeiten um literarische Medien zum Vergleich mit dem historischen Reigen-Skandal herangezogen werden.29 Des Weiteren kann über die Funktionen von Literatur in der Gesellschaft im Allgemeinen debattiert werden. Bei allen Rollenspiel-Aktivitäten sollten die Lernenden optimalerweise ihre Positionen selbstständig in kooperativen Lernsituationen mit den Peers aus dem Quellenmaterial erarbeiten und keine fertigen Steckbriefe oder Drehbücher von der Lehrperson vorgegeben bekommen. Dabei können einerseits zugeloste Positionen (z. B. ›ultrakonservativer Kirchenvertreter‹ oder ›Frauenrechtlerin‹) von den Schüler_innen mit Inhalten gefüllt werden, die sich nicht notwendigerweise mit ihrer persönlichen Haltung decken müssen. In einer anderen Variante vertreten die Schüler_innen ihre authentische Haltung in einem Gespräch.
29 Zu nennen ist der Roman Mephisto. Roman einer Karriere (1936 Amsterdam/1956 Ostberlin) Klaus Manns, der nach einer Klage des Adoptivsohns von Gustav Gründgens, Peter Gorski, erst 1981 in der Bundesrepublik erscheinen durfte. Der Rechtsstreit führte zum so genannten ›Mephisto-Urteil‹ des Bundesverfassungsgerichts (1971), das die Kunstfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht zueinander in Beziehung setzt. Bereits 1962 wird ein Antrag auf die Aufnahme von Günter Grass’ Novelle Katz und Maus in die Liste der jugendgefährdenden Schriften erhoben, da der Text pornografisch sei. Der Klage wird nicht stattgegeben. Es folgen in den nächsten Jahren wiederholt Proteste durch Veteranenverbände gegen die Erzählung und ihre Verfilmung, die mit der Verunglimpfung des Soldatenstandes in Katz und Maus begründet werden. Als ein jüngeres Beispiel kann das Veröffentlichungsverbot des Romans Esra (2003) von Maxim Biller gelten, welches mit der Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Ex-Partnerin des Autors begründet wurde. Der Roman befindet sich im Archiv des Kölner Verlagshauses Kiepenheuer und Witsch und ist bis heute nicht erschienen. Ähnlich wie Maxim Billers Ex-Partnerin fühlte sich auch im Jahr 2016 der türkische Staatschef R. T. Erdog˘an durch Jan Böhmermanns Gedicht Schmäh-Kritik, gegen welches er klagte und so eine erneute öffentliche Debatte um Charakter und Grenzen der Kunstform Satire auslöste. Zur literaturwissenschaftlichen Sicht auf das Phänomen des Literaturskandals vgl. Bartl/ Kraus 2014 sowie Neuhaus/Holzner 2007.
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Resümee
Schnitzlers Stück ist ein historisches Medium für eine kulturvergleichende Lektüre. Die Leseerfahrung erstreckt sich auf verschiedene Themenkomplexe und deren problemorientierte Behandlung. Zu nennen sind die Hinterfragung moralisch-sittlicher Normen innerhalb der Sexualökonomie einer Gesellschaft, Geschlechterrollen in intimen Konstellationen und die rechtlichen und ethischen Grenzen literarischer Freiheit. Die Basis besteht in der Beschreibung und Analyse der vergangenen Kultur anhand des literarischen Textes, herangezogener Paralleltexte und Dokumente der Wirkungsgeschichte. Im weiteren Verlauf sollte eine Deutung, Reflexion und Bewertung des kulturellen Wertesystems erfolgen, wie es der poetische Text als historisch-ästhetisches Artefakt widerspiegelt. Die unterrichtliche Behandlung, die über die textimmanenten Verstehensbezüge hinausweist, umfasst den Transfer der Erkenntnisse auf die gegenwärtige Gesellschaft und die Lebenswelt des Lesers/der Leserin. Diese Übertragung sollte sich auf die Reflexion und kritische Bewertung eigener moralischer Standards und aktueller kultureller Ordnungsmuster fokussieren. Die angestrebten Lernund Erkenntnisziele umfassen die Sensibilität gegenüber Formen der Scheinmoral. Sie erstrecken sich auf die Fähigkeit, eine kritisch-gendersensible Position in Wertefragen einzunehmen und die eigene Sichtweise argumentativ plausibel zu begründen.
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Gewalt und/oder Tugend
Judith Leiß
Wert? Norm? Tugend? Ethische Kompetenz als Instrument und Zieldimension eines werteorientierten Literaturunterrichts – am Beispiel von Kleists Michael Kohlhaas
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Einführung
In einem literaturdidaktischen Masterseminar bekamen die Studierenden den Auftrag, ausgewählte literarische Texte daraufhin zu analysieren, welche Werte in ihnen thematisiert werden. Allen Studierenden gelang es, für den jeweils bearbeiteten Text einen oder mehrere Werte zu benennen. Allerdings benannte keine der rund 20 angehenden Deutschlehrkräfte tatsächlich nur Werte. Die Ergebnislisten enthielten allesamt auch Tugenden, die den literarischen Figuren zugeschrieben wurden. Für Lindgrens Pippi Langstrumpf etwa wurden nicht nur Diversität und Freiheit als zentrale Werte genannt, sondern auch Großzügigkeit und Tapferkeit. Darauf aufmerksam gemacht und mit der Frage konfrontiert, wie sich die Begriffe ›Wert‹, ›Norm‹ und ›Tugend‹ zueinander verhalten, zeigte sich bei den Studierenden große Unsicherheit. Dieses Defizit stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Beobachtung, dass die Diskussion darüber, welche Normen, Werte und Tugenden in einem konkreten literarischen Text thematisiert werden, in den Seminarsitzungen regelmäßig zu intensiven und produktiven Auseinandersetzungen führte. Auffallend war dabei, dass die Begriffsarbeit es den Studierenden offensichtlich erleichterte, eigenständig Deutungsansätze zu entwickeln, diese mit anderen Lesarten in Bezug zu setzen und dabei eng am Text zu argumentieren. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und weiterführender theoretisch-konzeptioneller Überlegungen möchte ich in dem vorliegenden Beitrag dafür plädieren, der Unterscheidung zwischen ›Wert‹, ›Norm‹ und ›Tugend‹ im Literaturunterricht einen angemessenen Platz einzuräumen. Die besagte begriffliche Differenzierung kann besonders dann ein hilfreiches Instrument sein, wenn literarisches Lernen und Werteerziehung so miteinander verbunden werden sollen, dass Werteerziehung kein Add-On ist, sondern integraler Bestandteil des Literaturunterrichts.
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Grundlagen
2.1.
Werte, Normen, Tugenden: interdependent und interpretationsbedürftig
Um dies näher ausführen zu können, bedarf es zunächst einer Klärung der zentralen Begriffe ›Wert‹, ›Norm‹ und ›Tugend‹. Vor allem die Begriffe ›Wert‹ und ›Norm‹ werden häufig undifferenziert gebraucht – nicht selten durch die synonymisierende Zusammenziehung beider Begriffe in der Phrase ›Werte und Normen‹ (vgl. Anselm 2012a, S. 405). Was also ist unter ›Wert‹ respektive ›Norm‹ genau zu verstehen und wie lässt sich der Zusammenhang zwischen beiden beschreiben? Mit Standop möchte ich zunächst zwischen Güterwert (»eine Werteigenschaft, die ein Gut für ein wertendes Individuum besitzt«) und Orientierungswerten (»Ideale oder Leitbegriffe, an denen wir uns in allen unseren Wertungen orientieren«) unterscheiden (Standop 2005, S. 13). ›Wert‹ bezieht sich im Folgenden ausschließlich auf Orientierungswerte, die stets auf eine »grundlegende Vorstellung über erwünschte (End-)Zustände« verweisen, »die ausdrücklich oder unausgesprochen für das Streben eines Individuums, einer Gruppe bzw. einer Gesellschaft charakteristisch ist« (ebd.). Diese Vorstellungen werden »durch Lebens- und Sozialisationserfahrungen erlernt und sind durch Lern- und Bildungshilfen beeinflussbar. Werte bzw. Wertungen unterliegen als historische Phänomene epochal- und lebensgeschichtlichen Wandlungen« (Matthes 2004, S. 14). Da Werte als »grundlegende Vorstellung[en]« (Standop 2005, S. 13) sehr abstrakt sind und sich auf eine unendliche Zahl von Sachverhalten beziehen können, müssen sie hinsichtlich ihrer Bedeutung für konkrete Situationen und Konstellationen interpretiert werden (vgl. ebd., S. 15). Dies geschieht unter anderem mittels Normen im Sinne von »Gesetze[n], Regeln, Gebote[n], Verbote[n]« (Amnicht-Quinn 2007, S. 9). Normen können als Handlungsanweisungen beschrieben werden, die aus Werten abgeleitet sind und daher wiederum auf diese zurückverweisen (vgl. Standop 2005, S. 17). Ähnliches gilt für Tugenden: ›Tugend‹ bezeichnet allgemein »die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Verwirklichung sittlicher Werte in Gesinnung und Handlung« (Regenbogen/Meyer 1998, S. 675). Konkrete Tugenden manifestieren sich in »erkennbar dauerhafte[n] – also im Habitus verankerte[n] Verhaltensformen« (Preuss-Lausitz 1996, S. 145). So verweisen sie zwar auf jene Werte zurück, deren Realisierung sie ermöglichen – allerdings sind sie als die »individuelle Seite sich wandelnder gesellschaftlicher Normen« »nicht eindeutig einem Wert oder einer Norm zugeordnet […]« (ebd.). Während also Normen gesellschaftliche »Verhaltenserwartungen« an das Individuum darstellen (Standop 2005, S. 18), sind Tugenden günstige individuelle Voraussetzungen und Verhaltensformen, die die Erfüllung dieser Erwartungen möglich und auch wahrscheinlich machen. Tugenden verweisen somit nicht nur auf Werte, sondern auch
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auf Normen, die aus diesen abgeleitet werden. Diese vielfältigen und engen Interdependenzverhältnisse (vgl. ebd., S. 17) mögen der Grund dafür gewesen sein, dass es den Studierenden in meinem Praxisbeispiel so schwerfiel, zwischen Werten, Normen und Tugenden zu unterscheiden. Insofern Normen und Tugenden nicht im Sinne einer logischen Deduktion aus Werten abgeleitet sind, sondern sozio-historisch bedingte Konkretisierungen und Interpretationen von Werten darstellen, ist auch ihr Verhältnis zu den jeweiligen Werten interpretationsbedürftig. Inwiefern beispielsweise eine bestimmte Rechtsnorm oder eine soziale Verhaltensnorm geeignet ist, zur gesellschaftlichen Verwirklichung eines konkreten Werts beizutragen, wird zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen kulturellen Konstellationen unterschiedlich beurteilt werden. Um ein produktives und friedliches Miteinander zu ermöglichen, müssen sich die Mitglieder einer Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe daher nicht nur mit der Frage auseinandersetzen, welche Werte die Grundlage des Zusammenlebens bilden sollen und in welcher Hierarchie diese Werte zueinander stehen. Damit gemeinsame Werte Halt und Orientierung bieten können, muss auch geklärt (bzw. darüber gestritten) werden, welche Normen aus diesen Werten abzuleiten sind und mit welchen Tugenden diese in Verbindung gebracht werden. Es ist daher davon auszugehen, dass sich auf der Ebene der Normen und der darauf bezogenen Vorstellungen von Tugendhaftigkeit ein mindestens ebenso großes Konfliktpotenzial ergibt wie auf der Ebene der Werte. Für die schulische Werteerziehung wäre daher viel gewonnen, wenn Unterricht dafür sensibilisierte, dass gesellschaftliche Konflikte in vielen Fällen nicht auf einen Konflikt der Werte zurückzuführen sind, sondern vielmehr auf einen Konflikt verschiedener Interpretationen ein und desselben Werts, die sich in unterschiedlichen Normen und Tugenden manifestieren. Ohne die Differenzierung zwischen Werten, Normen und Tugenden wird es kaum gelingen, derlei Konflikte angemessen zu beschreiben, geschweige denn aktiv und reflektiert am kollektiven Prozess der Bedeutungsaushandlung mitzuwirken.
2.2.
Werteerziehung
Ehe ich auf die Bedeutung der in Abschnitt 2.1 thematisierten begrifflichen Unterscheidungen und das grundlegende Verständnis der Interdependenz zwischen Werten, Normen und Tugenden für den werteorientierten Literaturunterricht eingehe, bedarf es zunächst einer näheren Bestimmung dessen, was überhaupt mit ›Werteerziehung‹ gemeint ist. Der Begriff wird schließlich zur Bezeichnung höchst unterschiedlicher Ansätze mit zum Teil divergenten anthropologischen, pädagogischen und psychologischen Voraussetzungen ver-
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wendet.1 Eingedenk der Warnung, Werteerziehung sei »ein weites Feld«, in dem man sich »leicht verlieren« könne (Matthes 2004, S. 12), werde ich hier allerdings konsequent nur jene Aspekte aus diesem ›weiten Feld‹ in meine Überlegungen miteinbeziehen, die den in Abschnitt 2.3 vorgestellten literaturdidaktischen Ansatz betreffen. Unabhängig davon, welche Ansätze genau der Tradition schulischer Werteerziehung zugerechnet werden und auf welche Vertreter_innen man sich im Einzelnen beruft – eine zentrale Demarkationslinie ist stets deutlich zu erkennen: »[E]ntweder geht es – formalbildend – um den Erwerb einer Beurteilungskompetenz, um die Fähigkeit zum Werturteil oder es geht – materialiter – um die Aneignung von ganz spezifischen, sozial wie pädagogisch wünschenswerten Normen und Werten« (Lämmermann 2004, S. 43). Während die materiale Werteerziehung also vor allem eine Vertiefung der Moralkompetenz anstrebt, besteht das Ziel der formalen Werteerziehung in der Vertiefung ethischer Kompetenz im Sinne einer Bewertungs- und Begründungskompetenz, die dazu befähigt, »philosophisch auf Moral zu reflektieren und diese […] mit dem Ziel der begründeten Handlungsorientierung kritisch-argumentativ zu prüfen« (Dietrich 2007, S. 40). Zumindest innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses sind die Vertreter_innen der materialen Werteerziehung seit langem in der Minderzahl. Dem Ansatz wird Indoktrination vorgeworfen (vgl. z. B. Mauermann 2004, S. 28), weshalb viele Autor_innen ihn »für unsere pluralistische, kulturell vielfältige Gesellschaft für völlig untauglich halten« (ebd., S. 17). Diese Einschätzung ist auch innerhalb des deutschdidaktischen Diskurses dominant (vgl. Matthes/Menzel 2010, S. 207), der stark vom kognitivistischen Ansatz Kohlbergs geprägt ist: Nach kognitivistischer Auffassung entwickelt sich ein Individuum durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Ein indoktrinierendes Lehren oder eine Verhaltenskonditionierung widersprechen einem solchen Entwicklungsprozess. In der moralischen Erziehung kann es deshalb nach kognitivistischer Auffassung nicht darum gehen, Werte zu vermitteln, moralische Lehrsätze beizubringen oder richtiges Verhalten anzutrainieren. Vielmehr gilt es, die Heranwachsenden mit Problemsituationen zu konfrontieren und sie zur selbstständigen Auseinandersetzung anzuhalten. (Spinner 2015b, S. 78f.)
Werteerziehung im Literaturunterricht ziele dabei nicht (primär) auf die Lösung von Wert- bzw. Normkonflikten ab, sondern auf die Konfrontation mit Fragen, weshalb der Unterricht mehr von Problemstellungen als von Ergebnissen her geplant werden solle (vgl. ebd., S. 84f.). Kritiker_innen haben dem formalen Ansatz der Werteerziehung insofern ethischen Relativismus vorgeworfen, als er von der »Gleich-Gültigkeit aller subjektiven Wertsetzungen« ausgehe (Wiater 2010, S. 17). Formale Werteerzie1 Für eine Übersicht vgl. etwa Mauermann (2004, S. 27–33) oder Standop (2005, S. 74–79).
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hung, wie sie etwa Spinner in literaturdidaktischer Akzentuierung Kohlbergs vertritt, ist jedoch allenfalls in dem Sinne relativistisch, dass sie alle Werturteile seitens der Schüler_innen grundsätzlich zulässt. Die Legitimation dieser pädagogischen Praxis hingegen ist durchaus an bestimmte Werte gebunden, was sich beispielsweise in der Formulierung erkennen lässt, dass Lernprozesse, die zu freien Gewissensentscheidungen befähigen sollen, »selbst von Selbstständigkeit und Freiheit des Denkens gekennzeichnet sein« müssen (Spinner 2015b, S. 79). Das »Paradoxon der Werteerziehung, das darin besteht, dass man zum Wert der ›Problematisierung von Werten‹ erziehen will« (Anselm 2012a, S. 407), kann also aufgelöst werden, indem zwischen zwei Ebenen unterschieden wird, nämlich zwischen der Ebene dessen, was gelehrt (bzw. nicht gelehrt) wird, und der Ebene dessen, was als Legitimation für die Lehre herangezogen wird. Auf der Legitimationsebene ist auch die formale Werteerziehung an konkrete Werte gebunden – im zitierten Beispiel etwa an die Freiheit als Grundwert unserer demokratischen Gesellschaftsordnung – und damit im Einklang mit den normativen Setzungen, die für den Bereich der schulischen Bildung von Relevanz sind – etwa den UN-Menschenrechtskonventionen und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Standop 2005, S. 19). Diese Wertgebundenheit transparent zu machen, scheint mir allerdings sehr bedeutsam zu sein, um auf Seiten der Lernenden erst gar nicht den Eindruck entstehen zu lassen, man befinde sich in der Schule in einem Wertevakuum, in dem Meinungsfreiheit sich aus der Gleichgültigkeit der Lehrkräfte ergibt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird unter Werteerziehung im Folgenden die Summe aller unterrichtlichen Maßnahmen verstanden, die unter Bezugnahme auf demokratische Werte wie Menschenwürde, Freiheit und Diversität nicht nur auf jegliche Form der Indoktrination verzichten, sondern dieser durch gezielte Stärkung der Werturteilskompetenz2 aktiv vorbeugen, wobei sie die eigene Wertebasis offenlegen.
2.3.
Werte und Normen als Gegenstände eines werteorientierten Literaturunterrichts
Sofern sich sowohl in literarischen Texten selbst als auch im Umgang mit ihnen Wertvorstellungen und Haltungen der Produzent_innen und der Rezipient_innen zeigen, ermöglicht es Literatur, »sich im gesellschaftlichen Kontext ästhetisch, aber auch ethisch oder politisch zu positionieren« (Abraham/Kepser 2006, S. 16). Daher gehört Werteerziehung zum Kerngeschäft eines kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturunterrichts (vgl. Anselm 2012a, S. 411): Werte 2 In der Terminologie Dietrichs wäre dies die ethische Kompetenz (vgl. Dietrich 2007, S. 40).
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und Normen können hier in ihren literarischen Manifestationen vergegenwärtigt, miteinander verglichen und kritisch auf die eigene Lebenswelt bezogen werden. Das Wissen um den Unterschied zwischen Werten und Normen, um ihre Interdependenz und ihre Historizität ist eine der erwünschten ›Folgefunktionen‹ (vgl. Rupp/Heyer/Bonholt 2004, S. 127), die sich aus einem solchen Literaturunterricht ergeben können. Dieses Wissen kann allerdings nicht nur Effekt einer Werteerziehung durch Literatur sein, sondern auch Mittel, um Wege zur Literatur zu eröffnen.3 Werte und Normen als Gegenstände des Literaturunterrichts verweisen also keinesfalls notwendig auf einen Literaturunterricht, der einseitig die Literatur in den Dienst von Werteerziehung stellt. Vielmehr können die begriffliche Differenzierung zwischen Werten und Normen sowie grundlegende Analysekompetenzen im Zusammenhang mit der Interdependenz und Historizität von Werten und Normen auch für das »literarische […] Lernen im engeren Sinne« (Spinner 2015a, S. 189) fruchtbar gemacht werden, wie es Spinner mit seinen elf Aspekten literarischen Lernens umreißt (vgl. Spinner 2006). Diese möglichen Wechselwirkungen gilt es im Literaturunterricht zu betonen, um, wie Anselm fordert, zwischen der moralisch-ethischen Dimension und der literarästhetischen Dimension des Literaturunterrichts einen Ausgleich zu schaffen (vgl. Anselm 2012b, S. 21). Als ›werteorientiert‹ bezeichne ich vor dem Hintergrund dieser Forderung einen Literaturunterricht, der literarisches Lernen und Werteerziehung möglichst konsequent miteinander verschränkt, sodass der Ausbau ethischer Kompetenz nicht nur Ergebnis der Arbeit am literarischen Text ist, sondern zugleich als Ausgangspunkt für den Ausbau der literarischen Kompetenz dient. Wie im Folgenden am Beispiel von Kleists Michael Kohlhaas illustriert werden soll, kann dieser Ansatz gerade für die Lektüre solcher Texte hilfreich sein, die sowohl hinsichtlich der ästhetisch-literarischen Gestaltung als auch hinsichtlich der nicht zuletzt durch ihre spezifische ästhetisch-literarische Gestaltung implizierten ethischen Fragestellungen hohe Ansprüche an Lernende und Lehrende stellen.
3 Zur Unterscheidung zwischen Erziehung zur Literatur und Erziehung durch Literatur vgl. Fritzsche 1994, S. 98–101.
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Beispiel: Michael Kohlhaas
3.1.
Michael Kohlhaas als Gegenstand eines werteorientierten Literaturunterrichts
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Kleist »war in höchstem Grade, was man einen unbequemen Autor nennt, eine Zumutung und mitunter ein schneidiger Provokateur. Es gibt viele gute Gründe, ihn als einen ›rebellischen Klassiker‹ zu bezeichnen« (Frick 2014, S. 13). Aus literaturdidaktischer Perspektive ist der Autor Kleist nicht zuletzt mit Michael Kohlhaas zum Klassiker avanciert.4 Die lose an historischen Fakten orientierte Erzählung handelt vom Rosshändler Michael Kohlhaas, der auf dem Weg von seiner Brandenburgischen Heimat nach Dresden ohne rechtliche Grundlage bei der Burg des Junkers Wenzel von Tronka angehalten wird. Man lässt ihn nur unter der Bedingung weiterziehen, dass er zwei der zum Verkauf bestimmten Pferde zurücklässt, bis er einen Passierschein vorweisen kann. Bei Kohlhaas’ Rückkehr sind die einst gesunden Tiere in einem sehr schlechten Zustand, ebenso wie sein Knecht Herse, der bei den Pferden geblieben und von den Männern des Junkers misshandelt worden war. Kohlhaas versucht nun, den Junker mit den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln zur Verantwortung zu ziehen. Doch dieser nutzt seine Macht und seine persönlichen Verbindungen, um sich zu entziehen. Zudem erleidet Kohlhaas’ Frau bei dem Versuch, ihrem Mann zu helfen, eine tödliche Verletzung. Kohlhaas zieht daraufhin los, um Selbstjustiz zu üben. Er legt die Burg des Junkers in Schutt und Asche und verfolgt den flüchtigen Burgherrn mit einem immer größer werdenden Gefolge nach Wittenberg. Durch Brandschatzung versucht er, die Herausgabe des Junkers zu erpressen, wobei er auch den Tod Unbeteiligter billigend in Kauf nimmt. In Wittenberg trifft Kohlhaas, dem militärisch selbst durch ein größeres Heer unter erfahrener Führung nicht beizukommen ist, auf Martin Luther. Dieser verspricht ihm, für die Annahme seiner Klage vor Gericht zu sorgen – unter der Bedingung, dass er seinen persönlichen Rachefeldzug beenden möge. Die Erzählung enthält noch weitere retardierende Momente wie dieses: Luther bewegt den Kurfürsten von Sachsen dazu, Kohlhaas freies Geleit zu gewähren, um seinen Streit mit dem Junker in Dresden vor Gericht bringen zu können. Doch in Dresden stellt man ihm eine Falle, die zu seiner Verhaftung führt. Und obwohl der wortbrüchige Kurfürst von Sachsen sich schließlich doch noch (aus eigennützigen Motiven) für Kohlhaas einsetzt, endet 4 In Bönnighausens und Vogts Werklexikon zum Deutschunterricht etwa wurde die Erzählung zusammen mit Die Marquise von O… und Das Erdbeben in Chili aufgenommen (vgl. Ranke/ Breuer 2014, S. 474f.). Auch in Jochen Duderstadts Zwangslektüre. Die 25 meistgelesenen Schulklassiker (2013) fand Michael Kohlhaas Aufnahme.
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die Erzählung mit der Hinrichtung des Protagonisten in Berlin. Kurz vor seiner Enthauptung erfährt Kohlhaas allerdings, dass seiner Klage gegen Wenzel von Tronka endlich stattgegeben wurde. Obschon als Landfriedensbrecher hingerichtet, stirbt Kohlhaas als geehrter Mann, dessen »Leiche unter einer allgemeinen Klage des Volks in einen Sarg« (Kohlhaas, S. 109) gelegt wird und dessen Kinder zu Rittern geschlagen werden. Mit Blick auf die Integration von Werteerziehung und literarischem Lernen im engeren Sinne ist dieser Text insofern von besonderem Reiz, als viele der implizierten ethischen Probleme nur erkennbar und in ihrer Komplexität beschreibbar sind, wenn die Leser_innen dabei auf vergleichsweise ausgeprägte literarische Kompetenzen zurückgreifen können.5 Auch eine dem Gegenstand angemessene Beurteilung der verhandelten Werte- und Normenkonflikte ist somit auf literarische Kompetenz angewiesen. Umgekehrt ist ethische Kompetenz notwendig, um den Text als literarischen Text angemessen rezipieren zu können. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang schlaglichtartig illustriert werden. Dabei sollen mögliche Ansatzpunkte für die Lektüre des Michael Kohlhaas im Rahmen eines werteorientierten Literaturunterrichts erarbeitet werden, die als Basis für die Unterrichtsplanung dienen können. Die Verweise auf Einführungs- bzw. Überblickswerke sollen als Hilfestellung dienen, um hier etwaige Wissenslücken zu schließen oder vorhandenes Wissen anhand weiterführender Literatur zu vertiefen.6
3.2.
Räuber und Mörder aus »Rechtgefühl«7 – Oder: Worum geht es in Michael Kohlhaas?
Worum geht es in Michael Kohlhaas? Welche anthropologischen, sozialen und psychologischen Fragen und Probleme werden hier literarisch gestaltet? Welches ist der zentrale Konflikt und inwiefern bestimmt dieser Konflikt den Handlungsverlauf und die Figurendynamik? Diese Fragen zielen auf Verständnissicherung ab, ihre Diskussion kann aber darüber hinaus innerhalb der Lerngruppe eine geteilte Basis für die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text schaffen. Ihre Beantwortung setzt voraus, dass der gesamte Text gründlich gelesen wurde, 5 Zu den Voraussetzungen für die Lektüre des Textes im Schulunterricht vgl. von Brand 2007, S. 74. 6 Eine gute Orientierung bietet etwa Hamacher (2003a). Eine fachwissenschaftlich fundierte literaturdidaktische Einführung zu Michael Kohlhaas mit exemplarischen Textanalysen, Unterrichtshilfen und einem Überblick hat von Brand in der Reihe Oldenbourg Interpretationen vorgelegt (von Brand 2007). 7 Kohlhaas, S. 3. Zitiert wird hier und im Folgenden aus der Reclam-Ausgabe, um den Lehrkräften unter den Leser_innen die Unterrichtsplanung zu erleichtern.
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dass grundlegende Verständnisprobleme, die sich auf sprachlicher Ebene oder durch mangelndes Weltwissen ergeben, bereits aus dem Weg geräumt wurden und dass der äußere Handlungsverlauf nachvollzogen werden kann.8 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, wäre die Diskussion einer oder mehrerer der oben genannten Fragen eine Möglichkeit, gemeinsam Ansätze für die weiterführende Arbeit an und mit dem Text zu entwickeln. Solche Ansätze, etwa zur Erklärung von Kohlhaas’ (selbst-)destruktivem Verhalten, können unter anderem aus der Diskrepanz zwischen verschiedenen Schüler_innenantworten entwickelt werden – vorausgesetzt, es gelingt, diese miteinander in Bezug zu setzen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Antworten herauszuarbeiten. Die Unterscheidung zwischen Werten und Normen kann hier ein geeignetes Instrument sein, um Aussagen über die grundlegende Thematik von Michael Kohlhaas zu vergleichen, sie auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren bzw. zu präzisieren. In Ermangelung empirischen Materials aus Unterrichtsgesprächen sei dies an einem Praxis Deutsch-Beitrag mit Unterrichtsvorschlägen zu Michael Kohlhaas illustriert. Als zentrales Thema der Erzählung wird dort unter anderem »Gerechtigkeit und ihre Grenzen« genannt (Huller 2014, S. 40). Dass Michael Kohlhaas von »Gerechtigkeit und ihre[n] Grenzen« handelt, ist zwar – als elliptische Zusammenziehung des Sachverhalts gelesen – nicht falsch, kann (und sollte) aber doch präzisiert werden, wenn diese thematische Verortung Grundlage einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Text sein soll. Begrifflich unpräzise ist die Formulierung insofern, als ein Wert »eine grundlegende Vorstellung über erwünschte (End-)Zustände dar[stellt], die ausdrücklich oder unausgesprochen für das Streben eines Individuums, einer Gruppe bzw. einer Gesellschaft charakteristisch ist« (Standop 2005, S. 13). Der Wert ›Gerechtigkeit‹ stellt also ein gesellschaftliches Ideal dar und ist als solches absolut, d. h. er hat keine ›Grenzen‹ – diese können sich nur auf die Realisierung des Werts durch soziale Normen und Rechtsnormen sowie durch Haltungen und Handlungen der Individuen beziehen. Auf der Basis dieser Begriffsklärung könnte man die oben zitierte Antwort auf die Frage, worum es im Michael Kohlhaas gehe, nicht nur präzisieren. Es böte sich so auch die Möglichkeit einer produktiven Bezugnahme auf andere mögliche Antworten (von Schüler_innen, von Kleistforscher_innen oder Schulbuchautor_innen), sofern diese ebenfalls auf das handlungsleitende, spannungsgeladene Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit verweisen. Wenn die Differenzierung zwischen ›Wert‹, ›Norm‹ und der Anwendung dieser Unterscheidung auf einen konkreten Sachverhalt entscheidend dazu 8 Im Falle von Michael Kohlhaas ist dies gar keine leichte Übung für Schüler_innen (vgl. von Brand 2007, S. 74).
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beitragen kann, zentrale Themen und Konflikte9 des Michael Kohlhaas zu erkennen, präzise zu verbalisieren und im Austausch mit anderen Leser_innen zu diskutieren, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sich Michael Kohlhaas auch hervorragend als Grundlage für die Vertiefung ethischer Kompetenz eignet. So treibt etwa die Diskrepanz zwischen Gerechtigkeit als gesellschaftliche Idealvorstellung und den Mitteln, die zur Realisierung dieses Wertes in der Gesellschaft bereitstehen, die Handlung so entscheidend voran, dass die Nicht-Identität von ›Wert‹ und ›Norm‹ sowie die Interdependenz zwischen Werten und Normen im Nachvollzug der Handlung evident werden. Außerdem führt die Erzählung auf sehr anschauliche und bewegende Weise vor, dass die Diskrepanz zwischen Werten und Normen Auslöser für massive Konflikte sein kann – eine Erkenntnis, die die Frage nach der Aktualität der Kohlhaas-Thematik nahelegt und zu Transferleistungen anregen kann.10
3.3.
»[E]iner der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen«11 – Oder: Wie ist die Figur Kohlhaas zu beurteilen?
Schon der erste Absatz aus Michael Kohlhaas markiert die Frage nach der Bewertung des Protagonisten und seiner Handlungen als eines der zentralen Probleme, mit denen sich der/die Leser_in konfrontiert sieht – etwa durch die Formulierung, Kohlhaas sei »einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit« gewesen (Kohlhaas, S. 3). Weiter heißt es über Kohlhaas, »die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte« (ebd.). Der Text selbst lenkt hier die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Norm und Tugend und dessen Bedeutung für eine moralische Beurteilung des Protagonisten. Unter Anspielung auf ein Tugendkonzept in aristotelischer Tradition wird hier nahegelegt, dass individuelles Verhalten nicht nur daraufhin zu prüfen ist, ob es sich prinzipiell aus einem wertgebundenen Verhaltensprinzip ableiten lässt, sondern auch daraufhin, ob das besagte Verhalten im konkreten Fall nicht auf eine Extremisierung dieses Prinzips zurückzuführen ist, die nicht mehr als adäquate Realisierung des 9 Hier wäre etwa das Spannungsverhältnis zwischen dem Wert ›Gerechtigkeit‹ und dem Recht als sozialer Norm, oder der Konflikt zwischen den Werten ›Gerechtigkeit‹ und ›Leben‹ zu nennen. 10 »Als nach wie vor aktuell und im Deutschunterricht diskutierbar« kann etwa nach Ranke und Bräuer »das Problem des exzessiven moralischen Rigorismus gelten« (2014, S. 475). Vosskuhle und Gerberding begründen das anhaltende große Interesse an der Figur Kohlhaas damit, dass wir »ihr auch heute überall dort [begegnen], wo um das Recht oder für die Gerechtigkeit gekämpft wird« (2014, S. 232). 11 Kohlhaas, S. 3.
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fraglichen Werts gelten kann (vgl. Hamacher 2013, S. 103). Doch auch für Leser_innen, die den Bezug zur aristotelischen Tradition nicht nachvollziehen können, bietet sich die Unterscheidung zwischen Normkonformität und Tugendhaftigkeit als möglicher Ansatzpunkt für die Erklärung der (vermeintlich?) widersprüchlichen Beurteilung des Kohlhaas durch die Erzählinstanz an: Normkonformes Verhalten kann unter bestimmten Umständen als unmoralisch verurteilt, normwidriges Verhalten hingegen als tugendhaft beschrieben werden – abhängig davon, wie das Verhältnis zwischen der fraglichen Norm und dem zu Grunde liegenden Wert, den sie realisieren soll, eingeschätzt wird (vgl. Standop 2005, S. 17f.). Dass Kohlhaas, der sein »Geschäft der Rache« (Kohlhaas, S. 28) als »gerechte[n] Krieg« (ebd., S. 31) versteht, laut Erzählerauskunft durch sein »Rechtgefühl« (ebd., S. 3; Hervorh. J. L.) zum Räuber und Mörder wird, verweist auf diese Interpretationsbedürftigkeit von Werten und auf die subjektive Komponente jedes moralischen Urteils. Ob etwas gerecht oder ungerecht ist, muss daher intersubjektiv ausgehandelt werden. Dieser Prozess ist nie endgültig abgeschlossen, da das Empfinden der Einzelnen wie das der Vielen sich aus dem jeweiligen Bewertungskontext ergibt, der sich durch neue Informationen zum Sachverhalt, aber auch durch eine Veränderung des diskursiven Bezugsrahmens ständig wandeln kann. Dies inszeniert Kleist in Michael Kohlhaas, indem Werte (vor allem der Wert ›Gerechtigkeit‹, aber auch andere, etwa der Wert ›Leben‹) und daraus abgeleitete Normen in immer neuen Konstellationen und Variationen mit den Handlungen der Figuren kontrastiert werden. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Werten, Normen und der Tugendhaftigkeit des Einzelnen stellt sich somit in immer neuer Akzentuierung. Ganz unabhängig von den Antworten auf diese Frage, die sich aus dem individuellen Lektüreprozess ergeben mögen, ist mit Blick auf die Vertiefung der ethischen Kompetenz festzustellen, dass sich Michael Kohlhaas hervorragend als Unterrichtsgegenstand eignet, wenn es darum geht, die engen und komplexen Interdependenzverhältnisse zwischen Normen, Werten und Vorstellungen von Tugendhaftigkeit zu veranschaulichen. Dass die Lektüre von Michael Kohlhaas für das Spannungsverhältnis zwischen Normkonformität und Tugend(haftigkeit) bzw. Normdevianz und ›Untugend(haftigkeit)‹ sensibilisieren kann, ist nicht nur mit Blick auf die Befähigung zur moralischen Urteilsbildung von Bedeutung, sondern auch mit Blick auf das literarische Lernen – konkret wäre hier etwa die Kompetenz zu nennen, Perspektiven literarischer Figuren nachzuvollziehen und miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. Spinner 2006, S. 9f.). »Eine zentrale Rolle für das Figurenverstehen«, so Spinner, spielt der Zusammenhang von innerer Welt (Gefühle, Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen [hier sei ergänzt: und Werthaltungen] der Figuren) und äußerer Handlung,
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der in den Texten zum Teil explizit entfaltet ist, oft aber auch, ausgehend von den Signalen im Text, vom Leser erschlossen werden muss. (ebd., S. 9f.)
Ob konkrete Handlungen einer literarischen Figur normkonform sind, lässt sich auch in Unkenntnis der ›inneren Welt‹ beurteilen. Die Frage nach der moralischen Beurteilung einer konkreten Handlung oder nach der Tugendhaftigkeit einer literarischen Figur ist hingegen nur möglich, wenn es gelingt, Bezüge zwischen der äußeren Handlung und dem Innenleben der Figur zu erkennen und zu deuten. Insofern die eindringlichen Schilderungen des Unrechts, das Kohlhaas angetan wird, ebenso wie die drastischen Schilderungen der Gräueltaten, die er selbst begeht, dazu herausfordern, sich ein Urteil über Kohlhaas und sein Handeln zu bilden, fordern sie also auch dazu heraus, neben der äußeren Handlung »die inneren Verwicklungen« (ebd., S. 10) in den Blick zu nehmen. Weitere mögliche Wechselwirkungen zwischen ethischer und literarischer Kompetenz im engeren Sinne zeigen sich in der literaturdidaktischen Modellierung der Teilkompetenz »Perspektiven literarischer Figuren nachzuvollziehen« (ebd., S. 9): Ein Lernzuwachs zeigt sich hier nach Spinner u. a. darin, dass »Schülerinnen und Schüler immer besser mit ambivalenter (widersprüchlicher, uneindeutiger, unstabiler) innerer Verfasstheit von Figuren umzugehen wissen« und »mit Kategorien wie gut/böse […] beim Interpretieren zunehmend flexibler umgegangen wird« (ebd., S. 10). Genau diese Flexibilität fordert und fördert Kleists Erzählung vor allem dadurch, dass sie zahlreiche verschiedene Ansätze für die Beurteilung des Kohlhaas anbietet, die sich gegenseitig relativieren und zum Teil auch im Widerspruch beziehungsweise in einem Verhältnis der Inkommensurabilität zueinander stehen.12 Dies wird unter anderem durch die »Überblendung unterschiedlicher, nicht selten unvereinbarer diskursiver Kontexte« (Hamacher 2013, S. 99) erreicht, die sowohl auf Figurenebene als auch durch die Erzählerkommentare aufgerufen werden. So wird der Wert ›Gerechtigkeit‹ hier in einen religiösen Kontext gestellt, etwa wenn Kohlhaas vom Erzähler mit dem »Engel des Gerichts« (Kohlhaas, S. 29) in Verbindung gebracht wird bzw. sich selbst als »Statthalter Michaels, des Erzengels« (ebd., S. 39) bezeichnet; dort in den Kontext der aufklärerischen Naturrechtsdebatte, so bei seinen Rechtfertigungen im Gespräch mit Luther (ebd., S. 44); dann wiederum steht ›Gerechtigkeit‹ im Kontext der frühneuzeit12 Laut von Brand zeigt ein »Blick in die Rezeptionsgeschichte […], dass die Urteilsfindung über einen Protagonisten der Weltliteratur selten so schwierig war und ist. Die Wertungen reichen von der Bezeichnung Kohlhaas’ als ›Prototyp des deutschen Anarchisten‹ […] bis zum bedingungslosen ›Märtyrer seines Rechtsgefühls‹ […]. Für den einen ist er das ›Muster eines Terroristen‹ […], für den anderen ein ›preußische[r] Held‹ […]. Vom ›Kerl dieses Volkes‹ und ›Vorkämpfer einer kommenden Zeit‹ […], dem ›Enthüller und Verstärker eines chaotischen Weltzustandes‹ […], dem Outlaw […] bis hin zum ›ganze[n] Hitler‹ […]: Kaum ein Urteil, das es nicht gäbe« (von Brand 2007, S. 65).
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lichen Fehderechtsdebatte, und zwar durch den »Rechtsschluss« (ebd., S. 28), den Kohlhaas nach dem Tod seiner Ehefrau verfasst und durch seine darauf bezogenen Mandate. Die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Bewertungen des Kohlhaas und seiner Handlungen, die sich aus der Lektüre ergeben können, sind also nicht nur an verschiedene Figuren und deren individuelle Perspektive geknüpft, sondern auch an verschiedene überindividuelle Bezugssysteme: »Je nachdem, welcher Theorie man als Prätext für Kleists Erzählung den Vorzug gibt, entsteht ein anderes Bild des Protagonisten und seiner Taten« (Hamacher 2003b, S. 259). Natürlich kann es nicht Ziel und Anspruch des Literaturunterrichts sein, alle Diskurse und Theorien, die in der Kleist-Forschung als relevante Bezugssysteme für Michael Kohlhaas identifiziert wurden, aufzudecken und mit Blick auf die Bewertung des Kohlhaas zu diskutieren. Unabdingbar für einen werteorientierten Literaturunterricht, der die Integration von literarischem Lernen und Werteerziehung anstrebt, wäre es allerdings, durch das exemplarische Herausgreifen einzelner Diskurse oder Theorien die Diskurspluralität als solche zu thematisieren. So wird – ganz im Sinne einer formalen Werteerziehung, die nicht auf Wertevermittlung, sondern auf die Vertiefung der Werturteilskompetenz abzielt – eine Rezeptionsweise nahegelegt, die weniger die Lösung des thematisierten ethischen Problems verfolgt als die Analyse jener Faktoren, die dieser Lösung entgegenstehen bzw. eine Vielzahl von plausiblen Lösungen generieren. Erkennen die Lernenden beispielsweise die Offenbarung des Johannes als wichtigen Prätext der Kohlhaas-Erzählung, so wird für sie auch erkennbar, dass der Wert ›Gerechtigkeit‹ in Michael Kohlhaas »sowohl juristisch als auch religiös zu verstehen« ist (Hamacher 2013, S. 100) und – je nach Interpretation – zu anderen Werturteilen führt.13 Die Arbeit mit dem Prätext kann hier also zur Vertiefung des literaturhistorischen Bewusstseins beitragen (vgl. Spinner 2006, S. 13) und zugleich auf ein Grundproblem jeder Form von (moralischer) Bewertung aufmerksam machen: Werte dienen zwar einerseits als Maßstab für die
13 Wenn Kohlhaas, »auf ›Wiederherstellung in den vorigen Stand‹ klagt […], so hat der dahinter stehende lateinische Rechtsterminus der restitutio in integrum sowohl eine juristische als auch eine theologische Bedeutung: Auf juristischer Ebene wird die beschädigte Sache wieder in den früheren, unversehrten Zustand versetzt, theologisch wird eine Rückkehr der Welt in den Zustand vor dem Sündenfall konnotiert« (Hamacher 2013, S. 100). Während Kohlhaas’ Selbstcharakterisierung als »Statthalter Michaels, des Erzengels, der gekommen sei, an allen, die in dieser Streitsache des Junkers Partei ergreifen würden, mit Feuer und Schwert, die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen« (Kohlhaas, S. 39), innerhalb des juristischen Diskurses nur als Verblendung ausgelegt werden kann, wohnt ihr innerhalb des theologischen Diskurses zumindest eine gewisse Kohärenz inne.
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Interpretation und moralische Beurteilung von individuellen Handlungen, andererseits bedürfen sie aber selbst der Interpretation (vgl. Abschnitt 2.1).14
3.4.
Was sagt mir dieser Text? Oder: didaktische Überlegungen zur Bedeutung der Undeutbarkeit
Dass die Figur Kohlhaas in der Vergangenheit so kontrovers beurteilt wurde, ist freilich nicht nur auf den Diskurspluralismus zurückzuführen, durch den der Text gekennzeichnet ist, sondern maßgeblich auch auf ein weiteres Charakteristikum Kleist’scher Prosa im Allgemeinen und des Michael Kohlhaas im Besonderen: Die Rede ist von der Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz, die sich in den Erzählungen durch »1. Widersprüche und Inkonsistenzen, 2. diskordante, uneinheitliche Wertungen, 3. irreführende oder defizitäre Informationen, 4. Paradoxien« zeigt (Aurnhammer 2014, S. 105). Ganz offensichtliche und unauflösbare Widersprüche etwa gibt es in Michael Kohlhaas nicht nur hinsichtlich der Beurteilung des Erzählten, sondern bereits hinsichtlich der erzählten Fakten.15 Dabei dürfe, so Hamacher, »[d]as Raffinement im Einsatz divergierender Informationen und Wertungen […] nicht unterschätzt werden« (Hamacher 2013, S. 102). Mit anderen Worten: Die Widersprüche, Inkonsistenzen und Paradoxien sind nicht nur von großer Zahl, sondern auch in ihrer Struktur so intrikat und zugleich bezüglich der Bewertung des Geschilderten von so großer Relevanz,16 dass es kaum haltbar ist, sie als Fehler abzutun. Der ›Fehler‹ scheint vielmehr System zu haben, mit dem 14 Hier bieten sich Anknüpfungspunkte zu dem literaturdidaktischen Ansatz Gehrmanns, die für die Entwicklung einer transversalen Vernunft im Sinne Welschs plädiert: Durch die Auseinandersetzung mit Literatur sollen die Schüler_innen »in die Lage versetzt werden, sich des Diskurses, in dem sie aktuell agieren, zu vergewissern, alternative Sichtweisen zu erwägen und sie zueinander ins Verhältnis zu setzen« (Gehrmann 2016, S. 167). Ziel dieser Auseinandersetzung ist es nicht, einem Diskurs den Vorrang zu geben: »Ohne zum Parteigänger eines Diskurses zu werden, kann diese Form von Vernunft zwischen verschiedenen Perspektiven der Diskurse und Paradigmen übergehen, eben dies bedeutet ›Transversalität‹« (ebd., S. 166). 15 Hier sind etwa die widersprüchlichen Aussagen bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Namen ›Kohlhaas‹ und dem Ort Kohlhaasenbrück zu nennen, angesichts derer offen bleibt, ob der Ort nun nach Kohlhaas benannt wurde oder die Familie Kohlhaas nach dem Ort Kohlhaasenbrück. Für das Nachvollziehen der Handlungsstruktur von größerer Relevanz sind die widersprüchlichen Informationen über jenen »Passschein«, den Kohlhaas vorzeigen soll (Kohlhaas, S. 4), der aber laut Auskunft der Räte der Geheimschreiberei in Dresden »ein Märchen« (Kohlhaas, S. 7) ist (vgl. Hamacher 2013, S. 100). Siehe auch Fußnote 16. 16 Ein gutes Beispiel hierfür sind »die divergierenden Zeitangaben über Kohlhaases Aufbruch über Jüterborg zur Tronkenburg nach dem Tod seiner Frau. Während der Erzähler zunächst berichtet, Kohlhaas habe die fehderechtliche Dreitagesfrist eingehalten […], will dieser nach seinem späteren Bericht bereits ›genau am Tage nach dem Begräbnis meiner Frau‹ aufgebrochen sein« (Hamacher 2013, S. 102).
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Effekt, dass »[i]mmer wieder […] scheinbar eindeutige Lektüren nahe gelegt [werden], die jedoch bei genauem Zusehen ihrerseits mit anderen, im Text ebenfalls angelegten Perspektiven kollidieren« (Hamacher 2003b, S. 255). Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ergibt sich daraus nicht nur der Auftrag, »die Widersprüche, die kunstvoll aufgebaut werden, zu erkennen, deren Gehalt zu erfassen und sie, wo immer möglich, aufzulösen« (von Brand 2007, S. 30). Da dies in einigen Fällen zwar gelingen mag, in anderen hingegen nicht, so dass der/die Leser_in sich unter Umständen »eigentümlich ›allein‹ mit einer oft verwirrenden Geschichte« fühlt (Aurnhammer 2014, S. 102), ist dem Textganzen darüber hinaus auch die Frage eingeschrieben, wie seine Inkonsistenz zu deuten sei: Warum wird hier einerseits ein ethisches Problem – nämlich die Frage nach der moralischen Beurteilung des Kohlhaas – so prominent in den Vordergrund gespielt, andererseits aber durch die Vielfalt der Deutungsangebote und den Umstand, dass nicht einmal die Eckdaten der zu beurteilenden Handlungen reliabel sind, eine widerspruchsfreie, abschließende Beantwortung dieser Frage systematisch verhindert (vgl. Hamacher 2003b, S. 255)? Welchen ›Sinn‹ hat die »massive Beeinflussung von Leser und Leserin« (ebd.), die hier spürbar ist, ohne dass sie jedoch eine bestimmte Lesart nahelegen würde?17 Und wie, so die entscheidende Frage, für die im Rahmen der schulischen Lektüre des Michael Kohlhaas genügend Platz eingeräumt werden sollte, verhalte ich mich als Leser_in zu einem solchen Text, der immer rätselhafter wird, je mehr ich mich um Auflösung dieser Rätselhaftigkeit bemühe (vgl. Hamacher 2013, S. 100; Ranke/ Breuer 2014, S. 475; von Brand 2007, S. 76)? Wie diese Frage von den einzelnen Lernenden beantwortet wird, hängt sicherlich ganz entscheidend vom jeweiligen Selbstkonzept als Leser_in ab und ist somit durch den Literaturunterricht nur begrenzt zu beeinflussen (vgl. Rosebrock/Nix 2014, S. 22). Dennoch gehört es zu den Zielformulierungen literarischen Lernens, dass sich die Schüler_innen »auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen« (Spinner 2006, S. 12): »Schülerinnen und Schüler sollen lernen, mit der Offenheit literarischer Texte umzugehen« und die Bereitschaft entwickeln, »sich in Verstehensprozesse verwickeln zu lassen, die kein bündiges Ergebnis versprechen und deshalb aspektreich sind« (ebd.). Auch wenn diese Haltung nicht wie eine erlernbare Fertigkeit eingeübt werden kann, so vermag die gemeinsame Lektüre des Michael Kohlhaas im Rahmen des Literaturunterrichts doch immerhin zur Reflexion auf die eigene Bewertung des Textes anzuleiten, etwa durch folgende Fragen: Welche Gefühle verbinden sich mit den immer neuen Deutungsversuchen und dem immer neuen Scheitern am Text? Hat sich meine Haltung gegenüber dem Text im Zuge der intensiven 17 Für einen knappen Überblick über die Kontroversen und die verschiedenen Perspektiven auf die (Un)Lesbarkeit des Michael Kohlhaas vgl. Hamacher 2003b, S. 266–269.
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Lektüre verändert? Schließlich die Frage, die tatsächlich offen zu halten ist und keinesfalls als rhetorische gestellt werden sollte: Ist der Text vielleicht gerade auf Grund der Manipulationen, denen ich mich als Leser_in ausgesetzt fühle, und gerade auf Grund der Verweigerung gegenüber allen auf Kohärenz und endgültige Fixierung angelegten Deutungsversuchen für mich wertvoll/interessant/ faszinierend – als Ausdruck einer »Ästhetik auch der Verstörung, der Kontingenz und der Negativität« (Frick 2014, S. 34)? Die Konfrontation mit dieser oder anderen Positionen der Kleist-Forschung kann den Lernenden Sichtweisen auf Michael Kohlhaas eröffnen, die sich bisher jenseits ihres Horizonts befanden: Liegt möglicherweise der poetische Wert des Textes genau darin, dass er eben »keine ablösbare Sinnaussage mehr [enthält], die als ethisch-moralischer Gehalt aus ihm extrahierbar wäre«, wie Hamacher unter Bezug auf Greiner formuliert (Hamacher 2003b, S. 267)? Ist Michael Kohlhaas ein besonders ›realistischer‹ Text in dem Sinne, dass er sich gegenüber »einseitige[n] Vereinnahmungen und Deutungen, wie sie auch in der Lebenswirklichkeit meistens zu kurz greifen«, verweigert (von Brand 2007, S. 65)? Und wenn ja: Lässt sich dies dahingehend verallgemeinern, dass der spezifische Wert der Literatur »im Unterschied zur Philosophie gerade darin besteht, das ganze Spektrum widersprüchlicher Antworten und Lösungsversuche eines zentralen neuzeitlichen Rechtsproblems gleichzeitig zur Geltung zu bringen und damit ungelöste Probleme offen zu halten« (Hamacher 2003b, S. 259)? In der Auseinandersetzung mit diesen Thesen deuten sich weitere Möglichkeiten an, literarästhetische sowie auch literaturtheoretische Fragen so eng mit ethischen zu verknüpfen, dass eine Kluft zwischen Erziehung zu Literatur und Erziehung durch Literatur erst gar nicht entsteht.
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Zusammenfassung
Mit den Ausführungen auf den vorangegangenen Seiten habe ich zwei Ziele verfolgt: Zum einen ging es darum, anhand eines konkreten Textbeispiels und möglicher literaturdidaktischer Ansätze zu illustrieren, wie literarisches Lernen und formale Werteerziehung im Literaturunterricht integriert werden können. Es wurden mögliche Interdependenzen zwischen literarischer Rezeptionskompetenz und ethischer Kompetenz aufgezeigt, auf deren Grundlage sich literarisches Lernen und Werteerziehung gegenseitig befruchten können. Mit Blick auf Michael Kohlhaas als Unterrichtsgegenstand kann etwa die Fähigkeit, grundsätzlich zwischen Werten und Normen zu unterscheiden und konkrete fiktionale Situationen bzw. Textkonstellationen auf das spezifische Interdependenzverhältnis von Werten und Normen hin zu untersuchen, sehr hilfreich für die Beschreibung des Grundkonflikts sein (Abschnitt 3.2). Sie kann darüber hinaus auch als Heuristik für die Entwicklung von Deutungs- und Bewertungsansätzen
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auf Figurenebene (Abschnitt 3.3) und Textebene (Abschnitt 3.4) dienen. Insofern viele der ethischen Fragestellungen, mit denen der Text seine Leser_innen konfrontiert, nur im Zusammenhang mit genuin literarästhetischen Aspekten sinnvoll diskutiert werden können, ist die Vertiefung der literarischen Rezeptionskompetenz zwar einerseits auf ethische Kompetenz angewiesen, sie kann aber andererseits auch zur Vertiefung der ethischen Kompetenz beitragen. Zum anderen ging es mir mit meinen Überlegungen zu Michael Kohlhaas darum, beispielhaft zu zeigen, dass sich die sogenannten literarischen Klassiker, um die es im vorliegenden Band geht, hervorragend als Gegenstand für einen zeitgemäßen, werteorientierten und nicht indoktrinierenden Literaturunterricht eignen. Michael Kohlhaas lässt sich nämlich geradezu als literarische Versuchsanordnung lesen, die exemplarische Einsichten in jenen Prozess der Bedeutungsaushandlung gibt, der Werte und Normen miteinander verbindet. Zugleich verbietet es sich auf Grund der oben thematisierten Textmerkmale, den Text als Plädoyer für bestimmte Interpretationen konkreter Werte beziehungsweise für konkrete, daraus ableitbare Normen zu lesen. Gerade insofern der Text nicht nur Brüche und Konflikte im Prozess der Interpretation von Werten und der Aushandlung von Normen thematisiert, sondern auch das Ringen um die ›richtige‹ Deutung und das ›richtige‹ Werturteil, ist er ein dankbarer Gegenstand für einen auf Mündigkeit zielenden Literaturunterricht, der intensive ästhetischliterarische Erfahrungen mit formaler Werteerziehung verbindet.
Primärliteratur Kleist, Heinrich von (2003): Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Stuttgart.
Sekundärliteratur Abraham, Ulf/Kepser, Matthis (2006): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 2. Aufl., Berlin. Amnicht-Quinn, Regina (2007): ›Wertewandel: Konsequenzen für die Bildung‹, in: Lehren und Lernen 1, 33, S. 4–11. Anselm, Sabine (2012a): ›Ethische Bildung durch Wertreflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht)‹, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/59, S. 401–415. Anselm, Sabine (2012b): ›Vom Wert des Lesens. Variationen zu einem aktuellen Thema‹, in: Anselm, Sabine/Geldmacher, Miriam/Hodaie, Nazli/ et al. (Hg.): Werte – Worte – Welten. Werteerziehung im Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 15–32.
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Heiko Ullrich
Racheverzicht – gewaltloser Widerstand – Psychoterror. C. F. Meyers Ballade Die Füße im Feuer (1882) im Literaturunterricht
Einleitung Wenn eine ›Themenorientierte Literaturdidaktik‹ sich zur Vermittlung der »großen Mythen und Geschichten als Grundbestand der literarischen Kultur« (Grimm / Wanning 2016, S. 10) den ›Werten der Klassiker‹ zuwendet, bedürfen die für eine solche Herangehensweise geeigneten Texte einer doppelten Legitimation: Sie müssen nicht nur zum Kanon der deutschen Literatur gehören, sondern auch die Verhandlung (mindestens) eines bestimmten ethisch-moralischen Wertes in den Mittelpunkt ihrer Darstellung rücken. Beides trifft auf Conrad Ferdinand Meyers Ballade Die Füße im Feuer, in dieser Form erstmals 1882 in den Gedichten veröffentlicht, zweifelsfrei zu: Als Beleg für die Kanonisierung des Gedichts kann beispielsweise dessen Aufnahme in den vielbeachteten Kanon eines bekannten Literaturkritikers (Reich-Ranicki 2005, S. 134f.) dienen; die Fokussierung auf einen der zentralen Werte des christlichen Abendlandes verbürgt der Schlussvers mit dem verkürzten und leicht abgewandelten Zitat aus Röm 12,19 (»Mein ist die Rache, redet Gott«).1 Damit die Ballade ihren vorgesehenen Beitrag zur literarisch-kulturellen Ausbildung in der gymnasialen Mittelstufe2 leisten kann, muss der/die Leser_in in die Lage versetzt werden, die Textaussage des Gedichts zunächst durch die Analyse inhaltlicher wie stilistischer Aspekte vor dem Hintergrund der konkreten Produktionsbedingungen und der literarischen Tradition differenziert zu bestimmen und diese historische Autorintention dann auf ihre gesellschaftliche Relevanz und heutige Aktualität hin zu überprüfen. Zentral ist dabei die Kontextualisierung der Füße im Feuer, denn die Möglichkeit zu erfolgreicher Teilhabe am literarischen Diskurs hängt entscheidend von der Fähigkeit des Einzelnen ab, Texte in Beziehung zu anderen Texten zu setzen. Hierbei handelt es sich letztlich um eine für die Rezeption und 1 Die Ballade wird im Folgenden unter Nennung der Sigle FiF und der Verszahl direkt im Fließtext zitiert; Grundlage ist der Text bei Zeller / Zäch 1963, S. 382ff. 2 Vgl. Bildungsplan 2016, S. 33ff.
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die Produktion literarischer Werke fundamentale Kompetenz, die weder auf die abstrakte Methodik beispielsweise intertextueller Techniken (vgl. Genette 1993, S. 19ff.) noch auf das konkrete Wissen um die Existenz und den Inhalt zentraler Zeugnisse der Kulturgeschichte verzichten kann.
Produktion I: Stoff, Autor, Epoche, Gattung Den ersten wichtigen Zugang zu einem literarischen Werk bietet für Lernende in der Regel die – nicht umsonst in Lesebüchern oder Textausgaben für die Schule meist mitgelieferte – Biographie des Autors. Gerade um vereinfachende autobiographische Deutungen, die jeden Text zum ›Schlüsselroman‹ degradieren,3 effektiv zu problematisieren, ist ein reflektierter Bezug auf die komplexen Beziehungen zwischen Leben und Werk eines Schriftstellers für eine adäquate Analyse unabdingbar. Für die Erarbeitung der biographischen Bezüge in der Ballade bietet sich als Ausgangspunkt die Dokumentation der Quellenstudien Meyers im Kommentarteil der HKA an (Zeller 1996, S. 289ff.); dort wird der Briefwechsel Meyers mit dem französischen Historiker Louis Vulliemin aus dem Jahr 1868 angeführt, in dem Meyer sich nach einer Geschichte »sur ce singulier Père Joseph« erkundigt, die Parallelen zu den »Füßen im Feuer« aufweist (ebd., S. 289f.). Die erste Version der Ballade unter dem Titel Der Hugenot ist wohl bereits 1862 entstanden, jedenfalls aber in den Zwanzig Balladen von einem Schweizer, Meyers lyrischem Debüt, im Jahr 1864 veröffentlicht worden (vgl. ebd., S. 332). Dies zeigt, wie problematisch die Suche nach einer konkreten stofflichen Quelle sich in diesem Fall gestaltet. So schließt Zeller die genannte Quelle denn auch für die Ballade aus: Tatsächlich bildete die Geschichte »de ce singulier Père Joseph«, nach der sich Meyer im Brief an Vulliemin von 26. April 1868 erkundigte, weil er sie als negatives Gegenstück zu Herzog Heinrich von Rohan (1579–1638), dem Führer der Protestanten setzen wollte, eine Quelle nicht für das Gedicht, sondern zum Jürg Jenatsch; S. 115, Z. 33–116, Z. 12 schließt Rohan mit demselben Bibelzitat wie der Edelmann der Ballade: »Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr«. Römer 12,19, Hebr. 10,30 und 5. Mose 32,35. (Zeller 1996, S. 338)
Damit verweist Zeller auf den großen historischen Roman Meyers, der im Jahr 1876 zwischen den beiden Fassungen der Ballade entstanden ist und den Höhepunkt einer Hinwendung zur Darstellung frühneuzeitlicher Geschichte aus spezifisch konfessioneller Sicht im Erzählwerk Meyers vom Versepos Huttens
3 Vgl. zu diesem Problem auch Franzen 2018, S. 65ff.
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letzte Tage (1872) über Das Amulett (1873) und Der Heilige (1880) bis zu Gustav Adolfs Page (1883) darstellt. Ausgehend vom bereits für das Jahr 1857 bezeugten Interesse Meyers an den französischen Religionskriegen4 kann ein Vergleich zwischen dem Jürg Jenatsch und den beiden Fassungen der Ballade5 den letzteren nicht nur ihre Stelle in Meyers Gesamtwerk anweisen, sondern auch zeigen, wie die Figur des Hugenotten (also des Edelmanns bzw. des Herzogs Rohan) von einer passiven zu einer aktiven Haltung des Racheverzichts weiterentwickelt wird:6 Während der Titelheld des Hugenotten den Kurier des Königs lediglich zum Aufbruch drängt (H, V. 145–148) und seinen Racheverzicht »feierlich« verkündet, wobei er insbesondere seine Demut gegenüber der Allmacht Gottes betont (H, 169–176), erscheint Rohan eher als hilfloser Zuschauer denn als Gestalter der geschichtlichen Prozesse. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich mit der Figur der Lukretia, die sich durch die »christliche Milde des Feldherrn befremdet[]« zeigt (JJ, S. 115) und die später auch tatsächlich nicht von ihrer Rachepflicht lassen und den Mörder ihres Vaters eigenhändig richten wird (JJ, S. 268), und auch im Vergleich mit dem Protagonisten des Romans, der den guten Herzog kaltblütig durch politische Intrigen und militärischen Verrat ausmanövriert (JJ, S. 216). Die ausführliche moralische Rehabilitation Rohans und seine Verehrung durch die – eigentlich ja von dem skrupellosen Machtpolitiker Jenatsch befreiten – Bündner (JJ, S. 261) aber sichert ihm einen bleibenden ideellen Einfluss auf das Selbstverständnis der Eidgenossenschaft, der die reale Bedeutung des Titelhelden für den Einigungsprozess mindestens aufwiegt. In der späteren Fassung der Ballade, den Füßen im Feuer, erscheint der Edelmann dann eindeutig in der überlegenen Position, die es ihm nun auch in logistischer Hinsicht ermöglicht, am Mörder seiner Gattin, den er in seinem Schloss aufgenommen hat, durch eine Gewalttat Rache zu nehmen: Wenn Meyer betont, dass der Schlossherr nun nicht 4 Vgl. dazu auch Zeller 1996, S. 290f., Laufhütte 1988, S. 321f., Wanning 2000, S. 284, und Pailer 2009, S. 241–243. 5 Vgl. zu diesen auch Wanning 2000, S. 281f. 6 Der Jürg Jenatsch wird im Folgenden unter Nennung der Sigle JJ und der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert; Grundlage ist der Text bei Zäch 1958. »Der Hugenot«, die erste Version der Ballade von 1864, wird im Folgenden unter Nennung der Sigle H und der Verszahl ebenfalls im Fließtext zitiert; Grundlage ist der Text bei Zeller 1996. Im Jürg Jenatsch erzählt Meyer die konfessionellen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges in Graubünden anhand der Lebensgeschichte des Titelhelden, der als protestantischer Pfarrer gegen die katholische Partei im Land kämpft, deren Anführer ausgerechnet Pompejus Planta, der Vater seiner Jugendliebe Lukretia, ist. Nachdem Jenatsch Planta ermordet hat, geht Lukretia vorerst ins Kloster, nähert sich aber im Zuge des von Jenatsch geführten erfolgreichen Aufstandes diesem wieder an. Obgleich Jenatsch im Verlauf der komplizierten diplomatischen Verhandlungen um die Zukunft Graubündens sogar zum Katholizismus konvertiert, verweigert Lukretia sich seinem Werben jedoch bis zum Ende des Romans. Stattdessen tötet sie den Sieger über Spanier und Franzosen und gefeierten Held Graubündens schließlich und rächt damit ihren Vater.
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mehr wie noch in der Vorstufe an die offenbar verschlossene oder zumindest verschließbare Tür des Gastes »klopft« (H, V. 145), sondern »Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,/ Vor seinem Lager steht« (FiF, V. 55f.), legt er das Leben des Kuriers noch eindeutiger als im Hugenot in die Hand des Edelmannes, der den Mörder seiner Gattin gleichwohl verschont.7 Damit verlagert sich der Fokus der Ballade vom Gott geschuldeten Gehorsam auf den inneren Kampf des Hugenotten, dessen Zerrissenheit der seines Gegenspielers entspricht, was insbesondere die beider Reden bzw. Gedanken dominierenden Auslassungszeichen veranschaulichen (FiF, V. 15–19, 25–34, 42–53 bzw. V. 69–71).8 Gerade dadurch aber wird der Triumph des Edelmanns über den königlichen Kurier in der späteren Fassung noch schlüssiger motiviert als in der ersten Version der Ballade: Indem Meyer an die Stelle eines fatalistischen Gehorsams den aus tiefer Einsicht resultierenden persönlichen Nachvollzug des göttlichen Gebotes setzt, macht er den Hugenotten zum programmatischen Überwinder eines archaischen und durch den christlichen Glauben überholten Rachemechanismus.9 Aus der Erweiterung des Handlungsspielraums für den Protagonisten ergibt sich nicht nur die Frage nach dem den drei Texten zugrundeliegenden Geschichtsbild, das sich – in jeweils unterschiedlicher Gewichtung – aus dem zyklischen Geschichtsbild der Antike mit der Vorstellung einer historia magistra vitae, der christlichen Heilsgeschichte mit ihrer Annahme einer Deszendenz der diesseitigen Historie bis zur Apokalypse, dem aufklärerischen Fortschrittsglauben und dem objektivierenden und relativierenden Historismus des 19. Jahrhunderts zusammensetzt (vgl. Wanning 2000, S. 282f.), sondern auch die Frage nach dem jeweiligen Beitrag der beiden Fassungen von 1864 und 1882 zur Gattungstradition im Spannungsfeld zwischen der narrativen, dramatischen und lyrischen Gestaltung äußerer und innerer Handlung: Der aus 22 achtversigen kreuz- und paargereimten Strophen aufgebaute Hugenot erscheint dabei nicht nur formal konservativer als Die Füße im Feuer mit ihren zwischen sechs und sechzehn Versen langen, durchgängig ungereimten Abschnitten10 – auch das deutliche Übergewicht des erzählerischen Moments in der früheren steht der konsequenteren Integration dramatischer und lyrischer Elemente in der späteren Fassung diametral gegenüber. Meyer nutzt die Darstellungsmittel aller drei Grundformen der Dichtung,11 um das äußere zugunsten des inneren Geschehens zurückzudrängen, indem er die Entwicklung der Figuren an den Naturbe-
7 Vgl. dazu auch Breier 1963, S. 434, Freund 1978, S. 111, Laufhütte 1988, S. 333, Pailer 2009, S. 243. 8 Vgl. dazu neben Breier 1963, S. 431f., auch Laufhütte 1988, S. 326f. 9 Vgl. dazu auch Freund 1978, S. 112f., und Laufhütte 1988, S. 333f. 10 Vgl. dazu neben Laufhütte 1988, S. 321, auch Pailer 2009, S. 246. 11 Vgl. Wanning 2000, S. 283, gegen Freund 1978, S. 109.
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schreibungen des Erzählers spiegelt,12 die gegenwärtige und erinnerte Handlung in den Dialogpassagen zwischen dem Kurier und dem Edelmann bzw. dessen Gattin dem Leser trotz der übergeordneten Indirektheit des Erzählvorgangs unmittelbar vor Augen stellt13 und in den refrainartig wiederholten Phrasen wie »Zwei Füße zucken in der Glut« (FiF, V. 19, 24, 52) oder »›Gib ihn heraus!‹ Sie schweigt« (FiF, V. 28, 31, 51), unterstützt durch zahlreiche Alliterationen und Assonanzen,14 eine formelhaft-magische Sprachebene evoziert,15 die das Motiv der über Nacht ergrauten Haare vorbereitet. Insofern sind die Füße im Feuer gerade in Abgrenzung zum Hugenotten als Versuch einer bewussten Umsetzung des in Goethes Balladen-Aufsatz von 1821 verbindlich formulierten Gattungsverständnisses zu lesen, denn sie »bedient sich« nicht nur »aller drey Grundarten der Poesie«, ist nicht nur »lyrisch, episch, dramatisch«, sondern kehrt durch ihren funktionalisierenden Einsatz der drei Aussagemodi Goethes Vorstellung, dass »hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern, wie in einem lebendigen Ur-Ey, zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um, als herrlichstes Phänomen, auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen« (WA I, 41.1, S. 223f.),16 geradezu um: An die Stelle der organischen Metapher Goethes tritt bei Meyer das Bewusstsein, einer Darstellung innerer Handlungen erst mit der durch den Dichter hergestellten Re-Integration der Darstellungsmittel aller drei literarischen Grundmodi gerecht werden zu können.17 Die Fragen nach der Wahl des Stoffes, der gestaltenden Rolle des Autors, den Implikationen der Epoche und den Gattungskonventionen sind in Meyers realistischer Geschichtsballade derart mit dem Grundmotiv des christlichen Racheverzichts verknüpft, dass eine Fokussierung auf dieses zentrale Thema der Füße im Feuer für die Erarbeitung der einzelnen Aspekte als Leitfaden dienen kann. Um eine Beleuchtung dieses zentralen Themas in den Mittelpunkt didaktischer Überlegungen zu stellen, müssen die einzelnen Zugänge zur Ballade folglich auf diese übergeordnete Fragestellung ausgerichtet werden. Diese kann etwa durch einen Impuls wie das bekannte Bibelzitat aus Mt 5, 38–42 geleistet werden. Für das weitere Vorgehen bietet sich ein arbeitsteiliges Vorgehen mit vergleichbaren Aufgabenstellungen an: Wie beeinflusst Meyers Absicht, den christlichen Racheverzicht zu glorifizieren, (a) die Wahl eines Stoffes aus der Zeit 12 Vgl. dazu auch Breier 1963, S. 435, Freund 1978, S. 112, Laufhütte 1988, S. 334, Wanning 2000, S. 290–293, Pailer 2009, S. 248f., und Schmitz 2017, S. 90f. 13 Vgl. dazu auch Breier 1963, S. 426f., und Pailer 2009, S. 246f. 14 Vgl. dazu auch Breier 1963, S. 430. 15 Vgl. dazu auch Wanning 2000, S. 287. 16 Goethes Werke werden in der Folge nach den im Literaturverzeichnis angegebenen Bänden der Weimarer Ausgabe unter Angabe von Band und Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert. 17 Zur Charakteristik der Geschichtsballade im Realismus vgl. auch Becker 2003, S. 326–333, Weißert ²1993, S. 35–44.
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konfessioneller Konflikte, (b) die über zwei Fassungen nachvollziehbare Arbeit des Autors am Text, (c) die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Geschichtsbildern des 19. Jahrhunderts und (d) die Integration der verschiedenen Darstellungsmodi in der Gattung der Ballade? Indem die Lernenden abhängig von der jeweiligen Herangehensweise zusätzliches wissenschaftliches Material zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, der werkbiographischen Entwicklung des Dichters Conrad Ferdinand Meyer, der Diskussion um den Historismus in der Epoche des Bürgerlichen Realismus oder der Gattungspoetik der Ballade recherchieren, kann eine Vertiefung des Verständnisses für Meyers Darstellung der Problematik um Rache und Racheverzicht durch Experten bzw. Expertenteams erreicht werden. Aus der Präsentation der Ergebnisse durch diese Experten(teams) ergibt sich für die Lernenden ein Überblick über die historischen und poetologischen Voraussetzungen von Meyers Gestaltung dieser klassischen Problemstellung des christlichen Kulturkreises. Über den Kompetenzerwerb der Recherche, Aufbereitung und Präsentation von Informationsmaterial hinaus ermöglicht die Methode einen persönlichen Nachvollzug der produktionsästhetischen Prozesse, indem die Lernenden Meyers Interesse an der Stoffgeschichte, seine Arbeit an der Komposition der Ballade sowie die Verortung derselben in epochen- und gattungsspezifischen Kontexten rekonstruieren und diese Sachverhalte im Anschluss zugleich übersichtlich geordnet und ansprechend gestaltet vorstellen – etwa im Stil einer historischen Dokumentationssendung im Fernsehformat, die zur Sicherung der Ergebnisse audiovisuell aufgezeichnet wird und den Einsatz von gesprochenem und geschriebenem Wort, statischem und bewegtem Bild, szenischer Darstellung und musikalischer Untermalung ermöglicht. Gerade die unterschwellige Emotionalität der durch diese Effekte multisensorisch verstärkten, pseudosachlichen Informationsvermittlung spiegelt dabei die pathetische Umsetzung des Ideals vom Racheverzicht in Die Füße im Feuer deutlich wider und erlaubt so bereits bei der Aufbereitung der Informationen für die Präsentation eine kritische Reflexion der Leser_innenlenkungsstrategien Meyers, indem diese (in einem anderen Medium) selbst angewendet werden.
Produktion II: Figuren, Handlung, Leitmotive Textimmanent erfolgt eine Erschließung der Ballade zunächst über die Analyse von Konstellation und Charakter der Figuren, wobei den zentralen Konflikt zwischen zwei Protagonisten auch eine der beiden wichtigsten Vorlagen für Die Füße im Feuer, Adalbert von Chamissos Korsische Gastfreiheit, bietet,18 sodass 18 Chamissos Ballade wird im Folgenden unter Nennung der Sigle CG und der Verszahl direkt
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deren Verhältnis nicht zuletzt durch einen Vergleich erarbeitet werden kann. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Balladen besteht dabei darin, dass Chamisso den Besucher als vom Hausherrn und dessen Leuten aufgrund einer »Rache« (KG, V. 14) Verfolgten darstellt, der ganz bewusst gerade bei seinem Verfolger Schutz sucht: »Die Nacht ist schaurig, unwegbar das Thal,/ Es lauern mir auf die Deinen zumal.« (KG, V. 25f.). Dem Titel entsprechend steht im Mittelpunkt der Darstellung ein von beiden Figuren fraglos akzeptierter und in einer gemeinsamen Tradition verankerter Wert, derjenige der »[n]ach Korsenbrauch« (KG, V. 45) ohne jedes Ansehen der Person allen Reisenden gewährten Gastfreundschaft – ein Motiv, das für Die Füße im Feuer nur ganz zu Beginn eine gewisse Bedeutung hat (vgl. Freund 1978, S. 109f.). Ein Spannungsbogen, wie ihn Meyer aus den Befürchtungen des Kuriers und dem parallel verlaufenden, allerdings nicht dargestellten inneren Kampf des Edelmannes generiert (vgl. Breier 1963, S. 435f., und Freund 1978, S. 111f.), wird bei Chamisso von vornherein ausgeschlossen, wenn der Gastgeber sich bei seinem Gast sogleich dafür bedankt, dass dieser »würdig […] / Von [ihm] gedacht« habe (KG, V. 27f.), ihm später versichert: »Schlaf unbesorgt, dich schirmt mein Dach.« (KG, V. 36), und auch am nächsten Morgen ankündigt: »Ich gebe dem Gast ein sichres Geleit.« (KG, V. 40). In erster Linie dokumentiert der fehlende Spannungsbogen eine völlige Statik der Figuren Chamissos, die dem inneren Kampf des Edelmannes und des Kuriers bei Meyer diametral entgegensteht und sich in der gegenseitigen Versicherung des gemeinsamen Wertes (»so tätest du auch«, KG, V. 46) ebenso äußert wie in den Schlussversen, die die so wichtige Gastfreundschaft zu einem bloßen Aufschub der unvermeidlichen Rache degradieren: »Die Rache schlief; sie ist erwacht:/ Nimm fürder vor mir dich in Acht.« (KG, V. 47f.). Gerade vor dem Hintergrund der Figurenzeichnung Chamissos, dem an der Darstellung eines von gemeinsamen Werten und Traditionen geprägten Kollektivs gelegen ist, wird die Individualisierung und Psychologisierung, die Meyer seinen Figuren angedeihen lässt (vgl. Müller-Seidel 1963, S. 70f., und Hinck 1968, S. 102.), deutlich. Nachhaltiger als eine analytische Aufbereitung dieses zentralen Unterschiedes eignet sich hier das Verfassen (oder Improvisieren) eines Dialogs anlässlich der vorgegebenen fiktiven Begegnung zwischen dem Gastgeber bei Chamisso und seinem Pendant bei Meyer zur Vertiefung des Textverständnisses: Indem beide Figuren den Versuch unternehmen, einander im Verlauf der szenischen Darstellung eines solchen Dialogs ihre jeweilige Handlungsweise plausibel zu machen, treten die grundsätzlichen Unterschiede im Weltbild der beiden Figuren besonders deutlich zutage, wenn etwa Chamissos Korse sein Vorgehen mit der Einhaltung einer Gesellschaftskonvention begründet, an deren sozialer Verim Fließtext zitiert; Textgrundlage ist die Ausgabe von Perfahl / Hoffmann 1975; die 123937237 Corsische Gastfreundschaft findet sich ebd., S. 568–570.
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bindlichkeit er festhalten will, während Meyers Hugenotte jede politisch-soziale Überlegung aus seiner Entscheidungsfindung ausklammert und den – im Gegensatz zum Fall des Korsen auch endgültigen – Racheverzicht ausschließlich religiös begründet. Gerade auch die konfessionell geprägte Dimension der individuellen Gewissenserforschung im persönlichen Dialog mit Gott, die für Meyers Ballade zentral ist und bei Chamisso völlig fehlt, kann gut durch die Schwierigkeiten veranschaulicht werden, die der Versuch, diese Gewissenserforschung Chamissos Korsen verständlich zu machen, in der vorgeschlagenen Versuchsanordnung bereiten muss: Um diese Aufgabe adäquat zu erfüllen, ist der/die betreffende Lernende gezwungen, die Denkweise und das Weltbild des Hugenotten als das kohärente System ohne Widersprüche zu präsentieren, als das es auch Meyers Figur am Ende der Ballade erscheint. Anders als Chamisso, der Gast und Gastgeber als austauschbar darstellt, geht es Johann Gottfried Seume in seiner Ballade Der Wilde19 gerade in erster Linie um die Antithetik der beiden Figuren: Der Titelheld wird als »der gute brave wackre Wilde« (W, V. 22) bzw. als »der ehrliche Hurone« bezeichnet (W, V. 32), der auf den »harten Sinn des Europäers« trifft (W, V. 41) und – vom Erzähler zum »edlen Manne« erklärt (W, V. 104) – am Ende pauschalisierend feststellen darf: »Seht, ihr fremden, klugen, weisen Leute,/ Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen« (W, V. 109f.). Während Meyer der Figurenkonstellation und der Zeichnung der Charaktere bei Seume also weitgehend folgt20 – was einen Vergleich relativ unergiebig macht –, weist das Verhältnis von Vorgeschichte und Haupthandlung sowohl im Inhalt als auch in der narrativen Darbietung grundlegende Unterschiede auf: Seume stellt einfach die Verweigerung der Gastfreundschaft durch den Pflanzer ihrer Gewährung durch den Huronen gegenüber, wohingegen Meyer das Schicksal der zuerst Geschädigten durch den Foltertod der Ehefrau extrem zuspitzt: Für den Huronen bleibt das ihm angetane Unrecht folgenlos, der Edelmann und seine Kinder dagegen scheinen auf alle Zeit mit »ihrer schwarzen Tracht« (FiF, V. 36) verwachsen (vgl. Breier 1963, S. 432, Freund 1978, S. 110). Indem Seume chronologisch berichtet und das Geschehen gleichzeitig personal aus der Sicht des Opfers darstellt, erschöpft sich seine Pointe in der überraschenden Umkehrung der Kräfteverhältnisse, die den Pflanzer in seiner Reaktion (»Stammelte verwirrt Entschuldigungen«, W, V. 107) lediglich als zu recht Beschämten präsentiert, während Meyer durch die Verlagerung der Vorgeschichte in die Erinnerung des Kuriers die Prägung der Figuren durch das Erlebte reflektiert und mit der Perspektive des Täters dessen Probleme beim Umgang mit 19 Seumes Ballade wird im Folgenden unter Nennung der Sigle W und der Verszahl direkt im Fließtext zitiert; Textgrundlage ist die Ausgabe von Drews 1993; »Der Wilde« findet sich ebd., S. 478ff. 20 Vgl. dazu Freund 1978, S. 109f., dagegen Wanning 2000, S. 285.
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der eigenen Schuld in den Vordergrund rückt (vgl. Laufhütte 1988, S. 324, Pailer 2009, S. 248). Anders als der selbstständig handelnde und damit auch die alleinige Verantwortung für sein Handeln tragende Pflanzer bei Seume betont der Kurier bei Meyer zudem, dass er »dem größten König eigen« (FiF, V. 67), sein Handeln mithin also durch eine äußere Autorität legitimiert sei (vgl. Breier 1963, S. 428f., Freund 1978, S. 110, Laufhütte 1988, S. 335, Pailer 2009, S. 243f.). Erst indem der Edelmann diese Autorität, auf die sein Gegenspieler sich beruft, durch den Verweis auf eine noch höhere Instanz relativiert und den vom Kurier verwendeten Superlativ (»größten«) im Rahmen des gemeinsamen religiösen Weltbildes als Anmaßung des weltlichen Herrschers entlarvt, siegt er auf allen Ebenen – seine Aussage kann weder aus juristischer noch aus moralischer und schon gar nicht aus theologischer Sicht in Frage gestellt werden (vgl. Wanning 2000, S. 296–298). Um die Unterschiede zwischen den beiden Balladen herauszuarbeiten, eignet sich ein analytischer Zugang deshalb besonders gut, weil diese Differenzen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, deren Erarbeitung den Lernenden eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit eines literarischen Werkes vermittelt: Den Übereinstimmungen in der Figurencharakteristik und -konstellation sowie im Handlungsverlauf durch die Umkehrung der Hierarchie zwischen Gastgeber und Gast sowie die abschließende Beschämung des Täters durch sein Opfer, die bei Seume noch deutlicher ausgeprägt sind als bei Meyer, wodurch der Vergleich mit Seume auch an dieser Stelle zum vertieften Verständnis der Füße im Feuer beiträgt, stehen die wichtigen Unterschiede gegenüber, die den Blick der Lernenden insbesondere auf die Struktur der Zeitebenen in Meyers Ballade lenken: Erst vor der Folie von Seumes Vorlage zeigt sich die Bedeutung der nachgeholten Vorgeschichte und der Täterperspektive für die Darstellung des Racheverzichts bei Meyer. Am analytischen Vergleich zwischen Der Wilde und Die Füße im Feuer erarbeiten die Lernenden sich daher nicht nur Kategorien zur Beschreibung literarischer Texte, sondern erkennen auch zwei wesentliche Elemente der Darstellungsweise Meyers: Durch das Arrangement der Zeitebenen wird die Bedeutung des Gewissens für die Ballade hervorgehoben; durch die Wahl der Täterperspektive und damit die Trennung von Perspektive (Kurier) und Identifikationsfigur (Hugenotte) wird eine Offenheit der Textaussage suggeriert, mit deren Hilfe Meyer dem Leser eine Objektivität vorspielt, gegen die dieser sich gerade empören soll. So ermöglicht der konsequent zu Ende gedachte analytische Vergleich den Lernenden über die sachliche Distanz zum Text, die bei dieser Erarbeitungsform aufgebaut wird, eine vertiefte Einsicht in Meyers raffinierte Strategien der Leser_innenlenkung. Für die Annäherung an die Frage nach dem Leitmotiv der Füße im Feuer bietet sich als Rezeptionsdokument Markus Werners Am Hang an: Hier unterhalten sich der Musiklehrer Felix Bendel (alias Thomas Loos) und der junge und er-
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folgreiche Scheidungsanwalt Thomas Clarin, der Ich-Erzähler des Romans, am offenen Feuer über Meyers Ballade:21 Er sagte plötzlich, daß ihn das offene Feuer an eine Ballade erinnere, sie heiße Die Füße im Feuer, ob ich sie kenne. – Wir hätten sie einmal in der Schule gelesen, sagte ich, worum es gehe, sei mir nicht mehr gegenwärtig bis auf ein Detail, das mich beeindruckt haben müsse. Ob darin nicht ein Mann vorkomme, der über Nacht aus irgendeinem Grund komplett ergraut sei? – Ein Detail sei das nicht, sagte Loos und starrte weiter. Ich bat ihn, mir den Inhalt der Ballade zu erzählen. Er schüttelte den Kopf. (AH, S. 151f.)
Der Behauptung Bendels, bei diesem Motiv handle es sich um mehr als ein Detail, wird wohl weitgehend zuzustimmen sein;22 nicht zuletzt Clarins selektive Erinnerung belegt, wie recht sein Gegenspieler hat. Damit ist ein Ausgangspunkt für die genauere Analyse der Motivtradition gegeben, die nun in Form einer positivistischen Spurensuche erfolgen kann, zumal die germanistische Forschung diese für Die Füße im Feuer seit den Hinweisen auf Seumes Wilden und Chamissos Korsische Gastfreiheit (vgl. Kraeger 1901, S. 143–145) weitgehend eingestellt hat. Eine Heranführung der Lernenden an eine solche positivistische Spurensuche sollte neben der ›richtigen‹ stets einige ›falsche‹ Spuren legen, die argumentativ von den Lernenden als Vorlagen für Meyer ausgeschlossen werden müssen, indem diese etwa feststellen, dass Meyer den betreffenden Text gar nicht kennen konnte oder die Übereinstimmungen mit der Ballade zu vage sind. Als ›richtige‹ Spur eignet sich beispielsweise der Versuch, den Blick über die Nationalität der beiden Autoren auf zwei Episoden aus der Continuatio, dem sechsten Buch von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch zu lenken, die die Schweiz zum Schauplatz machen.23 Der durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges und das beständige Auf und Ab im Leben eines typischen Picaro umgetriebene Protagonist äußert zunächst seine Begierde, »die Aydgnoßschaft/ als das einige Land/ darinn der liebe Fried noch grünete/ zu besehen« (ST, S. 447), und als er am Ziel seiner Reise angekommen ist, ergeht er sich in ausführlichen Lobeshymnen: Das Land kame mir so frembd vor gegen andern Teutschen Ländern/ als wenn ich in Brasilia oder China gewesen wäre/ da sahe ich die Leute in dem Frieden handlen und wandlen/ die Ställe stunden voll Viehe/ die Baurn-Höf lieffen voll Hüner/ Gäns und Endten/ die Strassen wurden sicher von den Räisenden gebraucht/ die Wirthshäuser sassen voll Leute die sich lustig machten/ da war gantz keine Forcht vor dem Feind/ keine Sorg vor der Plünderung/ und keine Angst/ sein Gut/ Leib noch Leben zu verlieren/ ein 21 Am Hang wird im Folgenden unter Nennung der Sigle AH und der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert, Textgrundlage ist die Erstausgabe Meyer 2004. 22 Vgl. dazu auch Pailer 2009, S. 251f. 23 Der Simplicissimus Teutsch wird im Folgenden unter Nennung der Sigle STund der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert; Grundlage ist der Text nach Breuer 2005, der neben den fünf Büchern des Simplicissimus auch die Continuatio enthält.
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jeder lebte sicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum/ und zwar gegen andern Teutschen Ländern zu rechnen/ in lauter Wollust und Freud/ also daß ich dieses Land vor ein irdisch Paradis hielte/ wiewoln es von Art rauch genug zu seyn schiene. (ST, S. 449)
Tatsächlich jedoch geschehen in diesem »irdisch Paradis« seltsame Dinge – u. a. erlebt Grimmelshausens Titelheld ein Abenteuer, das frappierend an das Geschehen in Meyers Ballade erinnert. Dem Unwetter zu Beginn der Füße im Feuer entspricht hier ein Landregen: »[…] einsmals wandelt ich in selbiger Gegend im Koth daher biß über die Knöchel/ gegen einem adelichen Sitz/ als es eben regnete/ als wann mans mit Kübeln herunter gegossen hätte […].« (ST, S. 637). Simplicissimus findet in besagtem »adelichen Sitz« Zuflucht und der »SchloßHerr[]« lässt ihn »beim Nachtessen an seine Taffel sitzen/ da [er] nit übel tractirt« wird (ST, S. 638), geleitet den Gast jedoch mit folgenden Worten in dessen Kammer: »nun wolan Herr Simplici! er schlaffe wol; ich weiß zwar daß er kein Gespänst zu förchten pflegt/ aber ich versichere ihn/ daß er diejenige so in disem Zimmer gehen/ sich mit keiner Karbatsch verjagen lassen […].« (ST, S. 638). Nach einigem Nachdenken fällt Simplicissimus wieder ein, dass er einst »zween Schweitzer« wegen ihres Geisterglaubens verspottet habe; als diese ihn in der Nacht als Gespenster verkleidet eines Besseren belehren wollten, war der Narr mit der Peitsche auf die beiden Eindringlinge losgegangen. Seine Gedanken gleichen daher denen des königlichen Kuriers in Meyers Ballade: Da ich nun an diese Historj gedachte/ und meines Gast-Herren lästere Wort betrachtete/ konte ich mir ohnschwer einbilden/ was die Glocke geschlagen; ich sagte zu mir selber/ haben sie von den forchterlichen Gespänstern in ihrers Vatters Hauß die Warheit gesagt/ so ligstu ohnzweiffel in eben dem Jenigen Zimmer/ darin sie am allerärgsten poldern; haben sie aber nur vor die lange weil auffgeschnitten/ so werden sie dich gewißlich wider Karbaitschen lassen/ daß du ein weil dran zu tauen haben wirst; in solchen Gedancken stunde ich auff/ der Meinung jrgents zum Fenster hinauß zuspringen/ es war aber überall mit Eysen so wol vergittert/ daß mirs ohnmüglich ins Werck zusetzen/ und was das ärgste war/ so hatte ich auch kein Gewähr: Ja auffs eusserst auch meinen kräfftigen Pilgerstab nit bey mir/ mit welchem ich mich auff den Nothfall trefflich gewehrt haben wolte; legte mich derowegen wider ins Bette/ wiewol ich nicht schlaffen konte/ mit Sorg und Angst erwartende/ wie mir dise herbe Nacht gedeyen würde. (ST, S. 639f.)
In der Folge entwickelt sich die Handlung ganz anders als bei Meyer: Es erscheinen vier Gespenster, die den Helden zu scheren drohen, davon jedoch unter der Bedingung ablassen, dass Simplicissimus ihnen zur Erlösung verhilft, indem er seinem Gastgeber einen versteckten Schatz zeigt und diesem mitteilt, was mit demselben geschehen soll (ST, S. 640–642). Grimmelshausens Protagonist erlöst die Gespenster auf diese Art, erkrankt jedoch und muss deshalb seinen Aufenthalt im Schloss noch verlängern:
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Jn solcher Zeit erzehlte mir der Schloß-Herr gantz offenhertzig/ das (als er noch ein junger Knab gewesen) sich ein freffler Landstörtzer bey seinem Herrn Vattern angemeldet/ und versprochen den Geist zufragen/ und dardurch das Hauß von solchem Ungeheur zuentledigen/ wie er sich dann auch zu solchem Ende in das Zimmer/ darin ich über Nacht liegen müssen/ einsperren lassen; da seyen aber eben die jenige Geister in solcher Gestalt wie ich sie beschrieben hätte/ über ihn hergewischt; hätten ihn auß dem Bethe gezogen/ auff ein Sessel gesetz/ ihme seines Bedunckens gezwagt/ geschoren und bey etlichen Stunden dergestalt tribulirt und geängstigt/ daß man ihn am morgen halb todt dort liegend gefunden: es seye ihm auch Bart und Haar dieselbe Nacht gantz grau geworden/ wiewol er den Abend als ein dreissig jähriger Mann mit schwartzen Haarn zu Bethe gegangen seye […]. (ST, S. 645f.)
Grimmelshausens »freffler Landstörtzer« erinnert als »ein dreissig jähriger Mann« vielleicht noch deutlicher an Werners Clarin als an Meyers Kurier; ausgehend von diesem Befund (der Auswahl des Grimmelshausen-Textes als ›richtige‹ Spur aus einer vorgegebenen Anzahl möglicher Vorlagen Meyers) wäre mit den Lernenden ergebnisoffen zu diskutieren, ob nur Die Füße im Feuer oder auch Am Hang direkt auf den Simplicissimus rekurrieren. Um Lernenden die – wohl unfreiwillige – Komik der Stelle zu verdeutlichen, empfiehlt sich das Verfassen einer klassischen Inhaltsangabe, die ja gerade darauf abzielt, kausale Bezüge herzustellen und deshalb die entscheidende logische Inkongruenz der Episode offenbart: Dass der »Landstörtzer« zuerst »geschoren« wird und ihm dann »Bart und Haar« ergrauen, erklärt sich letztlich aus der Kombination zweier verschiedener Motivtraditionen, die die Schüler mithilfe der entsprechenden Primärtexte selbstständig nachvollziehen können: Zu dem Märchenmotiv des barbierenden Gespenstes bzw. des spukenden Barbiers, für das beispielsweise eine Episode aus der Stummen Liebe des Märchensammlers Johann Karl August Musäus herangezogen werden kann, in der ein umherziehender Bursche im Spukschloss Rummelsburg übernachtet, vom Gespenst kahlgeschoren wird und ihm diesen Dienst wieder vergilt, wodurch er den Geist erlöst (Musäus ²1788, S. 84ff.), tritt die medizinische Tradition der Frühen Neuzeit, in der Marcello Donati das erste, »De Repentina Canitie ex Timore vel Moerore« (»Über das plötzliche Ergrauen aus Furcht oder Trauer«) überschriebene Kapitel seiner Medica historia mirabilis durch eine Sammlung historischer Beispiele für das behandelte Phänomen einleitet: Sicuti progrediente aetate homines canescere vulgatissimum est, ita de repente ex timore, vel moerore aliquos canos effectos non admiratione caret, quod Petrus Messias Hispanus in sua variae lectionis silua testatur; scribit nanque D. Diegum Osorium à Rege Catholico carcerari iussum vna nocte propter timorem totum canun euasisse, cum tamen iuuenis, vel potius adolescens esset. Iulius Caesar Scaliger aduersus Cardanum de subtilitate exercitatione 313 suae tempestatis talem narrat historiam: Franciscum Gonzagam Mantuae Principem affinem suum suspectum coniurationis in turri portae Caesareae (hodie Triesiae vocant) ad quaestionem, aut supplicium seruari iussisse,
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nuntiatum est mane totum repente canum factum, quod quasi prodigium flexit animum Principis, qui ei propterea, & veniae, & vitae fecit gratiam. Nicolaus Florentinus se. 7. tract. 6. sum. 3. c. 24. scribit se vidisse puerum Matthaei Lippi de Scarparia, & Chechium Sutorem in Burgo Sancti Laurentij ex magno, & subito timore repente canos effectos. Speronus Speronius in dialogo de partu inscripto scribit, Nobilem Patauinum, cum illi vespere nunciatum fuisset, indictum esse, vt capitis amputatione plecteretur, nocte totum canitie correptum & talem usque in nouissimum vitae diem permansisse, cum multo temporis tractu superuixisset. Scribit Albertus Kantzius lib. 9. c. 47. Vuipertum designatum Episcopum Raceburgensem Romam profectum, vt à Pontifice summo confirmationem obtineret, ob adolescentiam neglectum à Pontifice proxima nocte totum incanuisse. Suetonius Tranquillus in Sergij Galbae vita tradit, sacrificante Imperatore accidisse puero è ministris acerram tenenti, vt capillus repente toto capite canesceret, quod prodigiosum censuit antiquitas nos potius ex horrore victimarum passim mactatarum expauefacto puero euenisse existimamus. (Donati 1613, S. 1f.)24
Im Hinblick auf die Füße im Feuer ergibt sich aus einem Vergleich, dass die beiden eher humoristisch gestalteten Vorlagen von Grimmelshausen und Musäus der Darstellungsweise in Meyers Ballade weniger nahe stehen als die psychologisierende Analyse des Phänomens bei Donati, dass Meyer das Leitmotiv des plötzlichen Ergrauens also mithin als drastisches Symbol für den im chronologischen Handlungsverlauf ausgesparten inneren Kampf des Edelmannes 24 Wenn es allgemein bekannt ist, dass Menschen mit voranschreitendem Alter graue Haare bekommen, so erregt es doch stets Verwunderung, dass einigen das Haar durch plötzlichen Schrecken oder plötzliche Trauer ergraut sein soll, was der spanische Autor Pedro Mexia in seiner Sammlung verschiedener Anekdoten schreibt: Er schreibt nämlich, dass Don Diego Orsorio, nachdem der spanische König befohlen habe, ihn einzukerkern, in einer Nacht vor Angst völlig ergraut sei, obgleich er noch ein junger Mann, vielmehr noch ein Jüngling gewesen sei. Julius Caesar Scaliger erzählt in der 313. Ausführung gegen des Cardanus Schrift De Subtilitate folgende Geschichte aus seiner eigenen Lebenszeit: Es wird berichtet, Francesco Gonzaga, der Fürst von Mantua, habe befohlen, einen Verwandten wegen des Verdachts einer Verschwörung in einem Turm in Porta Caesaraea, das heute Triese heißt, entweder für ein Verhör oder zur Bestrafung einzusperren, dieser sei plötzlich ganz ergraut, was den Sinn des Fürsten, der dies als Vorzeichen aufgefasst habe, gewandelt habe; dieser habe seinem Verwandten daher Leben und Gnade geschenkt. Nicolaus Florentinus schreibt in Abschnitt 7,6,3,24, er habe gesehen, wie der Sohn des Matthaeus Lippus aus Scarparia, und Chechius Sutor in Burgus Sancti Laurentii aus großer und plötzlicher Furcht mit einem Mal ergraut seien. Speronus Speronius schreibt in seinem Dialog De Partu, ein Adeliger aus Padua sei, nachdem ihm am Abend verkündet worden sei, dass er geköpft werden solle, über Nacht ganz ergraut und sei so bis an sein Lebensende geblieben, obwohl er noch lange Zeit gelebt habe. Albert Kantzius schreibt in Buch 9, Kapitel 47, Witbert, der designierte Bischof von Ratzeburg, der nach Rom aufgebrochen sei, um vom Papst bestätigt zu werden, sei, nachdem er wegen seines zu geringen Alters vom Papst abgelehnt worden sei, über Nacht ergraut. Sueton berichtet in der Vita des Sergius Galba, während eines Opfers des Kaisers sei es einem der Ministranten, der das Weihrauchkästchen gehalten habe, geschehen, dass sein Haar plötzlich auf dem ganzen Kopf grau geworden sei, was die Antike als Vorzeichen deutete, uns aber eher infolge eines Erschreckens des verängstigten Jungens angesichts der geschlachteten Opfertiere geschehen zu sein scheint (Übersetzung Schenda 1998, S. 62).
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einsetzt (vgl. Wanning 2000, S. 289f.), was wiederum vor dem Hintergrund der Epoche des Bürgerlichen Realismus mit ihren vielfältigen Interferenzen zur Romantik zu deuten wäre.25 Um die Lernenden diese intertextuellen Filiationen nachvollziehen zu lassen, bietet sich ein Rückgriff auf Gérard Genettes Theorie der Hypertextualität und ihrer Unterscheidung zwischen satirischer und ernster Bezugnahme eines Textes auf einen anderen an (vgl. Genette 1993, S. 32ff.). Indem die Lernenden diese Theorie der Intertextualität auf das vorliegende Beispiel anwenden, nehmen sie Meyers Anschluss an die eine und seine Ablehnung der anderen Stofftradition als bewusste Entscheidung für eine ›ernsthafte‹ Darstellung der Thematik wahr und können das Pathos der Ballade als Abwehrhaltung gegen das dem Stoff inhärente komische Potenzial besser nachvollziehen. Durch eine fächerverbindende Analyse der medizinisch-psychologischen Darstellung Donatis, die sich im letzten Satz des zitierten Ausschnitts explizit vom Aberglauben der Antike distanziert, können Naturwissenschaften und alte Sprachen bzw. die Geschichte als Kontexte aufgerufen werden, in die sich Meyers Ballade einschreibt: Indem die Lernenden Meyers Ballade mit naturwissenschaftlicher Methodik begegnen, wird die Poetisierung der Wirklichkeit als programmatischer Kern des Bürgerlichen Realismus (und als Gegensatz zum Naturalismus) deutlich und betont den Willen des Autors zu einer kohärenten Sinngebung der präsentierten Handlung; Donatis Anekdotensammlung bietet die Gelegenheit, die Lernenden Meyers dramatische Bearbeitung des Stoffes nachvollziehen zu lassen, wenn diese selbst eine der Episoden zu einer Ballade ausgestalten. Ein Vergleich mit den eigenen Schreibprodukten lenkt dann den Blick auf die zentrale Leerstelle in Meyers Ballade, die eben keine Erklärung für das Ergrauen des Hugenotten bietet, sondern stattdessen die psychische Verfassung des Täters analysiert.
Rezeption I: Intertextualität (Markus Werner: Am Hang) In Werners Roman behauptet Felix Bendel in erster Linie deshalb, die ergrauten Haare des Edelmanns seien mehr als ein Detail, weil er sich mit dieser Figur identifiziert. Dies belegen die offensichtlichen Parallelen in der Figurenkonstellation: Wie der Kurier dem Edelmann durch Folter und Mord, so hat ihm Clarin seine Frau geraubt, indem er sie zum Seitensprung verführt und dadurch in eine Sinn- und Ehekrise gestürzt hat. Ob Werners Ersetzung von Folter und Mord durch den Ehebruch nun eine Trivialisierung oder eine Enttabuisierung von Meyers Ballade darstellt, deren verborgenes erotisches Potenzial in der Fokussierung auf die weiblichen Füße bereits herausgearbeitet worden ist (vgl. Pailer 25 Vgl. dazu auch die verschiedenen Aufsätze im Sammelband von Göttsche/Saul 2013.
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2009, S. 250f.), muss im Unterricht kontrovers diskutiert werden. Das Verfassen einer kritischen Rezension zu Am Hang kann hier die Motivation der jeweiligen Täter einander gegenüberstellen und im Kontrast mit Clarins Egoismus den religiösen Fanatismus und den blinden Gehorsam des Kuriers aus Meyers Ballade herausarbeiten. Im Zuge dieser Rezension müsste auch Felix Bendels Situation mit der des Hugenotten aus Meyers Ballade verglichen werden: Von letzterem wird die Rache, die er aus religiösen Gründen verweigert, geradezu erwartet, wenn beispielsweise der Kurier äußert: »Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich« (FiF, S. 34).26 Dass Werner dagegen offen lässt, ob ersterer ebenfalls auf die (auch von Clarin antizipierte, vgl. AH, S. 5 und S. 189) physische Gewaltanwendung als klassische Form der Rache verzichtet oder nicht, sollte darüber hinaus dazu genutzt werden, den Roman durch die Lernenden ›beenden‹ zu lassen, was diesen eine individuelle Auseinandersetzung mit der zentralen Fragestellung der Unterrichtseinheit abverlangt – aus der Perspektive einer ›modernen‹ Parallelfigur von Meyers Hugenotten, deren geringere historische Distanz zu den Lernenden die Zeitlosigkeit und Aktualität der Problematik akzentuiert. Wie die juristische und moralische Sanktionierung des Ehebruchs seit dem 18. Jahrhundert immer weiter ausgehöhlt wird (vgl. Dabhoiwala 2012), belegen auch zahlreiche Beispiele aus der deutschen Literaturgeschichte: Von der in Goethes Werther aufgeworfenen rhetorischen Frage: »Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert?« (WA I, 19, S. 66) führt ein direkter Weg zum inneren Konflikt des betrogenen Ehemanns Innstetten in Fontanes Effi Briest, der noch einmal in der traditionellen Weise entschieden wird, bevor sich die Verhältnisse im 21. Jahrhundert völlig umkehren, wie ein Dialog zwischen Bendel und Clarin in Am Hang drastisch vor Augen führt: Oft scheinen Frauen, die in festen Händen sind und sich darin durchaus geborgen fühlen, noch etwas anderes zu brauchen. Sie lieben ihren Mann als Ruhepol und empfinden die Ehe als Hort, als emotionales Festland, auf dem sie bleiben möchten. Und trotzdem fehlt ihnen etwas, trotzdem übt das offene, bewegte und unberechenbare Meer eine starke Anziehungskraft auf sie aus. […] Verstehst du, was ich sagen will? Die Bettflasche ist solide und strahlt gemütliche Wärme ab, romantischer und knisternder dagegen ist ein Feuer. Ja, ich verstehe, sagte Loos, die Ehemänner sind die Flaschen und du der Feuerteufel. (AH, S. 138f.)
In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die dem betrogenen Ehepartner weder durch Gesetze noch durch die öffentliche Moral konventionalisierte Mittel zur Sanktionierung des Ehebruchs in die Hand gibt,27 ist der Verzicht auf einen Racheakt in Form physischer Gewalt (wie Innstettens Duellforderung an Crampas) 26 Vgl. dazu auch Breier 1963, S. 432, Freund 1978, S. 114f., und Wanning 2000, S. 292f. 27 Vgl. zum Wandel des Diskurses vom 18. bis zum 21. Jahrhundert erneut Dabhoiwala 2012.
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viel selbstverständlicher als im 19. Jahrhundert eines Theodor Fontane – und die Suche nach Alternativen zu diesem (freilich bereits von Innstetten als Zwang empfundenen) Reaktionsschema umso drängender. Werner lässt seinen Protagonisten Bendel in dieser Situation aus dessen Vertrautheit mit Meyers Ballade heraus erkennen, dass die bloße Furcht vor einer Bestrafung eine mindestens ebenso starke Wirkung erzielen kann wie diese selbst – und Bendel setzt dieses Wissen sogleich ein, um Clarin in den Wahnsinn zu treiben. Seit dieser ahnt, dass Bendel der Ehemann seiner Liebhaberin ist, findet er sich in exakt derselben Situation wieder, in der der Kurier in Meyers Ballade die Nacht verbringt:28 Und nachher, am Kamin, ging das Sinnieren wieder los, das Grübeln, das ekelhafte Hin und Her. Ich hatte Schwindelgefühle, und das Flackern der Flammen, das mich sonst immer beruhigt, verstärkte sie noch. Ich starrte ins Feuer und sah darin, wie Loos ins Feuer starrte. Und erstmals wurde mir bewußt: Wenn Bendel hier gesessen hätte, dann wäre mir sein Haß gewiß, dann hätte ich jetzt einen Todfeind. (AH, S. 189)
Der »Kamin« und das »Grübeln«, das »Flackern der Flammen« und das Starren ins »Feuer« sind deutliche Verweise auf Die Füße im Feuer und zugleich eine Anspielung auf die Passage, in der Loos/Bendel Clarin gegenüber die Ballade erwähnt. Erst jetzt aber wird das heimelige Feuer – analog zu Meyers Ballade29 – zum bedrohlichen Brand umgedeutet; Clarins Paranoia aber steigert sich noch bis zum Beginn des aus der Rückschau berichteten Romans: Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. Verrückterweise bin ich sogar versucht mir einzubilden, er schleiche in diesem Augenblick ums Haus – mit oder ohne Dolch. Dabei ist er ja abgereist, heißt es, und ich höre nur Grillen und aus der Ferne nächtliches Hundegebell. (AH, S. 5)
Wie Felix Bendel, anders als Meyers Edelmann, der seine Rache tatsächlich aus einem tiefen Glauben heraus an Gott delegieren kann,30 eine Möglichkeit findet, durch den Verzicht auf einen physischen Racheakt doch noch ans Ziel seiner geheimen Wünsche zu gelangen, indem er den Verführer seiner Frau einem subtilen Psychoterror aussetzt, sollte von den Lernenden nicht nur anhand der Lektüre von Clarins inneren Monologen nachvollzogen werden. Wichtiger noch erscheint hier die (von Werner wie von Meyer ausgesparte) Perspektive des sich nun zum Täter wandelnden Opfers, der sich die Lernenden durch das Verfassen eines Tagebucheintrags annähern können, den Bendel nach seiner Abreise verfasst, um einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu setzen. Ein solcher Tagebucheintrag ermöglicht den Lernenden den Nachvollzug der Gedanken 28 Vgl. Breier 1963, S. 434, Freund 1978, S. 111, Laufhütte 1988, S. 331f., und Wanning 2000, S. 286f. 29 Vgl. dazu auch Breier 1963, S. 429f., und Wanning 2000, S. 285. 30 Vgl. dazu auch Schmitz 2017, S. 90.
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einer Figur, die zwischen der Zufriedenheit angesichts des eigenen gestillten Rachedursts, dem schlechten Gewissen angesichts des ausgeübten Psychoterrors, dem aus beiden Gefühlslagen sich ergebenden Drang nach Selbstrechtfertigung und von der eigenen Tat ablenkenden Anklagen an die Adresse des Gegenspielers schwankt. Aus der skizzierten Abfolge der Gefühlslagen, die sich möglicherweise nicht aus einem einzigen, mit großer Wahrscheinlichkeit aber aus der Summe der von den Lernenden verfassten Texte ableiten lässt, ergibt sich ein Teufelskreis, der die Problematik der – lediglich ins Psychologische verschobenen – Rache beleuchtet und die Frage nach dem Unterschied zwischen Racheverzicht und Vergebung aufwirft, die in einem letzten Vertiefungsschritt der Unterrichtseinheit gestellt werden muss.
Rezeption II: Racheverzicht – gewaltloser Widerstand – Psychoterror Eine Verbindung zwischen dem Racheverzicht des Edelmanns in Meyers Ballade und dem Psychoterror Felix Bendels in Werners Roman stellt gedanklich das Modell des gewaltlosen Widerstands dar, der sich besonders typisch im Hungerstreik äußert – wie das graue Haar des Edelmanns und Bendels Selbststilisierung zum Leidenden appelliert auch dieses seit Mahatma Gandhis Kampf gegen koloniale Machtstrukturen beliebte politische Druckmittel an das menschliche Mitgefühl eines in jeder Hinsicht überlegenen Unterdrückers. Zur Erarbeitung der drei Konzepte sollten zunächst die Ansätze zum gewaltlosen Widerstand und zum Psychoterror auch in den Füßen im Feuer thematisiert werden, was beispielsweise durch den Vergleich des Schlussverses mit der Bibelstelle, aus der das Zitat stammt, erfolgen kann – zumal dieses in Röm 12,19, woher Meyer es wahrscheinlich entnimmt (vgl. Pailer 2009, S. 244f., Schmitz 2017, S. 85f.), selbst wieder ein Zitat aus Dtn 32,35 darstellt. Hier können die Lernenden die Funktion intertextueller Markierung am konkreten Beispiel selbst entdecken, denn was im zitierten Teil als Verzicht auf Rache erscheint, entpuppt sich beim Blick auf die vollständige Bibelstelle als Verheißung einer noch weit effektiveren Bestrafung der Missetäter durch den vordergründigen und damit letztlich nur taktischen Verzicht: Rechet euch selber nicht/ meine Liebesten/ sondern gebet raum dem zorn Gottes. Denn es stehet geschrieben/ Die Rache ist mein/ Jch wil vergelten/ Spricht der HERR. So nu deinen Feind hungert/ so speise jn/ Dürstet jn/ so trencke jn/ Wenn du das thust/ so wirstu fewrige Kolen auff sein Heubt samlen. Las dich nicht das böse vberwinden/ Sondern vberwinde das böse mit gutem. (Röm 12,19–21)
Die feurigen Kohlen auf dem Haupt des Feindes stehen der Folterung der Edelfrau durch den Kurier auch bildlich kaum nach; unterschwellig ist der Bal-
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lade – anders als beispielsweise der Stelle aus Jürg Jenatsch – bereits die aggressive, auf die psychische Deformation des Gegners abzielende Wirkung des Racheverzichts eingeschrieben.31 An die aus einem analytischen Vergleich, beispielsweise in der Form einer kurzen literarischen Erörterung, gewonnene Erkenntnis, dass Meyers Ballade anders als die Mahnung Rohans an Lukretia, die durch die Distanz der Textaussage zur Figur des ›guten Herzogs‹ allerdings relativiert wird, den Racheverzicht nicht als Vorstufe der Vergebung, sondern als bewusst ausgeübten Psychoterror präsentiert, kann die produktionsorientierte Annäherung an das politische Kampfmittel des Hungerstreiks anschließen. Dazu muss zunächst die Selbstinszenierung des Hugenotten als Opfer, die in Form des ergrauten Haares unfreiwillig erfolgt, über die verschiedenen Strategien, mit denen Bendel Clarins Mitleid zu erregen sucht, auf die Ebene eines bewussten Handelns gehoben und dann wieder zurück auf das Körpersymbol übertragen werden – eine komplexe und weitgehend abstrakte Operation, die vielleicht am ehesten gelingen kann, wenn die Lernenden sich in Clarin hineinversetzen, der darüber nachdenkt, warum Bendel gerade das Ergrauen des Hugenotten so betont hat (AH, S. 152), und zu der Erkenntnis gelangt, dass Bendel sich dieses Ergrauen (oder allgemeiner: jegliche Form des körperlichen Verfalls) offenbar für sich selbst wünscht, um Clarins schlechtes Gewissen noch weiter zu steigern. Aus dieser – Clarins – Perspektive können die Lernenden in einer durch eigene Recherchen nach historischen Beispielen für den diesem fiktiven selbstgesteuerten Ergrauen äquivalenten Hungerstreik von Gandhi über die inhaftierten RAF-Mitglieder bis hin zu den Hungerstreiks in München und Berlin während der Flüchtlingskrise 2015/ 16 geleisteten Aktualisierung die Fragestellung zur essayistischen Reflexion über die letztlich erpresserischen Methoden des Hungerstreiks zu ermöglichen, die aufgrund der Sympathielenkung für den unterlegenen Streikenden häufig nicht in die Betrachtung einbezogen wird. Die zwischen Sachtext und künstlerischer Gestaltung vermittelnde Form des essayistischen Schreibens bietet hier nicht nur die Möglichkeit, aus klassischen Werken der Literatur abgeleitete Wertvorstellungen direkt mit der kritischen Betrachtung des Zeitgeschehens zu verbinden, sondern steuern im konkreten Fall unweigerlich auf die Frage zu, ob der Appell an eine abstrakte ›Menschlichkeit‹, die den genannten Beispielen des Hungerstreiks zugrunde liegt, den christlichen Wertekanon ersetzen kann, auf den sich Meyers Hugenotte beruft – und wo Felix Bendel mit seinem Versuch einer Sanktionierung des Ehebruchs durch bewussten Psychoterror hier einzuordnen ist. Wie fließend die Übergänge zwischen dem christlichen Racheverzicht, dem politischen Druckmittel des gewaltlosen Widerstands und dem an Folter grenzenden Psychoterror sind, kann abschließend durch den Einsatz einer aktuellen 31 Vgl. dazu auch Wanning 2000, S. 295–298.
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filmischen Umsetzung demonstriert werden. In der am 10. 09. 2017 erstmals ausgestrahlten Folge Stau versucht das Ermittlerduo des Stuttgarter Tatorts, Lannert und Bootz, einen Fall von Fahrerflucht durch die Befragung mehrerer im Stau feststeckender Verdächtiger aufzuklären. Da alle hartnäckig leugnen, versucht der zunehmend hilfloser agierende Lannert am Ende, gezielt psychischen Druck aufzubauen. Zunächst verabschiedet er sich von einem Befragten mit den Worten: »Wenn Sie es wirklich waren, Herr Plettner, dann holt Sie das irgendwann ein, das werden Sie dann schon merken«, worauf dieser erwidert: »Ja, da haben Sie wahrscheinlich recht. Aber ich war es halt nicht« (1:18:19–1:18:28). Mit einer etwas subtileren Vorgehensweise gelingt schließlich die Lösung des Falles: Lannert stellt der Täterin Tina Klingelhöfer gegenüber einen Bezug zwischen dem Unfallopfer und der Tochter der Täterin her, indem er nach deren Alter fragt (1:20:04) und dann detailliert die Lebensgeschichte und den Tod des Unfallopfers, eines vierzehnjährigen Mädchens, schildert. Die Darstellung verfehlt ihre Wirkung nicht; Klingelhöfer zeigt sich ge- und betroffen: »Wieso erzählen Sie mir das? Ich will das nicht hören!« (1:20:52–1:20:55); schließlich bettelt sie beinahe: »Hören Sie bitte auf damit!« (1:21:13). Lannert fährt fort, die Situation der betroffenen Eltern zu schildern, die er als »Hölle« beschreibt (1:21:26–1:21:44), und wendet schließlich das Gesicht frontal seiner Gesprächspartnerin zu: »Und alles nur, weil jemand zu schnell gefahren ist oder gerade auf sein Handy geschaut hat. Drei zerstörte Leben wegen einer SMS« (1:22:00–1:22:09). Zwar leugnet Klingelhöfer erneut: »Ich hab aber keine SMS geschrieben. Und ich hab auch niemanden totgefahren.« (1:22:10–1:22:14), doch sie beginnt lautlos zu weinen, als sie Lannert zum Verlassen ihres Wagens auffordert (1:22:55). Nachdem der Stau sich aufgelöst hat, gelingt es ihr nicht, einfach weiterzufahren, und als der Kommissar nochmals in ihren Wagen steigt, beginnt sie erneut zu weinen und legt den Kopf an Lannerts Schulter (1:27:56), was als Schuldeingeständnis gewertet werden soll; die letzte Einstellung des Films zeigt dann von außen das stehende Auto im wieder fließenden Verkehr (1:28:00–1:28:09). Die fortschreitende Ersetzung der als primitiv eingestuften physischen Gewalt durch ihr psychisches Pendant löst das Problem jedoch auch hier nur vordergründig: Wenn der Stuttgarter TatortKommissar die neunjährige Tochter der Verdächtigen vor dem Psychoterror, den er zur Erzwingung des Geständnisses einsetzen zu müssen glaubt, zu beschützen sucht, indem er diese durch Smartphone und Kopfhörer ablenkt (1:19:29– 1:19:51), demonstriert er ein äußerst gespaltenes Verhältnis zu seinen eigenen Methoden, das in deutlichem Gegensatz zur souveränen Überlegenheit des in sich und seinem Glauben ruhenden Edelmanns steht und diese Haltung eben durch den kontrastierenden Vergleich in Frage stellt. Ein Vergleich von Meyers Ballade mit der Schlusssequenz der Tatortfolge, deren für die Fragestellung weniger ergiebige vorgängige Handlung in Form einer kurzen Inhaltsangabe präsentiert werden sollte, zielt auf eine weitere Problema-
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tisierung der Anwendung psychischer Gewalt ab – auch und gerade wenn diese in allerbester Absicht ausgeübt wird. Anders als Meyers Hugenotte und Werners Felix Bendel handelt Lannert zumindest vordergründig (natürlich will er auch den Fall lösen) nicht im eigenen Interesse, sondern in dem eines unschuldigen Opfers, für dessen durch Unachtsamkeit und Fahrerflucht verursachten Tod ein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen werden soll. Dennoch wirft auch Lannerts von egoistischen Motiven kaum berührtes Vorgehen Fragen auf – allerdings nicht in der Darstellung des Filmendes: Hier bestätigt die Täterin durch ihr angesichts der zuvor gezeigten Emotionslosigkeit fast befreit wirkendes Weinen an der Schulter des Kommissars die Richtigkeit von dessen Vorgehen, während Werner Clarin kurz vorm Nervenzusammenbruch zeigt und Meyer den königlichen Kurier ohne jegliche Reaktion auf die Schlussworte des Hugenotten seiner Wege ziehen lässt. Ausgehend von eigenen Erfahrungen mit dem Genre des Kriminalfilms, aber auch von Clarins geistigem Zustand können die Lernenden ein alternatives Ende entwerfen, in dem Klingelhöfer – von Lannert in die Enge getrieben und mit der Situation überfordert – Selbstmord begeht. Im Licht dieses alternativen Endes kann nicht nur das Vorgehen des Kommissars kritisch hinterfragt werden (etwa in einem Gespräch mit dem Kollegen Bootz oder im Rahmen einer internen Ermittlung der Polizei), sondern auch der Blick abschließend noch einmal auf Werner und Meyer gelenkt werden: Ist es Bendels Absicht, Clarin zur Verzweiflung und damit in den Selbstmord zu treiben, um ihn so für den Ehebruch zu bestrafen? Und was erwartet eigentlich Meyers Hugenotte von dem Kurier: Soll der Racheverzicht bei diesem ein Damaskuserlebnis auslösen oder die lebenslange Furcht vor der Rache Gottes? Mit diesen analytischen Fragestellungen, die aufgrund ihrer Komplexität in Form einer literarischen Erörterung erarbeitet werden sollten, wird der gesamte Text der Ballade (bzw. des Romans) noch einmal umgewälzt, indem die Lernenden gezwungen sind, aus demselben die Argumente für ihre Erörterung zu gewinnen. Zugleich bildet die reflektierte Beantwortung dieser Frage, die sich auch zur Leistungsmessung als Aufsatzthema eignet, eine gute Grundlage für die moralische Einordnung des Racheverzichts als Wertvorstellung, die Meyer (und – in modifizierter Form – auch Werner) vermitteln wollen, mit der die Unterrichtseinheit – idealerweise in Kooperation mit dem Ethik- und Religionsunterricht – abgeschlossen werden kann; als Maßstab der Bewertung sollte dabei einerseits der kategorische Imperativ und andererseits das christliche Gebot der Nächstenliebe herangezogen werden: Indem die Lernenden sich in einer Podiumsdiskussion mit den verteilten Rollen des säkularen Aufklärers und des gläubigen Christen mit dem Problem des Racheverzichts auseinandersetzen, leistet die Arbeit an Meyers Ballade auch die kritische Beleuchtung der jeweiligen Wertmaßstäbe, die in der Diskussion durch die Argumente des Gesprächspartners herausgefordert werden und verteidigt werden müssen.
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Zusammenfassung So ermöglicht die Spiegelung der Ballade durch ihre diversen Intertexte – die Passage aus dem Jürg Jenatsch, die Balladen Seumes und Chamissos, die Bibelstelle aus dem Römerbrief, den Beginn von Donatis Historia medica mirabilis, die Episode aus Grimmelshausens Simplicissimus, Werners Am Hang und die Schlussszene des Stuttgarter Tatorts – nicht nur eine differenzierende Sicht auf die fließenden Übergänge zwischen Racheverzicht, gewaltlosem Widerstand und Psychoterror, sondern auch eine Reflexion der Wertvorstellungen, die den einzelnen Textzeugen zugrunde liegen und teilweise noch heute relevant sind. Dass diese Reflexion tradierter Wertvorstellungen auf der Grundlage zentraler Textdokumente der abendländischen Kultur und unter Berücksichtigung von deren literarischer Faktur geführt wird, trägt zu eben der umfassenden literarischen Bildung bei, die sich das Konzept der ›Themenorientierten Literaturdidaktik‹ zum Ziel gesetzt hat. Indem die Lernenden einerseits die historischen Produktionsbedingungen der Texte nachvollziehen und andererseits produktiv selbst Alternativen zu den gewählten Darstellungsformen entwerfen, nähern sie sich im Unterricht derjenigen Stufe der Intensität an, mit der sich auch der Autor mit seinem Thema auseinandergesetzt hat. Dabei wird nicht nur ein vertieftes Verständnis der jeweils analysierten und interpretierten Texte erreicht, sondern auch deren kritische Hinterfragung, die sowohl in analytischer als auch in produktiver Form erfolgt und so einerseits eine Metaebene der Literaturbetrachtung etabliert und andererseits einen künstlerischen Wettbewerb mit dem Text im Sinne einer agonalen Intertextualität initiiert. So werden die vermittelten Kompetenzen der Literaturrezeption und -produktion funktional auf die notwendige Reflexion eines zentralen Elements des Wertekanons bezogen und tragen zur Steigerung des Bewusstheitsgrades bei, mit dem der Lernende eigene Wertvorstellungen vertreten kann – gleichgültig, ob diese sich den durch die Literatur vermittelten Werten nun begründet anschließen oder diese begründet ablehnen. Auf dieses Ziel sind die vorgeschlagenen Inhalte, didaktischen Überlegungen, Methoden und Sozialformen ausgerichtet, indem sie den einzelnen Text in ein Geflecht von Abhängigkeiten und Interferenzen einordnen, dabei sowohl die Provenienz seiner inhaltlich-motivischen Schwerpunkte als auch die seiner kompositorisch-stilistischen Mittel untersuchen und über die Rezeption der Texte sowie den aktualisierenden Vergleich mit künstlerischen Werken, aber auch der politisch-sozialen Realität der Gegenwart die Zeitlosigkeit der untersuchten Wertvorstellung ebenso unter Beweis stellt wie die notwendige Zeitgebundenheit der jeweiligen Erscheinungsform, in der diese Wertvorstellung den Lernenden im einzelnen Text begegnet. Mit diesem ausgewogenen Ansatz sieht sich die vorliegende Abhandlung einer Stärkung des philologischen Aspekts im
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Rahmen der ›Themenorientierten Literaturdidaktik‹ verpflichtet, die ein Gegengewicht zum kulturwissenschaftlichen Fundament dieses Ansatzes darstellen soll – zumal auf diesem Weg vielleicht auch der vermeintliche Gegensatz zwischen Themen- und Kompetenzorientierung überwunden werden kann.
Primärliteratur Brüggemann, Dietrich (2017): Tatort: Stau, Fernsehfilm, 89 min. Deutschland. Chamisso, Adelbert von (1975): Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Jost Perfahl / Volker Hoffmann. München. Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. von Wolfram Bayer / Dieter Hornig. Frankfurt a. M. Donati, Marcello (1613): Historia medica mirabilis. Hg. von Gregor Horst. Frankfurt a. M. Goethe, Johann Wolfgang von (1899): Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Abt. I, Bd. 19. Weimar. Goethe, Johann Wolfgang von (1902): Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Abt. I, Bd. 41.1. Weimar. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von (1989): Werke I,1: Simplicissimus Teutsch. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. Meyer, Conrad Ferdinand (1963): Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Hans Zeller / Alfred Zäch. Bern. Meyer, Conrad Ferdinand (1996): Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 5, T. 1: Gedichte. Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Hg. von Hans Zeller. Bern. Meyer, Conrad Ferdinand (1958): Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 10: Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte. Hg. von Alfred Zäch. Bern. Seume, Johann Gottfried (1993): Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Apokryphen, kleine Schriften, Gedichte, Übersetzungen. Hg. von Jörg Drews. Frankfurt a. M. Werner, Markus (2004): Am Hang. Roman. Frankfurt a. M.
Sekundärliteratur Becker, Sabina (2003): Bürgerlicher Realismus. Tübingen / Basel. Breier, Helmut (1963): ›Die Füße im Feuer‹, in: Hirschenauer, Rupert / Weber, Albrecht (Hg.): Wege zum Gedicht. Bd. 2: Interpretation von Balladen. München, S. 425–436. Dabhoiwala, Faramerz (2012): The Origins of Sex. Oxford. Franzen, Johannes (2018): Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960–2015. Göttingen. Freund, Winfried (1978): Die deutsche Ballade. Theorie, Analysen, Didaktik. Paderborn. Göttsche, Dirk / Saul, Nicholas (2013): ›Introduction‹, in: Dies. (Hg): Realismus and Romanticism in German Literature – Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur. Bielefeld, S. 9–30.
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Grimm, Sieglinde / Wanning, Berbeli (2016): ›Einführung‹, in: Dies. (Hg.): Kulturökologie und Literaturdidaktik. Göttingen, S. 9–26. Hinck, Walter (1968): Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Kritik und Versuch einer Neuorientierung. Göttingen. Kraeger, Heinrich (1901): Conrad Ferdinand Meyer, Quellen und Wandlungen seiner Gedichte (Palaestra 16). Berlin. Laufhütte, Hartmut (1988): ›Kunst des Indirekten. Zu Conrad Ferdinand Meyer: »Die Füße im Feuer«‹, in: Grimm, Gunther E. (Hg.): Deutsche Balladen. Gedichte und Interpretationen. Stuttgart, S. 320–338. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2016): Bildungsplan 2016 – Gymnasium. Deutsch. Villingen-Schwenningen. Müller-Seidel, Walter (1963): ›Die deutsche Ballade. Umrisse ihrer Geschichte‹, in: Hirschenauer, Rupert / Weber, Albrecht (Hg.): Wege zum Gedicht. Bd. 2: Interpretation von Balladen. München, S. 17–83. Musäus, Johann Karl August (1788): Volksmährchen der Deutschen. Vierter Theil. 2. Aufl., Gotha. Pailer, Gaby (2009): ›Geschichte, Gedächtnis und Martyrium in Conrad Ferdinand Meyers »Die Füße im Feuer«‹, in: Böhn, Andreas / Kittstein, Ulrich / Weiß, Christoph (Hg.): Lyrik im historischen Kontext. FS Reiner Wild. Würzburg, S. 239–252. Reich-Ranicki, Marcel (2005): Der Kanon – Die deutsche Literatur – Gedichte. Bd. 4: Heinrich Heine bis Frank Wedekind. Frankfurt a. M. / Leipzig. Schenda, Rudolf (1998): Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper. München. Schmitz, Barbara (2017): ›»Mein ist die Rache, redet Gott«. Überlegungen zu Conrad Ferdinand Meyers Ballade »Die Füße im Feuer« aus alttestamentarischer Sicht‹, in: Bründl, Jürgen / Klug, Florian (Hg.): Zentrum und Peripherie. Theologische Perspektiven auf Kirche und Gesellschaft. FS Otmar Meuffels. Bamberg, S. 81–91. Wanning, Berbeli (2000): ›Der Gewalt begegnen – Aktualität und Geschichtlichkeit in C. F. Meyers »Die Füße im Feuer«‹, in: Woesler, Winfried (Hg): Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts. Heidelberg, S. 280–298. Weißert, Gottfried (1993): Ballade. 2. Aufl., Stuttgart.
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Didaktik der Werte, Wert der Natur: Zu Tiersymbolik und Treueideal in Marie von Ebner-Eschenbachs schüler_innengerechter Novelle Krambambuli
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Die Tiergeschichte um den treuen Krambambuli als prägnanter Prototyp
Die zumindest in Österreich in den Schulen kanonische (vgl. Holzner 2013, S. 281),1 dem tschechischen Uradel2 entstammende Marie von Ebner-Eschenbach, geb. Dubsky (1830–1916), gehörte bereits für ihre Zeitgenoss_innen als Autorin »zu den Auserwählten, denen schon zu Lebzeiten ein voller Erfolg und allgemeine unbestrittene Anerkennung zu Teil« (Koenig 1906, S. 501) wurde. Ihr poetologisches Konzept war von ihrem aphoristisch gefassten Grundsatz »Die Natur ist Wahrheit. Die Kunst ist höchste Wahrheit« (Salzer 1927, S. 1441) geprägt. Die realistische Novelle Krambambuli um einen schon mit dem Titel genannten Jagdhund aus den Dorf- und Schlossgeschichten (1883), die hier im Kontext der Gattungs- und Wertedidaktik betrachtet werden soll, wird zuvörderst durch ein organisches Tier- und Kollektivsymbol geprägt, das in einer langen kulturhistorischen Tradition geradezu ikonologisch für den sozialen Wert der Treue steht. Schließlich wird der Hund seit der Antike »als Begleiter des Menschen beschrieben und als Allegorie der Treue (Fides) dargestellt. So erscheint er zu Füßen des Guten Hirten auf spätantiken Sarkophagen […] und in der Anbetung als Begleittier der Hirten« (Lexikon der christlichen Ikonographie, 1994, S. 334) sowie auf ritterlichen Grabdenkmälern, was als bildliche Darstellung auch in den Unterricht einfließen könnte. Das Wissen über Tiere ist in diesem Fall wie in den Tier-Fabeln zunächst einmal »kein biologisches Wissen, sondern ein kulturgeschichtliches« (Wrobel 2013, S. 9), das aber fachübergreifend um Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung ergänzt werden kann. Jedenfalls 1 Hier wird die Autorin der »Höhenkammliteratur« zugeordnet (Holzner 2013, S. 284). 2 Es ist im Sinne einer interkulturellen Literaturwissenschaft und -didaktik nicht uninteressant, dass die ebenfalls zweisprachige tschechische Schriftstellerin Bozˇena Neˇmcová (1820–1862) nicht ohne Einfluss auf das Werk von Marie von Ebner-Eschenbach war (vgl. Zeman 2014, S. 544).
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handelt es sich bei dem treuen Krambambuli um einen ganz besonderen, geradezu ritterlichen Hund, obwohl der doch nach einem Schnaps getauft wurde: Und makellos war alles an dem ganzen Hunde von der Klaue bis zu der feinen Witternase: die kräftige, geschmeidige Gestalt, das über jedes Lob erhabene Piedestal. Vier lebende Säulen, die auch den Körper eines Hirsches getragen hätten und nicht viel dicker waren als die Läufe eines Hasen. Beim heiligen Hubertus! dieses Geschöpf musste einen Stammbaum haben, so alt und rein wie der eines deutschen Ordensritters. (Ebner-Eschenbach 1979, S. 53)3
Die im zweisprachigen Mähren, in Wischau und Umgebung4 angesiedelte einprägsame Novellensilhouette der Hundegeschichte, die in ihrer antipodischen Figurenkonstellation auch als Tafelbild große Prägnanz gewinnen kann, umreißt Daniela Strigl in ihrer Monographie über Ebner-Eschenbach wie folgt: Vordergründig geht es in Krambambuli um die Treue eines Hundes gegenüber jenem seiner beiden Herren, der auf diese die älteren Rechte besitzt, mag er auch ein Wilderer, ja Mörder sein. Denn Krambambuli gehört inzwischen dem Revierjäger Hopp, der ihn dem Vagabunden um zwölf Flaschen des gleichnamigen Schnapses abgekauft hat. Die Treue zu seinem vorigen Herrn war kaum aus ihm herauszuprügeln, dann aber hielt sie, überstand auch ein Intermezzo beim Grafen – bis einander beim Showdown der Jäger und der Wilddieb gegenüberstehen, Krambambuli im herzzerreißenden Doublebind schließlich an seinem alten Herrn hinaufspringt und so seinen Tod verursacht, weil er dessen Kugel vom Jäger ablenkt. Für diesen wiederum ist er nach dem Verrat so gut wie gestorben – und wirklich grämt und hungert sich der Hund zu Tode. Als Hopp bereut, ist es zu spät. (Strigl 2016, S. 276f.)
Das novellistische Zentralmotiv des Hundes als Haus- und Jagdtier ist dabei als Treuesymbol ein Mittlerwesen zwischen Kultur und Natur, Menschen- und Tierwelt. Der Förster als Heger des Waldes und der wildernde »Nichtsnutz« (52) kämpfen um das Tier. Neben dem besagten Wertekonflikt handelt die Geschichte auch von dem Mord des Wilderers aus der drangsalierten mährischen Landbevölkerung an einem brutalen, Bauernkinder schwer misshandelnden Oberförster. Hier spiegelt sich eine klare altösterreichische Hierarchie zwischen einer feudalen Oberschicht, einer Land, Leute und Tierwelt verwaltenden Mittel- und einer quasi entrechteten Unterschicht wider. Diese verursacht in ihrer Not teilweise erhebliche »Wild- und Waldschäden« (56), was thematisch schon in den Dorfnovellen Schillers (Der Verbrecher aus verlorener Ehre) oder Annette von Droste-Hülshoffs (Die Judenbuche) vorgeprägt ist. 3 Zitate aus Krambambuli werden im Folgenden nur durch die Seitenzahl in Klammern belegt. 4 Auf eine latente interkulturelle Dimension des Kampfs der Klassen, der sich im Streit um den Hund zwischen dem Förster als Vertreter der Obrigkeit und dem Wilderer als Außenseiter aus dem Volke entspinnt, könnte die damalige ethnische Zusammensetzung der Gegend verweisen. Wischau (tschech. Vysˇkov) hatte »(1900) 5988 vorwiegend tschech. Einwohner« (Meyers Großes Konversationslexikon 1908, S. 689).
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Die Topographie ist klar gezeichnet: Zentraler Handlungsort ist ein »Lindenrondell, am Ende des herrschaftlichen Parks, der an den ›Grafenwald‹ grenzte, und [sich] in der Nähe der Kulturen, die der Oberförster am liebsten mit Pulverminen umgeben hätte« (57), befindet. Es liegt an der Grenze zwischen dem engeren und weiteren Herrschaftsgebiet der Herren aus dem mährischen Herrenhaus. Hier werden die Kinder der armen Leute auf Geheiß des Oberförsters misshandelt, hier wird dieser anscheinend vom ersten Herren Krambambulis gerichtete Oberförster nach einer Art Ritualmord tot aufgefunden und hier erfolgt der finale Schusswechsel zwischen den beiden Herren des treuen Hundes. Schließlich haben »Seelenkundige […] den geheimnisvollen Drang zu erklären gesucht, der manchen Verbrecher stets wieder an den Schauplatz seiner Untat zurückjagt.« (59) Entsprechende Tafelbilder sind dabei in Gestalt von Gegensatzpaaren, etwa Förster und Wilddieb, textuell eindeutig vorgeprägt. Die Handlung der Novelle hat die von Paul Heyse, der Marie von Ebner-Eschenbach einen seiner Novellenbände widmete,5 geforderte gattungstypische »starke Silhouette«.6 Dies fügt sich zum Umstand, dass laut Peter Bekes »Erzählungen mittleren Umfangs […] im Deutschunterricht kontinuierlich von der 5. bis zur 12. bzw. 13. Jahrgangsstufe gelesen« werden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Das Figurenarsenal und das Geschehen dieser Texte sind in der Regel überschaubar, nicht selten sind sie linear erzählt und auch ihre Tektonik lässt sich […] von den Schülern gut rekonstruieren. Dazu haben die Kernlehrpläne der einzelnen Bundesländer […] durchgehend eine Reihe von Kompetenzerwartungen formuliert. In erster Linie sollen Strukturen epischer Texte und Funktionen der sie konstituierenden Kategorien wie Handlung, Figur, Raum, Zeit untersucht und ihre Bedeutungen für die Entwicklung von schlüssigen Sinnkonstruktionen erläutert werden. (Bekes 2015, S. 14)
Hier tritt neben »gattungstypische[n] Gestaltungsformen« auch das »Spiel mit Motiven und Symbolen« (ebd., S. 15) in den didaktischen Fokus. »In den Lehrplänen für den Deutschunterricht hat der Erwerb von poetologischen Kompetenzen […] einen erheblichen Stellenwert. […] Schüler sollen – in Anlehnung an die Prototypenlehre – typische Beispiele von Erzählungen und Novellen kennenlernen.« (Ebd., S. 18) Das »Ähnlichkeitsdenken« (Köster 2015, S. 66) kann so u. a. novellenspezifisch gefördert werden. »Der privat unbewußte Gehalt wird beim Dichter in ein kulturell allgemeines Symbolsystem so eingefügt, dass er mit transportiert und verhüllt ›objektiviert‹ wird.« (Lorenzer 1988, S. 38) So bilden sich auch in der Literaturdidaktik Mytheme oder »ein Gefüge von Erinne5 Das künstlerische Verhältnis und der novellentheoretische Austausch zwischen Heyse und Ebner-Eschenbach waren intensiv (vgl. Strigl 2016, S. 269f. sowie Hillenbrand 1998, S. 528f.). 6 Vgl. zu Heyses Falkentheorie: Füllmann 2010, S. 37.
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rungsspuren« (ebd., S. 40), etwa Narrationen um einen Hund als lebendiges Treuesymbol als natürlichem Handlungsträger. Dies sind »›[p]rototypische Vorstellungen‹ als mentale von typischen Vertretern einer Gattung« (ebd., S. 66) bzw. Engramme (vgl. Füllmann 2016, S. 157ff.), die nach Lorenzer in »genau umschriebenen ›Gehirnrealien‹ ihre Ablagerung finden« (Lorenzer 1988, S. 41) und der Literaturtheorie im Allgemeinen wie der Novellentheorie im Besonderen eine anthropologische Fundierung verleihen. Die kristalline Novellensilhouette Paul Heyses und Ebner-Eschenbachs (vgl. Aust 2012, S. 37ff.) entspricht demnach psychologisch dem Engramm: Diese Engramme sind ›Erinnerungsspuren‹, wie Freud sagt. Und natürlich sind sie die Engramme eines Menschen. Sie haben also ein individuelles Profil. […] So wie die Sinnesqualitäten […] zusammenfließen zur Gestalt einer Objektvorstellung, so fügen sich die verschiedenen in einer Situation wahrgenommenen Objekte zu konkreten Szenen. (Lorenzer 1988, S. 42)
Für den Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke bedarf »das Narrativ […] der Szene, um in ausgewählten Momenten durch Anschaulichkeit einprägsam zu werden; der Text simuliert in solchen Momenten, visuell, ja theatralisch zu sein.« (Koschorke 2012, S. 71) Diese szenische Anlage verbindet die Erzählung und die Novelle schon für Theodor Storm mit dem szenischen Genre des Dramas. Beide sind fiktionale Konstrukte eines – im vorliegenden Falle dörflich-ländlichen – ›Theatrum mundi‹ im Lindenrondell, in dem sich der Schicksalsweg der Menschen und des Hundes vollendet. »Das Primat des Szenischen« (ebd.) führt auch zur didaktischen »Stärkung des Formbewusstseins.« (Köster 2015, S. 61) Paul Heyses novellentypischer Falke (vgl. Füllmann 2010, S. 37) kommt in Ebner-Eschenbachs Dorfnovelle gewissenmaßen auf den Hund,7 der zwischen zwei menschlichen Antagonisten, dem wilden Wilderer und dem die Ordnung hegenden Förster, steht. Das ist in jener zentralen Szene der dramatischen Novellenhandlung am Wendepunkt, die auch im Unterricht nachgestellt werden könnte, durchaus wörtlich zu nehmen. Das Natursymbol des lebenden Hundes wirkt selbst synthetisch, denn – so Goethe – was ist eine höhere Synthese als ein lebendiges Wesen; und was haben wir uns mit Anatomie, Physiologie und Psychologie zu quälen, als um uns von dem Komplex nur einigermaßen einen Begriff zu machen, welcher sich immerfort herstellt, wir mögen ihn in noch so viele Teile zerfleischt haben. (Goethe HA 13, S. 51f.)
Das wesentliche Ziel literarischen Lernens nach Kaspar H. Spinner, nämlich »metaphorische und symbolische Ausdrucksweisen [zu] verstehen« (Spinner 2006, S. 11), wird bei einem lebenden, ja dynamischen treuen Tiersymbol ganz 7 Strigl konstatiert: »1887, vier Jahre nach der Erstveröffentlichung, nahm Paul Heyse Krambambuli in seinen Neuen deutschen Novellenschatz auf.« (Dies. 2016, S. 277)
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besonders gefördert. Doch das instinktgesteuerte Lebewesen im transkulturellen mährischen Ökosystem, wo die Tiergeschichte 1882 auch niedergeschrieben wurde,8 ist sicher den meisten Schüler_innen vermittelbar. Sein von seiner Treue verursachtes tragisches Schicksal kann auf dem Wege einer Tier-Mensch-Identifikation geradezu eine kathartische Wirkung erzeugen. Zur Wirkung der traurigen Novelle um den treuen Hund auf einen jungen Leser hält Peter C. Pfeiffer in seiner Monographie über Marie von Ebner-Eschenbach Folgendes fest: Meine erste Bekanntschaft mit einer Geschichte von Marie von Ebner-Eschenbach entspricht wahrscheinlich derjenigen Gleichaltriger, wenn diese überhaupt etwas von ihr gelesen haben. Als Schüler der fünften oder sechsten Klasse las ich tief gerührt und Rotz und Wasser heulend ihre Hundegeschichte Krambambuli. Es ist genau das einzige intensive Leseerlebnis aus jener Zeit, an das ich mich genau erinnern kann. (Pfeiffer 2008, S. 11)
Wenn – wie die auktoriale Erzählinstanz der Novelle uns mitteilt – mit dem einsam verendenden Krambambuli der »Treueste der Treuen herrenlos« (63) wird, dann sind Furcht und Mitleid groß. Das Kind kann sich als potenzieller Befehlsempfänger mit dem abhängigen Haustier gut identifizieren. Auch die Trauer um das treue Tier kann auf dialektische Weise zur »Erfahrung des Leseglücks« (Anselm 2012, S. 21) führen. Der Transfer zwischen Novellenfiktion und eigener Lebenswelt ist naheliegend. Dass in diesem Kontext die »Kinderund Jugendliteratur […] ein Tummelplatz für tierische Figuren« (Wrobel 2013, S. 5) ist, wie Dieter Wrobel hervorhebt, kann mithin nicht wirklich verwundern. »Die Weltliteratur ist ein einziger Zoo, nebenbei ist sie auch ein Tierfriedhof« (Strigl 2013, S. 97), was ja auch der in treuer Anhänglichkeit dahinsiechende Krambambuli belegt. Schon zu Lebzeiten der Autorin wurden nach Heinrich Wolgasts Diktum »Die Jugendschrift in ihrer dichterischen Form muss ein Kunstwerk sein« (Wolgast 1899, S. 21) etwa in seiner Streitschrift ›Das Elend unserer Jugendliteratur‹ (zuerst 1896), die der eigentlichen Kinder- und Jugendliteratur jegliche Existenzberechtigung absprach, die »Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach« (Kümmerling-Meibauer 2012, S. 52) aufgrund ihres didaktischen und ethischen Werts dringend empfohlen. 1912 wurden sie »in die von Leopold Köster aufgestellte Liste der ›Lektürevorschläge für Kinder ab 12 Jahre‹ aufgenommen.« (Polubojarinowa 2000, S. 168) In diesem Kontext war die Rezeption international; »›Krambambuli‹ wurde nämlich in den Jahren um 1900 in zwei St. Petersburger Jugendzeitschriften«, 1906 und 1908, in russischer Übersetzung »publiziert.« (Ebd., S. 169) Der Protagonist Krambambuli tritt hier im Kontext einer Konjunktur der Biologie und ihrer Popularisierung durch 8 »Ebner-Eschenbach schrieb die Geschichte, die ihre berühmteste werden sollte, in Zdislawitz. Am 5. September 1882 findet sich im Tagebuch die rätselhafte Eintragung ›Krambambuli beendet. Ist ein bissel sauber geraten.‹« (Strigl 2016, S. 277)
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Brehms Tierleben auf, welches die Autorin Ebner-Eschenbach gründlich studiert hatte (vgl. Strigl 2016, S. 103). Diese Tendenz verursachte die »›Tiergeschichtenschwemme‹ Ende […] des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. Hier erweist »sich die Hundegeschichte als eine besonders ›typische‹ Gattungsart der Kinderliteratur, die wohl meistens dazu prädisponiert war, ›informative‹ und ›didaktische‹ Elemente […] zu vereinigen.« (Polubojarinowa 2000, S. 174) Die Beliebtheit von Tierstoffen in der Kinder- und Jugendliteratur hielt im Laufe des 20. Jahrhunderts an, was Ephraim Kishon 1972 zu der Satire Alle Tiere sind schon da veranlasste. Darin legt ein Autor aus Verzweiflung darüber, dass alle Tierarten schon zu Kinderbüchern verarbeitet wurden, seinem Verlag eine Tiergeschichte über Theobald, den Tiefseeschwamm nahe: »Theobald reißt sich von seinem Elternhaus los, um in Jerusalem die Laufbahn eines Badeschwamms zu ergreifen.« (Kishon 1975, S. 263)9 Auch die vielen Verfilmungen der Krambambuli-Novelle belegen die alltagskulturell-bildhafte Relevanz von Tierstoffen im Allgemeinen und des Einzelwerks der Hundegeschichte EbnerEschenbachs im Besonderen.10
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Didaktik des ambivalenten Werts der Treue anhand von Krambambuli
Die zuvor beschriebene Symbolfunktion des treuen Hundes in der christlichen Bildwelt und ihrer Werterepräsentanz ist kein Zufall. Nicht nur das Ethische, sogar das Metaphysische wird hier im Wortsinn des Symbols mit dem Animalischen ›zusammengeworfen‹ (griechisch: συμβάλλειν ›symbállein‹). Treue hat in diesem Zusammenhang durchaus eine theologische Dimension. Schon im Alten Bund (Polubojarinowa 2000, S. 169) verbindet sich dieser Wert mit der »Güte und Liebe Gottes« bezeugt dadurch, dass »Gott seine Verheißungen nicht widerruft« (Schmid 1986, S. 224). Daher sieht sich der Israelit seinem Gott nicht als einer launischen Übermacht gegenüber, sondern weiß sich seinem Gott verbunden, der in unwandelbarer Treue zu seinem
9 Der Text wird auch als Unterrichtsmaterial verwendet: http://www.bildungsverlag-lemberge r.at/pdf_muster/978-3-85221-741-3_M.pdf. 10 In diesem Zusammenhang sind folgende Filmadaptionen zu nennen: Krambambuli (1940) unter der Regie von Karl Köstlin mit Rudolf Prack in der Hauptrolle; Heimatland (1955) unter der Regie von Franz Antel mit Rudolf Prack, Adrian Hoven, Marianne Hold u. a. sowie Ruf der Wälder (1965) ebenfalls unter der Regie von Franz Antel mit Johanna Matz, Terrence Hill u. a.; des Weiteren Sie nannten ihn Krambambuli (1972), wieder unter der Regie von Franz Antel mit Michael Schanze, Paul Hörbiger, Rudolf Prack u. a.; schließlich ist zu nennen Krambambuli (1998) unter der Regie von Xaver Schwarzenberger mit Tobias Moretti, Gabriel Barylli, Christine Neubauer, Nina Franoszek u. a. (vgl. Pfeiffer 2008, S. 151–171).
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Bundesschluss steht, durch den er sein Volk zu sich gerufen und so auch jedem Einzelnen Richtung und Würde verliehen hat. (Ebd.)11
Auf den treuen Hund wie auf den treuen Gott scheint Verlass zu sein; von Unten und Oben ist ihre Treue jeweils auf wankelmütige Menschen wie den wildernden ›Gelben‹, aber auch den ichbezogenen Förster Hopp in Krambambuli, ausgerichtet. Die »einzigartige Herr-Hund-Symbiose, die über die gewöhnliche Nützlichkeit des Jagdhundes weit hinausgeht«, ist in sich problematisch, verdankt sich die Treue doch »brachiale[r] Dressur« (Strigl 2016, S. 102), was nicht nur bei Tieren, sondern auch unter Menschen kein Einzelfall sein dürfte: Zwei volle Monate brauchte es, bevor Krambambuli, halb totgeprügelt, nach jedem Fluchtversuche mit dem Stachelhalsband an die Kette gelegt, endlich begriff, wohin er jetzt gehöre. Dann aber, als seine Unterwerfung vollständig geworden war, was für ein Hund wurde er da! (54)
Krambambuli wächst als Hund über sich hinaus, um zum besseren Menschen zu mutieren: Er ist mustergültig ein »eifriger Diener, guter Kamerad und treuer Freund und Hüter« (ebd.). Diese Werthaltung wie auch ein Anthropomorphismus schwingen in Krambambuli nämlich bereits am Anfang mit, wo die Autorin, auf die aus dem 18. Jahrhundert überlieferte Form der ›moralischen Erzählung‹ zurückgreifend, zuerst einen ›allgemeingültigen‹ moralischen Satz formuliert, zu dessen Exemplifizierung die nachfolgende Geschichte dienen soll. (Polubojarinowa 2000, S. 170) Der moralische Satz zu Beginn lautet: Vorliebe empfindet der Mensch für allerlei Dinge und Wesen. Liebe, die echte, unvergängliche, die lernt er – wenn überhaupt – nur einmal kennen. So wenigstens meint der Herr Revierjäger Hopp. Wie viele Hunde hat er schon gehabt, und auch gern gehabt; aber lieb, was man sagt lieb und unvergesslich, ist ihm nur einer gewesen – der Krambambuli. (52)
Das ist nicht nur die Meinung des Revierjägers, es ist vielmehr ein ›fabula docet‹ und seit der antiken Tierfabel gilt: Der didaktische Wert eines Werks impliziert meist ein wertedidaktisches Potenzial. Dies erfüllt sich schon dadurch, dass in Krambambuli und seinem Schicksal exemplarisch der »Ausdruck von Emotionen als Symbol« (Schiewer 2014, S. 100) zutage tritt. Nicht nur in den »Tiergeschichten des Ethnologen Konrad Lorenz« als hybride Textsorte ist der Textverlauf wie in der vorliegenden Novelle »durch mehrfaches Anwachsen und Abfallen der emotionalen Intensität gekennzeichnet, am Ende des Textes wird meist ein Maximum erreicht.« (Ebd., S. 104) Vor dem tragischen Ende des Protagonisten wird – etwa durch die Darstellung sozialer Ungerechtigkeit in der 11 So der katholische Theologe Josef Schmid (1986, S. 224).
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mährischen Dorfwelt – zudem »eine große Lebendigkeit der Textgestaltung erreicht«, indem »die Qualität der Emotionen wechselt« (ebd.). Berührende Treue wechselt im konkreten Fall mit gerechtem Zorn angesichts sozialer Missstände. Hier vereinen sich die Resultate der Emotionsforschung mit den »Techniken der Spannungserzeugung« (vgl. Bekes 2015, S. 50ff.) in der tradierten Novellentheorie und ihrer Didaktik. Unter Spannung wird aber auch die Titelfigur der Novelle gesetzt, wenn ihre Treue gegenüber dem Förster, der ihn in die Obhut des Grafen und Landesherren übergibt, getestet wird: Die Probe wurde gemacht, aber zum Erwürgen kam es nicht; denn der Graf verlor früher die Freude an dem eigensinnigen Tiere. Vergeblich hatte man es durch Liebe zu gewinnen, mit Strenge zu bändigen gesucht. Er biß jeden, der sich ihm näherte, versagte das Futter und – viel hat der Hund eines Jägers ohnehin nicht zuzusetzen – kam ganz herunter. (55)
Die Tiergeschichte Eschenbachs ist fester Bestandteil des österreichischen (Schul-)Kanons, auch weil sie den Wert der Treue zentral behandelt. Die Thematisierung der ›Treue‹ gilt hier als Beispiel dafür, dass im Literaturunterricht Werte über das Medium der Sprache und Literatur vermittelt werden. Das Lesen, auch und gerade von ›Klassikern‹ des Schulunterrichts, eröffnet die Möglichkeit, in der selbst gebildeten Welt aufzugehen, und verweist nicht selten auf das, was auch möglich wäre. Lesend entwickeln sich Maßstäbe zur SelbstBildung, in der gerade bei literarischen Texten das eigene Ich zum Bestandteil der Textrezeption wird. Lesen steigert das Selbstwertgefühl. […] Selbstbildung erfolgt durch ein sich Verlieren an den Text […], in dem sich ein Selbsttranszendieren ereignet. (Anselm 2012, S. 17)
Hierbei ist die Werteerziehung mit der literarischen Bildung eng verknüpft, schließlich lässt sich in Worten […] innere und äußere Weltsicht ausdrücken. Darüber hinaus ermöglicht Sprache die Reflexion von differierenden Werthaltungen und einen unumgänglichen Diskurs, wobei es innerhalb der schulischen Fächer insbesondere der Deutschunterricht in seiner kulturwissenschaftlich zu verstehenden Ausrichtung ist, der als zentraler Ort für Werteerziehung anzusehen ist. (Ebd., S. 9)
Die stets ausgelebte Treue ist verbunden mit dem Bildungsziel »sozialer Interaktionsfähigkeit« (Leubner et al. 2016, S. 41). »Der Literaturunterricht soll die Schüler dazu befähigen, an diesem Handlungsfeld so teilzuhaben, dass sie seine Bildungspotenziale in möglichst hohem Maße nutzen können.« (Ebd.) Der hier anhand des Zentralmotivs, des titelgebenden Hundes in Ebner-Eschenbachs Novelle Krambambuli, wesentlich behandelte Wert der Treue zeigt insbesondere, dass »Werte […] zugleich immer auch [eine] ideologisierende Funktion« (Anselm 2012, S. 19) innehaben, die sich beim Treuebegriff nicht nur in der natio-
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nalsozialistischen Vernichtungsideologie mit Maximen wie ›Unsere Ehre heißt Treue‹ zeigt. Die unreflektierte instinktive Treue kann sogar gegenüber einem ehemaligen Herrn verräterisch wirken, diesen als Mörder entlarven, wie sich angesichts der Leiche des toten Oberförsters im spannungserzeugenden Präsens historicum zeigt: Krambambuli beschnüffelt den toten Mann, läuft wie nicht gescheit um ihn herum, die Nase immer am Boden. Einmal winselt er, einmal stößt er einen schrillen Freudenschrei aus, macht ein paar Sätze, bellt, und es ist gerade so, als erwache in ihm eine längst erstorbene Erinnerung … (58)
Die Treue erscheint mithin als Wert von oft fragwürdiger sozialer Relevanz. Denn gerade wenn sie mit einem titelgebenden Zentral- und Tiersymbol verbunden ist, ja im Wortsinn durch einen an die menschliche, ja kindliche Tierliebe appellierenden Hund verkörpert wird, ist der Übergang zwischen der Treue und der ›hündischen Ergebenheit‹, die hier als Naturphänomen auftritt, nicht weit. Die »hündische Tugend der Treue« übersteigt die menschliche Dimension jenes Werts, weil sie eine maßvolle Werthaltung vermissen lässt. »Der Hund übt sie im wahrsten Sinne ohne Ansehen der Person – ob Gesetzeshüter, Jagdherr oder Verbrecher«, das »ist ihm einerlei. Auf das Natur-Recht der Treue, das gegen die Satzung des menschlichen Gemeinwesens prallt, versteht sich die Kreatur besser als das Kulturwesen Mensch und führt so dessen Regelwerk ad absurdum.« (Strigl 2016, S. 277) Auch im Falle der Dorfnovelle Ebner-Eschenbachs zeigt sich, dass »Texte nicht nur das Medium zur Vermittlung von Werten, sondern auch zur kritischen Reflexion von Werten« (Anselm 2012, S. 20) sind. Dem lebendig treuen Tier als dressiertem Naturwesen wächst hier dennoch ein spezifischer ethischer Symbolwert im Sinne Max Schelers zu. »Ein echter Symbolwert ist z. B. die ›Fahne‹ eines Regiments, in der gleichzeitig die Ehre und Würde des Regiments konzentriert ist, die aber eben hierdurch auch selber einen phänomenalen Wert hat, der mit ihrem Wert als Tuch gar nichts zu tun hat.« (Scheler 1921, S. 102) Ein treu handelnder Hund ist indes kein militaristischer Gegenstand. Vom Tier »ging stets eine Faszination aus, die sich in naturwissenschaftlicher Forschung wie auch in ästhetisch-symbolischer Ebene niederschlug (Mythen, Märchen, Comics, Kunst).« (Liessmann 2013, S. 5) Gerade die in der Novellenhandlung (aus-)gelebte Treue des Lebewesens ist wertedidaktisch prägnant. Die mit der Treue verbundene »Liebe, die echte, unvergängliche«, wie es gleich zu Beginn der Tiernovelle heißt, belegt zudem den von Max Scheler betonten »Apriorismus des Emotionalen« (Scheler 1921, S. 61) in der Wertethik. Gerade in Treue und Liebe zeigt sich das soziale Wesen eines allgemein anerkannten »Kollektivwertes« (ebd.). »›Gemeinschaften‹ können aber gegenüber einem ›Kollektivum‹ wieder ›Individuen‹ darstellen, z. B. eine individuelle Ehe, Familie, Gemeinde, Volk« (ebd., S. 101), was bildungstheoretisch nicht unwe-
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sentlich ist: Hier zeigt sich ein allgemeiner Wert am Beispiel eines Einzeltieres und der ›unerhörten Begebenheit‹ im Sinne Goethes,12 in die das Tier und seine Halter novellistisch verstrickt sind. In der lebendigen Handlungsdynamik gelebter Treue eröffnet die Krambambuli-Figur mit ihren Bezugspersonen, vor allem den Antipoden Wilderer und Förster, »eine szenisch-ganzheitliche Erkenntnisform als Definition der sinnlich-symbolischen Interaktionsform« (Hohr 2017, S. 66). Die Ambivalenz der für den Hund und seinen ersten Halter schicksalhaften Treue bis zum Tode eröffnet sich in der Novellenhandlung pointiert in einer Mensch-Tier-Interaktion: Die Pointe der Novelle besteht darin, dass der Hund, der zwischen seinen drei unterschiedliche soziale Schichten repräsentierenden Herrn wie Spielgeld wechselt, sich im Augenblick der Konfrontation just für den ersten, prestigeärmsten Besitzer entscheidet. Als Hopp den Mann als Wilderer und Mörder des Oberförsters im Wald stellt, folgt Krambambuli nach sichtbarem innerem Kampf den Rufen seines früheren Herrn. Zugleich ist der Hund aber schuld (nicht im moralischen Sinn, versteht sich) an dessen Tod, denn er führt den Jäger auf seine Spur und springt ihn zur Begrüßung an, sodass Hopp ihn ohne Gegenwehr erschießen kann. (Strigl 2013, S. 102)
Der Zwiespalt der Treue, in dem die psychologischen Kräfte von »Attraktion und Repulsion« (Brandt 2013, S. 199) wirken, eröffnet sich wertedidaktisch im Doppelgesicht eines Naturwesens, das in das Naturszenario einer Dorfnovelle eingebettet ist. Was für Peter Bekes auf Kafkas böhmische Tiernovelle Die Verwandlung zutrifft, wird auch in Ebner-Eschenbachs präziser Textur variiert. Auch in der mährischen Geschichte erzeugt der »Kampf der Antipoden Spannung, erweckt die Anteilnahme des Rezipienten und führt zu einem eindeutigen Ergebnis: dem Tod des Protagonisten.« (Bekes 2015, S. 52) Die didaktische Folgerung hinsichtlich der formalen Handlungsentwicklung, die auch die Dynamik der Treue im Dilemma veranschaulicht, ist eindeutig: Es empfiehlt sich, im Unterricht über solche Prozesse der Spannungserzeugung in den einzelnen Erzählungen zu sprechen und diese in Kurven oder stufenartigen Schaubildern nachzuzeichnen und zu analysieren. […] Hier ergeben sich für die Lehrkraft zahlreiche didaktisch-methodische Optionen, sprachliche Gestaltungsmittel und erzählerische Strategien, die Verwendung von Handlungsmustern und die Orientierung an Gattungskonventionen zu untersuchen. (Ebd.)
Ein gewichtiges Schaubild kann im Falle von Krambambuli die Einordung des Geschöpfes im novellistischen Dreieck zweier bzw. sogar dreier Herren sein, in dem sich sein Treuekonflikt novellistisch kristallisiert (vgl. Füllmann 2010, S. 34). Das ›Dreieck‹ wächst sich in der Novellenhandlung zur Szenerie am Linden-
12 »Denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit.« (Eckermann, 29. Jan. 1827, 1999, S. 209f.)
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rondell aus, die das Dilemma zweiseitiger Treue am Spannungshöhepunkt der Novelle plastisch darstellt: Krambambuli hatte seinen ersten Herrn erkannt und rannte auf ihn zu, bis – in die Mitte des Weges. Da pfeift Hopp, und der Hund macht kehrt, der ›Gelbe‹ pfeift, und der Hund macht wieder kehrt und windet sich in Verzweiflung auf einem Fleck, in gleicher Distanz von dem Jäger wie von dem Wildschützen, zugleich hingerissen und gebannt… Zuletzt hat das arme Tier den trostlos unnötigen Kampf aufgegeben und seinen Zweifeln ein Ende gemacht, aber nicht seiner Qual. Bellend, heulend, den Bauch am Boden, den Körper gespannt wie eine Sehne, den Kopf emporgehoben, als riefe es den Himmel zum Zeugen seines Seelenschmerzes an, kriecht es – seinem ersten Herrn zu. (61)
Diese Figurenkonstellation kann auch im Unterrichtsraum nachgestellt werden. Ebenso kann der nach dem Erschießen des ersten Herren entstehende finale Dialog zwischen Herr und Hund nachgesprochen werden, der – obzwar wohl nur eine Imagination im Herrenschädel – klar verdeutlicht, dass Treue gegenüber dem einen zur Untreue gegenüber einem anderen führen kann: ›Deserteur, Kalfakter, pflicht- und treuvergessene Kanaille!‹ ›Ja, Herr, jawohl.‹ ›Du warst meine Freude. Jetzt ist’s vorbei. Ich habe keine Freude mehr an dir.‹ ›Begreiflich, Herr‹, und Krambambuli legte sich hin, drückte den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten und sah den Jäger an. (62)
Krambambuli zeigt des Weiteren mit dem Eigenwert der Natur »subtil, wie radikal und total«, dass »das Tier, auch als Haustier, außerhalb der menschlichen Ordnung von sozial relevanten Bedeutungen und Wertigkeiten steht« (Strigl 2013, S. 103). Gerade auf diese Weise tritt indes mit narrativer Dialektik im Tier der menschliche Wert der Treue in fast übermenschlicher lebendig-symbolischer Prägnanz und materialisiert zutage: Die Treue wird so ›geheimnisvoll-offenbar‹ im Sinne Goethes (Goethe HA 1, S. 52). Die Natur zeigt konzentriert im Tier ihren Eigenwert, dem durchaus eine ethische Dimension zufällt. Zum Engramm-Begriff Lorenzers fügt sich in diesem Kontext des Weiteren, dass das »weite Feld der Symbolbildung […] natürlich durch den Blick der Psychoanalyse geprägt« ist: »Tiere in der Literatur sind nie einfach ›Tiere.‹« (Pfeiffer 2008, S. 109) So »besteht der eigentliche Reiz der Geschichte gerade darin, dass beiden Männern durch die kreatürlich-loyale Haltung des Hundes die gleiche Wertigkeit zugesprochen wird.« (Ebd., S. 164) Hier werden »Merkmale menschlicher Gesellschaften allegorisch an Tieren gespiegelt«, so dass die Allegorese eindringlicher ist als die Mimesis sozialer Realität. »Kontextualisierungen« zwischen tierischer Treue und menschlicher Untreue am verratenen und verkauften Krambambuli »erschließen Verstehensebenen, die […] einen pädagogischen Schau-Raum eröffnen, der im Literaturunterricht rekonstruiert werden kann.« (Wrobel 2013, S. 8) Im Unterrichtgespräch, aber auch im handlungs- und produktionsorientierten Litera-
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turunterricht kann so ein Transfer von der Tier- in die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, etwa nach dem Motto ›Schreibe die Geschichte aus der Perspektive Krambambulis‹, gewährleistet werden. Er wäre als Prozess angesichts der Ambivalenz von menschlicher und tierischer Treue nach dem Motto: »kein endgültiges Wort« (Härle/Steinbrenner 2004) zu verstehen. Und dennoch ließe sich dabei ein Kernsatz entwickeln, aber auch problematisieren, den schon Marie von Ebner-Eschenbach wie folgt aphoristisch verdichtete: »Die Treue ist etwas so Heiliges, dass sie sogar einem unrechtmäßigen Verhältnisse Weihe verleiht« (Zitiert nach: Strigl 2016, S. 277).
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Kafkas Strafkolonie als Klassiker zum Schreiben von Werten in Daten? Deutschdidaktische Selbstbetrachtung zu Externalisierung, Kontrolle und Schreibprozessen
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Einleitung
Franz Kafka ist sicherlich im deutschsprachigen sowie im internationalen Raum der Status eines Klassikers zuzusprechen. Ein Ähnliches dürfte für seine feste Verankerung in den Kanones des Deutschunterrichtes sowohl im In- als auch im Ausland gelten. Kafkas Biografie ebenso wie seine Briefwechsel und seine vielfach diskutierten Selbstreflexionen zum Schreiben sind bekannt und werden in unzähligen Einführungen zusammengefasst präsentiert.1 Entsprechend ist sowohl die wissenschaftliche als auch die didaktische Sekundärliteratur kaum zu überblicken. Vielmehr scheint – nicht nur der vielen bereits existierenden Literatur zu Kafka, sondern auch der charakteristisch herausfordernden Uneindeutigkeit seiner Werke geschuldet – eine Tradition darin zu bestehen, durch eigene Gedankengänge die Möglichkeiten oder auch die Brillanz von Interpretationen zu präsentieren.2 Vor diesem Hintergrund soll es nicht darum gehen, eine neue Pointe zum Verständnis eines Kafkatextes hinzuzufügen oder ihn zu didaktisieren. Denn auch zu Letzterem existieren bereits typische Handreichungen.3 Vielmehr ist ein spezifischer Kafkatext an dieser Stelle vor allem deswegen im Hinblick auf Werte und im Hinblick auf den Deutschunterricht von Interesse, weil er als klassischer Text eines kanonischen Autors Werte-Formate zur Sprache kommen lässt, die – so die These der vorliegenden Überlegungen – in Fachdidaktik, Pädagogik und im Bildungssystem (und damit auch an der Universität) als Probleme nicht immer ernst genommen oder eher externalisiert und damit ande-
1 Vgl. exemplarisch den Anhang in der Ausgabe von Höfle (2015, S. 57ff.). 2 Vgl. zuletzt etwa auch die Gesamtschau bei Alt 2008 und 2009 oder bei Stach 2004, 2010 und 2016. 3 Vgl. hier zur Strafkolonie exemplarisch bei Reclam Kafka [Ottiker] 2017 und bei Suhrkamp Kafka [Höfle] 2015 sowie ebenfalls neben anderen Texten Kafkas bei Königs Erläuterungen Kafka [Schröter] 2014.
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ren, eben ›fremden‹ Gegenstandsbereichen zugerechnet werden.4 Mit dem Verfahren der Externalisierung ist zwar auch eine Deutungsperspektive auf Kafkas In der Strafkolonie (1919) angesprochen; allerdings soll diese Perspektive eher dazu dienen, die Verhandlungen von Werten des Bildungssystems im Umgang mit Fragestellungen zu beobachten, wie sie im Zusammenhang mit Kafkas Text entstehen.5 Es geht damit nicht um Werte für den Literaturunterricht allein, sondern auch und gerade um eine Reflexion von Werten in der Deutschdidaktik und im Deutschunterricht selbst. Dass Kafkas Ausführungen einen Nerv der Moderne zu treffen scheinen, kann nicht nur in Bezug zum heutigen Bildungssystem gezeigt werden, sondern auch an einem historischen Paralleltext, der nahezu zeitgleich veröffentlicht wurde und so eine weitere Perspektive auf die Strafkolonie eröffnet. Carl Schmitts Buribunken (1918) thematisieren ebenso maschinelles Schreiben, wenn auch wegen des Autors Schmitt anders gelagert – gerade hinsichtlich der von ihm verhandelten Totalitarismen zu Beginn der Weimarer Zeit und mit Blick auf seine spätere NS-Biografie. Vielleicht lassen sich aber gerade wegen dieser antidemokratischen Verflechtungen aus den Buribunken Verfahren von daten- und schriftbasierten Machtregimen in besonderem Maße ablesen. Dass die Buribunken in dieser Form paradigmatisch für die historische Reflexion von Schrift zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen können, belegt u. a. das extensive Zitat in Friedrich Kittlers Grammophon – Film – Typewriter, für den Medientechnik immer schon auch Kriegs- oder gar Vernichtungstechnik war (Kittler 1986, S. 334ff.; vgl. Herz 2013, S. 224ff.). Vor diesem Hintergrund werden die Buribunken insbesondere in distanziert-methodischer Funktion herangezogen, um ergänzende bzw. komplementäre Relevanzen der vorliegenden Überlegungen zur kritischen Analyse von Bildungspraktiken herauszuarbeiten. So folgt auf die eigentliche Auseinandersetzung mit der Strafkolonie zweitens eine weitere Reflexionsebene durch Schmitts Phantasie eines »Weltschreibmaschinenvereins« (vgl. Kittler 1986, S. 352). Am Ende dieser beiden Hauptkapitel sowie in einer sich anschließenden Diskussion wird erörtert, welche Konsequenzen sich aus den beschriebenen Konstellationen ergeben. Die angesprochene Datenverarbeitung nämlich – so lässt sich die Externalisierungsthese fortführen – ist nicht nur konstitutiv für die möglicherweise aus Kafkas und Schmitts Ausführungen auslesbaren Überlegungen zu totalitären Regimen, zu Deportationspraktiken oder zu Überwachungs- und Bestrafungssystemen, sondern eben auch für das Bildungssystem. 4 Zu dem in den Cultural oder Postcolonial Studies klassischen Theorem des Othering vgl. z. B. hinsichtlich eines manichäischen Weltbildes Kastner 2012. 5 Nicht im Fokus steht, dem Text eine weitere Deutungshypothese hinzuzufügen, auch wenn das implizit geschehen kann.
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Damit ist unmittelbar das Selbstverständnis der Germanistik, des Deutschunterrichtes und der Fachdidaktik Deutsch angesprochen, wie es sich aus der impliziten und expliziten Reflexion ihrer eigenen, teils undiskutiert vorausgesetzten Werte in Theorie und praktischem Vollzug ergibt. Konzise kann das anhand der Beispiele der Schreibdidaktik, der Kompetenzorientierung und der Aufgabenforschung gezeigt werden.6 Hier ist nachdrücklich zu betonen, dass diese Ausführungen nicht als pauschale Kritik an den genannten Bereichen der Deutschdidaktik oder an der Kompetenzorientierung intendiert sind. Sowohl die Kompetenzorientierung als auch beispielsweise die spätestens mit der Rezeption von Hayes und Flower (vgl. Becker-Mrotzek/Böttcher 2014, S. 19ff.) einsetzende Prozessorientierung in der Schreibdidaktik haben maßgeblich dazu beigetragen, die Erlern- und Vermittelbarkeit grundlegender Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben in den Fokus zu rücken. Davon dürften gerade Schüler_innen, die gesellschaftlich benachteiligt sind, profitieren, wenn sie nicht an einem kaum erreichbaren Bildungsziel, sondern an einer realistisch erreichbaren sprachlichen Kompetenz gemessen werden.7 Vielmehr dienen im vorliegenden Text sowohl Kompetenzorientierung als auch Schreibdidaktik und Aufgabenforschung demgegenüber als Beispiele für einen möglichen, zu hinterfragenden blinden Fleck des Bildungssystems. Dieser bezieht sich, teilweise in einem sicherlich zu reflektierenden ›aufklärerischen‹ Impetus, auf die Frage, inwieweit die massenhaften Anhäufungen von Daten, deren Kontrolle und die daraus resultierende Definitionsmacht über die durch diese Daten geformten Objekte auch als problematische Anteile des eigenen (didaktischen bzw. Bildungs-)Systems zu begreifen sind. Zu fragen wäre dann, ob ebenfalls im Literaturunterricht zu beobachten ist, dass eine Kritik an solcher Datenanhäufung sich nicht unbedingt auf das Eigene und damit auf das Schulsystem selbst bzw. eben den eigenen Unterricht bezieht, sondern externalisiert wird – gewissermaßen als Vermeidungsstrategie. Betrachtet man mit einem kursorischen Blick bekannte Werke der Literaturgeschichte, die auch ihren Platz in den Kanones der Schulen gefunden haben, könnten sich solche Vermutungen erhärten. Die Datenanhäufung und Repression des Schulsystems sind dann zum Beispiel auf historisch vergangene Epochen verlagerbar.8 Oder sie können in den vielen u- und dystopischen Klassikern insbesondere aus dem englischsprachigen 6 Dass dabei, wenn das Bildungssystem insgesamt betroffen ist, auch die im Zusammenhang mit diesem Begriff gegenüber der Schule vielleicht weniger häufig mitgedachte Universität genauso gemeint ist, versteht sich von selbst. 7 Vgl. zu diesem Phänomen bereits Pieper et al. 2004, die illustrieren, inwiefern insbesondere das Ideal literarischer Bildung für Hauptschüler_innen wegen mangelnder Lesekompetenz demotivierend sein kann. 8 Vgl. etwa bei Hermann Hesses Unterm Rad (Hesse 1972 [1906]) oder bei Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (Wedekind 2013 [1891]) mitsamt den didaktisierten Zusatzpublikationen.
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Bereich an irreale Orte »outgesourct« und nicht auf die eigene, sondern auf eine fremde, fiktive Praxis umgelenkt werden (vgl. kanonisch z. B. George Orwell 1984, Ray Bradbury Fahrenheit 451 oder das auch im Deutschunterricht gelesene Löcher von Louis Sachar). Demgegenüber stellt der vorliegende Text eine andere Frage: Was passiert, wenn man aus Kafkas Strafkolonie resultierende Fragen auch auf die eigene Praxis im Bildungssystem und insbesondere in der Deutschdidaktik bezieht?
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In der Strafkolonie
Franz Kafka verfasste die Erzählung In der Strafkolonie 1914 und stellte sie zunächst unterschiedlichen Personen vor, bevor sie erst 1919 in Printversion veröffentlicht wurde (vgl. Kafka 2015 [1919], S. 71ff.). Der zeitliche Kontext ist hier – wie auch unten bei Schmitts Text – zum Umbruch zwischen Wilhelminismus, Erstem Weltkrieg und den Anfängen der Weimarer Republik klar umrissen. Inhaltlich scheint die Erzählung zunächst recht einfach: Auf Einladung eines Kommandanten besucht ein Forschungsreisender ein maschinelles und noch eng mit dem früheren Kommandanten in Konstruktion und Verfahren verbundenes Hinrichtungsprozedere in einer nicht präzise geographisch oder historisch verorteten Strafkolonie. Dieses brutal geschilderte Vorgehen wird samt Hinrichtungsapparat von einem Offizier erläutert, während ein Soldat den hinzurichtenden Verurteilten bewacht. In den Erläuterungen des Offiziers steht nun der Hinrichtungsapparat zwischen Grausen und Faszinosum im Mittelpunkt und wird näher illustriert. Der Offizier hat die Hoffnung, dass der Reisende sich gegenüber dem in dieser Hinsicht eher zurückhaltenden neuen Kommandanten für diesen Apparat einsetzen möge. In der Tat scheint das ganze juristische Verfahren aus der Sicht einer heutigen Gewaltenteilung fraglich: Legislative, Judikative und Exekutive fallen zusammen und die Schuldfrage wird nicht geklärt, sondern unhinterfragbar festgesetzt. Der zentrale Punkt scheint vielmehr darin zu liegen, dass die zu bestrafende Person ihr Urteil erst während der mehrstündigen Exekution erfährt, nämlich indem der besagte Hinrichtungsapparat ihr dieses Urteil maschinell aufschreibt bzw. eintätowiert. Natürlich, das sei bereits an dieser Stelle gesagt, bieten sich vielfache Interpretationsansätze an hinsichtlich einer poetologischen Selbstreflexion Kafkas über das Schreiben oder hinsichtlich der vielfach bei ihm perspektivierten juristischen Dimensionen von Schuld, Strafe, Urteil usw. Allerdings geht es vorliegend gerade um alternative Sichtweisen auf den Text. Denn, das ist bezeichnend, eigentlich funktioniert die Maschine gar nicht. Um den abweisenden Reisenden dennoch zu überzeugen, legt sich der Offizier so schließlich einem scheinbar unbekannten Plan folgend selbst anstelle des Verurteilten auf das Exekutionsgerät. Im Ge-
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gensatz zu seinen Schilderungen wird er dabei allerdings abrupt und martialisch auf tödliche Weise aufgespießt. Im Schlussteil (vgl. zur Unzufriedenheit Kafkas mit diesem Ende Kafka 2015 [1919], S. 73f.) verlässt der Reisende den Schauplatz per Schiff und erwehrt sich noch der ihn verfolgenden und nun scheinbar freien Personen des Soldaten und des Verurteilten, die mit ihm auf das Schiff zu gelangen versuchen. Über die richtige Deutung dieses Geschehens zu spekulieren, ist müßig. Es gibt sie nicht. Deutungsperspektiven umfassen u. a. traumdeuterische, auf totalitäre Regime, religiöse Praktiken und Gewaltenteilung bezogene, biografische, poetologische, historische (bzw. je nach Selbstbezeichnung) postkoloniale oder diskursanalytische (was aktuell etwa noch um diversitätssensible und intersektionale Ansätze zu ergänzen wäre), werkumfassende, mediologische oder hermeneutische Analysen usw. Eine ausgiebige Diskussion9 würde, wie wohl bei Kafka üblich, den Rahmen des vorliegendes Textes sprengen.10 Der vielleicht 9 Vgl. für eine erste Übersicht zur älteren Forschungstradition insbesondere die Fußnoten bei Albert/Disselnkötter 2002, S. 169ff.; für ein aktuelleres, informiertes forschungshistorisches Panorama vgl. die Anmerkungen von Höfle in Kafka 42015 [1919], S. 80ff., der mit gröberem Raster subsumiert; vgl. auch reduzierender die chronologisch älteren Etappen bei Rupp 2003, 208f.; neuere Tendenzen scheinen neben Analysen des Einzelwerkes und v. a. seiner ErzählUnzuverlässigkeit zusätzlich historische bzw. kulturelle Kon- und Kotexte zu betonen sowie dominanzkritische Ansätze oder medial-material-memoriale Fragen zu fokussieren, s. u. Bei den genannten dominanzkritischen Zugriffen stehen dabei meiner Kenntnis nach manche Schwerpunkte wie u. a. zu Gender oder Klassismen (bzw. aus intersektionaler Sicht) gerade gegenüber bereits länger angewendeten postkolonialen Perspektiven weniger stark zur Debatte. 10 Als dominant, abgesehen von werkimmanenten Verfahren (vgl. Albert/Disselnkötter 2002, S. 169 und 179f. sowie Kafka 42015 [1919], S. 70), können die bei Kafka üblichen biografischen Bezüge auch in Hinsicht auf die Schreibpraxis und die verschiedenen Überarbeitungsschritte gelten (vgl. exemplarisch den Anhang bei Kafka 42015 [1919], S. 65). Weiterhin kommen nach wie vor hermeneutisierende Verfahren – auch in Bezug auf unzuverlässiges Erzählen – zum Tragen (z. B. Rupp 2003 oder auch Höfle, vgl. Kafka 42015 [1919], S. 70). Zudem wird der Text bereits länger aus postkolonialer Perspektive analysiert (vgl. z. B. Albert/Disselnkötter 2002 oder Goebel 2002) und man setzt sich kritisch mit teilweise älteren (vgl. in Bezug auf den juristischen und historisch-politischen Diskurs Schmidt 1984 und Müller-Seidel 1986, vgl. dazu Rupp 2003, S. 209 sowie Albert/Disselnkötter 2002, S. 168), teilweise parallelen Veröffentlichungen auseinander, die die Strafkolonie im Hinblick auf realhistorische Geschehnisse lesen (vgl. z. B. in Bezug auf Deportationssysteme Willaredt 2000 oder sozialgeschichtlich bzw. sozialkritisch und berufsbiografisch Jahnke 2006). Weiterhin analysieren einzelne Texte die Strafkolonie mit medialem Fokus (vgl. z. B. klassisch in Bezug gerade nicht auf eine Schreibmaschine, sondern auf den kontinuierlich schreibenden Phonographen Wolf Kittler 1990, vgl. dazu Rupp 2003, S. 211ff. sowie Albert/Disselnkötter 2002, S. 170f.; vgl. außerdem in Bezug auf Sprache als Medium, teilweise auch politisch und poetologisch Fritz 2016; zu den mediologischen Analysen vgl. auch die bereits zitierte biografische Studie zu Kafka als Kinogänger bei Alt 2009). Aus didaktischer Sicht sind aufschlussreich Rupp 2002 sowie, neben einzelnen Materialien bei Willaredt 2000, aus theoretischer Sicht v. a. der fokussiert sozialgeschichtlich operierende Jahnke 2006. Während man bei Jahnke zwar einen forcierteren Anschluss an neuere Tendenzen zwischen sozialgeschichtlichen Dimensionen und diskursanalytischen oder postkolonialen Perspektiven (vgl. oben) bemängeln kann, um seinen
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banale, aber meines Erachtens springende Punkt liegt nun für die vorzustellende These der Externalisierung darin, dass in der Strafkolonie eine Maschinisierungsphantasie fingiert wird, die mitten im Beginn der modernen Maschinisierung – für die der parallel zur Entstehung liegende Erste Weltkrieg als Beispiel stehen kann – Maschine und Mensch bei der Verarbeitung von Daten in eins denkt, wie es auch für das moderne Bildungssystem relevant ist. Schließlich benötigt dieses System zwingend Daten, um zu qualifizieren und Bildungschancen zu verteilen. Zugegebenermaßen nähert sich eine solche Interpretation damit nicht aus einer primär kafka- oder lektürebezogenen Perspektive an, sondern ist eher selbstreferentiell. Allerdings ist die Strafkolonie nicht einfach als Allegorie o. ä. zu lesen (vgl. Kafka 2015 [1919], S. 86 u. 89f.). Vielmehr kann die Erzählung wie in einer Traumphantasie auf einer abstrakteren Ebene Fragenkomplexe zur Disposition stellen, die bis heute relevant sind. Es ist bezeichnend, dass bei den Sekundärtexten zur Strafkolonie tendenziell eher externe Deutungsperspektiven wie etwa aus Kafkas Biografie, aus der Geschichte der Deportations- und Kolonisationspraktiken oder aus der Geschichte der Medien im Zentrum stehen als Fragen nach den eigenen Dimensionen desjenigen Systems, innerhalb dessen all diese Texte zu Kafka entstehen. Dabei spielen Praktiken des Schreibens, der Prozessierung von Medien und Schrift und deren Kombination zwischen Mensch und Maschine spätestens seit der Computerverarbeitung eine unmittelbare Rolle an Schule und Universität. Die zu diskutierenden Werte dieses Klassikers sind entsprechend nicht allein die externen Werte realer oder fiktiver Strafkolonien zwischen möglicher Realgeografie und schriftstellerischer Deportations- oder Bestrafungsphantasie, sondern eben auch die eigenen Werte akademischer Texte innerhalb der Referenzrahmen, in denen sie entstehen. Entscheidend für Kafkas Konstruktion ist dadurch ein essentiell kybernetisches Moment sowohl aus maschineller als auch aus menschlicher Sicht. Kybernetik als Begriff fasst mit seiner aus dem Altgriechischen stammenden Bezeichnung derjenigen Person, die ein Boot steuert, und seiner auf moderne Systeme bezogenen Bedeutungsverschiebung der Kybernetik als Selbstregulation von Maschinen diese Doppeldeutigkeit auch terminologisch zwischen menschlichen (steuernde Person) und maschinellen (Selbstregulation) Bezugspunkten. Was heißt das? Zentral sowohl für die Narration als auch für die Darstellung der Maschine ist deren Verschaltung mit Menschen. Kafkas Szenario funktioniert nur, weil schließlich zwischen Mensch und Maschine ein zwar von außen induzierter, aber zur Selbstregulation führender Regelkreis entstehen soll, der auf Ansatz zu erhärten, so ist dennoch seine Grundposition evident: Der übliche Schulunterricht (zumindest, wie er sich aus Schulbuchveröffentlichungen abliest) samt Materialien bleibe tendenziell gefangen in Kafka-Klischees zwischen Unverständlichkeit, Ich–Verkrampfung und Vaterkomplex (vgl. Jahnke 2006, S. 34).
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Seiten der Maschine deren Arbeit nach Plan, auf Seiten der Delinquent_innen gerade die Einsicht, das Verstehen fördern soll – was über einen sehr langen Zeitraum als Prozess hingezogen wird (vgl. Kafka 2015 [1919], S. 15 u. 21). Es drängen sich jedoch nicht nur Fragen nach Rechtssystemen, Bestrafungsformen oder dem Kontakt mit fremden Umgangsformen auf. Vielmehr geht es auch darum, welcher Raum Datenerhebungen und ihren Verfahren in Bezug auf das Bildungssystem selbst zuzugestehen ist (bzw. wie viel dem selbstgesteuerten Umgang mit Daten überantwortet wird). Dafür ist eine Maschine wie bei Kafka kein konkreter Fall, aber immerhin ein auf die Spitze getriebenes, äußerst oder fast zu drastisches Exempel bzw. ein ins Extreme ausgeführtes Phantasma. Dieses bezieht sich nicht allein auf einen Hinrichtungsapparat. Das wäre wiederum eine Externalisierung, nur dieses Mal nicht in Bezug auf eine fingierte Strafkolonie, sondern auf eine verteufelte Maschine. Allerdings geht es in der Strafkolonie nicht allein um diesen Apparat. Vielmehr steht die Interaktion der beteiligten Handelnden im Zentrum. Das gilt insbesondere, da die Maschine gerade nicht funktioniert. Mit diesem Problem muss umgegangen werden. Hier zeigt sich diese Maschine scheinbar als Fremdkörper, mit dem man nicht wirklich zu handeln weiß. Allerdings bleibt sie eine menschliche Erfindung; sie geht schließlich auf den Kommandanten zurück. Und so ist es auch das menschliche Eingreifen, das die Narration vorantreibt: Der Offizier bzw. implizit auch der Forschungsreisende sind zu Reaktionen herausgefordert, sonst passiert nichts. Damit zeigt sich nicht nur ein maschinelles Bestrafen durch einen Apparat, was man von den Handlungstragenden externalisieren könnte. Der Apparat funktioniert nicht automatisch. Es sind gerade die beteiligten Personen selbst und allen voran der Offizier, der die Handlung und damit die Selbstzerstörung des Bestrafungswerkzeuges selbst initiiert. So zeigt sich auch im Blick auf das vermeintlich entmenschlichte oder abstrakte Maschinelle das eigene Handeln, das zum Vorschein kommt und ohne das nichts passieren würde. Auch im pädagogischen und didaktischen Bereich gibt es solche sich selbst regulierenden Settings. Zu denken ist hier vielleicht zunächst an die Benotungspraktiken, das Zertifikatssystem oder an die Archivierung von Schüler_innendaten in den Bildungsinstitutionen, die sich ebenfalls nicht ›automatisch‹ vollziehen. Aber auch spezifisch deutschdidaktische Gegebenheiten können benannt werden.11
11 Nochmals sei betont, dass die folgenden Ausführungen nicht als Pauschalkritik an spezifischen Paradigmen zu verstehen sind (zu beispielhaften positiven Aspekten vgl. bereits die Einleitung). Zudem ist hervorzuheben, dass die genannten Beispiele nicht die einzig möglichen sind. Vergleichbare Praktiken finden sich ebenfalls z. B. in der Medien- oder Literaturdidaktik bzw. eben – so ja die These – konstitutiv im gesamten Bildungssystem. Da es bei Kafka und in der Folge auch bei Schmitt allerdings um Schreibpraktiken geht, scheint der Bezug gerade zum Schreiben im Hinblick auf die Ausgangstexte inhaltlich plausibel. Selbst-
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Zum einen zeigen klassische Ausführungen zur Schreibdidaktik, die an das grundlegende Modell von Hayes und Flower (vgl. 1980) anschließen, genau diese Struktur eines sich selbst steuernden Regelkreises. Die Pointe des – hier nur reduziert dargestellten – Modells liegt gerade in einer Dreiteilung des Schreibprozesses in Planen, Formulieren und Überarbeiten, wobei spezifisch betont wird, dass diese Dreiteilung rekursiv und interdependent zu denken ist und somit konstant ineinandergreift (vgl. exemplarisch die Diskussion des Models bei Becker-Mrotzek/Böttcher 2014, S. 19ff.). Dass es auch um das permanente Auswerten von Daten geht, ergibt sich daraus, dass eine moderne Schreibdidaktik auf konstantes Bewerten – und damit auf den Prozess abstimmendes Regulieren – gerade nicht verzichten kann (vgl. ebd., S. 123). Die Überarbeitung eines Textes, eines Textteiles oder -abschnittes ist nur dann sinnvoll möglich, wenn das bereits Erarbeitete noch einmal einer Kontrolle unterzogen wird. Unabhängig davon, welche Schreibstrategie gewählt wird, ist dieser Evaluationsprozess konstitutiv. Das Ziel der Prozessorientierung ist in der Folge kein Schreibprodukt, sondern eine versierte und nach Möglichkeit später auch automatisierte Steuerung des Schreibprozesses, in der sich die Kompetenz von Schreiber_innen zeigt. Das hat den Vorteil, dass Schreiben tatsächlich als erlernbare Kompetenz aufgefasst wird, impliziert allerdings auch eine stetige Fremdkontrolle (etwa durch die Lehrkraft oder aber auch durch andere Lernende in peer-reviews usw.) sowie die Internalisierung einer stetigen Selbstbeobachtung. Im Modell des Schreibprozesses nach Hayes und Flower wird dieser Vorgang entsprechend als konstitutiver Baustein abgebildet und als ›Monitor‹ benannt (vgl. die konzise Übersicht bei Becker-Mrotzek/Böttcher 2014, S. 20). Die fortdauernde Evaluation des Geschriebenen ist kongruent mit der Verortung zwischen Mensch und Maschine wie auch bei Kafka: Jedes Schreibprogramm (bzw. jede Schüler_innen-Revision eigener oder fremder Texte usw.) meldet mittlerweile mindestens solche Fakten wie Rechtschreibung, Tippfehler, Wortzahlen, Zeichenzahlen usw. zurück. Dieses konstante Rückmelden und Überarbeiten findet sich auch in anderen Bereichen des Deutschunterrichtes etwa beim Evaluieren und ggf. Revidieren von Interpretationsansätzen, von Gesprächsbeiträgen oder von sprachreflexiven Vermutungen. Aus diesen Zusammenhängen resultiert eine Eigenverantwortlichkeit des Individuums, die es einerseits dazu befähigen soll, die anvisierten Kompetenzen auch tatsächlich zu erreichen bzw. sie aus eigener Kraft erreichen zu können. Andererseits impliziert dieses Setting ein konstantes ›Monitoring‹, um den Begriff aus dem Modell von Hayes und Flower aufzugreifen. So sollen nicht nur Rückmeldungen aus Fremdbeobachtungen zu Adjustierungen beim eigenen reguliertes Lernen ist darüber hinaus mittlerweile fester Bestandteile aller Bildungsprozesse, wie die hier kurz ausgeführte Diskussion der Kompetenzorientierung insgesamt zeigt.
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Vorgehen führen, sondern auch die Selbstüberwachung. Diese zwei Seiten finden sich ebenfalls in der klassischen Kompetenzdefinition nach Weinert und damit bei einem weiteren Beispiel. In diesem Sinn sind verfüg- oder erlernbare Kompetenzen gemeint, »um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001, S. 27f.). Neben eher anthropogenen Aspekten wie Motivation, Volition und Sozialität spielen gerade im letzten Teil selbstregulierende Funktionen eine tragende Rolle. Individuen sollen dazu in die Lage versetzt werden, ihre individuellen Kompetenzen auf weitere, variable Situationen zu übertragen. Damit sind einerseits übliche didaktische Erwartungen angesprochen, z. B. Transferleistungen anhand des Erlernten zu erbringen. Man kann diese Ausgangslage bzw. diese abstrakte Definition aber auch anders betrachten. Dann ähneln die angesprochenen selbstregulativen Fähigkeiten, bisher Erlerntes auf Neues zu übertragen, Prinzipien, wie intelligente Maschinen operieren. Die ihnen zu Grunde liegenden Algorithmen sollen sie möglichst dazu in die Lage versetzen, auf verschiedenste Situationen reagieren zu können. Dass dieser Vergleich nicht allzu weit hergeholt ist, lässt sich anhand von Studien der deutschdidaktischen Aufgabenforschung belegen. Auch Juliane Köster spricht beispielweise von »Überprüfungsinstrumenten« oder von »Algorithmen« (vgl. Köster 2008, S. 175 u. 178). Was ist damit gemeint? Köster arbeitet anhand von Lerner_innenarbeiten heraus, inwiefern sie den Ansprüchen der offiziellen Bildungsvorgaben gerecht werden, und damit auch, wie sie mit den Prüfungsanforderungen umgehen. Daraus leitet Köster Schlussfolgerungen für möglichst sinnvolle Aufgabenstellungen ab. Aufschlussreich im vorliegenden Kontext sind nun insbesondere Tendenzen, die Köster als unwillkürliche Komplexitätsreduktion bezeichnet. Sie meint damit Paraphrasen, rezeptartige Ausführungen zum formalen Aufbau oder zu sprachlichen Besonderheiten sowie die Übernahme von vorgegebenen Strukturen aus den vorgegebenen Texten. Anstatt also spezifische Ausführungen zur Aufgabenstellung oder zu den Ausgangstexten zu leisten, reduzieren die Prüflinge die Anforderungen auf die schon erwähnten Algorithmen üblicher Interpretationsbausteine z. B. zu sprachlichen Mitteln oder auf die Wiedergabe von Textteilen, die sich auf die Aufgabe beziehen. So können Lernende Aufgaben trivialisieren oder mit beliebigen Aussagen beantworten, wenn sie nur dem klassischen Schema des Deutschunterrichtes oder, das wäre zu ergänzen, des Germanistikstudiums entsprechen (vgl. dazu etwa Köster 2008, S. 178f., vgl. dazu auch insgesamt Susteck 2015). Pointiert kann man an dieser Stelle Iris Winklers Zitat einer studentischen Aussage anführen, dass es ein Richtig oder ein Falsch im Deutschunterricht nicht gebe (vgl. Winkler 2015, S. 195). Statt klarer spezifischer Erwartungen sind die Lernenden mit den ›üblichen‹ Standards vertraut, wie sie sie in den Vorgaben oder Erwartungshorizonten vermuten. So
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scheinen in der Tat Algorithmen zu entstehen, die die Lernenden in verschiedenen Situationen anwenden bzw. ›abspulen‹ können. Geprüft und gefördert wird dadurch eine allgemeine Schreibkompetenz und keine inhaltliche Auseinandersetzung, sodass die Gefahr entsteht, schematisierte Routinehandlungen als Arbeitsnachweis zu fördern (vgl. Susteck 2015, S. 433). Schließlich können, wenn die Standards bzw. die Erwartungshorizonte entsprechend formuliert sind, nach wie vor auch unter diesen Umständen ›Daten‹ gesammelt werden, um eine Bepunktung bzw. Bewertung der Prüfungen zu ermöglichen. D. h. eine Benotung ist immer noch möglich, auch wenn sie sich auf schematisierte Texte bezieht. So spiegeln sich die bisherigen Ausführungen zu Kafka in einem weiteren Zitat, das ebenso auf terminologischer Ebene das beschriebene Problem aufgreift. Susteck (2015, S. 444) plädiert dafür, »Prozesse literarischen Textverstehens nicht als umfassende Prozesse reiner Selbstregulation zu vollziehen« und so die beschriebenen »Algorithmen« Kösters zu fördern.12 Wieder ist es die Selbststeuerung bzw. das Monitoring, was angesprochen wird und was als Problem in den Vordergrund rückt, wenn statt einer ›echten‹ Auseinandersetzung mit Aufgaben im Unterricht lediglich Routinen prominent sind.
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Die Buribunken (1918)
Carl Schmitt ist aufgrund seiner gegen die Weimarer Republik gerichteten Ansichten und aufgrund seiner NS-Vergangenheit zeitlebens eine problematische Person geblieben.13 Entsprechend kann kein Text über Schmitt ohne einen Verweis darauf auskommen – zumal, wenn dieser Text von Klassikern und ihren Werten handelt (vgl. Balke 1997, S. 55f. oder Andres 2015, S. 204f., zu biografischen Informationen vgl. z. B. Mehring 2009).14 Für eine zumindest potentiell auf die deutschdidaktische Praxis bezogene Publikation bedeutet das, dass bei der 12 Vgl. dazu auch Susteck 2015, S. 444, der als Lösungsvorschlag weiter ausführt: »Im Gegenteil wäre es Aufgabe des Unterrichts, deutlich stärker wissensbasierte und problemorientierte Kontexte zu schaffen.« 13 Das gilt unabhängig davon, ob der Fingerzeig auf ihn wie auch auf andere wie auf Martin Heidegger trotz aller ganz eindeutigen Berechtigung gerade in den Anfängen der BRD zugleich als Feigenblatt dafür dienen konnte, eine allgemeine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit nicht umfassend vollziehen zu müssen. 14 Auch der Buribunkentext ist entsprechend der Zeit um 1918 weder diskriminierungsfrei noch diversitätsorientiert (vgl. z. B. die Rassismen bei Schmitt 1918, S. 91f.; es ist bezeichnend, dass Friedrich Kittlers extensives Zitat erst danach einsetzt bzw. kürzt, vgl. Kittler 1986, S. 334; zur Schwierigkeit im Umgang mit Schmitt sowohl mit seinen revisionistischen Einstellungen als auch mit seiner sehr problematischen NS-Vergangenheit vgl. generell z. B. Mehring 2011, S. 9, zit. nach Andres 2015, S. 205). Schmitt steht so in der Reihe der anhaltenden Diskussionen, inwieweit zwischen Person und Werk zu trennen ist, wie auch Balke bereits ähnlich am Beispiel von Heidegger und Hannah Ahrendt in Bezug auf Schmitt diskutiert (vgl. Balke 1997, S. 56).
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Analyse auch die enthaltenen, im Zusammenhang mit dem Autor zu diskutierenden antidemokratischen Ansichten thematisiert werden müssen. Zwar ist zumindest auf der fiktionalen Textebene einzugestehen, dass Kafkas Text ebenfalls keine legitimierte bzw. an einer Gewaltenteilung orientierte Rechtspraxis zeigt. Allerdings trifft das eben nicht auf Autorschaftsebene zu: Kafka ist gegenüber Schmitt als Autor bzw. Person und ebenso in Bezug auf weitere Veröffentlichungen nicht kompromittiert. Schmitt bleibt dagegen politisch prekär. Dennoch wurden und werden die Buribunken gerade aus medienwissenschaftlicher Perspektive immer wieder rezipiert (vgl. oben), wohl auch, weil sie als frühe Schrift Schmitts von 1918 eher im Kontext des Ersten Weltkrieges stehen. Vor diesen sperrigen historischen Hintergründen können vielleicht gerade deswegen Spuren aus Schmitts Satire abgelesen werden, durch die Machtregime und Totalitarismen besser verstanden und damit zugleich problematisiert werden können. Diese Spuren lassen sich als Elemente der Beschreibung moderner Gesellschaften auch in ihren fiktiven Verzerrungen in Parallellektüre zu Kafka auf- und begreifen. In diesen Verzerrungen steckt im Wechselspiel ein Potential, elementare Mechanismen der Kontrolle und Selbstkontrolle im Umbruch zu den technisierten Jahrhunderten nach dem Ersten Weltkrieg zu erschließen. Da insofern auch die eigenen und nicht nur fremde Werte betroffen sind, obwohl sowohl Schmitt als auch Kafka gerade fremde Welten beschwören, sind beide Texte herausfordernd nicht nur für politische Perspektiven, sondern auch für Didaktik und Pädagogik. So enttarnen Die Buribunken nach wie vor zwar zentrale Mechanismen totalitärer Regime in geschichtlicher Perspektive, aber ebenso diejenigen moderner Überwachungs- und Kontrollpraktiken (vgl. auch Herz 2013, S. 224ff.). In der wissenschaftlichen Rezeption stehen zum einen mediologische Perspektiven spätestens seit Friedrich Kittler im Vordergrund (vgl. Kittler 1986, vgl. auch Balke 1997 und Omiya 2008). Zum anderen wird die Satire im Blick auf das weitere Werk Schmitts und hier vor allem hinsichtlich seiner Ausführungen zur politischen Romantik (vgl. z. B. Andres 2015, vgl. auch Balke 1997, S. 58) oder als Satire auf die penible Akribie des Wissenschaftsbetriebs gesehen (vgl. Balke 1997, S. 62 unter Bezug auf Koselleck). Zudem wird der Text als Kritik am Historismus oder als Vorläufer der Analysen Foucaults interpretiert (vgl. dazu genauer die Ausführungen unten sowie Balke 1997, S. 62ff.). Liest man den Text, so sind Die Buribunken aus akademischer Sicht sicherlich zunächst bis heute eine Wissenschaftspersiflage (vgl. Andres 2015, S. 206f.). Kennzeichnend ist ein ironischer Ton, der akademische Prosa übertreibend imitiert und in seinem merklichen Überschwang zwischen Utopie und Dystopie schwankt.15 Der Text erschien erstmals in Franz Bleis letzter Ausgabe der Zeit-
15 Zu Utopien vgl. Omiya 2008, S. 141f., zum Ton vgl. beispielsweise Schmitt 1918, S. 89, »dessen
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schrift Summa, die zwischen 1917 und 1918 viermalig herausgegeben wurde (vgl. Schmitt 1918 sowie Omiya 2008, S. 135). Bekanntheit dürfte der Text zudem durch Kittlers bereits oben genanntes Lang-Zitat erhalten haben (vgl. Kittler 1986, S. 334ff.). Schmitt fingiert grundlegend zweierlei: einerseits die Buribunken, andererseits die Buribunkologie als die auf sie bezogene Wissenschaft. Beide charakterisiert Schmitt in seinem Text als positivistisch. Im Tagebuchschreiben nun liegt dann auch der Kern der Satire – zwar lassen sich bereits vorher einzelne Aspekte ablesen, aber insbesondere zum Ende des Textes fasst Schmitt das Buribunkentum konzise zusammen (vgl. Schmitt 1918, S. 101ff.). Alle Buribunken seien verpflichtet, für »jede Sekunde ihres Daseins Tagebuch zu führen« (Schmitt 1918, S. 101; vgl. ebd., S. 101ff.). Diese Tagebücher würden zentral über Kataloge, Sammelstellen, Institutionen, Treffen, Lesungen und Kontrollinstanzen miteinander verschaltet, sodass jegliche individuelle Information ausgelesen werden könne. Selbst der Protest gegen das Tagebuchschreiben sei möglich, lediglich das Nicht-Schreiben sei ein Problem. Man kann hier sicherlich an die Datensammlungen bei den großen heutigen sozialen Netzwerken denken oder an die Verstärkung und Sortierung von Meinungen in Filterblasen oder Echokammern. Man kann sich ebenfalls daran erinnert fühlen, dass mittlerweile per Smartphone nahezu sämtliche ›Realerfahrungen‹ simultan abgebildet und gepostet werden können, wenn man einbezieht, dass Live-Konzerte mitgefilmt oder dass TVEvents (ein mittlerweile altes Medium) über den zweiten Bildschirm des Handys kommentiert werden. So lassen sich Anklänge an auch heute noch übliche Praktiken gerade in den sozialen Medien finden. Unter vielfachen Anspielungen kommt die buribunkische Haltung am Ende zum cartesianischen Schluss, dass nur das, was geschrieben sei, wirklich zähle; nur das, was publiziert sei, existiere überhaupt als Relevantes: »ich schreibe, also bin ich; ich publiziere, also bin ich.« Wer nicht mehr schreibt, ist schlicht nicht mehr existent: »Als habe die Erde ihn verschlungen, kennt ihn niemand mehr« (beide Zitate: Schmitt 1918, S. 103). Auch hier mag man sich an Entwicklungen der aktuellen digitalen Kultur erinnert fühlen, allerdings ist es bei Schmitt keine elektronische Kommunikation, sondern noch die Schreibmaschine als wichtigstes Kommunikationsmedium (vgl. Balke 1997, S. 63, wo von der vollständigen Transformation des Lebens in Schrift die Rede ist). Oder wie Friedrich Kittler süffisant bemerkt: Es handelt sich um einen »Weltschreibmaschinenverein« (Kittler 1986, S. 352). Was in diesen Ausführungen begründet liegt, ist ein Prinzip, das die Moderne (bzw. Postmoderne) bis heute beeinflusst und sicherlich mittlerweile populäres Allgemeingut ist: Das eigene Handeln und die eigene Lebenswelt werden medial (re-)produStringenz sich wohl nur ultramontane Beschränktheit oder altlutherische Halsstarrigkeit zu entziehen vermögen«.
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ziert und gespeichert. Man kann nun die Frage stellen, inwiefern auch Schule oder Universität in den konstanten Mitschriften, Hausarbeiten, Erfassungssystemen von Credit Points usw. selbst Teil dieser Vorgänge sind, die sich nicht allein an so genannte Social Media auslagern lassen. In seinen Personenerfassungen und der Datenabfrage in Prüfungen, Nachweisen und Anwesenheiten partizipiert das Bildungssystem an dieser eben auch allgemeinen Praxis. Aus der Sicht des ›Buribunkentums‹ erscheinen solche Überlegungen naheliegend. Aus einer weniger spekulativen Perspektive der Deutschdidaktik allerdings ist einzuwenden, dass die bisher ausgeführten Gedankenspiele, so überdreht sie auch zu sein scheinen, immer nur dann funktionieren, wenn sie auf einem einfachen Konstrukt aufsetzen, das zwei unterschiedliche Welten postuliert. Die Rede ist mit Philippe Wampfler vom digitalen Dualismus (vgl. zu Wampfler ausführlich die entsprechende Diskussion bei Frederking/Krommer 2014). Dieser digitale Dualismus besagt, dass es eine vermeintlich echte Realität gebe und als Gegensatz dazu eine vermeintlich digitale. Vereinfacht ist die echte Realität diejenige Realität, die wir immer schon (also auch vor den Computern, dem Internet und ihren Ablegern) hatten. Die digitale Realität kommt in diesem Gedankengang dann mit den entsprechenden Maschinen hinzu und wird, was ihre Echtheit betrifft, als sekundär gesetzt. Man kann sich an dieser Stelle sicherlich an klassisch metaphysische Konstruktionen seit Platon bis hin zur Filmreihe Matrix oder zum Streaming von Black Mirror erinnert fühlen, die Relevanz liegt aber woanders. Es ist davon auszugehen, dass es diesen Unterschied oder Dualismus gar nicht gibt – er ist eben eine Konstruktion. Zunächst dürfte für die Schüler_innen kein zwingender Unterschied zwischen ›Realität‹ und ›digitaler Realität‹ existieren, die ›digitale Realität‹ ist für sie unter dieser Annahme nichts Äußeres, sondern hat für sie insbesondere im Rahmen ihrer ›echten‹ Peergroups unmittelbare Konsequenzen. Zum anderen zeigt das Schreibmaschinen-Beispiel, dass nicht erst ein digitales Zeitalter für eine medial vermeintliche Verdopplung verantwortlich gemacht werden kann, sondern dass bereits für solche aus heutiger Sicht banale Techniken wie Schreibmaschinen vergleichbare Phantasien der Folgen von Mediatisierung gezeigt werden können. Greift man mit dem Tagebuchschreiben der Buribunken bzw. den digitalen Kommunikationsformen in den sozialen Netzwerken Verfahren der medial gestützten Selbstdarstellung auf, lässt sich eine erste Verbindung zu den Überlegungen zur Strafkolonie schlagen. Dort war zur Sprache gekommen, wie selbstreguliertes Arbeiten nicht alleine Maschinen und technischen Apparaten zuzuordnen ist, sondern wie stark menschliche Interaktionen Teil dieser Prozesse sind. Auch bei Schmitt speisen die Buribunken Daten ein und werten sie aus, verknüpfen und archivieren sie. Und auch in den sozialen Netzwerken besteht in diesen Prozeduren ein Standardprinzip der Datenverarbeitung, auch wenn dafür nicht mehr Zettelkästen, sondern Algorithmen eingesetzt werden.
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Anhand der Beispiele der Buribunken und der sozialen Netzwerke zeigt sich dabei sicherlich, wie wichtig aus schulischer Sicht eine entsprechende Förderung von Medienkompetenz ist. Schüler_innen sollten durchschauen, welche Daten sie zu welchen Zwecken preisgeben und dass sie scheinbar kostenlose Dienste mit ihren persönlichen Informationen bezahlen. Berichte davon, wie solche Daten legal und illegal verkauft werden können, zeigen das immer wieder. Allerdings lässt sich hier auch eine zweite Verknüpfung zu den bereits bei Kafka angestellten Überlegungen anführen. Es sind nicht allein kommerzielle Anbieter_innen im Internet oder verbrecherische Regime, die Daten sammeln. Vielmehr gehört das Anhäufen und das Überprüfen von Informationen grundlegend zu modernen Gesellschaftsformen und Demokratien (wie z. B. bei Einwohner_innenmeldeämtern, bei Finanzämtern, im Familienstammbuch usw.) wie insbesondere auch zum Bildungssystem. Die bei Schmitt beschriebenen Praktiken können nicht allein einer fiktiven Parodie von Buribunken zugeschrieben und als dem Bildungssystem externes Gedankenspiel verstanden werden. Ebenso können die Datensammlungen von sozialen Netzwerken nicht als eine der Schule völlig fremde Praxis dargestellt werden, vor der man pädagogisch warnen kann, wenn man selbst doch am Prinzip partizipiert. Dass diese Überlegungen berechtigt sind, zeigt sich in Sekundärtexten zu Schmitts Buribunken. Friedrich Balke verknüpft seine Analysen von Schmitts Parodie etwa mit klassischen Ausführungen Michel Foucaults zum Überwachen und Strafen. In modernen Staatsformen wird jedes Individuum dokumentiert, man belegt seine Existenz, seine Kompetenzen usw. mit Schriftpapieren (verkürzt gesagt haben wir entsprechend keine Akten über mittelalterliche Bäuer_innen, über moderne Staatsbürger_innen existieren aber von Ausweis über Steuerklärung und Zeugnissen Massen an Dokumenten für jedes einzelne Individuum). Damit stehen Daten im Vordergrund, die für alle Bürger_innen überprüfbar sind und Zugänge sowie Reglementierungen ermöglichen. Dass diese Macht nach Balke immer auch Schriftmacht ist, weil gerade schriftliche Dokumente wie Führerscheine, Bildungszertifikate usw. von Relevanz sind, ist evident (vgl. dazu insgesamt Balke 1997, S. 61ff. im prototypischen Rekurs auf Foucault 1994). Entsprechend ist mit der Schulpflicht auch jede_r Schüler_in von Interesse und füllt Akten. Allerdings ist, so lässt sich die vorliegende These gegenüber Balke fortsetzen, eine gerade für das Schreiben äußerst relevante Zuspitzung durch Deleuze wichtig. Zwar beschreibt Schmitt, wie das Buribunkentum seine Tagebücher einer kollektiven Bearbeitung und Verschaltung durch Zettelkataloge und damit einer externen Instanz etc. unterwerfe, jedoch geht es aus Sicht einer modernen Didaktik damit nicht mehr nur um Sichtbarkeit und Disziplin wie bei Foucault, sondern vor allem um Kontrolle und Korrektur (vgl. Deleuze 1993, S. 254ff.). Insbesondere für die Schule ist das evident, wenn man bedenkt, dass die Fremdund Selbstevaluation immer mehr zugenommen hat. Mit Deleuze betrifft das das
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Faktum, dass man nie mehr fertig ist (vgl. ebd.). Man bildet sich stattdessen immer weiter, fängt neue Qualifikationsmaßnahmen an oder spricht vom lebenslangen Lernen in der Informationsgesellschaft. Didaktisch heißt das auch, – und damit sind die bereits mehrfach genannten Regelkreise wieder angesprochen – dass das kontrollierende, nie abgeschlossene Moment von einer extern beobachtenden Instanz auf das lernende Subjekt selbst verlagert wird. Die ›Selbstoptimierung‹ betrifft vor allem die Selbstregulierung der Lernenden, die nie zu Ende geht. Um das bereits genutzte Zitat aus der Schreibdidaktik abgewandelt wieder aufzugreifen: Eine moderne Didaktik insgesamt kann auf konstante Bewertungsprozesse nicht verzichten, wie bereits verdeutlicht wurde.
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Diskussion
Damit lässt sich wieder zur eingangs aufgestellten These zurückkehren, dass sowohl im Blick auf Kafkas als auch auf Schmitts Text Probleme externalisiert werden, wenn sie vorrangig in Bezug auf Werte besprochen werden, die nicht das Bildungssystem selbst berühren. Beide Texte behandeln jedoch auch Praktiken, die Überwachungsmechanismen thematisieren. Positiver formuliert kann man an Selbstkontrolle, selbstgesteuertes Lernen und die konstante Beobachtung von Lernaktivitäten denken. Auch an den Bildungsinstitutionen werden Lernleistungen konstant gemessen und mit verschiedenen Kontrollinstanzen verknüpft. Schüler_innen füllen Aufzeichnungen, Portfolios oder Lernportale und sollen ihre eigenen Lernprozesse durch Nachschlagen, Nachlesen und Überarbeiten der eigenen Unterlagen steuern. Und wie bei Kafka heißt das in der Intention auch, dass durch die Selbstregulation gerade Erkenntnis und Einsicht befördert werden. Sicherlich kann man einwenden, dass diese Prozesse im Vergleich zu Kafka wesentlich weniger martialisch und tödlich ablaufen. Dennoch wäre es m. E. nicht redlich, damit die Fragen, zu deren Diskussion In der Strafkolonie anregt, allein unter Verweis auf die Drastik der Schilderung wiederum zu externalisieren. Qualen, wenn auch anderer Art, erleidet man sicherlich auch im aktuellen Bildungssystem. Vielmehr ist selbstkritisch zu fragen, inwiefern nicht Bildung vielmehr darüber hinaus zugleich bedeutet oder zumindest zusätzlich bedeuten sollte, Bildungs- und die damit verbundenen Aufzeichnungsprozesse ebenfalls vergessen zu dürfen. Wenn nicht immer alles nachvollziehbar sein muss, wie im Portfolio, um Erkenntnis zu generieren, oder wenn nicht immer alles archiviert werden muss, könnte das gegebenenfalls Freiräume schaffen, um das von Deleuze aufgeworfene Szenario der konstanten Kontrolle und des Drucks des Nie-Fertig-Werdens zu pausieren. Die Diskussion um Lern- und Leistungszeit zeigt das an, auch wenn Übungszeit immer noch Monitoring bedeutet (vgl. z. B. Becker-Mrotzek/Böttcher
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2014, S. 94ff. für Lern- und Übungsaufgaben). Die Frage, die damit m. E. aufgeworfen wird, ist, ob nicht die fortdauernde Beobachtung und Selbstanalyse, die zur sicherlich auch notwendigen Selbstverbesserung führen soll, ergänzt werden müsste um ein Recht auf Probehandeln und Vergessen ohne dokumentierte Konsequenz: Muss alles in Lerntagebüchern mitprotokolliert werden? Müssen Lernende nicht auch das Recht auf unbeobachtete Gedanken haben, wenn innere Lernprozesse angestoßen werden sollen? Man kann diese Fragestellung abschließend auch weniger dramatisch stellen: Die Konsequenzen dieser Verfahren werden nämlich an ganz konkreter Stelle sichtbar. Lernende können immer nach eigenen Strategien suchen, sich diesem konstanten Regelkreis zu entziehen und stattdessen nur Antworten auf Erwartungen abliefern, die sie hinter den Aufgaben vermuten. Was dann als Lösung angeboten wird, basiert nicht auf dem intendierten Selbstlernprozess, sondern darauf, was als richtige Lösung bei der Kontrollinstanz der Lehrenden vermutet wird – wie man eben auch Portfolios am Abend vor der Abgabe als mehrwöchigen Prozess fingieren kann. Dass Schüler_innen selbstgesteuert lernen sollen, ist kein Problem einer fiktiven, weit entfernten Strafkolonie. Dass Schüler_innen und das, was sie schreiben bzw. leisten, konstant beobachtet und kontrolliert werden, ist kein Problem einer vermeintlichen digitalen Welt, sondern alltägliche Praxis an den Bildungseinrichtungen bis zur Universität, an der die Arbeitszeit in Credit Points gemessen wird. Sowohl Kafka als auch Schmitt diskutieren auf unterschiedliche Weise in ihren Texten, wie automatisch gesteuerte Prozesse zwischen Menschen, Maschinen und deren dokumentierter Sichtbarkeit in brutalen und teilweise abstrus anmutenden Welten als Phantasien vorstellbar sind. All das kann dann aber nicht allein als fremd gesehen werden, wenn gerade auch Bildungssysteme an den Praktiken dieser Phantasien partizipieren, weil sie ohne sie nicht auskommen können. Insofern ist – bei aller nachdrücklich gebotenen Vorsicht – die Frage nach den Werten, die in den vorgestellten Texten diskutiert werden, auch in Bezug auf die eigenen Werte von Bildung zu stellen.
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Einsamkeit – Existenz – Identität
Ines Heiser
»Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!« Goethes Werther und die Diskussion um Werte im Literaturunterricht der Sekundarstufe II
Dass die Auseinandersetzung mit Wertfragen1 in einem Deutschunterricht, der Schüler_innen und aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden will, keine normative Werteerziehung mehr sein, sondern vielmehr darin bestehen sollte, Wertreflexionskompetenz (Anselm 2012) aufzubauen, stellt seit einigen Jahren einen breiten Konsens in der Literaturdidaktik dar. Bereits 1989 vertritt Kaspar H. Spinner eine »dezidiert […] aufklärerische, an der Selbstverantwortung des Individuums ausgerichtete Tradition, [die] gegen jede moralische Bevormundung argumentiert« (Spinner 2010 [1989], S. 73). Eine historische Perspektive nimmt 1998 Friedel Schardt ein, wenn er erläutert, im Rahmen der Auseinandersetzung mit Wertfragen müssten Verständnis für Alterität und historische Bedingtheit im Zentrum stehen; es gehe darum junge Menschen mit Konzepten bekannt zu machen, die in bestimmten Zeiten entwickelt und u. U. als Alternative gegenüber den die jeweilige Zeit bestimmenden […] Wertorientierungen […] angesehen werden können. […] Es darf auf keinen Fall ein Wertsystem verabsolutiert und aus dem jeweiligen Zeitkontext herausgelöst in eine Sphäre überzeitlicher Gültigkeit transponiert werden. Vielmehr ist immer zu sehen, in welchem Zeitkontext das jeweilige Konzept entwickelt wurde und auf welche Bedingungen hin es gedacht war und zu verstehen war. […] Der Lehrer sollte nicht als Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger […] auftreten. Wohl aber sollten die Schüler/ die Schülerinnen sich wenigstens einmal versuchsweise in die Problem- und Wertewelt eines Werkes hineinversetzen, von ihrer gegenwärtigen Position aus Handlungen durchspielen, Entscheidungen treffen und auch die Konsequenzen bedenken (Schardt 1998, S. 21f.).
Ähnlich nimmt auch Sabine Pfäfflin 2010 die Möglichkeit zur »Auseinandersetzung mit Wertfragen« in ihren Katalog von Auswahlkriterien für Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht auf, betonend, dass diese auf die »Reflexion 1 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des »Wertes« kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll »Wertreflexionskompetenz« in Anlehnung an Anselm (2012) im weitesten Sinne als »ethische Kompetenz« verstanden werden. Zu Begriffsgeschichte und aktueller Problematik im Allgemeinen vgl. Anselm 2012.
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von Wertvorstellungen« abzielen solle und moralische Diskursfähigkeit im Zusammenhang mit Empathie und eigenständiger moralischer Urteilsbildung fördern müsse (Pfäfflin 2012, S. 49f.). Besonders geeignet seien dazu Texte, die moralisch-ethische Fragen aufwerfen oder provozieren, thematisch mehrdimensional sind und einen hohen Polyvalenzgrad aufweisen, so dass sie die Beschäftigung mit Wertfragen anregen, jedoch nicht auf die präskriptive Vermittlung bestimmter Botschaften abzielen oder auf einen einzigen thematischen Schwerpunkt beschränkt bleiben (Pfäfflin 2012, S. 50).
Diese breit vertretene Position einer Ablehnung von Gesinnungsunterricht ist allerdings mit der Erkenntnis konfrontiert, dass Literatur an sich ein Medium zur Diskussion von Wertvorstellungen und moralischen Problemen darstellt. Spinner hält diesbezüglich fest: [M]an kann die Augen nicht davor verschließen, dass Literatur den Leser immer wieder in eine Auseinandersetzung mit moralischen Fragen verwickelt – wer den Faust, die Iphigenie, den Michael Kohlhaas, den Woyzeck […] liest, sieht sich mit moralischen Problemen konfrontiert. Man wird kaum daran zweifeln, dass die Beschäftigung mit solchen Texten einen Einfluss auf die moralische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben kann. Mit der Frage nach der moralischen Dimension trägt man deshalb nicht etwas an den Literaturunterricht heran, was ihm eigentlich fremd ist, sondern versucht Rechenschaft davon abzulegen, was in literarischer Erziehung geschieht und geschehen kann und soll (Spinner 2010 [1989], S. 75f.)
Es überrascht wenig, dass Spinner in seiner Aufzählung von Werken, die moralische Fragen thematisieren, hauptsächlich auf Klassiker zugreift2 – dies ist aus Gründen der Argumentationsökonomie sinnvoll, da er voraussetzen kann, dass sein informiertes Publikum3 diese Texte kennt und die im Verweis darauf anzitierten moralischen Probleme – z. B. Kohlhaas’ rücksichtslosen Kampf um Gerechtigkeit – ohne ausführlichere Erklärungen aus dem Gedächtnis abrufen und mit der präsentierten theoretischen Position in Verbindung bringen kann. Ausgehend davon stellt sich allerdings die Frage, ob aus didaktischer Perspektive allgemein ernstzunehmende Gründe dafür bestehen, die kritische Auseinandersetzung mit Wertfragen ausgerechnet am Gegenstand der sogenannten Klassiker durchzuführen. Zunächst scheint nicht zwingend etwas dafür zu sprechen. Wie die Forschung zum literarischen Kanon ausführlich nachgewiesen hat, ist ausschlaggebend für die Kanonisierung literarischer Texte bzw. für deren dauerhafte Überführung ins kulturelle Gedächtnis zumeist ein komplexes Bündel unterschiedlicher Faktoren (Winko 2002). Auf die hier vorliegende Fra2 Neben den genannten umfasst die Liste noch Brechts Kaukasischen Kreidekreis, Dürrenmatts Besuch der alten Dame und einen nicht weiter spezifizierten Verweis auf Märchen (Spinner 2010 [1989], S. 75). 3 Die Zeitschrift, in der der Beitrag erstmals publiziert wurde, richtet sich an Deutschlehrkräfte.
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gestellung zugespitzt: Es kann keineswegs unterstellt werden, dass Klassiker als Texte der literarischen Tradition per se inhaltlich ›werthaltiger‹ seien als andere Texte, denen dieser Status nicht zugeschrieben wird.4 Zudem ist für den Unterrichtskontext problematisch, dass ein vorhandener Klassikerstatus eine ergebnisoffene, kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten eines Textes in der Arbeit mit Schüler_innen häufig erschwert. Dabei bestehen zwei Gefahren: Zum einen kann die ästhetische Orientierungsfunktion, die solchen Texten zugeschrieben wird, sich bei wenig reflektiertem Umgang auf die Inhaltsebene übertragen, so dass Schüler_innen im Text manifeste Werturteile in der Folge gleichfalls als verbindlich ansehen. Zum anderen ist es häufig schwierig, Schüler_innen einen unbefangenen Zugang zu historisch fremden Texten, denen ein ausgesprochener Hochwertstatus zugesprochen wird, zu ermöglichen, ohne den ein ausreichend hohes Maß an innerer Beteiligung als Voraussetzung für eine echte Diskussion von angesprochenen Wertkonflikten problematisch ist. In Bezug auf Klassiker äußern Schüler_innen – in der Regel ausgehend von Informationen aus zweiter Hand, z. B. Kommentaren älterer Geschwister oder Lektürehilfen – häufig vorschnelle, unkritische Akzeptanz bzw. Hochachtung oder alternativ ebenfalls unreflektierte generelle Ablehnung und Kritik. Eine abwartend interessierte und unvoreingenommene Haltung, die als Ausgangspunkt für die differenzierte Arbeit an Wertdiskussionen am förderlichsten wäre, bildet dagegen die Ausnahme. Im Folgenden soll, ausgehend von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774), dargestellt werden, warum es dennoch sinnvoll sein kann, zur Ausbildung von Wertreflexionskompetenz auf bekannte Texte der literarischen Tradition zurückzugreifen. Dazu sollen in einem ersten Schritt zunächst die wesentlichen romanimmanenten Wertkonflikte sowie die Darstellungstechnik, bezogen auf die präsentierten Wertdiskurse, skizziert werden,5 in einem zweiten Schritt folgt aufbauend eine Analyse des didaktischen Potenzials. Goethes erstmals 1774 erschienener Briefroman kann zum Kernbestand des informellen schulischen Kanons gerechnet werden (Paefgen 2006, S. 78). Mit Spinner weist Kempf in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Goethes Werther zunächst als paradoxe Wahl für einen wertediskursiven Literaturunterricht 4 Entsprechende Vergleiche zwischen kanonisierten Texten und solchen ohne Klassiker-Status hat die Kanonforschung ausführlich angestellt, vgl. z. B. Neuhaus 2002 oder von Heydebrandt/ Winko, die 1994 die unterschiedliche Karriere der in Bezug auf die enthaltene Wertediskussion sehr ähnlichen und im gleichen Jahr (1895) erschienenen Romane Effi Briest von Theodor Fontane und Aus guter Familie. Leidengeschichte eines Mädchens von Gabriele Reuter nachzeichnen. 5 Eine umfassende literaturwissenschaftliche Analyse ist im hier vorgegebenen Rahmen selbstverständlich nicht möglich; für den größeren Kontext vgl. Herrmann 1994 sowie Mattenklott 1997.
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erscheinen müsse, da dieser Roman in der zeitgenössischen Wahrnehmung als moralisch zersetzender Einfluss gesehen wurde, dem eine Orientierungsfunktion in Bezug auf als Vorbild geeignete Werthaltungen gerade nicht zuzuschreiben sei (Kempf 2002, S. 204). Kempf sieht als positiv präsente Werte im Roman Liebe und Freundschaft; diese seien »gerade für Jugendliche in der Pubertät von höchstem Stellenwert« (Kempf 2002, S. 203) und würden hier durch »Versuchung und Leidenschaft« gefährdet (ebd.). Dieser eher unterkomplexen Sicht lässt sich entgegenhalten, dass die »erste Dichtung in deutscher Sprache, die Weltliteratur wurde« (Mattenklott 1997, S. 51) tatsächlich ein ganzes Bündel von Wertfragen diskutiert: So hinterfragt der Protagonist Wert und Berechtigung von Standesgrenzen, den Wert von bürgerlicher Arbeit und institutionalisierter Bildung sowie Moralgebote, die seinerzeit in Bezug auf Ehe und Familie galten (D’Aprile/ Siebers 2008, S. 180); durch seinen schlussendlichen Suizid stellt er den Wert des Lebens an sich zur Diskussion. Auf der Ebene der Tiefenstruktur lassen sich alle diese Teildebatten als Ausdruck eines zentralen Konflikts lesen, den D’Aprile/ Siebers als »missglückten Vergesellschaftungsprozess« (ebd.) bezeichnen – Werther leidet daran, dass seine eigenen, v. a. emotionalen Bedürfnisse mit äußeren, häufig rational begründeten Vorgaben nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Diese Konfliktsituation ist in der Literaturwissenschaft Gegenstand verschiedener divergierender Deutungsansätze.6 Für den hier vorliegenden Zusammenhang ist hauptsächlich von Interesse, dass die Kluft zwischen dem Protagonisten und seinem Umfeld zu einer erhöhten Wertereflexion im Roman selbst führt, die zusätzlich akzentuiert ist durch die intensive Innensicht des Briefformats. Beispielhaft zeigen lässt sich dies etwa an dem Gespräch zwischen Werther und Albert über die moralische Bewertung des Suizids im Brief vom 12. August (Goethe 1998 [1774], S. 47–53). Albert vertritt darin ein normatives, statisches Werteverständnis, indem er Selbstmord als grundsätzlich verachtenswert bezeichnet: »Du wirst mir zugeben, […] daß gewisse Handlungen [Suizid] lasterhaft bleiben, sie mögen aus einem Beweggrunde geschehen, aus welchem sie wollen« (Goethe 1998 [1774], S. 48). Dem begegnet Werther mit einer flexiblen Werthaltung, welche die Beurteilung der Handlung von ihrem jeweiligen Kontext abhängig macht: Daß ihr Menschen […] gleich sprechen müsst: Das ist thörig, das ist klug, das ist gut, das ist bös‹! Und was will das all heissen? Hab ihr deßwegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwikkeln, warum sie 6 Im Einzelnen können diese Interpretationsvorschläge – etwa eine politisch-marxistische Lesart nach Lukács oder auch verschiedene psychologische Deutungen – hier nicht thematisiert werden, vgl. dazu z. B. im Überblick Jäger 1984 und Mattenklott 1997. Sicherlich ist D’Aprile/Siebers darin zuzustimmen, dass insgesamt eine Auseinandersetzung mit Prämissen der Empfindsamkeit vorliegt: »[Goethes Werther] ist […] eine Fallstudie über die zeitgenössische Mode der Empfindsamkeit und deren Folgen« (D’Aprile/Siebers 2008, S. 180).
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geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urtheilen seyn. (ebd.)
Während Albert daraufhin Affekthandlungen, die bei getrübter Urteilsfähigkeit stattfinden, von seiner Grundsatzbewertung ausnimmt, Suizid aber weiterhin mindestens als beklagenswerte »Schwäche« (Goethe 1998 [1774], S. 50) sieht, entwickelt Werther seine Legitimationsstrategie noch weiter, indem er die Selbsttötung als logische und natürliche Konsequenz einer »Krankheit des Geistes« charakterisiert: »ich finde es eben so wunderbar zu sagen, der Mensch ist feig, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt« (ebd., S. 50f.). Diese Position illustriert er mit der Geschichte eines Mädchens, das sich aus enttäuschter Liebe das Leben nahm: »Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben« (Goethe 1998 [1774], S. 52). Die beiden Gesprächspartner kommen zu keinem Konsens; Werther beendet die Auseinandersetzung, indem er hastig den Raum verlässt. Diese Episode illustriert beispielhaft die diskursive Technik, die der Roman in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Wertfragen anwendet: Dabei äußert der Protagonist, zu dessen Gunsten eine deutliche Sympathielenkung zu erkennen ist,7 jeweils eine Position, die seinerzeit gängigen Normen zuwiderläuft; diese wird durch die Äußerungen von Gegenargumenten durch andere Figuren kontrastiert und so von verschiedenen Seiten argumentativ beleuchtet. Bei der strittigen Position kann es sich – wie in der Frage der Legitimation eines Suizids – um einen tatsächlich schwerwiegenden Tabubruch handeln, gelegentlich geht es aber auch um zunächst eher banal wirkende8 Orginalismen, wie etwa Werthers These, dass schlechte Laune unmoralisch sei (Brief vom 1. Juli, Goethe 1998 [1774], S. 34ff.). Obwohl die Konzeption des Romans seinem Lesepublikum nahelegt, mit dem Protagonisten zu sympathisieren, ist gleichzeitig sehr transparent markiert, dass Werthers unkonventionelle Ansichten alles andere als durchdacht oder theoretisch fundiert sind und dass es sich dabei häufig eher um ein erprobendes Spiel – um »Radotage« (Goethe 1998 [1774], S. 52) – handelt als um stabile, reflektierte Haltungen. Deutlich wird das etwa im Suizid-Gespräch mit Albert, das seinen Ausgangspunkt ausgehend von Alberts Bericht über einen 7 Diese ist bereits durch die Grundkonstellation des Briefromans gegeben, bei der Lesende im Vollzug der Lektüre quasi in die Rolle des vertrauten Freundes Wilhelm schlüpfen, an den die Briefe gerichtet sind, so dass ein enges und positives Näheverhältnis zwischen Leser_in und Hauptfigur evoziert wird, vgl. z. B. Dotzler 2004 [1999], S. 9. 8 In diesem Zusammenhang ist allerdings festzuhalten, dass auf der Ebene der Gesamtromanhandlung diese These anschließend deutlich mehr Gewicht erhält, da Werther selbst später in eben diese von ihm selbst kritisierte Haltung verfällt und sich seinen negativen Emotionen überlässt, anstatt seiner eigenen früher formulierten Forderung zu entsprechen und dagegen anzukämpfen.
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Waffenunfall nimmt: Werther setzt sich eine Pistole an den Kopf, weil er beginnt, sich während Alberts weitschweifiger Ausführungen zur Notwendigkeit von Vorsichtsmaßnahmen zu langweilen: »bey diesem Anlasse kam er sehr tief in Text, und ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden Gebährde drukt ich mir die Mündung der Pistolen übers rechte Auge an die Stirn« (Goethe 1998 [1774], S. 48). Expliziter kommentiert der Protagonist die spontane Handlung nicht: Sie kann als Reflex auf den zuvor von Albert beschriebenen Unfall gelesen werden, als zufällige Geste der Langeweile, die aus der Objektlogik des Gegenstandes entspringt, den der Protagonist gerade in der Hand hält, als impliziter Kommentar zu der an Albert kritisierten übergroßen Pedanterie oder auch als Vorausdeutung auf den später tatsächlich in genau dieser Form stattfindenden Suizid Werthers bzw. als Ausdruck einer schon zu diesem Zeitpunkt labilen Verfassung. Eines ist sie allerdings ganz sicher nicht: die gezielte Eröffnung eines theoretischen Wertediskurses. Erst Alberts vehemente Reaktion auf diese Geste löst das anschließende Grundsatzgespräch aus. Ähnlich stellt sich die Situation bezogen auf das Gespräch über die schlechte Laune dar: Hier besteht der Auslöser darin, dass Werther bei einem Besuch beim Pfarrer von St. Anstoß daran nimmt, dass der Verehrer der Pfarrerstochter Friederike, Herr Schmidt, Anzeichen von Eifersucht zeigt, als der Protagonist mit dieser flirtet (Goethe 1998 [1774], S. 33f.). Das Gespräch, das Werther in diesem Fall absichtlich und gezielt initiiert – »Mir wurmte das, und ich konnte nicht umhin […] den [Gesprächs-]Faden zu ergreifen« (Goethe 1998 [1774], S. 34) – folgt der Intention, den Kontrahenten für sein Verhalten zu kritisieren, vielleicht auch der, diesen in den Augen Friederikes herabzusetzen. Der theoretisch-philosophische Inhalt ist dieser Absicht zu Beginn deutlich untergeordnet. Symptomatisch ist allerdings auch, dass die spielerisch begonnenen Diskussionen jeweils zu ernsthaften Debatten eskalieren, in deren Verlauf sich Werther zunehmend mit der zuerst zufällig ergriffenen Position identifiziert und dass dies zu übersteigerten emotionalen Ausbrüchen führt, die es ihm unmöglich machen, die Gespräche geordnet zu Ende zu führen. Dass der Protagonist gar kein echtes Interesse daran hat, ein stringentes Wertesystem zu entwickeln und konsequent zu verfolgen, wird außerdem aus seinem insgesamt sprunghaften Verhalten deutlich, darüber hinaus äußert er dies verschiedentlich auch ganz explizit, z. B. in Zusammenhang mit der Ständefrage: »Zwar weis ich so gut als einer, wie nöthig der Unterschied der Stände ist, wie viel Vorteile er mir selbst verschafft, nur soll er mir nicht eben grad im Wege stehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Glük auf dieser Erde geniessen könnte« (Goethe 1998 [1774], S. 67). Das erratische Verhalten und die Brüche in den Einstellungen der Figur verhindern eine unkritische und vorschnelle Identifikation mit deren Positionen: Es ist offensichtlich, dass Werthers tatsächliches Engagement für bestimmte Ideen nicht zuverlässig eingeschätzt
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werden kann und dass seine Werthaltungen generell als situativ und wenig stabil zu betrachten sind.9 Auf der anderen Seite unterstützt die Tatsache, dass die kontroversen Positionen von der als sympathisch eingeschätzten Hauptfigur geäußert werden, bei Rezipierenden die Bereitschaft, diese zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Auf die Themensetzung und Gesprächseröffnung durch den Protagonisten folgt jeweils eine Darstellung von mindestens einer Gegenposition, teilweise werden Fallbeispiele als Belege für eine der Seiten angeführt, eine Kette gegenseitiger Erwiderungen kann sich anschließen. Von ihrer grundsätzlichen Struktur her – wenn auch weniger in der Form ihrer äußeren Durchführung – ähneln die Wertediskussionen im Werther damit philosophischen Lehrgesprächen, bei denen verschiedene Positionen gegeneinander abgewogen werden. Sie unterscheiden sich davon aber in einem entscheidenden Punkt: Sie enden jeweils ohne Ergebnis, so dass eine Synthese der Positionen oder die explizite Entscheidung für eine der beiden nicht erfolgt. Im Suizid-Gespräch mit Albert wird dieses Fortbestehen des Dissenses offen thematisiert: »O mir war das Herz so voll – Und wir giengen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht« (Goethe 1998 [1774], S. 53). Ähnlich endet die Diskussion über die schlechte Laune: Werther ist am Ende emotional so bewegt, dass er die Gesellschaft verlassen muss, ohne das Gespräch zu beenden (Goethe 1998 [1774], S. 36).10 Diese Struktur der offenen Gegenüberstellung von Positionen kann man auch auf der Makroebene des Gesamthandlungsverlaufs beobachten: In den Äußerungen der übrigen Figuren, teils auch in Werthers eigenen Reflexionen, werden Einwände gegen seine emotional übersteigerte Lebensweise vorgebracht; diese wird aber dennoch bis zu ihrem Extrem im abschließenden Suizid Werthers durch- und vorgeführt. Eine Stellungnahme durch 9 In diesem Zusammenhang ist Kempfs Charakterisierung treffend, wenn er Werther als Egozentriker darstellt (vgl. Kempf 2002, S. 218), auch wenn andere Aspekte seiner literaturwissenschaftlichen Analyse ansonsten hinterfragt werden müssen. 10 Als vergleichbar kann auch die Situation herangezogen werden, in der Werther aufgefordert wird, als Bürgerlicher eine Abendgesellschaft des Grafen C. zu verlassen (Brief vom 15. März, Goethe 1998 [1774], S. 71–74). Dort spielt sich der Wertediskurs stärker auf der Handlungsebene ab, die Frage, ob Werther bei der Veranstaltung anwesend sein darf, hängt mit der Wertopposition zwischen Herkunft/Stand und persönlichen Verdiensten/Sympathien zusammen. Während Werther durch seinen verzögerten Aufbruch seinen Wert über die persönliche Freundschaft zum Grafen definiert, lehnt ihn die später eintreffende Gesellschaft ab, da sie eine Wertzuschreibung über den sozialen Stand Werthers vornimmt. Der Graf schließt sich auf der Handlungsebene zwar dieser zweiten Wertung an, indem er Werther bittet, zu gehen, hält in seiner Anrede an Werther aber gleichzeitig das erste Wertsystem aufrecht und macht für seine Handlung ausdrücklich die anderen Anwesenden verantwortlich (»die Gesellschaft ist unzufrieden, merk ich, Sie hier zu sehn«, ebd.). Da Werther der Bitte des Grafen umgehend nachkommt, findet eine Klärung der ambivalenten Handlungsweise des Grafen nicht statt.
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den Herausgeber erfolgt nur andeutungsweise, z. B. in der Warnung vor einer Nachahmung und wenigen mitleidig-herablassenden Äußerungen (»der arme Werther«; »der arme Junge«; »der Unglückliche«, Goethe 1998 [1774], S. 7; S. 98, S. 112); diese wenigen Passagen fallen allerdings im Vergleich mit der breit präsentierten Haltung Werthers wenig ins Gewicht, so dass auch hier eine offene Gegenüberstellung unvereinbarer Werthaltungen bestehen bleibt. Diese offene Diskursstruktur mag zum einen der Rücksicht Goethes auf die zeitgenössische öffentliche Moral geschuldet sein – die Erstrezeption zeigt, dass auch in dieser Form einer weitgehend neutral gehaltenen Thematisierung der Suizid- und Beziehungsfrage der Skandal noch groß genug war. Zum anderen ist diese Technik sicherlich auch auf eine konsequente literarische Gestaltung der Hauptfigur zurückzuführen: Ein stringent rationales und strukturiertes Abwägen würde zu einem Protagonisten, der spontanes, impulsiv-emotionales Reagieren als Verhaltensmaxime setzt,11 wenig passen.12 Für einen wertediskursiven Literaturunterricht ist diese Konstellation als solche günstig: Sie erfüllt Pfäfflins oben zitierte Forderung eines moralischethische Fragen provozierenden Settings, indem sie divergierende Positionen gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Die Entscheidung dafür, sich einer der Haltungen anzuschließen, bleibt dem Lesepublikum vorbehalten, während im textinternen Positionsgefüge keiner der Seiten ausdrücklich ein Vorrang zugewiesen wird.13 Dadurch, dass die – im Roman auf verschiedene Figuren verteilten – Positionen inhaltlich unvereinbar sind, entsteht in der Rezeption eine provokante Situation: Da einzelnen Lesenden eine solche Spaltungsmöglichkeit in ihren Überzeugungen nicht offen steht, sind sie vor eine tatsächliche Wertungsentscheidung gestellt, die mit guten Gründen für jede der Seiten ausfallen kann. Wertereflexionskompetenz wird so herausgefordert und dadurch gefördert, dass Rezipierende unterschiedliche Argumentationsmuster kennenlernen und es für sie vorteilhaft ist, sich mit jeder der angebotenen Positionen differenzierter auseinanderzusetzen bzw. verschiedene Perspektiven auf die in Frage 11 Z. B. im Brief vom 13. Mai, Goethe 1998, S. 11: »Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all sein Wille wird ihm gestattet.« 12 Ob die Tatsache, dass die emotionalen Ausbrüche einen produktiven gegenseitigen Austausch über das jeweilige Thema weitgehend unmöglich machen, als kritischer Kommentar zu kulturellen Praktiken der Empfindsamkeit gelesen werden kann, wie dies D’Aprile/Siebers andeuten, kann an dieser Stelle nicht abschließend diskutiert werden, vgl. D’Aprile/Siebers 2008, S. 180. 13 Um dies noch einmal kurz für das Ende zu skizzieren: Werther inszeniert seinen Suizid als heroische Opferhandlung, dem entgegengesetzt ist allerdings das lange, als qualvoll und wenig ästhetisch dargestellte Sterben. Der offiziellen gesellschaftlichen Ächtung (kirchlich nicht sanktioniertes Begräbnis) steht die Trauer der engen Freunde und v. a. von Lottes Familie entgegen. Gerade diese letzte, beschreibende Passage des Herausgeberberichts ist betont neutral gehalten und enthält keine expliziten Wertungen.
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stehende Werthaltung nachzuvollziehen. Diese Besonderheit der Textstruktur ist unabhängig von dem Goethes Roman zugeschriebenen Klassikerstatus zu sehen; die entsprechenden Effekte können auch mit anderen Texten erzielt werden, die eine vergleichbare Diskursstruktur aufweisen. Welche didaktischen Konsequenzen ergeben sich nun mit Blick auf die Auseinandersetzung mit Wertfragen durch die Zugehörigkeit von Goethes Briefroman zum Korpus der ›Klassiker‹ der deutschsprachigen Literatur? Eine zentrale Chance liegt in der Verfremdung, die dadurch entsteht, dass die präsentierten Wertediskurse größtenteils weiterhin aktuell sind, der Roman aber eine historische Argumentation dazu abbildet. Damit kommt für die Lernenden eine interessante Mischung aus Eigenem und Fremdem14 zusammen: Es geht um Fragen, die sie in ihrer gegenwärtigen Lebensführung ebenfalls betreffen können; diese werden am Beispiel einer Romanfigur verhandelt, die als junger Mann, der gerade dabei ist, seinen Platz im Leben zu finden, von ihnen als nahe stehend empfunden werden kann. Gleichzeitig widerspricht das emotional übersteigerte Verhalten Werthers aktuellen Männlichkeitsstereotypen, und das im Roman durch Werthers Umfeld als allgemein akzeptiert dargestellte Wertesystem bildet einen Kontrast zu dem, das die Schüler_innen aus ihrem Alltag kennen (Herrmann 2014, S. 259). Dieser Gegensatz eröffnet die Möglichkeit einer Horizonterweiterung: Schüler_innen erfahren, dass auch andere als die ihnen bisher bekannten Werthaltungen möglich sind, und sie können ausgehend davon bisher unreflektiert eingenommene eigene Positionen deutlicher als solche erkennen und hinterfragen. Da im Roman eine historisch frühere Stufe einer von Muttersprachler_innen als ›eigen‹ und bekannt eingeschätzten Kultur dargestellt ist, erhält diese Horizonterweiterung noch eine weitere Dimension: Die Lernenden erkennen im Vergleich, dass Werthaltungen sich historisch wandeln und dass auch im Eigenen viel Fremdes enthalten sein kann; damit können sie eigene Werthaltungen differenzierter als Gewordenes, als Ergebnis eines historischen Prozesses, einordnen. Gerade in Zusammenhang mit migrationsbedingter Heterogenität ist diese Erkenntnis wertvoll – sie kann simplifizierenden und verkürzenden Gegenüberstellungen konträrer Werte als ›kulturspezifisch typisch‹ entgegenwirken, indem sie ein Bewusstsein dafür weckt, dass in bestimmten Wertfragen auch innerhalb derselben kulturellen Gemeinschaft keineswegs immer ein Konsens vorausgesetzt werden kann, sondern dass vielmehr von einem – nicht nur historisch bedingten – Kontinuum unterschiedlicher Positionen auszugehen ist (Koch/Trumm 2012, S. 221).
14 Zum allgemeinen Spannungsverhältnis zwischen Eigenem und Fremdem vgl. Leskovec 2011, S. 46–67.
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Die Qualität der historischen Alterität bietet noch weitere Vorteile: Die historische Verfremdung ermöglicht es Schüler_innen, dem präsentierten Wertediskurs gegenüber eine produktive Distanz einzunehmen. In der Auseinandersetzung mit brisanten Themen, etwa der Diskussion um die Suizidfrage, besteht das Risiko einer hohen persönlichen Involviertheit und emotionalen Betroffenheit, die einen differenzierten Blick auf Textinhalte verhindern kann.15 Durch die historische Fremdheit im Werther werden textvereinnahmende vorschnelle Identifikationen vermieden und Lernende sind eher in der Lage, den Wertediskurs aus einer sachlichen Haltung heraus zu reflektieren. Zum anderen bietet sich in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, ohne explizite Selbstoffenbarung eigene Fragen oder Haltungen zu thematisieren, indem Schüler_innen das literarische Setting als Maske nutzen. Noch ein letzter Aspekt ist bezogen auf die historische Alterität bedeutsam: Bredel/Pieper beobachten treffend, dass im Umgang mit literarischen Klassikern abhängig vom kulturellen Kapital des sozialen Umfelds der Lernenden auch Exklusionsmechanismen wirksam werden können (Bredel/Pieper 2015, S. 92ff.). Explizit merken sie bezogen auf den Werther an: Die kanonische Anbindung des Werther-Stoffes kann in den interkulturellen und mehrsprachigen Klassen, die für Hauptschulen in deutschen Groß- und Mittelstädten typisch sind, von Erfahrungen des Ausgeschlossenseins geprägt werden: Die Auseinandersetzung mit Texten der Hochliteratur dürfte vielfach als fremde Praxis erfahren werden – und dazu tragen Leseschwierigkeiten nicht unerheblich bei. Die entsprechenden Texte sind weder mit der eigenen Kulturgeschichte noch mit der familiären Sozialisation verbunden. (Bredel/Pieper 2015, S. 97)
In der Konsequenz fordern sie, dass als Ziel des Literaturunterrichts stärker in den Fokus rücken solle, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen (ebd.). Dieser Forderung ist fraglos und ohne jede Einschränkung zuzustimmen, wobei allerdings auf Voraussetzungen und Konsequenzen ein differenzierterer Blick geworfen werden muss. Die hier vorgenommene Gleichsetzung des Migrationshintergrunds mit einem niedrigen Bildungsgrad der Herkunftsfamilie ist deutlich irreführend: Genauer zu berücksichtigen wäre, dass es durchaus auch Migration bildungsaffiner Personen gibt – beispielsweise solcher, die als Fachkräfte angeworben werden – und dass die genannten Schwierigkeiten auch bei Muttersprachler_innen aus einem bildungsfernen Umfeld zu erwarten sind. Für diese bildet ein Text wie Goethes Werther zwar theoretisch durchaus einen Teil der ›eigenen Kulturgeschichte‹, während jedoch aufgrund dieser äußeren, institutionalisierten Zuschreibung keineswegs vorausgesetzt werden kann, dass bil15 Die Fähigkeit, subjektive Involviertheit und genaue Textwahrnehmung angemessen miteinander in Einklang bringen zu können, wird von Kaspar H. Spinner als ein wesentlicher Aspekt literarischen Lernens herausgestellt, vgl. Spinner 2006, S. 8.
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dungsferne Familien einen Sozialisationsprozess anstoßen, der zu dieser Kulturgeschichte hinführt.16 Zu den konkreten Fallbeispielen, aus denen Bredel/Pieper ihre Thesen ableiten, muss weiter angemerkt werden, dass diese gezielt eine provokante, allerdings schiefe Gegenüberstellung konstruieren:17 Als Beispiel für einen in bildungsbürgerlichem Umfeld sozial positiv unterstützten Lektüreprozess verwenden sie den Kontakt eines Grundschülers mit Goethes Zauberlehrling (Bredel/Pieper 2015, S. 92f.), dem die Pflichtlektüre von Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. durch einen 18-jährigen Migranten zum Erwerb eines Bildungsabschlusses entgegengestellt wird (Bredel/Pieper 2015, S. 94). Die Parameter sind hier in vielerlei Hinsicht nicht vergleichbar. Zuerst wäre auf das Alter der beiden Probanden hinzuweisen: Bekanntermaßen nimmt in allen sozialen Milieus die direkte, persönliche Unterstützung der Eltern in schulischen Belangen mit zunehmendem Alter der Schüler_innen ab – bzw. sie wird spätestens ab dem Einsetzen der Pubertät auch deutlich weniger durch die Jugendlichen akzeptiert. Der zweite wesentliche Unterschied findet sich im Umfang der Texte: Die Ballade als relativ kurzer, abgeschlossener Text bietet sich geradezu beispielhaft für einen intensiven Austausch an, der sich innerhalb eines gut überschaubaren Zeitraums (etwa an einem Nachmittag) abspielen kann. Der Roman erfordert dagegen ein wesentlich größeres Maß an Aufmerksamkeit und Aufwand von begleitenden Erwachsenen: Während es leicht möglich ist, sich über die Ballade schnell einen guten Überblick zu verschaffen (und die Rezeptionsanforderungen in der Grundschule im zitierten Beispiel auch lediglich darin bestehen, dass eine Rezitation vorbereitet werden soll, für die keine Zusatzinformationen erforderlich sind), muss für eine Begleitung bei der Auseinandersetzung mit dem Roman vorab Zeit in Lektüre und Recherche investiert werden – dieser höhere Aufwand macht es für alle Milieus weniger wahrscheinlich, dass solche Unterstützungsprozesse für ältere Schüler_innen eingeleitet werden.18 Schlussendlich wäre auch noch auf die Gattung zu 16 Zu der Frage, was aktuell von Schüler_innen oder auch von nicht dezidiert bildungsinteressierten Familien als »eigene« Kultur empfunden wird, liegen bisher keine belastbaren empirischen Studien vor. Vermutlich dürfte aber gerade in bildungsfernen Milieus dieses Konzept deutlich stärker durch populärkulturelle Texte, insbesondere auch solche aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum geprägt sein als durch deutschsprachige Texte der Hochkultur. 17 Folgt man den Angaben in der Publikation, so ist an diesem Beispiel v. a. zu kritisieren, dass es sich um ein konstruiertes Extrembeispiel handelt, während der später zitierte Fall des Migranten Ali auf einem tatsächlich durchgeführten Interview beruht. 18 Etwas anders stellt sich Situation bezogen auf die Finanzierung von kostenpflichtigen Zusatzlernangeboten wie etwa externer Nachhilfe dar. Entscheidend dafür, ob solche Unterstützungsangebote gemacht werden, ist neben einem gewissen Bildungsinteresse der Familie (das sich auch lediglich auf den Erwerb eines bestimmten Schulabschlusses beziehen kann) vor allem deren ökonomische Situation – die nicht zwingend mit dem Bildungsgrad zusammenhängen muss.
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verweisen: Balladen fordern als Vortrags- und Aufführungstexte soziale Interaktion explizit heraus, ganz anders als Romane, bei denen die gängige kulturelle Praxis in der stillen Einzelrezeption besteht – auch diese Unterschiede tragen mit dazu bei, das sehr unterschiedliche Maß an Unterstützung, das die beiden Probanden erfahren, zu begründen. Als belastbares Fazit lässt sich aus den bei Bredel/Pieper zitierten Fallbeispielen insofern lediglich die Erkenntnis ziehen, dass der Zugang zu historisch fremden Texten generell als anspruchsvoll betrachtet werden kann. Diese Schwierigkeiten potenzieren sich – wie angegeben – in Zusammenhang mit einer schwach ausgeprägten Lesekompetenz; richtig ist ebenfalls, dass Schüler_innen sehr unterschiedliche Unterstützungssysteme zur Verfügung stehen, um Zugangshürden zu historisch fremden Texten zu überwinden. In heterogenen Klassen kann deren Alterität aber durchaus auch eine Eigenschaft darstellen, die solche Zugangshürden nivelliert: Diese Texte sind sprachlich und strukturell für alle Lernenden eine – wenn auch immer noch unterschiedliche große – Herausforderung, während Muttersprachler_innen und literarisch Vorgebildete bei aktueller Literatur, v. a. bei Kinder- und Jugendliteratur, größere Vorteile gegenüber solchen Schüler_innen haben, die in ihrem außerschulischen Umfeld nicht entsprechend gefördert werden und über geringere Sprachkenntnisse verfügen. Bezogen auf das von Bredel/Pieper mit Recht gesetzte Ziel der kulturellen Teilhabe lässt sich feststellen, dass gerade die Auseinandersetzung mit Klassikern besondere Vorteile bietet: Der Zugewinn an kultureller literacy ist hier ungleich größer, da deren Kenntnis ein besseres Verstehen auch der mit ihnen zusammenhängenden Rezeption als Bestandteil der Gegenwartskultur ermöglicht.19 Um dieses Ziel der kulturellen Teilhabe zu unterstützen, scheint ein wertediskursiver Zugang zu Klassikern besonders geeignet: Wertefragen sind im Kern anthropologische Fragen; sie betreffen daher alle ethnischen und kulturellen Gemeinschaften – auch wenn sie je nach Kontext unterschiedlich beantwortet werden. Texte, die diese Fragen ergebnisoffen formulieren und verschiedene Positionen dazu anbieten, wie dies in Goethes Werther der Fall ist, stellen insofern ein Gesprächsangebot dar, an dem sich Personen mit ganz unterschiedlichem kulturellem Hintergrund sinnvoll beteiligen können. Dadurch werden die Beteiligungsspielräume deutlich größer, als wenn sich der Blick ausdrücklich auf den Text als ›Zeugnis der Kulturgeschichte‹ richtet: Eine wertediskursive Schwerpunktsetzung ist inklusiv, da sie alle anspricht, die bereit sind, sich auf den Wertediskurs einzulassen, während eine Orientierung am Paradigma der Kulturgeschichte von den jugendlichen Rezipierenden die Entscheidung verlangt, ob sie sich als integrativer Bestandteil dieser Kulturgeschichte sehen wollen 19 In Zusammenhang mit Goethes Werther wäre hier z. B. auf Philipp Stölzls Spielfilm Goethe! (2010) zu verweisen oder auf Franziska Walthers Graphic Novel Werther Reloaded (2016).
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oder nicht. Damit vollzieht sich in heterogenen Lerngruppen, die Personen mit unterschiedlichem Migrationsbezug einschließen, automatisch eine Spaltung in Personen mit Innen- und solche mit Außenperspektive, was eine Reihe komplexer Fragen nach sich zieht, etwa die, ob bzw. mit welcher Begründung außenstehende Personen sich überhaupt mit dieser Materie befassen müssen und ob deren textbezogenen Äußerungen gleiches, weniger oder ggf. sogar größeres Gewicht zuzumessen ist als Deutungen und Wertungen, die Personen mit Innenperspektive vornehmen. Noch eine besondere Lernchance für einen wertediskursiven Unterricht ist in Zusammenhang mit Texten der literarischen Tradition zu nennen: Das Potenzial zur Wertereflexion ausgehend von Die Leiden des jungen Werthers erweitert sich zusätzlich und differenziert sich aus, wenn ergänzend Zeugnisse der WertherRezeption herangezogen werden. Dabei handelt es sich um einen klassikerspezifischen Arbeitsbereich, der ausschließlich in der Auseinandersetzung mit bekannten Texten der literarischen Tradition zur Verfügung steht, da nur für solche Texte die Rezeption über längere Zeiträume hinweg breiter dokumentiert ist. Rezensionen und andere zeitgenössische Äußerungen20 zeigen den Schüler_innen, dass der im Roman angelegte Diskurs um Wertfragen auch tatsächlich von seinem Publikum aufgenommen und um weitere Nuancen ergänzt wurde. Besonders reizvoll dürfte es für sie sein zu sehen, dass das damaligen Lesepublikum über ganz ähnliche Fragen debattierte, die auch heutige Lesende bewegen und dass an diesem literarischen Gespräch auch Personen beteiligt waren, die ihnen aus anderen Unterrichtszusammenhängen bereits ein Begriff sein können, wie etwa Gotthold Ephraim Lessing (Goethe 1998, S. 167f.). Indem die Schüler_innen diese Reaktionen zur Kenntnis nehmen und sich selbst dazu positionieren, wird ein generationenübergreifender Dialog initiiert: Auf diese Weise werden Lernende mit dem literarischen Gespräch vertraut (Spinner 2006, S. 12), sie entwickeln dabei zusätzlich – etwa in der Auseinandersetzung mit den zahlreichen Parodien und Wertheriaden – literarhistorisches Bewusstsein (Spinner 2006, S. 13) und sie können feststellen, dass bestimmte Werte- und Wertungsfragen über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg fortgesetzt relevant sind. Der positive Effekt für die Enkulturation ist an dieser Stelle kaum zu überschätzen: Die Lernenden erhalten die Möglichkeit, sich als Mitglied einer Rezeptionsgemeinschaft zu erleben – die allerdings gerade nicht durch die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kultur oder Ethnie, sondern durch ein gemeinsames Interesse am Text und seiner Thematik geprägt ist.21 20 Eine von Waltraud Wiethölter und Christoph Brecht vorgenommene Zusammenstellung findet sich z. B. bei Goethe 1998, S. 165–173. 21 In sprachlich und kulturell heterogenen Lerngruppen dürfte in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die sehr frühzeitige und vielgestaltige Rezeption im – auch nichteuropäischen – Ausland interessant sein, die etwa durch den großen Bestand an Übersetzungen belegt ist.
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Soll daher abschließend ein Fazit gezogen werden, so wäre es wohl dies: Für einen wertediskursiven Literaturunterricht ist der Klassikerstatus eines Textes nicht unabdingbare Voraussetzung, wichtiger sind hier in erster Linie spezifische textuelle Eigenschaften, v. a. das Potenzial, differenziert ethische und moralische Fragen aufzuwerfen. Klassiker als Arbeitsgrundlage bieten den Vorteil, dass sie über historische Verfremdung eine gewisse Distanz zwischen Lernenden und Wertediskurs wahren und so einen sachlichen Austausch begünstigen. Aus der umgekehrten Perspektive zeigt sich, dass ein wertediskursiver Zugang eine besonders lohnende und niederschwellige Möglichkeit ist, zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Klassikern hinzuführen. Dieses Lernangebot ist umso wertvoller, da es seine Adressat_innen – anders als exklusive kulturhistorische Zugänge – nicht über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Gruppe definiert, sondern stattdessen über die Konstruktion einer übergreifenden Rezeptionsgemeinschaft echte kulturelle Teilhabe ermöglicht. Unter dieser Perspektive kann ein wertediskursiver Literaturunterricht, der auf Klassikern basiert, zu einer globalen, kosmopolitischen Bildung beitragen, die die Zentrierung auf das Eigene zurücknimmt und den Blick für neue Sichtweisen öffnet (Wintersteiner 2006, S. 16f.).
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Kein Ankommen?! Der überflüssigste Mensch in Joseph Roths Roman Die Flucht ohne Ende (1927) Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt. Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende (1927)
Ankommen ist eine Herausforderung, denn es impliziert mehr als eine bloße Ankunft. Während Ankunft in der Regel das Erreichen eines bestimmten Zielortes markiert, stellt Ankommen zusätzliche Anforderungen, die zumeist darin bestehen, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen und in ein neues Umfeld zu integrieren. Ankommen hat damit sowohl eine sozio-kulturelle als auch psychischemotionale Komponente, wenn es sowohl um Fragen des sozialen Zusammenlebens als auch um persönliche Gefühle der Zugehörigkeit und Akzeptanz geht. Dass diese skizzierten Aspekte insbesondere im Hinblick auf größere Themenkomplexe wie Flucht, Migration und Interkulturalität eine zentrale Rolle spielen, liegt auf der Hand. Dabei haben diese Themen eine fast zeitlose Aktualität, die sich nicht in gegenwärtigen, politisch hoch brisanten, Debatten erschöpft, sondern zugleich eine historische Perspektive ermöglicht, die nicht zuletzt für den schulischen Literaturunterricht interessante Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Ich möchte im Folgenden einige dieser Möglichkeiten anhand von Joseph Roths Roman Die Flucht ohne Ende aus dem Jahr 1927 vorstellen und dabei insbesondere auf das inhärente Motiv des überflüssigen Menschen eingehen, der scheinbar nirgendwo ankommt. Gerade an diesem Beispiel und literarischen Modell können im Sinne eines »wertreflexive[n] Unterricht[s]« (Anselm 2014, S. 12) zentrale Fragen nach Identität und Menschlichkeit gestellt und diskutiert werden.
I Das literarische Werk des Journalisten und Romanciers Joseph Roth (1894–1939) entstand in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und ist geprägt von Narrativen der Flucht, der Heimkehr und des Heimatverlustes. Roths Protagonisten sind häufig Menschen, die im Europa zwischen den beiden Weltkriegen unterwegs sind, aus dem Krieg in eine veränderte Gesellschaft und Kultur zurück-
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kehren oder in Grenzregionen und Grenzorten ein Leben zwischen Aufbruch und Stillstand führen. Ankommen erweist sich dabei für viele Figuren in Roths Romanen buchstäblich als ein utopisches Unterfangen, wenn häufig nicht nur Ziel und Sinn der Reise unklar sind, sondern auch die finale Rückkehr in ein Heimatland aufgrund politischer Grenzverschiebungen und Staatsauflösungen unmöglich geworden ist. Roths Romanfiguren bewegen sich im geopolitischen Raum der Zwischenkriegszeit häufig ohne klare Orientierung. Sie empfinden sich als überflüssig und erleben Gefühle des Provenienzverlustes. Es sind Erfahrungen, die auch dem Autor Joseph Roth nicht fremd sind, der in autobiographischen Texten immer wieder auf seine Herkunft aus Ostgalizien, einem Grenzgebiet der 1918 untergegangenen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, zu sprechen kommt. Jetzt bin ich nirgends geboren und nirgends zu Hause. Das ist seltsam und furchtbar, und ich komme mir selbst vor wie ein Traum, der keine Wurzel hat und kein Ziel, keinen Anfang und kein Ende, der kommt und geht und selbst nicht weiß, woher und wohin. So sind sie alle, meine Landsleute. Sie leben verstreut in der weiten, weiten Welt, sie klammern sich mit schwachen Wurzeln an fremdes Erdreich, liegen begraben in fremder Erde, zeugen Kinder, die nicht wissen, wo ihr Vater geboren, und denen ihr Großvater schon ein Märchen ist. (Roth undat., S. 1037f.)
Die Erzählpassage ist durchaus charakteristisch für Roths Prosa, in der häufig Gefühle der Ziel- und Orientierungslosigkeit formuliert und eine »wurzellose« Existenz ohne feste Heimat beschworen werden.1 Die melancholisch grundierten Verlusterfahrungen sind bei Roth eng verbunden mit Lebensentwürfen der Diaspora. Damit steht Roth, der in seinem Text von seinen ostjüdischen »Landsleute[n]« spricht, auch in der Traditionslinie ostjüdischer Erzählungen über sogenannte »Luftmenschen«, die weder eine nationale Identität noch eine territoriale Heimat besitzen. Über diese zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum in unterschiedlichen Kontexten vielfach verwendete Metapher der »Luftmenschen« schreibt Nicolas Berg, dass sie »einmal ein Bild der jüdischen Diaspora« zeichne und zugleich […] als Chiffre für die klassischen Themen der Moderne, für demographische Verschiebungen, Landflucht, Wert der Arbeit und Produktivierung, für Migration und die damit verbundenen Konsequenzen und Ängste, aber auch für Probleme von Minderheitenrecht und Flüchtlingsfürsorge stehe. (Berg 2008, S. 12)
Der »Luftmensch«, je nach Kontext positiv oder negativ konnotiert, definiert sich in Beziehung auf ein anderes Element als diejenigen, die bereits in den 1920er 1 »Der Verlust des Ortes, aus dem man stammt und in den man zurückkehren kann, steht hier für das Wegfallen der Möglichkeit, auf nicht-beliebige, vertraute Inhalte und Strukturen zu rekurrieren. Mit diesem Verlust wird auch das ›Ziel‹, das ›Wohin‹, unsicher – es ist in keiner Weise noch selbstverständlich.« Hartmann 2006, S. IX.
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Jahren Heimat und Zugehörigkeit als eine Blut- und Bodengemeinschaft beschwören. Mit der Unterscheidung der Elemente »Luft« und »Erde« verbinden sich damit auch unterschiedliche Lebensmodelle und Identitätsvorstellungen. Nicht umsonst koppelt Roth in vielen Texten Heimat nicht an Sesshaftigkeit, sondern an Bewegung und Reise und damit auch topographisch an den modernen Transitraum des Hotels (vgl. Gerhard 1998, S. 202–227). Das Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe, liegt in einer der großen Hafenstädte, und die schweren, goldenen Antiqua-Lettern, in denen sein banaler Name über den Dächern der langsam emporsteigenden Häuser aufleuchtet, sind für mein Auge lauter metallene Fahnen, stehende Fähnchen, die zur Begrüßung glänzen, statt zu flattern. Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier […]. (Roth 1929 I, S. 3)
Heimat ist die Hotelwelt und nicht »Heim und Herd, Weib und Kind.« In vielen Texten akzentuiert Roth die Lebensschicksale von modernen Nomaden, die keinen festen Wohnsitz und mitunter nicht einmal eine Staatszugehörigkeit mehr besitzen. Exemplarisch liest sich eine Geschichte, die Roth unter dem Titel Für die Staatenlosen (1929) veröffentlicht hat. Ich kenne ein russisches Mädchen, das während der Revolution nach Polen geflüchtet war. Dort wollte man sie ausweisen. Sie erfuhr zufällig von Verwandten in Berlin. Teilte der polnischen Polizei mit, daß sie nach Deutschland wolle. »Wenn Sie sich verpflichten, nie mehr nach Polen zu kommen«, sagte ihr die polnische Polizei, »geben wir Ihnen einen provisorischen Paß.« Im deutschen Konsulat, wo sie ein Visum holen mußte, erklärte man: »Wenn Sie sich verpflichten, in zwei Monaten Deutschland wieder zu verlassen, bekommen Sie ein Visum.« Sie verpflichtet sich also, nach Polen nicht mehr zu kommen und gleichzeitig Deutschland zu verlassen. Während diese Zeilen geschrieben werden, wandert sie auf dem schmalen Grenzstrich zwischen dem Deutschen Reich und der polnischen Republik auf und ab, auf und ab, auf und ab. (Roth 1929 II, S. 136)
Die Schilderung der Geschichte ist typisch für Roths literarisches Interesse an gesellschaftlichen Außenseiterfiguren, die ständig unterwegs sind, nirgendwo ankommen und aus national-bürokratischer Perspektive als überflüssig gelten. Roth erzählt die Anekdote im Präsens und markiert das Schicksal des russischen Mädchens, das »auf dem schmalen Grenzstrich […] auf und ab, auf und ab, auf und ab« geht, als offenen Lebensweg und aktuelle Fallgeschichte. Jenseits der Frage nach der historischen Faktizität der kolportierten Geschichte zeigt Roth in der Rolle des journalistischen Autors an, dass er die Person, um die es hier geht, sehr genau kennt. Dieser Gestus der Sympathie und persönlichen Nähe zu seinen Figuren zeigt sich sowohl bei den journalistischen Texten Roths als auch in dessen literarischer Prosa. Der Roman Die Flucht ohne Ende ist dafür ein gutes Beispiel, wenn sich Roth namentlich in der Rolle als fiktiver Erzähler, Berichterstatter und Chronist zu einem Akteur innerhalb der erzählten Geschichte macht.
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II Im Folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda. Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen. Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu »dichten«. Das Wichtigste ist das Beobachtete.– Paris, im März 1927 Joseph Roth (Roth 1927, S. 391)2
Im poetologischen Vorwort des Romans positioniert sich Roth in der Rolle als Erzähler gegen das »[D]ichten«, indem er das »Beobachtete« als zentrales Erzählprinzip benennt. Dabei führt er die Dokumente an, auf die er seinen folgenden Bericht stützt. Florian Gelzer ist zuzustimmen, wenn er in Bezug auf das Vorwort festhält, dass der Name Joseph Roth hier auf die Erzählinstanz und nicht auf den »historischen Autor« zu beziehen ist. In erzähltheoretischer Begrifflichkeit ist Joseph Roth somit das Musterbeispiel eines homodiegetischen Erzählers. Er kommt in der von ihm erzählten Geschichte nicht nur als Figur vor, sondern ist aktiv am Geschehen beteiligt; er bezeichnet Tunda, den Protagonisten, als engen Freund und trifft sich mehrfach mit ihm […]. Da Roth die Geschichte von Franz Tunda »von außen« vorträgt, als eine Art Rahmenerzähler, ist er zudem ein extradiegetischer Erzähler. Die Nähe Roths zum Protagonisten betrifft aber nicht nur die persönlich-freundschaftliche Ebene, sondern auch die zeitliche und örtliche: die Geschichte endet mit einem Treffen zwischen Roth und Tunda am 27. August 1926; das Vorwort datiert vom März 1927. (Gelzer 2010, S. 29)3
Der Roman Die Flucht ohne Ende erzählt die sich als Odyssee entwickelnde Heimkehr des Oberleutnants Franz Tunda, der im 1. Weltkrieg in russische Kriegsgefangenschaft gerät, fliehen kann, und dann zusammen mit einem Polen namens Baranowicz in Sibirien auf einem »traurigen Gehöft […] am Rande der Taiga« (F, 393) untertaucht. Nachdem Tunda per Zufall erst 1919 vom Ende des Krieges erfährt, macht er sich zu einer Reise gen Westen auf, die ihn ins revolutionäre Russland, nach Moskau, Wien, Baku, Berlin, in eine deutsche Stadt am Rhein und schlussendlich nach Paris führen wird. Obwohl Tunda vorgibt, zu seiner Verlobten Irene zurückzukehren, kommt er immer wieder von seinem Weg ab. Die einzelnen Etappenziele seiner Reise sind dabei durch Zufälle und wechselnde Liebschaften geprägt, die mit unterschiedlichen Lebensentwürfen einhergehen, aber nie von langer Dauer sind. Am Ende 2 Im Folgenden wird der Roman mit der Sigle F und der Seitenzahl direkt im Text zitiert. 3 Vgl. ausführlich zum Vorwort und einer kritischen Auseinandersetzung mit den programmatischen Zuordnungen zur »Neuen Sachlichkeit« auch Wild 1995, insbes. S. 27–33. Vgl. zur Erzählweise des Romans unter besonderer Berücksichtigung der Figur des Kriegsheimkehrers Dewenter 2021.
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der Geschichte landet der Oberleutnant in Paris. Das letzte Kapitel besteht aus nur vier Sätzen. Es war am 27. August 1926, um vier Uhr nachmittags, die Läden waren voll, in den Warenhäusern drängten sich die Frauen, in den Modesalons drehten sich die Mannequins, in den Konditoreien plauderten die Nichtstuer, in den Fabriken sausten die Räder, an den Ufern der Seine lausten sich die Bettler, im Bois de Boulogne küßten sich die Liebespaare, in den Gärten fuhren die Kinder Karussell. Es war um diese Stunde, da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt. (F, 496)
Der Erzählabschnitt bietet sich als Schlusspassage und kurzes letztes Kapitel, das den weiteren Lebensweg des Protagonisten offen lässt, für eine genauere Textanalyse im Unterricht an.4 Besonders die Charakterisierung Tundas als ein überflüssiger Mensch im letzten Satz des Romans sticht hier besonders hervor, da diese Zuschreibung, als eine Art Quintessenz des Romans, eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wert eines Menschen provoziert. Was zeichnet einen überflüssigen Menschen aus? Kann ein Mensch überhaupt überflüssig sein?5
Der letzte Satz des Romans bietet damit eine gute Gelegenheit für ein offenes Unterrichtsgespräch, in dem erörtert werden kann, auf welchen ethisch-moralischen, sozial-gesellschaftlichen oder emotional-psychologischen Wertmaßstäben das Adjektiv »überflüssig« als Attribut zu Mensch eigentlich beruhen könnte. Die Schüler_innen können hier eine ethische Frage im Kontext aktueller Lebensweltbezüge diskutieren, ohne dass der Bezug zum Text komplett aus den Augen verloren wird.
4 Wild sieht im offenen Ende des Romans eine komplexe Unbestimmtheitsstelle, wenn er schreibt: »Die Romanhandlung bricht in einem Augenblick ab, in dem Tunda verschiedene Wege offen stehen. Daß er in Paris bleiben wird, ist die Meinung des Erzählers, die zwar von der Roth-Forschung mit den vom Erzähler insinuierten Gründen bereitwillig übernommen wurde, aus dem Erzählten jedoch keineswegs eindeutig abgeleitet werden kann […]. In der Unentschiedenheit des Schlusses wird deutlich, daß dem Erzählten in komplementärer Entsprechung zur Begrenztheit des Erzählers ein Sinnpotential zugewiesen ist, das jenseits der Grenzen des Erzählers, gleichsam in der erzählten Geschichte selbst liegt und in ihr gestaltet ist.« Wild 1995, S. 43. Durch Bezüge zu anderen Romanen und Erzählungen Joseph Roths könnten im Unterricht auch poetologische Aspekte vertieft werden, die das literarische Schreiben des Autors betreffen, der in vielen seiner Texte den weiteren Lebensweg seiner Figuren offen lässt oder einzelne Figuren in anderen Erzählkontexten plötzlich wieder auftauchen lässt. Vgl. dazu Weymann 2012, S. 257–272. 5 Vgl. aus aktueller Perspektive die Streitschrift von Ilija Trojanow (2013): Der überflüssige Mensch, St. Pölten et al.
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Um im Anschluss an das Gespräch wieder stärker auf den Text einzugehen, bietet sich aus didaktischer Sicht die von Marion von der Kammer vorgeschlagene »Fokus-Methode« an, deren Prinzip sie wie folgt benennt: Eine einzelne Textstelle, die für den Sinn des Textganzen von besonderer Relevanz ist, wird gezielt herausgegriffen und zur Diskussion gestellt. Für das Verstehen dieser Stelle müssen die Schüler vor allem den Kontext berücksichtigen, denn nur über das Herstellen von innertextlichen Zusammenhängen können sie den Sinn der Textstelle verstehen. (von der Kammer 2004, S. 129)
Ziel ist es, den letzten Satz des Romans mit Blick auf die sprachliche Gestaltung des letzten Kapitels noch einmal genauer zu fokussieren. Wie schon zu Beginn im Vorwort des Textes markiert der fiktive Erzähler Joseph Roth im letzten Kapitel durch präzise Zeit- und Ortsangaben einen genauen zeithistorischen Moment. Aus einer auktorialen Perspektive beschreibt er parallel verlaufende Ereignisse in Paris, die über den visuellen Wahrnehmungshorizont des Protagonisten Franz Tundas hinausreichen, der sich mitten »auf dem Platz vor der Madeleine« befindet. Durch genaues textnahes Lesen können die Schüler_innen erkennen, dass Gegensätze hier die semantische Struktur des Textes prägen, in denen Tundas Außenseiterrolle besonders deutlich wird. Während Tunda auf dem Platz steht, bewegt sich buchstäblich die großstädtische Lebenswelt im Rhythmus von Freizeit, Arbeit und Unterhaltung um ihn herum. Frauen drängen sich in Geschäfte, in den Fabriken sausen die Maschinen und Kinder fahren Karussell. Während sich die leblosen Schaufensterpuppen in den Modesalons pausenlos drehen, verharrt der Mensch Tunda scheinbar regungslos auf dem Platz. Der Stillstand und die körperliche Bewegungslosigkeit des Protagonisten kontrastieren deutlich mit der Dynamik und Geschäftigkeit des Großstadtlebens und lassen Tunda als eine Art Fremdkörper erscheinen. Die solitäre Außenseiterrolle des Oberleutnants wird zusätzlich noch durch die Konfrontation mit den zwischenmenschlichen Interaktionsformen der unterschiedlichen Personengruppen betont, die nicht einzeln, sondern als Kollektiv auftreten. Kinder spielen, Paare küssen sich, Frauen kaufen ein, Nichtstuer plaudern in Kaffeehäusern und sogar die Bettler helfen sich gegenseitig, während Tunda als Individuum alleine auf dem Platz steht. Indem die Schüler_innen diese Kontraste herausarbeiten, nehmen sie die sprachliche Gestaltung in ihrer Funktionalität aufmerksam wahr6 und erkennen den Zusammenhang zwischen der großstädtischen Lebenswelt von Paris und der Überflüssigkeit Tundas.
6 Vgl. dazu auch die elf Aspekte literarischen Lernens bei Spinner 2006, insbes. S. 9 (»Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen«).
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Der letzte Satz des Romans bildet dabei noch einen eigenen Absatz und ist im Hinblick auf die Satzstellung auffällig, da das Personalpronomen »er«, das im vorangegangenen Satz noch Subjekt war, nun Teil des Prädikats ist und durch »niemand in der Welt« als Subjekt ersetzt wird. Durch diese grammatische Verschiebung wird Franz Tundas soziale Isolation noch einmal gesteigert, indem er sogar zum überflüssigsten Menschen auf der Welt erklärt wird. Die Reflexion über Sprache führt die SuS hier zu einer Auseinandersetzung mit einer mehrdeutigen Textstelle, wenn aus erzähltheoretischer Perspektive zu entscheiden ist, ob der letzte Satz immer noch Teil des vorangegangenen Erzählerberichtes ist, oder als erlebte Rede einen Einblick ins individuelle Figurenbewusstsein vermittelt.7 Kurz gesagt: Ist es also der fiktive Erzähler namens Joseph Roth, der zum Schluss seinen Freund und Kameraden als überflüssigsten Mensch charakterisiert, oder ist es Tunda selbst, der so empfindet?8 Diese alternativen Interpretationsmöglichkeiten können im Unterricht diskutiert und mit anderen Textstellen aus dem Roman verknüpft werden. Das Ziel ist hierbei, weitere Facetten des Protagonisten zu erschließen und Tundas Charakteristik als ein überflüssiger Mensch näher zu profilieren.
III Für die Figurenanalyse in Roths Roman spielt der Zusammenhang von Beruf, Name und Identität eine wichtige Rolle. So bekommt Franz Tunda, der als Flüchtling aus einem russischen Kriegsgefangenenlager bei seinem polnischen Freund Baranowicz untertaucht und sich als dessen Bruder ausgibt, zu Beginn der Geschichte einen neuen Pass. Er bekam ein falsches Dokument auf den Namen Baranowicz, war nunmehr in Lodz geboren, im Jahre 1917 wegen eines unheilbaren und ansteckenden Augenleidens aus dem russischen Heer entlassen, von Beruf Pelzhändler, wohnhaft in Werchni Udinsk. (F, 393)
7 »Eine grammatische Analyse wirkt umso überzeugender auf Schülerinnen und Schüler, je mehr sie zum Textverstehen beiträgt. Das ›Sich-Verhaken‹ in den Text, also textbedingt mit einem Verständnisproblem konfrontiert zu sein […], ist dabei der Anlass zur Analyse, sich also bewusst der Sprache zu nähern und sich ihrer für das Erkennen der Bedeutung des Textes bewusst zu werden. […] Erst das Erkennen der Funktionen von grammatischen Formen durch die bewusste Aktivierung deklarativen und analytischen Wissens ebnet auf Seiten der Schülerinnen und Schüler ihre Bereitschaft, sich mit der Grammatik und mit den in ihr aufgehobenen Formen auseinanderzusetzen.« Köpke/Winkler 2017, S. 50. 8 Vgl. dazu auch Gelzer 2010, S. 34.
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Mit den gefälschten Ausweispapieren erhält Tunda nicht nur einen neuen Namen, sondern auch einen neuen Beruf und eine neue Biographie. Der Name Baranowicz und die fingierte Identität als polnischer Pelzhändler aus Sibirien werden im Verlauf des Romans für Tunda zu einem zweiten Ich und Gegenstand identitätsbezogener Reflexionen und Rolleninszenierungen (vgl. Wilke 2012, S. 276).9 Roths Protagonist wechselt situationsbedingt immer wieder zwischen seinen unterschiedlichen Namen, die zugleich für unterschiedliche Lebensmodelle stehen. Hier stand der Name Franz Tunda so groß, so stark, so sorgfältig mit Haar und Schatten aufgezeichnet, daß er beinahe aus der Fläche des Papiers herauskam zu eigenem Leben. In den Namen lebt eine Kraft wie in Kleidern. Tunda, der seit einigen Jahren Baranowicz war, sah aus dem Dokument den alten Tunda heraustreten. (F, 425)
Der Name Franz Tunda ruft die Erinnerung an das alte Leben und den Habitus des Oberleutnants hervor, während der Name Baranowicz für den aktuellen Identitätsentwurf steht. Der Name im Pass ist dabei weit mehr als nur ein bürokratischer Eintrag. In Roths Romanen, Erzählungen und Reportagen sind amtliche Ausweispapiere immer wieder wichtige Leitmotive und eng verbunden mit grundsätzlichen Identitätsfragen. In einem Text mit dem Titel Die Kugel am Bein (1919) schreibt Roth: Stärker als alles Eisen, das im Kriege verschossen wurde, erwies sich die Materie, die unser Zeitalter beherrscht: das Papier. Die Legitimation mit Fingerabdruck. […] Von der Galeere der großen Zeit sind wir glücklich an den Strand des Alltags gesetzt. Aber wir schleppen immer noch die Kugel am Bein mit: den Paß. […] Die Behörde, eine Institution zur Verbreitung von Wirrnis und Schikane, will wissen, wer ich bin. Ich sträube mich dagegen. […] Ich bin ich. Unabhängig von Vaterstadt, Zuständigkeitsort, Aufenthalt. Nicht, was mich von den anderen unterscheidet, darf ich mit mir führen, sondern was mich ihnen gleichmacht. Daß ich im Jahre soundso in der Stadt soundso geboren bin, macht mich erst lebensfähig. Ich bin nichts anderes als Paßbesitzer, vom Paß besessener Staatsbürger. […] Der Paß beweist nicht, daß ich – ich bin. Er beweist, daß ich irgendein Ich bin. Daß ich Staatsbürger bin. (Roth 1919, S. 146f.)
Der Pass verlangt nicht nur Nachweise über Herkunft und Wohnsitz. Als Instrument der Behörden schränkt er, so Roth, das Selbstbestimmungsrecht der Menschen ein, weil er den Einzelnen nicht als Individuum wahrnimmt, sondern bloß als Staatsbürger definiert. Die Freizügigkeit des Einzelnen stößt dabei
9 Insa Wilke macht darauf aufmerksam, dass schon im Namen Franz Tunda »klischeehaft zwei Pole mitklingen: der westliche (hell, klar, zackig – Franz) und der östliche, russische (dunkel, rund, klanglich das Bild einer sibirisch-kargen Landschaft entwerfend – Tunda).«
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buchstäblich an die Grenzen der Nationalstaaten, die sich, so Roths Perspektive, durch Abschottung und rigide Kontrollen auszeichnen. Es hätte ja sein können, daß die Grenzen der neuentstandenen und der alten Staaten Eintrittspforten mit Willkommensgrüßen für nachbarliche Gäste werden. Die Grenze hätte in der Hauptsache den Zweck haben können, überschritten zu werden. Jetzt hat sie den, eingehalten zu werden. (Roth 1919, S. 146)
Amtliche Ausweispapiere und bürokratische Behörden spielen auch in Die Flucht ohne Ende eine wichtige Rolle, wenn Roth die Reise Tundas quer durch Europa mit Reflexionen über Pässe, Namen und unterschiedliche Identitätsentwürfe verknüpft. Jetzt aber war Franz Tunda ein junger Mann ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Rang, ohne Titel, ohne Geld und ohne Beruf, heimatlos und rechtlos. Er hatte seine alten Papiere und ein Bild seiner Braut im Rock eingenäht. Es schien ihm günstiger, mit dem fremden Namen, der ihm geläufig war wie sein eigener, durch Russland zu wandern. Erst jenseits der Grenze wollte er seine alten Papiere wieder verwenden. (F, 396)
Tundas endlose Flucht ist eine Auseinandersetzung mit seinen eigenen Erwartungen, Träumen und Hoffnungen vor dem Hintergrund einer veränderten Gesellschaft und deren Werten. Die Vergangenheit des Offiziers, der in den Krieg zieht, ist dabei kaum vereinbar mit der Realität des aus dem Krieg zu seiner Verlobten heimkehrenden Mannes. Dieses Problem reflektiert Tunda immer wieder in Bezug auf seine Beziehung zu Irene, die er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Daß sie auf ihn wartete, bis zu seiner Ankunft, daran zweifelte er nicht. Daß sie aber aufhören würde, ihn zu lieben, wenn er einmal da war und vor ihr stand, schien ihm ebenso gewiß. Denn als sie sich verlobt hatten, war er ein Offizier gewesen. Die große Trauer der Welt verschönte ihn damals, die Nähe des Todes vergrößerte ihn, die Weihe eines Begrabenen lag um den Lebendigen, das Kreuz auf der Brust gemahnte an das Kreuz auf einem Hügel. Rechnete man auf ein glückliches Ende, so warteten nach dem triumphalen Marsch der siegreichen Truppen über die Ringstraße der goldene Kragen des Majors, die Stabsschule und schließlich der Generalsrang, alles umweht von dem weichen Trommelklang des Radetzkymarsches. (F, 395f.)
Die »Ankunft« bei seiner Verlobten ist eben nicht gleichbedeutend mit einem Ankommen. Ganz im Gegenteil. Mit dem Wiedersehen sieht Tunda zugleich das Ende der Liebe kommen, da der Krieg alles verändert hat. Diese Veränderung drückt sich in der Symbolik der Soldatenkleidung aus. So wie »das Kreuz auf der Brust« bereits als Auspizium für den im Krieg Gefallenen fungiert, so steht der »goldene Kragen des Majors« für die Option des siegreichen und gefeierten Offiziers, den Ansehen und sozialer Aufstieg erwarten. Konsequent folgen die Ausführungen des Erzählers hier dem Gedanken
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seiner im Zusammenhang mit dem Pass formulierten Sentenz: »In den Namen lebt eine Kraft wie in Kleidern« (F, 425). Die unterschiedlichen Anzüge der Soldaten vor und nach dem Krieg symbolisieren in den Insignien von Tod und Heldenruhm die einzig denkbaren Szenarien. Die Rückkehr der versehrten und traumatisierten Kriegsteilnehmer gestaltet sich vor diesem Hintergrund sowohl für die Gesellschaft als auch für die Heimkehrer als große, im Vorfeld nicht erwartete Herausforderung. Vor dem Hintergrund einer genauen Analyse des letzten Kapitels können die Schüler_innen nun in Bezug auf Franz Tunda weitere Parallelen ziehen. Während am Ende des Romans die Überflüssigkeit Tundas im Kontrast zur Dynamik des Großstadtlebens topographisch deutlich wird, lässt sich mit Blick auf die Rolle des Kriegsheimkehrers eine zeitliche Signatur ausmachen. Der 1. Weltkrieg ist hier als zentrale Zäsur in der Biographie Tundas zu markieren, die ein vorheriges Leben als anerkannter Oberleutnant und ein Nachher als geschlagener Kriegsheimkehrer aufweist. Tunda, der weder als Held zurückkehrt noch als Toter auf dem Schlachtfeld verblieben ist, erscheint nun in der Nachkriegsgesellschaft als überflüssiger Mensch.
IV Tundas Profil als ein überflüssiger Mensch bekommt in einem wichtigen Kapitel des Romans weitere Konturen. Roths Protagonist befindet sich in Paris vor dem Denkmal des Unbekannten Soldaten. An diesem zentralen »Erinnerungsort«10 erscheint Tundas Deplatziertheit inmitten der großstädtischen Zivilisationswelt besonders greifbar. Die Präsenz des vergangenen Weltkrieges in Gestalt des Denkmals und Tundas Reflexion der eigenen Lebenssituation werden durch die Abnahme der narrativen Distanz im Erzähltext besonders anschaulich. Tunda ging durch die heiteren Straßen mit der großen Leere im Herzen, wie sie ein entlassener Sträfling auf seinem ersten Gang in die Freiheit fühlt. Er wußte, daß der Präsident ihm nicht helfen konnte, auch wenn er ihm die Möglichkeit verschaffte, zu essen und einen Anzug zu kaufen. Ebensowenig macht man einen Sträfling frei, wenn man ihn aus dem Gefängnis entläßt. Ebensowenig macht man ein elternloses Kind glücklich, wenn man ihm einen Platz im Waisenhaus sichert. In dieser Welt war er nicht zu Hause. Wo war er es? In den Massengräbern. (F, 485–486)
Die Analogien und Sentenzen des Erzählers, der Tundas Situation, in der Verwendung des Indefinitpronomens »man«, mit den Gefühlslagen eines entlassenen Sträflings und eines Waisenkindes vergleicht, wechseln dann in die Innen-
10 Zum Konzept der Erinnerungsorte, der »lieux de mémoire« vgl. Nora 2005.
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sicht der Figur, wenn das eigene Fremdheitsempfinden zuerst als Frage und dann mit Hinweis auf die Massengräber als Antwort artikuliert wird. Die letzten drei kurzen Sätze, in denen vom unpersönlichen »man« zu »er« gewechselt wird, lassen sich als erlebte Rede lesen, in der die Verzweiflung der Figur sich in Form einer inneren, subjektiv geprägten Bewusstseinsstimme äußert und so eine große Nähe zur Gefühlswelt Tundas entsteht. Auch an dieser Stelle führt die Reflexion über Sprache bzw. Grammatik die Schüler_innen zu einer Analyse der Erzählweise. Mit Blick auf die Gefühle des Protagonisten ist auch die Atmosphäre des Ortes wichtig, die entscheidend zur Stimmungslage des Protagonisten beiträgt. Dessen existentielle Trauer am Kriegsdenkmal wird auch vom Erzähler geteilt, der Tundas Gefühle, nun in der Verwendung des Personalpronomens »wir«, zu einem melancholisch gestimmten Mentalitätsprofil generalisiert. Manchmal war es Tunda, als läge er selbst dort unten, als lägen wir alle dort unten, die wir aus einer Heimat auszogen, fielen, begraben wurden oder auch zurückkehrten, aber nicht mehr heimkehrten – denn es ist gleichgültig, ob wir begraben oder gesund sind. Wir sind fremd in dieser Welt, wir kommen aus dem Schattenreich. (F, 486)
Tundas Einsamkeit wird durch die Wir-Formel zu einem kollektiven Lebensgefühl, in dem Fremdheit und Sehnsucht besonders akzentuiert werden. In diesem Kontext zeigt sich Tundas Überflüssigkeit vor dem Hintergrund eines emotionalpsychologischen Wertmaßstabes; in der gefühlten Aussichtslosigkeit, sich als ehemaliger Soldat den neuen Verhältnissen der Nachkriegsgesellschaft anpassen zu müssen. Tunda erscheint als Revenant einer vergangenen Zeit, der aus den anonymen Massengräbern auferstanden ist und nun ziellos umherstreift. Die Rückkehr ist dabei nur ein temporärer Aufenthalt, der explizit als Gegenmodell zu einer Heimkehr beschrieben wird. Das Denkmal des Unbekannten Soldaten fungiert hier als besonderer topographischer Resonanzraum, der die Schwermut des Protagonisten verstärkt. An diesem Ort wird nicht nur an das Schicksal der Kriegsteilnehmer erinnert. Hier wird auch die Kluft zwischen den Menschen spürbar, die entweder als Touristen das Denkmal besuchen oder als Väter dort stellvertretend ihre Söhne betrauern. Das blaue Licht brannte auf dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die Kränze dorrten. Junge Engländer standen da, die weichen, grauen Hüte in den Händen und die Hände auf dem Hintern. Aufgebrochen aus dem Café de la Paix waren sie, das Grabmal zu sehn. Ein alter Vater dachte an seinen Sohn. Zwischen ihm und den jungen Engländern war das Grab. (F, 486)
Die Bedeutung dieses Erinnerungsortes könnte im Unterricht der Impuls für eine literaturgeschichtliche bzw. historisch ausgerichtete Unterrichtsphase sein, in der beispielsweise auf die Rolle der Kriegsheimkehrer in der Nachkriegsgesellschaft der Weimarer Republik eingegangen werden kann. Dafür können auch
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weitere Romane oder auch Zeitungsartikel Roths intertextuelle Vergleichsmöglichkeiten bieten. Schon in seinem ersten Roman wählt Roth einen Kriegsheimkehrer zum Protagonisten der Geschichte. Der Romanbeginn ließe sich als Ausschnitt im Unterricht vergleichend lesen. Dabei wäre der Aspekt des Heimkehrers als überflüssiger Mensch genauer zu beleuchten. Roths Roman Das Spinnennetz (1923) beginnt mit den folgenden Sätzen: Vom wirtschaftlichen Verband der Reserveoffiziere bezog Theodor einmal wöchentlich Hülsenfrüchte. Diese teilte er mit Mutter und Schwestern, in deren Hause er lebte, geduldet, nicht wohlgelitten, wenig beachtet und, wenn es dennoch geschah, mit Geringschätzung bedacht. Die Mutter kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen lästig. (Roth 1923, S. 65)11
Während Tunda sich vor dem Denkmal des Unbekannten Soldaten überflüssig vorkommt und sich mit den Gefallenen identifiziert, wird Theodor Lohse im Spinnennetz von seiner eigenen Familie vor dem Hintergrund eines ethischmoralischen Wertmaßstabes als überflüssig angesehen, da er nicht als Held gestorben ist, sondern als Rückkehrer der Familie zur Last fällt. Stolz, Pflicht und Heldentum sind zentrale Schlagworte, die im Unterricht hinsichtlich ihrer historischen Semantik erarbeitet und diskutiert werden können.
V Wenn das Kapitel am Denkmal des Unbekannten Soldaten in Die Flucht ohne Ende Tunda als desillusionierten und hoffnungslosen Kriegsheimkehrer zeigt, dann muss dieser Erinnerungsort in seiner Resonanzfunktion für die Interpretation mitbedacht werden. Das Kapitel ist gut geeignet, um den SuS generell die Bedeutung von literarischen Orten und Räumen für die Textinterpretation zu vermitteln, da die Emotionen Tundas in diesem Kapitel untrennbar mit der Raumatmosphäre des Denkmals verbunden sind. Wie wichtig die Reflexion des räumlichen Kontextes für die Einschätzung der Figur ist, möchte ich noch an einem letzten Beispiel zeigen. Tunda kommt auf seiner Reise auch in eine mittelgroße Stadt am Rhein, in der sein Bruder Georg als Kapellmeister arbeitet und ein großbürgerliches Leben führt. Beide Brüder sind sich seit Kindertagen fremd. Dennoch veranstaltet Georg zu Ehren seines heimgekehrten Bruders ein großes Fest.
11 Vgl. dazu auch Brittnacher 2012, hier insbes. S. 165–169.
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Auf dieser Feier im Hause des Bruders begegnet Tunda zahlreichen Funktionären der Gesellschaft, die ihn nach seinen Erlebnissen und Einstellungen fragen. In diesem Kontext präsentiert sich Tunda keineswegs als verzweifelter und hoffnungsloser Heimkehrer, der nicht weiß, wo er hingehört. Vielmehr vertritt er hier, im Haus des Bruders und im Kreise der Gäste, selbstbewusst ein Lebensmodell, das sich am Naturzyklus orientiert. Man lebt so in den Tag hinein wie in einen Wald hinein. Man trifft Menschen und verliert sie wieder, wie Bäume Blätter verlieren. Begreifen Sie denn nicht, daß es mir gar nicht wichtig erscheint, wieviel Petroleum in Baku gewonnen wird? Es ist eine wunderbare Stadt. Wenn sich ein Wind in Baku erhebt –. (F, 449)
Tundas Lebensmotto ist an dieser Stelle frei von Melancholie, wenn er vorübergehende menschliche Bekanntschaften mit dem Fallen von Blättern vergleicht und diese Verluste damit als natürliche Aspekte eines ungebundenen Lebens akzeptiert. Tunda formuliert hier ein Lebensprinzip, das nicht auf Sesshaftigkeit beruht. Damit steht er aber in Opposition zu den Vorstellungen und Werten der gesellschaftlichen Klasse, die von seinem Bruder und den anderen Gästen vertreten werden. Tundas Rede vom »Wind« und von seiner Einstellung zum Leben erscheint als Provokation, so dass man ihn unterbricht und nicht ausreden lässt. Ein »Fabrikant« bezeichnet Tunda als Dichter und spricht dem Lebensmotto eines freien nomadischen Lebens jeglichen Realitätsgrad ab. In einem kleinen Zimmer kommt es aber zu einer zweiten Begegnung zwischen den beiden, bei der der Fabrikant Verständnis zeigt und Tunda dabei ganz genau erklärt, wie das soziale Leben in dieser Stadt funktioniert. Ich habe ganz genau verstanden, was Sie mit dem Wind in Baku gemeint haben. Ich habe ganz genau verstanden, daß Sie so viel erlebt haben und daß wir jetzt so ahnungslos daherkommen und Sie dumme Dinge fragen. Was mich betrifft, so habe ich meine praktischen Fragen aus einem ganz bestimmten, egoistischen Grunde gestellt. Ich war gewissermaßen dazu verpflichtet. Sie verstehen das noch nicht. Sie müssen erst eine längere Zeit bei uns leben. Dann werden Sie auch bestimmte Fragen stellen und bestimmte Antworten geben müssen. Jeder lebt hier nach ewigen Gesetzen und gegen seinen Willen. Natürlich hat jeder einmal, als er anfing, beziehungsweise als er hierherkam, seinen eigenen Willen gehabt. Er arrangierte sein Leben, vollkommen frei, niemand hatte ihm was dreinzureden. Aber nach einiger Zeit, er merkte es gar nicht, wurde, was er aus freiem Entschluß eingerichtet hatte, zwar nicht geschriebenes, aber heiliges Gesetz und hörte dadurch auf, die Folge seiner Entschließung zu sein. (F, 450)
Für die Schüler_innen bestünde hier die Aufgabe zu überlegen, wie sich die Außenseiterrolle Tundas im Hause seines Bruders manifestiert. Dabei können die Ausführungen des Fabrikanten als Einführung in die Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens gelesen werden, die konträr zu den Einstellungen Tundas stehen. Während Tunda ja ein freies ungebundenes Leben postuliert, spricht der
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Fabrikant davon, dass ein längerer Aufenthalt in dieser Stadt zwangsläufig zu einer Fixierung führt, die darin besteht, dass sich ein bestimmter Habitus verfestigt. Das Auftreten in der Öffentlichkeit führt zu einem bestimmten Bild von der Person, das sich die Mitmenschen machen und an das sich das zukünftige Verhalten der Person ausrichten muss. Die Menschen in der Stadt sind durch ihre sozialen Rollen determiniert und dadurch berechenbar. Tunda bildet mit seinem Lebensmodell, in dem es keine festen Bindungen, keinen festen Beruf und keinen festen Wohnsitz gibt, einen deutlichen Kontrast zu den anderen Gästen auf der Feier. Tundas Außenseiterrolle wird im Text dadurch markiert, dass er als Einziger einen Eigennamen trägt, während die anderen Gäste lediglich durch ihren Beruf bezeichnet werden. Neben dem Fabrikanten treten u. a. noch »ein Professor der Universität«, »eine junge Schauspielerin«, »ein Museumsdirektor« und ein »Musikkritiker« (F, 448) auf, deren Berufsbezeichnungen den Rahmen für das Verhalten und die Interessen der Personen festlegen.12 In der Reflexion dieser Unterscheidung zwischen Tunda und den anderen erkennen die Schüler_innen ein weiteres Versatzstück des überflüssigen Menschen. Vor dem Hintergrund eines sozial-gesellschaftlichen Wertmaßstabes erscheint Tunda in dieser Stadt als überflüssig, da er keinen Beruf hat und sich auch anderweitig nicht festlegen lässt. Tunda erscheint als »Luftmensch«, der keine dauerhaften Wurzeln schlägt und vielmehr »wie von einem Wind ergriffen, in andere Gegenden […] in andere Jahre, in eine andere Existenz [getragen]« (F, 492–493) wird. Das rastlose Unterwegssein Tundas kontrastiert mit Modellen der Sesshaftigkeit, die an Werte wie Familie, Haus, Geld und Beruf gebunden sind. Mit diesem Gegensatz ist dann auch eine andere Facette des überflüssigen Menschen angesprochen, wenn Tundas endlose Flucht als Negation dieser bürgerlichen Werte erscheint und der überflüssige Mensch somit keineswegs ausschließlich als hoffnungs- und orientierungsloser Kriegsheimkehrer gedeutet werden muss, der keinen Ausweg mehr sieht. Der Reiz von Roths Roman auch für den Literaturunterricht besteht darin, dass der letzte Satz des Textes viele Fragen bezüglich Tundas Charakter und dessen weiteren Lebensweg offen lässt. Die intensive Beschäftigung der Schüler_innen mit Roths Protagonisten und der Frage nach einem überflüssigen Menschen lässt sich, nach Müller-Michaels, daher als anregende Auseinandersetzung mit einem komplexen Denkbild beschreiben, das die Geschichtlichkeit der Literatur und historische Erfahrungen mit aktuellen Perspektiven und Problemkonstellationen der Gegenwart verbindet.
12 Vgl. dazu auch Wild 1995, S. 35.
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Denkbilder in der Literatur sind demnach so zu charakterisieren, daß sie den gestalteten Stoff in einem anschaulichen Bild bündeln, daß sie Erfahrung aufbewahren, die wiederzugewinnen lohnt, daß sie inkomplett sind, so daß sie die Phantasie zur Vollendung herausfordern und daß Bilder und ihre Botschaften vielfältig ausdeutbar bleiben und doch einen Brennpunkt haben, der Erfahrungen und Projektionen vergleichbar macht. (Müller-Michaels 1996, S. 48f.)
In diesem Sinne bietet sich Roths Roman mit dem Motiv des überflüssigen Menschen aus meiner Sicht für einen Literaturunterricht an, der neben dem Kompetenzerwerb die »Denkbilder« der Literatur zur Diskussion stellt und literarische Lernprozesse als herausfordernde Auseinandersetzung mit den Entstehungskontexten und Sinnpotentialen deutungsoffener Texte gestaltet, deren Figuren und Geschichten gerade im Erfahrungskontext der Schüler_innen auch immer wieder neue Konturen gewinnen.
Literaturverzeichnis Anselm, Sabine (2014): ›Ethische Bildung und Literatur(unterricht): Überlegungen zu Werteerziehung und Narration‹, in: Temeswarer Beiträge zur Germanistik 11, S. 7–26. Berg, Nicolas (2008): Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen. Brittnacher, Hans Richard (2012): ›Von Heimkehrern, Vagabunden und Hochstaplern. Glück und Fluch des improvisierten Lebens bei Joseph Roth‹, in: Amthor, Wiebke/ders. (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin/Boston, S. 165– 182. Dewenter, Bastian (2021): ››Wir sind fremd in dieser Welt, wir kommen aus dem Schattenreich.‹ Eine narratologische Untersuchung zur Figur des Kriegsheimkehrers in Joseph Roths »Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht«‹, in: Aumüller, Matthias/Reimann, Carolin/Wildenauer, Johanna (Hg.): Hans-Fallada-Jahrbuch 8. Zwischen Dokument und Fiktion. Kriegserfahrungen und literarische Formen im 20. Jahrhundert, S. 176–193. Gelzer, Florian (2010): ›Unzuverlässiges Erzählen als Provokation des Lesers in Joseph Roths »Die Flucht ohne Ende«. Ein Bericht‹, in: Modern Austrian Literature 43, S. 23–40. Gerhard, Ute (1998): Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik. Opladen. Hartmann, Telse (2006): Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Tübingen/Basel. Köpke, Klaus-Michael/Winkler, Iris (2017): ›Kontroverse 4: Nur im Zusammenspiel tragfähig! Zum Verhältnis von Kompetenzorientierung und Gegenstandsorientierung in der Fachdidaktik Deutsch‹, in: Der Deutschunterricht 2, S. 46–57. Müller-Michaels, Harro (1996): ›Kanon – Denkbilder für das Gespräch zwischen Generationen und Kulturen‹, in: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 43, S. 44– 51. Nora, Pierre (Hg.) (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. Mit einem Vorwort von Etienne François. München.
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Roth, Joseph (undat.): Heute früh kam ein Brief…, in: ders.: Werke 4: Romane und Erzählungen 1916–1926, hg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln/Amsterdam, S. 1037–1043. Roth, Joseph (1919): Die Kugel am Bein, in: ders.: Werke 1: Das journalistische Werk 1915– 1923, hg. von Klaus Westermann. Mit einem Vorwort zur Werkausgabe von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Köln/Amsterdam 1989, S. 145–148. Roth, Joseph (1923): Das Spinnennetz, in: ders.: Werke 4: Romane und Erzählungen 1916– 1926, hg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert, Köln/Amsterdam. S. 63–146. Roth, Joseph (1927): Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht, in: ders.: Werke 4: Romane und Erzählungen 1916–1926, hg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln/Amsterdam, S. 389–496. Roth, Joseph (1929): Ankunft im Hotel, in: ders.: Werke 3: Das journalistische Werk 1929–1939, hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln/Amsterdam 1991, S. 3–6. Roth, Joseph (1929): Für die Staatenlosen, in: ders.: Werke 3: Das journalistische Werk 1929– 1939, hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln/Amsterdam 1991, S. 132–136. Spinner, Kaspar H. (2006): ›Literarisches Lernen‹, in: Praxis Deutsch 200, S. 6–16. Trojanow, Ilija (2013): Der überflüssige Mensch, St. Pölten u. a. von der Kammer, Marion (2004): Wege zum Text. Sechzehn Unterrichtsmethoden für die Entwicklung der Lesekompetenz. Baltmannsweiler, S. 129–142. Weymann, Ulrike (2012): ›Epische Objektivität. Zur Romanästhetik Joseph Roths in den 1920er Jahren‹, in: Amthor, Wiebke/Brittnacher, Hans Richard (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin/Boston, S. 257–272. Wild, Reiner (1995): ›Beobachtet oder gedichtet? Joseph Roths Roman »Die Flucht ohne Ende«‹, in: Becker, Sabina/Weiß, Christoph (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik, Stuttgart/Weimar, S. 27–48. Wilke, Insa (2012): ›So überflüssig in der Welt. Joseph Roths antibiographisches Erzählen‹, in: Amthor, Wiebke/Brittnacher, Hans Richard (Hg.): Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin/Boston, S. 273–285.
Anna Waczek
»In meiner Einsamkeit habe ich getanzt« – Der Wert der Einsamkeit bei Astrid Lindgren
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Einleitung »Gott und ich sind allein. Wir sitzen in einer Ecke und malen.« Ann Jäderlund1
»Ich bin allein in Furusund gewesen, und es war so schön, dass man hätte ohnmächtig werden können; mit ruhigem blauen Wasser, einem blauen Himmel, roten und gelben Bäumen, sternenklaren Abenden und so traurigen und so herbstlich schönen Sonnenuntergängen, dass es kaum zu ertragen war. Und in meiner Einsamkeit habe ich getanzt – aus lauter Freude, mutterseelenallein dort zu sein. Einsamkeit ist gut, jedenfalls in kleineren Dosierungen.« Astrid Lindgren2
So euphorisch – aber nicht ohne Melancholie – schildert Astrid Lindgren 1965, längst eine sehr bekannte und viel beschäftigte Kinderbuchautorin, einen Aufenthalt im familieneigenen Ferienhaus auf der schwedischen Schäreninsel Furusund in einem Brief an ihre Jugendfreundin Anne-Marie Fries. Die positive Bewertung der Einsamkeit, wenngleich sofort mit einer Relativierung versehen, mag überraschen bei einer Autorin, deren Namen viele in erster Linie mit der Darstellung von Kindheitsidyllen glücklicher Gemeinschaften – der sprichwörtlich gewordenen Bullerbü-Kindheit – verbinden. Durch ihr Werk zieht sich jedoch wie ein roter Faden eine weitere Figur: die des einsamen Kindes. Einsamkeit, so schreibt Susanne Gaschke anlässlich des 100. Geburtstags der Autorin in der ZEIT, »grundiert Lindgrens Bücher ebenso wie ihre ganz besondere Weltwahrnehmung« (Gaschke 2007). Dabei erfährt das Motiv der Einsamkeit sehr unterschiedliche Darstellungen. Während gerade in ihren Märchen und fantastischen Romanen das einsame Kind mit existentiellen Ängsten vor Verlassenheit gezeichnet wird, finden sich im Gesamtwerk auch stärkende Formen 1 Zitiert nach Edström 2008, S. 99. 2 Zitiert nach Andersen 2015, S. 375.
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der Einsamkeit, die mit Autonomie, Identitätsbildung und schöpferischer Tätigkeit einhergehen. Diese Dialektik des Begriffs ist bereits in seiner Geschichte angelegt. Im heutigen Sprachgebrauch charakterisiert er zunächst einen Mangel. Das Adjektiv einsam bildet nach dem etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache den Gegenbegriff zu gemeinsam3: anderen zugehörig, in Gemeinschaft zu sein, stehen Verlassenheit und Isolation gegenüber. Es handelt sich hierbei also um einen relationalen Begriff; ohne die Möglichkeit von Gemeinschaft ist Einsamkeit nicht denkbar. Erwähnung findet jedoch auch eine ältere Bedeutung: »einig, einträchtig, einzeln«. Aus psychologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive steht der Aspekt des Mangels im Vordergrund. In ihrer Studie zur sozialen Dimension der Einsamkeit konstatiert Caroline Bohn, dass der Begriff der Einsamkeit nur schwer erfassbar ist, weil die Grenzen zu Begleiterscheinungen wie Trauer, Depression oder auch Langeweile fließend sind, und es sich überdies um einen Zustand handelt, der nur selbstreflexiv erfahren und nicht von außen zugeschrieben werden kann; daher sei allenfalls eine Annäherung möglich. Unterschieden wird dabei zwischen vorübergehender, situationaler und chronischer Einsamkeit (vgl. Bohn 2008, S. 32ff.). Daniel Perlman und Letitia Peplau beschreiben Einsamkeit als Diskrepanz zwischen den tatsächlichen und den gewünschten sozialen Beziehungen eines Menschen – auch hier wird die relationale Natur deutlich (vgl. Perlman/Peplau 1984, S. 15). Maike Luhmann macht deutlich, dass sich Einsamkeit von Alleinsein unterscheidet: Man kann sich in der Einsamkeit aufhalten (z. B. an einem einsam gelegenen Ort in der Natur), ohne sich einsam zu fühlen. Umgekehrt kann man sich einsam fühlen, obwohl man von anderen Menschen umgeben ist. [Entscheidend ist die subjektive] Wahrnehmung dieser Beziehungen. (Luhmann 2018, S. 68)
Auch Bohn greift die »große Polarität« der Einsamkeit auf: »Neben ihrem zutiefst leidvollen Charakter, [sic!] können ihr zumindest im Rückblick auch bereichernde Eigenschaften zugeschrieben werden.« (Bohn 2008, S. 13) Sie plädiert dennoch dafür, die schmerzhafte Dimension dieses Gefühls anzuerkennen, denn ihr »geradezu beglückende Eigenschaften zuzuschreiben oder sie als Idealzustand zu propagieren, ist letztlich nichts weiter als ein strategischer und möglicherweise auch verzweifelter Versuch, sie aus ihrer Tabuzone zu befreien.« (Ebd., S. 15) Damit gehe »letztlich auch ihr Wert verloren.« (Ebd., S. 16) Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive suchen Aleida und Jan Assmann nach der historischen Funktion der Einsamkeit und finden sie in der »Erfindung« zweier Phänomene, die dem Menschen, dem als »animal sociale 3 »einsam«, in: Pfeifer 1993.
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[die] Einsamkeit [nicht] liegt«, dazu verholfen haben, »die Einsamkeit nicht nur zu überleben, sondern geradezu hochschätzen und anstreben zu können: die Schrift und der Monotheismus.« (Assmann/Assmann 2000, S. 13) Mit der Erfindung des Buchdrucks und der daraus resultierenden Verbreitung des Lesens löst die Kunst dabei die Religion ab: »Man mußte nicht mehr ein religiöser Virtuose oder ein großer Philosoph sein, um sich den Freuden der Einsamkeit hingeben zu können. Es genügte schon, daß man ein leidenschaftlicher Leser war.« (Ebd., S. 14) Die Anspielung auf antike Philosophen verweist auf eine weitere Funktion der Einsamkeit, die Thomas Macho als Kulturtechnik beschreibt, welche »Strategien zur Initiierung und Kultivierung von Selbstwahrnehmungen« sowie »eine Anregung und Disziplinierung […] innerer Dialoge« (Macho 2000, S. 30) umfasst. Einsamkeit wird hier nicht nur ertragen, sondern bewusst gewählt und gesucht, um neue Einsichten zu erlangen. Ähnliches lässt sich aus literaturtheoretischer Perspektive feststellen. So gilt Einsamkeit als »konstitutives Element der menschlichen Existenz, wenn eine Figur nicht nur dem Mitmenschen und der Umwelt entfremdet ist, sondern auch ihrem eigenen Wesen fremd gegenübersteht.« (Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 126) Auch hier wird Einsamkeit ambivalent bewertet, gerade in polarer Opposition zur Geselligkeit kann sie zur »Ausarbeitung negativer oder positiver Sinnstiftung« (ebd., S. 122) dienen und die Vorstellung wecken, »daß einzelne in ruhigem, prüfenden Nachdenken den Sinn des Daseins entschlüsseln können.« (Ebd.) Diesem Spektrum der Einsamkeit soll in den Romanen Pippi Langstrumpf (1949/PL 1)4, Pippi in Taka-Tuka-Land (1951/PL 2), Ronja Räubertochter (1982/ RR), Ferien auf Saltkrokan (1965/FS), Mio, mein Mio (1955/MM) und Die Brüder Löwenherz (1974/BL) nachgegangen werden. Leitend ist dabei die Frage, welcher Wert der Einsamkeit zugeschrieben wird und unter welchen Bedingungen Einsamkeit als wertvoll und ermächtigend erlebt werden kann. Drei Spielarten sollen dabei vorgestellt werden: Autonomie, Resonanz und Fantasie.
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Einsamkeit und Autonomie Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt, und sie wohnte ganz allein dort. Sie hatte keine Mama und keinen Papa, und eigentlich war das sehr schön, denn so gab es niemanden, der ihr sagen konnte, dass sie schlafen gehen sollte, wenn sie gerade mitten im schönsten Spiel war, und niemanden,
4 Die Jahreszahlen beziehen sich jeweils auf das Erscheinungsdatum in deutscher Übersetzung. In der Folge werden die Kurztitel verwendet (vgl. auch Aufschlüsselung im Literaturverzeichnis).
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der sie zwingen konnte Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte. (PL 1, S. 9)
Mit diesen Sätzen wird der Leserin Lindgrens wohl berühmteste Figur vorgestellt – Pippi Langstrumpf bezieht ihre Villa Kunterbunt in der namenlosen schwedischen Kleinstadt, in der sie sich mit Tommy und Annika Settergren anfreundet und allerhand Abenteuer erlebt. Schon der erste Absatz bringt Pippis Autonomiebestreben zum Ausdruck: Sie verfügt über vollkommene Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bezüglich ihrer Zeit und ihrer Lebensgestaltung. Ihr Selbstkonzept lässt sich als unerschütterlicher Glaube an die eigene Souveränität beschreiben: »Pippi glaubte, dass ihre Mama nun oben im Himmel war und durch ein kleines Loch auf ihr Mädchen runterguckte, und Pippi winkte oft zu ihr hinauf und sagte: ›Hab keine Angst! Ich komm immer zurecht!‹« (ebd.) Im Verlauf der drei Pippi Langstrumpf-Bände wird sie mit verschiedenen Personen und Instanzen konfrontiert, die diese Souveränität und Autonomie anzweifeln und herausfordern, darunter kindliche Raufbolde, Polizisten, Lehrer_innen und Kleinkriminelle. In ihrer Reaktion wird jeweils deutlich, worin die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben und Handeln für sie bestehen: Sie ist materiell unabhängig, da sie über einen scheinbar unbegrenzten Vorrat an Goldstücken verfügt, und muss aufgrund ihrer übermenschlichen körperlichen Stärke weder Einzelpersonen noch gesellschaftliche Autoritäten fürchten. Einsam wird Pippi also nicht nur durch ihre Selbstsuffizienz, sondern auch durch ihre Singularität, die sie von allen anderen Menschen unterscheidet. Bettina Kümmerling-Meibauer stellt Pippi Langstrumpf daher in die romantische Tradition »des fremden oder ewigen Kindes, wie es in E.T.A. Hoffmanns Kinderma¨ rchen Das fremde Kind (1817) dargelegt wird« (Kümmerling-Meibauer 2008, S. 4) und das aufgrund »seiner mysteriösen Herkunft, seiner Familiensituation und seiner Einsamkeit« (ebd.) sowie unerklärlicher übernatürlicher Fähigkeiten auffällt. Wie das fremde Kind fordert Pippi durch ihre Alterität zur Auseinandersetzung mit sozialen Normen heraus, die sie vergnügt ignoriert und bricht. So »verfremdet und verdeutlicht Pippi das soziale Leben in der Umgebung, wo sie mit ihrem Affen, ihrem Pferd und ihrem Koffer voller Goldstücke an Land geht«, so Vivi Edström (Edström 1997, S. 97), die die Romane als Farce charakterisiert, die besonders dann amüsant sind, »wenn Pippi unsere Höflichkeitsregeln und Erziehungscodes als sonderbare Riten erscheinen lässt« (ebd.). Darüber hinaus erfüllt sie kindliche Machtphantasien. Ihre Macht setzt sie zum Guten ein. Dabei ist ein klares Wertesystem handlungsleitend, insbesondere in der vom Verlag abgemilderten Version,5 die 1945 erstmals in Schweden erschien. 5 Das Originalmanuskript ist 2007 erstmals in Deutschland als Ur-Pippi erschienen.
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Durch ihre Andersartigkeit ist Pippis Einsamkeit nicht ausschließlich freiwillig und selbst gewählt, worauf vielleicht auch das relativierende »eigentlich« in der eingangs zitierten Anfangspassage verweist. Sie verfügt jedoch über ein Netz stabiler sozialer Beziehungen – die Freunde Tommy und Annika, der abwesende Vater, die Haustiere, für die sie Verantwortung übernimmt. Es bleibt jedoch eine Kluft, die am Ende der Pippi-Trilogie, am Schluss des letzten Kapitels, eindrucksvoll verbildlicht wird: Nachdem die drei Freunde ›Krummeluspillen‹ gegessen haben, um niemals erwachsen zu werden (von denen Tommy schwören könnte, »dass es gewöhnliche Erbsen waren«, PL 2, S. 394), kehren Tommy und Annika in ihr Zuhause zurück und betrachten Pippi, die alleine am Küchentisch sitzt, durch das Fenster. Pippi saß am Tisch, den Kopf auf die Hände gestützt. Mit einem träumerischen Ausdruck starrte sie auf ein kleines flackerndes Licht, das vor ihr stand. »Sie – sie sieht irgendwie so einsam aus«, sagte Annika, und ihre Stimme zitterte etwas. »O Tommy, wenn es doch schon morgen wäre, dass wir gleich zu ihr gehen könnten!« (Ebd.)
Annikas Mitleid ist rührend, scheint jedoch auch deplatziert, denn Pippi wirkt nicht etwa melancholisch, sondern vielmehr in sich ruhend – der Blick ist nach innen gerichtet in ein reiches Innenleben. Der deutsche Illustrator Rolf Rettich greift diese Interpretation auf, indem er Pippi mit entspannter Körperhaltung und einem glücklichen Gesichtsausdruck darstellt. Pippi wird in dieser Passage aus der Außenperspektive als das ›fremde Kind‹ gerahmt, das geradezu mythologisch überhöht wird, wenn es heißt: Die Sterne leuchteten über dem Dach der Villa Kunterbunt. Dort war Pippi. Sie würde immer da sein. Es war wunderbar, daran zu denken. Die Jahre würden vergehen, aber Pippi und Tommy und Annika würden nicht groß werden. Natürlich nur, wenn die Kraft aus den Krummeluspillen nicht herausgegangen war! Es würde wieder Frühling werden, und neue Sommer, Herbste und Winter würden kommen; aber sie würden niemals aufhören zu spielen. […] Ja, das war ein wunderbar tröstlicher Gedanke – Pippi würde für immer in der Villa Kunterbunt bleiben. (ebd.)
Die Passage endet damit, dass Tommy und Annika gerne Blickkontakt zu Pippi herstellen würden, [a]ber Pippi starrte nur träumerisch vor sich hin. Dann löschte sie das Licht aus. (ebd.)
Erneut wird die Alterität unterstrichen, Pippi verbleibt in ihrer eigenen Welt und verschwindet letztlich in Dunkelheit und damit in Undurchschaubarkeit und Unverfügbarkeit. Anders als Pippi lebt die namensgebende Ronja Räubertochter nicht alleine, sondern wird in ein starkes Familiengefüge als Tochter liebevoller Eltern, der
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Mutter Lovis und des Räuberhauptmanns Mattis, hineingeboren. Dies macht sie für Edström explizit »kein einsames oder ausgeschlossenes Kind wie eine Reihe anderer Figuren bei Astrid Lindgren« (Edström 1997, S. 294). Der Begriff ›einsam‹ findet sich im Text jedoch immer wieder. Doch keine Wilddruden konnten Ronja von den Pfaden und Plätzen verscheuchen, wo sie ihr einsames Waldleben lebte. Ja, einsam war sie, aber sie vermisste niemanden. Wen sollte sie auch vermissen? Ihre Tage waren angefüllt mit Leben und Glück, nur rannen sie so schnell dahin. (RR, S. 30)
Ronja, die in der Sicherheit der Mattisburg aufwächst, sucht die Waldeinsamkeit ausdrücklich, um Autonomie und Souveränität im Umgang mit Gefahren zu entwickeln. Und während der folgenden Tage tat Ronja nichts anderes, als dass sie sich vor allem Gefährlichen hütete und sich darin übte, keine Angst zu haben. In den Fluss zu plumpsen, davor sollte sie sich hüten, hatte Mattis gesagt, und darum sprang sie am Ufer kühn und keck von einem glatten Stein zum anderen, dort wo das Wasser am wildesten toste. Schließlich konnte sie sich ja nicht im Wald davor hüten, in den Fluss zu plumpsen. (RR, S. 24f.)
In diesem Umgang mit Gefahren sieht Edström auch die Verwandtschaft zwischen Pippi und Ronja (ebenso wie Madita und Eva-Lotta): »Typisch für diese Mädchen ist, dass ihre grenzüberschreitenden Übungen sich außerhalb der Familie in einer eigenen Welt voller Gefahren abspielen« (Edström 1997, S. 310). Ronja stellt sich Schritt für Schritt ihren Ängsten, bis sie »geschmeidig und stark und furchtlos wie ein gesundes kleines Tier« (RR, S. 25) ist. Der Vergleich macht deutlich, wie eng verbunden Ronja mit dem Wald ist. Sie identifiziert sich so stark mit der sie umgebenden Natur, dass sie Besitzansprüche anmeldet, als sie Birk, dem Sohn des verfeindeten Räuberhauptmanns Borka, begegnet: »Ich will, dass du meine Jungfüchse in Frieden lässt und aus meinem Wald verschwindest!« (RR, S. 55) Birk jedoch verdeutlicht ihr, dass sich der Wald ihrer Vereinnahmung entzieht und trägt damit ebenfalls entscheidend zu ihrer Reifung bei. Maßgeblich ist dabei auch, dass ihr die Grenzen ihrer Autonomie und Souveränität bewusst werden, als sie wiederholt auf die Hilfe der geliebten Menschen angewiesen ist: des Vaters Mattis, der die ihr bedrohlich zu Leibe rückenden Graugnomen verscheucht, und des »Bruders« Birks, der sie vor den verlockenden Stimmen der Unterwelt schützt und aus einer misslichen Lage im Schnee befreit. Diese Verbindung, symbolisiert durch den Lederriemen, mit dem sich die beiden Kinder gegenseitig das Leben retten, ist auch emotionaler Natur. Die Beziehung zu Birk beendet Ronjas unbeschwertes einsames Waldleben, der Zuwachs an sozialer Bindung geht einher mit größerer Verletzlichkeit und Verwundbarkeit: Nun gibt es jemanden, den sie vermisst. »Wenn ich dich nicht zum Bruder hätte, dann würde es mir vielleicht nichts ausmachen, dass Mattis Borka ans Leben will. […]
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Also ist es deine Schuld, dass ich jetzt so viele Sorgen habe!« (ebd., S. 119), so Ronja zu Birk. Neben einem Raum für Bildungs- und Sozialisationsprozesse wird die Waldeinsamkeit zur Zuflucht, als Ronjas und Birks Beziehung durch die unversöhnliche Feindschaft der Väter bedroht wird. Die Schilderung des Sommers in der Bärenhöhle, in die sich die beiden Heranwachsenden zurückziehen, trägt paradiesische Züge: Sie beide waren satt und warm, der Morgen war so hell, und sie waren frei wie die Vögel. […] »Ronja«, sagte Birk, »begreifst du, dass wir frei sind? So frei, dass man vor Lachen platzen könnte?« »Ja, und dies hier ist unser Reich«, sagte Ronja. »Keiner kann es uns nehmen und uns daraus vertreiben.« (RR, S. 146f.)
Die Waldeinsamkeit eröffnet Ronja und Birk den Raum, einen alternativen Lebensentwurf zur Brutalität der Väter zu leben. Darüber hinaus setzt sich Ronjas Prozess der Identitätsbildung fort, indem sie in der Höhle immer mehr die Rolle ihrer Mutter einnimmt, am Abend das Wolfslied singt, Heilkräuter sammelt, Wunden versorgt und Birk mit den gleichen Worten neckt wie ihre Mutter den Vater: »Jetzt hast du wohl ganz und gar den Verstand verloren!« (Ebd., S. 167) Damit fügt sie der Identität als Wildfang (immer wieder wird Ronja von verschiedenen Charakteren als ›Wilddrude‹ bezeichnet) eine weitere als Mutter hinzu, ohne die vorherige aufzugeben (symbolisiert etwa durch ihren markerschütternden Frühlingsschrei, S. 147 und S. 243, oder das wilde Bad im tosenden Glupa-Fall, S. 189). Besondere Erwähnung verdient hier Ronjas und Birks Zähmung der Wildpferde, ein Motiv, das, so Edström, »auch auf die latente Sexualität hinweist« (Edström 1997, S. 308). Am Ende dieses Reifungsprozesses steht die Erkenntnis, dass der Wert der Einsamkeit in Einklang gebracht werden muss mit dem Wert der Gemeinschaft, die während des langen Winters Schutz und Geborgenheit verspricht. Doch die in der Einsamkeit gewonnenen Erkenntnisse transformieren die Gemeinschaft, entwickeln sie weiter: Ronja und Birk beschließen mit der Tradition der Väter zu brechen und ihren Lebensunterhalt künftig nicht als Räuber zu verdienen. Hier schließt sich wieder der Kreis zu Pippi Langstrumpf, vom ersten zum letzten Roman der Autorin: Für beide Heldinnen bedeutet Autonomie das Leben (Pippi) und Entwickeln (Ronja) der eigenen Identität, die teilweise in Kontrast zu sozialen oder familialen Normen steht. Damit wird ein gesellschaftskritisches Moment konstruiert, für das bei Pippi die Sprache des Humors, der Anarchie, der Groteske das Mittel der Wahl ist, bei Ronja aber das Familiendrama, die Liebesgeschichte, die Naturpoesie.
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Einsamkeit und Resonanz
Die Waldeinsamkeit dient Ronja nämlich nicht nur als Gestaltungsraum für Autonomie und Selbstwertschätzung, sondern wird von ihr mit allen Sinnen wahrgenommen. Wie hatte sie nur glauben können, dass die große Steinhalle die ganze Welt wäre? Nicht einmal die gewaltige Mattisburg war die ganze Welt. Nicht einmal der hohe Mattisberg war die ganze Welt, nein, die Welt war viel größer. Sie war so, dass einem der Atem stockte. Natürlich hatte Ronja gehört, wie Mattis und Lovis über das sprachen, was es außerhalb der Mattisburg gab. Vom Fluss hatten sie gesprochen. Aber erst als sie ihn mit seinen wilden Strudeln tief unter dem Mattisberg hervorschäumen sah, begriff sie, was Flüsse waren. Vom Wald hatten sie gesprochen. Aber erst, als sie ihn so dunkel und verwunschen mit all seinen rauschenden Bäumen sah, begriff sie, was Wälder waren. Und sie lachte leise, weil es Flüsse und Wälder gab. Es war kaum zu glauben – wahr und wahrhaftig, es gab große Bäume und große Gewässer, und alles war voller Leben, musste man da nicht lachen! (RR, S. 19)
Wie eine Beschwörung reagiert Ronja auf all ihre Entdeckungen – Flüsse, Wälder, Seerosen, Bäume – mit der Formel ›und sie lachte leise, weil es sie gab‹. Bei ihrer ersten Begegnung mit Birk wird diese Formel gleichsam als Höhepunkt der Entdeckungen wieder aufgegriffen: »Noch hatte er sie nicht entdeckt. Ronja schaute ihn sich an, wie er dort saß, und sie lachte leise, weil es ihn gab.« (ebd., S. 32) In der Natur treten Ronja die Dinge in ihrem So-Sein entgegen und werden von ihr geradezu aufgesogen. Diese gesteigerte Art der Wahrnehmung verweist auf die ältere Wortbedeutung der Einsamkeit, die Einheit und Einträchtigkeit, indem sich Ronja als Teil der Natur wahrnimmt und die Grenzen zwischen Selbst und Umgebung verschwimmen. Ronjas Kontemplation der sie umgebenden Natur lässt sich mit dem Begriff der Achtsamkeit umschreiben. Nach Scott R. Bishop et al. umfasst ›Achtsamkeit‹ zwei Komponenten: die Erfahrung des gegenwärtigen Moments durch die bewusste Regulierung der Aufmerksamkeit und die offene, neugierige und nicht wertende Wahrnehmung aller Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke (vgl. Bishop et al. 2004, S. 232f.). Diese Gefühle umfassen bei Ronja Freude, Ehrfurcht und Staunen, aber auch Angst, wenn sie mit den gefährlichen Elementen des Waldes konfrontiert wird. Darüber hinaus eröffnen sich Ronja neue Sinnzusammenhänge und ihre Beobachtungen regen sie zu reflektiertem Denken an: Danach legte sie sich ins Moos, um eine Weile auszuruhen, und hoch über ihr rauschten die Bäume. Sie guckte hinauf und lachte leise, weil es sie gab. Dann schlief sie ein. Als sie erwachte, war es schon dunkler Abend, und sie sah die Sterne über den Baumwipfeln glühen. Da begriff sie, dass die Welt noch viel mehr war, als sie geglaubt hatte. Aber es betrübte sie, dass man die Sterne nicht erreichen konnte, wie sehr man sich auch danach streckte. (ebd., S. 20)
»In meiner Einsamkeit habe ich getanzt«
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Es wird deutlich, dass Ronja durch die Beobachtung und Kontemplation der Waldeinsamkeit transformiert wird: Zunächst werden ihr die Größe der Welt und ihre eigene Unzulänglichkeit ebenso bewusst wie die eigenen Gefühle, durch die aktive Suche nach Gefahren und Ängsten gewinnt sie an Souveränität und gelangt schließlich in der Auseinandersetzung mit dem Lebensentwurf der Eltern zu eigenständigen Positionen und Werthaltungen. Man kann daher sagen, dass Ronja im Wald Resonanzerfahrungen im Sinne Hartmut Rosas macht. Der Resonanzbegriff dient Rosa als Metapher zur Beschreibung eines »Modus des Inder-Welt-Seins, das heißt eine spezifische Art und Weise des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt« (Rosa 2016, S. 285). Resonant wird diese Beziehung deshalb genannt, weil sich beide Entitäten »so berühren, dass sie als aufeinander antwortend, zugleich aber auch mit eigener Stimme sprechend, also als ›zurück-tönend‹ begriffen werden können« (ebd., Hervorh. i. O.). Die Frage, ob die Welt wirklich antwortet, ist dabei unerheblich (vgl. ebd., S. 289) – es lohnt sich indes darauf hinzuweisen, dass der Natur bei Lindgren, so Gabriele Cromme, »literarisch quasi ein Subjektstatus zugeschrieben wird« (Cromme 1997, S. 37). Entscheidend ist die Frage, ob das Subjekt mit etwas in der Welt in Berührung kommt, »das für [es] eine unabhängige Wertquelle darstellt, das ihr als schlechthin wichtig und wertvoll entgegentritt und es etwas angeht« (Rosa 2016, S. 291). Resonanzerfahrungen unterscheiden sich also deutlich von Achtsamkeitserfahrungen, da Resonanzerfahrungen6 an starke Wertungen gebunden sind (ebd.). Die intensive Wahrnehmung stellt jedoch die Voraussetzung für die transformative, resonante Beziehung dar. Diesen transformativen Umgang mit der Natur teilt Ronja mit einer Figur, mit der sie auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten hat: Pelle Melcherson aus dem Roman Ferien auf Saltkrokan. Im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter handelt es sich hier um einen realistischen Roman, der in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich für Lindgrens Gesamtwerk ist: Dies betrifft zum einen die Genese – die Erzählung lag zunächst nicht in Romanform, sondern als Fernsehserie vor – und zum anderen die handelnden Personen, deren Kreis nicht nur Kinder umfasst, sondern sich um Jugendliche und Erwachsene erweitert. Im Zentrum steht dabei die Familie des verwitweten Schriftstellers Melcher Melcherson, die ihren Sommerurlaub auf der fiktiven Schäreninsel Saltkrokan verbringt, sich mit verschiedenen Inselbewohnern anfreundet und schließlich ein Zuhause auf der Insel findet. Der siebenjährige Pelle ist das jüngste der vier Kinder. Wie Ronja begibt er sich bevorzugt auf lange Streifzüge und sucht immer wieder die Einsamkeit der Natur: 6 Vgl. weiterführend Bismarck, Kristina/Beisbart, Ortwin (Hg.) (2020): Resonanzpädagogischer Deutschunterricht. Weinheim 2020.
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Es lag ein eigentümliches Schweigen über dem Platz, und dorthin ging Pelle manchmal auf seinen einsamen Wanderungen. Stundenlang konnte er hier sitzen, den Rücken gegen eine besonnte Schuppenwand gelehnt, und den Libellen zuschauen, wie sie zwischen Stegen hin und her flatterten, und die Ringe im Wasser zählen, wenn ein Barsch unter dem blanken Wasserspiegel hochzuckte. Für Pelle war die Tote Bucht ein Ort des Friedens und der Träume. (FS, S. 239)
Pelle wird, hier aus der Perspektive des Vaters, mit hochsensiblen Zügen gezeichnet, was Melcher als Anlass zur Sorge erscheint: Aber dann war da Pelle, wie sollte es ihm ergehen? Wie würde das Leben werden für einen, der anfing zu weinen, weil er in der Straßenbahn Leute sah, die ein trauriges Gesicht machten, oder weil er einer Katze begegnet war, die aussah, als wäre sie obdachlos? (ebd., S. 142)
Die Sorge resultiert aus der Befürchtung, dass Pelles sensible Natur ihn wenig resilient macht. Es wird jedoch deutlich, dass Pelle aus dem Rückzug in die Einsamkeit und der Begegnung mit den Elementen Kraft schöpft. Er konnte aber auch auf seine eigene wunderliche Weise heiter sein. Es gab allerlei, was ihn glücklich machte: allein im Bootshaus zu sitzen, wenn es regnete, und zu hören, wie es auf das Dach trommelte, oder oben auf dem Hausboden in einer Ecke zu kauern, wenn es stürmte, am liebsten in der Dämmerung, und dazusitzen und das ganze Haus ächzen zu hören. […] Außerdem war er Forscher und für so einen gab es viel zu tun. Auf dem Bauch im Gras liegen und beobachten, was das kleine Getier trieb. Auf dem Bootssteg auf dem Bauch liegen und die wundersame grüne Welt ergründen, in der die kleinen Stichlinge ihr kleines Stichlingsdasein führten. An dunklen Augustabenden auf den Treppenstufen sitzen und sehen, wie die Sterne nach und nach aufglänzten, und die Kassiopeia und den Großen Bären und den Orion suchen. Pelle erlebte das ganze Dasein als eine Reihe von Wundern, und er war ständig damit beschäftigt, sie zu erforschen, geduldig und seiner Arbeit hingegeben, wie es sich für einen Forscher gehörte. Melcher empfand hin und wieder so etwas wie Neid, wenn er seinen Jüngsten beobachtete. Weshalb konnte man nicht das ganze Leben hindurch die Fähigkeit bewahren, Erde und Gras und rauschenden Regen und Sternenhimmel als Seligkeiten zu erleben? (ebd., S. 142f.)
Pelles Sensibilität wird im Verlauf des Romans immer wieder auf die Probe gestellt, z. B. als sein Kaninchen Jocke von einem Fuchs gerissen wird. Im Gegensatz zu anderen spricht er sich dagegen aus, den Fuchs zu erschießen (»Das hat er nur getan, weil er ein Fuchs ist […] Dann muss er sich ja wie ein Fuchs verhalten.«, ebd., S. 276). Seine intensive Wahrnehmung der Natur lässt ihn eine reife und differenzierte Form der Tierliebe entwickeln, die »Fürsorge und Liebe bei gleichzeitiger Akzeptanz der Andersartigkeit« (Cromme 1997, S. 38) umfasst. In der Beschäftigung mit der Natur findet Pelle, der sich schon mit seinen sieben Jahren um seine berufliche Zukunft sorgt, schließlich seine Bestimmung. Andrea Weinmann weist in ihrem Aufsatz zu umweltethischen Aspekten bei Saltkrokan darauf hin, dass sich die unterschiedlichen Personengruppen ( jüngere Kinder,
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ältere Kinder, junge Erwachsene und Erwachsene) durch ihr jeweils anderes Verhältnis zur Natur unterscheiden, der Zugang der Kinder ist weniger ästhetischer als pragmatischer Art (vgl. Weinmann 2013, S. 138 und 141). Pelle verkörpert für sie das »rousseauistische Kindheitsbild [vom] Kind als (Natur-) Forscher« (ebd., S. 146). In der Begegnung mit dem Biologen Petter Malm erfährt er, dass es genau den richtigen Beruf für ›einen wie ihn‹ gibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide, Ronja und Pelle, den Rückzug in die Einsamkeit brauchen, um daraus Kraft zu schöpfen, Antworten zu bekommen, und schlussendlich eine Zukunftsvision für ein gelingendes Leben zu entwickeln.
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Einsamkeit und Fantasie
Die Voraussetzung dafür, dass kindliche Held_innen wie Pippi, Ronja oder Pelle Kraft aus der Einsamkeit schöpfen können, besteht in erster Linie in ihrer Freiwilligkeit. Sie alle sind eingebunden in stabile soziale Gefüge – Familien und/ oder Freunde – zu denen sie jederzeit zurückkehren können. Fehlt dieser schützende Hintergrund, wird Einsamkeit als überaus schmerzhaft und existentiell bedrohlich erlebt. Diese Ausgangssituation finden Leser_innen in Lindgrens beiden großen fantastischen Romanen, Mio, mein Mio und Die Brüder Löwenherz7 ebenso wie bei einer Reihe Märchen und Erzählungen vor. Der neunjährige Bo Vilhelm Olsson, Protagonist des 1954 erschienenen Märchenromans Mio, mein Mio, ist verwaist und erfährt bei seinen Pflegeeltern wenig Zuwendung. Mit knappen Worten wird das Bild emotionaler Vernachlässigung, sogar Misshandlung gezeichnet: Tante Edla und Onkel Sixten, so erfährt die Leserin, wollten eigentlich ein Mädchen haben, »aber es war keines da. […] Tante Edla sagte immer, der Tag, an dem ich ins Haus gekommen bin, sei ein Unglückstag gewesen. Onkel Sixten sagte nichts. Doch, Manchmal sagte er: ›Du da, geh nach draußen, damit ich dich nicht sehen muss.‹« (MM, S. 8). Bo, genannt Bosse, leidet zutiefst unter der Kälte seiner Pflegeeltern, die im Kontrast zur warmherzigen Familie seines Freundes Benka noch stärker hervortritt: »Sein Papa sprach immer viel mit ihm […] Benka durfte lachen und reden und seine Kleider herumliegen lassen, so viel er wollte. Sein Papa hatte ihn trotzdem lieb.« (ebd., S. 8f.)
7 Zwar weist auch Ronja Räubertochter fantastische Elemente auf, diese sind jedoch weniger konstitutiv als bei den beiden anderen genannten, die von einem klaren Übergang zwischen Primär- und Sekundärwelt gezeichnet sind. Überdies haben beide Romane im Gegensatz zu Ronja Ich-Erzähler, was die Erzählung unzuverlässiger gestaltet und die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lässt.
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Bosses Einsamkeit wird in einem eindrucksvollen Bild eingefangen, als er alleine in der Dämmerung auf einer Parkbank sitzt und durch das Fenster in die hell erleuchtete Wohnung Benkas blickt: Beinah hätte ich geweint. Nicht richtig, aber beinah. Ich fühlte mich so einsam. […] Ich konnte sehen, dass auch aus Benkas Fenster Licht schien. Nun saß er dort und aß Erbsen und Eierkuchen, zusammen mit seinem Papa und seiner Mama. Ich stellte mir vor, dass überall dort, wo Licht war, Kinder mit ihren Vätern und Müttern beisammensaßen. Nur ich, ich saß hier draußen im Dunkeln. Allein. (ebd., S. 12)8
In diesem Moment größter Verzweiflung geschieht das Wunder: In einer gewöhnlichen Bierflasche findet Bosse einen Flaschengeist, der ihn mitnimmt in das Land der Ferne. Hier findet Bosse, fortan Prinz Mio genannt, seinen Vater, den König. Gemeinsam mit seinem Freund Jum-Jum – Benkas fantastischem Alter Ego – befreit er das Reich des Vaters vom kaltherzigen Ritter Kato mit dem steinernen Herzen. Karl Löwe, ebenfalls neun, Ich-Erzähler in Die Brüder Löwenherz, lebt mit seinem älteren Bruder Jonathan und der alleinerziehenden, schwer arbeitenden und von Sorgen geplagten Mutter in prekären Verhältnissen. Aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung darf er die Wohnung nicht verlassen und durch Zufall hört er ein Gespräch einer Kundin mit seiner Mutter darüber, dass er bald sterben wird. Karl, genannt Krümel, ist in mehrfacher Hinsicht isoliert: Durch die Krankheit kann er nicht am sozialen Leben mit Gleichaltrigen teilhaben, und kein Erwachsener spricht mit ihm über die Ernsthaftigkeit seiner Situation. Um die Mutter zu schonen, lässt er sich nicht anmerken, dass er »dieses Schreckliche gehört hatte« (BL, S. 6). Sein einziger Trost ist der ältere Bruder, mit dem er über seine »furchtbare Angst« (ebd.) sprechen kann. Jonathan tröstet ihn mit der Aussicht, dass er nach dem Tod nicht einfach »tot in der Erde liegen« (ebd.) wird, sondern nach Nangijala fliegen wird, »irgendwo hinter den Sternen [in die] Zeit der Lagerfeuer und Sagen« (ebd., S. 7). Als Jonathan bei der Rettung Krümels vor einem Hausbrand ums Leben kommt, steigt dessen Verzweiflung, Isolation und Sehnsucht ins Unermessliche, bis eines Tages das ›Seltsame‹ passiert und sich Krümel gemeinsam mit Jonathan auf dem idyllischen Reiterhof im wunderschönen Kirschtal in Nangijala wiederfindet. Wie Mios Land der Ferne ist auch diese Idylle bedroht durch einen Tyrannen, den bösen Tengil, der mithilfe des Drachens Katla die Menschen im benachbarten Heckenrosental unterdrückt. Als Jonathan beschließt, sich dem Widerstand gegen Tengil anzuschließen, bleibt Krümel erneut allein. Wo Krümel auf den ersten Verlust Jonathans mit Sprachlosigkeit reagiert hatte – »Es ist schwer, ich kann, nein, ich kann es nicht 8 Interessant ist an dieser Stelle der Vergleich zur unter Punkt 2 zitierten Fensterszene in Pippi in Taka-Tuka-Land: Dort ist die Einsamkeit nicht vor, sondern hinter dem Fenster, in der hell erleuchteten Wohnung, zu finden, es ist jedoch eine wohlige, souveräne Einsamkeit.
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erzählen.« (ebd., S. 14) –, äußert sich sein Kummer nun in einem heftigen Gefühlsausbruch: Er wird so »böse, dass es in mir kochte […] schließlich schrie ich ihn an und sagte ihm so viele Gemeinheiten, wie mir nur einfielen« (ebd., S. 58). Er diskutiert mit Jonathan, warum es nicht jemand anders sein könne, und die Wut weicht schließlich einer resignierten Traurigkeit – »[u]nd glaubt mir, das Herz wollte mir brechen, so war mir zumute, als ich dort stand und mit ansehen musste, wie ihn der Nebel verschlang, wie Jonathan ausgelöscht wurde und verschwand. Und ich blieb allein zurück. Es war nicht zu ertragen.« (ebd., S. 59f.) Nicht zufällig erinnert diese Beschreibung an die Trauerphasen, wie sie Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat: Isolierung, Zorn, Verhandeln, Depression und schließlich Zustimmung. In der fantastischen Welt gelingt Krümel, wofür ihm in der Realität die Kraft und die Unterstützung fehlen: die Auseinandersetzung mit seinem eigenen nahenden Tod. Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins überwindet er in dem Moment, in dem er beschließt, ebenfalls aktiv zu werden, und Jonathan, den er im Traum in Gefahr gesehen hat, zu Hilfe zu eilen. Im selbstbestimmten Entschluss wird ihm die Einsamkeit zur grandiosen Begleiterin: »Denn hier gab es Steilhänge und Abgründe, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben« (ebd., S. 78). Sowohl Mio als auch Die Brüder Löwenherz lassen sich als eskapistische Fantasien verzweifelter Kinder lesen. Jens Andersen benennt als Thema Mios die Fähigkeit eines zutiefst einsamen, in sich gekehrten Kindes, allein durch seine Gedanken und die Kraft seiner Sehnsucht dem Kummer und Schmerz der Gegenwart zu entfliehen und sich eine Fantasiewelt zu erschaffen, in der das Kind Eltern, Brüder, Schwestern, Verwandte und Freunde hat, die es wahrnehmen und seine Existenz bestätigen können. (Andersen 2015, S. 250)
Diese eskapistische Funktion der Fantastik verteidigt auch Gerhard Haas, wenn er J. R. R. Tolkien zitiert, der sich gegen den »verächtlichen oder mitleidigen Ton« wendet, mit dem von Flucht gesprochen würde, denn Flucht sei im Leben vielfach etwas höchst Vernünftiges. Es gebe Zeiten und Situationen, »die den Wunsch erregen, zu flüchten, zwar nicht aus dem Leben, aber aus der Gegenwart, und dem selbstgeschaffenen Elend« (Haas 2006, S. 31). Sentimentale Trostfantasien oder bloße Abenteuerlust bedienen die beiden Romane aber mitnichten: Sie handeln von den großen Fragen des Lebens. Mio, so Edström, erzählt »vom schweren Auftrag des Lebens, von Angst, Kampf und Befreiung« (Edström 2004, S. 107). Löwenherz fragt im kindlichen Gewand nach den Bedingungen von Menschlichkeit. An der wohl meistzitiertesten Stelle des Romans fragt Krümel Jonathan, warum ausgerechnet er sich in Gefahr begeben müsse, wo er doch
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ebenso gut […] zu Hause am Feuer sitzen und es sich gut gehen lassen [könne]. Aber da antwortete mir Jonathan, es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn es gefährlich sei. »Aber warum bloß?«, fragte ich. »Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck.« (BL, S. 59)
Ähnlich einfach und prägnant wird der Konflikt zwischen Jonathan und dem Rebellenführer Orwar ausgestaltet, als Jonathan klarstellt, unter keinen Bedingungen töten zu können, nicht einmal, wenn es um sein eigenes Leben ginge: »›Wenn alle wären wie du‹, sagte Orwar, ›dann würde das Böse ja in alle Ewigkeit herrschen!‹ Aber da sagte ich: ›Wenn alle wären wie Jonathan, dann gäbe es nichts Böses.‹« (ebd., S. 213) Mit wenigen Worten in kindgerechter Sprache werden hier die Grundzüge einer pazifistischen Philosophie skizziert. Die Einsamkeit der Protagonist_innen bildet den Nährboden für diese Reflexionen: Sie zwingt die kindlichen Helden, sich mit diesen anthropologischen Grundfragen auseinanderzusetzen. Aleida und Jan Assmann sprechen von Vereinsamung als »typische[r] Entstehungsbedingung von Literatur, [als] ›poetogene[r] Situation‹ par excellence [:] Der Einsame greift zur Feder, um die Erfahrung der Einsamkeit zu verarbeiten« (Assmann/Assmann 2000, S. 13f.), in einer Art tun dies auch Bo und Krümel. Durch die Erfindung der Literatur wird die Einsamkeit nicht nur erträglich, sondern geradezu lustvoll und erstrebenswert; die beiden Autor_innen sprechen hier von einer »erfüllten Einsamkeit des inneren Dialogs« (ebd., S. 17). Beide Romane enden in der fantastischen Sekundärwelt, die Brüder Löwenherz befinden sich dann sogar in einer Tertiärwelt, Nangilima. In Mio erfolgt eine Rückbindung an die Realität, wenn Bo darüber nachdenkt, wie die Pflegeeltern wohl auf sein Verschwinden reagieren – »[w]enn sie überhaupt gemerkt haben, dass ich verschwunden bin« (MM, S. 204) – und er bekräftigt, dass er nicht etwa, wie zu Beginn der Erzählung, noch auf der Parkbank sitze, sondern im Land der Ferne sei. Gleichsam um sich selber zu überzeugen, wird dies noch einmal wiederholt: »Im Land der Ferne ist er, sage ich.« (ebd., S. 205, Kursivierung i. O.) Edström deutet dieses Ende als »totale[n] Triumph des Märchens, der gleichbedeutend ist mit dem der Dichtung, dem Triumph der Phantasie« (Edström 2004, S. 115). Die erfüllte Einsamkeit des inneren Dialogs wird der realen Isolation vorgezogen. Löwenherz endet mit dem Sprung der beiden Brüder nach Nangilima, und Krümels Überwindung seiner Angst – »ich habe Angst! Aber ich tue es trotzdem, Jonathan, ich tue es jetzt…jetzt… Und dann werde ich nie wieder Angst haben. Nie wieder Angst ha…« (BL, S. 237). Dieter Matthias zeichnet nach, dass dieser Sprung, als Anstiftung zum Selbstmord kritisiert, vielmehr einen lebensbejahenden Neuanfang darstellt (vgl. Matthias 1997, S. 42). Krümels Mut wird belohnt: »Oh Nangilima! Ja, Jonathan,
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ich sehe das Licht! Ich sehe das Licht!« (BL, S. 237) Mit seiner Entscheidung, sich (ebenso wie Bo/Mio) aktiv am Widerstand zu beteiligen, und schließlich mit seinem Sprung ins Ungewisse findet Krümel aus Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu Handlungsfähigkeit. Lindgren selber differenziert zwischen der kindlichen und der erwachsenen Lesart dieser Stelle: Vielleicht war es so, dass Krümel nach Jonathans Tod ins Reich der Fantasie fliehen und sich zum Trost alle Abenteuer ausdenken musste? Vielleicht stirbt er erst auf der allerletzten Seite des Buches und gar nicht in Nangijala, sondern daheim in seiner armseligen Küche? Aber wenn ich ein Kinderbuch lese, möchte ich lieber ein Kind sein, und deshalb ziehe ich es vor, meiner Erwachsenendeutung zu misstrauen. (zit. n. Schönfeldt 2002, S. 549)
Trost liegt jedoch auch in der erwachsenen Lesart, er ist aber nicht metaphysischer Natur, sondern metafiktiver und metapoetischer: Er liegt in der Macht des Wortes, der Fantasie, der Geschichte. Das zentrale Thema des Romans schließlich, wie es Edström auf den Punkt bringt, ist unabhängig von der Lesart: »Das Leben und die Humanität verlangen Opfer. Doch die Liebe und den Mut, die gibt es, vor allem vielleicht dann, wenn wir uns am schwächsten fühlen. Dieses Erlebnis teilen Kinder und Erwachsene.« (Edström 1997, S. 290)
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Didaktische Überlegungen
Kehrt man zu der Ausgangsfrage zurück, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Protagonist_innen in Lindgrens Romanen ihre Einsamkeit als wertvoll erleben, kristallisieren sich drei zentrale Punkte heraus: – Die Einsamkeit wird bewusst und selbstbestimmt gewählt. – In der Einsamkeit liegt transformative Kraft. Voraussetzung dafür ist, dass der/die Einsame über Handlungsfähigkeit und Gestaltungsspielraum verfügt. – Die Einsamkeit ist temporär und kann wieder verlassen werden. Jeder Mensch, und insbesondere jedes Kind, braucht stabile soziale Bindungen; fehlen diese, werden sie in einem Akt der Bewältigung imaginiert. In der Imagination wird letztlich auch die Handlungsfähigkeit (zurück-)gewonnen. Die Beschäftigung mit der Frage nach dem Wert der Einsamkeit erscheint mir in zweierlei Hinsicht überaus lohnenswert. Dabei soll nach Ulf Abrahams Modell von literarischem Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht unterschieden werden zwischen »Lernen über Literatur und Lernen an/durch Literatur.« (Abraham 2015, S. 7)
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Um Lernprozesse über Literatur zu initiieren, lässt sich zunächst nach der textfunktionalen Bedeutung von Einsamkeit fragen. Welche Rolle spielt die Einsamkeit innerhalb der Erzählung und für die Protagonist_innen? Nicht umsonst stellt Einsamkeit einen zentralen Bestandteil der Heldenreise dar, wie sie etwa Joseph Campbell (1953) beschrieben hat. Von Odysseus bis Harry Potter: Bewähren muss sich der Held oder die Heldin letztendlich alleine. Darüber hinaus befriedigen Erzählungen über Einsamkeit offenbar auch kindliche Lesebedürfnisse, wovon etwa die ungebrochene Beliebtheit der Robinsonade zeugt. Freiheit und Geborgenheit stellen nicht nur die Grundpfeiler von Lindgrens Werk dar, sondern lassen sich im weiteren Kanon kinderliterarischer Klassiker nachzeichnen. Überdies schärft die Reflexion des Symbolcharakters der einsamen Handlungsorte wie etwa Wald, Höhle oder Dunkelheit das Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit literarischer Sprache. Literatur ermöglicht jedoch auch Lernprozesse durch Literatur, die über literaturtheoretische Fragestellungen hinausgehen und zur Persönlichkeitsbildung beitragen. Matthis Kepser und Ulf Abraham systematisieren diese als »Individuation, Sozialisation und Enkulturation« (Kepser/Abraham 2016, S. 26), Sabine Anselm betont überdies die Rolle der Literatur zur Entwicklung einer Wertreflexionskompetenz: »Menschen reifen durch Lektüre – nicht nur weil sie damit Anteil nehmen am kulturellen Reichtum in Vergangenheit und Gegenwart, sondern weil Literatur dabei hilft, über sich selbst nachzudenken« (Anselm 2012, S. 412). Diese Selbstreflexion umfasst nicht nur den Wert der Einsamkeit, sondern noch viel elementarer ihre Wahrnehmung. Auch Kinder machen selbstverständlich tiefgreifende und schmerzhafte Einsamkeitserfahrungen. Es steht jedoch zu vermuten, dass diese in einem zunehmend medialisierten Alltag nicht immer als solche wahrgenommen werden. Caroline Bohn macht bereits 2008 darauf aufmerksam, dass Einsamkeit »nicht selten für das betroffene Subjekt selbst zunächst unsichtbar« (Bohn 2008, S. 16) bleibt: »Denn Einsamkeit maskiert sich« (ebd.). Durch die immer häufigere Nutzung sozialer Medien entsteht auch eine Kommunikationsillusion, die Sherry Turkle, Psychologin am Massachusetts Institute of Technology in ihrem TED Vortrag »Verbunden und doch allein?« als »new way of being alone together« (Turkle 2012, Minute 04:12) bezeichnet. Diese Kommunikationsillusion gefährde, so Turkle, die Kapazität für Selbstreflexion, die die Grundlage für kindliche und adoleszente Entwicklung bilde (vgl. ebd., Minute 08:36). Dieses zunächst paradox anmutende Phänomen lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Ohne die Wahrnehmung der eigenen Einsamkeit mit all ihren auch schmerzhaften Facetten können ihre Früchte, die da bestehen in Selbsterkenntnis und Selbstbildung, nicht geerntet werden. Die erfüllte Einsamkeit des inneren Dialogs muss bewusst gesucht werden in einer Zeit, die Kindern und Jugendlichen mit ihren schier unendlichen Partizipati-
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onsangeboten kaum Freiräume dafür lässt. Literatur kann dafür sensibilisieren und damit einen unschätzbaren Dienst erweisen.
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Florian Bär
Krabat von Otfried Preußler als Klassiker der Werteerziehung und die ethischen Bildungspotenziale von Literatur
Was macht Krabat zum ›Klassiker‹? – Zur Frage der Textauswahl Der 1971 erstmals veröffentlichte Roman Krabat von Otfried Preußler gilt heute als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur und ist auch noch mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen fester Bestandteil des (heimlichen) Lektürekanons der Sekundarstufe I in nahezu allen Schularten. Was macht also die Adaption eines sorbischen Sagenstoffs um den kroatischen Obristen Johann Schadowitz, der im beginnenden 18. Jahrhundert dem sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. in den Türkenkriegen zur Seite stand (vgl. Schmidt 2008, S. 38ff.), zu einem Standardwerk im Unterricht? Die Frage nach der besonderen Eignung berührt immer auch die nach den Werten, die durch eine Erzählung thematisiert werden oder im Rahmen einer unterrichtlichen Didaktisierung daran anschlussfähig sind. Mit Blick auf allgemeine Bildungspotenziale von Literatur gilt es darzustellen, auf welchen Ebenen Wertfragen in und durch Literatur verhandelt werden und welche Konsequenzen sich daraus für den Literaturunterricht ergeben. Dabei sollen zunächst die in Krabat auf der Textebene thematisierten Werte herausgearbeitet werden, bevor aus didaktischer Perspektive die Frage nach der Relevanz der Inhalte und deren Darstellungsweise diskutiert wird. Im Mittelpunkt stehen dabei die Chancen, aber auch Herausforderungen, die Literatur als Medium ethischer Bildung bereithält. Schlussendlich muss der gesellschaftliche Rahmen Beachtung finden, da ethische Bildung in der Schule maßgeblich von den Wert- und Moralvorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft, aus der er hervorgeht, beeinflusst wird (vgl. Bär, 2019, S.265ff.). Wenn man von der Bedeutung des Wortes ›klassisch‹ ausgeht, wird der Begriff im Sinne eines ästhetischen bzw. allgemein wertenden Terminus auf ein erstrangiges, mustergültiges, überragendes, grundlegend-überzeitliches Werk mit kanonischer Geltung für nachfolgende Dichter_innen- und Künstler_innengenerationen angewandt (vgl. Schweikle 2008, S. 429f.). Beziehen sich die ersten Attribute zumeist auf dessen ästhetischen Wert, so ist die Überzeitlichkeit auch
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im Inhalt zu suchen und hier vor allem in den ethisch-moralischen Perspektiven, welche der Roman Krabat eröffnet. Wenn sich die in Otfried Preußlers Jugendbuch verhandelten ethischen Werte also als klassisch und somit als überzeitlich begreifen lassen, wird der Blick auch auf die didaktische Frage gelenkt, inwiefern der Text eine Schnittmenge zwischen den gegenwärtigen Interessen und textspezifischen Fähigkeiten der Schüler_innen und einem allgemeingültigen Bildungsanspruch im Hinblick auf dessen moralische Aussagekraft aufweist (vgl. Mathiessen 2012, S. 131). Für den Einsatz eines Romans im Unterricht sind demnach fachliche, bildungstheoretische und gesellschaftliche Kriterien anzulegen (vgl. Anselm 2017, S. 13). Denn nicht nur die Behandlung von Texten im Unterricht, sondern auch gesellschaftliche Tendenzen und Meinungen beeinflussen die Einschätzung darüber, welche Literatur als lesenswert gilt. Als überzeitliche, klassische Literatur wird folglich insbesondere das anerkannt, was eine Kulturgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit als wertvoll erachtet. Aus bildungstheoretischer Sicht spricht für eine aus dem Blickwinkel der Werteerziehung motivierte Auswahl des Romans Krabat, dass die verhandelten Wertfragen nach wie vor einen Geltungsanspruch in Gegenwart und Zukunft besitzen sowie tragenden moralischen Perspektiven exemplarische Bedeutsamkeit zukommt. Diese Relevanz erwächst aus den aufgegriffenen Themen des Romans, indem auf grundlegende Fragen des Menschseins rekurriert wird und Bereiche ergänzt werden, die insbesondere in der Phase des Erwachsenwerdens besonders im Fokus stehen. Ethisch bedeutsame Aspekte, die hierbei angeführt werden können, sind beispielsweise die Frage nach den Mechanismen der Macht und Verführung durch andere Menschen sowie der Verantwortung, welche aus zunehmendem Einfluss erwächst. Daneben werden weitere existentielle anthropologische Fragen über Leben und Tod, Freundschaft und Liebe, den Einfluss von Religion und den Prozess der Identitätsfindung aufgeworfen (vgl. Lange/Hipp 2008, S. 130). Dass der Roman darüber hinaus zeitdiagnostisches Potenzial und hohe Aktualität im Lebensweltbezug Heranwachsender beinhaltet, lässt sich darauf zurückführen, dass neben der Verhandlung elementarer moralischer Herausforderungen ein allegorischer Darstellungsmodus gewählt wird, der den im 18. Jahrhundert zeitlich verankerten plot in Bezug auf sein ethisches Potenzial enthistorisiert und somit auch aktuell noch relevant erscheinen lässt. Dieses zeitdiagnostische Potenzial erhält Krabat, indem Konflikte durchgespielt werden, die aufgrund ihrer Form an eine Vielzahl gegenwärtiger Themen anschlussfähig sind. Dennoch lässt sich eine historische Bedingtheit aus Zusammenhängen der Textproduktion und -rezeption ableiten: So kann Krabat als Warnung vor den Verführungen der Macht und der Gefahr, die von autoritären Systemen ausgeht, aufgrund des Entstehungsdatums und der Äußerungen Otfried Preußlers im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Diktatur ge-
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deutet werden. Eine solche Leseweise legt Preußler selbst zumindest nahe, wenn er Krabat eine »Geschichte meiner Generation«1 nennt. Auf gesellschaftlicher Ebene sprechen für die als ›klassisch‹ zu bezeichnende Bedeutung des Romans dessen breite Rezeption und die positive Resonanz der Literaturkritik. So wurde Krabat u. a. mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und im Jahr 2008 von Marco Kreuzpaintner verfilmt. Nicht zuletzt die interkulturellen (Preußler greift einen Sagenstoff der Sorben auf) wie auch die intertextuellen Bezüge (z. B. nimmt der sorbische Schriftsteller Jurij Breˇzan das Sujet ebenfalls auf) weisen auf die Relevanz hin, die der Roman im deutschen Sprachraum seit mittlerweile mehr als 40 Jahren besitzt. Zahlreiche Beiträge in der Sekundärliteratur und die Besprechung des Romans als Standardwerk im Deutschunterricht vieler Bundesländer zeugen schließlich davon, dass Krabat auch im Fachdiskurs eine hohe Beachtung zukommt.2
Zur Herausforderung der Werteerziehung durch Erzählungen im Literaturunterricht Die Frage nach ethischen Bildungspotenzialen literarischer Texte erfordert eine umfassende Betrachtungsweise und lässt die Diskussion auf einer literaturwissenschaftlich-analytischen, didaktisch-pädagogischen und einer gesellschaftlichen Diskursebene nötig erscheinen. Denn auch der normative Rahmen, was lesenswert ist bzw. wie und was Literatur im Rahmen schulischer Unterrichtspraxis erzählen darf, wirkt auf die Handlungsmöglichkeiten im Literaturunterricht zurück. Diese drei Aspekte müssen durch den Ansatz einer narrativen Ethik mit ihrer jeweils spezifischen Perspektive auf den Wertgehalt von Erzählungen zunächst erklärt und beschrieben werden, wenn sich ein begründetes didaktisches Handeln an die aufgeworfenen moralischen Fragen eines Textes anschließen soll (vgl. Bär 2019, S. 161ff.). Ethische Bildungspotenziale des Romans Krabat lassen sich dann umfassend beschreiben, wenn ausgehend von einer Wert- und Normanalyse des Textes Wertgehalte auf verschiedenen Ebenen zunächst dargestellt werden, deren Erkennen und Benennung als Voraussetzung eine reflektierte und wertebildende Auseinandersetzung über moralische Fragen in Texten überhaupt erst möglich machen. Deshalb ist eine Wert- und Normanalyse sowie eine Analyse des ethi1 http://www.preussler.de/krabat/zur-entstehung/ [27. 11. 2020]. 2 Krabat wird beispielsweise in Hessen (6. Jahrgangsstufe Gymnasium) und in Baden-Württemberg (Jahrgangsstufe 6 und 7 aller Schularten) als Lektüre für den Deutschunterricht ausdrücklich empfohlen. Vgl. hierzu https://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/spra chen-und-literatur/deutsch/unterrichtseinheiten/prosa/jugendbuch-unterstufe/preussler-kra bat [27. 11. 2020].
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schen Bildungspotenzials von literarischen Texten im Allgemeinen grundlegende Voraussetzung der Textauswahl. Hierbei ist in Bezug auf eine narrative Ethik herauszustellen, dass die Verhandlung von Normen und Werten in epischen Texten zuvörderst ästhetischen Zwecken dient. Dies schließt zwar nicht aus, dass auch moralisch wertende Aussagen intendiert sind. Spätestens auf der Ebene der Vermittlung unterliegen epische Texte aber immer grundlegenden Bedingungen literarischer Darstellungsmöglichkeiten, die es stets mit zu reflektieren gilt. So ist beispielsweise die Handlung eines Romans ohne die Auseinandersetzung eines Helden mit dem (moralisch) Anderen, dem Bösen oder Unbekannten kaum denkbar. Auch Krabat ist geradezu prototypisch angelegt, indem in der Geschichte ein Handlungsschema vollzogen wird, welches die Auseinandersetzung einer moralisch positiv mit einer moralisch negativ konnotierten Figur beschreibt. Der Aushandlung von Wertfragen kommt also in Krabat unter ästhetischen Gesichtspunkten zunächst handlungstragende Funktion zu, auch wenn sich die ethischmoralischen Implikationen im Rezeptionsprozess schwer ausblenden lassen (vgl. Hickethier 2008, S. 232f.). Eine weitere Herausforderung im Gebrauch narrativer Texte in Bezug auf deren Wertbotschaften ist, dass sie sich selten auf eine klar formulierbare moralische Aussage reduzieren lassen. Vielmehr stellt Literatur Menschen in komplexen moralischen Konfliktsituationen dar, aus denen sich keine einfachen Handlungsanweisungen ableiten lassen. Dabei stehen die in Narrationen aufgeworfenen moralischen Fragestellungen nicht selten unvermittelt nebeneinander oder widersprechen sich auf den unterschiedlichen Ebenen des Erzählens, werden in ihrer Aussage polyvalent oder bleiben deutungsoffen (vgl. Spinner 2004, S. 97 und Anselm 2012, S. 23). Hierdurch gewinnen literarische Texte an Komplexität und entziehen sich simplifizierender moralischer Schlussfolgerungen. Das Wahrgenommene wird ferner nicht nur textseitig, sondern insbesondere leser_innenseitig einer moralischen Prüfung unterzogen und die Moral des literarischen Textes in einem aktiven hermeneutischen Verfahren maßgeblich hinzu konstruiert. Literatur bildet also die Vielschichtigkeit der Lebenswelt ab und hält keine einfachen Lösungen für komplexe moralische Fragestellungen bereit. In diesen aus einer ethischen Mehrdeutigkeit hervorgerufenen Irritationen, Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten liegt gerade der Wert von Literatur im Vergleich zu rationalen Verfahren der Welterkundung und Kohärenzbildung: Denn insbesondere durch die Rezeption erzählender Texte werden produktive Irritationen hervorgerufen, die einen Reflexionsprozess über ethische Werte und moralische Normen begleiten (vgl. Spinner 2004, S. 96). Neben der ästhetischen Gebundenheit und der Uneindeutigkeit literarischer Texte besteht eine dritte Problematik, die eine rezeptionsästhetische Betrachtungsweise nahelegt. Werte werden demnach als ko-konstruktive Leistungen der/
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des Einzelnen beschrieben. Sie werden in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt herausgebildet und sind als »Ergebnis vorangegangener Erfahrungen« oder als »Folge von Lernprozessen der Sozialisation, Personalisation und Enkulturation« zu verstehen (Wiater 2010, S. 7). Durch die Verhandlung von Werten auf den verschiedenen Erzählebenen des discours und der histoire, welche auf komplexe Weise mit den persönlichen Erfahrungen der Rezipient_innen korrespondieren, ist es dieser Theorie folgend keineswegs vorhersehbar, welche individuellen ethischen Reflexionen an das Gelesene anschließen. Die Textwirkung ist in hoher Weise bestimmt von der Attraktivität, die bestimmte in der Lektüre dargestellte Handlungen und Werteinstellungen auf den Leser bzw. die Leserin haben. Vor diesem Hintergrund ist es eine genuine Aufgabe der Deutschdidaktik, die Frage nach einer Ausrichtung wertorientierten Handelns im Literaturunterricht zu beantworten und Modelle zu entwickeln, auf deren Basis die individuellen Vorstellungen der Schüler_innen mit den in der Literatur thematisierten ethischen Werten verbunden werden können. Dabei überformt die didaktische Herangehensweise an einen Text, die an einem bestimmten Bildungsideal ausgerichtet ist, die in Erzählungen verhandelten Orientierungen und stellt den literarischen Gegenstand damit in neue Kontexte, indem bestimmte Inhalte überbetont, andere ausgespart und wieder andere so inszeniert werden, dass bestimmte Bildungsziele erreicht werden. Literatur wird also in »Gebrauchszusammenhänge« (Anselm 2017, S. 9) gestellt, indem die Literaturdidaktik eigene Normen über die Wertaussagen des Textes bereithält. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ist dabei einschränkend anzumerken, dass eine wie auch immer vorausgedachte Textwirkung von planbaren Erfahrungen ausgehen muss, die hinsichtlich der ästhetischen wie ethischen Wirkung von Literatur aufgrund der Vielzahl an vor allem auch affektiven Wirkfaktoren auf Seiten der Leser_innen nicht verlässlich prognostiziert werden können. Ferner sind neben den textseitigen Bedingungen in Bezug auf einen ästhetischen wie ethischen Wertegehalt von Erzählungen die leser_innenseitigen Fähigkeiten der Schüler_innen einer bestimmten Altersstufe zu reflektieren. Nicht zuletzt findet auf einer gesamtgesellschaftlich-kulturellen Ebene eine Beeinflussung der literaturwissenschaftlich-analytischen Betrachtungsweise sowie eine Didaktisierung der Inhalte dahingehend statt, dass ein in Bezug auf Schule normativ geführter Diskurs der Einflussnahme von Kunst- und Kulturbetrieb, Wissenschaft und Bildungspolitik unterliegt. Die Schule als Ort des Aufeinandertreffens divergierender Wertvorstellungen bildet in der Folge die Pluralität der Überzeugungen verschiedener Interessensgruppen in unterschiedlich großem Maße ab. Dabei wird der Einsatz bestimmter Literatur im Deutschunterricht vornehmlich vor dem Hintergrund diskutiert, mit welchen Inhalten und Darstellungsweisen die Schüler_innen zur Erreichung bestimmter
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Erziehungsziele konfrontiert werden sollten und inwiefern diese aus ethischer Sicht zumutbar sind bzw. überfordern könnten. Auch hieraus leiten sich wiederum didaktische Konsequenzen ab, da aus dieser gesellschaftlichen Kontrolle eine Begründungspflicht resultiert, welche aus ethischen wie ästhetischen Zielsetzungen heraus mit einer bestimmten Lektürewahl verknüpft ist. Die dargestellten Werteaspekte auf den unterschiedlichen Ebenen, die das unterrichtliche Handeln im Literaturunterricht maßgeblich beeinflussen, gilt es im Folgenden anhand des Romans Krabat zu veranschaulichen, um deren ethische Relevanz und Aktualität für einen Einsatz im Literaturunterricht exemplarisch herauszustellen.
Literaturwissenschaftlich-analytische Ebene: Werteaspekte in Krabat Um die Art und Weise der Vermittlung ethisch relevanter Aspekte und einer narrativ vermittelten Moral zu bestimmen, ist es notwendig, den Text Krabat zunächst einer Wertanalyse zu unterziehen. Diese orientiert sich an literaturwissenschaftlichen Verfahren und dient dazu, Werteaspekte des Romans auf unterschiedlichen Erzählebenen offenzulegen. Auch wenn dabei grundsätzlich auf sämtlichen Ebenen ethische Implikationen hinterfragbar sind, können auf der Darstellungsebene des discours (Wie wird erzählt?) exemplarisch der Modus und die Stimme als die die Erzählinstanz bestimmenden narrativen Verfahren herausgegriffen werden. Auf der Inhaltsebene, der histoire (Was wird erzählt?), werden die Erzähldimensionen Handlung und (Haupt-) Figuren einer Betrachtung unterzogen. Die Auswahl wird vor dem Hintergrund getroffen, dass zumindest in konventionellen Erzählungen vor allem über die genannten Erzählinstanzen moralische Werte und Normen am deutlichsten ausgedrückt werden und sie auch mit Blick auf eine Didaktisierung der Lektüre am ehesten dazu dienen können, Werteaspekte eines literarischen Textes im Deutschunterricht aufzuzeigen.
a)
Die Ebene der Darstellung – Wie in Krabat von Werten erzählt wird?
Die Geschichte des Jungen Krabat wird überwiegend im narrativen Modus dargestellt, in dem ein deutlich wahrnehmbarer Erzähler die Handlung vermittelt und eine textimmanent wahrheitsgemäße Darstellung der Ereignisse garantiert. Ironische Brechungen oder die Einnahme eines distanzierten und damit kritischen Verhältnisses zum Geschehen und zur Hauptfigur sind innerhalb des Textes nicht
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erkennbar. Vielmehr übernimmt die erzählende Instanz als Point of View die Sichtweise der Hauptfigur Krabat weitgehend und erzählt aus dessen Gedankenwelt. Auch wenn die Erzählinstanz überwiegend nur das preisgibt, was der Protagonist wahrnimmt, denkt und weiß, dominiert im Roman der Modus der Nullfokalisierung; diese wird allerdings häufig durch eine interne Fokalisierung in Form der Wahrnehmungsperspektive Krabats abgelöst. Dies hat eine starke Identifikation mit der Hauptfigur zur Folge, da der Erzähler Krabats wertende Einstellungen gegenüber dem Müller und den weiteren Gesellen vollständig übernimmt. So bezeichnet der Erzähler beispielsweise den Gesellen Tonda analog zur Wahrnehmung Krabats als Freund, der Geselle Lyschko hingegen, der die anderen Gesellen im Auftrag des Müllers ausspioniert, wird durch den Erzähler bereits in seinem äußeren Erscheinungsbild als wenig vorteilhaft porträtiert, indem er als »zaundürrer, langer Bursche mit spitzer Nase und scheelem Blick« (Krabat, S. 24) beschrieben wird. Darüber hinaus wird auch dessen Charakter durch den Erzähler durchweg mit negativen Attributen wie »Schnüffler« oder »Ohrenspitzer« (ebd.) belegt. Aus diesen Beobachtungen lässt sich ableiten, dass ein »moralischer Pakt« (Mieth 2007, S. 222) zwischen Hauptfigur und Erzähler existiert, der in der Konsequenz wenig Raum für Wertreflexionen in Bezug auf Krabats Handeln zulässt und nicht hinterfragt, inwieweit dessen Verhalten ebenfalls unmoralische Züge aufweist. Ethisch fragwürdiges Agieren könnte man zumindest in einigen der Exkurs- oder Streichgeschichten erkennen, in denen ein Händler betrogen oder Soldaten, die sich auf der Mühle verirren, ein derber Streich gespielt wird, ohne dass dies einer kritischen Bewertung unterzogen würde. Im Gegenteil: Die Boshaftigkeit der Streiche wird dadurch abgeschwächt, dass der Erzähler die geschädigten Figuren in einer Weise zeichnet, die möglichst wenig Mitleid mit eben diesen evoziert. Der »Ochsenblaschke von Kamenz« wird zum Beispiel als der »gerissenste aller Viehhändler weit und breit« (Krabat, S. 76) dargestellt, der selbst vorhat, die beiden Gesellen Krabat und Andrusch zu übervorteilen, sodass der Eindruck aufkommen könnte, dass ihm hier eine gerechte Strafe widerfahren sei. Ähnlich verhält es sich in der Streichgeschichte Feldmusik, in welcher der Müller und die Gesellen einem Trupp Soldaten Ungenießbares in scheinbare Köstlichkeiten verzaubern, welche diese anschließend gierig verspeisen. An späterer Stelle werden sie weiteren Zaubern der Gesellen ausgesetzt und schlussendlich sogar vor ihren Vorgesetzen lächerlich gemacht. Auch hier findet durch die Fokalisierung eine Figurenzeichnung statt, welche die Soldaten von Beginn an als sehr unfreundliche, rücksichtlose Personen erscheinen lässt (vgl. Krabat, S. 82ff.). Die Erzählstimme in Krabat folgt dem gleichen Muster wie der Erzählmodus: Durch den Ort des Erzählens und die Stellung des Erzählers zum Geschehen wird der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler eng an Krabats Erlebnisse und dessen Wahrnehmung vom Geschehen auf der Mühle gebunden. Explizite Er-
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zählkommentare sind selten und verstärken bei Auftreten die Sicht Krabats, dessen moralische Einstellungen in jeder Phase übernommen werden (z. B. auch während einer Phase der Faszination für die schwarze Magie). So kann die Identitätsfindung und eine damit einhergehende moralische Reifung des jungen Müllerburschen zu jedem Zeitpunkt nacherlebt werden.
b)
Die Ebene des Inhalts – Von welchen Werten wird in Krabat erzählt?
Auf der Inhaltsebene lassen sich Wertkonflikte des Textes durch eine Analyse von Handlung und diegetischem Raum offenlegen. Im Rahmen der Handlung können Wertvorstellungen durch die Betrachtung zentraler Komplikationen einer Figur beschrieben werden, die sich in Form eines Mangels an einem als wertvoll empfundenen Gut oder einer Schädigung offenbaren. Ferner ist in eine Wertanalyse ebenfalls miteinzubeziehen, wie eine Komplikation aufgelöst wird, da der Ausgang einer Episode bzw. der Handlung Hinweise auf die Wertung des (Gesamt-)Geschehens geben kann. In Krabat sind mehrere Komplikationen in Form von Schädigungen und Mängeln grundlegend für den Handlungsfortschritt, die in ihrer Summe jedoch übersichtlich bleiben und hierarchisierbar sind. Der Mangel an ›Heimat‹ bzw. die Schädigung ›Verlust der Eltern‹ wird beseitigt, indem Krabat in der Mühle in Form des Müllers und der Gesellen eine Art Ersatzfamilie und neue Heimat findet. Daneben erwacht in Krabat zunehmend ein Streben nach Macht und Geltung, welches er durch das Erlernen der Zauberei zunächst befriedigt sieht. Weiterhin leidet Krabat an einem Mangel an Möglichkeiten der freien Entfaltung seines Willens bzw. der Ausbildung einer autonomen Identität. Dieses Defizit wird durch den Sieg über den Müller behoben und hat einen sich im Laufe des Romans vollziehenden Wertewandel bei Krabat als Voraussetzung. Das neue Wertegefüge des Gesellen lässt sich daran festmachen, dass er die Liebe zu einem Mädchen über die Möglichkeit einer ultimativen Machterlangung stellt und sich hierdurch als moralisch handelndes Individuum beweist. Auf einer Metaebene bestätigt die Handlung bestehende Wert- und Normvorstellungen und ist damit restitutiv, d. h. die durch Krabat vollzogene räumliche und moralische Grenzüberschreitung, symbolisiert durch seinen Aufenthalt am magischen Ort der Mühle, wird durch den Ausgang der Handlung wieder aufgehoben. Denn er gibt seine Zaubermächte letztlich bereitwillig auf und wird durch diesen Verzicht in die traditionellen Werten folgende Gemeinschaft des Dorfes aufgenommen. Damit trifft der Roman auf der Handlungsebene die Wertaussage, dass die christlich-bürgerliche Ordnung das tragfähigere, erfolgreichere Modell im Gegensatz zur neuartigen magisch-okkulten Welt des Müllers darstellt und darüber bestehende moralische Normen affirmiert.
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Das soziale System ›Mühle‹ ist durch ein strenges Ordnungs- und Machtgefüge gekennzeichnet, welches keine Übertretungen duldet. Der Sinn dieses Normensystems bleibt weitgehend unhinterfragt. Sämtliche Rituale und zu vollziehende Arbeiten dienen scheinbar einem Selbstzweck, zumindest werden den Müllerburschen und auch den Leser_innen erklärende Informationen vorenthalten. Hierdurch wird die Funktionsweise eines negativ konnotierten Machtsystems offenbar, welches sich durch Überlegenheit, Machtkonzentration, der Schaffung einer Angstatmosphäre sowie Kontrolle und Täuschung seitens des Müllers charakterisieren lässt und durch die ausführliche Beschreibung seiner Funktionsweise und dessen Scheitern dekonstruiert wird (vgl. Busch 2008, S. 88ff.). Des Weiteren wird der Metaphysik und damit verbunden dem Ritus im Roman ein hoher Wert zugesprochen. Denn unabhängig von den okkulten Praktiken auf der Mühle oder dem im Christlichen verhafteten Leben im Dorf bestimmt die Orientierung an höheren Mächten und ein sich daraus ableitender Jahreslauf das Leben aller handelnden Figuren. Ein außerweltliches, göttliches Prinzip wird nicht hinterfragt und ist ein grundlegendes Merkmal der erzählten Welt in Krabat. Neben all den anderen wertrelevanten Ebenen werden vor allem durch die narrative Instanz der Figur Werte greifbar, Veränderungen bestimmter Überzeugungen beschreibbar und Haltungen verstehbar. Prozesse des Wertewandels lassen sich beim Protagonisten Krabat als Verschiebung seiner individuellen Wertehierarchie sowie eines höheren Grades seiner moralischen Reflexionsfähigkeit feststellen. Ein erster Wertewandel vollzieht sich zu Beginn, als der junge Krabat sein ungebundenes Leben in völliger Freiheit aufgibt. Schließlich ist er als Jugendlicher durch den Tod seiner Eltern an keinerlei erzieherische Instanz mehr gebunden. Ohne dass Beweggründe seines Handelns näher erläutert würden, begibt er sich, nachdem er durch den Müller im Traum gerufen wurde, bereitwillig zur Mühle und unterwirft sich dem strengen, dort herrschenden Regel- und Normenkatalog. Werte und Normen werden damit zunächst als hohes Gut markiert, da sie ein geordnetes, in eine soziale Gemeinschaft eingebundenes Leben ermöglichen. Der neue Wert lässt sich dabei von einer Abkehr der Möglichkeit des entgrenzten Handelns hin zur Akzeptanz von Unterordnung und Gehorsam beschreiben, da Krabat aufgrund seiner unbefriedigenden sozialen Situation als Bettlerjunge das Dasein in der Mühle offensichtlich attraktiver erscheint. Damit verbunden lernt er Manipulationsmöglichkeiten in Form der Schwarzen Kunst als wertvolle Instrumente kennen, um Menschen zu beherrschen, zu beeinflussen und zu unterwerfen. Deutlich wird die Attraktivität der Machtausübung für Krabat insbesondere durch die Episodengeschichten, die nicht unmittelbar dem Handlungsfortschritt dienen, sondern denen primär die Funktion zukommt, die
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Schwarze Kunst als Herrschaftsinstrument herauszustellen.3 Ein weiterer Wertewandel, der sich in Krabat vollzieht, ist eng an die Helferfigur der Kantorka geknüpft, durch die Krabat die moralische Einsicht erlangt, dass die Liebe zu einer anderen Person einen höheren Wert darstellen kann als Egozentrismus, gepaart mit der Möglichkeit scheinbar grenzenloser Machtausübung. Erst in Folge dieser Erkenntnis wendet sich Krabat vom Müller ab. Durch diese Einsicht wird gleichzeitig ein auf sich selbst bezogenes und heteronomes Werturteil zugunsten einer sozial orientierten, autonomen Moralvorstellung überwunden und als neue Stufe einer Werturteilsfähigkeit konstruiert. Durch diese Einsicht strebt Krabat schließlich eine Existenz in einer gemäßigten Regeln unterworfenen Gemeinschaft an.
Didaktisch-pädagogische Ebene: Zum Umgang mit den verhandelten Wertfragen im Literaturunterricht Auch wenn bereits eine Wert- und Normanalyse nicht frei ist von subjektiven Interpretationsmustern und Deutungen, ist es das Ziel dieses Vorgehens, Konflikte, Einstellungen und Werturteile auf deskriptiver Ebene zunächst zu benennen. Ein unmittelbarer Bildungs- und Erziehungsauftrag wird erst durch den Eingang des Romans Krabat in den Deutschunterricht abgeleitet, wenn mit dessen Behandlung bestimmte Zielvorstellungen verbunden werden. Neben einem Primat der ästhetischen Bildung ist es dabei auch häufig als Absicht im Literaturunterricht angelegt, in der Auseinandersetzung mit erzählenden Texten auf den Wertebildungsprozess der Schüler_innen Einfluss zu nehmen. Dies kann grundsätzlich im Spannungsfeld eines neokonservativen Ansatzes durch eine instruktiv ausgerichtete Wertevermittlung oder einer liberalen Erziehungstheorie folgend in Form eines analytischen, diskursorientierten bzw. progressiven Ansatzes geschehen. Daneben wären weiterhin libertinäre Erziehungsmodelle zu nennen, die jedwede Form von Beeinflussung auf die Werte von Schüler_innen grundsätzlich ablehnen. Auch der literaturdidaktische Wertediskurs darüber, welche Rolle der Literaturunterricht als Beitrag zur ethischen Bildung der Schüler_innen einnehmen soll, bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Im Mittelpunkt der diskutierten Unterrichtskonzepte stehen dabei einerseits Ideen eines materialen Ansatzes und der damit einhergehenden Festlegung inhaltlicher Ziele sowie andererseits 3 Episodengeschichten sind beispielsweise die Streichgeschichten über den wirtschaftlich potenten Ochsenblaschke aus Kamenz, über das militärische Regiment, welches in der Mühle einkehrt, oder das Kapitel Vivat Augustus, in dem der Müller den Kurfürsten erfolgreich überredet, Krieg zu führen.
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die Umsetzung einer formalen Ausrichtung, welche die Ausbildung einer Wertreflexionskompetenz zum Ziel haben. Dabei ist die Förderung dieser Kompetenz im Umgang mit literarischen Texten – insbesondere im Rahmen von Textbegegnungen in der Sekundarstufe – vorrangig zu beachten. Dies liegt darin begründet, dass gerade Literatur durch eine moralische Uneindeutigkeit charakterisiert ist und sich materiale Wertaussagen aus Erzählungen deshalb nicht zwangsläufig ableiten lassen. Zudem werden in pluralen Gesellschaften Fähigkeiten benötigt, unterschiedliche Wertvorstellungen ordnen, bewerten und auch hinterfragen zu können. Denn jenseits der durch die Verfassung und rechtliche Grundordnung vorgegebenen Normen besitzen eine Vielzahl an Werten gleichermaßen Gültigkeit und stehen zunächst gleichberechtigt nebeneinander. Ein (Deutsch-)Unterricht, der kompetenzfördernd in die Wertebildung der Schüler_innen eingreift, bietet vor allem Arrangements, welche die Heranwachsenden dazu befähigen, ethische Argumentationen und moralische Haltungen in Texten zunehmend umfassender zu erkennen und daraus für sich selbst Orientierung gebende Maßstäbe abzuleiten. Durch die Auseinandersetzung mit den erkannten Wertorientierungen im Text werden eigene Werthaltungen kritisch überprüft, um zu zunehmend begründeten und selbstbestimmten Werturteilen in einer pluralen Gesellschaft zu gelangen. Wertreflexionskompetenz als »Grundprinzip schulischer Werteerziehung« (Anselm 2012, S. 410) kann hier als für den Literaturunterricht bestimmbare Teilfähigkeit einer umfassenden ethischen Bildung betrachtet werden, die sowohl die orientierende als auch ideologisierende Funktion von Werten berücksichtigt. Sie ist außerdem an einen Bildungsbegriff anschlussfähig, der ethische Bildung als Ausbildung moralischer Haltungen begreift, die ein kohärentes Welt-, Selbst- und Fremdverstehen zum Ziel hat sowie den Willen ausbildet, die Welt nach ethischen Maßstäben mitzugestalten (vgl. Wiater 2010, S. 11). Ein in diesem Verständnis verwendeter Kompetenzbegriff ist folglich kein eine messbare Leistung beschreibender Terminus, sondern einer, durch dessen Verwendung eine Grundlage dafür geschaffen werden soll, einen vor allem in ethischer Hinsicht stets unscharf bleibenden utopischen Bildungsbegriff für schulisches Handeln übersetzbar zu machen.4 Ein auf Werte bezogenes Kompetenzverständnis, welches in Auseinandersetzung mit literarischen Texten gefördert werden soll, ist also als anthropologische Grundfähigkeit zu verstehen, durch die das Individuum befähigt wird, sich in angemessener Weise mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Die zu entwickelnde ästhetische Kompetenz stellt hierfür ein wichtiges Werkzeug dar. Eine solche Kompetenz schließt dabei auch nicht messbare Fähigkeiten, wie z. B. die Leistung, sich affektiv und imaginativ auf Literatur einzulassen, mit ein,
4 Zur Utopie des Bildungsbegriffes vgl. Müller-Michaels (2009), S. 34.
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wenn man davon ausgeht, dass Prozesse der Wertebildung in hohem Maße von Emotionen beeinflusst sind (vgl. Abraham/Kepser 2016, S. 70f. sowie S. 76). Eine literar-ethische Wertreflexionskompetenz ist unmittelbar anschlussfähig an eine literar-ästhetische Kompetenzmodellierung, so wie sie beispielhaft von Irene Pieper (2014) durch den Referenzrahmen Literatur für Lehrkräfte der Sekundarstufen (LIFT-2) als ein europaweit angelegtes Rahmenmodell des Kompetenzerwerbs formuliert wurde. Die unterste Kompetenzstufe beschreibt dabei eine Rezeptionsfähigkeit, die erste grundlegende Erfahrungen mit Literatur und bestimmte Genreerwartungen voraussetzt. In Bezug auf literarische Texte, welche auf diesem Niveau verstanden werden und eine literar-ästhetische Kompetenz fördern, werden Strukturen genannt, die sich im Wesentlichen durch Übersichtlichkeit, Einfachheit, Klarheit und Geschlossenheit in Bezug auf die Erzählkategorien Handlungsführung, Stil, Figuren, Chronologie, Erzählperspektive und Bedeutung beschreiben lassen. Höhere Stufen der literar-ästhetischen Rezeptionskompetenz werden durch eine schrittweise zunehmende Komplexität in Bezug auf die angeführten Kategorien definiert (vgl. Pieper 2014, S. 607ff.). Aus Piepers Modell lassen sich die benötigten Fähigkeiten für das Erkennen und Beschreiben von Werten und Normen in Texten logisch ableiten (vgl. Bär 2019, S. 242ff.). Demnach sollte in Bezug auf die Ebene der Darstellung zur ethischen Beurteilung Krabats die Kompetenz vorhanden sein, verschiedene Perspektiven, die nicht immer deutlich voneinander abgegrenzt sind, erkennen und beschreiben zu können. Diese Fähigkeit wird beispielsweise benötigt, weil sich in den vom Müller erzählten Rückblenden und in den Traumgeschichten Krabats ein Wechsel der Erzählstimme vollzieht: Hier geht eine extradiegetische in eine intradiegetische Perspektive über und auch die heterodiegetische Stellung des Erzählers zum Geschehen wird in diesen Passagen von einer homodiegetischen Erzählstimme abgelöst. Dabei müssen die unterschiedlichen Erzählstimmen als unterschiedliche Akteure wahrgenommen werden, die jeweils auch gegenläufige Wert- und Moralvorstellungen vertreten und damit in Opposition zu den Einstellungen der Hauptfigur stehen können. Es ist Ausdruck einer Wertreflexionskompetenz, die durch die Erzählstimme hervorgebrachten unterschiedlichen Überzeugungen beschreiben und sich bewusst vom hohen Identifikationspotenzial, welche die Erzählstrategie in Bezug auf bestimmte Figuren bietet, distanzieren zu können. Denn erst durch die Loslösung vom »moralischen Pakt« (Mieth 2007, S. 222), der zwischen Leser_in und Krabat herzustellen versucht wird, ist es möglich, Handlungen und Gedanken der Titelfigur aus einer übergeordneten Perspektive zu beschreiben und zu bewerten. Durch eine distanzierte Betrachtung werden ferner auch Ambivalenzen im Denken und Handeln der einzelnen Figuren offenbar: Krabat zeigt sich erst gegen Ende des Romans als moralisch gereifter Held und auch der Müller ist nicht durchgehend als negativer Charakter konstruiert. So wird in dem Rück-
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blendenkapitel Der Adler des Sultans beispielsweise die tragische Geschichte des Müllers erzählt, der seinen damals besten Freund Jirko versehentlich erschießt, wodurch sich die mitfühlende Seite der Figur des Müllers offenbart (vgl. Krabat, S. 273ff.). Das Erzählen dieses Kapitels im dramatischen Modus der direkten Rede, kombiniert mit der magischen Illusion, dass Krabat diese Geschichte als Müller erlebt, verstärkt diesen Effekt zusätzlich. Auch sein Wunsch nach Freiheit und Aufgabe der Zauberei, verbunden mit seinen väterlichen Gefühlen für Krabat, die sich in dem Willen zeigen, Krabat seine Macht vollständig zu übertragen, hält Irritationen bereit und verlangt ein höheres Maß an Leseerfahrung, z. B. in Form der Fähigkeit, sich von der impliziten Leser_innenrolle distanzieren zu können oder die Dynamik einer Figurenentwicklung zu erkennen. Der Plot ist auf der Ebene der Handlung auch als moralische Bildungsreise angelegt und damit als ereignis- und spannungsreiche Narration auf der Textoberfläche leicht nachvollziehbar. Es ist jedoch zu beachten, dass der Plot zuvorderst ästhetisch motiviert ist, z. B. durch Anleihen aus der Zahlenmystik oder dem Herausstellen semantischer Oppositionen. Darüber hinaus folgt er einer finalen Motivierung, die im Märchen- bzw. Sagenhaften angesiedelt ist. Nicht zuletzt wird der Handlungsfortschritt durch eine Vielzahl von Traum- und Exkursgeschichten unterbrochen, die durch ihre funktionale Bedeutung ein elaboriertes Textverständnis voraussetzen, z. B. hinsichtlich der Bedeutungsmöglichkeiten von Träumen in Narrationen. Zudem sind die Übergänge von der eigentlichen Erzählung zum Traum mit nur einem Absatz nur undeutlich markiert, was das Verständnis für unerfahrene Leser_innen deutlich erschwert. Ferner haben die Exkurs- und Streichgeschichten vom Ochsenblaschke aus Kamenz, Feldmusik oder Vivat Augustus insofern wertfunktionale Bedeutung, als hierdurch die Amoralität von Macht demonstriert wird, von der gleichzeitig ein hohes Maß an Faszination ausgehen kann. Zusammenfassend liegen dem Roman mehrere Wertebenen zugrunde, die es getrennt voneinander zu beurteilen gilt. Lebensweltbezogene Wertvorstellungen resultieren beispielsweise aus den Themen Freundschaft, Liebe und Vertrauen. Als psychologischer Wert könnte die Überwindung der Phase des Übergangs und der moralisch fraglichen Vaterfigur des Müllers hin zu Autonomie und dem Entwickeln einer eigenen Identität formuliert werden. Als politisch-philosophischer Wert lassen sich das Überwinden eines totalitären Systems und Möglichkeiten des Widerstands nennen. Die Überwindung der Zauberei als Symbol einer Trug- und Scheinwelt durch die (christliche) Nächstenliebe, personifiziert im selbstlosen Rettungsakt der Kantorka, ist einer philosophisch-religiösen Wertorientierung zuzuordnen. Daneben ist das Aufgreifen einer christlichen Symbolik maßgeblich auch ästhetisch wertbar, da sich die Gegenüberstellung einer ›guten‹ dörflich-christlichen Welt und einer ›bösen‹ magisch-heidnischen Welt durch ästhetisch semantisierte Räume offenbart. Die Entwicklung Krabats voll-
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zieht sich in diesem Raum durch die Überwindung der magisch-heidnischen, irrationalen Welt und stellt die Aufnahme in die dörflich-christliche reale Welt als Akt der Befreiung dar (vgl. Schmidt 2008, S. 48f.). Die Fähigkeit, diese Wertaspekte im Text zu verstehen und ethisch legitimieren zu können, erfordert aus entwicklungspsychologischer Perspektive gleichzeitig eine Werturteilsfähigkeit, die, der Klassifizierung Lawrence Kohlbergs folgend, mindestens auf einem konventionellen Moralniveau verläuft, sich also an Begründungsmustern orientiert, die zuvorderst die Aufrechterhaltung des unmittelbaren sozialen Umfelds sowie das Entsprechen von Erwartungen eines nahestehenden Menschen zum Ziel haben (vgl. Kohlberg 1996, S. 129). So handelt Krabat als Figur zunächst in einer moralischen Kategorie, die das System des Müllers nicht hinterfragt, weil es als soziale Gemeinschaft funktioniert. Der Wertewandel Krabats vollzieht sich durch den Übergang von einer heteronomen zu einer autonomen Moralstufe, auf welcher der Müllergeselle ethische Einsichten entwickelt, die einer der Moral vorgeordneten Perspektive zuzuordnen sind und sich an übergeordneten Wertvorstellungen orientieren. Beispielsweise lehnt er die Nachfolge des Müllers ab, da er versteht, dass er durch die Machtübernahme für den Tod der Mitgesellen verantwortlich wäre. Ebenso widersteht er der Verlockung, dass er sich hierdurch seines ungeliebten Mitgesellen Lyschko entledigen könnte (vgl. Krabat, S. 301f.). Krabat zeigt sich dabei bereit, für diese neuen ethischen Einsichten auch unter Gefahr für sein eigenes Leben einzustehen. Deutlich wird Krabats vollzogener Wertewandel außerdem in der offenen Opposition gegen den Meister am Ende des Romans. Damit besitzt Krabat das Potenzial, Schüler_innen mit ethischen Begründungen zu konfrontieren, um darüber einen Prozess zu initiieren, der sich im Sinne eines progressiven Ansatzes an autonomen und damit höheren Stufen des ethischen Urteilens orientiert.
Gesellschaftlich-normative Ebene: Die Frage nach der Zumutbarkeit von Krabat Eine dritte Ebene, die es im Rahmen einer Werteorientierung im Literaturunterricht zu beachten gilt, ist der gesellschaftliche Diskurs darüber, was Kunst ist und was Kunst darf. Dieses Einverständnis ist sowohl historisch als auch kulturell kontingent und damit jeweils abhängig von einer bestimmten gesellschaftlichen Realität, hat aber unmittelbaren Einfluss auf den Literaturunterricht. Denn aus dem wertebildenden Potenzial, welches die Rezeption von Literatur bereithält, leiten sich insbesondere für die Schule maßgeblich zwei gesellschaftlich diskutierte und in der Folge auch didaktische Fragestellungen ab, die im deutschdidaktischen Diskurs unter dem Begriff der ›Zumutung‹ insbesondere durch Su-
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sanne Helene Becker (2016) und Sabine Anselm (2017) aufgegriffen werden: Was darf Literatur (im Unterricht) darstellen? Und daraus abgeleitet: Welche Literatur ist Schülerinnen und Schülern im Unterricht zumutbar? (Vgl. Becker 2016, S. 8ff. und Anselm 2017a, S. 9ff.) Die erste Frage ist neben einer pädagogisch zu beantwortenden, die maßgeblich vom Kindheitsbild der jeweiligen Zeit beeinflusst ist, vor allem eine juristische. Sie leitet sich aus der Aufgabe der Schule als staatlicher »Zwangsveranstaltung« (Anselm 2017a, S. 22) und den Eingriff des Staates in das verbürgte Grundrecht der Eltern ab, für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder verantwortlich sein zu dürfen (vgl. Art. 6 GG). Dieser beidseitige Erziehungsauftrag von Elternhaus und Schule ist jedoch nur im Idealfall komplementär. Bisweilen liegt auch eine dualistische Auffassung darüber vor, welche Gegenstände in welcher Form im Unterricht als Ausgangspunkt für die Werteerziehung herangezogen werden dürfen. Diese Werteopposition zeigt sich häufig in pluralistischen Gesellschaften, in denen es Menschen weitgehend freisteht, auch andere Überzeugungen als diejenigen zu vertreten, die in den Lehrplänen manifestiert sind. Gerade literarische Texte bieten hier Konfliktpotenzial, da Narrationen Wertfragen greifbarer und anschaulicher als andere Medien vermitteln. Diese unterschiedlichen Positionen in Bezug auf den Inhalt literarischer Texte und deren Behandlung im Unterricht gilt es seitens der Lehrperson zu reflektieren und bei der Lektüreauswahl mitzubedenken. Das beschriebene Spannungsverhältnis lässt sich auch im Zusammenhang mit der Behandlung des literarischen Stoffes Krabat im Deutschunterricht und eines damit verbundenen Gerichtsurteils des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2013 aufzeigen. In einer dort anhängigen Klage wollten Eltern für ihr Kind, das zum damaligen Zeitpunkt die 7. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums besuchte, aus religiösen Gründen eine Unterrichtsbefreiung erwirken. Hintergrund war der geplante Besuch der Filmvorführung von Marco Kreuzpaintners Romanverfilmung von Krabat, an dem der Schüler wegen der im Film enthaltenen magischen Elemente nicht teilnehmen sollte. In dieser Angelegenheit gab die Gerichtsbarkeit in letzter Instanz dem Schulleiter Recht, da die Behandlung des Filmes – unabhängig von dessen Inhalt – lehrplankonform gewesen sei. Damit folgte das Gericht einer Argumentation, nach der in bestimmten Fällen der Erfüllung von Bildungszielen der Vorrang gegenüber Erziehungszielen der Eltern einzuräumen sei, da anderweitig die schulische Aufgabe, »die nachwachsende Generation […] vorbehaltlos und möglichst umfassend mit Wissensständen der Gemeinschaft und ihrem geistig-kulturellen Erbe […] vertraut zu machen« (vgl. BVerwG: Urteil vom 11. 09. 2013 – 6 C 12.12), nicht mehr durchführbar wäre. Aus der Verantwortung der Lehrkraft heraus, Auswahlentscheidungen treffen zu müssen, resultiert die zweite, pädagogisch-didaktische Fragestellung. Denn mit der Überlegung, was ein Text den Schüler_innen kognitiv und affektiv ab-
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verlangt, wird nach der genauen Passung einer positiv verstandenen Zumutung gefragt, die Schüler_innen irritieren und herausfordern soll, um Erfahrungen des Neuen und Fremden machen zu können. Erst dadurch nämlich werden Übergänge zu weiteren Entwicklungsstufen des Werturteils ermöglicht und grundlegende Erfahrungen dem Diskurs und der Reflexion zugänglich gemacht (Müller-Michaels 1999, zit. nach Anselm 2017a, S. 13). Eine solche Textauswahl vermeidet gleichzeitig eine moralische Engführung, die sich vor dem Hintergrund einer pluralistischen gesellschaftlichen Realität und postmodernen Veränderungen hinsichtlich literarischer Erzählverfahren, welche sich insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur von einer eher normgebenden Erzählweise hin zu einer leerstellenreichen, komplexen Form ästhetischer Darstellung entwickelt haben, als nicht mehr zielführend erweist. Deshalb müssen vor allem die Lehrkräfte befähigt werden, begründete Auswahlentscheidungen im Hinblick auf die zu verhandelnde Literatur im Unterricht treffen zu können. Dabei ist es wichtig, den Unterrichtenden Verfahren und Instrumente an die Hand zu geben, die eine selbstgeleitete kriterien- bzw. inhaltsbasierte Lektüreauswahl ermöglichen. Denn auch der Einsatz klassischer Werke im Unterricht beruht nicht (mehr) zwangsläufig auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Dieser muss vielmehr immer wieder neu begründet und darüber für einen Einsatz im Deutschunterricht legitimiert werden. Ein deskriptiv-formal und diskursiv ausgerichteter Literaturunterricht kann dazu beitragen, einen Handlungsrahmen zu entwerfen, um die Grenzen des Zumutbaren für Schüler_innen einer bestimmten Alters- bzw. Entwicklungsstufe in einer pluralen Gesellschaft festzulegen. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund der Gewährung der Wahlfreiheit des Individuums in Bezug auf den ästhetischen Genuss, den es von einem Text erwartet. Denn die Leser_innen müssen lernen, selbst zu entscheiden, welchen ethischen Themen sie sich stellen und welche sie sich zumuten möchten (vgl. Becker 2016, S. 9, S. 14f.). Das auf der Grundlage von literarästhetischen Fähigkeiten auf mehreren Stufen entwickelte Modell der Wertreflexionsfähigkeit kann hierzu wichtige Anhaltspunkte liefern. Die beschriebenen Dimensionen werteorientierten Handelns mit ihren unterschiedlichen Auswirkungen auf den Literaturunterricht konnten in den vorliegenden Ausführungen nur angedeutet werden. Sie wurden im Rahmen eines umfassenderen Forschungsvorhabens zur Frage der ethischen Bildung durch erzählende Texte ausgeführt und dienen als Grundlage eines Mehr-EbenenModells, das die Kategorien Text, Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik und normierende gesellschaftliche Vorstellungen wechselseitig aufeinander bezieht. Daraus abgeleitet wurde ein vollständiges Modell der Wertreflexionskompetenz entworfen, welches in der Folge als Grundlage für eine werteorientierte Begegnung mit Literatur dienen kann (vgl. Bär 2019).
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Preußler, Otfried (1998): Krabat. 13. Auflage, München.
Sekundärliteratur Anselm, Sabine (2012): ›Ethische Bildung durch Wertreflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht)‹, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 59. Jg., Heft 4, S. 401–415. Anselm, Sabine (2017a): ›Literatur als Zumutung. Herausforderungen ästhetischer und ethischer Bildung‹, in: Nubert, Roxana (Hg.): Temeswarer Beiträge zur Germanistik. Band 14. Temeswar, S. 9–28. Anselm, Sabine (2017b): ›Werteerziehung mit Literatur? Das besondere Potenzial literarischer Texte für den Ethikunterricht‹, in: Ethik & Unterricht, o. Jg., Heft 3, S. 9–12. Becker, Susanne Helene (2016): ›Diesseits oder jenseits des »Zumutbaren«? Versuch einer Ethik des Erzählens‹, in: JuLit, o. Jg., Heft 1, S. 8–15. Bär, Florian (2019): Werteerziehung im Deutschunterricht. Didaktische Grundlagen und Konzeptionen. Göttingen. Busch, Michael (2008): ›Das Machtsystem des Schwarzen Müllers‹, in: Luban, Kristin (Hg.): Krabat. Analysen und Interpretationen. Cottbus, S. 85–94. Hickethier, Knut (2008): ›Das narrative Böse. Sinn und Funktionen medialer Konstruktionen des Bösen‹, in: Faulstich, Werner (Hg.): Das Böse heute. Formen und Funktionen. München, S. 227–244. Kepser, Matthis/Abraham, Ulf (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 4. Auflage, Berlin. Kohlberg, Lawrence (1996): ›Moralstufen und Moralerwerb: Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz‹, in: Althof, Wolfgang (Hg.): Lawrence Kohlberg. Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt/Main, S. 123–174. Lange, Astrid/Hipp, Christiane (2008): ›Krabat als Schüler auf dem Weg zur eigenen Identität‹, in: Luban, Kristin (Hg.): Krabat. Analysen und Interpretationen. Cottbus, S. 129–135. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2016): Einführung in die Erzähltheorie. 10. Auflage, München. Mathiessen, Wilhelm (2012): ›Umgang mit Texten in der Sekundarstufe II‹, in: Kämper-van den Boogaart, Michael (Hg.): Deutschdidaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin, S. 127–152. Mieth, Dietmar (2007): ›Literaturethik als narrative Ethik‹, in: Joisten, Karen (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin, S. 215–233. Müller-Michaels, Harro (2009): Grundkurs Lehramt Deutsch. Stuttgart. Pieper, Irene (2014): ›Den Schüler vor Augen, den Anspruch im Sinn: Der internationale Referenzrahmen LIFT-2 zu Progression und Textauswahl für den Literaturunterricht der Sekundarstufen‹, in: Frederking, Volker/Huneke, Hans-Werner/Krommer, Axel et
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Florian Bär
al. (Hg.): Aktuelle Fragen der Deutschdidaktik. Taschenbuch des Deutschunterrichts, Band 3. Baltmannsweiler, S. 586–609. Schmidt, Maike (2008): ›Krabat. Die Aktualität eines Sagenstoffes in Literatur und Film‹, in: Luban, Kristin (Hg.): Krabat. Analysen und Interpretationen. Cottbus, S. 37–54. Schweikle, Günther (2008): ›Klassisch‹, in: Die Zeit (Hg.): Literatur Lexikon. Band 5. Stuttgart und Weimar, S. 429–430. Spinner, Kaspar H. (2004): ›Zwischen ästhetischer Erziehung und moralischer Bildung – Chancen und Gefahren des Literaturunterrichts‹, in: Lecke, Bodo (Hg.): Fazit Deutsch 2000. Ästhetische Bildung, moralische Entwicklung, kritische Aufklärung? Frankfurt/ Main, S. 95–100. Wiater, Werner (2010): ›Terminologische Vorüberlegungen‹, in: Zierer, Klaus (Hg.): Schulische Werteerziehung. Baltmannsweiler, S. 6–22.
Internetquellen Preußler, Otfried: »Informationen zur Textentstehung.« http://www.preussler.de/krabat/ zur-entstehung/ [27. 11. 2020]. Fachportal des Landesbildungsservers Baden-Württemberg: »Otfried Preußler: Krabat.« http://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/sprachen-und-literatur/deutsch/unt errichtseinheiten/prosa/jugendbuch-unterstufe/preussler-krabat [26. 08. 2022]. Kultusministerium des Landes Hessen: »Lehrplan Deutsch. Gymnasialer Bildungsgang.« https://kultusministerium.hessen.de/sites/kultusministerium.hessen.de/files/2021-06/g9deutsch.pdf [26. 08. 2022]. Bundesverwaltungsgericht: »Urteil vom 11. 09. 2013. BVerwG 6 C 12.12« https://www.bve rwg.de/110913U6C12.12.0 [26. 08. 2022].
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Dr. Sabine Anselm ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Sie leitet die Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf Vermittlungsprozesse von Fragen der Bildung für nachhaltige Entwicklung, auf die Reflexion ethischer und ästhetischer Fragestellungen im Literaturunterricht sowie auf Kommunikation in Lehr-Lernkontexten. Dr. Julia von Dall’Armi ist akademische Rätin im Fachgebiet Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Greifswald. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen fachdidaktische Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur, Literaturwissenschaft und Wissen. Dr. Florian Bär ist im Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus tätig. Im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Forschungsinteresses stehen Bedingungen und Einflussfaktoren von Wertentstehungsprozessen sowie Möglichkeiten der Förderung ethischer Bildung im Literaturunterricht. Dr. Bastian Dewenter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Literaturdidaktik an der Universität Siegen. Er promovierte 2016 mit einer Arbeit über den Theaterdiskurs in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen. Neben Forschungsinteressen u. a. im Bereich der Theatergeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, der Kanonforschung und der Narratologie arbeitet er zurzeit an einer Studie zur Lesesozialisation. Dr. Rolf Füllmann ist Privatdozent und Lehrkraft für besondere Aufgaben für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität zu Köln. Seine literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Forschungsschwerpunkte sind die Novellistik, das Werk Thomas Manns und die transkulturelle deutschsprachige Literatur Ostmitteleuropas (u. a. des Baltikums).
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Dr. Sieglinde Grimm ist Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für deutsche Sprache und Literatur II an der Universität zu Köln. Ihre Schwerpunkte sind Literatur im Unterricht, Interkulturelle Literatur/ interkulturelles Lernen, Kulturökologie und Literatur/Ecocriticism, literarisches Verstehen sowie Bildung und Ästhetik im 18. und 19. Jahrhundert. Dr. Ines Heiser ist Privatdozentin und als abgeordnete Studienrätin pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Neuere deutsche Literatur an der PhilippsUniversität Marburg sowie Herausgeberin der Zeitschrift Deutsch. Unterrichtspraxis für die Jahrgänge 5–10. Ihre Forschungsschwerpunkte sind in der Leseund Literaturdidaktik, speziell auch in der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur und in der diversitätssensiblen Literaturdidaktik. Dr. Cornelius Herz ist Professor für Didaktik der deutschen Literatur an der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf integrative Ansätze zur Literatur- und Mediendidaktik, auf empirische Professionsforschung, auf kinder- und jugendliterarische Kommunikation, auf digital literacy sowie auf eine kritisch-reflexive Fachdidaktik. Dr. Nathalie Kónya-Jobs ist Akademische Rätin auf Zeit für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik des Deutschen am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Didaktik der Literaturgeschichte, Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Mediendidaktik. Dr. Judith Leiß ist Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte sind u. a. inklusionsorientierte Literaturdidaktik und Wertebildung im Literaturunterricht. Dr. Heiko Ullrich arbeitet nach einem Studium der Germanistik und Klassischen Philologie (Latein) in Heidelberg als Gymnasiallehrer in Bruchsal. Er promovierte 2012 mit einer Arbeit zu den historischen Romanen Wilhelm Raabes, veröffentlichte seitdem zahlreiche Publikationen zur germanistischen Literaturwissenschaft und -didaktik, seit 2021 auch zur Klassischen Philologie. Pfarrerin Aline Seidel promoviert und lehrt in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft / ev. Religionspädagogik an der Philipps-Universität Marburg und ist seit 2021 Repetentin an der Hessischen Stipendiatenanstalt Marburg.
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Anna Waczek unterrichtet an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Im Mittelpunkt ihres wissenschaftlichen Forschungsinteresses stehen insbesondere das Verhältnis zwischen Literaturunterricht und gesellschaftlicher Verantwortung angesichts globaler Herausforderungen sowie die Rolle von Literatur für Wertebildungsprozesse. Dr. Berbeli Wanning ist Professorin für deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität Siegen und Leiterin der dortigen Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ecocriticism / Kulturökologie, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Plant Studies, Literaturgeschichte und ihre Didaktik sowie literarische Werte und deren Vermittlung.