Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven 9783110626117, 9783110607031

Anyone who tells stories describes the worlds where they take place. Narrated worlds are a constitutive part the narrati

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German Pages 426 [428] Year 2019

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Table of contents :
Dank
Inhalt
Systematisches Vorwort
Erzählte Welten: Theoretische und (inter-)disziplinäre Zugriffe
Erzählte Welt(en) als Kategorie
(Erzählte) Welten als Spielraum offener Möglichkeiten
Literarische Welten in der text world theory
Paradigma I: Faktual und fiktional erzählte Welten
Faktual und fiktional erzählte Welten
Mögliche Welten in historiografischer Metafiktion
Transworld Characters
Paradigma II: Unnatürliche erzählte Welten
Unnatürliche erzählte Welten
Die unnatürliche Natürlichkeit des Realismus
Die unmögliche(n) storyworld(s) in Mark Z. Danielewskis House of Leaves
Mögliche Welten als Allegorien der Fiktion
Die doppelte Welt von Guy Ritchies Film Revolver als Spielwelt
Kampf um Kontingenz und Darstellung von Providenz im Slasherfilm
Paradigma III: Raum und erzählte Welten
Raum und ‚erzählte‘ Welt
Ein See, zwei Ufer
„der getwerge ebenture in den holen bergen“
Kausalität und Künstlichkeit?
Räume, Zeiten und Welten in Grimmelshausens Simplicissimus
Autorinnen und Autoren
Personen- und Werkverzeichnis
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Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven
 9783110626117, 9783110607031

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Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven

Narratologia

Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers

Band 65

Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven Herausgegeben von Christoph Bartsch und Frauke Bode

ISBN 978-3-11-060703-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062611-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062491-5 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2019939133 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Dass der vorliegende Sammelband Welten erzählen nicht Gegenstand einer möglichen Welt geblieben, sondern (auch) in unserer aktualen Welt zur Veröffentlichung gelangt ist, verdankt sich dem tatkräftigen Einsatz zahlreicher Unterstützerinnen und Unterstützer. Zuvorderst danken wir den Herausgebern der Narratologia für die Aufnahme des Buches in ihre Reihe sowie den Projektbetreuerinnen des De Gruyter-Verlags für die reibungslose Koordination und freundliche Unterstützung bei der Druckvorbereitung des Bandes. Herrn Prof. Dr. Matías Martínez danken wir für seine stets motivierende Fürsprache und wertvollen Hinweise während des gesamten Projektverlaufs. Ferner gilt unser Dank allen Beiträgerinnen und Beiträgern für die außerordentlich angenehme, produktive und geduldige Zusammenarbeit. Besonders danken möchten wir an dieser Stelle Dr. Alexander Bareis, Prof. Dr. Matei Chihaia und Prof. Dr. Andreas Mahler dafür, dass Sie auf den bereits fahrenden Projektzug so bereitwillig und engagiert aufgesprungen sind. Ansonsten versammelt der Band sorgfältig überarbeitete Beiträge, die auf dem dritten Wuppertaler Graduiertenforum Narratologie der „Arbeitsgruppe Erzählforschung“ unter dem Titel „Welten erzählen. Narrative Evokation des (Un-)Möglichen“ vorgestellt und besprochen wurden. Unser Dank gebührt daher auch dem Zentrum für Graduiertenstudien (ZGS) und dem Zentrum für Erzählforschung (ZEF) an der Bergischen Universität Wuppertal, ohne deren Unterstützung die Tagung nicht hätte realisiert werden können, sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die durch die anregenden Diskussionen zum Gelingen des Forums beigetragen haben. Ohne sie gäbe es dieses Buch heute nicht – zumindest nicht in dieser Welt. Christoph Bartsch und Frauke Bode Köln/Bonn, im März 2019

https://doi.org/10.1515/9783110626117-202

Inhalt Christoph Bartsch, Frauke Bode  Systematisches Vorwort | 1

Erzählte Welten: Theoretische und (inter-)disziplinäre Zugriffe  Christoph Bartsch, Frauke Bode  Erzählte Welt(en) als Kategorie Ein kritischer Querschnitt der narratologischen Begriffsbildung | 7 Irene Breuer  (Erzählte) Welten als Spielraum offener Möglichkeiten Eine phänomenologische Betrachtung von Ernesto Sabatos Informe sobre ciegos | 43 Katharina Lukoschek  Literarische Welten in der text world theory Zur Beschreibbarkeit von Immersion am Beispiel eines Auszugs aus Truman Capotes Other Voices, Other Rooms | 65

Paradigma I: Faktual und fiktional erzählte Welten  Leitartikel J. Alexander Bareis  Faktual und fiktional erzählte Welten | 89 Perspektiven Manja Kürschner  Mögliche Welten in historiografischer Metafiktion Textuelle Welten als funktionale Supplemente in Adam Thorpes Hodd | 115

VIII | Inhalt

Carmen Lăcan  Transworld Characters Interferenzen zwischen realer Welt und der Textwelt von Peter Handkes Don Juan | 135

Paradigma II: Unnatürliche erzählte Welten  Leitartikel Jan Alber  Unnatürliche erzählte Welten | 155 Perspektiven Maximilian Alders  Die unnatürliche Natürlichkeit des Realismus Am Beispiel von Margaret Drabbles The Radiant Way | 177 Maria Kim  Die unmögliche(n) storyworld(s) in Mark Z. Danielewskis House of Leaves | 201 Matei Chihaia  Mögliche Welten als Allegorien der Fiktion Die Grenzen narrativer Sinnstiftung bei Julio Cortázar | 217 Anna-Felicitas Geßner  Die doppelte Welt von Guy Ritchies Film Revolver als Spielwelt Eine Rahmenanalyse | 235 Kai Spanke  Kampf um Kontingenz und Darstellung von Providenz im Slasherfilm | 257

Inhalt | IX

Paradigma III: Raum und erzählte Welten  Leitartikel Andreas Mahler  Raum und ‚erzählte‘ Welt Zyklik – Linearität – Proliferation | 281 Perspektiven Jan Rüggemeier  Ein See, zwei Ufer Raum und erzählte Welt des Markusevangeliums | 317 Florian M. Schmid  „der getwerge ebenture in den holen bergen“ Mittelalterliche Konstruktion und Rezeption von Raum im Laurin | 341 Romy Steiger  Kausalität und Künstlichkeit? Erklärungsmuster in Mahrtenehengeschichten | 367 Lukas Werner  Räume, Zeiten und Welten in Grimmelshausens Simplicissimus | 387 Autorinnen und Autoren | 409 Personen- und Werkverzeichnis | 413

Christoph Bartsch, Frauke Bode

Systematisches Vorwort „Was soll ein Roman?“, fragt Theodor Fontane in seiner Rezension von 1875 zu Gustav Freytags Die Ahnen – und antwortet, „er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen“ und am Schluss „empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte“1. Der ‚Besuch‘ einer fingierten, jedoch zeitweilig als real anerkannten Welt ist vielfach als ein Charakteristikum narrativer Fiktionen ausgewiesen worden. Die Bereitwilligkeit moderner Leserinnen und Leser, die von einem fiktionalen Erzähltext dargestellte Welt vorübergehend als alternative Wirklichkeit zu akzeptieren, bleibt vom Ausmaß ihrer Andersartigkeit zumeist unberührt: Die textinternen Welten der Fiktion können der textexternen Realität nahezu entsprechen (‚realistische‘ Romane beschreiben realitätsnahe Welten), sie können jedoch auch im hohen Grade abweichend beschaffen, etwa den Restriktionen realer Natur- und Kausalgesetze enthoben sein (wie die Welten des Märchens oder der Fantasy-Literatur); Lesende, die – gemäß Samuel Taylor Coleridges berühmtem Diktum – ihre Ungläubigkeit vorübergehend aussetzen, können in all diesen Welten gleichermaßen heimisch werden. Wenngleich Literaturtheorien die Welthaftigkeit des Dargestellten als ein Wesensmerkmal fiktionalen Erzählens bestimmt haben, so ist die systematische Auseinandersetzung mit erzählten Welten innerhalb der Narratologie lange Zeit ein Desiderat geblieben.2 Im Kontext proto-narratologischer und strukturalistischer Ansätze wurden sie zwar implizit vorausgesetzt, jedoch nicht explizit elaboriert; erst im Zuge poststrukturalistischer Zugriffe, die verstärkt die semantische Dimension von Erzählungen zu fassen suchten, avancierten sie zu einem zentralen Paradigma der Erzählforschung. Den konzeptionellen Nährboden hierfür bereiteten vor allem neuere transdisziplinäre Zugriffe wie die aus der analytischen Philosophie und Modallogik adaptierte possible world theory und – infolge der ‚kognitiven Wende‘ – die cognitive narratology, die das mentale Konstruieren von Welten im Akt des Lesens als eine unabdingbare Voraussetzung für das Verstehen narrativer Texte überhaupt betrachtet. Es hat sich jedoch

|| 1 Theodor Fontane: „Rezension von Freytags Die Ahnen I–III“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Edgar Groß. München 1963, Bd. XXI: Literarische Essays und Studien, S. 239. 2 Siehe den Beitrag von Christoph Bartsch und Frauke Bode in diesem Band. https://doi.org/10.1515/9783110626117-001

2 | Christoph Bartsch, Frauke Bode

innerhalb der Narratologie bislang keine umfassende Theorie vollends durchsetzen können, um die heterogenen Erkenntnisinteressen und Methoden miteinander zu versöhnen; die Scharniere zwischen strukturalistischen, semantischontologischen und kognitiv-phänomenologischen Zugängen erweisen sich weiter als brüchig. Hinzu kommt, dass die genannten postklassischen Zugriffe zuvorderst in der angloamerikanisch geprägten Narratologie praktiziert werden, während sich im deutschsprachigen Raum eher eine in der Tradition des Strukturalismus stehende Erzählforschung behauptet, die sich vornehmlich der Fokussierung auf den erzählerischen Diskurs verschrieben hat und einer eingehenden Beschäftigung mit den erzählten Welten nur eingeschränkten Raum zugesteht. Das vorliegende Kompendium möchte diesem Umstand begegnen, indem es eine kritische Bestandsaufnahme der bestehenden ‚Welt‘-Konzepte leistet und sie in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion verortet. In vier Sektionen werden zentrale Paradigmen der modernen Erzählforschung adressiert: Die erste Sektion (Erzählte Welten: Theoretische und (inter-)disziplinäre Zugänge) widmet sich der Interaktion zwischen Lesenden und Text bei der Evokation erzählter Welten, wie sie sich interdisziplinär aus Sicht der Narratologie (BARTSCH/BODE), der Phänomenologie (BREUER) und der text world theory (LUKOSCHEK) darstellt. Das Verhältnis von erzählter und außertextueller Welt wird in der zweiten Sektion (Paradigma I. Faktual und fiktional erzählte Welten) mit dem Fokus auf eine historiografische Metafiktion (KÜRSCHNER) und auf transworld characters (LĂCAN) untersucht. Die dritte und umfangreichste Sektion (Paradigma II. Unnatürliche erzählte Welten) beschäftigt sich mit der Analysekategorie des unnatürlichen Erzählens, das sowohl auf realistisches (ALDERS), postmodernes (KIM) als auch fantastisches Erzählen (CHIHAIA) angewendet wird. In dieser Sektion werden neben Erzähltexten auch Filme untersucht, deren Erzählwelten fantastisch (GESSNER) und durch doppelte Motivierungen (SPANKE) konstituiert sind. An der Bandbreite der untersuchten Gattungen und Genres zeigt sich, dass der Begriff der erzählten Welt offensichtlich auf verschiedenste Darstellungsweisen beziehbar ist, sich aber unnatürliche Abweichungen von realistischen Erzählkonventionen besonders eignen, um die Funktionsweise erzählter Welten freizulegen. Der Frage nach dem Status und der Funktion der erzählten Welt innerhalb der histoire gehen – in strukturalistischer Tradition – die Beiträge der vierten Sektion (Paradigma III. Raum und erzählte Welten) nach. In dieser Rubrik bündeln sich diejenigen Beiträge, deren Ansatz insofern quer zu etablierten Kategorien verläuft, als hier des Weiteren die Frage diskutiert wird, inwiefern erzählte Welten historische Konstrukte darstellen. Aufgrund der analysierten Gegenstände – allesamt vormoderne Texte wie das Markusevangelium (RÜGGEMEIER),

Systematisches Vorwort | 3

der Laurin (SCHMID), Mahrtenehengeschichten (STEIGER) sowie der Simplicissimus (WERNER) – bietet sich diese Herangehensweise an. Während die erste Sektion einen interdisziplinären Einblick in verschiedene Herangehensweisen an erzählte Welten gibt, bilden die anderen drei Sektionen Paradigmen, die jeweils von einem Leitartikel eröffnet werden: Faktuales und fiktionales Erzählen (BAREIS), unnatürliches Erzählen (ALBER) und Raum (MAHLER). Die Leitartikel stellen forschungsgeschichtliche Überblicke, erzähltheoretische Positionen und Desiderate zu dem jeweiligen Themenfeld vor und diskutieren sie. Die ihnen zugeordneten analytisch ausgerichteten Beiträge nehmen Bezug auf das jeweilige Leitparadigma und führen am Beispiel ausgewählter Erzählungen die Perspektiven vor Augen, welche die unterschiedlichen Annäherungen an erzählte Welten eröffnen. Die Gegenstände der exemplarischen Betrachtungen reichen dabei – wie bereits angedeutet – vom Roman der Vorbis zum Roman der Postmoderne, vom Realismus bis zur Phantastik, vom Neuen Testament bis zum Horrorfilm. Die Zugriffe, denen sich die Analysen bedienen, berücksichtigen pragmatische, generische und historische Aspekte. Vor allem jedoch wird die Operationalisierbarkeit postklassischer Herangehensweisen, die einer kognitiven, unnatürlichen oder kontextuellen Ausrichtung verpflichtet sind, erprobt sowie ihre Anschlussfähigkeit an etablierte und bewährte – seien es semantische oder diskursive – narratologische Methoden überprüft. Denn gerade bei der Untersuchung unnatürlicher Welten und der Fokussierung historischer und kultureller Kontexte müssen traditionelle Fragen nach der je spezifischen ontologischen Verfasstheit der dargestellten Welten sowie ihrer erzählerischen Vermittlung weiter Berücksichtigung finden. Dem gesamten Band liegt die Leitfrage zugrunde, inwiefern erzählte Welten als eine eigenständige narratologische Kategorie gefasst werden können. Aus mehreren Gründen verwendet der vorliegende Band den als Singular und Plural gebildeten Doppelbegriff ‚erzählte Welt‘/‚erzählte Welten‘ und hat ihn programmatisch in den Titel aufgenommen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass aus narratologischer Sicht keine eindeutig zuzuordnende Begriffsverwendung erkennbar ist: Die erzählte Welt als Kategorie kann sowohl einen histoire- als auch einen discours-theoretischen Hintergrund haben, sich also entweder auf die ontologische Beschaffenheit des Dargestellten oder auch auf dessen kommunikative Vermittlung beziehen. Während also die Begriffsverwendung selbst pluralistisch ist und nicht in einem singulären Verständnis von erzählter Welt aufgeht, greifen einzelne Ansätze – wie etwa die possible worlds theory – selbst auf den Plural zurück, weil es eine Besonderheit fiktionaler Erzählungen ist, sich nicht mit einer dargestellten Welt zufrieden zu geben, sondern potenziell mehrere, sowohl ontologisch als auch sprachlogisch

4 | Christoph Bartsch, Frauke Bode

differente Welten zu inszenieren. Inbegriffen ist in diesem letzten Ansatz auch der Gedanke, dass narrative Texte in ihrer Vielschichtigkeit eben auch eine Vielzahl individueller Welten hervorbringen. Ein weiteres zentrales Attribut, dass dem Welt-Begriff zumindest implizit voransteht, ist die Bezeichnung fiktiv. Im Konsens mit der einschlägigen erzähltheoretischen Begriffsverwendung kennzeichnen alle Texte in diesem Band den pragmatischen Status der erzählenden Rede als fiktional bzw. faktual, den ontologischen Status des in einer Erzählung Dargestellten als fiktiv bzw. real. Diese in allen Beiträgen einheitliche Verwendung des Begriffspaars fiktional – fiktiv, das zum Beispiel in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft häufig unter fictional zusammengefasst wird, reflektiert die Einsicht, dass zwischen der Fiktivität einer erzählten Welt und der Fiktionalität ihrer erzählerischen Vermittlung stets differenziert werden sollte. Wenngleich die erzählten Welten, die in den versammelten Beispielanalysen diskutiert werden, zumeist erfundene, sprich fiktive Welten sind, so zeigen doch vor allem die Auseinandersetzungen mit vormodernen Texten auf der einen sowie mit postmodernen Metafiktionen auf der anderen Seite, dass dieser Konnex nicht als notwendig ausgewiesen werden kann; vielmehr stellen die Begriffspaare die Koordinaten bereit, mit denen die ontologischen wie epistemischen Dimensionen erzählter Welten kartographiert werden können. Die Ambivalenzen, die sich dergestalt inszenieren lassen, sind aber nur eine mögliche der unerschöpflich erscheinenden Spielarten, wie Welten durch Geschichten evoziert werden können, von denen der vorliegende Band zeugen soll.

| Erzählte Welten: Theoretische und (inter-)disziplinäre Zugriffe

Christoph Bartsch, Frauke Bode

Erzählte Welt(en) als Kategorie Ein kritischer Querschnitt der narratologischen Begriffsbildung

1 Einleitung Narrative Texte erzählen nicht nur Geschichten, sondern sie erzählen von Welten, in denen sich Geschichten ereignen. So unterschiedlich diese Welten ontologisch beschaffen und narrativ vermittelt sein können, so heterogen sind die Ansätze ihrer narratologischen Beschreibung. Dabei ist der Begriff erzählte Welt in der Erzähltheorie des 20. Jahrhunderts zunächst unterrepräsentiert. Versucht man sich an einer groben Chronologie der narratologischen Beschäftigung mit erzählten Welten, zeigt sich, dass sie insbesondere in proto-narratologischen und klassisch-strukturalistischen Theorien einfach als gegeben hingenommen werden. Sie erscheinen als implizit gesetzte Folien, vor deren Hintergrund sich die ‚eigentliche‘ narrative Dimension entfaltet: der Plot. Sie stellen das Spielfeld bereit, auf dem Figuren ihre Konflikte austragen und das der analytischen Verortung von Motiven und Funktionen, von Sujet- bzw. Ereignishaftigkeit dient – Parameter, die von der histoire-Narratologie als konstitutiv für Narrativität angesehen werden. In der discours-Narratologie eines Gérard Genette wiederum scheint für eine Auseinandersetzung mit erzählten Welten überhaupt kein Platz zu sein, da hier dem ‚Erzählten‘ (also dem Inhalt einer Erzählung) keine Relevanz für die Zuschreibung von Narrativität beigemessen wird.1 Umso interessanter ist es, dass ausgerechnet Genette die erzählte Welt ein Stück weit von ihrem Schattendasein als bloße Staffage klassisch-strukturaler Plotanalysen emanzipiert, indem er sie erstmals als eigenständigen Teil der histoire fasst und mit dem einflussreichen Begriff Diegese belegt: „Die Diegese […] ist eher ein ganzes

|| 1 „[D]as einzige Spezifikum des Narrativen [liegt] in seinem Modus und nicht in seinem Inhalt, der ebensogut dramatisch, zeichnerisch oder sonstwie ‚dargestellt‘ werden kann. Tatsächlich gibt es gar keine ‚narrativen Inhalte‘: es gibt Verknüpfungen von Handlungen und Ereignissen, die sich so oder anders darstellen lassen […], und die man nur deshalb ‚narrative‘ nennt, weil man ihnen in einer narrativen Darstellung begegnet.“ Gérard Genette: Die Erzählung [Discours du récit, 1972/Nouveau discours du récit, 1983]. Übers. v. Andreas Knop. Hg. v. Jochen Vogt. 3. Aufl., München 2010, S. 182. https://doi.org/10.1515/9783110626117-002

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Universum als eine Verknüpfung von Handlungen (Geschichte): Die Diegese ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt.“2 Neben diesen im engeren Sinne narratologischen Zugriffen operieren weitere literaturwissenschaftliche Strömungen mit jeweils spezifischen Weltkonzepten. Denn gerade seine mehrdeutige Verwendbarkeit, seine semantische Ambiguität, ließ den Begriff ‚Welt‘ zu einem bequemen, zweckdienlichen Etikett für die unterschiedlichsten Paradigmen avancieren.3 Ruth Ronen hebt drei theoretische Ausrichtungen hervor: phänomenologische, semiotisch-semantische und logisch-ontologische Zugänge.4 Eine phänomenologisch gelagerte Literaturwissenschaft versucht zu beschreiben, wie sich die Welten literarischer Texte im Allgemeinen als spezifische ‚Erfahrung‘ dem Bewusstsein der Lesenden5 darstellen. Nach Roman Ingarden werden im Akt literarischer Rezeption die in einem Text dargestellten Gegenstände zu einer einheitlichen „Seinssphäre“ zusammengeschlossen. Denn jeder Gegenstand wird als „etwas in einem umfassenderen gegenständlichen Ganzen Seiendes“ aufgefasst. Zusammen bilden sie damit den Ausschnitt einer nicht näher bestimmten, im „Hintergrund“ assoziierten Welt – gleichsam „als ob ein Lichtkegel uns einen Teil einer Gegend beleuchte, deren Rest im unbestimmten Nebel verschwindet, aber in seiner Unbestimmtheit doch da ist“6. Erst die Erweiterung des Strukturalismus im Zeichen der Semiotik stellt den Welt-Begriff ins Zentrum, wobei der Fokus auf der decodierbaren Semantik einer erzählten Welt liegt, etwa in Folge Jurij M. Lotmans einflussreicher Definition des literarischen Textes als „sekundäres modellbildendes System“7, welche die Funktion der Literatur in ihrer Modellhaftigkeit für die Lebenswelt fasst. Während die Genese der Narratologie von ihrer klassischen Phase hin zur post|| 2 Genette (Anm. 1), S. 183. Wobei die Schwierigkeit der Genette’schen Begriffe darin besteht, dass die Diegese, wie wir weiter unten diskutieren werden, sowohl eine ontologische Dimension als erzählte Welt besitzt als auch eine diskursive, insofern sie die Sprechinhalte von Erzählinstanzen bezeichnet, die aber nicht notwendigerweise ontologisch zu differenzierenden Welten zuzuordnen sind. Siehe die Abschnitte 2.1 und 4 dieses Beitrags. 3 Vgl. Ruth Ronen: „Ambiguity in Literary Conceptualizations: The Case of ‘World’“. In: Ilud Ibsch/Dick H. Schram/Gerald Steen (Hgg.): Empirical Studies in Literature. Proceedings of the Second IGEL-Conference, Amsterdam 1989. Amsterdam/Atlanta 1991, S. 397–404, hier S. 397. 4 Siehe Ronen (Anm. 3), S. 397. 5 Wir vermeiden in diesem Beitrag das generische Maskulinum „Leser“ in allen Fällen, in denen es nicht als Zitat oder als literaturtheoretisch fixierter Begriff verwendet wird. 6 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von dem Funktionieren der Sprache im Theaterschauspiel [1931]. 4. Aufl., Tübingen 1972, S. 230. 7 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte [Struktura chudožestvennogo teksta, 1970]. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 22.

Erzählte Welt(en) als Kategorie | 9

klassischen Ausdifferenzierung ihrer Methoden fortschreitet,8 rückt die erzählte Welt stetig weiter ins Zentrum der Erzähltheorie, womit auch der Welt-Begriff selbst immer zentraler verwendet wird, nicht zuletzt in der possible worlds theory, die als das Ergebnis eines narratologischen Aneignungsprozesses modallogischer und philosophisch-ontologischer Denkrichtungen zu betrachten ist. Ihr Programm – wie es unter anderem von Lubomír Doležel formuliert worden ist – kann als Gegenentwurf zur klassisch-strukturalistischen Narratologie gelesen werden: Fictional semantics does not deny that the story is the defining feature of narrative but moves to the foreground the macrostructural conditions of story generation: stories happen, are enacted in certain kinds of possible worlds. The basic concept of narratology is not ‘story,’ but ‘narrative world,’ defined within a typology of possible worlds.9

Die erzählte Welt wird nun nicht mehr bloß als Mörtel für den Aufbau von Handlungsschemata betrachtet, sondern die Art ihrer Konstituierung, ihre Zugänglichkeitsbeziehungen zur außertextuellen Wirklichkeit und das literarische Potenzial, innerhalb einer Erzählung unnatürliche und logisch unmögliche Szenarien10 sowie mehrere ontologisch-divergente Welten zu entwerfen, treten in den Fokus des Interesses. Mit Rückgriff auf die modallogische possible-worldsSemantik wird die Domäne des Erzählten konzeptuell neu gedacht: Sie weist nunmehr über den monochromen Ort der Handlung hinaus und entfaltet ein Kaleidoskop möglicher Welten. Ausgehend von dieser Prämisse haben Alice Bell und Marie-Laure Ryan jüngst darauf hingewiesen, dass der etablierte Singular ‚erzählte Welt‘ letztlich irreführend sei: The term narrative world (or storyworld) […] hides the true ontological structure of a text, because just as PW theory [i. e. possible worlds theory] postulates a plurality of worlds, so does its application to narrative texts. Storyworlds are therefore entire modal universes consisting of multiple worlds.11

|| 8 Zum Verhältnis ‚klassischer‘ und ‚postklassischer‘ Erzählforschung siehe Roy Sommer: „The Merger of Classical and Postclassical Narratologies and the Consolidated Future of Narrative Theory“. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 1/1 (2012), S. 143–157. Zur Verortung der possible worlds theory im Spektrum der postklassischen Ansätze siehe ebd. S. 147. 9 Lubomír Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998, S. 31. 10 Siehe Paradigma II („Unnatürliche erzählte Welten“) in diesem Band. 11 Marie-Laure Ryan/Alice Bell: „Introduction. Possible Worlds Theroy Revisited“. In: Alice Bell/Marie Laure-Ryan (Hgg.): Possible Worlds Theory and Contemporary Narratology. Lincoln/ London 2019, S. 1–43, hier S. 18.

10 | Christoph Bartsch, Frauke Bode

Mit der postklassischen Narratologie kognitionstheoretischer Prägung – repräsentiert etwa durch David Herman12 – wird der Begriff der erzählten Welt(en) bzw. storyworld(s) konsolidiert und zugleich in ein Spannungsverhältnis zur Alltagswelt und zur Dynamik des Rezeptionsprozesses etwa auf Basis kognitiver Schemata gesetzt. Schon aus diesem kurzen Blick auf die verschiedenen Welt-Konzeptionen der Narratologie lässt sich die Frage ableiten, inwiefern die erzählte Welt als narratologische Kategorie zu fassen ist. Es versteht sich, dass der in diesem Beitrag gebotene Rahmen lediglich eine selektive Auseinandersetzung mit Vertretern einschlägiger erzähltheoretischer Strömungen gestattet. Statt einen um Vollständigkeit bemühten Forschungsquerschnitt zu präsentieren, sollen die Theoriegerüste ausgewählter ‚Klassiker‘ der Erzähltheorie dahingehend ausgeleuchtet werden, inwiefern sie mit einem implizit oder explizit enthaltenen Welt-Konzept operieren. Dabei wird sich zeigen, dass es sich bei diesen Welten – wie der von uns verwendete Ausdruck ‚erzählte Welt(en)‘ suggeriert – zumeist um ein Element des Erzählten (histoire), also des ‚Was‘ einer Erzählung handelt. Um die Spezifika narrativer Kommunikation und damit eine am discours interessierte Narratologie nicht unberücksichtigt zu lassen, wird zum Abschluss des Beitrags eine an Genette angelehnte Typisierung erzählter Welten vorgeschlagen. Denn ‚was‘ für eine Welt erzählt wird, hängt wesentlich davon ab, ‚wie‘ sie erzählt wird.

2 Erzählte Welt(en) in der Erzähltheorie Ausgehend von der klassischen Narratologie, der Phase also, in der die Auseinandersetzung mit ‚der Erzählung‘ primär dem aus der Linguistik entlehnten Ziel folgte, grammatische Universalien zu identifizieren, die allem Erzählen zugrunde liegen,13 lässt sich der Begriff der erzählten Welt peu à peu aufdecken, und es kann nachgezeichnet werden, wie theoretische und methodische Zugänge zur erzählten Welt von einer randständigen Position sukzessiv in den Fokus der Narratologie gerückt sind. Als These ließe sich formulieren, dass unabhängig von der Aufmerksamkeit, die der erzählten Welt in den narratologischen Strömungen jeweils zuteil geworden ist, die konkrete Definition des Begriffs || 12 Siehe Abschnitt 2.3. dieses Beitrags. 13 Vgl. Jan Christoph Meister: „Narratology“. In: Peter Hühn u. a. (Hgg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/narratology, § 4 [abgerufen am 03.02.2019].

Erzählte Welt(en) als Kategorie | 11

lange eine eher marginale Rolle gespielt hat,14 was zum einen seine (auch in diesem Band zu beobachtende) breite Anwendung erklärt, zum anderen jedoch erhebliche methodische Schwierigkeiten mit sich bringt. Schließlich wird der Begriff je nach Herangehensweise ganz unterschiedlich gefasst und mit verschiedenen Erkenntnisinteressen eingesetzt. Der sprachliche Ausdruck ‚erzählte‘ Welt(en) markiert, dass der Begriff insgesamt auf etwas verweist, was bzw. worüber in einer Erzählung berichtet wird. Allen Ansätzen ist deshalb gemein, dass sie die Welt als einen Bestandteil der Geschichte, d. h. der Domäne des Erzählten (histoire), und nicht als Teil ihrer diskursiven Vermittlung, also der Domäne des Erzählens (discours), verstehen.15 Während in Deutschland traditionell eine discours-Narratologie dominiert (Käte Hamburger, Franz K. Stanzel, Eberhard Lämmert), gibt es bereits in den frühen Arbeiten französischer Strukturalisten einflussreiche Impulse für eine histoireNarratologie (Tzvetan Todorov, Claude Bremond, Roland Barthes). Deren Auseinandersetzung mit Figurenkonfigurationen, Handlungsstrukturen und Ereignishaftigkeit diskutiert Fragen nach der Beschaffenheit erzählter Welten nicht unbedingt explizit, tangiert sie aber zumindest immer wieder. Hierbei hat sich der Konsens durchgesetzt, dass sich narrative Texte durch die Darstellung einer (oder mehrerer) Zustandsveränderung(en) auszeichnen, oder besser, einer Veränderung von einem Zustand in einen anderen – während deskriptive Texte lediglich ‚einen‘ Zustand beschreiben. Veränderungen vollziehen sich in der Zeit, und somit ist Zeit – bzw. die zeitliche Organisation des Erzählten – die grundlegende Konstituente für die Narrativität,16 nicht jedoch für die Welthaftigkeit des Dargestellten, da eine fiktive Welt auch nur beschrieben statt erzählt werden kann.17 Freilich muss aus ontologischer Warte das Dargestellte – wenngleich nur implizit – auf irgendeine Weise zeitlich beschaffen sein, damit es sinnvoll als Welt bezeichnet werden kann. Aus formalistisch-strukturalistischer Perspektive ist von einer erzählten Welt erst dann die Rede, wenn diese Welt

|| 14 Ähnlich auch Ryan (Anm. 11), S. 8: „Critics have long spoken of ‘the world of author such and such’ in a rather loose way without asking what makes a world a world.“ 15 Diese Dichotomie firmiert bekanntlich auch unter anderen Termini, etwa story/discourse, fabula/sjužet, story/text. 16 Vgl. Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. 2nd Edition. London/New York 2002, S. 6: „[T]emporal organization […] is the axis whose predominance turns a world-representing text into a narrative text“. Vgl. auch Antonius Weixler/Lukas Werner: „Zeit und Erzählen – eine Skizze“. In: Dies. (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston 2015, S. 1–24, hier S. 5 f. 17 So dominiert etwa in der Darstellung des fiktiven Landes Tlön in Jorge Luis Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1944) ein deskriptiver Modus gegenüber einem narrativen Modus.

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nicht nur sprachlich evoziert, also etwa nur beschrieben wird, sondern auch in eine zeitliche Folge von Zustandsveränderungen eingebunden ist. In diesem Sinne ist Zeit durchaus ein notwendiger Parameter für die Welthaftigkeit des in einer Erzählung Dargestellten.18

2.1 Vom Formalismus und Strukturalismus zur Semiotik Ausgangspunkt für die strukturalistisch begründete Auseinandersetzung mit der erzählten Welt bildet Vladimir Propps Morphologie des Märchens (1928) in der Übertragung ins Französische unter anderem von Tzvetan Todorov. Basierend auf der zweiten, korrigierten Auflage von 1969 macht die französische Übersetzung mit einer Verzögerung von vierzig Jahren den Impuls einer SujetAnalyse publik.19 Die Funktionen, die das Handeln der Figuren für die Intrige einnehmen, bilden für Propp die Grundstrukturen des russischen Zaubermärchens,20 die es erlauben, die Texte unabhängig von dem jeweils konkreten Figurenarsenal zu beschreiben und zu klassifizieren. Das Sujet erweist sich dabei als die strukturelle Sequenz von typischen Handlungen. Propp gruppiert alle Zaubermärchen als einem Sujet zugehörig, dessen jeweilige Ausprägungen als Varianten der auf diese Weise strukturell definierten Gattung zu verstehen sind.21 Bleibt bei Propp der Bezug zur erzählten Welt an die strukturelle Erfassung des Figurenhandelns als Funktion für den Handlungsfortgang geknüpft, entwickelt Todorov in seiner „Grammaire du récit“ (1968) und der Grammaire du Décameron (1969), in der er den Begriff der Narratologie einführt,22 ein Verständnis von erzählter Welt, das beispielhaft für eine histoire-Narratologie und ihre plot-Theorien steht. Todorovs Grundannahme für Erzählungen operiert mit linguistischen Begriffen, die er aber nicht auf der discours-Ebene, sondern auf der Ebene der Handlung ansiedelt. Während sich für Propp die Intrige als Sequenz von typischen Handlungen darstellt, ist für Todorov eine Zustandsveränderung von Gleichgewicht zu Ungleichgewicht (oder umgekehrt) notwendig, damit eine Intrige entstehen kann, welche die Handlung vorantreibt: „Il y a par conséquent deux types d’épisodes dans un récit: ceux qui décrivent un état (d’équilibre ou || 18 Siehe Abschnitt 2.2.1 dieses Beitrags. 19 Vladimir Propp: Morphologie du conte [Morfologija skazki. Transformacii volshebnykh skazok, 1969]. Übers. v. Marguerite Derrida/Tzvetan Todorov/Claude Kahn. Paris 1970, S. 28. 20 Siehe Propp (Anm. 19), S. 31. 21 Siehe Propp (Anm. 19), S. 142. 22 Siehe Tzvetan Todorov: Grammaire du Décaméron. Den Haag 1969, S. 9.

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de déséquilibre) et ceux qui décrivent le passage d’un état à l’autre.“23 Dieser Gedanke der transgression24, der sich in Jurij M. Lotmans Theorie der Raumsemantik im Sujet der Grenzüberschreitung wiederfinden wird, ist zentral für Todorovs Versuch, am Beispiel von Giovanni Boccaccios Decamerone eine (universelle) Erzählgrammatik aufzuzeigen. Auch wenn Todorov sich damit an plotStrukturen orientiert, wird die erzählte Welt als „monde imaginaire“ lediglich propositionell als Ort der zeitlichen Aufeinanderfolge von Ereignissen mitgedacht.25 Sie bleibt insofern als Grundannahme a priori gesetzt, ontologische oder diskursive Fragen, die den Status oder die Konstruktion dieser Welt betreffen würden, werden jedoch ausgeblendet.26 Ausgehend von der formalistischen Bestimmung von Figurenfunktionen durch Propp, entwirft Claude Bremond in Logique du récit (1973) den Versuch, dessen Funktionen vom Beispiel des russischen Zaubermärchens auf andere Gattungen oder – in diesem Sinne folgt er dem Impetus der Zeit – auf alle Arten von Erzählungen zu übertragen.27 Unter Bezugnahme auch auf Todorovs Grammaire du Décaméron konzentriert sich Bremond auf den récit, den er vom texte narratif als Ganzem absetzt.28 Erzählen wird bei Bremond, ähnlich wie bei Todo-

|| 23 Tzvetan Todorov: „La Grammaire du récit“. In: Langages 12 (1968), S. 96. 24 Todorov (Anm. 23), S. 97. 25 Vgl. Todorov (Anm. 23), S. 100. 26 Eine ebensolche Behandlung erfährt die erzählte Welt auch in Todorovs Introduction à la littérature fantastique (1970), in der er insbesondere auf das Verhältnis von erzählter Welt und ‚realer‘ Welt eingeht. Schließlich leitet er die Gattungsdefinition des Fantastischen aus der Unschlüssigkeit, der hésitation, her, ob es für ein übernatürlich anmutendes Ereignis innerhalb der erzählten Welt eine mögliche Erklärung gibt (z. B. eine Sinnestäuschung der perspektivierten Figur vorliegt), oder ob es als natürliches Element der fiktiven Realität anzuerkennen ist (z. B. Feen im Märchen). Im ersten Fall spricht er vom étrange, dem Unheimlichen, im zweiten vom merveilleux, dem Wunderbaren: „[D]er Text [muss] den Leser zwingen, die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten, und ihn unschlüssig werden lassen angesichts der Frage, ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder übernatürlichen Erklärung bedürfen.“ Doch hier spielt die grundsätzliche Konstitution der erzählten Welt keine besondere Rolle. Zwar wird sie immer wieder ins Verhältnis zur außerliterarischen Welt gesetzt (insbesondere in den Bezugnahmen auf frühere Fantastik-Theorien, die mit der Abweichung der erzählten Welt von der realen Welt operieren); beide werden aber nicht genauer definiert oder problematisiert und Todorov geht davon aus, dass die Mehrzahl fantastischer Texte den Zweifel nicht nur im Abhängigkeitsverhältnis zur realen Welt aufkommen lassen, sondern auch innerhalb des Textes durch eine Figur repräsentieren. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur [Introduction à la littérature fantastique, 1970]. Übers. v. Karin Kersten/Senta Metz/Caroline Neubauer. Berlin 2013, S. 43. 27 Vgl. Claude Bremond: Logique du récit. Paris 1973, S. 7. 28 Vgl. Bremond (Anm. 27), S. 323.

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rov, mit dem Begriff der Intrige über das Ereignis definiert: Eine Intrige ist eine Sequenz von miteinander verknüpften Ereignissen, wobei das Ereignis selbst in seiner Funktion des Vorantreibens der Intrige verstanden wird.29 Bremond erläutert die Intrige mit Hilfe einer Reihe von Synonymen, die sich auf das „agencement d’événements“, also die Komposition der Ereignisse, beziehen: „l’intrigue, l’action, le scénario, l’argument, l’histoire“30. Die Erzählfunktion eines Textes bestehe darin, dass den Handlungen, die die Erzählung vorantreiben, bestimmte Rollen, rôles, zugeordnet werden. Es ist nicht die reine Aufeinanderfolge von Handlungen, auf der eine Erzählung strukturell ruht, sondern die Verknüpfung von Rollen, die durch diese Handlungen ausgeübt werden.31 Ferner strukturiert sich Bremonds Abhandlung in die Betrachtung aktiver und passiver Figurenhandlungen: In seinem Modell sind die Figuren in agierende (l’agent), und ‚erduldende‘ (le patient) Figuren eingeteilt.32 Mit der Rolle der Figuren greift Bremond den Funktionsbegriff Propps als Handeln von Figuren auf, insofern es Einfluss auf den Verlauf der Intrige nimmt. Unter dieser Prämisse werden alle nicht-funktionalen Informationen des Textes ausgeschlossen, weil sie nicht zur Ereignishaftigkeit der Intrige beitragen:33 Nicht-narrative, also zum Beispiel beschreibende Passagen, werden nicht als im eigentlichen Sinne erzählerisch verstanden. Zu diesen nicht-funktionalen Inhalten gehört auch das, was man die erzählte Welt nennen könnte: Figureneigenschaften, zeitliche, räumliche und andere Konkretisierungen der Ereignisse.34 Während Bremond diese Aspekte aus seiner rein foramlen Betrachtung ausschließt, attestiert Roland Barthes solchen nicht handlungsrelevanten Beschreibungen innerhalb von Erzählungen eine für den modernen Realismus konstitutive ästhetische Funktion. Detailsorgfalt in Bezug auf die Darstellung etwa der äußeren Erscheinung von Figuren, ihrer Gesten, von Orten und Räumen sowie Gegenständen ist für die Ereignishaftigkeit einer Geschichte zwar nicht notwendig und hinsichtlich ihrer narrativen Finalitätsstruktur funktionslos; doch solche scheinbar ‚unnützen‘, nicht-nennenswerten Details sorgen für

|| 29 Vgl. Bremond (Anm. 27), S. 322. 30 Bremond (Anm. 27), S. 131. 31 Bremond (Anm. 27), S. 132 f. 32 Bremond (Anm. 27), S. 324. 33 „La première exclusion pose le problème de ce que nous nommerons les ‘enclaves’ non narratives du texte narratif; la seconde, celui des ‘contenus’ non fonctionnels de la séquence des fonctions.“ Bremond (Anm. 27), S. 322. 34 „[L]es déterminations concrètes des personnages (le sexe, la race, la condition sociale, le degré de parenté), le cadre géographique et historique, le détail matériel des situations et des événements.“ Bremond (Anm. 27), S. 323–324.

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eine „referentielle Illusion“35, indem sie auf eine konkrete Wirklichkeit, sprich eine ‚real‘ ausgestattete Welt zu verweisen vorgeben. Sie erzielen einen Realitätseffekt, indem sie so tun, als würden sie etwas Konkretes denotieren, ohne eine Konnotation innerhalb der semiotischen Struktur der Narration aufzuweisen. Genau dadurch erlangen sie die Bedeutung ‚des Wirklichen‘: „[D]as Fehlen des Signifikats zugunsten des Referenten [wird] zum Signifikat des Realismus“36. Damit klammert Barthes zwar ebenso wie Bremond und Todorov beschreibende Textpassagen, die wir intuitiv als bedeutsam für die Evokation erzählter Welten ansehen, aus dem eigentlichen Bereich des Narrativen aus, betont jedoch zugleich, dass deren Realitätseffekte ein wesentlicher Bestandteil moderner Erzählungen sind.37 Auch für Lotman sind die handelnden Figuren wesentlich für die Struktur literarischer Texte (1970), sein Ansatz sieht ihre Handlungen aber nicht losgelöst von der dargestellten Welt, wie dies bei Bremond der Fall ist, sondern eingebettet in die Funktionsweise derselben: Erst die topologisch markierten und semantisch binären Räume der erzählten Welt mit der zwischen ihnen gezogenen Grenze, bringen das narrative Ereignis, das Sujet, hervor, indem der handlungstragende Held von einem Raum – über die eigentlich nicht-permeable Grenze hinweg – in einen anderen Raum versetzt wird.38 Innerhalb der formalistischstrukturalistischen Bemühungen um eine Bestimmung dessen, was die Erzählung im Kern ausmacht, verschiebt Lotman den Fokus vom Personal der erzählten Welt hin zu dessen Einbindung in die erzählte Welt als eigenständiges System. Erst durch die normbrechende Verletzung der in der jeweiligen Welt geltenden Regeln, die an der Raumgestaltung abgelesen werden können, wird das Handeln der Figuren ereignishaft bzw. der Text zu einer Erzählung. Es ist also die raumsemantische Strukturierung der erzählten Welt, die das eigentlich Narrative eines literarischen Textes ermöglicht. In Genettes einschlägigem Instrumentarium zur Beschreibung narrativer Diskurse geht der Ereignisbegriff im starken Sinne wieder verloren. Die Geschichte einer Erzählung wird als Abfolge von Ereignissen oder Handlungen innerhalb der Diegese verstanden, dem „univers où advient cette histoire“39. Genette entlehnt den Begriff von Étienne Souriau, der ihn im Kontext der Film|| 35 Roland Barthes: „Der Wirklichkeitseffekt“ [„L’Effet de Réel“, 1968]. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2005, S. 164–172, hier S. 171. 36 Barthes (Anm. 35), S. 171. 37 Siehe Barthes (Anm. 35), S. 165; 171. 38 Siehe Lotman (Anm. 7), S. 332. 39 Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982, S. 342.

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wissenschaften eingeführt hatte.40 Ähnlich wie Souriau interessieren ihn weder die konkrete Ausprägung eines Handlungsuniversums noch abstrahierende Strukturüberlegungen wie bei Propp, Todorov oder Lotman, sondern vielmehr das vermittelnde Prinzip von Erzählungen. Doch im Kontext einer Auseinandersetzung mit der erzählten Welt ist Genettes Begriff der Diegese insofern interessant, weil das Handlungsuniversum zwar äußerst abstrakt gefasst, in dieser Abstraktion jedoch nicht nur als ‚Universum‘ – und damit eher metaphorisch –, sondern als von der Erzählung umschriebene raumzeitliche Einheit definiert wird.41 Mit der Diegese liegt also zum ersten Mal ein Begriff der erzählten Welt vor, der aus einer sprachlogischen, aristotelischen Tradition herrührt (als Gegenentwurf zur Mimesis)42 und von Genette auch in dieser Hinsicht operationalisiert wird. Der Begriff wird im Discours du récit (1972) vor allem als Adjektiv diegetisch innerhalb der Kategorie der Stimme virulent: Er bezeichnet all jenes, was Bezug nimmt auf die Geschichte oder zu ihr gehört43 – ob also eine Erzählinstanz außerhalb oder innerhalb der Erzählung verortet ist (extra- oder intradiegetisch) und ob sie von anderen oder sich selbst berichtet (hetero-, homooder autodiegetisch). Dabei entsteht allerdings die Problematik, dass der Begriff der Diegese die sprachlogisch-pragmatische Dimension des Erzählens vermischt mit dem ontologischen Status der erzählten Welt (siehe Kapitel 3). In seinem Kommentar zum Discours du récit, der zehn Jahre später erschien, betont Genette noch einmal, dass die Diegese nicht mit der erzählten Geschichte als Handlungsabfolge verwechselt werden dürfe, sondern sich allein auf deren Austragungsort, die erzählte Welt, bezöge.44

2.2 Erzählte Welten in der possible worlds theory Parallel zum und unabhängig vom Strang der klassischen – literaturwissenschaftlichen – Narratologie entwickelte sich in der sprachphilosophischen Auseinandersetzung mit der Logik fiktionaler Rede ein weiterer Strang, der sich mit dem Bedeutungsgehalt narrativer Fiktionen befasst. Beide Stränge kulminieren

|| 40 Siehe Étienne Souriau: „La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie“. In: Revue internationale de filmologie 7–8 (1951), S. 231–240. 41 Siehe Genette (Anm. 1), S. 289. 42 Vgl. Heinz Antor, „Diegese“. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2008, S. 130. 43 Siehe Genette (Anm. 1), S. 289. 44 Vgl. Genette (Anm. 1), S. 183.

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als possible worlds theory (oder Theorie möglicher Welten) in der Frühphase der postklassischen Erzählforschung. Den Ausdruck mögliche Welt hat Saul A. Kripke aus der philosophischen Tradition in Folge Gottfried Wilhelm Leibniz’ aufgegriffen und als Metapher in der Modallogik etabliert. Im Sinne dieser formalen Semantik gilt ein Satz als ‚notwendig‘ wahr, wenn er in allen möglichen Welten zutrifft, als ‚möglich‘, wenn er in wenigstens einer möglichen Welt, und als ‚unmöglich‘, wenn er in keiner möglichen Welt gültig ist. Indem Kripke das bei Leibniz angelegte Sprechen über mögliche Welten in sein modallogisches System integriert, lässt sich sinnvoll über alternative Zustände unserer Welt, d. i. „kontrafaktische Situation[en]“45, sprechen. Bei Leibniz sind mögliche Welten noch Elemente eines metaphysischen Mythos: Unser Universum sei eine Welt aus einer unendlichen Vielzahl möglicher Welten, die im Geiste Gottes existieren. Indem Gott in seiner Weisheit und Allgüte unser Universum erschuf, wählte er notwendigerweise die beste all dieser möglichen Welten, „da er nichts tut, ohne der höchsten Vernunft gemäß zu handeln“46. In der sich zum Ende des 19. Jahrhunderts formierenden analytischen Sprachphilosophie wird der ‚Welt‘-Begriff seines metaphysischen Gewandes entkleidet und in ein Korsett aussagenlogischer und formaler Prämissen eingebunden. Nach Ludwig Wittgenstein ist die Welt die Summe bestehender Sachverhalte,47 die sich durch Propositionen sprachlich beschreiben lassen.

|| 45 Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit [Naming and Necessity, 1972]. Übers. v. Ursula Wolf. Frankfurt a. M. 1981, S. 23. 46 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels [Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal, 1710]. Übers. u. hg. v. Herbert Herring. Frankfurt a. M. 1996, S. 221. Einen konzisen chronologischen Überblick über philosophische Ideen, die sich der Vorstellung möglicher Welten bedienen, bietet Hans Burkhardt: „From Origin to Kripke. A History of Possible Worlds“. In: Guido Imaguire/Dale Jacquette (Hgg.): Possible Worlds. Logic, Semantics and Ontology. München 2010, S. 23–54. Burkhardt sieht im antiken Theologen Origines, der bereits im 3. Jahrhundert in seinen De Principiis eine unendliche Vielzahl von Welten annahm, einen Vorreiter des christlichen Konzepts möglicher Welten im Geiste Gottes. Ferner zeichnet er wegweisende Strömungen bei den mittelalterlichen Scholastikern über René Descartes, Immanuel Kant, John Stuart Mill bis zu Rudolf Carnap nach. 47 Siehe die logischen Sätze in Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus/Logischphilosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt a. M. 2003: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (1); „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ (1.1); „Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, daß es alle Tatsachen sind [H. i. O].“ (1.11); „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.“ (2); „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.“ (2.04).

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Die Adaption des Konzepts möglicher Welten aus der analytischen Philosophie bzw. formalen Logik durch die Narratologie liegt in einem Ungenügen an klassischen Narrativitätsmodellen begründet, das in den 1970er Jahren immer mehr erzähltheoretisch ausgerichtete Philologen artikulierten: Die formalistischen und auch neueren strukturalistischen Zugriffe würden den semantischen Aspekten des in narrativen Texten Dargestellten nur unzureichend gerecht werden. So wertet etwa Zoltán Kanyó die von Propp entwickelte Hypothese, dass sich die narrativen Strukturen europäischer Märchen auf eine ‚eindimensionale‘ Folge von Funktionen zurückführen ließen, als eine „unzulängliche Reduktion“48 angesichts ihrer komplexen, ‚mehrdimensionalen‘ semantischen Schichtungen. Vielmehr lasse sich diese Mehrdimensionalität theoretisch am besten abbilden, indem ihr Handlungsverlauf in eine Anzahl von miteinander in verschiedener Beziehung stehenden Welten eingebettet wird.49 Ferner könne der Rückgriff auf die logisch-philosophische ‚Semantik der möglichen Welten‘ zu einer „theoretisch-methodologischen Fundierung einer rationalen Literaturwissenschaft beitragen“50 und dem „chaotischen Zustand“ eine eindeutig bestimmte und einheitlich verwendete formale Terminologie entgegensetzen.51 Die theoretischen Grundzüge dieses im Szegeder Forschungskreis entwickelten Ansatzes seien kurz skizziert: In der intensionalen Semantik wird unter einer ‚möglichen Welt‘ eine logisch konsistente Menge von Sachverhalten verstanden, d. h., sie ist durch die Menge an Propositionen festgelegt, die in ihr wahr sind. Ferner ist eine Erzählung aus texttheoretischer Sicht eine Menge von Propositionen, die Sachverhalte beschreiben. Damit also die im Text dargestellten Sachverhalte als eine mögliche Welt – genauer: als „Fragment einer möglichen Welt“52 – gelesen werden, müssen sie eine logische Konsistenz aufweisen (welche die Leserschaft aufgrund bestehender Konventionen für die meisten || 48 Zoltán Kanyó: „Narrativik und mögliche Welten“. In: Csúri Károly (Hg.): Literary Semantics and Possible Worlds. Literatursemantik und mögliche Welten. Szeged 1980, S. 17–22, hier S. 17. 49 Siehe Kanyó (Anm. 48), S. 18. 50 Károly Csúri: „Mögliche Welten, Kohärenztheorie der Wahrheit und literarische Erklärung“. In: Hans-Georg Werner/Eberhard Müske (Hgg.): Strukturuntersuchung und Interpretation künstlerischer Texte. Halle 1991, S. 3–14, hier S. 3. 51 Zoltán Kanyó: „Die Verwendung der Semiotik der ‚möglichen Welten‘ in der Analyse literarischer narrativer Texte“. In: Csúri Károly (Hg.): Literary Semantics and Possible Worlds. Literatursemantik und mögliche Welten. Szeged 1980, S. 23–31, hier S. 23. 52 Die möglichen Welten der intensionalen Semantik sind vollständig, vgl. Kripke (Anm. 45), S. 54, d. h. in der Menge von Sachverhalten ist jede Tatsache unserer aktualen Welt gleichfalls oder ihre Negation enthalten. In einem literarischen Text wird hingegen keine vollständige, sondern eine fragmentierte Beschreibung einer möglichen Welt geboten. Vgl. Kanyó (Anm. 51), S. 28.

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Erzählgattungen auch erwartet53). Eine mögliche Textwelt wird als die Menge der in ihr enthaltenen ‚wahren‘ Proposition aufgefasst. Das Ausloten der Wahrheitsbedingungen der Propositionen kann unter kognitivem Aspekt als Konstruktionsanweisung für den Aufbau der Textwelt gesehen werden: Die Lesenden stellen sich im Akt der Rezeption vor, wie die Welt aussehen müsste, damit alle Textpropositionen – auf kohärente Weise verknüpft – in ihr wahr sind.54 Insofern sind mögliche Welten Funktionen abstrakter Handlungsmodelle.55 Da in der Auseinandersetzung mit fiktionalen Texten und ihrer Darstellung fiktiver Sachverhalte nicht mit einem korrespondenztheoretisch gefassten Wahrheitsbegriff operiert werden kann – schließlich erlaubt das Fehlen der Referenz auf die wirkliche Welt keine Verifikation der Aussagen56 – , greifen die Szegeder Autoren auf die kohärenztheoretische Konzeption des US-amerikanischen Philosophen Nicholas Rescher zurück: Die Propositionen des Textes werden als eine Datenmenge behandelt, in der einzelne Propositionen als ‚wahr‘ qualifiziert sind, wenn sie mit der größtmöglichen Menge der restlichen Daten verträglich sind; andere müssen als ‚falsch‘ ausscheiden oder bleiben ‚unbestimmt‘.57 Ferner kann eine inkonsistente Datenmenge in „maximal konsistente Teilmengen“ diversifiziert werden.58 Diese schlagen sich in der Text(be)deutung etwa als ontologisch getrennte mögliche Welten oder als epistemische Subwelten verschiedener Figuren nieder, welche die ‚aktuale‘ Welt der Erzählung reflektieren. Sie verleihen einer Erzählung die von Kanyó apostrophierte Mehrdimensionalität.59 Die Berücksichtigung der Wissens- und Glaubenswelten der Figuren ist seines Erachtens für eine adäquate Abbildung der Handlungsstruktur einer Erzählung unerlässlich: [D]ie Unterschiede ihres Wissens und Glaubens begründen die Entstehung vor allem aber die Lösung der Konflikte, in die sie verwickelt werden […]. Eine entsprechende theoreti-

|| 53 „[D]ie Forderung nach logischer Konsistenz [ist] in die Kohärenzbedingungen des Textes mit eingeschlossen“. Kanyó (Anm. 51), S. 29. 54 Siehe Csúri (Anm. 50), S. 5. 55 Siehe Arpád Bernáth/Károly Csúri: „‚Mögliche Welten‘ unter literaturtheoretischem Aspekt“. In: Csúri Károly (Hg.): Literary Semantics and Possible Worlds. Literatursemantik und mögliche Welten. Szeged 1980, S. 44–62, hier S. 54 f. 56 Siehe Kanyó (Anm. 51), S. 25. 57 Siehe Bernáth/Csúri (Anm. 55), S. 55. 58 Siehe Csúri (Anm. 50), S. 8. 59 Siehe Kanyó (Anm. 48), S. 18.

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sche Begründung der erwähnten epistemischen Zusammenhänge ist aber nur dann möglich, wenn man das Konzept der möglichen Welten akzeptiert.60

Auf vergleichbaren Überlegungen basiert der erzähltheoretisch ausgerichtete possible worlds-Ansatz, den Ryan vorgelegt hat. Ihr für die postklassische Narratologie einflussreicher Zugriff beschreibt den Plot von Erzählungen auf Basis der Konfigurationen von Figurenwelten.61 Demnach evoziert eine Erzählung nicht allein eine mögliche Welt, sondern sie etabliert ein Modalsystem mit zahlreichen (Sub-)Welten, welche die Wirklichkeitsauffassungen der Figuren repräsentieren: Bildhaft lässt sich die eigentliche Textwelt – also alles, was fiktionsintern tatsächlich der Fall ist – als das ontologische Zentrum eines solchen narrativen Modalsystems betrachten, um das die Vorstellungswelten der Figuren wie Satelliten in unterschiedlicher Nähe positioniert sind – je nachdem, in welch graduellem Maße sie mit der fiktiven Wirklichkeit übereinstimmen oder von ihr abweichen.62 Die Initialisierung eines Plots setzt einen Konflikt zwischen mindestens zwei Welten dieses Modalsystems voraus, beispielsweise zwischen der Wissens- oder Glaubenswelt einer Figur einerseits und der aktualen Verfasstheit der erzählten Welt andererseits, zwischen den Vorstellungswelten einzelner Figuren oder zwischen den widerstreitenden Subwelten innerhalb einer Figurendomäne (wenn etwa eine Figur Traum und Wirklichkeit nicht zu scheiden vermag).63 Der eigentliche Katalysator des Plots – das Ereignis – ist nun der ‚Spielzug‘ einer Figur (Ryan gebraucht den spieltheoretischen Begriff move), der die Konstellationen innerhalb des Modalsystems zu ihrem Gunsten verändern soll: Eine Figur versucht durch zielgerichtete Handlungen, ihre private Welt mit der erzählten Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, also ihre eigene (Wunsch-)Vorstellung von der Textwelt aus der Peripherie des Modalsystems näher an sein aktuales Zentrum heranzuführen. Die konstitutive Ereignishaftigkeit narrativer Texte manifestiert sich in Ryans Modell nicht durch Zustandsveränderungen innerhalb einer erzählten Welt, sondern durch „the movement of worlds within narrative universes“64.

|| 60 Kanyó (Anm. 51), S. 30. 61 Siehe Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington u. a. 1991, S. 124–147. 62 Ryan unterscheidet folgenden Typen privater Figurendomänen (private domains): Wissenswelten (knowledge worlds), Wunschwelten (wish worlds), Wertewelten (obligation worlds), Glaubenswelten (belief worlds), intendierte Welten (intention worlds) und Fantasiewelten (fantasy worlds). Siehe Ryan (Anm. 61), S. 113–119. 63 Vgl. Ryan (Anm. 61), S. 119 ff. 64 Ryan (Anm. 11), S. 20.

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Die für einen Plot entscheidenden Konfigurationen sind hiernach zumeist – nach einer von Doležel vorgeschlagenen Unterscheidung65 – in multiperson worlds angelegt, in der mit- oder widerstreitende Figuren in Interaktion treten. One-person worlds, in der lediglich ein Aktant in Erscheinung tritt und dessen Handeln vielmehr eine Reaktion auf Vorgänge in seiner natürlichen Umgebung sind (prototypisch ist der Überlebenskampf Robinson Crusoes), weisen nur ein begrenztes narratives Potenzial auf.66 Demgegenüber verflechten sich die interfiguralen Netzwerke von multiperson worlds zu einem Dickicht komplexer Handlungszweige, das sich der Kontrolle der einzelnen Figuren weitgehend entzieht: „[T]he world that looks chaotic to the acting person is the most fertile narrative world. […] The semantics of narrative is, at its core, the semantics of interaction.“67 Hierdurch wird eine Kondition für die Beschaffenheit erzählter Welten im Allgemeinen ausgewiesen: Je mehr Individuen Teil der erzählten Welt sind und miteinander interagieren, desto höher ist das zugeschriebene Maß an Narrativität. Doch eine absolute Gewichtung der vielgestaltigen ‚Weltsichten‘ von Figuren als Grundvoraussetzung für die Etablierung einer Plotstruktur erweist sich ihrerseits als reduktionistisch. Die oben skizzierten Ansätze des Szegeder Forschungskreises übergehen 1. die temporale Organisation der dargestellten Sachverhalte, die überhaupt erst eine Zuschreibung von Welthaftigkeit legitimiert, und 2. wird der spezifischen Weise der sprachlichen Vermittlung, sprich dem narrativen Diskurs, kaum Rechnung getragen, obwohl gerade er die Orchestrierung der Figurenwelten im besonderen Maße dirigiert.

2.2.1 Zeitstruktur erzählter Welten Eine Welt ist nicht vorstellbar, ohne eine Ausprägung von Zeitlichkeit aufzuweisen. Zeit und Raum sind die konstitutiven Parameter für die Adressierung von Welthaftigkeit. Wenn Lesende ebenso wie die Literaturwissenschaft die virtuelle Domäne einer Fiktion intuitiv als ‚Welt‘ bezeichnen, scheint ihre zeitliche Organisation gewissermaßen vorausgesetzt. Der Philosoph David Lewis – dessen indexikalisches Verständnis von Aktualität entscheidende Impulse für die erzähl-

|| 65 Siehe Doležel (Anm. 9), S. 37–54; 74–95. Für eine eingehende Auseinandersetzung mit Doležels Beschreibung von multiperson worlds siehe den Beitrag von Maximilian Alders in diesem Band. 66 Siehe Doležel (Anm. 9), S. 96. 67 Doležel (Anm. 9), S. 97.

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theoretische Aneignung der Welten-Semantik lieferte – definiert eine Welt als mereologische Summe raumzeitlicher Teile: „A possible world has parts, namely possible individuals. If two things are parts of the same world, I call them worldmates [H. i. O.].“68 Und weiter: „[T]hings are worldmates if they are temporally related. A world is unified, then, by the spatiotemporal interrelations of its parts.“69 Lewis ist ein Vertreter der perdurantistischen Auffassung, dass eine Welt eben nicht nur aus raumdimensionalen Teilen, sondern ferner aus zeitlichen Teilen („temporal parts“) besteht.70 Diese Betrachtungsweise beschränkt sich nicht allein auf unsere aktuale Welt, sondern gilt ebenso für alle möglichen Welten – die im Sinne von Lewis‘ modalem Realismus aus Sicht ihrer Bewohner gleichermaßen aktual und daher ontologisch indifferent sind.71 Wie zu Beginn des zweiten Kapitels angedeutet, ist Zeit auch narratologischen Plot-Theorien implizit eingeschrieben. Schließlich wird die Ereignishaftigkeit des Erzählten, die zumeist als Grundbedingung für die Zuschreibung von Narrativität angesehen wird, an eine Zustandsveränderung gebunden, die sich notwendigerweise in der Zeit vollzieht. So liegt für Genette „sobald es auch nur eine einzige Handlung oder ein einziges Ereignis gibt, eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits eine Veränderung, einen Übergang vom Vorher zum Nachher“72. Arthur C. Danto hat eine Erzählung einflussreich als dreistufige Struktur aufgeschlüsselt: „We require, of stories, that they have a beginning, a middle, and an end. An explanation then consists in filling in the middle between the temporal end-points of a change.“73 Ohne an dieser Stelle auf Dantos Verständnis einer ‚narrativen Erklärung‘ näher einzugehen, die ein Geschehen in einen kausalen Ursache-Wirkung-Zusammenhang einspannt, lässt sich festhalten, dass eine Minimalerzählung einen Anfangs- und einen Endzustand voraussetzt, also die Darstellung von mindestens zwei zeitlichen Teilen einer Welt.

|| 68 David Lewis: On the Plurality of Worlds [1986]. Oxford u. a. 2001, S. 69. 69 Lewis (Anm. 68), S. 71. 70 Lewis (Anm. 68), S. 202: „Something perdures [H. i. O] if it persists by having different temporal parts, or stages, at different times, though no one part of it is wholly present at more than one time“. 71 David Lewis’ perdurantistisches Zeitverständnis wurde für die Erzähltextanalyse fruchtbar gemacht in: Christoph Bartsch: „Escape into Alternative Worlds and Time(s) in Jack London’s The Star Rover“. In: Alice Bell/Marie Laure-Ryan (Hgg.): Possible Worlds Theory and Contemporary Narratology. Lincoln/London 2019, S. 179–200. 72 Genette (Anm. 1), S. 183. 73 Arthur C. Danto: Narration and Knowledge (including the integral text of ‘Analytical Philosophy of History’). New York 2007, S 233.

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Im Prozess der narrativen Kohärenzbildung müssen Lesende die Propositionen der Erzählung also nicht allein einer Sondierung ihres (fiktiven) Wahrheitsgehalts unterziehen. Vielmehr müssen die fiktiven Sachverhalte in eine zeitliche Ordnung, wie sie Umberto Eco formal beschrieben hat, integriert werden: [Die mögliche Welt WN einer Fabel] stellt nicht einen Zustand von Dingen dar, sondern eine Abfolge von Zuständen der Dinge s1 … sn, die durch Zeitintervalle t1 … tn geordnet wird. Stellen wir also eine Fabel als eine Abfolge von WNs1 … WNsn von textuellen Zuständen dar.74

Der Nachvollzug einer temporalen Struktur darf als eine ordnungs- und sinnstiftende Lesestrategie verstanden werden, um aus der Propositionsmenge eines Textes eine konsistente Welt zu destillieren. In vielen Fällen wird die konventionelle Erwartung an eine Kongruenz zwischen Text- und Geschehensfolge erfüllt,75 andere Darstellungen von Welten werden auf anachronische Weise inszeniert (etwa mittels Analepsen oder Prolepsen76), so dass ihre zeitlichen Teile beim Lesen in ihre lineare Ordnung reorganisiert werden müssen. Ferner ist Zeit – wie Ronen betont – ein entscheidender Parameter für die ontologische Segregation und Determination einer Welt: Since a world is a constellation of spatiotemporally linked elements, temporal relations can serve as a primary criterion for drawing the dividing line between worlds; when elements cease to be spatiotemporally related, they must be attributed to separate worlds.77

Demnach veranlassen temporale Inkonsistenzen eines Textes die Lesenden dazu, widersprüchliche Propositionen separaten Subwelten zuzuordnen (etwa den Erinnerungen einer Figur zuzuschreiben). Doch auch für die Beschaffenheit der fiktionsintern aktualen Welt ist Zeit von grundlegender Bedeutung. Fiktionale Erzählungen etablieren eine „independent parallel ontology“78, daher haben die temporalen Gesetzmäßigkeiten unserer Welt keine notwendige Entsprechung in || 74 Umberto Eco: Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. [Lector in fabula. La cooperazione interpretative nei testi narrativi, 1979]. 3. Aufl., München 1998, S. 195 (H. i. O.). 75 Siehe Nelson Goodman: Vom Denken und anderen Dingen [Of Mind and Other Matters, 1984]. Frankfurt a. M. 1987, S. 160: „Wenn die Erzählordnung klar ist, neigen wir bei jeder Geschichte zunächst zu der Annahme, daß die Ereignisordnung dieselbe ist, wie die Erzählordnung.“ 76 Siehe Genette (Anm. 1), S. 21. 77 Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 199. 78 Ronen (Anm. 77), S. 198: „[O]nce worlds are projected as fictional, their fictional status implies that we attribute autonomy to the fictional domain as a whole and to each of its subdomains (including the spatio-temporal domain).“

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den erzählten Welten. Vertraute Qualitäten von Zeit wie Linearität oder Progression müssen als kontingent gedacht werden. In unnatürlichen erzählten Welten können Zeiten stehenbleiben, rückwärts oder zirkulär verlaufen, und Zeitreisende können Vergangenheit und Zukunft sowie alternative Zeitlinien besuchen (etwa in Science Fiction). Und selbst wenn die physikalische Zeit mit den Gesetzen unserer Wirklichkeit korrespondiert, kann die dargestellte historische Zeit von unserer aktualen Vergangenheit divergieren und einen alternativen Geschichtsverlauf (alternative history) entwerfen.79 Damit kommt dem bedeutsamen Verhältnis von Zeit und Welt schlussendlich auch eine gattungsklassifizierende Funktion zu.

2.2.2 Authentifizierung erzählter Welten Über ihre Eingliederung in eine temporale Struktur hinaus müssen die Propositionen eines Erzähltextes – wie oben skizziert – auf ihren fiktionsinternen Wahrheitsgehalt geprüft und die in der erzählten Welt tatsächlich gegebenen Sachverhalte erfasst werden. Um diese von den virtuellen Anschauungen der Figurenwelten trennen zu können, kommt der Berücksichtigung der jeweiligen Erzählsituation und -perspektivierung zentrale Bedeutung zu. Da sich ein Plot aus Sicht der possible worlds theory aus Konflikten zwischen (privaten) Welten generiert, dient die Polyzentriertheit einer fiktiven Welt als oftmals angewandtes Erzählverfahren, um eben solche Spannungen und Ambivalenzen zu inszenieren.80 Schließlich werden narrative Welten durch die Stimme(n) einer vermittelnden Erzählinstanz evoziert, zudem sind sie auf eine oder mehrere Perspektiven zentriert (fokalisiert), so dass „die Bestimmbarkeit des ontologischen Status und der Semantik der Welten von der (epistemischen) Verlässlichkeit der Perspektivzentren abhängt [H. i. O.]“81. Die kohärenzbildende Zuordnung von Wahrheitswerten wird also wesentlich von der Gestaltung des narrativen Diskurses bestimmt: Erhalten Lesende lediglich eine ‚Mitsicht‘ auf das erzählte Geschehen durch den Wahrnehmungsfilter einer Figur (sei es durch einen – in Genettes Terminologie – intern-fokalisierenden heterodiegtischen oder homodiegtischen || 79 Vgl. dazu Matt Hills: „Time, Possible Worlds, and Counterfactuals.“ In: Mark Bould u. a. (Hgg.): The Routledge Companion to Science-Fiction. London/New York 2009, S. 433–441. 80 Siehe Erzsébet Szabó: „Das Phänomen der Ambivalenz aus Sicht der Theorie möglicher Welten und der klassischen Narratologie“. In: Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Hgg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier 2009, S. 15– 30, hier S. 22. 81 Szabó (Anm. 80), S. 21

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Erzähler), so können sie lediglich auf die Zuverlässigkeit des Erzählten ‚vertrauen‘. Was in der erzählten Welt tatsächlich der Fall ist, müssen sie unter Umständen aufgrund implizit enthaltender Textinformationen oder mittels kognitiver Inferenzprozesse schlussfolgern: Da die Welten und Subwelten der handelnden Personen miteinander inkongruent sind, d. h. ihre Glaubens- bzw. Wissenswelten miteinander nicht in Deckung gebracht werden können, kann der Rezipient bei einem aus der Sicht der handelnden Personen vorgenommen [sic!] Erzählbericht aus den ggf. einander widersprechenden Annahmen über die Welt der Erzählung nur dann ein kohärentes Ganzes ermitteln, wenn er auf Grund des Erzähltextes in der Lage ist, den Wahrheitswert dieser Annahmen in der Welt der Erzählung zu bestimmen.82

Die Glaubwürdigkeit vermittelter Sachverhalte wird durch „narrative AutoritätsKonventionen [H. i. O.]“83 festgelegt. Eine Theorie möglicher Welten kann hierbei auf Arbeiten zur logischen Struktur fiktionaler Diskurse zurückgreifen: Nach Félix Martínez-Bonati wird den Informationen eines Erzählers über die erzählte Welt eine höheres Maß an Zuverlässigkeit zugeschrieben als den Aussagen der Figuren über ihre Welt: Was der Erzähler über die konkrete Welt des Romans […] sagt, ist immer und ohne Einschränkung wahr. Die singuläre Welt eines jeden Romans ist notwendig genau so – nicht mehr und nicht weniger – wie der Erzähler sie beschreibt. Und daher sind diejenigen Aussagen von Personen des Romans, die mit denen des Erzählers übereinstimmen, notwendig wahr, diejenigen, die von ihnen abweichen, notwendig falsch.84

Wenngleich der generalisierende Duktus dieser Feststellung irritieren mag – da sie nur auf eine auktoriale Erzählinstanz zuzutreffen scheint –, wirft sie ein Schlaglicht auf den Konnex zwischen Erzählakt und erzählter Welt innerhalb eines fiktionstheoretischen Kommunikationsmodells: Der reale Autor einer fiktionalen Erzählung ist nicht allein der Erfinder einer fiktiven Welt, sondern er fingiert gleichsam eine fiktive Erzählinstanz, die über eben jene Welt berichtet. Und nach Martínez-Bonati ist die Rede der Erzählinstanz gegenüber einer Figurenrede stets höher privilegiert, weil erstere im performativen Akt des Erzählens

|| 82 Kanyó (Anm. 48), S. 21. 83 Szabó (Anm. 80), S. 21. 84 Félix Martínez-Bonati: „Die logische Struktur der Dichtung“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973), S. 185–200, hier S. 186.

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die Welt und ihre Sachverhalte erst festsetzt, während die Äußerungen der Figuren über ihre Welt dann selbst solche Sachverhalte dieser Welt sind.85 Um zu entschlüsseln, was in einer erzählten Welt der Fall ist, muss ferner nicht nur berücksichtigt werden, wer die Propositionen einer Textmenge ‚spricht‘, sondern auch wer die dargestellten Sachverhalte ‚wahrnimmt‘. Die fiktionsinterne Aktualität des Dargestellten hängt erheblich von der Zuverlässigkeit der erlebenden Figur ab, durch deren ‚Brille‘ die Sachverhalte beschrieben werden. Besonders deutlich wird dies bei Erzähltexten, die gezielt Inkonsistenzen zwischen der Wahrnehmung einer Figur und anderen Aussagen des Textes hinsichtlich der Weltbeschaffenheit produzieren: Sie können Lesende etwa zu der für die Gattung des Fantastischen konstitutiven Unschlüssigkeit86 darüber verleiten, welche Propositionen als fiktional-wahr akzeptiert und einer konsistenten Menge (fiktionsintern) aktualer Sachverhalte zugeführt werden können und welche als inkonsistent, sprich falsch ausscheiden müssen. Wesentliche Aussagen des Erzählers müssen dann ggf. als unzuverlässig angesehen werden, oder aber ein zuverlässiger Erzähler kommuniziert eine aus Lesersicht hybride, „unzuverlässige Welt“87.

2.3 Kognition und Kontext: Storyworlds in der postklassischen Narratologie Während die Auseinandersetzung mit der erzählten Welt lange Zeit in periphere narratologische Zugriffe wie etwa die possible worlds theory ausgelagert war, ist sie nach der Jahrhundertwende zu einem zentralen Paradigma postklassischer Erzählforschung avanciert. So betrachtet Hermans gleichsam kognitiv wie || 85 Vgl. Martínez-Bonati (Anm. 84), S. 186 f. Nicht alle Aussagen des Erzählers legen konkrete Sachverhalte der erzählten Welt fest. Martínez-Bonati unterscheidet mimetische Sätze, die auf singuläre Gegenstände referieren, von nicht-mimetischen Sätzen, die theoretische und universale Behauptungen treffen (dergestalt: ‚Jede Glücksträhne geht einmal zu Ende.‘). Erzählungen sind mimetische Diskurse, denn „the fundamental compass of narrative is a world of individuals“. Félix Martínez-Bonati: Ficitve Discourse and the Structure of Literature. A Phenomenological Approach. Ithaca/London 1981, S. 24. Nicht-mimetische Sätze vermögen lediglich, die ‚Persönlichkeit‘ des Erzählers zu konturieren, „they are relative to his person and no image of the world flows from them“ (S. 32). 86 Siehe Anm. 26. 87 Alice Jedličková: „An Unreliable Narrator in an Unreliable World. Negotiating between Rhetorical Narratology, Cognitive Studies and Possible Worlds Theory“. In: Elke D’hoker/ Gunther Martens (Hgg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel. Berlin 2008, S. 281–302, hier S. 297.

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transmedial ausgerichtetes erzähltheoretisches Programm den Nexus von Weltevokation mittels Erzählungen (worldmaking) einerseits und ihrer Zerrüttung (world disruption) andererseits als eines von vier grundlegenden Elementen, die eine prototypische Erzählung charakterisieren.88 In diesem Kontext prägte er den einschlägigen Begriff storyworlds für „mental models of the situations and events being recounted – of who did what to and with whom, when, where, why, and in what manner“.89 Narrative worldmaking im Sinne Hermans muss als ein bidirektionaler Prozess gedacht werden: Zum einen nehmen Leserinnen und Leser das Konglomerat textueller Signale als Angebot wahr, um erzählte Welten mental zu konfigurieren und zu ‚erkunden‘; diesen Vorgang bezeichnet Herman als „worlding the story“90. Zum anderen werden Erzählungen dazu genutzt, um Erfahrungen der eigenen Lebenswelt zu strukturieren und mit Sinn anzureichern; diesen Prozess der Sinngenerierung und Komplexitätsreduktion nennt Herman „storying the world“91. Erzählte Welten ermöglichen nicht nur die Integration des Mitgeteilten in einen kohärenten Verstehenszusammenhang. Sie fungieren darüber hinaus als mentales Tableau, um die Wirklichkeit sinnhaft auszudeuten. Herman betrachtet „narrative worlds as both a target for interpretation and a resource for sense-making“92, und die hierdurch ausgewiesene Verschränkung von Erzählen und Geist93 gilt als programmatisch für die kognitive Ausrichtung postnarratologischer Theoriebildung. Herman interessieren vor allem die ‚narrativen Weisen der Welterzeugung‘, d. h. die Freilegung jener kognitiven Rezeptionsprozesse, die durch das Arrangement bestimmter Textsignale gesteuert werden und die Konstruktion mentaler Welten koordinieren, in die Lesende für die Dauer der Lektüre imaginativ ‚eintauchen‘. Die Immersionen in erzählte Welten rückten im Zuge der kognitiven Wende verstärkt in den Fokus postklassischer Erzählforschung. Schon der Kognitionswissenschaftler Richard J. Gerrig hat hervorgehoben, wie eng die Erfahrung des „being transported“ mit der sinngebenden Lektüre eines Erzähltextes verquickt ist: „[O]ne of the most profound aspects of the experience of narra-

|| 88 Siehe David Herman: Basic Elements of Narrative. Malden u. a. 2009, S. 9. Die vier Basiselemente sind situatedness, event sequencing, worldmaking/world disruption und what it’s like. 89 Herman (Anm. 88), S. 106 f. 90 David Herman: „Approaches to Narrative Worldmaking“. In: Molly Andrews/Corinne Squire/ Maria Tamboukou (Hgg.): Doing Narrative Research. Los Angeles u. a. 2013, S. 176–196, hier S. 179. 91 Herman (Anm. 90), S. 179. 92 Herman (Anm. 90), S. 178. 93 Herman (Anm. 90), S. 178.

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tive worlds is how very hard it is not to show some features of being transported, whatever the quality of the narrative [H. i. O.].“94 Da Gerrig das Abtauchen der Lesenden in die textgesteuerte Welt als wesentlichen Teil des mentalen Verstehensprozesses betrachtet, sieht er das Immersionspotenzial weder vom Grad der Narrativität abhängig noch auf fiktionale Texte beschränkt.95 Die mentale Vergegenwärtigung einer erzählten Welt wird vor allem durch die leserseitige Neujustierung deiktischer und referenzieller Parameter erzielt. Der Linguist Paul Werth – dessen text world theory posthum Eingang in den Kanon der Kognitiven Narratologie fand – betrachtet unter anderem indexikalische Ausdrücke als world-building elements, da sie das raumzeitliche Koordinatensystem abstecken, in dem sich das erzählte Geschehen vollzieht. Damit entwerfen sie den konzeptuellen Raum (die text world), wo Leserinnen und Leser das Erzählte in Relation zu einem egozentrischen Referenzpunkt, einem imaginären Hier-und-jetzt, verorten.96 Daneben können auch Objekte oder Figuren als world builder fungieren, indem sie Kulissen und Requisiten – das „stagesetting“97 – bereitstellen, vor deren Hintergrund die eigentliche Handlung durch function-advancing propositions vorangetrieben wird.98 Während world builder eine rein deskriptive Funktion haben und vorwiegend statische Zustände festlegen, sorgen function-advancing propositions für Bewegung und Veränderungen in der Textwelt, etwa durch Aktionen der Figuren. Erst dadurch kann sich eine narrative Dynamik entfalten, weshalb Werth die function-advancing propositions in Erzählungen auch als „plot advancing elements“99 bezeichnet.100

|| 94 Richard J. Gerrig: Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Reading. Yale University 1993, S. 5. 95 Siehe Gerrig (Anm. 94), S. 7. „If we define the experience of narrative worlds with respect to an endpoint (the operation of whatever set of mental processes transports the reader) rather than with respect to a starting point (a text with some formal features), we can see that no a priori limits can be put on the types of language structures that might prompt the construction of narrative worlds“ (S. 4). 96 Siehe Paul Werth: „How to Build a World (in a lot less than six days, using only what’s in your head)“. In: Keith Green (Hg.): New Essays in Deixis. Discourse, Narrative, Literature. Amsterdam/Atlanta 1995, S. 49–80, hier S. 56 f. Siehe den Beitrag von Katharina Lukoschek in diesem Band. 97 Werth (Anm. 96), S. 65. 98 Siehe Werth (Anm. 96), S. 71. 99 Werth (Anm. 96), S. 60. 100 Viele kognitiv-linguistische Ansätze wie die text world theory greifen bei der Beschreibung mentaler Weltprojektionen zentrale Einsichten und Begriffe der possible worlds theory explizit auf. Elena Semino fasst zusammen, worin der Mehrwert des text-world-Zugriffs von seinen Vertretern gesehen wird: „[P]ossible-worlds theory approaches text worlds as the ‘prod-

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Damit im Zuge des worldmaking der narrative Motor im engeren – typologischen – Sinne gezündet wird, muss sich laut Herman in den mental projizierten Welten etwas Unerwartetes, Normabweichendes, d. h. ein sich etablierten Heuristiken entziehendes Geschehen ereignen: [S]tories prototypically represent not just a narrative world but also world disruption, that is, events introducing disequilibrium or noncanonical situations into that world – as experienced by human or human-like agents.101

Mit explizitem Bezug auf die klassischen Vorarbeiten von Propp und Todorov – denen zufolge es der zeitweisen Störung (und anschließenden Wiederherstellung) eines anfänglichen Gleichgewichts bedarf, damit aus einer bloßen Ereignissequenz eine Geschichte wird102 – bestimmt Herman den Bruch einer konventionellen Erwartung als zentralen Kern einer jeden Erzählung.103 Den Boden für die Saat von Erzählwürdigkeit (tellability) und Narrativität bereitet eben nicht die Zwangsläufigkeit, sondern die Kontingenz eines Ereignisverlaufs104 – womit auch eine texttypologische Abgrenzung zur reinen Beschreibung festgelegt ist: [R]ather than being an optional feature of representations that would still be narratively configured without it, […] tellability is built into the nature of narrative at the level of worldmaking. Once a world has been evoked and interpreters have relocated to it, orienting themselves to its canonical scripts or “givens,” the procedures specific to narrative worldmaking require that the world be one in which those givens are called into question,

|| uct’ of comprehension, namely as the relatively stable outcome of processes of interpretation. Possible-worlds theorists do not […] aim to account for how text worlds are incrementally constructed by readers or listeners during online text processing.“ Elena Semino: „Text Worlds“. In: Geert Brône/Jersen Vandaele (Hgg.): Cognitive Poetics. Goals, Gains and Gaps. Berlin/New York 2009, S. 33–77, hier S. 55. 101 Herman (Anm. 88), S. 133. 102 Vgl. Herman (Anm. 88), S. 19. Siehe auch Abschnitt 2.1 dieses Beitrags. 103 Entscheidend ist, dass Herman die für storyworlds typische Abweichung vom Gewöhnlichen ebenfalls kognitiv herleitet: Erzählen sei eine kognitive und kommunikative Strategie des Menschen, um im Alltagserleben auftretende Inkongruenzen zwischen erwarteten und tatsächlich eintreffende Ereignissen zu erklären. Herman bezieht sich hierbei explizit auf die Arbeiten des Kognitionspsychologen Jerome Bruner, wonach Menschen Erfahrungen und Erinnerungen vorwiegend in Form von Erzählungen organisieren; er betrachtet „narrative as a form not only of representing but of constituting reality“. Jerome Bruner: „The Narrative Construction of Reality“. In: Critical Inquiry 18/1 (1991), S. 1–21, hier S. 5. 104 Siehe Herman (Anm. 88), S. 135. Vgl. Bruner (Anm. 103), S. 11.

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jeopardized by events that are more or less radically noncanonical, more or less antithetic to the normal order of things.105

Der sprachlichen Repräsentation einer Zustandsveränderung wohnt demnach nicht per se Narrativität inne, genauer, nicht jede Zustandsveränderung an sich ist von erzählwürdiger Relevanz. Vielmehr muss sie als eine dezisive und überraschende Wendung, als etwas Regelabweichendes, Unerhörtes inszeniert werden. In ähnlicher Weise schlägt etwa Peter Hühn ebenfalls ganz im Sinne postklassischer Ausrichtung einen kognitivistischen und kontextuellen Zugriff vor: Unter Rückgriff auf die in der Kognitionsforschung elaborierte Schema-Theorie stellt er fest, dass Handlungssequenzen in einem Text, die lediglich stereotypen prozeduralen Mustern (scripts) folgen, nicht erwähnenswert, nicht ereignishaft, und somit nicht narrativ seien.106 Damit verschiebt sich auch der Blick auf die erzählte Welt, vor deren Hintergrund die Ereignishaftigkeit eines Geschehens beurteilt wird: Das Wissen um die Beschaffenheit der erzählten Welt, sprich, um die in ihr waltenden Gesetzmäßigkeiten basiert nicht allein auf textuellen Informationen, sondern gründet sich auf den kognitiven Schemata der Lesenden. Was als ereignishaft wahrgenommen wird, hängt von den gattungsspezifischen Erwartungen, dem Weltwissen der Leserschaft und damit von kulturellen wie historischen Variablen ab. Der Grad an Narrativität, der einem Text zugeschrieben wird, ist demnach untrennbar verquickt mit der außertextuellen Welt, die ihn präformiert und in deren Kontext seine Rezeption erfolgt. In diesem Sinne wird er nicht ausschließlich durch die Abweichung von jenen formalästhetischen Normen bestimmt, die strukturalistisch orientierte Theorien im Text selbst markiert sehen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass bei der narrativitätstheoretischen Betrachtung erzählter Welten nicht allein das Weltwissen der Gegenwart berücksichtigt werden muss, sondern vor allem auch das vorherrschende Weltbild der Autor- und Leserschaft zur Zeit der Textentstehung. Lewis verweist hier auf die „collective belief worlds of the community of origin [H. i. O.]“107, auf deren Folie

|| 105 Herman (Anm. 88), S. 135 f. 106 Peter Hühn: „Functions and Forms of Eventfulness in Narrative Fiction“. In: John Pier/ José Ángel Garcia Landa (Hgg.): Theorizing Narrativity. Berlin u. a. 2008, S. 141–163, hier S. 147. „A narrative text that confirms closely to a schema is not noteworthy and thus not eventful, since such a text only reproduces what is already known and expected. Eventfulness thus involves departure from a schematic pattern or script activated in the text“ (ebd.). 107 David Lewis: „Truth in Fiction“. In: American Philosophical Quarterly 15/1 (1978), S. 37–46, hier S. 44.

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die Welt einer Fiktion modelliert wird. Was in einer fiktiven Welt der Fall ist, hängt maßgeblich von zeitgebundenen Ansichten darüber ab, was in der aktualen Welt der Fall ist. Die Rezeption fiktiver Texte erfolgt stets durch das Prisma historischen Weltwissens, es ist der erzählten Textwelt fortdauernd eingeschrieben: „What is true in a fiction when it was first told is true in it forevermore.“108 Die „weltbilderzeugende Rolle“109 der Literatur hat Ansgar Nünning betont und im Dienste einer anschlussfähigen postklassischen (historischen und kontextuellen) Literaturwissenschaft auszudifferenzieren versucht. Er warnt vor einem „verkürzenden mimetischen Verständnis von Literatur als ‚Abbildung‘ von Welt“110. Denn in literarischen Texten werden Weltbilder und Weltwissen nicht bloß gespeichert und konserviert, sondern sie fungieren „als ein narrativfiktionaler Explorationsraum von neuen oder verdrängten Wissensformen sowie als aktives und eigenständiges Medium zur Generierung von Weltbildern, Werten und Wissen“111. Nünning fordert, den Blick vor allem auf die literaturspezifischen – narrativen – Formen zu richten, durch die Literatur alternative Welten und Weltbilder generiert, inszeniert, konfiguriert und refiguriert, die wiederum auf die aktuale Lebenswelt rückwirken können.112 Indem also die postklassische Narratologie zur Erforschung fiktiver Welten (storyworlds) und ihrer Narrativität hervorbringenden Brüche (world disruption) außertextuelle – kognitive, historische oder kontextuelle – Parameter in die Analyse miteinbezieht, ebnet sie einer histoire-orientierten Erzählforschung neue Wege und stellt sie zugleich vor interdisziplinäre Herausforderungen.

3 Zur Fiktivität erzählter Welten Die Diskussion um die Wesensartigkeit erzählter Welten ist untrennbar verquickt mit Theorien der literarischen Fiktion. Denn die Auseinandersetzung mit

|| 108 Lewis (Anm. 107), S. 44. 109 Ansgar Nünning: „Welten – Weltbilder – Weisen der Welterzeugung: Zum Wissen der Literatur und zur Aufgabe der Literaturwissenschaft“. In: Germanisch-Romanische Monatszeitschrift 59 (2009), S. 65–80, hier S. 73. 110 Nünning (Anm. 109), S. 72. 111 Nünning (Anm. 109), S. 74. 112 Nünning (Anm. 109), S. 69.

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einer textuell dargestellten Welt fordert Fragen nach ihrer Seinsbeschaffenheit vor allem in ihrem Verhältnis zur außertextlichen Welt geradezu heraus.113 Thomas G. Pavel plädierte als einer der ersten Literaturtheoretiker für eine Überwindung strukturalistischer Zugriffe, die Fragen der Referenz weitgehend ausklammern, zugunsten eines Modells möglicher Welten, das sich ‚entfernt‘ an Kripkes Modalsemantik orientiert und auf diese Weise der Fülle fiktionaler Schöpfungen gerecht werden soll: „[R]ather than a rigorously unified semantics, fiction needs a typology of worlds to represent the variety of fictional practice.“114 Wenngleich Kripkes possible-worlds-Semantik wesentlich enger gefasst ist, sieht Pavel in ihr eine ansprechende „ontologische Metaphorik“ für fiktionstheoretische Betrachtungen.115 Versteht man erzählte Welten als storyworlds im Sinne Hermans, also von der leserseitigen Kohärenzbildung her, ermöglicht dies eine Lesehaltung des Als-Ob. In offensichtlicher, wenn auch nicht ausgewiesener Anlehnung an Wolfgang Iser versteht Thomas L. Martin die kognitive Einstellung gegenüber einer erzählten Welt als mögliche Welt als Voraussetzung für Immersion in die fiktive Handlung und Identifikation mit dem Geschehen: „[A] possible-worlds approach allows us to read the texts of literature as if they were true [H. i. O.].“116 Isers Als-Ob verknüpft allerdings die „Präsenz des Imaginären“117, die ein fiktionaler Text hervorzurufen vermag, damit, dass fiktive Welten durch „Fiktionssignale“ im Text „in Klammern gesetzt“ und dadurch als fiktiv kenntlich gemacht werden, wodurch ein „Kontrakt“ zwischen Produzenten- und Rezipientenseite entsteht.118 Der possible worlds-Ansatz hingegen steht hier eher dafür, dass fiktive Welten aus kognitiver Sicht ähnlich wie reale Welten wahrgenommen werden und identifikatorische Lektüren deshalb auch eine Berechtigung haben. Betrachten wir die durch eine Erzählung etablierte Welt als eine logisch konsistente Menge von Sachverhalten mit einem eigenen Individuenbereich, gilt grundsätzlich festzuhalten, dass dieser mit realen Entitäten der aktualen

|| 113 Siehe Paradigma I („Fiktional und faktual erzählte Welten“) in diesem Band. 114 Thomas G. Pavel: Fictional Worlds. Cambridge/London 1986, S. 50. 115 Pavel (Anm. 114), S. 50: „[I]f […] technically impeccable possible worlds are too narrowly defined to provide for a model in the theory of fiction, on the other hand the notion of world as an ontological metaphor for fiction remains too appealing to be dismissed.“ 116 Thomas L. Martin: Poiesis and Possible Worlds. A Study in Modality and Literary Theory. Toronto u. a. 2004, S. 117. 117 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 51. 118 Iser (Anm. 117), S. 36 f.

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Welt niemals identisch sein, sondern mit ihnen nur in bestimmten Korrespondenz- bzw. Similaritätsbeziehungen stehen kann.119 Zugleich dienen implizit vorausgesetzten Analogien zur wirklichen Welt als Grundlage für die mentale Konstruktion fiktiver Welten: Gemäß des von Ryan in die Erzähltheorie eingebrachten Prinzips der minimalen Abweichung (principle of minimal departure) imaginieren Leserinnen und Leser fiktive Welten in größtmöglicher Übereinstimmung zu ihrer Lebenswelt, sofern der jeweilige Text selbst keine Änderungen (sei es explizit oder implizit) vorgibt und im Lektüreverlauf retrospektive Korrekturen veranlasst.120 Die Bedeutung des Begriffs ‚erzählte Welt‘ steht in Relation zu den Koordinaten fiktiv/nicht-fiktiv und narrativ/nicht-narrativ, wie sie von Dorrit Cohn maßgeblich geprägt wurden: Mit dem Begriff ‚Fiktion‘ bezeichnet Cohn „a literary nonreferential narrative“121. Ihr Verständnis einer ‚Erzählung‘ (narrative text) folgt dem narratologischen Konsens und meint eine Reihe von Aussagen, die sich auf kausal miteinander verbundene Ereignisse beziehen, in denen Menschen (oder menschenähnliche Geschöpfe) involviert sind.122 Während also die Bestimmung von Narrativität noch keinen Aufschluss über die Faktizität oder Fiktivität des in einem Text Dargestellten gibt, fungiert vielmehr die Art der Referenzialität als entscheidendes Distinktionskriterium: „[A] work of fiction itself creates the world to which it refers by referring to it.“123 Durch diese besondere Art der Selbstreferenz können narrative Texte voneinander unterschieden werden, je nachdem ob sie von realen (wie z. B. Reportagen, Autobiografien oder historiografische Texte) oder von imaginierten Personen und Ereignissen handeln (z. B. Romane oder Märchen). Weder ist Narrativität also ein hinlängliches Kriterium für die Fiktivität der erzählten Welt, noch ist ein Text, der eine fiktive || 119 Vgl. Kanyó (Anm. 48), S. 20. Vgl. auch Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 3. Aufl., Berlin u. a. 2014, S. 40–42. 120 Hierbei muss freilich in Rechnung gestellt werden, dass die einem Text obliegende, gegebenenfalls paratextuell markierte Gattungskonvention von vornherein ein von der Wirklichkeit abweichendes Tableau aufruft (z. B. im Falle des Märchens). Zum principle of minimal departure siehe Ryan (Anm. 61), S. 48–60. Es werden also nur solche realweltlichen Sachverhalte modifiziert, die für den Fokus der Erzählung relevant sind. Ähnlich funktioniert Kripkes formale Semantik: Zwar sind mögliche Welten „vollständige ‚Weisen, wie die Welt hätte sein können‘ oder Zustände oder Geschichten der gesamten Welt [H. i. O.]“; aber „man könnte sich die ‚kontrafaktische‘ Situation als eine Miniwelt oder einen Minizustand denken, der auf Aspekte der Welt beschränkt ist, die für das vorliegende Problem relevant sind.“ Kripke (Anm. 45), S. 26 f. 121 Dorrit Cohn: The Distinction of Fiction. Baltimore/London 1999, S. 12. 122 Siehe Cohn (Anm. 121), S. 12. 123 Cohn (Anm. 121), S. 13. Siehe auch Schmid (Anm. 109), S. 40: „Die Fiktion besteht im Machen, in der Konstruktion einer ausgedachten, möglichen Welt.“

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Welt entwirft, notwendig narrativ – wenngleich beide Kategorien zumeist eine Schnittmenge bilden, wie Ryan festhält: [S]toryworlds have to fulfill more stringent conditions than fictional worlds because these conditions have to ensure narrativity. One can imagine a purely descriptive fictional world lacking a temporal dimension, but this world would not be a storyworld. The relation between storyworlds and fictional worlds is thus one of overlap: some storyworlds are not fictional, some fictional worlds are not storyworlds, but most imaginary worlds are both.124

Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass nicht alles, was in einer narrativen Fiktion erzählt wird, ausschließlich selbstreferenziell sein muss: „[W]hen we speak of the nonreferentiality of fiction, we do not mean that it can not refer to the real world outside the text, but that it need not refer to it [H. i. O.].“125 In einer fiktionalen Erzählung können etwa durchaus die Namen von Ländern oder Personen genannt werden, die tatsächlich auch in der wirklichen Welt der Leserschaft existier(t)en und dadurch eine ‚doppelte‘ Referenz aufweisen. Umgekehrt jedoch muss alles, was in einem faktualen Text erzählt und nicht explizit als erfunden ausgewiesen wird, einen referenziellen Bezug zur Wirklichkeit beanspruchen. Entsprechend lassen sich die Aussagen einer faktualen Erzählung wie beispielsweise einer Historiografie als ‚wahr‘ verifizieren oder als ‚falsch‘ falsifizieren, da sie mit extratextuellen Informationen in Bezug gesetzt werden können. Doležel bedient sich auch hier der Semantik möglicher Welten: „[H]istorical texts have to be truth-functional because they stipulate possible worlds that serve as models of the actual past“126. Wenn wir im Anschluss an Cohn im Folgenden davon ausgehen, dass jede fiktionale Erzählung ihre eigene fiktive Welt konstituiert, ist das Wahrheitskriterium – also die Frage, ob über solche Welten getroffene Aussagen wahr oder falsch sind – irrelevant: Ein faktualer Text kann falsche Aussagen über die reale Welt, ein fiktionaler kann wahre Aussagen über eine fiktive Welt treffen. Faktuale Erzählungen werden von fiktionalen Erzählungen abgegrenzt, weil ihnen die reale Welt als Ereignisraum zugrunde liegt, die unabhängig von Äußerungsakten existiert, während fiktive127 Welten erst durch den illokutionären Charak|| 124 Marie-Laure Ryan: „From Possible Worlds to Storyworlds. On the Worldness of Narrative Representation“. In: Alice Bell/Marie Laure-Ryan (Hgg.): Possible Worlds Theory and Contemporary Narratology. Lincoln/London 2019, S. 62–87, hier S. 63. 125 Cohn (Anm. 121), S. 15. 126 Lubomír Doležel: Possible Worlds of Fiction and History. The Postmodern Stage. Baltimore 2010, S. 43. 127 Mit unserer Begriffsverwendung schließen wir an Matías Martínez und Michael Scheffel an, die „den pragmatischen Status einer Rede“ als fiktional bzw. faktual kennzeichnen, „den

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ter fiktionalen Erzählens selbst hervorgebracht werden: „Fictional texts are performative: they call possible worlds into fictional existence“. Ein historiografischer Text hingegen „is constative, a description of a world that preexisted the act of representation“128. Während also die reale Welt dem Erzählen vorgängig ist, bleiben fiktive Welten von der sie etablierenden Erzählung abhängig.129

4 Ein Modell erzählter Welten Zum Abschluss unserer Darstellung soll das im Folgenden vorgestellte Modell entsprechend der oben hervorgehobenen zentralen Prämisse – die Abhängigkeit der erzählten Welt von ihrer Erzählung – die Art und Weise, wie eine Welt diskursiv konstituiert wird, in den Blick nehmen und durch diese perspektivische Ausrichtung ‚klassische‘ mit ‚postklassischer‘ Theorie engführen. Wir erhoffen uns von ihm eine Schärfung des Welt-Begriffes, indem es für die konkrete Analyse differenzierte, operationalisierbare Kategorien bereithält. Das Modell steht in Genette’scher Tradition, setzt sich jedoch mit dessen eher discours-narratologischen Ansatz kritisch auseinander, indem Erzählen und Erzähltes miteinander konsolidiert werden. Damit soll die Ambiguität in Genettes Modell adressiert werden, dass sich die Diegese sowohl auf die ontologische Dimension des Erzählten (i. e. auf das „Universum, in dem sie [die Geschichte] spielt“130) bezieht als auch auf die pragmatische Verortung textinterner Erzählinstanzen und Diskurse. Denn für Genette beschreibt der Begriff der Diegese eben nicht nur die erzählte Welt als in einer Erzählung signifizierter Ereignisraum. Vielmehr beschreibt Genette die Diegese in Abhängigkeit von der sie etablierenden Instanz als potenziell mehrschichtig: Extradiegetische Erzähl-

|| ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten“ mit fiktiv bzw. real. Matías Martínez/ Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl., München 2006, S. 13. 128 Doležel (Anm. 126), S. 42. 129 In der philosophischen Diskussion ist dieses intuitive Verständnis nicht unumstritten. Nelson Goodman verneint eine ontologische Differenz zwischen Welten, die durch Fiktionen, und solchen, die durch Nichtfiktionen, erschafft werden. Seine antirealistische Position ist, dass es so etwas wie die (wirkliche) Welt nicht gibt; vielmehr gibt es viele Welten, da es viele konfligierende Wahrheiten gibt. Wenn es etwas Wirkliches nicht gibt, kann es ebenso wenig etwas Nichtwirkliches, sprich Fiktives geben. Zugespitzt resümiert Goodman: „Es gibt keine fiktiven Welten. Der durch diesen Verlust gepeinigte Gelehrte mag in dem Zusatz, daß es so etwas wie die tatsächliche Welt auch nicht gibt, Trost finden oder nicht.“ Goodman (Anm. 75), S. 179. 130 Genette (Anm. 1), S. 182.

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instanzen öffnen eine erste Erzählebene, sie bringen die Erzählung und damit auch die erzählte Welt hervor. Innerhalb dieser erzählten Welt, der Diegese, kann es weitere – intradiegetische – Instanzen geben, die wiederum eine neue Diegese (in Genettes Terminologie: eine Metadiegese) etablieren. Bei der Unterscheidung von extra- oder intradiegetischen Erzählinstanzen bleibt allerdings unberücksichtigt, welchen ontologischen Status Erzählungen haben, die bereits in eine fiktive Handlung ersten Grades eingebettet sind. Da Genette die Ereignisräume solcher Binnenerzählungen wiederum als „Universen“ bezeichnet,131 liegt die Schlussfolgerung nahe, dass eine intradiegetische Erzählinstanz immer eine weitere ontologisch-divergente, sprich fiktive Ebene einfügt.132 Eine Binnenerzählung müsste in diesem Sinne stets fiktional im Verhältnis zur Rahmenerzählung sein – eine Einsicht, die sich jedoch nicht konsistent verhält zu Genettes pragmatischer Verwendung des Begriffs diegetisch. Unser Modell soll dem Umstand Rechnung tragen, dass fiktive Welten zwar von der sie etablierenden Erzählung abhängig sind, aber nicht jede neue Binnenerzählung zugleich eine neue Diegese hervorbringen muss, sprich: eine neue erzählte Welt. Vielmehr lassen sich vier verschiedene Typen erzählter Welten beschreiben, wenn sie nicht nur am Redekriterium festgemacht werden, sondern gleichermaßen nach ihrer ontologischen Verfasstheit gefragt wird. Wir schlagen vor, den Genette’schen Begriff der Diegese von dem der Welt nach eben diesen beiden Kriterien abzugrenzen: von Diegese sei immer dann die Rede, wenn die logisch-pragmatische Dimension einer Erzählung gemeint ist, von Welt immer dann, wenn die ontologische Dimension einer Erzählung gemeint ist. Anhand verschachtelter Erzählungen lässt sich dieses Verständnis von erzählter Welt als narratologische Kategorie problematisieren.133 Zwei Thesen zum Verhältnis von Diegese und Narration fassen unsere Annahmen zusammen: 1. Narrationen auf unterschiedlichen diegetischen Ebenen etablieren nicht zwangsläufig ontologisch verschiedene Welten. 2. Ineinandergeschachtelte Welten sind nicht notwendig verschiedenen diegetischen Ursprüngen zuzuordnen. || 131 Genette (Anm. 1), S. 148: „Die Metaerzählung ist eine Erzählung in der Erzählung, und die Metadiegese ist das Universum dieser zweiten Erzählung, so wie die Diegese […] das Universum der ersten Erzählung bezeichnet [H. i. O.].“ 132 Auf diesem Gedanken beruht das Prinzip der Metalepse, bei der die Grenze überschritten wird „zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird.“ Genette (Anm. 1), S. 153. 133 Siehe zu multiplen storyworlds den Beitrag von Maria Kim über Mark Z. Danielewskis House of Leaves in diesem Band.

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Im folgenden Schaubild (Abb. 1) sind die vier Typen erzählter Welten abgebildet, die beschreibbar werden, wenn man ihre ontologische ins Verhältnis zu ihrer sprachlogischen Konstitution setzt. Als Beispiele dienen Erzählungen, in denen (mindestens) zwei erzählte Welten vorkommen oder zwei Erzählinstanzen. Gefragt wird jeweils danach, ob die dargestellten Welten verschiedenen Diegesen zuzuordnen sind (sprachlogische Konstitution), und ob sie sich ontologisch unterscheiden, d. h., ob es sich dabei um dieselbe Welt oder unterschiedliche Welten handelt (ontologische Konstitution).

eW1 + eW2

ontologische Konstitution / vertikal + Welt

eW1

sprachlogische Konstitution / horizontal + Erzählinstanz NeW1

NeW1 + NeW2

einheitliche Diegese und ontologisch einheitliche Welt = Diegese

verschiedene Diegesen und ontologisch einheitliche Welt = Metadiegese

Es gibt keine narrative Schwelle.

Der Seinsstatus der erzählten Welten ist identisch, die Erzählinstanzen unterscheiden sich.

einheitliche Diegese und ontologisch abweichende Welten = unidiegetische Welten

verschiedene Diegesen und ontologisch abweichende Welten = metadiegetische Welten

Die erzählten Welten haben nicht den gleichen Seinsstatus, werden aber von derselben Erzählinstanz vermittelt.

Abb. 1: Modell erzählter Welten

Sowohl der Seinsstatus als auch die Erzählinstanzen der erzählten Welten unterscheiden sich.

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Ausgangspunkt ist die formale Ergänzung des Modells um den erzählerischen ‚Normalfall‘, die singuläre Diegese: Nach dem Kriterium der ontologischen Konstitution liegen keine verschiedenen Welten, nach dem Kriterium der sprachlogischen Konstitution keine verschiedenen Diegesen vor. In die Narration N, welche die erzählte Welt (eW1) etabliert (NeW1), ist weder eine mögliche Binnennarration (NeW2) noch eine zweite Welt (eW2), d. h. eine fiktionsinterne Fiktion, eingebettet. Es gibt in diesem Fall keine narrative Schwelle: eine Erzählinstanz berichtet von einer erzählten Welt. Erzählt nun eine gleichbleibende Erzählinstanz von einer zweiten Welt, deren Seinsstatus sich von der ersten unterscheidet, wie dies beispielsweise in Lewis Carrolls Alice in Wonderland (1865) der Fall ist, haben wir es mit diegetisch einheitlichen und gleichzeitig ontologisch abweichenden Welten zu tun: Alice bewegt sich in zwei verschiedenen Welten – eine (fiktionsintern) reale Welt und eine Traumwelt –, die aber von derselben Erzählinstanz vermittelt werden. Einer ontologischen Schwelle steht also die diegetische Einheitlichkeit gegenüber, weshalb wir hier von unidiegetischen Welten sprechen. Umgekehrt stellt sich der Fall da, wenn eine ontologisch einheitliche Welt von mehreren Erzählinstanzen vermittelt wird: In der Erzählung Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman (1958) von Friedrich Dürrenmatt tritt Dr. H. als Binnenerzähler auf. Er etabliert zwar eine neue (Ich-)Erzählung, nimmt dabei aber auf dieselbe Welt Bezug, von der bereits in der Rahmenerzählung die Rede war (und der er selbst angehört). Eine solche Metadiegese bemüht zwar eine zweite Erzählinstanz, bringt aber keine neue erzählte Welt hervor. Eine metadiegetische Welt liegt hingegen vor, wenn wie etwa in Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais (1802) eine intradiegetische Figur als neue Erzählinstanz durch das Märchen „Hyazinth und Rosenblüte“ zugleich eine neue erzählte Welt hervorbringt. Hier liegt eine doppelte narrative Schwelle vor: die erzählten Welten sind sowohl ontologisch als auch diegetisch abweichend. Die graphische Darstellung des Modells orientiert sich an der Vorarbeit von William Nelles, die sich wiederum auf Genettes Begriff der Diegese aus den Palimpsestes gründet.134 Dem Universum, in dem die Geschichte spielt, liegt ein

|| 134 Nelles bezieht sich auch auf Katherine Young und ihre Unterscheidung von taleworld vs. storyrealm, wobei die taleworld eigenen ontologischen Konventionen folgt und sich auf das Reich der Ereignisse der Handlung bezieht, während storyrealm als Ort des erzählerischen Diskurses zu verstehen ist, als „presentation [of the events the story is about] in the form of a story“. Young formuliert mit der taleworld einen klaren Begriff von erzählter Welt im Sinne des Ereignisraumes einer Geschichte. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich aber auf die diskursive Abgrenzung von lebensweltlichen Erzählungen, also darauf, wie Geschichten in Alltagssitua-

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strukturalistischer Begriff der Handlung im Sinne der von Genette vorgenommenen Erweiterung der formalistischen Dichotomie von histoire und récit zugrunde, indem beide vom Akt der narration ausgehen. Auf dieser Grundlage unterscheidet Nelles ein horizontal embedding von einem vertical embedding. Bei der horizontalen Einbettung folgen Erzählungen derselben Diegese, die von unterschiedlichen Erzählinstanzen vermittelt werden, aufeinander.135 Wir sprechen hier von Metadiegese: Mehrere Instanzen erzählen von derselben Welt. Es handelt sich also um eine horizontale Reihung von Aussageakten, die immer Bezug zum selben Referenzsystem nehmen. Bei der vertikalen Einbettung werden Erzählungen unterschiedlicher narrativer Ebenen ineinander verschachtelt oder aufeinander gestapelt.136 Da Nelles entweder nach Erzähler (horizontal) oder nach Welt (vertikal) unterscheidet, kann unter die vertikale Einbettung sowohl die ontologisch einheitliche, aber diegetisch abweichende Welt fallen (Metadiegese) als auch die metadiegetische Welt (mehrere Erzählinstanzen und mehrere Welten).137 Die Anordnung unseres Modells greift Nelles’ räumliche, am strukturalistischen Syntagma-Paradigma-Schema orientierte Formulierung auf: Die sprachlogische Konstitution einer erzählten Welt findet auf der horizontalen Achse der Erzählinstanzen statt, während die ontologische Konstitution vertikal der Hervorbringung neuer Welten folgend aufgebaut ist. Durch die gleichzeitige Berücksichtigung sprachlogischer und ontologischer Schichtungen bildet unser Modell die Möglichkeiten ab, dass nur eine der beiden Konstitutionsweisen oder auch beide gleichermaßen zutreffen. Die ‚tiefste‘ vertikale Durchdringung des

|| tionen markiert werden. Katherine Young. „Edgework. Frame and Boundary in the Phenomenology of Narrative Communication“. In: Semiotica 41/1–4 (1982), S. 277–315, hier S. 278. 135 Siehe William Nelles: Frameworks. Narrative Levels and Embbeded Narrative. New York u. a. 1997, S. 132. 136 Vgl. Nelles (Anm. 135), S. 132. Der Analogie horizontaler und vertikaler Achsen folgt etwa auch Sonja Klimek in ihrer Bestimmung von Metalepsen. Sie argumentiert, dass horizontale Transgressionen (d. i. ontologische Grenzüberschreitungen zwischen Welten auf einer diegetischen Ebene) per definitionem keine Metalepsen sind. Nur vertikale Transgressionen (pragmatische Grenzüberschreitungen zwischen einer Welt des Erzählens und einer Welt des Erzählten) seien hinreichend paradox. Siehe Sonja Klimek: „Metalepsis in Fantasy Fiction“. In: Karin Kukkonen/Sonja Klimek (Hgg.): Metalepsis in Popular Culture. Berlin/New York 2011, S. 22– 40, vor allem S. 25 f. 137 Die beiden Typen der horizontalen und vertikalen Einbettung werden von Nelles im Weiteren als epistemic embedding und ontological embedding bezeichnet: Die epistemische oder verbale Einbettung geschieht durch den Wechsel der Erzählinstanz und legt somit den Fokus auf die Wissensvermittlung, während die ontologische oder modale Einbettung den Wechsel von Realitäts- oder Seinsebenen in den Mittelpunkt stellt. Nelles (Anm. 135), S. 134.

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narrativen Schichtenbaus erfolgt durch das Ineinandergreifen von diegetischer Ebene und erzählter Welt, indem neue Erzählinstanzen neue Welten hervorbringen: metadiegetische Welten.

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Irene Breuer

(Erzählte) Welten als Spielraum offener Möglichkeiten Eine phänomenologische Betrachtung von Ernesto Sabatos Informe sobre ciegos

1 Einleitung Von den Begriffen der durch Edmund Husserl begründeten Phänomenologie hat derjenige der Lebenswelt das philosophische Denken über die Welt am stärksten geprägt. Der Begriff wird gewöhnlich mit Husserls 1936 erschienener Abhandlung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie in Verbindung gebracht, steht aber in Kontinuität zu früheren Werken, die die transzendentale Phänomenologie eingeführt haben.1 Um den Zusammenhang beider Themenbereiche aufzuzeigen, soll im Hauptteil dieses Beitrags auf die Betrachtungsweise der Phänomenologie und auf die von ihr ausgelegte Lebensweltauffassung eingegangen werden. Anschließend wird im dritten Teil die Entfaltung dieses Begriffs in Heim- und Fremdwelt kurz verfolgt, um den Begriff einer möglichen bzw. unmöglichen Welt zu beleuchten. Eine mögliche Welt wird als Möglichkeit der Erfahrbarkeit innerhalb eines Sinnbildungsvorgangs und hier als der Inbegriff eines ästhetischen Erlebnisses begriffen. Im vierten Abschnitt wird Ernesto Sabatos Erzähltext Bericht über die Blinden (Informe sobre ciegos) – ein Kapitel des im Jahr 1961 erschienenen Romans

|| 1 Vgl. Klaus Held: „Husserls neue Einführung in die Philosophie: der Begriff der Lebenswelt“. In: Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft: Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie. Bonn 1991, S. 79–114, hier S. 79 f. Es handelt sich um programmatische Werke, die Husserl selbst veröffentlicht hatte, die Ideen I (1913) und die Cartesianischen Meditationen (1930), und um zwischen 1923–25 gehaltene Vorlesungen, die als Phänomenologische Psychologie und Erste Philosophie im Nachlass veröffentlicht wurden. Ansatzweise findet man diesen Begriff in seiner Göttinger Vorlesung von 1907, im sogenannten ‚Dingkolleg‘, veröffentlicht als Ding und Raum, Vorlesungen 1907 (1907). Der Husserliana-Band XXXIX bietet eine Auswahl von Nachlasstexten zum Begriff der Lebenswelt: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937). Hg. v. Rochus Sowa. Dordrecht 2008, siehe die ausführliche Einleitung des Herausgebers: S. XXV–LXXXI. Im Folgenden werden alle Bände der Husserliana nach dem Muster „Hua“ und Bandnummer im Haupttext zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110626117-003

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Über Helden und Gräber (Sobre Héroes y Tumbas) – aufgegriffen, um den Konnex zwischen den beiden ersten Teilen eingehend zu reflektieren: Es wird sich herausstellen, dass Sabatos Text nicht nur Husserls Konzeption einer Welt und die Grenzen ihrer Aneignung, sondern auch die Möglichkeit der Entstehung von etwas Neuem, das auf eine Sinngebung wartet, exemplarisch illustriert. Im abschließenden Teil werden die Ergebnisse der vorangehenden Untersuchung im Dienste der Bestimmung eines Weltentwurfs als ein Widerstreit lebensweltlicher und abgründiger Erfahrungen zu Sabatos Text ins Verhältnis gesetzt.

2 ‚Welt‘ aus phänomenologischer Sicht 2.1 Die Einklammerung der natürlichen Welt: die Epoché Im vorliegenden Kontext erweist es sich als sinnvoll, in die grundlegende Betrachtungsweise der Phänomenologie einzuführen. Ihr geht es nicht um die Beschreibung vorliegender Sachverhalte oder bestimmter Erscheinungsformen, die allen Menschen aus den alltäglichen Erfahrungssituationen ihres Lebens vertraut sind. Denn wenn wir in einer Erfahrungssituation stehen, verlassen wir uns darauf, dass das Erscheinende das ist, als was es sich jeweils darbietet oder zeigt.2 Dies ist die „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ (Hua III/I, S. 63) wie Husserl sie bezeichnet: Sie ist diejenige Einstellung, die der Mensch vor oder außerhalb der Philosophie einnimmt. Der Übergang zur philosophischen Einstellung bedarf einen Schritt zurück, einer Einklammerung der natürlichen Welt, die Husserl Epoché nennt. Diese Änderung der Einstellung ist notwendig, weil wir normalerweise, in unserem alltäglichen Leben, dem Gegenstand ein selbständiges Sein unabhängig von der jeweiligen Weise seines Erscheinens für uns zuschreiben; die natürliche Einstellung charakterisiert sich also durch die „Selbstvergessenheit des Subjekts“3 und den Glauben an das unzweifelhafte Sein der Welt: Der Mensch setzt die natürliche Welt als Fundament voraus (vgl.

|| 2 Vgl. Klaus Held: „Husserls Rückgang auf das phainómenon und die geschichtliche Stellung der Phänomenologie“. In: Phänomenologische Forschungen 10 (1980), S. 89–145, hier S. 91. Vgl. auch Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Hua III/I [1950]. Bd. 1. Text der 1.–3. Auflage. Neu hg. v. Karl Schuhmann. Den Haag 1976, S. 61. 3 Held (Anm. 1), S. 81.

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Hua VI4, S. 113) und lebt selbstvergessen in der Hingabe an die Gegenstände. Die Epoché hingegen bedeutet die „Rückführung dessen, was sich [in unserer Alltagserfahrung] zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt“5. So sagt Husserl in seinem „Prinzip aller Prinzipien“, „daß alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaftigen Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt“ (Hua III/I, S. 51). Etwas erscheint mir immer ‚als etwas‘, es kommt zur Erscheinung als es selbst, als Bild, als Phantasie; diese Weise des Erscheinens, das jeweilige ‚Wie‘, verleiht der Sache erst ihren Sinn. Welchen Sinn jegliches Seiende haben mag – er muss sich aufklären lassen im Rückgang auf die Erfahrungen und die Erlebnisse, in denen dieses Etwas zur Gegebenheit kommt. Denn „[n]iemals ist ein an sich seiender Gegenstand als solcher, den Bewußtsein und Bewußtseins-Ich nichts anginge“ (ebd., S. 101). Die Epoché stellt sich als eine Besinnung auf das Ich als Vollzieher dieses Erscheinens dar, d. h., das Ich ermöglicht dem Seienden, sich als Seiendes dieser oder jener Art zu bekunden oder auszuweisen. Dieser Bezug vom ‚Ich‘ zur ‚Welt‘ heißt Intentionalität: Jedes Seiende ist mir in einer bestimmten Weise gegeben, d. h., es ist mir intentional in meinem Bewusstsein gegeben und als solches heißt es Phänomen (vgl. ebd., §36 und §37; Hua II6, S. 14). So sagt Husserl: „Was die Dinge sind, die Dinge, von denen wir allein Aussagen machen, […] das sind sie als Dinge der Erfahrung“ (Hua III/I, S. 100). Erfahrung ist ein Vorgang, den nicht gänzlich das Bewusstsein leistet. Erfahrung hängt unmittelbar zusammen mit dem Eintreten von etwas „Neue[m], Unvorhergesehene[m], Unverhoffte[m] und letztlich Überraschende[m]“7 ins Bewusstsein. Es handelt sich nicht um das Auftreten von etwas, das das Bewusstsein schon erwartet, sondern, im Gegenteil, das Neue enttäuscht solche Erwartungen und bringt einen Bruch im Bewusstsein und folglich in der lebensweltlichen Normalität hervor. So kann die Erfahrung als der „Ort einer Sinnbildung“ begriffen werden, die nach ihrem sprachlichen Ausdruck sucht8 und in Form von Erzählungen Eingang in die Lebensgeschichte findet. Aus diesem Grunde können die ausführlichen Beschreibungen der Gefühlswelt des || 4 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hua VI. Hg. v. Walter Biemel. Den Haag 1954. 5 Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. München 1992, S. 30. 6 Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hua II. Hg. von Walter Biemel. 2. Aufl., Den Haag 1950. 7 László Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern. Dordrecht 2007, S. xi. 8 Vgl. Tengelyi (Anm. 7), S. xii.

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Protagonisten in Sabatos Roman als ein verzweifelter Versuch gedeutet werden, seinen widerstrebenden Erfahrungen Ausdruck zu verleihen.

2.2 Welt als das subjektiv-relative ‚Wie‘ der gegenständlichen Erscheinungsweisen Wie wird die Welt von Husserl verstanden? Er fasst die Welt als „eine unendliche, auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinender Erfahrungen bezogene Idee“ (Hua I9, S. 97 f.) auf. Selbstverständlich können wir diese unendliche Idee immer nur durch endlich viele einstimmige Erfahrungen belegen. Die Welt ist also eine unendliche Idee, die endlich viele Erfahrungen umfasst. Dasselbe gilt für den Weltraum: Die Erscheinungen verweisen auf unendlich viele weitere mögliche Erscheinungen in einem offen-unendlichen Raum, den wir jedoch nur als vom Horizont begrenzt erleben können. Dies bedarf der Auslegung: Die Erscheinungsweisen der Gegenstände hängen von meinen subjektiven Vollzügen ab und gehören zum Horizont kinästhetischer Freiheit.10 „Das Ich als Einheit ist ein System des ‚Ich kann‘“ (Hua IV11, S. 253), d. h., ich kann bei entsprechender Bewegung die Einstellungen und Perspektiven, in denen Gegenstände wahrgenommen werden, wechseln, so dass ich sie in unterschiedlicher Weise, in unterschiedlichen Abschattungen, erfahren kann;12 denn es ist mein „Vermögen [...], positive Potentialität, die jeweils zur Aktualisierung kommt“ (ebd., S. 255), in die Wahrnehmungstätigkeit zu übernehmen. Die Vermöglichkeiten, die sich gerade beim Wahrnehmen eines Gegenstandes aktualisieren, verweisen auf andere mögliche Erscheinungsweisen desselben, so dass sich ein Verweisungszusammenhang ergibt, mit dem wir in unserem Alltagsleben unthematisch – d. h. ohne auf ihn unsere Aufmerksamkeit zu richten – und unbewusst vertraut sind. Eben diesen unbewussten Verweisungszusammenhang nennt Husserl Horizont (vgl. Hua VI, S. 152). Der Horizont als

|| 9 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hua I. Hg. v. Stephan Strasser. Den Haag 1950. 10 Siehe dazu Bernhard Rang: Kausalität und Motivation. Den Haag 1973, S. 159–163. 11 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hua IV. Hg. v. Marly Biemel. Den Haag 1952. 12 Vgl. Held (Anm. 1), S. 85.

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„offen[e]“ 13 Grenze stellt die Verbindung zwischen Welt und Ding dar, denn jedes Ding ist „‚etwas aus‘“ der Welt, „der uns ständig als Horizont bewußten“ Welt (ebd., S. 146), und in jedem Erlebnis-von-etwas eröffnen sich weitere Horizonte, die sich dank ihrer Verweisungszusammenhänge aufeinander beziehen. Ihren Gesamtzusammenhang nennt Husserl „Universalfeld“ (ebd., S. 147). Die Welt ist aber – im Unterschied zur Seinsweise der Objekte und der Horizonte – „seiend in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist“ (ebd, S. 146). Mit dieser Differenz in der Seinsweise korrelieren „grundverschiedene Bewusstseinsweisen“ (ebd.): Die thematische und bewusste Habe eines Gegenstandes ist eingebettet in multiple, unbewusste Horizonte und vollzieht sich durch mannigfaltig mögliche Erscheinungsweisen, während jeder einzelne Horizont, der im Vollzug der Wahrnehmung bewusst wird, auf andere unbewusst mögliche Horizonte innerhalb einer unthematischen und unbewussten Habe einer einzigen Welt verweist.14 Somit wird die Beziehung zwischen Gegenstand, Horizont und Welt bestimmt: Der Horizont ist die Vermittlungsinstanz zwischen dem mir bewussten Gegenstand und der mir unbewussten Welt. Die Gegebenheitsweisen der Welt sowie der Gegenstände hängen mit meinen subjektiven Vollzügen unmittelbar zusammen: Die Welt ist also „subjektiv-relativ“ (ebd., S. 127). ‚Welt‘ meint bei Husserl also nicht die Totalität der Gegenstände, sondern das subjektivrelative Wie ihrer Erscheinungs- und Gegebenheitsweisen (vgl. ebd.). In diesem Sinne umfasst Husserls Weltbegriff die Erfahrbarkeit der Welt, denn zwischen Mensch und Welt spannt sich eine Beziehung der Zugehörigkeit: Der Mensch ist in der Welt, weil sie ihn angeht;15 sie stellt eine Totalität dar, die weit mehr als ein ,All der Dinge‘ meint. Einerseits ist die Welt für Husserl undurchstreichbar, apodiktisch gegeben, wobei die Gegenstände einen vorläufigen Charakter haben. Andererseits fungiert die Welt als Erkenntnis- bzw. Tätigkeitsfeld für den erfahrenden Menschen. Dieser Doppelcharakter bedarf weiterer Erläuterungen.

|| 13 Ulrich Claesges: „Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff“. In: Ulrich Claesges/ Klaus Held (Hgg.): Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung. Den Haag 1972, S. 85–101, hier S. 95. 14 Vgl. Held (Anm. 1), S. 88. 15 Vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Hua XV. Hg. v. Iso Kern. Den Haag 1973, S. 342: Der „Urmodus des Angehens ist die Einfühlung“. Vgl. Remi Brague: Aristote et la question du monde. Paris 1998, S. 212 f.

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2.3 Welt als Horizont und Lebenswelt Husserl versteht den Horizont nicht nur als das Feld, worin die unendlich möglichen Erscheinungsweisen des Gegenstandes eingebettet sind, sondern als das Feld, worauf unsere Akte im Allgemeinen gerichtet sind und worin sie zum Vollzug gelangen. Damit ist nichts anderes gemeint als die Welt, die uns unser Handeln, unsere Erfahrungen und Erlebnisse – ihrer Wirklichkeit nach als Universalfeld oder ihrer Möglichkeit nach als Horizont – einräumt. So ist „[d]ie vorgegebene Welt“, der Horizont, der alle unsere Ziele, alle unsere Zwecke [...], strömend-ständig befaßt, wie eben ein intentionales Horizontbewußtsein im voraus implizite „umfaßt“. [...] Alle unsere theoretischen und praktischen Themen [...] liegen immer in der normalen Einheitlichkeit des Lebenshorizonts „Welt“. Welt ist das Universalfeld, in das all unsere Akte, erfahrende, erkennende, handelnde, hingerichtet sind. Aus ihm kommen, von den jeweils schon gegebenen Objekten her, alle Affektionen, sich jeweils in Aktionen umsetzend. (Hua VI, S. 147)

Die Welt als Horizont umfasst also alle Ziele und Zwecke unserer Tätigkeiten, die sich in der Welt als Universalfeld unserer Akte und Affektionen entfalten. Mit ‚Welt‘ meint Husserl also nicht nur den Gesamtzusammenhang des räumlich oder gegenständlich Erfahrenen, sondern „die universale gemeinschaftliche Subjektivität, lebend, leistend, apperzipierend“; denn Subjekte sind nicht „etwas neben der Welt oder in der Welt“, sondern sind in ihrem leistenden Leben als „Ich und wir“, als eine Gemeinschaft vorausgesetzt, die als erfahrende die Welt als ein „‚ideales‘, frei verfügbares Einheitsgebilde“ in sich trägt (Hua XXXIX, S. 45 f.). Ich und Wir sind also Träger der Welt, die als Einheit unseres Lebens schon eine konstituierte, vorgegebene Welt ist. Es ist jedoch hervorzuheben, dass alle Zwecke sie voraussetzen: „Die Lebenswelt ist die ständig und im voraus seiend geltende, aber nicht geltend aus irgendeiner Absicht, Thematik, nach irgendwelchem universale[n] Zweck“ (Hua VI, S. 461). Die Lebenswelt ist „keine bedingte oder begrenzte Auffassung von der Welt, keine wissenschaftliche oder gar vor- oder außerwissenschaftliche Interpretation der Welt“16. Vielmehr unterscheidet Husserl zwischen solchen Weltauffassungen und der Welt, von der jene die Auffassungen sind: Diese ist die Lebenswelt.

|| 16 David Carr: „Welt, Weltbild, Lebenswelt“. In: Elisabeth Ströker (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls. Frankfurt a. M. 1979, S. 32–45, hier S. 32. Carr bezieht sich hier auf Gerd Brand: Die Lebenswelt. Eine Philosophie der konkreten Apriori. Berlin 1971, S. 17.

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Die Welt ist also keine Summe der Gegenstände; im Gegenteil, das Erscheinen der Gegenstände für uns setzt die Faktizität der Welt voraus: Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass „die Welt ist, immer im voraus ist, und daß jede Korrektur einer Meinung […] schon seiende Welt voraussetzt“ (Hua VI, S. 112 f.). Der Beweis dafür liegt im Erlebnis der Enttäuschung: In unserem alltäglichen Leben sind wir davon überzeugt, dass Gegenstände existieren und eine bestimmte Beschaffenheit haben, d. h., dass sie eine bestimmte „Seinsgeltung[]“ (ebd., S. 112) bzw. Einstimmigkeit mit unseren Erwartungen aufweisen. Diese Überzeugung kann einen Bruch erfahren, wenn sich etwas als nicht stimmend, als anders oder der „Vormeinung“ (ebd., S. 464) widerstreitend erweist. In diesem Fall kann es zu einer „negativen Erfahrung, die des nichtigen Scheins, des Durchstrichen-seins“ kommen, die jedoch nicht ihre mögliche Seinsgeltung einzubüßen braucht, sondern zu einer Korrektur der Erfahrung führt: „Jedem Nichtigen [muss] ein hineinpassendes Wirkliches entsprechen und herstellbar sein“ (ebd.). Die Welt als „Boden“ (ebd., S. 113; 180) bzw. Fundament bleibt aber durch alle Änderungen der Gegenstände bestehen, sie ist „der ständige seinsgeltende gemeinschaftliche Horizont seiender Dinge [und] hat immer und im voraus die Seinsgeltung eines solchen einstimmig erfahrbaren und wechselseitig allseitig zur Einstimmigkeit Korrigierbaren“ (ebd., S. 464). Die Welt ist also der „unzweifelhafte“ Gesamtzusammenhang der Erfahrbarkeit, ein „Horizont von jeweils unzweifelhaft Seiend-Geltendem“ (ebd., S. 113). Der Weltboden, der in jeder gegenständlichen Erfahrung vorausgesetzt wird, ist die Welt als universale[r], unthematische[r] Horizont“ (ebd., S. 148) bzw. als „Universalhorizont“ (ebd., S. 147).

2.4 Lebenswelt als Anschauungswelt vs. Wissenschaftswelt Die Welt als Fundament ist Korrelat einer im Unendlichen liegenden Idee „der an sich fest bestimmt seienden Welt“ (Hua VI, S. 113) und wissenschaftlicher Wahrheiten. Somit bekommt die Welt den Charakter eines ins Unendliche gehenden Fortschreitens; eine Welt, die frei von jeder Einbettung in Horizonte ist. Husserl wirft den Wissenschaften vor, dass sie die Welt als den Boden vergessen haben, auf dem sie historisch erwachsen sind und den sie als ihren ständigen Sinn- und „Geltungsboden“ (ebd., S. 124) voraussetzen müssen. Diese Vergessenheit definiert den Objektivismus der Wissenschaften, der zur Sinnkrise der Wissenschaften und des Lebens führt (vgl. ebd., S. 123 f.). Es wird übersehen, dass die der Wissenschaft als subjektiv-irrelativ geltende Welt als unendliche Idee nur das Korrelat einer spezifischen Erkenntnishaltung ist, die allgemeinere Vernunftfragen zugunsten eines positivistischen Reduktionismus und Natura-

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lismus auf bloße Tatsachenwissenschaften einschränkt: „Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen“ (ebd., S. 4), so Husserl. Diese Vergessenheit deckt Husserl in der Krisis auf und betont, dass die Idee der Objektivität, d. h. die Idee von einer absolut „an-sich“ existierenden Welt, in der Transzendierung des unthematischen Horizontes (ebd., S. 113) ihre Wurzel hat. Diese Lebenswelt als „Sinngebilde“ (ebd., S. 115) ist „das Allerbekannteste, das in allem menschlichen Leben immer schon Selbstverständliche, in ihrer Typik immer schon durch Erfahrung uns vertraut“ und beständiger „Untergrund“ aller objektiver Wahrheiten (ebd., S. 127). Dieser Vertrautheit und Bekanntheit verdankt sie ihre Anschaulichkeit: Die Lebenswelt als Anschauungswelt steht grundsätzlich im Kontrast zur unanschaulichen Wissenschaftswelt. Als solche ist sie „ein Reich ursprünglicher Evidenzen“, d. h., das Gegebene wird in der Wahrnehmung als „es selbst“ erfahren; sie zeichnet sich also durch „ihre wirkliche Erfahrbarkeit“ aus (ebd., S. 130). In diesem Sinne bewährt sie sich in der „reinen Erfahrung“, in einer Betrachtung, die von allen „Präsumptionen exakter Wissenschaften“ absieht (ebd., S. 219) und uns somit ausschließlich in Anschauungshorizonten außerwissenschaftlicher Praxis zugänglich ist. Diese Einsicht kann nur durch eine methodisch gezielte Rückfrage oder Rückbesinnung gewonnen werden (vgl. ebd., S. 143), die einerseits nach einem Fundament der bodenlos gewordenen Wissenschaften und der verantwortungsvollen menschlichen Praxis sucht, anderseits nach einer geschichtlichen Gesamtperspektive, die dem Zerfall der einzigen Welt in unterschiedliche Sondergebiete bzw. „Sonderwelten“ (ebd., S. 460) – wie er charakteristisch für die wissenschaftlichen Disziplinen ist – entgegenwirkt. Die Welt übernimmt also drei Funktionen: „Boden“ (ebd., S. 134; 158) bzw. „Evidenzquelle, Bewährungsquelle“ (ebd., S. 129) der Wissenschaften, „Leitfaden“ (ebd., S. 175) der Rückbesinnung auf die lebensweltlichen Evidenzen (vgl. ebd., S. 143) und ,Einfassung‘ bzw. Universalhorizont der vielfältigen „Zweckhorizonte“ (ebd., S. 462).17 Es ist wichtig, hervorzuheben, dass, wenngleich Lebens- und Wissenschaftswelt hinsichtlich der Anschaulichkeit im Gegensatz zueinander stehen, sie hinsichtlich ihrer Strukturen im Einklang sind: „Vorwissenschaftlich ist die Welt schon raumzeitliche Welt“ (Hua VI, S. 143). Der Unterschied beider Welten liegt darin, dass in der Lebenswelt von der geometrischen Exaktheit bzw. von den „Idealisierungen und hypothetischen Substruktionen“ (ebd.) der Wissenschaft keine Rede ist; sie ist im Gegenteil als Ursprungstätte die Voraussetzung

|| 17 Vgl. Waldenfels (Anm. 5), S. 37, wo Waldenfels diese Funktionen herausstellt, und Claesges (Anm. 13), S. 86.

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für die wissenschaftliche Idealisierung.18 Vorwissenschaftliche Praxis und wissenschaftliche Erkenntnis bleiben trotzdem durch einen Prozess der „Sedimentierung“ (ebd., S. 73) und des „Einströmens“ (ebd., S. 212) aufeinander bezogen. Die Sedimentierung besagt, dass durch Idealisierung erworbene Gegenstände zum Bestandteil der alltäglichen Praxis werden, d. h., sie „strömen“ als Kulturleistungen „ein“ (ebd., S. 115; 141 Fn. 1; 213). Husserl erkennt daher, dass die objektiven Wissenschaften „als subjektive Gebilde“ zur „vollen Konkretion der Lebenswelt gehörig“ (ebd., S. 132) sind. Er fügt hinzu, dass die Lebenswelt zugleich für die ‚wissenschaftlich wahre‘ Welt der gründende Boden und für die theoretischen und praktischen Vollzüge der in ihr lebenden Menschen die umfassende Totalität ist (vgl. ebd., S. 134). Hierin liegt die „Zweideutigkeit“19 im Lebensbegriff Husserls: Die Lebenswelt ist demnach nicht nur der Universalhorizont und zugleich Universalboden, sondern ist eine Welt, die sich geschichtlich durch das Einströmen und Sedimentieren der in ihr stattfindenden Praxis und theoretischen Zielsetzungen anreichert. Sie ist „die Welt in ihrer konkreten geschichtlichen Totalität“20. Die Lebenswelt ist somit „die Welt als subjektivrelativer, sich geschichtlich anreichernder Universalhorizont“21 bzw. die Welt der „bloßen, traditionell so verächtlich behandelten Doxa“ (ebd., S. 465), d. h. der letztursprünglichen, noch nicht exakten wissenschaftlichen Erkenntnis, die „durchsetzt ist mit dem Niederschlag logischer Leistungen“ (EU, S. 39) und die wir durch Tradition übernehmen (vgl. ebd., S. 39–45). In dieser Welt spielt die unmittelbare Erfahrung der außerwissenschaftlichen Praxis, die in Anschauungshorizonte eingebettet ist, eine sinnstiftende Rolle – eine anonyme und originäre. Die erwähnte ‚reine Erfahrung‘ bestimmt nicht nur den Sinn, mit dem jeder Gegenstand als vertrauter vor uns steht, sondern auch den Sinn, mit dem er überhaupt als Gegenstand möglicher Erkenntnis, als Bestimmbares überhaupt uns vorgegeben ist (vgl. EU, S. 39). Mit dieser „Rechtfertigung der Doxa“ (ebd., S. 44) stellt sich zugleich die Forderung nach einem Wissen, das die Lebenswelt und ihre Verwandlungen untersucht: Das ist das Wissen einer neuen Wissenschaft, „einer neuen Episteme – der Phänomeno-

|| 18 Vgl. Walter Biemel: „Zur Bedeutung von Doxa und Episteme im Umkreis der KrisisThematik“. In: Elisabeth Ströker (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Hussers. Frankfurt a. M. 1979, S. 10–23, hier S. 19. Vgl. Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik [1939]. Hg. v. Ludwig Landgrebe. 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1972 (im Folgenden: EU), S. 43 f. 19 Claesges (Anm. 13), S. 89. Vgl. Hua VI, S. 462. 20 Claesges (Anm. 13), S. 93. 21 Klaus Held: „Einleitung“. In: Edmund Husserl: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II. Hg. v. Klaus Held. Stuttgart 1986, S. 5–53, hier S. 52.

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logie“22. Husserl kennzeichnet den Aufgabenbereich der Phänomenologie folgendermaßen: „Nicht nur alle Erkenntnisfragen, die im Leben (im vor- und außerwissenschaftlichen Leben) ihre Rolle spielen, sondern auch – und in höherer Stufe – alle Fragen objektiver Wissenschaften“ (Hua VI, S. 463). Die Aufgabe des Philosophen besteht in einer radikalen Besinnung auf die „großen und wesentlichen Sinnbildungen“ (ebd., S. 490), die geschichtlich aus einer ersten vagen Urstiftung in immer differenziertere Gestalten übergehen. Bei dem Umriss der Stufen der Geschichtlichkeit heißt es: „Die dritte Stufe ist Umwandlung der Philosophie in Phänomenologie, mit dem wissenschaftlichen Bewußtsein von der Menschheit in ihrer Historizität und der Funktion, sie in eine Menschheit zu verwandeln, die sich bewusst von der Philosophie als Phänomenologie leiten läßt“ (ebd., S. 503). Die Aufgabe der Phänomenologie besteht also in der Beschreibung und Aufklärung der Sinnbildungs- und Sinnstiftungsprozesse, die mit Erfahrungsvorgängen und deren Ausdruck einhergehen. Der Begriff des Sinnes umfasst nicht nur die sprachlichen Ausdrücke, sondern es werden zugleich „Weltphänomene“23 mitgemeint, d. h. Wahrnehmungen und Handlungen, Ereignisfolgen und dingliche Ordnungen in der Welt.24

3 Heim- und Fremdwelt. Die Erfahrung einer möglichen Welt und das ästhetische Erlebnis Die objektive Idee der Welt erweist sich in der Lebenswelt, in der jeder von uns leiblich verankert ist und die sich uns durch unsere leiblichen Bewegungen erschließt. Die Lebenswelt ist jedoch mehr als ein Orientierungsraum: Sie wird von Husserl als der Zusammenhang von Heimwelt und Fremdwelt (vgl. Hua XV, S. 214–218) bestimmt. Er begreift diese Lebenswelt, wie schon erwähnt, als Boden, von dem all unsere Erfahrungen ausgehen, und als Horizont, auf den sie zugehen; sie erstreckt sich also zwischen Erde und Himmel und ist meines Erachtens als ein kosmischer oikos zu verstehen, in dem wir in einem vertrauten Zuhause sind. In diesem Sinne wird die Heimwelt als ein Drinnen, das Gebor-

|| 22 Biemel (Anm. 18), S. 20. 23 Marc Richir: Phänomenologische Meditationen [Méditations phénoménologiques, 1992]. Übers. v. Jürgen Trinks. Wien 2001, S. 249: „Es gibt kein sprachliches Phänomen […], das nicht zugleich Weltphänomen wäre.“ 24 Vgl. Tengelyi (Anm. 7), S. 5.

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genheit bietet, erfahren. Das Heimische zeichnet sich als solches erst durch den Kontrast zum Fremden aus. Daher vollzieht sich die Erfahrung des Fremden und des Heimischen nur nach der Begegnung mit einer Fremdwelt. Nur im Nachhinein kann unsere Heimwelt als solche erfahren werden (vgl. ebd., S. 176). Husserl vergleicht die Heimwelt mit einer Kugel, einer Sphäre (vgl. ebd., S. 429 f.; 438), die vom Heimort aus durch eine schichtenweise Erweiterung an Bekanntheit dank der Sedimentierung von Gewohnheiten und der damit verbundenen ständigen Neubildung der Horizonte entsteht. Für Husserl ist diese Heimwelt als Lebenswelt notwendig endlich, weil sie ihren Außenhorizont „als ihr Anderes“25 hat. Dem Drinnen korrespondiert ein Draußen: „Der heimweltliche Innenhorizont hat einen Außenhorizont zur Kehrseite“ (ebd., S. 429), ein Außenhorizont des noch Unbekannten, des Unerwartbaren. Die Fremdheit erwartet uns also laut Husserl jenseits der Horizonte des Vertrauten. Aber diese Grenze ist beweglich, sie verlagert sich. Denn der Bereich der Wirklichkeit erweitert sich für Husserl in Möglichkeitsfelder durch die praktische Vermöglichkeit des ‚ich kann‘: Ich kann mir immer neue Wirklichkeitsbereiche aneignen und Fremdwelten in meine Heimwelt eingliedern. Wie schon erwähnt, verweist diese Idee der Welt auf ein räumliches Netzwerk aus endlich vielen einstimmigen Erfahrungen, die weit über sich hinausweisen und damit eine mögliche Welt entwerfen. Daraus ergibt sich, so meine These, dass eine mögliche Welt eine mögliche Erfahrbarkeit besagt. Was den Sinn von möglicher Erfahrbarkeit angeht, so besagt sie „nie eine leere logische Möglichkeit, sondern eine im Erfahrungszusammenhang motivierte“ (Hua III/I, S. 101). Die intentionale Beziehung reduziert sich also nicht auf ein „Bewusstsein von etwas“ (ebd., S. 74), sondern impliziert ein „Reagieren auf etwas“ (Hua IV, S. 217). Es handelt sich um eine Wechselbeziehung: „Das Subjekt verhält sich zum Objekt, und das Objekt reizt, motiviert das Subjekt“ (ebd., S. 219). Eine (mögliche) Erfahrbarkeit bedeutet, dass was auch immer „realiter“, aber noch nicht aktual erfahren ist, „zur Gegebenheit kommen kann“, da es „zum unbestimmten, aber bestimmbaren Horizont meiner jeweiligen Erfahrungsaktualität“ (Hua III/I, S. 101) gehört. Die „offene[] Möglichkeit“ (EU, S. 107 f.)26 besagt, dass jede Wahrnehmung von Erwartungsintentionen begleitet wird, die „Spielräume offener Möglichkeiten“ (Hua XI, S. 47) vorzeichnen: Sehen wir die Vorderseite eines farbigen Gegenstandes, so erwarten wir irgendeine Farbigkeit

|| 25 Klaus Held: „Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt“. In: Perspektiven und Probleme der Husserlschen Phänomenologie. Freiburg/München 1991, S. 305–337, hier S. 314. 26 Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1928–1926. Hua XI. Hg. v. Margot Fleischer. Den Haag 1966, S. 39 f.

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auf der Rückseite. Dies bedeutet nicht, dass die Erwartungen sich beliebig und frei erfüllen lassen, denn die „allgemeine Unbestimmtheit hat einen Umfang freier Variabilität“ (ebd., S. 43) innerhalb eines vorgeschriebenen und vorgezeichneten Stils (vgl. Hua III/I, S. 102; Hua XV, S. 430; EU, S. 108). Dies gilt auch für den „Spielraum möglicher Welten“: Habe ich Welt in meinem Welthorizont, so habe ich nicht nur die faktische, endliche und mit Horizont behaftete Welt, sondern auch meine in infinitum konstruierbare Welt als Welt möglicher Erfahrungen im Spielraum einer Unendlichkeit von Möglichkeiten, wie meine Welt sein könnte, die doch eine Wirklichkeit ist – in infinitum unbekannt. Ich stehe in einem Spielraum möglicher Welten [Hervorhebung von I. B.], von denen eine mit dem Kern der jetzigen eigentlichen Erfahrung zweifellos ist. (Hua XXXIX, S. 56 f.)

Diese Welten stehen in Beziehung zueinander dank der von den kommunizierenden Subjekten vollzogenen Synthesis der unterschiedlichen Welten und haben notwendig den Charakter von „‚Erscheinungen‘ derselben einen Welt“. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jede solche Synthesis eine „Wesensgemeinschaft der Struktur dieser ‚Welten‘“ (ebd., S. 57) voraussetzt. Es besteht also eine Offenheit der Möglichkeiten, wodurch sich die Eigenschaften der Gegenstände und der Welten offen gestalten können. Diese Möglichkeiten weisen einen ,geschlossenen‘ Umfang auf, denn diese Unbestimmtheit ist vorgezeichnet durch das allgemeine Wesen und den Sinn des Wahrgenommenen. Dieser Umfang erweitert sich aber, sobald wir die Möglichkeit der Enttäuschungen von Erwartungsintentionen in Betracht ziehen: Sie lassen etwas Neues entstehen, einen neuen Sinn, der unserer Erfahrung den Charakter eines Erlebnisses verleiht. Die Erfahrung, im ursprünglichen Sinne des Wortes, ist jedoch mehr als das, was man im Alltag macht: Ihr Wesen besteht darin, eine neue Einsicht zugänglich zu machen; sie lässt etwas Neues entstehen, indem sie unsere Erwartungen durchstreicht.27 Denn während sich in der Erfahrung ein Erlebnis ausdrückt, verleiht die Erfahrung dem unmittelbar Erlebten eine Bedeutung. Das Erlebte kennzeichnet sich jedoch durch einen Überschuss gegenüber der Bedeutung, der nicht in ihr aufgeht, sondern sich auf das Ganze einer Lebensgeschichte bezieht.28 Das Erlebnis, so wie das Abenteuer, „enthebt den Bedingtheiten und Verbindlichkeiten, unter denen das gewohnte Leben steht. Es

|| 27 Vgl. Tengelyi (Anm. 7), S. 9. Diese Einsicht, so Tengelyi, ist auf Hegels Phänomenologie des Geistes (1806/07) zurückzuführen. 28 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode [1960]. Tübingen 1990, S. 75.

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wagt sich ins Ungewisse heraus“29, bleibt aber auf das Gewohnte und die lebensweltlichen Erfahrungsmöglichkeiten rückbezogen. Es handelt sich hier um ein „ästhetisches Erlebnis“, das die „Erfahrung eines unendlichen Ganzen“ enthält und „allen Wirklichkeitszusammenhängen entrückt“30 ist. So kann die Erfahrung einer möglichen Welt als der Inbegriff eines ästhetischen Erlebnisses verstanden werden. Im Folgenden soll jedoch anhand von Sabatos Roman gezeigt werden, dass die Aneignung einer Fremdwelt im Sinne Husserls an ihre Grenzen stoßen kann, denn die Erfahrung ist nicht nur von Brüchen durchzogen, sondern wagt sich ins Unbekannte hinein.

4 Sabatos Bericht über die Blinden – phänomenologisch betrachtet Sabatos Roman stellt die alltägliche Erfahrbarkeit der Welt infrage, indem er die radikale Fremdheit der ‚Unterwelt‘ der Großstadt Buenos Aires beschreibt. Der erwähnte Bericht über die Blinden illustriert exemplarisch nicht nur die Spannung zwischen der Heim- und der Fremdweltkonzeption Husserls, sondern diejenige zwischen unseren lebensweltlichen Wirklichkeitszusammenhängen und ihrer Überschreitung überhaupt. Sabato unternimmt mit seiner Erzählung eine Gratwanderung: Indem er sich entlang der Grenze zwischen möglichen und unmöglichen Welten bewegt, gibt er der damit verbundenen Erfahrung den Sinn eines ästhetischen Erlebnisses. Dieser Bericht über die Blinden soll nun im Lichte der Frage eines möglichen Weltentwurfes und der Voraussetzungen einer kategorialen Bestimmung von möglichen vs. unmöglichen Welten untersucht werden, die sich phänomenologisch auf die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der zu erschließenden Erfahrbarkeit zurückführen lässt. Im Proömium zum Roman Über Helden und Gräber (Sobre héroes y tumbas)31 lässt Sabato den Protagonisten sein zentrales Anliegen beschreiben – die Erforschung jenes „dunkle[n] Labyrinth[es], das zum Hauptgeheimnis unseres Le-

|| 29 Gadamer (Anm. 28), S. 75. 30 Gadamer (Anm. 28), S. 76. 31 Die deutschsprachigen Zitate im Haupttext folgen der Ausgabe: Ernesto Sabato: Über Helden und Gräber. Übers. v. Otto Wolf. Wiesbaden 1967. Die spanischen Originalzitate folgen der Ausgabe: Ernesto Sabato: „Sobre Héroes y Tumbas“ [1961]. In: Ders.: Narrativa Completa. Prólogo de Pere Gimferrer. Barcelona 1982, S. 135–688.

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bens führt“ (Übers. d. V.)32. Damit markiert er a priori den Roman als Kombination von kunstvoller Fiktion und existenzieller Philosophie. In dem von ihr verfassten Bericht über die Blinden resümiert die Hauptfigur Fernando Olmos in der Nacht vor seinem kontinuierlich vorgeahnten und angekündigten Tod seine Ergebnisse der Erforschung des Bösen, die er in der ‚Sekte der Blinden‘ repräsentiert sieht. Sein manisch-obsessiver Verdacht einer die ganze Welt beherrschenden, teuflischen Untergrundbewegung, die sich gegen ihn verschworen hat, führt ihn in einer Stufenleiter vom Bewussten zum Unbewussten sowie umgekehrt vom Traum zum Wachzustand während einer Odyssee durch die Abwasserkanäle von Buenos Aires, wo er endlich „das zentrale Mysterium der Existenz“ (S. 364)33 findet. Sein Wahn mündet in der Begegnung mit einer magischen Blinden in dem Haus, in dem Alejandra, die weibliche Protagonistin, am Ende des vorausgehenden Teils des Romans verschwunden ist. Sie wird darin als eine kraftvolle und zugleich unerklärliche Frau dargestellt, deren Züge eine Mischung aus widersprüchlichen Gefühlen und Leidenschaften verraten. Nach der ersten Begegnung in einem Park entwickelt sich zwischen Martín – dem Protagonisten des ersten Romanteils – und Alejandra eine traumhafte und ‚abgründige‘ Beziehung, die durch Faszination, Begehren und Furcht gekennzeichnet ist. Im Zentrum des Romans zeichnet sich allmählich die Figur von Fernando, ihrem Vater, ab, als die Inkarnation einer zerstörerischen Macht. Diese Frau, seine eigene Tochter, evoziert für Fernando das gesamte „universo de ciegos“, die „WELT DER BLINDEN“, welche die dunkle Seite seiner Triebwünsche symbolisiert und nur existiert für „meine[] Wollust, meine[] Leidenschaft und schließlich meine[] Züchtigung“ (S. 380)34. Schließlich vereinigt sich Fernando in überströmender Wollust mit der ciega, von der er weiß, dass sie auf ihn gewartet hat, dass sie sich mit ihm vereinigen und ihn dann töten wird, eine Frau, die viele Kommentatoren natürlich, auch wenn dies im Text nicht explizit gemacht wird, für Alejandra halten. Einsamkeit und Entfremdung in der Großstadt sowie die Lust an der Überschreitung von unsichtbaren, aber umso deutlicher definierten Grenzen sind das eigentliche Verhängnis aller Figuren des Romans. Im Bericht über die Blinden wendet sich Sabato der Welt der Blinden zu, einem „unheilvolle[n] Universum“, das sich über unterirdische Bereiche er-

|| 32 „[…] oscuro laberinto que conduce al secreto central de nuestra vida“. Ernesto Sabato: Sobre héroes y tumbas. 4. Aufl., Barcelona 1988, S. 7. Das Proömium wurde in der deutschen Übersetzung ausgelassen und in der in diesem Beitrag benutzten Ausgabe (Anm. 31) geändert. 33 „[...] el misterio central de la existencia“ (S. 558). 34 „para mi voluptuosidad, mi pasión y finalmente mi castigo“ (S. 574).

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streckt: „Höhlen, Kavernen, Keller[], alte Gänge[], Abflussrohre, tiefe Felsspalten, verlassene Stollen“, wo das „metaphysische Dunkel“ einer für die Sehenden verbotenen, unheimlichen Welt herrscht; eine Welt, die sich in die Tiefen der Erde vergräbt (S. 244–246).35 Es handelt sich hier um eine unheimliche Erfahrung, da sie Fernandos lebensweltliche Erfahrungsgrenzen überschreitet. So vergleicht Olmos das Leben von ‚oben‘ mit den Abflüssen von ‚unten‘, mit dem Schmutz und dem Dreck der von der oberen Welt her unsichtbaren Abfälle: „Und alles floß im Nichts des Ozeans auf unterirdischen, geheimen Wegen, als ob JENE VON OBEN diese Seite ihrer Wahrheit vergessen, als ob sie von ihr nichts wissen wollten“ (S. 361).36 In diesem Sinne hat die Welt in ihrer Erscheinungsweise auch eine Kehrseite, die uns unzugänglich und verschlossen bleibt. Da die Erde für unsere Leibeserfahrung schlechthin als feste Oberfläche fungiert, erweist sich ihre Undurchdringlichkeit als ihre wesentliche Eigenschaft. Mehr noch: Was zu dieser Welt gehört, ist auf irgendeine Weise sichtbar; so bildet die „Sichtbarkeit den Kern dieser Welt“37. Wenn die Sichtbarkeit hier im engen Sinne als visio verstanden wird, ist das Unsichtbare im Innern der Erde „außerhalb oder jenseits der Welt, ein absolut Unsichtbares“38. Aus diesem Grunde ist der Protagonist einem im Sinne Immanuel Kants „Gefühl des Erhabenen“39 bzw. einer erhabenen Erfahrung, die hier eine doppelte ist, unterworfen: Er überschreitet die Grenzen der Heimwelt und diejenige der Unzugänglichkeit des Anderen, d. h., er dringt in eine fremde und unsichtbare Welt ein, die er für den Ursprung der sichtbaren hält und die sich uns normalerweise entzieht. Indem sich der Protagonist über den Abgrund zwischen seiner Lebenswelt und dieser unheilvollen Fremdwelt beugt und in die Geheimnisse der Blinden eindringt, folgt er der unwiderstehlichen Macht der „Verwunderung, die an Schrecken“ und sogar an

|| 35 „universo tenebroso“; „cuevas, cavernas, sótanos, viejos pasadizos, caños de desagües, alcantarillas, pozos ciegos, grietas profundas, minas abandonadas“; „oscuridad metafísica“ (S. 420 f.). 36 „Y todo marchaba hacia la Nada del océano mediante conductos subterráneos y secretos, como si Aquellos de Arriba se quisiesen olvidar, como si intentaran hacerse los desentendidos sobre esta parte de su verdad“ (S. 555). 37 Bernhard Waldenfels: „Das Unsichtbare dieser Welt oder: Was sich dem Blick entzieht“. In: Rudolf Bernet/Antje Kapust (Hgg.): Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. München 2009, S. 11–29, hier S. 14 38 Waldenfels (Anm. 37), S. 12. 39 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 13. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, B 75,76/A 74,75, S. 165.

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„Grausen“40 grenzt. Ein „zwiespältiges Gefühl lähmte mich und machte mich gleichzeitig trunken: eine Mischung von Furcht und Verlangen, von Ekel und Sinnlichkeit“ (S. 379)41, berichtet die Hauptfigur bei ihrer Vereinigung mit „der BLINDEN“ (S. 378)42. Schrecken, Schwindel und Chaos kennzeichnen diese Grenzerfahrungen, die von einem Verzerren der Wirklichkeit bis zum Verlust der eigenen Identität führen können: Nur durch Anstrengung konnte Fernando bislang die „Realität an ihrem Platz und in ihrer Form“ halten, sie „verankern“. Manchmal aber schien die Welt „aus den Fugen zu gehen, sich zu deformieren, als ob sie aus Kautschuk bestünde“; jedoch „das Schlimmste spielte sich in meinem Innern ab“ (S. 258 f.)43. Es ist der Zusammenbruch seines Ichs, so dass „sich in mir diese Identität plötzlich verliert, und dass diese Deformation des Ichs plötzlich ungeheure Dimensionen annimmt“ (S. 260)44. Sabato enthüllt an dieser Stelle den Schlüssel für die Möglichkeit der Überschreitung lebensweltlicher Erfahrungsgrenzen: Sie setzen eine „unglückselige Spaltung“ der Persönlichkeit voraus: „[N]icht ihr zum Trotz, sondern [...] ihr zufolge“ (S. 262)45 sind diese abgründigen Erfahrungen möglich. Diese Dualität, dieser Bruch zwischen innerer und äußerer Realität, löst ein Gefühl der leiblichen und seelischen Zerrissenheit und einen Zustand der unheilbaren Entfremdung aus, wie der Protagonist beschreibt: Als ob mein Körper einem anderen Menschen gehörte und ich, ohnmächtig und stumm, merkte, wie sich in jenem fremden Territorium verdächtige Bewegungen zu zeigen beginnen, Zuckungen, die eine neue Konvulsion ankündigen, bis sich nach und nach die Kata-

|| 40 Kant (Anm. 39), B 118/A 116, S. 195 41 „Una completa sensación, pues, me paralizaba y me embriagaba a la vez: una mezcla de miedo y ansiedad, de náusea y de sensualidad“ (S. 573). 42 „la CIEGA“ (S. 572). 43 „Tuve de pronto la revelación de que la realidad podía empezar a deformarse si no concentraba toda mi voluntad para mantenerla estable. Temía que el mundo que me rodeaba pudiera empezar en cualquier momento a moverse, a deformarse, primero lenta y luego bruscamente, a disgregarse, a transformarse, a perder todo sentido [...], y empecé a atar los trozos de la realidad que parecían querer irse a la deriva. Una especie de ancla. Eso es: como si me viese obligado a anclar la realidad, [...] la realidad empezaba a disgregarse poco a poco, a deformarse, como si fuera de caucho, [...] pero lo peor no sucede a mi alrededor, sino en mi interior“ (S. 436 f.). 44 „Sólo puedo decir que en mí esa identidad de pronto se pierde y que esa deformación del yo de pronto alcanza proporciones inmensas“ (S. 438). 45 „Pero pasaron [los episodios] en buena medida gracias a esa ruptura catastrófica de mi personalidad; no a pesar de ella, sino precisamente gracias a ella“ (S. 439).

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strophe wieder meines Körpers und am Ende auch meiner Vernunft bemächtigt. (S. 261 f.)46

Wie Georges Bataille wusste, ist jede Grenzüberschreitung mit einem starken Gefühl der Lust verbunden.47 Es geht dem Protagonisten nicht anders, er fühlt eine tiefe Faszination für diese ekelhafte und abstoßende Unterwelt und bewertet diese Überschreitung als die Tat eines Helden, der eine Aufgabe erfüllen muss, als ob negative Helden wie ich die höllische und verdammte Aufgabe hätten, Rechenschaft von dieser Realität zu geben. Erforscher des Unrats! Zeugen des SCHMUTZES und der BÖSEN GEDANKEN! Ja, plötzlich fühlte ich mich als eine Art Held, als eine Art negativer Held, schwarz und abstoßend, aber ein Held. Eine Art Sigfried der Finsternis, vorwärtsschreitend im Dunkel und Gestank mit einem schwarzen, flatternden, von höllischen Hurrikanen bewegten Banner. (S. 361 f.)48

Der Held muss im Reich der Finsternis Prüfungen in Form von Ritualen bestehen. Der Ritus der Initiation hat das Ziel, die profane Zeit aufzuheben und zur primordialen Einheit zurückzuführen. Diesen Ritualen unterliegt eine Kosmogonie, die sich auf den Nenner Tod, Erneuerung und Geburt des ‚neuen‘ Menschen reduzieren lässt. Tod und Wiedergeburt sind zwei Seiten derselben Münze: Initiation. Das Eindringen in die Höhlen symbolisiert die Rückkehr in ein vorgeburtliches Stadium: eine Rückkehr nicht nur zu den Ursprüngen des Lebens49, sondern zu einer heilen Welt, zum Zentrum des Universums. Ich war stehengeblieben, eingeschüchtert durch die Ungeheuerlichkeit der Grotte oder Wölbung, deren Konturen nicht zu erkennen waren. […] Die absolute Einsamkeit, die Unmöglichkeit, die Begrenzungen der Höhle und die vermutlich endlose Ausdehnung jener

|| 46 „Como si mi cuerpo perteneciera a otro hombre y yo, impotente y mudo, observara cómo comienzan a producirse en aquel territorio ajeno movimientos sospechosos, estremecimientos que anuncian una nueva convulsión, hasta que poco a poco, crecientemente, la catástrofe vuelve a enseñorearse de mi cuerpo y finalmente de mi espíritu“ (S. 439). 47 Vgl. Georges Bataille: „L’érotisme“. In: Œuvres Complètes de G. Bataille, Tome X. Hg. v. Jean-Jacques Pouvert. Paris 1987, S. 42. 48 „Y como si héroes al revés, como yo, estuvieran destinados al trabajo infernal y maldito de dar cuenta de esa realidad. ¡Exploradores de la Inmundicia, testimonios de la Basura y de los Malos Pensamientos! Sí, de pronto me sentí una especie de héroe, de héroe al revés, héroe negro y repugnante, pero héroe. Una especie de Sigfrido de las tinieblas, avanzando en la oscuridad y la fetidez con mi negro pabellón restallante, agitado por los huracanes infernales“ (S. 555). 49 Vgl. Marianne Kneuer: Literatur und Philosophie. Ihr Verhältnis bei Ernesto Sabato. Frankfurt a. M. 1991, S. 136.

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Gewässer zu bestimmen, der Dampf oder Rauch, der mich schwindelig machte, dies alles erhöhte meine Angst bis zu einem unerträglichen Ausmaß. Ich glaubte mich allein auf der Welt, und wie ein Blitz durchzuckte der Gedanke meinen Kopf, dass ich zu ihren Ursprüngen hinabgestiegen sei. Ich fühlte mich grandios und gleichzeitig unbedeutend. (S. 364)50

In diesen Worten drückt sich die Begegnung nicht nur mit einer fremden Welt, sondern zugleich mit der Fremdheit überhaupt aus. Die Fremdheit besagt, dass das Erfahrene als Überschuss über alle Ordnungen hinausgeht bzw. durch die verschiedenen Ordnungen ausgeschlossen und eben damit als ‚Außer‘ordentliches hervorgebracht wird.51 Die Fremdheit bekundet sich in der Unzugänglichkeit der fremden Geschichte, der fremden Örtlichkeit und der fremden Gemeinschaft bzw. in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Sinn- und Erfahrungshorizonte. Husserl bezeichnet die Fremdheit als „bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (Hua I, S. 144) oder auch als „Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit“ (Hua XV, S. 631). Dies bedeutet, dass der Andere – sei es der Fremde oder ich selbst als der Andere gegenüber dem Fremden – jemand anderem im Prinzip nur im Modus des Entzugs zugänglich ist: „Fremd ist, was jemandem unzugänglich und unzugehörig ist.“52 Hier, im Falle des Protagonisten, scheitert jeder Versuch einer einfühlenden Erfahrung: Der Andere sowie seine Welt sind ihm unwiderruflich und absolut fremd. So sagt der Protagonist: „In Wahrheit haben wir ebenso wenig die Möglichkeit, das Universum der Blinden zu begreifen, wie das der Katzen oder Schlangen“, denn die gängigen Begriffe haben „einen relativen Wert, da wir menschliche Begriffe und Werturteile auf Wesen anwenden, die mit unseren Maßstäben nicht zu messen sind“ (S. 256).53 Stets hat Fernando es hier mit dem Problem des Bösen zu tun, denn so wie „Gott die Macht über den Himmel hat, so hat die Sekte [der Blinden] die Herr-

|| 50 „Yo me había detenido, creo que intimidado por la indistinta y monstruosa gruta o bóveda. [...] La soledad absoluta, la imposibilidad de distinguir los límites de la caverna en que me hallaba y la extensión de aquellas aguas que se me ocurría inmensa, el vapor o humo que me mareaba, todo aquello aumentaba mi ansiedad hasta un límite intolerable. Me creí solo en el mundo y atravesó mi espíritu, como un relámpago, la idea de que había descendido hasta sus orígenes. Me sentí grandioso e insignificante“ (S. 558). 51 Vgl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt a. M. 1997, S. 141. 52 Bernhard Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge. Frankfurt a. M. 1995, S. 52. 53 „En rigor, tenemos tanta posibilidad de entender el universo de los ciegos como el de los gatos o serpientes. [...] [E]n realidad todos estos conceptos tienen un valor relativo, pues estamos aplicando conceptos y valoraciones humanas a entes inconmensurables con nosotros“ (S. 433 f.). Übersetzung leicht modifiziert nach Sabato 1967 (Anm. 31).

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schaft über die Erde und über das Fleisch“: Bis die „LEUCHTENDE MACHT“ diese Untergrundwelt zur Rechenschaft zieht, steht das Universum offensichtlich unter ihrer absoluten Herrschaft, einer Herrschaft über Leben und Tod, die sie kraft der Pest oder der Revolution ausübt, kraft der Krankheit oder der Folter, des Betrugs oder des falschen Mitleids, der Täuschung oder des anonymen Briefes, kraft der kleinen Schullehrerinnen und der Inquisitoren. (S. 252)54

Es sind „höllische Mächte“ in einer „verdrehten Theodizee“ am Werk; hier herrscht der „Fürst der Finsternis“, der sich auf die „heilige Sekte der Blinden“ stützt (S. 252–254).55 Diese unheimliche Erfahrung ist von einem Pathos belebt, das keine Aneignung, kein Verstehen erlaubt: Es ist eine entgleiste Erfahrung – eine Erfahrung, die sich uns entzieht. „Das Außergewöhnliche erinnert uns an das Gewöhnliche dessen, was täglich geschieht“, an das, was den Sehenden durch die Nacht führt, ihn „weiter führt als alles Sichtbare und Vorhersehbare – damit aber auch weg von ihm. Ein Mehr der Entbehrung sozusagen“56: eine Entbehrung, der Genuss innewohnt. Denn die Trennung zwischen Auge und Blick, die den Blinden kennzeichnet, ermöglicht einen fremden Blick, der sich in der undurchsichtigen Dunkelheit der böswilligen und unheimlichen Überwachung hingibt und sie zudem genießt: der Blinde als Vertreter des Bösen.

|| 54 „Sí, como dicen, Dios tiene el poder sobre el cielo, la Secta tiene el dominio sobre la tierra y sobre la carne. Ignoro si, en última instancia, esta organización tiene que rendir cuentas, tarde o temprano, a lo que podría denominarse Potencia Luminosa; pero, mientras tanto, lo obvio es que el universo está bajo su poder absoluto, poder de vida y muerte, que se ejerce mediante la peste o la revolución, la mistificación o el anónimo, las maestritas o los inquisidores“ (S. 428 f.). 55 „No soy teólogo y no estoy en condiciones de creer que estos poderes infernales puedan tener explicación en alguna retorcida Teodicea. [...] Dios fue derrotado antes de la Historia por el Príncipe de las Tinieblas. [...] Mi conclusión es obvia: sigue gobernando el Príncipe de las Tinieblas. Y ese gobierno se hace mediante la Secta Sagrada de los Ciegos“ (S. 429–431). 56 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden: Das Selbstporträt und andere Ruinen [Mémoires d’aveugle: l’autoportrait et autres ruines, 1990]. Übers. v. Andreas Knop. Hg. v. Michael Wetzel. 2. Aufl., München 2008, S. 12.

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5 Schlussbetrachtung: Ein Weltentwurf als Widerstreit lebensweltlicher und abgründiger Erfahrungen Der Bericht über die Blinden behandelt die radikale Fremdheit einer für die Sehenden verbotenen Unterwelt, der keine erschließende Erfahrung zukommt. Es geht hier um einen Entwurf einer abgründigen Welt, die als eine ‚unmögliche Welt‘ zu bezeichnen ist. Die Spannung zwischen Leben und Tod, Gut und Böse, Sichtbarem und Unsichtbarem, Auge und Blick entspricht einer Begegnung mit dem radikal Fremden, die eigentlich keine Begegnung ist: Eine unmöglich zu erschließende Erfahrung besagt hier, dass unserer Erfahrung eine Grenze gesetzt ist, deren Überschreitung unsagbares Unheil hervorruft. Trotzdem bleiben beide Welten einander zugewiesen: Denn genauso wie das Unsichtbare eigentlich keinen Gegensatz zum Sichtbaren bildet, sondern dieses sich von einem Hintergrund des Unsichtbaren abhebt, bilden die Ober- und die Unterwelt bzw. die ‚mögliche‘ und die ‚unmögliche‘ Welt, zwei Kehrseiten derselben Münze: Nur durch ihre gegenseitige Differenz erhält jede Welt ihre Identität. Was dieser Blick in dem Bericht über die Blinden offenbart, ist zwiespältig. Zum einen wird die Verflechtung der Sehenden und ihrer heimischen Welt auf der Oberfläche, zum anderen die Zusammengehörigkeit der ‚Anderen‘ und ihrer unheilvollen Unterwelt in der Tiefe inszeniert: Beide Welten sind Lebenswelten, die einander fremd und unzugänglich bleiben. Es handelt sich also um die dichte räumliche Netzstruktur der Welt, in die subjektive, der gegenseitigen Erschließung sich widersetzende Erfahrungen eingewoben sind: Eine Spalte entsteht, die keine Synthese zu überbrücken vermag. Die Unmöglichkeit der Erschließung der Erfahrung bedeutet hier, dass das neu Erlebte unsere Erwartungen enttäuscht und dass dasjenige, was uns widerfährt, in keinen bestehenden Sinnzusammenhang zu integrieren ist. Es handelt sich also um eine Erfahrung von etwas Neuem, das auf eine Ausdrucks- bzw. eine Sinngebung wartet. Aus diesem Grunde können die ausschweifenden Beschreibungen als ein wiederholter Versuch verstanden werden, einen neuen Sinn mit geeigneten sprachlichen Ausdrücken zu stiften: Dies charakterisiert das Wesen eines ästhetischen Erlebnisses überhaupt; es entsteht hierdurch ein Weltentwurf als ein Widerstreit lebensweltlicher und abgründiger Erfahrungen.

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Katharina Lukoschek

Literarische Welten in der text world theory Zur Beschreibbarkeit von Immersion am Beispiel eines Auszugs aus Truman Capotes Other Voices, Other Rooms

1 Einleitung Wenn wir von Literatur und insbesondere von fiktionaler Literatur sprechen, verwenden wir oft Formeln wie das ‚Eintauchen in eine andere Welt‘, wir sind ‚gefesselt‘ von dem, was uns der Text vermittelt, wir ‚vertiefen‘ uns in ein Buch oder ‚betreten Räume der Phantasie‘. In solchen Wendungen drückt sich die Metaphorik aus, dass zwischen zwei Buchdeckeln eine Welt beinhaltet oder abgebildet sei, die sich der Leser vorstellen und ‚vor dem geistigen Auge‘ raumzeitlich visualisieren kann. Darüber hinaus liegt diesem Gedanken eine Modifikation des perspektivischen bzw. partizipatorischen Status zugrunde. Wir ändern mit der Lektüre sukzessive unseren Wissensstand, imaginieren immer detailliertere Versionen der erzählten Szenarien und werden von Außenstehenden zu Eingeweihten. Diese Annäherung kulminiert, wenn wir unsere Aufmerksamkeit so sehr auf die Geschichte fixieren, dass wir von ihr gewissermaßen ‚absorbiert‘ werden. Das literarische Werk fungiert als immersives Medium, das es seinen Lesern erlaubt, ihre reale Umgebung weitgehend auszublenden. Die Wirkung, die uns solche Erfahrungen bringen, rangiert, um nur einige Möglichkeiten zu nennen, zwischen kathartischem Effekt, Erkenntnisvermittlung und der Schärfung emotionaler oder moralischer Fähigkeiten. Die Welt-Metaphorik, die bei der Beschreibung unseres Umgangs mit literarischen Werken oft verwendet wird und die durchaus naheliegt – sind doch Orte und Figuren, Handlungen, Motivationen oder Emotionen oftmals nach dem Vorbild unserer Welt gestaltet –, hat viele Forscher dazu veranlasst, das philosophische Modell der möglichen Welten auf literarische Werke zu übertragen und literarische Fiktionen unter Zuhilfenahme eines modallogischen Zugangs zu untersuchen (possible worlds theory, PWT). Bei diesen Versuchen wurde allerdings eine Reihe von Problemen deutlich, die Zweifel sowohl an der Mög-

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lichkeit als auch dem epistemischen Gewinn dieser Vorgehensweise hervorrufen.1 Einem anderen Ansatz, der in den 1990er Jahren im Bereich der Diskurslinguistik entwickelt wurde, liegt ebenfalls die Idee der ‚Welt‘ zugrunde. Obwohl diese sogenannte text world theory (TWT) in einigen Punkten von zentralen Einsichten der PWT ausgeht, verwendet sie den Begriff der Welt nicht im Sinne abstrakter, strukturgenerierender Propositionsmengen, wie es in der PWT der Fall ist, sondern vielmehr so, wie er uns aus dem umgangssprachlichen Gebrauch geläufig ist: als räumlich und zeitlich nachvollziehbare „settings“ bzw. als „imaginative constructs intimately connected to the linguistic forms by which they are characterized“2. Dieser Umstand erweist sich zum einen als eine wesentliche Voraussetzung für die methodische Anwendung der TWT auf literarische Texte, die bei der PWT nicht gegeben ist. Zum anderen besitzt die TWT gerade aus diesem Grund das Potenzial, solche Immersionsprozesse3, wie sie eingangs angesprochen wurden, zu beschreiben. In meinem Beitrag knüpfe ich an diese Voraussetzung an und gehe der Frage nach, inwiefern sich die TWT für eine Beschreibung des Phänomens der literarischen Immersion eignet. Dabei werde ich zunächst wesentliche Charakteristika der TWT aufzeigen. In einem weiteren Schritt werde ich den Begriff der Immersion präzisieren und als eine Form der ästhetischen Erfahrung verorten. Daraufhin werde ich anhand einer Passage aus Truman Capotes Roman Other Voices, Other Rooms (1948) das Phänomen der Immersion mit Mitteln der TWT untersuchen.

|| 1 Für eine detaillierte Argumentation gegen den possible worlds-Ansatz als Analysemethode bei literarischen Fiktionen siehe Tobias Klauk/Tilmann Köppe: „Literatur und Möglichkeiten“. In: Scientia Poetica 14 (2010), S. 163–204. 2 Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994, S. 94; vgl. auch S. 91. Lamarque und Olsen diskutieren in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen dem Weltverständnis der PWT und einem eher intuitiven und allgemeinen Verständnis dessen, was wir gemeinhin als literarische Welten bezeichnen. 3 Ich setze damit voraus, dass man von der Welthaftigkeit fiktionaler Szenarien als einer notwendigen Bedingung für Immersion ausgehen kann. Ich bevorzuge den Ausdruck ‚fiktionales Szenario‘ gegenüber dem des ‚fiktiven Szenarios‘, da es mir nicht darum geht, den Existenzstatus von Welten zu markieren, sondern den Aspekt der ästhetischen Kommunikation hervorzuheben.

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2 Wesentliche Charakteristika der TWT Die TWT wurde wegweisend von Paul Werth formuliert.4 Sie bezeichnet einen diskurslinguistischen Ansatz zur Beschreibung derjenigen Vorgänge, die sich im Rahmen menschlicher Kommunikation beim Verarbeiten kommunikativer Akte abspielen. Ihrer Kernthese zufolge erzeugen wir während einer sprachlichen Kommunikation mentale Repräsentationen des Geäußerten und sind erst durch deren gedankliches Ordnen in der Lage, den Inhalt des Gesagten zu verstehen. Um diese Repräsentationen systematisch untersuchen zu können, liefert die TWT ein analytisches Instrumentarium. Die Idee der kognitionspsychologisch fundierten Herangehensweise an sprachliche Kommunikation hat unabhängig von der TWT auch im Bereich der Literaturwissenschaft Anklang gefunden und wird etwa von der cognitive narratology der den cognitive poetics vorausgesetzt. Trotz einiger Unterschiede, die diese Zugänge in ihren Untersuchungsgebieten aufweisen,5 teilen sie grundlegende Gemeinsamkeiten im Erkenntnisinteresse und in der Methodik. Sie konzentrieren sich sowohl auf die Inhalte der Kommunikation als auch auf die beteiligten Produzenten und Rezipienten. Zwar ist der Fokus stärker auf den Rezipienten gerichtet und es wird danach gefragt, wie dieser zur Bedeutung des Vermittelten im Prozess der Rezeption gelangt und welche Wirkung dabei zu beobachten ist. Die kommunikative Pragmatik wird dabei jedoch nicht vernachlässigt; Produzenten spielen eine ebenso wichtige Rolle bei der Untersuchung des Textverstehens wie soziale oder kulturelle Kontexte. Werths zentrale These lautet, „that we build up mental constructs called text worlds [and] that even the most abstract texts must be mentally represented“6. Im Sinne eines gedanklichen „map-making“7 entwirft der Leser Repräsentationen des vermittelten Inhaltes, wobei Raum, Zeit, Bewegung und Gegenstände (darunter auch Figuren) als Gestaltungsparameter gemessen an der inhaltlichen Linearität und Komplexität zentral sind: Handelt es sich beispiels-

|| 4 Siehe Paul Werth: Text Worlds. Representing Conceptual Space in Discourse. London 1999. 5 Cognitive narratology und cognitive poetics unterscheiden sich insofern, als erstere transmedial bestimmt ist und nicht nur literarische Werke in den Blick nimmt, letztere aber den Fokus ausschließlich auf Literatur richten. Daneben orientieren sich cognitive poetics im Gegensatz zur cognitive narratology stärker an der Lyrik als an Erzähltexten. Ein einschlägiger Überblick findet sich bei Manfred Jahn: „Cognitive Narratology“. In: David Herman/Manfred Jahn/MarieLaure Ryan (Hgg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London 2005, S. 67–71. 6 Werth (Anm. 4), S. 7 f. 7 Werth (Anm. 4), S. 4.

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weise um einen wissenschaftlichen Text, der abstrakte Sachverhalte zueinander in Beziehung setzt, wird die Repräsentation als statische Systematik etwa in Form eines Musters oder Modells ausfallen. Handelt es sich dagegen um eine plot-orientierte Erzählung, die Handlungen von Figuren oder Ereignisse – seien sie etwa kausal oder teleologisch motiviert – darstellt, ergibt sich eine deiktische Struktur, die Werth als text world definiert und die im Kern dem Erfahrungsraum des Lesers entspricht, den wir auch im allgemeinen Sprachgebrauch als ‚Welt‘ bezeichnen.8 Die text world ist aufgebaut aus den oben angeführten Gestaltungsparametern, sogenannten world-building elements, die von Werth als eine Art ‚Ausstattung‘ verstanden werden und die im vergangenen Jahrzehnt im Zuge der Weiterentwicklung der TWT durch Joanna Gavins9 unter relationalen Gesichtspunkten beschrieben wurden. Ausgerichtet sind diese weltkonstitutiven Elemente am „zero reference point of subjectivity“10, dem deiktischen Zentrum des jeweils Wahrnehmenden, sei dies der Leser, ein Erzähler oder eine der Figuren in einem literarischen Werk. Die Evaluation der deiktischen Relation zwischen origo11 und Bezugselement kann unter Berücksichtigung des Weltwissens des Lesers zwischen den Extremwerten „close“ und „distant“12 liegen. Zentral ist daran, dass unter anderem solche Elemente, die entweder eine Subjektposition belegen (beispielsweise ein Ich-Erzähler), definit referenzierbar sind, Empathie evozieren oder synästhetische Effekte erzielen, der origo näher stehen (bzw. mit ihr zusammenfallen) als solche, die diese Eigenschaften in geringerer Ausprägung oder gar nicht besitzen. Letztere werden in der Repräsentation als räumlich weiter entfernt lokalisiert, was ein abnehmendes Interesse bzw. gesenkte Aufmerksamkeit auf Seiten des Lesers zur Folge hat.13 Gerade dieser zuletzt geschilderte Umstand wird im 4. Kapitel dieses Beitrags von Bedeutung sein. Zuvor möchte ich allerdings den Begriff der Immersion näher betrachten.

|| 8 Vgl. Werth (Anm. 4), S. 51. 9 Siehe Joanna Gavins: Text World Theory. An Introduction. Edinburgh 2007. 10 Gavins (Anm. 9), S. 36; vgl. auch Werth (Anm. 4), S. 57. 11 Der ursprünglich von Karl Bühler eingeführte Begriff, der das deiktische Zentrum bezeichnet, wird von Gavins gleichbedeutend übernommen. Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934]. Frankfurt a. M. 1978, S. 102–110, und Gavins (Anm. 9), S. 36 f. 12 Gavins (Anm. 9), S. 37. 13 Vgl. Gavins (Anm. 9), S. 44 f.

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3 Funktion und Erfahrung fiktionaler literarischer Werke und Immersion Wenn wir von Immersion oder vom ‚Eintauchen in eine andere Welt‘ sprechen, beziehen wir uns meist intuitiv auf solche literarischen Werke,14 die wir zum einen als künstlerisch und zum anderen als fiktional erachten. Was aber unterscheidet solche Literatur von nicht-künstlerischer und nicht-fiktionaler Literatur? Zunächst zur Fiktionalität. Ein wesentliches Potenzial von fiktionaler Literatur liegt darin, dass sie den Rezipienten dazu aufzufordern vermag, sich etwas nach bestimmten Regeln vorzustellen.15 Was das ist bzw. wozu und wie genau man es sich vorstellt, hängt von verschiedenen Faktoren des Werkes ab wie etwa vom Thema, Stoff, Aufbau etc. Natürlich kann aber auch nicht-fiktionale Literatur ihren Leser dazu anleiten, sich etwas nach bestimmten Regeln vorzustellen. Ein Zeitungsbericht kann genauso gut aufgrund von journalistischer und stilistischer Qualität seinen Leser dazu bringen, sich einen Sachverhalt besonders lebhaft vor Augen zu führen. Dennoch unterscheiden sich die Regeln der beiden Vorstellungsakte. Fiktionale Texte ‚funktionieren‘ anders als etwa Gebrauchstexte. Ihre zentrale Funktion liegt – um mit Kendall L. Waltons prominenter Terminologie zu sprechen – darin, props im game of make-believe zu liefern.16 Wozu aber dient die Praxis des make-believe? Eine Antwort auf diese Frage gibt bereits Aristoteles, wenn er vom kathartischen Effekt spricht, den „Jammer und Schauder“ evozieren.17 Indem wir vom Dichter vorgeführt bekommen, was der Fall sein könnte, können wir uns in die fiktionalen Szenarien hineinverset|| 14 Selbstverständlich können auch andere Formen von Kunst, beispielsweise Filme, Musik oder Bilder, ein immersives Potenzial haben. Immersion ist bisher bevorzugt mit Blick auf eben diese Medien untersucht und in Bezug auf Literatur weniger in den Fokus gerückt worden, was dafür spricht, eine genauere Betrachtung der immersiven Wirkungskraft von Literatur anzustrengen. 15 Vgl. Kendall Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge/London 1990, S. 18 f. 16 Walton spricht genau diesen Unterschied an: „It is not the function of biographies, textbooks, and newspaper articles, as such, to serve as props in games of make-believe. […] Instead of establishing fictional worlds, they purport to describe the real world.“ Walton (Anm. 15), S. 70. Vgl. auch Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore/London 2001, S. 95. 17 Vgl. Aristoteles: Poetik [Peri poietikes]. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 19 (Kap. 6, 1450a).

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zen, mit den Charakteren mitleiden oder Handlungen im exemplarischen Sinne nachvollziehen. Fiktionen entwerfen Situationen, die wir in der Wirklichkeit häufig nicht so erleben bzw. nicht erleben können, anhand derer wir aber doch zu einem in der Regel kognitiven (sprich: epistemischen)18 Gewinn gelangen: [O]ur imaginative involvement in fiction allows us to respond emotionally or feelingly to the tribulations and triumphs of creatures of fiction. It is a result of these experiences […] that we often come to hold certain beliefs about what it must feel like to occupy situations akin to those of our favorite heroes and heroines.19

Inhalt und fiktionaler Status eines literarischen Werkes korrespondieren hinsichtlich der Anleitung zu einer regelgeleiteten Vorstellungsaktivität. Um solche Aktivitäten möglichst wirksam zu gestalten, bedient sich fiktionale Literatur oft künstlerischer Techniken wie etwa der Figurenzeichnung und Handlungsführung, der Perspektivierung, rhetorischer Figuren oder der Bildhaftigkeit, denn „[a] merely gripping story, meant to be read once and set aside, or a poem that adorns a birthday card, amusing but forgettable, do not even purport to have the status of literature [literary art]“20. Künstlerische Literatur leistet also mehr als die bloße Wiedergabe bestimmter Sachverhalte, besonders wenn sie fiktional ist. Der Inhalt eines künstlerischen literarischen Werkes ist meist ästhetisch ansprechend verarbeitet, wobei das, was in je verschiedenen Gesellschaften zu je verschiedenen Zeiten als ästhetisch gilt, durchaus variieren kann. Dennoch lassen sich zumindest einige universale Eigenschaften ausmachen, die, wenn sie von literarischen Werken erfüllt werden, für ihren Kunstcharakter sprechen, darunter Kreativität, sprachlicher Stil, Lesevergnügen.21

|| 18 Zu unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Terminus ‚kognitiv‘ siehe Tilmann Köppe: „Was sind kognitive Kunstfunktionen?“. In: Daniel M. Feige/Gesa zur Nieden/Tilmann Köppe (Hgg): Funktionen von Kunst. Frankfurt a. M. 2009, S. 43–52, hier S. 46. 19 David Novitz: Knowledge, Fiction and Imagination. Philadelphia 1987, S. 120. In der philosophischen Ästhetik bildet sich zudem ein von Gregory Currie maßgeblich geprägter Ansatz heraus, der davon ausgeht, dass wir Kunstwerke gerade dann erfolgreich rezipieren, wenn wir uns in Charaktere und Situationen hineinversetzen (Simulation, nicht Identifikation). Für einen Überblick siehe Noël Carroll: „Simulation, Emotions and Morality“. In: Ders.: Beyond Aesthetics. Philosophical Essays. Cambridge 2001, S. 306–316. 20 Peter Lamarque: The Philosophy of Literature. Oxford 2009, S. 63. 21 Für eine detaillierte Auflistung siehe Denis Dutton: „Aesthetic Universals“. In: Berys Gaut/ Dominic MacIver Lopes (Hgg.): The Routledge Companion to Aesthetics. 2. Aufl., London/New York 2005, S. 279–291, hier S. 286–288.

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Reinold Schmücker schreibt einer solchen Beschaffenheit literarischer Werke eine ästhetische Funktion zu, die eine entsprechende ästhetische Erfahrung hervorruft: Ich nenne diese [allen Kunstwerken gemeinsame] Funktion die ästhetische Funktion [H. i. O.] der Kunst. Unter einer ästhetischen Erfahrung verstehe ich dabei jede kontemplative, auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand gerichtete Aufmerksamkeitskonzentration, die um der Gewahrung der Eigenheit dieses Gegenstandes willen erfolgt.22

Bernd Kleimann ergänzt diese Beschreibung der ästhetischen Erfahrung durch drei wesentliche Merkmale: Ästhetische Erfahrung zeichne sich aus durch „ihre Sinnlichkeit, ihre Gegenwärtigkeit und ihr[en] Erfüllungscharakter [H. i. O.]“23. Mit Sinnlichkeit meint Kleimann einerseits eine konkrete Sinneserfahrung, aber auch Leistungen des Erinnerungs- und Vorstellungsvermögens.24 Die Gegenwärtigkeit ästhetischer Erfahrung bezeichnet das Verweilen im Moment des Erlebens eines Kunstwerkes als zentrales Ziel – im Gegensatz zum Erfahrungsresultat wie etwa einem Erkenntnisgewinn. Schließlich soll die Erfahrung ‚erfüllt‘ sein, d. h., es sollte sich beim ästhetischen Erleben um ein sich lohnendes Moment handeln. Was Schmücker und Kleimann mit der Beschreibung der kunstästhetischen Erfahrung und ihren Merkmalen verdeutlichen, korrespondiert mit dem, was medientheoretische Arbeiten als Immersion bezeichnen. Wenn dieses sogenannte ‚Eintauchen‘ beschrieben wird, werden Formeln wie etwa die „Absorption der Aufmerksamkeit“ 25, das „recentering“26 im Sinne der Konzentration auf einen neuen Referenzrahmen oder die „perceptual illusion of nonmediation“27 bemüht. Andere unterscheiden die Voraussetzungen des jeweiligen Me-

|| 22 Reinold Schmücker: „Funktionen der Kunst“. In: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hgg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2001, S. 13–33, hier S. 23. Vgl. auch Bernd Kleimann, der die ästhetische Erfahrung als „Ort [des] Angesprochenseins“ bezeichnet. Bernd Kleimann: „Erfülltes Interesse. Worin der Reiz der Kunst besteht“. In: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hgg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2001, S. 68–87, hier S. 68. 23 Kleimann (Anm. 22), S. 71. 24 Vgl. Kleimann (Anm. 22), S. 71. 25 Christiane Voss: „Fiktionale Immersion“. In: Getrud Koch/Christiane Voss (Hgg.): Es ist, als ob. Fiktion in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft. München 2009, S. 127–138, hier S. 127. 26 Ryan (Anm. 16), S. 103. 27 Matthew Lombard/Theresa Ditton: „At the Heart of it All. The Concept of Presence“. In: Journal of Computer-Mediated Communication 3/2 (1997). https://academic.oup.com/ jcmc/article/3/2/JCMC321/4080403 [abgerufen am 21.01.2019].

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diums von der Eigenleistung des Rezipienten in Bezug auf die immersive Qualität.28 Nicht alle Kunstwerke sind also von gleicher immersiver Intensität. Einige rufen in uns ein besonders intensives Erleben hervor, während wir zum Inhalt anderer Kunstwerke eher eine intuitive Distanz verspüren. Wiederum andere setzen bewusst auf die konsequente Vermeidung eines immersiven Erlebnisses.29 Immersion scheint somit an bestimmte Eigenschaften des Kunstwerkes gebunden zu sein. Um sie zu erzeugen, so viele Positionen der neueren Forschung, bedarf es a) der Realitätsillusion und b) des Verbergens der Medialität des Kunstwerkes.30 Zunächst zu a): Realitätsillusion bedeutet, dass der Inhalt des Kunstwerkes sich so nahe wie möglich an dem orientiert, was wir als physische Wirklichkeit unserer Welt wahrnehmen, d. h., die im Kunstwerk dargestellten und für die Stimulierung der Wahrnehmung relevanten Sachverhalte (Ereignisse, Figuren, Handlungen etc.) sind zum einen wahrscheinlich und zum anderen unserer Erfahrungswelt ähnlich. Die Betonung der Relevanz für die Stimulierung der Wahrnehmung resultiert daraus, dass beispielsweise auch ein Roman wie George Orwells Animal Farm (1945) immersiv sein kann, ohne dass es tatsächlich sprechender Tiere in der Wirklichkeit bedarf, da nicht die Tatsache im Mittelpunkt steht, dass Tiere sprechen, sondern die Allegorie, in deren Rahmen dieser Sachverhalt verwendet wird. Die Forschung zu virtuellen Realitäten spricht daher von zwei möglichen Arten, Realitätseffekte zu erzeugen: Realism is subdivided into social realism (the extent to which the social interactions in the VRE [virtual reality environment] matched interactions in the real world), and perceptual

|| 28 Vgl. Lombard/Ditton (Anm. 27) und Tobias Hochscherf/Heidi Kjär/Patrick Rupert-Kruse: „Einleitung. Phänomene und Medien der Immersion“. In: Jahrbuch immersiver Medien 2011. Abgrenzung, Annäherung, Erkundung 3 (2011), S. 9–19, hier S. 14. 29 Ein berühmtes Beispiel für diese ‚Vermeidungsstrategie‘ ist Bertolt Brechts Verfremdungseffekt. 30 Dafür werden jedoch keine einheitlichen Begriffe benutzt. Realitätsillusion wird oft mit ‚Präsenzerleben‘ (Singer/Witmer) gleichgesetzt, das Verbergen der Medialität mit „nonmediation“ (Lombard/Ditton) oder dem „Verhüllen der Künstlichkeit“ (Wolf). Vgl. dazu Michael J. Singer/Bob G. Witmer: „Measuring Presence in Virtual Environments: A Presence Questionaire“. In: Presence 7/3 (1998), S. 225–240; Lombard/Ditton (Anm. 27); Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen 1993, S. 132.

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realism (how closely do the objects, environments, and events depicted match those that actually exist).31

Beide Arten der Realitätsillusion sind zwar bidirektional unabhängig, mindestens eine ist allerdings notwendig, um einen Realitätseffekt zu erzielen.32 Während wir bei Filmen oder Computerspielen „lediglich geringen mentalen bzw. imaginativen Aufwand betreiben [müssen], um [uns] in einem digitalen oder analogen Bildraum anwesend zu fühlen“33, da die audiovisuelle Vorgabe die Entfaltung individueller mentaler Repräsentationen eingrenzt,34 ist es im Fall von Literatur umgekehrt: Hier ist es gerade die Differenz zwischen sprachlichen Äußerungen und den von ihnen bezeichneten Objekten, durch die dem Text die Funktion einer Instruktionsbasis für eine selbstständige und individuelle Vorstellungstätigkeit zugeschrieben werden kann.35 Das heißt jedoch nicht, dass durch den höheren Vorstellungsaufwand die Intensität des immersiven Erlebens eingeschränkt wäre, im Gegenteil: Sogenannte „experiential imaginations“ etwa können von einer solchen Intensität sein, dass sie vom Erleben aktualer Situationen kaum zu unterscheiden sind. 36 Dies liegt nicht zuletzt daran, wie solche Werke gestaltet sind: Formale Charakteristika wie leicht nachvollziehbare Gestaltung von Raum und Zeit, sinnvolle Konzeption von Handlung und Ausstattung der Gegenstände oder Perspektivgebundenheit, aber auch stilistische Eigenheiten wie detaillierte Beschreibungen, vivid descriptions und bildhafte Sprache wirken auf die Qualität der Imagination einer welthaften Umgebung, indem sie beispielsweise die visuelle Vorstellbarkeit fördern.37 Unerlässlich für diese besondere imaginative Tätigkeit sind dabei basale deiktische Elemente wie Raum und Zeit. Richard J. Gerrig, der in seiner empirisch fundierten Studie Experiencing Narrative Worlds (1993) dezidiert zwischen

|| 31 Alison MacMahan: „Immersion, Engagement, and Presence. A Method for Analyzing 3-D Video Games“. In: Mark J. P. Wolf/Bernard Perron (Hgg.): The Video Game Theory Reader. New York/London 2003, S. 67–86, hier S. 75. 32 Vgl. auch Ryan (Anm. 16), S. 158. 33 Hochscherf/Kjär/Rupert-Kruse (Anm. 28), S. 13. 34 Vgl. Gregory Currie: „Imagination and Make-Believe“. In: Berys Gaut/Dominic MacIver Lopes (Hgg.): The Routledge Companion to Aesthetics. 2. Aufl., London/New York 2005, S. 335– 346, hier S. 341. 35 Bei Ryan heißt es dazu ähnlich: „To speak of a textual world means to draw a distinction between a realm of language, made of names, definite descriptions, sentences, and propositions, and an extralinguistic realm of characters, objects, facts, and states of affairs serving as referents to the linguistic expressions.“ Ryan (Anm. 16), S. 91. 36 Vgl. Berys Gaut: Art, Emotion and Ethics. Oxford (Repr.) 2011, S. 151. 37 Vgl. Wolf (Anm. 30), S. 134–198, vor allem S. 136.

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„narratives“ und „narrative worlds“ unterscheidet, begründet diese Differenzierung damit, dass eine Narration im Sinne verbreiteter Minimaldefinitionen38 nicht notwendigerweise Immersionsfördernde mentale Repräsentation erzeugt, sondern dass es dafür zunächst anderer Faktoren bedarf, etwa der Orientierung in Form von raumbezogenen Eigennamen (etwa ‚Eiffelturm‘ oder ‚Paris‘), die auf bestimmte (fiktive oder reale) Orte verweisen.39 Marie-Laure Ryan differenziert speziell diesen räumlichen Aspekt weiter in Orte, an denen wir selbst einmal waren (etwa die Settings in Regionalkrimis), Orte, die allgemein bekannt sind (London, die Wüste Sahara), und Typen (‚Hafen‘, ‚Gasse‘, ‚Wirtshaus‘).40 Zu b): Das Verbergen der Medialität des Kunstwerkes wird oft mit einem Präsenzerlebnis gleichgesetzt.41 Dieser Eindruck mag dadurch entstehen, dass die erzeugte Unmittelbarkeit es dem Rezipienten erlaubt, zwischen sich und dem dargestellten Inhalt keine Distanz mehr wahrzunehmen und aufgrund dessen das Gefühl einer physischen Anwesenheit sozusagen ‚als Teil des Kunstwerkes‘ zu erleben. Die Verringerung der Distanz entsteht dabei einerseits dadurch, dass auffällige formalästhetische Verfahren wie bewusste Interpunktionsauslassungen oder Kleinschreibung vermieden werden. Andererseits wird sie dadurch erzeugt, dass der Inhalt des Textes kohärent und nachvollziehbar gestaltet ist und der Text auch im Bereich der Oberflächenstruktur Merkmale der Kohäsion aufweist, die Verständnis und Lesefluss gewährleisten. Von dieser Einsicht geht auch Nelson Goodman in Reality Remade (1976) aus: „Just here, I think, lies the touchstone of realism: not in quantity of information but in how easily it issues.“42 Ryan präzisiert diese Position in Bezug auf Literatur: „Language has to make itself invisible in order to create Immersion.“43 Gemeint ist damit nicht, dass sprachliche Qualitäten, wie sie oben etwa als vivid descriptions oder Bildhaftigkeit angesprochen wurden, möglichst unauffällig

|| 38 So wird in der Forschung beispielsweise dann von einer Narration gesprochen, wenn (1) eine Repräsentation erzeugt wird und (2) der Inhalt dieser Repräsentation mindestens chronologische und kausale Konsistenz aufweist. Vgl. Fotis Jannidis: „Narratology and the Narrative“. In: Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Hgg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin 2003, S. 35–54, hier S. 36. 39 Vgl. Richard Gerrig: Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Reading. New Haven 1993, S. 4–6. Wolf spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer „raum-zeitlichen Handlungsbühne“ oder „Kulisse“. Vgl. Wolf (Anm. 30), S. 135. 40 Vgl. Ryan (Anm. 16), S. 129 f. 41 So z. B. bei Lombard/Ditton (Anm. 27). 42 Nelson Goodman: „Reality Remade“. In: Ders.: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis 1976, S. 3–43, hier S. 36. 43 Ryan (Anm. 16), S. 159.

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gehalten werden. Vielmehr soll sie der Leser grundsätzlich nicht als künstlerische Sprachverwendung wahrnehmen, denn ihre wesentliche Funktion ist es, als Vehikel für die Entfaltung der Vorstellung zu dienen, ohne dabei als solche aufzufallen. Neben a) und b) existiert schließlich noch ein wesentliches Charakteristikum, das häufig zur Beschreibung von Immersion herangezogen wird: Das Vergnügen, das wir empfinden, wenn wir uns in Literatur vertiefen. Der Psychologe Victor Nell beispielsweise stellt eine Interdependenz zwischen Immersion und Vergnügen her: „[A]ttention grips us and abstracts us from our surroundings; but the otherness of reading experience, the wonder and thrill of the author’s creations [...], are the domain of trance.“44 Problematisch an dieser offensichtlich evaluativen Unterscheidung in bloße Aufmerksamkeit („attention“) und das, was mit „trance“ als Immersion verstanden werden kann, ist jedoch zum einen, dass damit eine Aufwertung des Leseerlebnisses verbunden wird. Denn wir würden eine Leseerfahrung im Nachhinein sicherlich nicht immer als in diesem positiven Sinne vergnüglich bezeichnen, etwa wenn die Erfahrung zu intensiv ausgefallen ist und uns womöglich sogar belastet. Zum anderen (und noch wesentlicher) werden solche Erlebnisse oftmals sehr individuell empfunden und bewertet und lassen sich daher nicht ohne Weiteres unter den für diese Zwecke zu vagen Ausdruck des Vergnügens subsumieren.

4 Das explanatorische Potenzial der TWT in Bezug auf Immersion Wie kann die TWT dazu beitragen, Immersion zu beschreiben? „A typical Text World Theory analysis normally begins by separating a given discourse into three interconnecting levels.“45 Diese Ebenen sind die discourse world, die text world und die sub world.46 In der discourse world wird entweder direkt oder indirekt (z. B. schriftlich) kommuniziert. Die text world entsteht während des kommunikativen Aktes als eine mentale Repräsentation des Geäußerten. Sub worlds bezeichnen ganz allgemein solche Welten, die gesondert von, aber in-

|| 44 Victor Nell: Lost in a Book. The Psychology of Reading for Pleasure. New Haven 1988, S. 77. 45 Joanna Gavins: „Too Much Blague? An Exploration of the Text Worlds of Donald Barthelme’s Snow White“. In: Joanna Gavins/Gerard Steen (Hgg.): Cognitive Poetics in Practice. London/New York 2003, S. 129–144, hier S. 130. 46 Vgl. Gavins (Anm. 45), S. 130 f.

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nerhalb der text world erzeugt werden (also Binnenerzählungen, Zeitwechsel, Gedanken oder Wunschvorstellungen etc.). Die discourse world ist der Bereich, in dem sich die Kommunikationspartner (Sprecher und Hörer, aber auch Autor und Leser) befinden. Darin sollten – insbesondere im Fall von Literatur, bei der eine unmittelbare Kommunikationssituation nicht gegeben ist – die Kommunikationspartner über einen sogenannten common ground verfügen, eine Schnittmenge aus dem beiderseitigen Hintergrund- und Weltwissen, damit nicht nur das Verständnis, sondern auch die Möglichkeit der Wirkungsentfaltung einer kommunizierten Nachricht gewährleistet ist. Von der text world spricht Werth als einem „deictic space, defined […] specifically by the deictic and referential elements in it“47. Er macht anhand mehrerer Beispiele deutlich, was er damit meint: „[M]ovements“, „arrangements of objects“, „paths“ und „time“ bieten gemeinsam die Möglichkeit für den Leser, ein „mental picture“ zu konstruieren.48 Wir repräsentieren also das Gelesene in erster Linie räumlich (sowie auch häufig sinnlich) und bedürfen dafür der Imagination.49 Indem wir Objekte so in Beziehung zueinander setzen können, erzeugen wir die Welthaftigkeit fiktionaler Szenarien, die von Werth auch als „complex state[s] of affairs“50 bezeichnet werden.51 Diese sind über die konstitutiven deiktischen Elemente hinaus auch wesentlich durch das generelle und individuelle Weltwissen der Leser bestimmt, welches perzeptiver, linguistischer, kultureller und allgemein erfahrungshafter Natur sein kann und uns erlaubt, Zusammenhänge zu erfassen, Schlussfolgerungen anzustellen oder fehlende Informationen zu inferieren.52 Dabei spielen frames eine wesentliche Rolle, erfahrungsbasierte und stereotyp kategorisierte Wissensrepräsentationen, die unserem alltäglichen Handeln zugrunde liegen und die bei Inferenzprozessen zum Einsatz kommen.

|| 47 Werth (Anm. 4), S. 95. 48 Werth (Anm. 4), S. 8–11 sowie S. 87. 49 Vgl. Werth (Anm. 4), S. 17 und 86, sowie Laura Hidalgo Downing: Negation, Text Worlds, and Discourse. The Pragmatics of Fiction. Stamford 2000, S. 84 f. 50 Werth (Anm. 4), S. 68. 51 Selbstverständlich beschränkt sich die Repräsentation nicht nur auf visuelle Vorstellungen. Abgesehen vom Abstraktheitsgrad, den Werth betont, ist Literatur eher in der Lage, alle Sinne anzusprechen, als solche Medien, die auf einen bestimmten Sinn fixiert sind. Man denke an Romane wie Das Parfüm (1985) von Patrick Süskind oder Schlafes Bruder (1992) von Robert Schneider, die olfaktorische und akustische ‚Reize‘ nutzen. Vgl. außerdem auch Currie (Anm. 34), S. 342. 52 Vgl. Werth (Anm. 4), S. 53 und 86; vgl. auch Gavins (Anm. 45), S. 130.

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Die world-building elements ‚Raum‘, ‚Zeit‘, ‚Figuren‘ und ‚Gegenstände‘ erzeugen das fiktionale Szenario als Welt und bilden den Hintergrund, vor dem sich eine Geschichte abspielt. Sogenannte function-advancing propositions konstituieren Objekte und deren Zustände, tragen zur Hervorbringung der Geschichte bei bzw. treiben sie voran. Hierbei können mehrere Arten unterschieden werden. Eine Handlung beispielsweise kann durch die Aufzählung aufeinander folgender Ereignisse (plot-advancement), eine Figur wiederum durch die Beschreibung ihrer Charaktereigenschaften entwickelt werden (person-advancement).53 Um diese Aspekte an einem Beispiel zu verdeutlichen, wähle ich eine Passage aus Truman Capotes Other Voices, Other Rooms54. Der Roman behandelt einen Lebensabschnitt des 13-jährigen Joel Knox, der nach dem Tod seiner Mutter in die Provinz nach Alabama zu seinem dort lebenden Vater geschickt wird, um fortan mit diesem zusammenzuleben. Das erste Treffen von Vater und Sohn, die einander nicht kennen, wird durch immer neue Begründungen seiner Stiefmutter hinausgezögert. Die entlegene Umgebung des väterlichen Hauses trägt dazu bei, dass Joel eine räumliche und kommunikative Isolation erfährt. Im angeführten Textausschnitt tritt er nach langem, unerfülltem Warten auf eine versprochene Begegnung mit seinem Vater und auf der Suche nach einer Beschäftigung aus dem Haus heraus: Somewhere in a school textbook of Joel’s was a statement contending that the earth at one time was probably a white hot sphere, like the sun; now, standing in the scorched garden, he remembered it. He had reached the garden by following a path which led round from the front of the house through the rampart of interlacing trees. And here, in the overgrown confusion, were some plants taller than his head, and others razor-sharp with thorns; brittle sun-curled leaves crackled under his cautious step. The dry, tangled weeds grew waist high. The sultry smells of summer and sweet shrub and dark earth were heavy, and the itchy whirr of bumblebees stung the silence. He could hardly raise his eyes upward, for the sky was pure blue fire. The wall of the house rising above the garden was like a great yellow cliff, and patches of Virginia creeper greenly framed all its eight overlooking windows. Joel trampled down the tough undergrowth till he came up flat against the house. (S. 51 f.)

Die Welt dieser Szene erschließt sich uns durch alle Arten der von Werth beschriebenen world-building elements, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die einzige Figur des Textabschnitts, Joel, ist umgeben von mehreren Objekten, die die Szenerie ausstatten: Haus, Bäume, Garten und Himmel in

|| 53 Vgl. Peter Stockwell: Cognitive Poetics. An Introduction. London/New York 2002, S. 137–139. 54 Truman Capote: Other Voices, Other Rooms [1948]. London 2004.

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seiner weiteren Umgebung, Pflanzen verschiedener Art, Blätter, Erde, Dornen und Hummeln in seiner näherer Umgebung. Diese werden zu Konstituenten eines Raumes, indem sie durch Lokaladverbien oder relationale Adjektive in Beziehung zueinander und zur Figur gesetzt werden: Joel steht im Garten („standing in the scorched garden“, „here“), den er erreicht hat, indem er einem Pfad ums Haus herum und unter dem Schutzwall einiger Bäume hindurch („through the rampart“) gefolgt ist. Von seiner Position aus sieht er den Himmel („upward“) sowie die Rückseite des Hauses „rising above the garden“. Dabei ist er umgeben von Pflanzen „waist high“ und „taller than his head“. Auffällig ist die überwiegend raum- und objektorientierte Gestaltung der Szene, während die zeitliche Dimension lediglich durch die Abgrenzung vom erinnerten Schulbuch durch das Temporaladverb „now“ angezeigt wird. Die function-advancing propositions korrespondieren mit der Gewichtung der world-building elements. Da eine durch Bewegung im Raum erzeugte Wahrnehmung von Zeit zugunsten der statischen Beschreibung der Umgebung in den Hintergrund tritt, sind die function-advancing propositions entsprechend deskriptiver Art und auf die Objekte sowie auf die Szene als Ganzes bezogen. Sie sind hauptsächlich durch Adjektive verwirklicht: Der Garten ist hitzeversengt („scorched“) und verwachsen („overgrown“), die Pflanzen messerscharf („razorsharp“), verfilzt („tangled“) und die Atmosphäre schwer („heavy“) von schwülen („sultry“) Gerüchen und dem kribbeligen („itchy“) Schwirren der Hummeln. Insgesamt handelt es sich um ein Szenario, das dem Leser insofern nicht unbekannt ist, als es sich um den Gemeinplatz einer Wahrnehmung hochsommerlicher Temperatur und Landschaft handelt – das Weltwissen des Lesers ist somit problemlos mit dem Textausschnitt in Verbindung zu bringen. Ein weiteres Kennzeichen dieses Szenarios ist die Wahrnehmung der Umgebung aus Joels Perspektive. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies mit Mitteln der TWT zu erläutern: Zum einen unterscheidet die TWT zwischen solchen Welten, die für Autor und Leser zugänglich sind (participant-accessible) und solchen, die für die Figuren zugänglich sind (enactor-accessible).55 Bei dem kleinen Ausschnitt zum Schulbuch beispielsweise handelt es sich um eine Gedankenwelt (sub world), die nur Joel zugänglich ist, da das Buch seine persönliche Erinnerung an die darin festgehaltenen Sätze evoziert. Diese sub world ist dem Leser laut der TWT strenggenommen nicht zugänglich, sondern lediglich Joel. Das heißt allerdings nicht, dass der Leser die Erinnerung als Inhalt des Romans nicht selbst mental repräsentieren kann. Leser können sich selbst („self-implication“

|| 55 Vgl. Gavins (Anm. 9), S. 77, und Werth (Anm. 4), S. 210–216.

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oder „perspective-taking projection“)56 in sub worlds versetzen und Gegenstände wie das Schulbuch, dessen Sätze und deren Inhalte imaginieren, je nachdem wie detailliert sie der Roman vorgibt und wie ausgeprägt das eigene Erfahrungswissen ist. Dabei kann der Leser eine Position ‚mit‘ der Figur einnehmen (wie bei einem Blick über ihre Schulter) oder sozusagen ‚durch sie hindurch‘ wahrnehmen.57 Zum anderen fällt das deiktische Zentrum mit der origo Joels zusammen, da der Text von ihm ausgehend konstituiert ist. Erst mit Joel erreicht der Leser den Garten. Man erfährt nicht, ob es einen zweiten Zugang zum Garten gibt, denn lediglich der Weg, den Joel wählt, wird im Text beschrieben. Nachdem er im Garten angelangt ist, ist vom „here“ die Rede, das eine räumliche Beziehung des Protagonisten zu seiner Umgebung anzeigt. Auch die anderen Objekte sind relational zu Joel beschrieben: Die Pflanzen sind so hoch wie seine Hüfte („waist high“), andere sind größer als er selbst („taller than his head“), unter seinen Schritten knistern die Blätter („under his cautious step“), der Blick zum Himmel geht aufwärts („raise his eyes upward“) und sein Weg führt wieder dicht ans Haus heran („till he came up“). Unsere Wahrnehmung qua Joels origo zeigt allerdings nicht nur, wie die Welt aus seiner räumlichen Perspektive aussieht, sondern auch aus der Perspektive seiner Gedanken und Empfindungen. Unwillkürlich assoziiert Joel die Hitze im Garten mit der Sonne als weißglühender Kugel. Die Umgebung kommt ihm entsprechend vor: Die Bäume, gemeinhin Schattenspender, formen einen Schutzwall („rampart of interlacing trees“), wohingegen die Blätter auf dem Boden von der Sonne zusammengezogen sind und knistern („brittle sun-curled leaves crackled“). Schwüle Sommergerüche durchziehen die Luft („sultry smells of summer“), und er vermag nicht einmal in den Himmel zu sehen, denn selbst dieser scheint von der Hitze versengt („for the sky was pure blue fire“). Der Leser konstruiert also aufgrund bestimmter Eigenschaften des Textes ein mentales Bild von einem Jungen, der im Hochsommer aus einem Haus heraus- und in einen Garten eintritt. Aufgrund der world-building elements, function-advancing propositions und der konstanten Ausrichtung des Erzählten an Joels origo ist es dem Leser möglich, einen ‚sensuell‘ wahrnehmbaren, deikti|| 56 Gavins (Anm. 9), S. 86, und Sara Whiteley: „Text World Theory, Real Readers and Emotional Responses to The Remains of the Day“. In: Language and Literature 20/1 (2011), S. 23–42, hier S. 27 f. 57 Vgl. Gavins (Anm. 9), S. 129. Don Kuiken u. a. unterscheiden ein „feeling into“ einerseits durch die Aktivierung bestimmter Erfahrungen, die Wiedererkennungswert besitzen, andererseits durch die Verkörperung der eigenen Person in der Figur. Don Kuiken/David S. Miall/Shelley Sikora: „Forms of Self-Implication in Literary Reading“. In: Poetics Today 25/2 (2004), S. 171– 203, hier S. 185.

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schen Raum zu imaginieren, den er mit seinem Weltwissen anreichern kann. Er erlebt darüber hinaus die Hitze im Garten gemeinsam mit und ‚durch Joel hindurch‘. Dass uns dieses Erleben realistisch erscheint, dürfte kaum zu bezweifeln sein – doch warum erscheint es uns so? Gavins’ Überlegungen zur origo können zeigen, wie es dazu kommt. Die Festlegung einer origo im Text bewirkt zunächst eine konstante Wahrnehmung auf Seiten des Lesers und bietet ihm die Möglichkeit, „[to] inhabit the deictic centre being described by the second-person references [e.g. personal pronouns]“58. Der häufig artikulierten Auffassung, dass die Wahrnehmung aus der Perspektive der ersten Person Immersionsfördernder sei als aus der Perspektive der dritten Person, begegnet Gavins, indem sie darauf verweist, dass Leser in der Lage sind, sich in jedwede Sicht hineinzuversetzen, solange sie der „main focalizer of a text“59 bleibt. Darüber hinaus ist die Annahme der Figurenperspektive durch den Leser besonders dann möglich und intensiv, wenn eine empathische Verbindung zu der Figur hergestellt werden kann. Dies ist im Fall des Textausschnittes nicht schwierig, da Joel offenbar und für uns nachvollziehbar unter der Hitze leidet. Andere world builders können ebenso in eine Relation zum Leser gebracht werden: Textkonstitutive, detailliert und sinnlich ansprechend dargestellte, vertraute, definit referenzierbare und/oder Empathie evozierende Objekte stehen der origo nahe, sie sind unmittelbar und dadurch Immersionsfördernd.60 Dieses Nahestehen ist wörtlich gemeint: Ein unbestimmtes Objekt oder Objekte, die generisch bezeichnet werden, sind in der mentalen Repräsentation räumlich weiter entfernt von der origo angesiedelt als (näher) bestimmte, sympathische oder vertraute Objekte. Im Textausschnitt sind zahlreiche der Figur Joel und mit ihm dem Leser nahestehende Objekte enthalten. Joel ist „here“ verortet, in der unmittelbaren Umgebung des Gartens. Die oben räumlich relational zu Joel beschriebenen Objekte sind zwar meist durch generische Begriffe beschrieben („trees“, „plants“, „leaves“, „smells“) und denotieren deswegen nicht singulär. Sie sind aber aufgrund der bestimmten Artikel definit referenzierbar und werden insofern noch weiter konkretisiert, als ihnen sensuell wirkungsvolle Adjektive zur Seite stehen: „scorched garden“, „interlacing trees“, „overgrown confusion“, „plants taller than his head, and others razor-sharp with thorns“, „brittle

|| 58 Gavins (Anm. 9), S. 86. 59 Gavins (Anm. 9), S. 46. Zur deiktischen bzw. psychischen Projektion siehe Whiteley (Anm. 56), S. 26 f. 60 Vgl. Gavins (Anm. 9), S. 44 und 82; Lombard/Ditton (Anm. 27); Hochscherf/Kjär/RupertKruse (Anm. 28), S. 12 f.

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sun-curled leaves“, „cautious step“, „dry, tangled weeds“, „sultry smells“, „sweet shrub“, „dark earth“, „itchy whirr“. Des Weiteren spielt die Reihenfolge der Beschreibung eine Rolle. Was als erstes erwähnt oder eingeführt wird, kann oftmals in einer räumlich näheren Umgebung innerhalb der Repräsentation stehen als das, was später eingeführt wird. Kommen neue Elemente hinzu, treten bekannte Elemente in den Hintergrund und fungieren als Folie, vor der dominante Elemente intensiver wahrgenommen werden: „Elements occupying the subject position […] tend to be foregrounded.“61 Im Fall von Other Voices, Other Rooms beginnt der Auszug mit der Erinnerung an das Schulbuch und an den für Joel prägnanten Satz, dass die Erde einmal eine weißglühende Kugel gewesen sein müsse. Die Atmosphäre des Gartens wird mit der Aussage dieses Satzes parallelisiert und somit dem Leser vorgegeben. Die folgenden Beschreibungen unterstreichen den Eindruck der drückenden Hitze, allerdings stets vor dem Hintergrund der hyperbolischen Einführung in den Abschnitt anhand der Gleichsetzung der Wärme im Garten mit der glühenden Sonne. Das Hitzeerlebnis kann aufgrund seiner Gestaltung im Text als ‚perceptual realism‘ inferiert werden: Auf einem wild bewachsenen Stück Wiese zu stehen und einen heißen Sommertag wahrzunehmen, stellt für das Gros der Leserschaft keine außergewöhnliche Situation dar. Gavins erwähnt einen weiteren wichtigen Faktor: „Finally, brightness, fullness, and noise have also all been identified as key attributes of those elements which typically attract attention in human perception.“62 Obwohl Gavins auf diese Aspekte nicht weiter eingeht, erschließt sich aus anderen Studien wie etwa der von Peter Stockwell,63 wie genau diese und andere Merkmale zur Anziehung von Leseraufmerksamkeit beitragen. Stockwell zählt verschiedene „textual attractors“64 auf, unter anderem „definiteness“, „empathetic recognisability“, „brightness“, „fullness“, „height“ und „aesthetic distance from the norm“.65 Oben wurde bereits angesprochen, dass die Objekte im Textausschnitt definit referenzierbar sind und dass wir aufgrund von Inferenzen und einer konstanten origo mit Joel mitfühlen können. Auch die Höhe (height) wurde bereits festgestellt: Die Pflanzen überragen Joel, der Himmel befindet sich ebenso wie das hoch aufstrebende Haus über ihm.

|| 61 Gavins (Anm. 9), S. 44. 62 Gavins (Anm. 9), S. 44. 63 Peter Stockwell: Texture. A Cognitive Aesthetics of Reading. Edinburgh 2009. Siehe auch Kuiken/Miall/Sikora (Anm. 57), S. 181 f. 64 Stockwell (Anm. 63), S. 25. 65 Stockwell (Anm. 63), S. 25.

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Brightness bezeichnet in diesem Zusammenhang eine visuelle Komponente wie etwa starke Farben oder Helligkeit. Gleich im ersten Satz des Abschnitts heißt es von der Erde, sie sei „probably a white hot sphere“ gewesen. Es folgen der „scorched garden“, „sun-curled leaves“, der Himmel als „pure blue fire“, die Hauswand als „great yellow cliff“ und „greenly framed […] windows“. Nicht alle dieser Adjektive sind direkt visuell oder farblich ansprechend, evozieren allerdings aufgrund ihres zugehörigen frame eine Assoziation mit Sonne, Feuer oder Helligkeit. Fullness und aesthetic distance from the norm stehen im Fall des Textausschnitts in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis. Ersteres bezeichnet Reichhaltigkeit bzw. Intensität der Darstellung, Letzteres besonders ‚schöne‘, ‚hässliche‘ oder anderweitig auffällige Objekte. Die Heftigkeit des Hitzeerlebnisses wird zum einen durch die deskriptive Darstellung erzeugt. Joels Bewegung durch den Garten tritt zugunsten der Beschreibung des hochsommerlichen Zustandes in den Hintergrund: Verben der Bewegung wie „reached“, „step“ und „trampled“ stellen im Vergleich zu Zustandsverben die quantitative Minderheit dar. Die Szene erweckt dadurch insgesamt einen statischen Eindruck, der durch die Wahl sensueller Adjektive verstärkt wird. Diese sind fast alle gesteigert oder besonders ausdrucksstark: Der ganze Garten erscheint hitzeversengt und als wuchernde Wildnis („overgrown“), die Pflanzen sind zum Teil größer als Joel und ihre Dornen sind nicht nur scharf, sondern messerscharf („razor-sharp“). Trotz seiner Vorsicht knistern die zusammengezogenen Blätter unter seinen Schritten, die Gerüche sind zusätzlich zum jeweiligen Adjektiv „heavy“ und das Schwirren der Hummeln mündet in einer Klimax von „itchy“ zu „stung“. Schließlich kulminiert die Beschreibung in zwei Tropen und einer rhetorischen Figur: Der Himmel ist eine einzige blaue Flammenglut, im Zuge einer Anthropomorphisierung schauen die Fenster auf Joel herab („overlooking“) und das Haus erhebt sich wie eine mächtige gelbe Klippe, wobei „great […] cliff“ aufgrund der gängigen Konnotation von Klippen als große und eindrucksvolle Naturerscheinungen auch als Pleonasmus gelesen werden kann. Diese Steigerungen und adjektivisch bildreichen Umschreibungen evozieren den Gesamteindruck der Sommerwärme als etwas, dem der Mensch, und erst recht ein 13-jähriges Kind, fast bedrohlich ausgesetzt ist. Die Objekte, die Joel umgeben, sind im gewöhnlichen Zustand zwar alltäglich begegnende Gegenstände, die oftmals nicht einmal aufzufallen vermögen. Durch die Darstellung im Roman treten sie allerdings als synästhetisch konkretisierte, dominante Objekte in den Vordergrund und werden in ihrer Fülle und als zu etwas Gefahrvollem überzeichnet wahrgenommen.

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Ich möchte abschließend kurz erläutern, aufgrund welcher text worldtheoretisch beschreibbaren Merkmale sich der Eindruck einstellen kann, dass beim Lesen die Medialität dieses Auszugs in den Hintergrund tritt. Gavins und Laura Hidalgo Downing sprechen davon, dass text worlds dynamisch und fließend sind und ständiger Aktualisierung unterliegen.66 Um diese nachzuvollziehen, bedarf es nach Werth vier Verknüpfungsarten: „cohesion“, „collocation“, „connection“ und „inference“.67 Kohäsion kann beispielsweise durch Personalpronomina, Temporaladverbien oder Konnektoren verschiedener Art entstehen. Die augenscheinlichste Verknüpfung im Fall des Textbeispieles ist die Referenz auf Joel durch das Pronomen „he“ oder durch die Adverbien „now“ und „here“. Lexikalische Konnektivität in Form der Kollokation herrscht im gesamten Textausschnitt durch die Verwendung zweier Wortfelder vor: „house“, „wall“, „path“ und „garden“ (Wohnverhältnisse) sowie „trees“, „plants“, „thorns“, „leaves“, „weeds“, „earth“ und „Virginia creeper“ (Botanik). Logische Konnektivität wird etwa durch Begründungen impliziter oder expliziter Art hergestellt: Erst die Hitze im Hier und Jetzt erinnert Joel an den Eintrag im Schulbuch („now, standing in the scorched garden, he remembered it“) und er kann seinen Blick nicht heben, „for the sky was pure blue fire“. Schließlich gelangen wir durch Inferenz zu bestimmten Annahmen wie etwa derjenigen, dass Joel die Wärme nicht zuträglich ist oder dass der Moment im Garten einen Moment der Isolation darstellen muss, wenn das Einzige, was der Junge in der Stille hört, das Summen der Hummeln ist. Im Ausschnitt wird mithin das verwirklicht, was Ryan als „invisibility of language“68 bezeichnet (siehe Kapitel 3). Im Vordergrund steht eine die Sinne des Lesers ansprechende, glaubhafte und Empathie erzeugende Szene, die zwar mit künstlerischer Sprachverwendung arbeitet, diese allerdings nicht in den Vordergrund treten lässt. Mechanismen der Informationsverarbeitung, die wir einsetzen, um selbst Kohärenz zu stiften, wo sie fehlt, oder die konzeptuelle ReLektüre des Textes mit dem Ziel, eine neue text world zu erzeugen – Prozesse, welche die TWT mit world-repairs und world-replacements bezeichnet69 – sind folglich nicht vonnöten.

|| 66 Gavins (Anm. 9), S. 45 und 54 f.; Hidalgo Downing (Anm. 49), S. 84 f. 67 Werth (Anm. 4), S. 122. 68 Siehe Anm. 43. 69 Vgl. Joanna Gavins: „Absurd Tricks with Bicycle Frames in the Text World of The Third Policeman“. In: Nottingham Linguistic Circular 15 (2000), S. 17–33, hier S. 31, und Catherine Emmott: Narrative Comprehension: A Discourse Perspective. Oxford 1997, S. 157–166.

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5 Fazit Es hat sich gezeigt, dass die TWT genau das differenziert und systematisch benennen kann, was Gerrig und Ryan als basale deiktische Elemente bezeichnen und was als Voraussetzung für eine regelgeleitete und welterzeugende Imaginationstätigkeit notwendig ist: world-building elements und function-advancing propositions. Sie geht von der räumlich gearteten Repräsentation des Erzählten aus, die die Voraussetzung für eine welthafte, an unserer Wirklichkeit orientierte Imagination darstellt. Des Weiteren erklärt sie durch das Konzept der origo die Funktion einer konstanten Perspektive hinsichtlich der empathischen Selbstprojektion des Lesers in die Situation literarischer Figuren, die nicht zuletzt aufgrund erfolgreicher Inferenzen möglich ist. Linguistische Oberflächenund Tiefenstrukturen lässt die TWT dabei ebenso wenig außer Acht und entwickelt dafür sowie für einzelne stilistische Aspekte künstlerischer Sprachverwendung angemessene Erklärungsmethoden. Ein besonderer Vorteil der TWT liegt, wie Sara Whiteley richtig erkannt hat,70 in ihrem holistischen Anspruch: Sie macht es sich zur Aufgabe, sowohl die gesamte Kommunikationssituation mit besonderem Fokus auf mentale Kapazitäten des Lesers zu untersuchen, als auch eine linguistische Analyse von Tiefenstrukturen anzustellen und beide in Beziehung zueinander zu setzen. Aus einem solchen Vorgehen resultiert vor allem ein Gewinn für die Untersuchung komplexer leserseitiger Anteilnahme am literarischen Werk. Die TWT stellt somit einen der wenigen linguistischen Ansätze dar, die kunstphilosophisch in hohem Maße anschlussfähig sind. Nachteilig wirkt sich jedoch aus, dass im Rahmen vieler Studien der TWT zwar davon gesprochen wird, Leser hätten im Hinblick auf text worlds immersive Erlebnisse, der Begriff der Immersion dabei allerdings selten bis gar nicht präzise erläutert wird, was zu terminologischer Unklarheit führt, etwa wenn ‚Immersion‘ mit der Bedeutung von ‚Implikation‘/‚Identifikation‘ zusammenfällt. Wünschenswert für eine weitere TWT-basierte Forschung in diesem Bereich ist eine Vertiefung der Frage, inwiefern emotionale Anteilnahme und Immersion zusammenhängen bzw. welche stilistischen Textmerkmale zur Immersion beitragen können. Dabei kann auf Studien wie etwa diejenigen von Gavins, Don Kuiken u. a., Stockwell oder Whiteley aufgebaut werden.

|| 70 Vgl. Whiteley (Anm. 56), S. 25.

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| Paradigma I: Faktual und fiktional erzählte Welten

Leitartikel J. Alexander Bareis

Faktual und fiktional erzählte Welten 1 Einleitung Die Rede von einer Unterscheidung zwischen faktual und fiktional erzählten Welten kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden. Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen lassen sich zwei Extrempositionen formulieren. Auf der einen Seite steht die Annahme, dass eine solche Unterscheidung grundsätzlich infrage gestellt werden muss; Erzählen ist möglicherweise immer eine Mischung aus Fiktion und Fakt, denn ‚reine Fiktion‘ – was immer damit genau gemeint sein soll – ist ein Ding der Unmöglichkeit. Komplett erfundene Welten, ohne die geringste Entsprechung in der Wirklichkeit, sind nur schwer vorstellbar und wohl auch notwendigerweise nicht mehr verstehbar. Auf der anderen Seite der Skala steht die Behauptung, erzählte Welten seien immer und notwendigerweise Fiktion, beispielsweise weil sie erzählt und somit ‚narrativisiert‘ sind – in extremer Weiterführung der Thesen Hayden Whites. Gleichzeitig wäre eine vollständige Darstellung der Wirklichkeit keine narrative Darstellung mehr, sondern notwendigerweise die Wirklichkeit selbst, weil grundsätzlich unendlich. In ihren Extremen gelangen also die Gedankengänge über die Beschaffenheit fiktiver Welten zu Positionen, die zumindest intuitiv betrachtet absurd erscheinen. Eine sinnvolle Bestimmung der Rede von fiktional erzählten Welten (und deren Gegenteil) muss also zwischen jenen beiden Extrempolen einen vernünftigen Mittelweg finden. Es wird im Folgenden deshalb ebenso wenig ein wie auch immer zu bestimmender Panfiktionalismus noch ein radikaler Konstruktivismus postuliert, da beide eine Unterscheidung in fiktional und nichtfiktional erzählte Welten grundsätzlich unmöglich machen.

2 Terminologie: Fiktivität vs. Fiktionalität Zunächst einmal besteht die dringende Notwendigkeit, terminologische Unklarheiten zu beseitigen. Es stellt sich die Frage, was genau mit den Adjektiven ‚faktual‘ und ‚fiktional‘ beziehungsweise ‚fiktiv‘ und den Substantiven ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ gemeint ist. Denn bereits hier stellt sich schnell Verwirrung ein: Allein die veränderte Wortklasse, vom Adjektiv zum Substantiv, verschiebt die Bedeuhttps://doi.org/10.1515/9783110626117-005

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tung und das Verständnis der Termini ausreichend, um für lang anhaltende Begriffsverwirrung zu sorgen. Mit dem Adjektiv ‚fiktiv‘ ist im Folgenden stets die Unwirklichkeit, die Nicht-Existenz des Bezeichneten ausgedrückt, also der ontologische Status des Bezeichneten. Es sei damit kein referenztheoretischer oder semantischer Spezialfall beschrieben, sondern allein der Umstand, dass das als fiktiv Bezeichnete in der Wirklichkeit nicht existiert bzw. nicht stattgefunden hat.1 Sherlock Holmes ist eine fiktive (also erfundene, nicht existente) Figur, und die meisten der in den Sherlock-Holmes-Geschichten beschriebenen Kriminalfälle sind es, meines Wissens, ebenfalls. Das Adjektiv ‚fiktional‘ hingegen soll im Weiteren nicht als ontologische Festlegung des so Bezeichneten gelten, sondern kategorial darauf verweisen, dass das Bezeichnete auf einer Fiktion beruht. Dies schließt aber nicht grundsätzlich aus, dass es sich hierbei auch um NichtFiktives handeln kann. Denn schließlich erzählen Romane nicht ausschließlich und notwendigerweise von fiktiven Gegenständen und von Ereignissen, die nicht stattgefunden haben – eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Auch erfundene Figuren in einem Roman leben beispielsweise in Berlin, Hamburg oder Danzig und durchleben historische Ereignisse wie den zweiten Weltkrieg oder den Fall der Mauer. Hier lässt sich einwenden, dass dargestellte Figuren, Orte und Ereignisse, die es auch in der Wirklichkeit gibt oder gegeben hat und die Teil einer Fiktion sind, ebenfalls fiktiv seien. Das ist zwar dahingehend richtig, dass in Romanen keine absolute Wirklichkeitstreue bei der Darstellung

|| 1 Diesbezüglich scheint mittlerweile in der deutschsprachigen Forschungsliteratur zum Thema einigermaßen Einigkeit zu herrschen. Zur begrifflichen Unterscheidung vgl. ausführlich Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 19, der auf die Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität unter anderem bei Gottfried Gabriel und Lutz Rühling hinweist. Vgl. auch meine eigenen Beiträge zum Thema, in denen ich die terminologische Unterscheidung ebenfalls übernehme, vor allem „Mimesis der Stimme. Fiktionstheoretische Aspekte einer narratologischen Kategorie“. In: Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel (Hgg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/New York 2006, S. 101–122, hier S. 110, und Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe. Göteborg 2008a, S. 19, sowie „The Role of Fictionality in Narrative Theory“. In: Lars-Åke Skalin (Hg.): Narrativity, Fictionality, and Literariness. The Narrative Turn and the Study of Literary Fiction. Örebro 2008b, S. 155–175, hier S. 156. Für eine teilweise gleichlautende begriffliche Explikation vgl. zuletzt meinen Beitrag „Randbereiche und Grenzüberschreitungen. Zu einer Theorie der Fiktion im Vergleich der Künste“. In: Anne Enderwitz/Irina O. Rajewsky (Hgg.): Fiktion im Vergleich der Künste und Medien. Berlin/Boston 2016, S. 45–62, vor allem S. 46; siehe auch im selben Band die ausführliche und fundierte terminologische Diskussion seitens der Herausgeberinnen in der Einleitung, S. 1–17, vor allem S. 2–4.

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historischer Figuren, Ereignisse und Orte eingefordert werden kann. Gleichzeitig kann sie aber auch nicht ausgeschlossen werden: Es besteht kein ‚fiktiver Imperativ‘ für Romanautoren, der diese dazu verpflichten würde, notwendigerweise bei der Schilderung eines historischen Ereignisses oder einer historischen Figur einen Mindestanteil zu erfinden. Das Dublin in James Joyce’ Ulysses (1922) kann sehr wohl eine exakte, historisch richtige Schilderung der Stadt enthalten. Die Darstellung ist notwendigerweise fiktional (also Teil einer Fiktion), aber eben nicht notwendigerweise auch fiktiv (also erfunden). Kurzum: Die Fiktivität der Fiktion ist optional. Das Dublin bei Joyce oder das Danzig bei Günter Grass ist fiktional; darüber hinaus könnte es, muss aber nicht fiktiv sein – die Darstellungen können alle Ansprüche zufriedenstellen, die man auch an eine nichtfiktionale Darstellung stellen kann, müssen dies aber nicht. Das gleiche gilt ebenso für historische Figuren: Carl Friedrich Gauß in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005) könnte, muss aber nicht historisch richtig dargestellt sein.2 Es ist deshalb auch problematisch, einen Roman – gerade auch einen als ‚historisch‘ gekennzeichneten – bis in das kleinste Detail auf seine Wirklichkeitstreue zu untersuchen. Solange es sich um einen Roman handelt, hat der Autor die Freiheit und der Leser die Verantwortung, das Dargestellte unter der Option der Fiktivität zu behandeln. Damit ist aber nicht gesagt, dass es grundsätzlich uninteressant ist, historische Romane unter dem Gesichtspunkt der Wirklichkeitstreue zu interpretieren. Erstens ist Fiktion grundsätzlich eine Darstellungsform, die sehr wohl epistemischen Wert besitzen kann, und die vorhandene bzw. mangelnde Wirklichkeitstreue kann sowohl ästhetisch als auch interpretatorisch von Bedeutung sein.3 Grundsätzlich festzuhalten ist deshalb die Einsicht, dass das Verhältnis von Fiktionalität und Fiktivität ein optionales ist. Es ist deshalb auch hochproblematisch und meines Erachtens letztendlich irreführend, fiktional und faktual als Gegensatz zu begreifen. In der im Folgenden verwendeten Terminologie ist das Gegenteil von ‚fiktional‘ gerade nicht ‚faktual‘, sondern ‚nicht-fiktional‘. Diesem terminologischen Verständnis steht zwar entgegen, dass Fiktivität zu|| 2 Auch wenn der Roman in mancher Hinsicht historisch genau ist, hat sich Kehlmann gerade in Bezug auf die Hauptfiguren (aber nicht nur da) eine Reihe von Freiheiten genommen. Offensichtlich ist dies vor allem im Hinblick auf eine Reihe von Darstellungen intimer Details, die zwar bisweilen durchaus plausibel sein könnten, aber grundsätzlich nur sehr schwer beweisbar sind. Zum Verhältnis von historischer Genauigkeit und Erfindung siehe die einschlägigen Dokumentationen in Gunther Nickel (Hg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt – Materialien, Dokumente, Interpretationen. Hamburg 2008. 3 Zum Thema ,Wissen und Literatur‘ siehe den Sammelband von Tilmann Köppe (Hg.): Wissen und Literatur. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin/Boston 2011.

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mindest wissenschaftshistorisch betrachtet stets als differentia specifica der Fiktion betrachtet wurde. Noch in der Monografie von Frank Zipfel zum Thema stellt Fiktivität deshalb eine notwendige Bedingung von Fiktionalität dar.4 Anhand der notwendigen Fiktivität literarischer Fiktion lassen sich, so könnte man grob vereinfacht den Gedankengang rekonstruieren, Rückschlüsse auf die Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion ziehen, woraus wiederum eine umfassende Theorie der Fiktion gewonnen werden könnte. Dies führt allerdings meines Erachtens zu einer Definition von Fiktion ex negativo – anstatt die Fiktion selbst zu definieren wird Fiktion zu dem, was übrig bleibt, wenn man alles andere ausschließt. Gleichzeitig scheint es nicht plausibel, beispielsweise von Autoren fiktionaler Texte zu erwarten, dass sie stets ein Mindestmaß an Fiktivität in ihre Werke gleichsam ‚hineindichten‘ – weshalb sollte ein Roman nicht ausschließlich von Dingen und Ereignissen handeln können, die nicht erfunden sind? Eine mögliche Antwort wäre ‚weil es dann keine Fiktion mehr ist‘. Aber damit argumentiert man zirkulär. Möglicherweise gibt es in der Geschichte der Literatur eine Vielzahl solcher Romane, ohne dass dies uns als Lesern bewusst ist. Wer kann schon komplett ausschließen, dass es im großen Korpus aller veröffentlichter Romane je einen Roman gegeben hätte, der komplett von NichtErfundenem handelt? Offensichtlich sind Beispiele wie die sogenannte nonfiction novel im Stile des New Journalism à la Truman Capotes In Cold Blood (1965) explizite Versuche, gerade dies zu verwirklichen. Ob dies Capote mit diesem Werk tatsächlich gelungen ist, sei dahingestellt. Auch eine Überprüfung oder gar der Nachweis komplett nicht-fiktiver Romane ist sicherlich aufwendig, theoretisch betrachtet zumindest als Möglichkeit allerdings nicht von der Hand zu weisen. Von vornherein die Nicht-Fiktivität eines Romans notwendigerweise auszuschließen, erscheint als eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der Möglichkeiten, die Autoren fiktionaler Werke zur Verfügung stehen.5

|| 4 Vgl. Zipfel (Anm. 1) S. 102, zur Voraussetzung der „Fiktivität der Ereignisträger“, und S. 167, wo Fiktivität als „nicht hintergehbares Faktum für jegliche Theorie der literarischen Fiktion“ bezeichnet wird. Vgl. kritisch hierzu Bareis (2008a, Anm. 1), z. B. S. 56–59, sowie Bareis (2016, Anm. 1), S. 48. 5 Vgl. auch Lutz Danneberg: „Weder Tränen noch Logik: Über die Zugänglichkeit fiktionaler Welten“. In: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hgg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Einladung zu disziplinexternen Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 35–83, hier S. 49 f. Danneberg zieht als Gedankenexperiment einen „800 Seiten dicken Roman mit zahllosen Einzelheiten“ mit Entsprechungen in der „von ihnen ausgezeichneten realen Welt“ heran und folgert: „[D]och keine Übereinstimmung der Darstellungsgesamtheit mit der als real ausgezeichneten Welt ist für die Klassifikation als nicht-fiktional hinreichend. A fortiori kann das auch nicht für irgendeinen sinnvollen Bestandteil einer als fiktional klassifizierten Darstel-

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Fiktivität ist demzufolge keine notwendige Bedingung von Fiktionalität. Fiktivität ist aber auch keine hinreichende Bedingung für Fiktionalität. Das von dem schwedischen Bestseller-Autor Jan Guillou beschworene Bild, bereits 3,5 Prozent Fiktivität reichten aus, um eine nicht-fiktionale Darstellung in Gänze ungenießbar, also zur Fiktion zu machen, ist eine Analogie zum Salzgehalt der Weltmeere.6 Folgt man dieser Analogie, geht man davon aus, dass eine nicht-fiktionale Darstellung genau dann zur Fiktion wird, wenn das hinreichende Merkmal der Fiktivität gegeben sei. Diese Analogie und der daraus folgende Umkehrschluss sind allerdings meines Erachtens unhaltbar. 3,5 Prozent Fiktivität machen einen nicht-fiktionalen Text nicht zu einem fiktionalen, sondern allenfalls zu einem fehlerhaften nicht-fiktionalen Text und bei entsprechenden intentionalen Voraussetzungen schlichtweg zur Lüge. Die hier geführte Diskussion zur Theorie fiktiver Welten geht also deshalb von einem optionalen Verhältnis von Fiktivität und fiktionalen Werken aus. Fiktivität ist weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung von Fiktionalität. Dies bedingt, dass im Folgenden gerade solche Fiktionstheorien im Fokus stehen, die nicht von einer Erklärung der Fiktionalität durch Fiktivität ausgehen. Es soll damit vermieden werden, dass ein nur partiell gegebener Sachverhalt als Ausgangspunkt für die Lösung des Gesamtproblems gewählt wird. Gerade eine solche Vorgehensweise scheint ein verbreitetes Phänomen in der theoretischen Beschreibung des Fiktionsproblems zu sein. Versucht man die unterschiedlichen Lösungsansätze auch nur der jüngeren Zeit zu überblicken, lässt sich festhalten, dass die in der Forschung vorgeschlagenen Lösungen oftmals Teilproblemen gewidmet sind, weshalb sie selten miteinander kompatibel sind. Für die hier geführte Diskussion muss allerdings hinzugefügt werden, dass auch hier, nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen, der Problembereich eingeschränkt wird, da im Folgenden allein die Fiktionalität des Romans Gegenstand der Untersuchung sein wird. Intermediale Fragen werden beispielsweise ausgeblendet. Grundsätzlich sollten allerdings Untersuchungen zur Fiktionalität des Romans gerade nicht von einer romanspezifischen Erklärung des Fiktionsproblems ausgehen, sondern von einer allgemeinen Fiktionstheorie, die auch andere Darstellungsformen wie beispielsweise Film, Lyrik und Theater umfasst, um dann im nächsten Schritt die spezifischen Bedingungen der jewei-

|| lungsgesamtheit gelten“. Vgl. hierzu teilweise identisch, aber auch weiterführend Bareis (2016, Anm. 1), S. 50. 6 Vgl. Marianne Barlyng/Poul Behrendt/Rolf Reitan: „Forord“. In: Spring. Tidskrift for moderne dansk litteratur 31/32 (2011), S. 5–6, hier S. 5.

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ligen Darstellungsform ausgehend von dieser allgemeinen Theorie zu untersuchen.7

3 Teilprobleme Die wichtigsten Teilprobleme einer Theorie der Fiktion lassen sich grob auf folgende Weise einteilen: 1. Was ist Fiktion? 2. Wie kann man fiktionale Texte von nicht-fiktionalen Texten unterscheiden? 3. In welchem Verhältnis stehen fiktive (nicht-wirkliche) und wirkliche Elemente erzählender Texte zueinander, und wie kann dieses Verhältnis beschrieben werden? Diese drei Fragen stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Grundsätzlich sollte die Antwort auf Frage 1 auch Antworten auf die Fragen 2 und 3 nach sich ziehen, beziehungsweise auf den dort gefundenen Antworten aufbauen. Die Wissenschaftsgeschichte der Fiktionstheorie, nicht nur in der Literaturwissenschaft, zeigt aber immer wieder, dass gerade die umgekehrte Reihenfolge diejenige ist, die am häufigsten Verwendung gefunden hat. Anhand unterschiedlicher Bestimmungsvorschläge – beispielsweise wie die Bezugnahme auf nicht-wirkliche Elemente in erzählenden Texten erklärt werden kann – ziehen eine Reihe theoretischer Schulen Rückschlüsse darauf, wie die Fragen 1 und 2 zu beantworten seien. Oftmals wird also die Unterscheidung anhand paradigmatischer Kennzeichen zur theoretischen Bestimmung im Allgemeinen hypostasiert. Darüber hinaus wird das Phänomen der Fiktion oftmals nur aus der Perspektive einer einzigen medialen Realisation heraus beleuchtet – auch wenn Fiktion, zumindest intuitiv betrachtet, ein Phänomen darstellt, dass in vielen verschiedenen Medien und Kunstformen vorkommt. So sind es oftmals die fachlichen Einzelinteressen der jeweiligen Wissenschaftler, die den Untersuchungsgegenstand von vornherein einschränken.

|| 7 Eine solch umfassende Fiktionstheorie ist beispielsweise die sogenannte make-believeTheorie Kendall L. Waltons, die Gültigkeit für alle darstellenden Kunstformen beansprucht: Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge 1990. Im Anschluss daran habe ich versucht, die speziellen Bedingungen des literarischen Erzählens zu untersuchen, vgl. Bareis (2008a, Anm. 1) und aus intermedialer Perspektive Bareis (2016, Anm. 1).

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In der Literaturwissenschaft waren gerade solche Modelle naheliegend, die sich mit spezifischen Erzählweisen fiktionaler Erzähltexte auseinandergesetzt haben. In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ist es bekanntlich Käte Hamburger gewesen, die bereits zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts aus der spezifischen Erzählweise literarischer Texte Rückschlüsse auf die grundlegenden Fragen nach dem Phänomen Fiktion zu ziehen versuchte.8 Dorrit Cohn hat ebenfalls anhand von signposts eine distinction of fiction herauszuarbeiten versucht, spezifische Erzählweisen (ähnlich wie Hamburgers ‚episches Präteritum‘) – beispielsweise das ‚durchsichtige Bewusstsein‘, also das Darstellen von Gedanken wie in Fällen innerer Monologe, Gedankenberichte oder der erlebten Rede – als typisch fiktionale Erzählweisen typologisiert hat.9 Gleichwohl scheint sich die Forschung mittlerweile einig zu sein, dass aus diesen diversen signposts eben gerade nur Kennzeichen der Fiktion gewonnen werden können, diese allerdings keine notwendigen und hinreichenden Merkmale der Fiktion darstellen, aus denen problemlos eine umfassende, ‚wasserdichte‘ Theorie der Fiktion gewonnen werden könne.10 Ein besonders einflussreicher Zweig, der sich mit den Fragen 2 und 3 eingehend auseinandergesetzt hat, baut auf das Verständnis von fiktionalen Texten als Welten auf. Mit Hilfe des Weltenbegriffs, oftmals gepaart mit unterschiedlichen Formen und Verstehensweisen von Modalität und Möglichkeit, haben eine Reihe einflussreicher Forscher die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Fiktionstheorie geprägt. Hier sind zunächst einmal zwei Arten von Theorien zu unterscheiden – solche, die den Weltenbegriff modallogisch und strikt ontologisch verstehen, und solche, die den Weltenbegriff eher metaphorisch verwenden. Literarische Fiktion ausschließlich mithilfe einer strikten Modallogik umfassend, also mit hinreichenden und notwendigen Bedingungen zu bestimmen, ist ein Unterfangen, das mittlerweile als gescheitert angesehen wer-

|| 8 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung [1957]. Überarb. Aufl., Stuttgart 1968. 9 Vgl. Dorrit Cohn: „Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective“. In: Poetics Today 11 (1990), S. 775–804; Dies.: The Distinction of Fiction. Baltimore/London 1999. 10 Zu Merkmalen (im Unterschied zu Kennzeichen) der Fiktion siehe Klaus W. Hempfer: „Zu einigen Problemen der Fiktionstheorie“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), S. 109–137. Vgl. auch Monika Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations“. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg 2001, S. 85–103, die gerade der erlebten Rede den Status als „waterproof evidence of fictionality“ (S. 95) abspricht. Für einen aktuellen Überblick über die diversen Signale siehe Frank Zipfel: „Fiktionssignale“. In Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 97–124.

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den muss.11 Damit geht allerdings nicht einher, dass solche Diskussionen für literaturwissenschaftliche Theoriemodelle der Fiktion uninteressant sind. Zwar hat sich die ursprünglich philosophische Diskussion, welchen Wahrheitswert Aussagen über fiktive Objekte besitzen können, in den unterschiedlichen Teildisziplinen, die sich mit dem Phänomen der Fiktion auseinandersetzen, gerade auch in der Literaturwissenschaft, nur als bedingt fruchtbar erwiesen. Diese Diskussion bietet aber in einigen Aspekten wichtige Hinweise darauf, wie sich fiktionale und nicht-fiktionale Werke typischerweise unterscheiden.

4 Ontologie und die Unvollständigkeit fiktiver Welten Die komplexe Diskussion über die Ontologie fiktiver Gegenstände basiert auf den paradoxalen Rückschlüssen, die sprachlogisch dann entstehen, wenn fiktive Eigennamen in der Rede über Fiktion verwendet werden, zum Beispiel (af steht hier für einen beliebigen fiktiven Namen und F für einen beliebigen Prädikatausdruck): 1. Sherlock Holmes (af) ist ein Detektiv (F). 2. Es existiert etwas, das af ist. 3. af ist ein fiktiver Gegenstand. 4. Fiktive Gegenstände existieren nicht. 5. Aus 3 und 4 folgt af existiert nicht. 6. Aus 2 und 5 folgt af existiert und existiert nicht.12 Während Sätze innerhalb der Fiktion sprachphilosophisch mit Hilfe beispielsweise der Sprechakttheorie im Sinne John R. Searles erklärt werden können, bedarf eine Lösung des Paradoxons oben anderer Erklärungsansätze.13 Einen

|| 11 Vgl. Jan C. Werner: „Fiktion, Wahrheit, Referenz“. In Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 125–158, hier S. 127. Werner konstatiert, „dass sich der Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen literarischen Werken nicht (allein) im Rekurs auf semantische Eigenschaften der Werke ausbuchstabieren lässt [...]“. 12 Dieses Beispiel entnehme ich aus Maria Elisabeth Reicher: „Ontologie fiktiver Gegenstände“. In: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 159–189, hier S. 159. 13 Die unterschiedlichen Lösungsvorschläge werden ausführlich von Reicher (Anm. 12) diskutiert.

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solchen Versuch stellt das Verständnis dar, fiktive Gegenstände als Teile nichtaktualer Welten zu betrachten. Hierdurch lässt sich das Paradoxon auflösen: der Satz 2) ‚Es existiert etwas, das af ist‘ wird ersetzt durch 2*) ‚Es existiert etwas in einer nichtaktualen Welt, das af ist‘. Doch dies ist nicht der einzige Grund, weshalb eine Auseinandersetzung mit Modellen möglicher Welten für fiktionstheoretisch interessierte Literaturwissenschaftler von Bedeutung gewesen ist. Vielmehr sollen mit der Annahme alternativer Welten eine Reihe weiterer Teilprobleme gelöst werden. Der für Literaturwissenschaftler vielleicht interessanteste Aspekt der philosophischen Diskussion über fiktive Welten widmet sich den epistemologischen Bedingungen von Aussagen über Fiktion. Klassische Fragen, die in der analytischen Philosophie gestellt wurden, sind folgende Beispiele: Wie viele Kinder hat Lady Macbeth? Hat Sherlock Holmes ein großes Muttermal auf seinem Rücken? Beide Fragen, intuitiv betrachtet, scheinen zunächst irrelevant und unbeantwortbar – da in den jeweiligen Werken weder die Anzahl der Kinder noch ein Muttermal jemals erwähnt werden. Sicherlich ist der naheliegende Schluss richtig, dass eine endgültige Beurteilung mit ‚sicheren Beweisen‘ unmöglich ist – wenn auch nicht gänzlich zufriedenstellend. Interessant wird es, wenn man die Bedingungen untersucht, die eine Beantwortung unmöglich machen. Zufolge der Vertreter der possible worlds theory ist es gerade nicht eine epistemische Begrenzung, die eine Beantwortung derartiger Fragen unmöglich macht, sondern eine ontologische. Während epistemische Begrenzungen auf unterschiedliche Arten umgangen werden können, beispielswiese durch neues Wissen aus anderen Zusammenhängen, ist die ontologische Begrenzung unüberbrückbar. Sherlock Holmes kann man aus ontologischen Gründen nicht fragen, ob er ein Muttermal auf dem Rücken hat, während eine nicht-fiktionale Darstellung nur durch epistemische Begrenzungen unbefragbar ist. Ob eine historische Figur, zum Beispiel Nero, ein Muttermal auf dem Rücken hatte, lässt sich möglicherweise eines Tages durch neue Funde und Entdeckungen beantworten – auch wenn die Aussichten hierauf nicht allzu groß sind. Für Sherlock Holmes ist eine Antwort aus ontologischen Gründen außer Sichtweite. Grundsätzlich stellt sich bei dieser Art von Überlegungen eine zusätzliche Frage, die für das weitere Vorgehen wichtig ist: Sind fiktive Welten im Gegensatz zu sowohl möglichen Welten und insbesondere zur aktualen Welt unvollständig oder nicht? Ist die Welt der Sherlock-Holmes-Geschichten unvollständig in dem Sinne, dass es keine Antwort darauf geben kann, ob er ein Muttermal hat? Es scheint in der Forschung mittlerweile Einigkeit darüber zu bestehen, dass fiktive Welten unvollständig sein können und wohl auch sein müssen, während die aktuale Welt, aber auch eine nicht-aktuale und stattdessen mögli-

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che Welt, aus ontologischen Gründen vollständig sein muss. Wenn fiktive Welten im Gegensatz zur aktualen Welt notwendigerweise unvollständig sind, dann liegt die Ursache der Unbeantwortbarkeit der oben gestellten sinnlosen Fragen in der ontologischen Beschaffenheit fiktiver Welten.14 Gerade deshalb haben unter anderem literaturwissenschaftliche Vertreter einer possible worlds theory wie Lubomír Doležel und andere diesen Unterschied als differentia specifica zwischen fiktiven Welten und der wirklichen Welt bezeichnet.15 Die Leerstellen einer historiografischen Darstellung sind demzufolge epistemisch bedingt, während die Leerstellen einer fiktionalen Darstellung ontologisch bedingt sind: Since gaps in fictional worlds are created in the act of world making, they are ontic in nature. They are irrecoverable lacunae that cannot be filled by legitimate inference. Statements about fictional gaps are undecidable [...]. Historical worlds are incomplete in a different manner, and their gaps are of a different kind: they are epistemic, determined by the limitations of human knowledge.16

Wie viele Kinder Lady Macbeth hat, werden wir niemals wissen können, während die Leerstellen einer historiografischen Darstellung durch die Entdeckung neuer Dokumente zumindest potenziell auffüllbar sind. Doch ist diese Unterscheidung in epistemische und ontologische Bedingungen zur Beantwortung von Fragen an narrative Darstellungen stets und immer gültig? Diesbezüglich lassen sich eine Reihe von Überlegungen anstellen – insbesondere, unter welchen Voraussetzungen legitime Aussagen über fiktive Welten getroffen werden können, und ob diese Voraussetzungen grundsätzlich andersartig sind als diejenigen, die für nicht-fiktionale Darstellungen gelten. Zunächst stellt sich die Frage, ob die kategorische Aussage, „[s]tatements about fictional gaps are undecidable“ unter allen Bedingungen richtig ist. Zwar wird sich keine endgültige Antwort auf die Frage nach der Anzahl der Kinder von

|| 14 Vgl. hierzu Tilmann Köppe: „Fiktive Tatsachen“. In Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 190–208, der die Forschungslage so zusammenfasst, dass „fiktive Welten im Gegensatz zu möglichen Welten unvollständig oder inkonsistent sein können“ (S. 199). 15 Bisweilen ist der Sprachgebrauch bei Doležel gleitend zwischen ‚fictional‘ und ‚possible‘ worlds. Um nicht in ontologische Schwierigkeiten zu gelangen, sollte man wahrscheinlich besser stets von fiktiven und nicht von möglichen Welten sprechen in Bezug auf Literatur. Vgl. hierzu Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, vor allem S. 96–107, die sehr deutlich die diversen Probleme möglicher Welten in Bezug auf fiktionale Literatur aufzeigt. 16 Lubomír Doležel: Possible Worlds of Fiction and History. The Postmodern Stage. Baltimore 2010, S. 38.

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Lady Macbeth geben lassen, aber nicht alle fiktionalen Leerstellen scheinen den gleichen epistemischen Bestimmungen zu unterliegen. Es lassen sich sehr wohl mehr oder weniger gut begründete Aussagen über gewisse fiktionale Leerstellen machen. Teilweise hängen diese Begründungen mit Wissen oder Vorstellungen über die reale Welt zusammen. Kendall L. Walton hat in Anschluss an David Lewis das sogenannte Realitätsprinzip (reality principle) und das Prinzip der gemeinsamen Überzeugung (mutual belief principle) benannt, die beide darauf basieren, dass man Leerstellen fiktiver Welten nach dem Prinzip der Realität, oder dem, was allgemein gerade dafür gehalten wird, sozusagen auffüllt. Lady Macbeth hat demzufolge ein Herz, zwei Nieren und eine bestimmte, wenn auch nicht genau zu bestimmende Anzahl Kinder. Gleichzeitig gelten für Lady Macbeth jedoch nicht die Prinzipien der Realität der heutigen Welt, sondern die jeweils von Autor und Rezipienten geteilte Wirklichkeitsauffassung. Wenn ein starker Raucher in einer Geschichte von Edgar Allan Poe sehr viel hustet und krank wird, dann wird er das nicht, weil er an Lungenkrebs erkrankt ist, denn die Diagnose Lungenkrebs war zur Entstehungszeit der Erzählung nicht bekannt. Durch das mutual belief principle, also (ungefähr) dem Prinzip der allgemeinen Überzeugung, werden derartige anachronistische Leseweisen vermieden. Basierend auf den epistemischen Voraussetzungen der Wirklichkeit, oder zumindest dem, was zu einer gewissen Zeit von einer gewissen Gruppe als Wirklichkeit betrachtet wird, kann man die Leerstellen fiktiver Welten füllen. Die Frage, die jetzt noch zu beantworten ist, betrifft die Unterscheidung in fiktionale und nicht-fiktionale Werke: Auch wenn Darstellungen nach teilweise gleichen oder zumindest ähnlichen epistemischen Prinzipien mit Sinn aufgeladen werden: Gibt es dennoch Unterschiede zwischen diesen Welten, und wie lassen sich diese begründen? Der ‚Knackpunkt‘ ist einmal mehr die Annahme, dass fiktive Welten im Gegensatz zur realen Welt unvollständig sind. In gewisser Weise führt diese Einsicht auch dazu, dass manche ‚fiktionalen Wahrheiten‘, wie Propositionen dieser Art in der analytischen Philosophie mittlerweile gemeinhin genannt werden, besser nicht generiert würden, weil sie die fiktive Welt zu sehr auffüllen würden. Anders Pettersson hat diesbezüglich argumentiert, dass die Existenz des Landes Brasilien keine fiktionale Wahrheit der Welt von Franz Kafkas Das Urteil (1913) sein kann, auch wenn es gemäß des Realitätsprinzips oder des Prinzips der allgemeinen Überzeugung in der wirklichen wie in der fiktiven Welt wahr ist, dass es ein Land mit dem Namen Brasilien gibt: I view the knowledge that there is a country called Brazil (and the existence of Brazil was known to Kafka and his time) as forming part of the reader’s cultural background knowledge, but that specific piece of knowledge will not have to be retrieved even implicitly

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during the reader’s transactions with “The Judgement”, because the existence of Brazil has no perceivable relevance for the understanding or experiencing of Kafka’s story.17

Für Pettersson fehlt hier eine sinnvolle und pragmatische Begrenzung der Gültigkeit jener Prinzipien.18 Alternativ könnte man möglichweise auch argumentieren, dass fiktive Welten notwendigerweise unvollständig bleiben müssen. In der Tat ist es auf den ersten Blick kaum ersichtlich, weshalb die Existenz des Landes Brasilien Bedeutung für die Erzählung Kafkas haben sollte. Doch ist dieser erste Blick ausreichend, um endgültig ausschließen zu können, was genau für das Verständnis der Erzählung relevant sein kann und was nicht? Lutz Danneberg schildert, wie ein jahrelang nicht beachtetes Detail in Miguel de Cervantes’ Don Quijote (1605/1615) durch einen philologischen Fund plötzlich an Bedeutung gewinnt: Noch als Hidalgo läßt der spätere Don Quijote den Eßtisch sonntags regelmäßig so stellen, daß er just unter den Augen seiner Nachbarn speist. Das, was er ißt, hat einen metaphorischen Namen, der im Spanischen nicht mehr ohne weiteres verständlich ist – „duelos y quebrantos“, Leiden und (Herz)Zerbrechen. Die Forschung hatte zumeist Wichtigeres zu tun, um den Don Quijotte als ein epochales Werk zuzurüsten, als solchen Fragen nachzugehen – und mehr denn je sieht man in solchen Verständnisfragen nur philologische nugae. Ich mache die Geschichte kurz. Die philologische Forschung konnte zeigen, daß Antón de Montoro, ein in der Zeit populärer spanischer Dichter geringeren Ranges, aber ein Neuchrist jüdischer Herkunft, in einem Gedicht eine Auflösung bietet: Der Ausdruck gibt das Gefühl wieder, das einen vom Glauben seiner Vorfahren innerlich noch nicht gelösten Juden erfaßt, wenn er bestimmte, nicht koschere Nahrung zu sich nimmt; die er gleichwohl ißt, um seine christlichen Nachbarn von seinem neuen Glauben zu überzeugen.19

Wie Danneberg anhand dieses Beispiels zeigt, ist es ausgesprochen schwierig, von vornherein zu bestimmen, welche Informationen für die Interpretation eines literarischen Werkes von Bedeutung sein können und welche nicht. Die vermeintlich sinnlose Frage, ob Don Quijote ein Marrano, also ein konvertierter iberischer Neuchrist ursprünglich jüdischen Glaubens ist, gewinnt durch die || 17 Anders Pettersson: „The Idea of Fictional Worlds“. In: Gregory Currie/Petr Kot’átko/Martin Pokorny (Hgg.): Mimesis: Metaphysics, Cognition, Pragmatics. London 2012, S. 194–219, hier S. 208. 18 Pettersson ist mit seiner Kritik an den beiden am häufigsten diskutierten Prinzipien, dem Realitätsprinzip und dem Prinzip der allgemeinen Überzeugung, nicht allein. Siehe etwa Kai Mikkonen: „‘There is no such thing as pure fiction’: Impossible Worlds and the Principle of Minimal Departure Reconsidered“. In: Journal of Literary Semantics 40 (2011), S. 111–131; Richard Woodward: „Truth in Fiction“. In: Philosophy Compass 6 (2011), S. 158–167. 19 Danneberg (Anm. 5), S. 59 f.

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Entdeckung der Bedeutung des Namens der Mahlzeit im Rahmen philologischer Forschung eine völlig neue und nun in höchstem Maße interpretationsrelevante Sinnhaftigkeit.20 Für Danneberg liegt hierin ein gewichtiger Unterschied zwischen fiktiven und nicht-fiktiven Welten: Während erstere allein univial zugänglich seien, und zwar über die Interpretation, sind jene Welten, die als nicht-fiktiv aufgefasst werden, multivial zugänglich; es stehen also andere Weisen der Zugänglichkeit zur Verfügung – auch wenn bisweilen bei der Interpretation fiktionaler Texte auf Wissen über die nicht-fiktive Welt zurückgegriffen wird. Erst über die Beurteilung der Interpretationsrelevanz lässt sich bewerten, ob eine Frage an eine fiktive Welt sinnvoll oder sinnlos ist. Dies bedeutet letztlich auch, dass der von Pettersson vorgetragene Einwand, die von der analytischen Philosophie vorgeschlagenen Prinzipien des Generierens fiktionaler Wahrheiten seien zu weit gefasst, nicht unbedingt gelten kann: Erstens stellen die Prinzipien keinen Zwang dar, demzufolge alle denkbaren fiktionalen Wahrheiten tatsächlich auch generiert werden müssen. In dieser Hinsicht scheint Pettersson die potenzielle Gültigkeit der Prinzipien in den Diskussionen bei Lewis und Walton, aber auch Gregory Currie und Peter Lamarque, zu überschätzen.21 Keiner der vier Forscher betrachtet die formulierten Prinzipien als Muss-Regeln, sondern als potenzielle Richtlinien für epistemologisch informierte Prozesse im Umgang mit fiktionalen Werken. Dannebergs Artikel adressiert zudem explizit die Frage, welches Kriterium epistemologische Gültigkeit beanspruchen kann. Nur solche fiktionalen Wahrheiten könnten für eine fiktive Welt Anspruch auf Gültigkeit erheben, die im Rahmen des univialen Zugangs als interpretationsrelevant und sinnvoll erachtet werden. Wo diese Grenze genau zu verorten sei, bleibe eine Detailfrage, die jeweils im Rahmen der Interpretation neu entschieden und gegebenenfalls auch wieder revidiert werden müsse. Dies ist die Konsequenz aus Dannebergs Sichtweise, der in seinem Artikel gerade auch den Spezialfall des unzuverlässigen Erzählens in seine Überlegungen mit einbezieht, also den problematischen Umstand, dass sich fiktionale Wahrheiten, die zunächst – und auch völlig zurecht – als solche erkannt wurden, im Laufe der Lektüre (und damit auch der Interpretation) als ungültig herausstellen. Darüber hinaus, darauf geht Danneberg jedoch nicht ein, werden eine Rei|| 20 Für eine hochkomplexe Diskussion der Relevanzkriterien, durch welche interpretatorisch relevante Fragen an fiktionale Welten eingegrenzt werden können, vgl. Danneberg (Anm. 5), S. 59 f. 21 Pettersson bezieht sich explizit auf David Lewis: „Truth in Fiction.“ In: American Philosophical Quarterly 15 (1978), S. 37–46; Kendall Walton (Anm. 7); Peter Lamarque: The Philosophy of Literature. Blackwell 2008; Gregory Currie: Narratives and Narrators. A Philosophy of Stories. Oxford 2010.

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he weiterer Prinzipien für das Generieren fiktionaler Wahrheiten potenziell wichtig – beispielsweise das Kohärenzprinzip und das Prinzip der Genreund/oder Medienkonvention.22 Bisweilen stehen die diversen Prinzipien zueinander im Widerspruch, oder begrenzen sich gegenseitig: Was gemäß des Realitätsprinzips oder des Prinzips der allgemeinen Überzeugung unlogisch erscheint, kann anhand des Medien- bzw. Genrekonventionsprinzips als logisch erscheinen. Dass Othello in Versen spricht, macht ihn nicht zum Dichter, sondern ist eine medien- und genregerechte Konvention des Dramas. Das, was im Weltendiskurs bisweilen als Unvollständigkeit fiktiver Welten bezeichnet wird, scheint also zumindest teilweise damit übereinzustimmen, was man als die grundsätzliche Unterdeterminiertheit textlicher Repräsentation bezeichnen könnte: Ein gewisses Maß an Implikation ist immer nötig, um einen Text tatsächlich verstehen oder interpretieren zu können. Diesen Standpunkt würde wahrscheinlich auch Pettersson zustimmen, der grundsätzlich jegliche Formen von Implikation oder supplementation für das Verstehen und Interpretieren von fiktionalen Werken ablehnt. Für ihn gibt es allein „ordinary conventions of reading“, und „no fictional facts that go beyond the verbal meaning can be objectively established“23. Wie genau diese Konventionen zu verstehen sind, erläutert er allerdings nicht. Für Pettersson gelten diese Konventionen für fiktionale wie nicht-fiktionale Texte, und genau darin zeigt sich meines Erachtens, dass sein Verständnis fiktiver Welten im ‚dünnen‘ Sinne nicht haltbar ist.24 Ge-

|| 22 Diese und einige weitere potenzielle Prinzipien habe ich in einigen Artikeln diskutiert, siehe J. Alexander Bareis: „Was ist wahr in der Fiktion? Zum Prinzip der Genrekonvention und die Unzuverlässigkeit des Erzählers in Patrick Süskinds Die Geschichte von Herrn Sommer“. In: Scientia Poetica – Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften/Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences 13 (2009), S. 230–254; Ders.: „Science Fiction vs. Fiction Science. On the ‘Principle of Genre Convention’ as an Exploration Rule for Fictional Worlds“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning/Birgit Neumann (Hgg.): The Aesthetics and Politics of Cultural Worldmaking. Trier 2010, S. 119–130; Ders.: „Fictional Truth, Principles of Generation, and Interpretation. Or why it is fictionally true that Tony Soprano was shot dead“. In: J. Alexander Bareis/Lene Nordrum (Hgg.): How to Make Believe. The Fictional Truths of the Representational Arts. Berlin/Boston 2015, S. 165–183. Das Kohärenzprinzip basiert auf dem Vorschlag von Mikael Pettersson: „What’s the Story? On the Issue of Truth in Fiction.“ In: LarsÅke Skalin (Hg.): Fact and Fiction in Narrative. An Interdisciplinary Approach. Örebro 2005, S. 227–250. 23 Pettersson (Anm. 17), S. 213. 24 Vgl. Pettersson (Anm. 17), S. 201: „I accept the (metaphorical) idea of fictional worlds in a ‘thin’ sense, in which the content of the world is identical with the representational content, but I do not accept the idea of fictional worlds in the ‘thick’ sense adopted in analytical literary aesthetics: the sense in which fictional worlds also contain supplemented material.“

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rade beim Vergleich der Prinzipien, die für als fiktional gekennzeichnete Texte gelten, und solcher, die als nicht-fiktional betrachtet werden, wird deutlich, dass hier gewichtige Unterschiede bestehen. Zwar wird auch bei als fiktional verstandenen Texten, wie gezeigt, auf Weltwissen zurückgegriffen, denn auch die Kenntnis von Medien- oder Genrekonventionen ist letztlich aus der Perspektive des Rezipienten ein Weltwissen. Aber Weltwissen funktioniert nicht stets auf die gleiche Weise, wenn es darum geht, einen fiktionalen oder nichtfiktionalen Text zu verstehen. Sowohl die Univialität des Zugangs als auch die Unterscheidung zwischen epistemologischen und ontologischen Begrenzungen sind zufolge der oben geführten Diskussion mögliche Unterscheidungsweisen.

5 Beispiele Um die Unterschiede im Umgang mit fiktionalen und nicht-fiktionalen Werken zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden auf einige Beispiele eingehen. Das Wissen über das spanische Gericht duelos y quebrantos hat sich, wie gezeigt, als relevant für die Interpretation des Don Quijote erwiesen. Wäre dies bei einer nicht-fiktionalen Darstellung ebenso gewesen? Welche Relevanz hat der Fund von neuen Dokumenten für verschiedene Arten von Darstellungen? Welche Relevanz hätten beispielsweise neue Dokumente zur Entstehungsgeschichte von Shakespeares Tragödien, aus denen hervorginge, dass Shakespeare eine Version angefertigt hatte, in der Lady Macbeth genau drei Kinder hat? Da diese Information nicht Eingang in die endgültige Fassung der Tragödie gefunden hat, kann diese Information nicht ohne Weiteres Gültigkeit für das Werk in seiner autorisierten Fassung haben. Grundsätzlich eröffnen derartige Funde allerdings eine Reihe von editionswissenschaftlichen Fragestellungen. Ein Beispiel für die Wichtigkeit der Frage, was als eigenständiges Werk und somit als Welt anerkannt werden kann, sind die unterschiedlichen Versionen der Kurzgeschichten Raymond Carvers, insbesondere die des Erzählbandes What We Talk About When We Talk About Love (1981) und den entschieden längeren Versionen in der postum erschienenen Sammlung Beginners (2009), die deutlich macht, wie sehr Carvers Lektor Gordon Lish Hand angelegt hatte. Auch wenn die jeweiligen Versionen sicherlich als eigenständige Werke betrachtet werden sollten, kann man beim Lesen der kürzeren Versionen kaum das Wissen ausblenden, das man zuvor durch die Lektüre der langen Versionen erworben hat. Die dabei durchgeführte supplementation ist allerdings in der Tat fragwürdig, da sie sich eben nicht allein auf

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den einzelnen Text stützt, sondern auch auf einen als eigenständiges Werk zu betrachtenden anderen Text.25 Diese editionsgeschichtlichen Komplikationen müssen jeweils im Einzelfall genau geprüft werden. Dies gilt auch für die Editionsgeschichte von Macbeth. Es kann selbstverständlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass neue Funde in der Editionsgeschichte eines Werkes eventuell Auswirkungen auf die Interpretation haben. Ob so allerdings wahrheitsfähige Aussagen über das Werk selbst gemacht werden können, ist damit nicht geklärt. Das Verhältnis von Interpretation und dem, was als fiktional wahr in einem Werk betrachtet werden kann, ist kompliziert.26 Für den Fall archivarischer Funde über die wirkliche Ehefrau Macbeths gilt dies ebenso – neue Kenntnisse über sie hätten zwar tatsächlichen Einfluss auf die Geschichtsschreibung, nicht aber auf Shakespeares Tragödie. Shakespeares Kenntnisstand ist und bleibt notwendigerweise der historische, der wohl auf Holinsheds Chronicles of England, Scotland and Ireland (1577/1587) beruht.27 Dieses Prinzip hat auch dann Gültigkeit, wenn ein Autor einen Roman schreibt, der sich später zufällig als zutreffend herausstellt. Ein dokumentiertes Beispiel kann dies illustrieren: Dem schwedischen Autor (und Literaturwissenschaftler) Björn Larsson ist dies – nach eigenem Bekunden, welches er mit Wahrheitsanspruch in einem wissenschaftlichen Artikel dargelegt hat28 – tatsächlich geschehen: Larsson hat während des Schreibens eines Romans in seinem Segelboot in einer Hafenstadt in der Bretagne vor Anker gelegen und sich von der Umgebung, die er aus dem Bullauge seines Bootes heraus betrachten konnte, inspirieren lassen. Herausgekommen sind dabei die Schilderungen einer Reihe von Ereignissen, die tatsächlich in diesem französischen Dorf stattgefunden haben, und von Personen, die dort leben oder gelebt haben. Eine || 25 Zu den beiden Versionen siehe Günter Leypoldt: „Reconsidering Raymond Carver’s ‘Development’: The Revisions of ‘So Much Water So Close to Home’“. In: Contemporary Literature 43/2 (2002), S. 317–341; Keiko Arai: „Who Controls the Narrative?: A Stylistic Comparison of Different Versions of Raymond Carver’s ‘So Much Water So Close to Home’“. In: Style 41/3 (2007), S. 319–341. 26 Vgl. hierzu J. Alexander Bareis: „Fiktion, Analyse und Interpretation. Der fiktionstheoretische ,blinde Fleck‘ der Erzähl- und Interpretationstheorie“. In: Mario Grizelj/Oliver Jahraus/Tanja Prokic (Hgg.): Vor der Theorie. Immersion – Materialität – Intensität. Würzburg 2014, S. 307–322. Auf die Frage der Wahrheitsfähigkeit von Fiktion wird weiter unten eingegangen. 27 Vgl. Manfred Pfister: „Macbeth“. In: Walter Jens (Hg.): Kindlers Neues Literaturlexikon. 22 Bde. München 1988–1992, Studienausgabe Bd. 15 (1996), S. 353–355, hier S. 353. 28 Björn Larsson: „Litteraturens och dess förhållande till verkligheten. Att falla eller inte falla för den referentiella frestelsen“. In: Årsberättelse. Kungl. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Lund 2002/2003, S. 19–46.

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ungefähr 60-jährige Dame, von der Larsson in der Hafenkneipe des Dorfes von zwei Matrosen aus Liverpool erzählt wurde, hatte er als Ausgangspunkt gewählt, ebenso einen Kran, den er von seinem Boot aus sehen konnte, und er erfand schließlich einen dazugehörenden Kranführer, der von der Madame immer wieder eingeladen wurde, ebenso wie eine Reihe von Matrosen aus aller Welt. Larsson hatte sich nach eigenen Aussagen eine Vielzahl von Details für seinen Roman ausgedacht und wurde einige Jahre später auf einer Buchmesse in Frankreich in Zusammenhang mit seinem neu erschienenen und ins Französische übersetzten Roman Drömmar vid havet (1997)29 sowohl von der Schwester eines tatsächlichen Kranführers als auch von einer Freundin der Dame aufgesucht. Larsson hatte, ohne es zu wissen, mit seinen ausgedachten Details mehr als nur einmal ins Schwarze getroffen. Tatsächlich hatte die Dame zur Angewohnheit, über Jahrzehnte hinweg die Besatzungen der vor Anker liegenden Schiffe zu sich nach Hause zum Essen einzuladen; tatsächlich hatte sie auch den Kranführer des Dorfes immer wieder eingeladen, um ihn aufzumuntern, mit seiner Arbeit fortzufahren; tatsächlich war der Kranführer nach Angaben seiner Schwester genau so, wie Larsson ihn im Roman ‚beschrieben‘ hatte, obwohl von einem Kranführer in der ursprünglichen Geschichte der Liverpooler Matrosen nie die Rede war und Larsson sich diese Figur komplett ausgedacht hatte; tatsächlich stammte das Vermögen der Madame aus einer Reederei, und tatsächlich hatte die Reederei auch mit Baggerschiffen ihr Geld verdient. In einigen Details hatte sich Larsson allerdings auch ‚vertan‘, so war beispielsweise die im Roman als Witwe eines betuchten Reeders beschriebene Madame selbst die Reederin und nicht etwa ihr Mann. Larsson hatte also in vielen Details, wenn auch nicht in allen, komplett unbewusst und nicht-intentional Nicht-Fiktives erfunden. Ist Larssons Roman damit trotzdem noch eine Fiktion? Die Antwort muss meines Erachtens ‚Ja‘ lauten, denn selbst wenn Larsson davon gewusst hätte, vielleicht sogar die Witwe damals getroffen hätte, würde dies den Roman nicht zu einem nicht-fiktionalen Wirklichkeitsbericht machen. Auf den ersten Blick betrachtet scheint dies mit der Frage der Intentionalität zusammenzuhängen. Was Fiktion ist, hängt mit der Intention des Urhebers zusammen. Dies ist, extrem verkürzt dargestellt, der Grundgedanke solcher Fiktionstheorien, die unter dem Oberbegriff ‚Institutionalitätstheorien‘ summiert werden können. Fiktion entsteht nur dann, wenn bestimmte institutionelle Bedingungen erfüllt sind, die als solche intendiert sind: „Was einen Text fiktional macht, ist demnach die Tatsache, dass der Text mit der Absicht hervorgebracht wurde, gemäß den Kon|| 29 Französisch: Le capitaine et les rêves (1999); deutsch: Träume am Ufer des Meeres (1999).

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ventionen der Fiktionalitätsinstitution rezipiert zu werden.“30 Diese Sichtweise erklärt zwar in ihrer explizierten Form eine Reihe von sozialen Praktiken, die sich wohl auch empirisch belegen lassen,31 stößt mit der Voraussetzung von erkannter und expliziter Intention aber auch an ihre Grenzen. Intentionen sind ein notorisch schwieriges Feld der Literaturwissenschaft aus verschiedenen Gründen, insbesondere aufgrund ihrer nur indirekten Beweisbarkeit, aber auch aufgrund literarischer Erzählweisen wie dem unzuverlässigen Erzählen.32 Ohne an dieser Stelle erschöpfend auf die intrikate Diskussion hierzu eingehen zu können, lässt sich festhalten, dass Intentionalität als Voraussetzung einer Theorie der Fiktion problematisch ist. Dies lässt sich bereits mit dem Hinweis auf diachrone Fragen exemplifizieren: Gerade bei älteren Texten ist es oftmals schwer, Rückschlüsse sowohl auf die Urheberschaft als auch auf die vermutete Intention des Urhebers zu ziehen. Eine Theorie der Fiktion komplett vom Erkennen einer Intention abhängig zu machen, schränkt den Gültigkeitsbereich einer solchen Bestimmung stark ein. Dies lässt sich leicht an einer Reihe anderer Beispiele zeigen: Wolfgang Hildesheimers Marbot. Eine Biographie (1981) spielt mit eben jener Konvention, Fiktion als solche paratextuell zu markieren. Aber gerade auch Paratexte sind diachron und soziokulturell variabel oder zu gewissen Zeiten schlichtweg nicht existent.33 Sicherlich stellt Marbot einen bewussten Bruch mit den zum Zeitpunkt der Herausgabe gängigen Regeln dar, eine fiktionale Darstellung als solche auch paratextuell zu kennzeichnen. Aber allein die bewusste Missachtung der Praxis, auch wenn sie wie in diesem Falle gerade aus Kenntnis der Konvention heraus zu wirkungsästhetischen Effekten genutzt

|| 30 Tilmann Köppe: „Die Institution Fiktionalität“. In: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 35–49, hier S. 35. 31 Vgl. Norbert Groeben/Ursula Christmann: „Empirische Rezeptionspsychologie der Fiktionalität“. In: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 338–360, hier S. 342: „Die rezeptionsseitige Nicht-/Erwartung von Wirklichkeitsentsprechung wird pragmatisch zunächst durch paratextuelle Aspekte der Textkategorie (Bezeichnung als Roman oder dergl., aber auch Titel, Autor- und /oder Verlagsinformation etc.) ausgelöst.“ 32 Gerade bei diachronen Untersuchungen zeigt sich die Problematik einer solchen Perspektive. Siehe hierzu J. Alexander Bareis: „Ethics, the Diachronization of Narratology, and the Margins of Unreliable Narration“. In: Jeremy Hawthorn/Jakob Lothe (Hgg.): Narrative Ethics. New York 2013, S. 41–55. 33 Vgl. Sonja Glauch: „Fiktionalität im Mittelalter“. In: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 385–418, vor allem S. 402, die unter anderem die diachrone Wandelbarkeit bzw. das Fehlen paratextueller Markiertheit mittelalterlicher Texte diskutiert.

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wird, belegt noch nicht die absolute Gültigkeit jener Konventionen als notwendiges und hinreichendes Merkmal der Fiktion. Die diachrone Wandelbarkeit paratextueller Markiertheit von Intentionen und Konventionen ist also ein gewichtiger Einwand gegen Theoriemodelle, die Fiktionalität anhand von textuellen Eigenschaften zu bestimmen versuchen. Dies betrifft gerade solche Ansätze, die anhand von Fiktionssignalen typologische Modelle aufstellen. Denn auch für Fiktionssignale gilt, dass sie historisch und soziokulturell variabel sind. Damit einher geht die Frage nach einer potenziellen Graduierbarkeit von Fiktionalität. Gerade diachrone Betrachtungsweisen haben nahegelegt, dass Fiktion möglicherweise als ein ‚Mehr oder Weniger‘ und nicht etwa als ein ‚Entweder – oder‘ zu verstehen ist. Hier unterscheiden sich die Auffassungen in der Forschung stark. Während Danneberg und Andreas Kablitz eine Graduierung der Fiktionalität ablehnen,34 hat Sonja Glauch für ein „mittelalterliches Fiktionsverständnis als skaliert oder graduiert“ plädiert.35 Insbesondere aus der Perspektive einer Weltenmetapher heraus hat Glauch vorgeschlagen, das mittealterliche Erzähluniversum eher als eines [zu] charakterisieren, das narrative Entwürfe in eben dem Maß als Ergänzung und Erweiterung der realen Welt verstand, wie diese Entwürfe durch Wissen über diese Welt gedeckt und autorisiert waren; es wurden also narrative Entwürfe als umso fiktionaler behandelt, desto geringer ihre Überschneidungen mit dem Wissen dieser Welt waren.36

Glauch argumentiert, eine kategoriale Qualität der Fiktionalität, das ein ‚Mehr oder Weniger‘ ausschließt, sei „vom heutigen Begriffsverständnis her gedacht“,37 was zur Folge habe, dass die Literatur des Mittelalters sich einem solchen Fiktionalitätskonzept versperre. Diese Einschätzung hängt allerdings mit Glauchs mangelnder Differenzierung von Fiktionalität und Fiktivität zusammen. Selbstverständlich stellt die Fiktivität, also das Maß an Erfundenheit und Nichtwirklichkeit, eine Eigenschaft dar, die graduierbar ist, die mehr oder weniger stark vorkommen kann. Der kategoriale Begriff der Fiktionalität hingegen kann, soll er sinnvoll verbleiben, kein solcher Begriff sein. Es kann also Texte mit mehr oder weniger fiktivem Inhalt geben, jeweils in Relation zum relevanten Wirk|| 34 Vgl. Danneberg (Anm. 5); Andreas Kablitz: „Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“. In: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider (Hgg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2008, S. 13–44. 35 Glauch (Anm. 33), S. 409. 36 Glauch (Anm. 33), S. 409. 37 Glauch (Anm. 33), S. 408.

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lichkeitskonzept; mehr oder weniger fiktionale Werke hingegen nicht. Ein sinnvoller und gerade auch diachron einsetzbarer Fiktionsbegriff sollte eine kategoriale Unterscheidung in entweder fiktionale oder nicht-fiktionale (und eben gerade nicht ‚faktuale‘) Texte beibehalten. Besonders dringend bleibt eine solche kategoriale Unterscheidung gerade in solchen Bereichen, in denen der Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch nicht-fiktionaler Texte eine zwingende Voraussetzung bleiben muss, beispielsweise im Bereich der Geschichtswissenschaften. Doležel hat in seiner letzten Monografie mit der Dekonstruktion postmoderner Prägung zwar ein anderes theoretisches Feindbild als die bisher diskutierten Wissenschaftler, stellt aber die Frage nach fiktionalen und nicht-fiktionalen Werken gerade aus der Perspektive der Historiografie, nach der eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung unerlässlich bleiben muss.

6 Die Unterscheidung von fiktionalen und nichtfiktionalen Werken Die Weltenmetaphorik hat sich in einer Reihe anderer Aspekte ebenfalls als fruchtbar für Überlegungen erwiesen, die eine Verbindung von referenztheoretischen und epistemischen Fragestellungen anstreben. Insbesondere beim Vergleichen verschiedener fiktiver Welten, bei denen eine Überlappung zumindest nahegelegt wird, eröffnen sich komplizierte Fragestellungen beispielsweise zur (Nicht-)Identität fiktiver Figuren. Ist Tulla Pobriefke in Günter Grass’ Im Krebsgang (2002) dieselbe wie die Tulla in Grass’ anderen Werken Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963)? Die intuitive Antwort lautet ‚Ja‘. Mit Hilfe der Weltenmetaphorik ließe sich argumentieren, dass gleichnamige Figuren im Gesamtwerk von Grass als identisch zu betrachten sind. Sie sind zwar Einwohner der jeweiligen Werkwelten, können aber auch als Bewohner eines GrassUniversums betrachtet werden, das alle Werkwelten beinhaltet und den Figuren ermöglicht, als stabile Identität in mehreren der Welten aufzutauchen. Dies würde allerdings auch bedeuten, dass die Figuren an die Autorschaft gebunden sind. Doch wie steht es um die Figur Hoftaller in Ein weites Feld (1995)? Offensichtlich ist diese Figur eine Art ‚fiktionaler Migrant‘, der ursprünglich aus der Feder Hans Joachim Schädlichs und dessen Roman Tallhover (1986) stammt. Ist dies ebenso eine stabile fiktive Figur mit identischen Eigenschaften, die sowohl in der fiktiven Welt des Werkes Tallhover als auch für die Welt von Ein weites Feld gelten? Die theoretische Explikation derartiger transfiktionaler Figuren ist

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umstritten. Im aktuellen Fall hat Schädlich selbst im Anschluss an die Veröffentlichung von Ein weites Feld moniert, dass die von Grass durchgeführten Veränderungen nicht in seinem Sinne waren.38 Diesbezüglich gibt es Parallelen zum Vorkommen von Figuren, die aus der realen Welt stammen. Ihre Ausformung scheint ebenfalls optional zu sein: Hoftaller könnte, muss aber nicht eine stabile Identität darstellen, genau so wie der historische Autor Theodor Fontane in Grass’ Roman deutlich fiktivisiert in der Figur des Fonty wiederkehrt. Doch angenommen, Grass wäre eine ideale Migration der Figur gelungen: Wer wäre urteilsberechtigt, die Identität als gelungen zu bezeichnen? Eine rein intentionalistische Variante, in der allein der ursprüngliche Autor derjenige ist, der dies zu beurteilen vermag, muss offensichtlich ausgeschlossen werden. Gleichzeitig eröffnen sich hier eine Reihe juristischer Fragen, wenngleich zumindest in Deutschland die Rechtsprechung eindeutig scheint: Grundsätzlich fallen auch fiktive Figuren, wie unlängst am Beispiel Pippi Langstrumpf entschieden, gemäß eines Urteils des Kölner Oberlandesgerichts von 2012 unter das Urheberrecht.39 Literaturwissenschaftlich betrachtet treten diesbezüglich eine Reihe von Fragen auf, die Bereiche wie Intertextualität, Parodie, Plagiat und vor allen Dingen die Interpretationstheorie betreffen und an dieser Stelle nicht ausreichend diskutiert werden können. Juristisch stellt das Feststellen von unfreien Bearbeitungen eines Originalwerks ein erhebliches Problem für den jeweiligen Einzelfall dar. Interessanterweise scheint es bezüglich fiktionaler Migranten zudem Unterschiede zwischen verschiedenen Genres und Kunstformen zu geben. Das Urteil zu Pippi Langstrumpf galt beispielweise einem Karnevalskostüm, dessen Aussehen stark an Pippi Langstrumpf erinnerte. Ein Gerichtsurteil zu einer schriftstellerischen Darstellung eines jungen Mädchens mit roten Zöpfen wäre sicherlich unter gänzlich andersartigen Gesichtspunkten gefällt worden. Richard Saint-Gelais deutet in seinem Lexikonartikel zur Transfiktionalität an, dass literarische Figuren in einer stärkeren Abhängigkeit zur Autorschaft stehen als beispielsweise Figuren in Fernsehserien und Comics:

|| 38 Vgl. Hans Joachim Schädlich: „Tallhover – ein weites Feld“. In: Ders: Der andere Blick. Aufsätze, Reden, Gespräche. Hg. v. Hans Georg Heepe. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 140–152, hier S. 151. 39 Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil in späterer Instanz aufgehoben, allerdings nicht, weil fiktive Figuren nicht urheberrechtlich geschützt seien, sondern weil im aktuellen Fall keine ausreichend hohe Übereinstimmung vorlag. Für eine juristische Stellungnahme vgl. Ralph Oliver Graef: „Die fiktive Figur im Urheberrecht“. In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 2 (2012), S. 108–117, wo unter anderem der Fall Pippi Langstrumpf diskutiert wird.

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Major modifications in a character’s attitude or behaviour are likely to be accepted as new twists when they are by the original author, whereas faithful versions, when written by someone else, will probably be taken as apocryphal. The situation in mass-media fiction is quite different, insofar as authorial considerations do not weight [sic] as much as they do in literature proper; hence the phenomenon of extensive circulation of characters between television series, movies [...], comics, and so forth.40

Nur ein genau abgegrenztes Konzept fiktiver Welten, das auf einem gut fundierten Grund fiktionstheoretischer Theoriebildung basiert, die über eine rein literarische Sichtweise auf Fiktion hinaus geht, kann sinnvolle Antworten auf diese und ähnliche intermediale und intertextuelle Phänomene geben, wie sie hier von Saint-Gelais aufgezählt werden. Voraussetzung für ein solch genaues Verständnis fiktiver Welten ist demzufolge insbesondere das Beantworten der ersten zwei der drei aufgelisteten grundlegenden Fragen – ,Was ist Fiktion?‘ und ,Wie kann man fiktionale Texte von nicht-fiktionalen Texten unterscheiden?‘. Meines Erachtens ist es von Vorteil, diese beiden Fragen voneinander zu trennen. Es ist nicht notwendigerweise so, dass die Antwort auf die Frage, wie man fiktionale Texte erkennt, automatisch auch eine Antwort auf die Frage liefert, wie man Fiktion definiert. Damit ist nun nicht gesagt, dass diese beiden Fragen gänzlich unabhängig voneinander seien, aber ein Rückschluss von Frage zwei auf Frage eins, vom Erkennen der Fiktion auf die Theorie der Fiktion, kann meines Erachtens nicht ohne Weiteres erfolgen.41 Der Grund dafür liegt in erster Linie in der soziokulturellen und diachronen Wandelbarkeit dieser Zuschreibungen; was hier und heute zweifelsfrei als Fiktion betrachtet wird, war zu anderer Zeit und/oder an anderen Orten eher ein typisches Beispiel für eine nicht-fiktionale Darstellung. Geht man jedoch von einem einigermaßen homogenen und westlich-orientierten Status quo aus, sind sich die meisten Theoretiker der Fiktion in ihren zumeist intuitiven Annahmen einig, wann Fiktion ist, wie auch Tobias Klauk und Tilmann Köppe konstatieren: [I]n ihren vortheoretischen Intuitionen, welche Werke fiktional sind und welche nicht, stimmen Theoretiker zumindest insofern überein, dass es klare Fälle für fiktionale und

|| 40 Richard Saint-Gelais: „Transfictionality“. In: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hgg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London 2005, S. 612–613, hier S. 613. 41 Ganz ähnlich Tobias Klauk/Tilmann Köppe: „Bausteine einer Theorie der Fiktionalität“. In: Dies. (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 3–31, hier S. 19: „Es ist keineswegs so, dass erst mit einer fertigen Theorie der Textsortenunterscheidung andere Teilbereiche einer Theorie der Fiktionalität in Angriff genommen werden können.“

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nicht-fiktionale Werke gibt sowie verschiedene Fälle, über die Streit herrscht, die schwierig zu beurteilen sind, in Grauzonen fallen und dergleichen.42

Will man einen trennscharfen Begriff der Fiktionalität aufrecht erhalten, ist ein theoretisches Modell denkbar ungeeignet, das auf soziokulurell und diachron wandelbaren Kriterien aufbaut. Letztere sind zwar wichtige Entscheidungshelfer, wenn es darum geht, die zweite Frage zu beantworten (‚Woran kann man fiktionale Texte von nicht-fiktionalen unterscheiden?‘), aber Unterscheidungsmerkmale im Sinne hinreichender und/oder notwendiger Bedingungen für eine Theorie der Fiktion, also zur Beantwortung der ersten Frage (‚Was ist Fiktion?‘), sind sie nicht.43 Exakt welche Definition von Fiktion man letztendlich bevorzugt, ist möglicherweise eine Frage der persönlichen Entscheidung; eine in der Forschung allgemein akzeptierte Definition, die über die Grenzen einer Vielzahl von Teildisziplinen und unterschiedlichen Kunstarten Geltung beanspruchen könnte, liegt bislang nicht vor.44 Gleichwohl eröffnet eine Betrachtungsweise, die fiktionale Werke als Welten versteht, ohne den Weltenbegriff ontologisch und/oder semantisch zum grundlegenden Definitionsmerkmal zu hypostasieren, die Möglichkeit, wichtige Unterscheidungen unterschiedlicher Textsorten und Verwendungsweisen vorzunehmen, die sich für das Verständnis literarischer Werke über lange Zeit hinweg als hilfreich erwiesen haben. Das Aufgeben eines wirkungsvollen Fiktionsbegriffs hin zu einer panfiktionalistischen oder postmodernen Sichtweise, die den Unterschied zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Werken schlichtweg einebnet, ist somit nicht notwendig.45 Insbesondere in Anbetracht der derzeitigen Diskussionen zu sogenannten fake news oder der Rede von ‚alternativen Fakten‘ scheint es wichtiger denn je, einen trennscharfen Fiktionsbegriff aufrechtzuerhalten. Der Kenntnisstand der aktuellen Fiktionstheorie in den Geisteswissenschaften hält hierfür, wie gezeigt, eine Reihe triftiger Argumente bereit.

|| 42 Klauk/Köppe (Anm. 41), S. 19. 43 Für eine eingehende Diskussion vgl. Bareis (2008a, Anm. 1), vor allem Kap. 2.4. 44 Ich habe an mehreren anderen Stellen wiederholt die Theorie Kendall Waltons hierfür vorgeschlagen, vgl. Bareis (2008a, Anm. 4); zuletzt J. Alexander Bareis: „Fiktionen als MakeBelieve“. In: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hgg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 50–67. 45 Vgl. Doležel (Anm. 16).

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Manja Kürschner

Mögliche Welten in historiografischer Metafiktion Textuelle Welten als funktionale Supplemente in Adam Thorpes Hodd

1 Auf der Suche nach der verlorenen Welt Während der Lektüre von Adam Thorpes Roman Hodd (2009) ergibt sich eine merkwürdige Situation. Mit dem Mythos um Robin Hood wird ein Element britischer Nationalgeschichte zum Sujet des Romans, das der Text in postmodernfragmentierter und revisionistischer Weise dargelegt. Auf die Frage, ob und wie Robin Hood vor etwa achthundert Jahren lebte, versucht ein fiktiver Herausgeber aus dem Jahr 2009 Antworten zu geben. Er stellt ein durch Kopisten und Übersetzer mehrfach überformtes Manuskript zur Disposition, das zwar einerseits die Existenz Robin Hoods im Jahr 1225 beteuert, andererseits jedoch dessen Heldenstatus demontiert. So stellt das Manuskript das bisherige Wissen über den britischen Nationalhelden infrage. Dennoch entschließt sich der Herausgeber, das Dokument zu edieren und zu publizieren. Ein Paradoxon erwächst aus der gleichzeitigen Skepsis in Hinblick auf die Möglichkeit, die Vergangenheit wirklichkeitsgetreu wiedergeben zu können, und der Affirmation der Idee, dass der historiografische Diskurs zur Anreicherung von Wissen über die Vergangenheit beitragen kann. In Hodd werden verschiedene Textwelten entworfen, in denen der RobinHood-Mythos thematisiert und modifiziert wird. Der Herausgeber entschließt sich, Informationen über die Textgenese in die Publikation einzubeziehen und dem mittelalterlichen Bericht über Robin Hood nach seinem eigenen Vorwort auch ein Vorwort des Übersetzers des lateinischen Manuskriptes voranzustellen. Durch die Kommentare des Herausgebers aus dem Jahr 2009, das Vorwort des Übersetzers aus dem Jahr 1921 und das mittelalterliche Manuskript eines Mönches entstehen drei Texte, die versuchen, Wissen über Robin Hood zu propagieren und zu generieren. Keine der drei Erzählinstanzen bezweifelt dabei, dass Robin Hood existiert hat, obwohl dies nach heutigem Wissensstand keinesfalls als gesichert gilt. Um die Fiktion des Fundes einer neuen, aussagekräftigen historischen Quelle zu inszenieren, die den historiografischen Diskurs über Robin Hood wachruft, mischt der Roman fiktive und faktisch nachprüfbare Infor-

https://doi.org/10.1515/9783110626117-006

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mationsquellen. Die in der Postmoderne inszenierte Nivellierung des ontologischen Unterschiedes zwischen Historiografie und fiktionaler Literatur wird zwar in diesem Roman verhandelt, aber nicht im Sinne der Postmoderne beantwortet. Linda Hutcheon entwickelt in den 1980er Jahren den Begriff der historiografischen Metafiktion und meint damit eine Spielart des postmodernen Romans, die das Verhältnis zwischen Historiografie und Fiktion thematisch aufgreift: Historiographic metafiction refutes the natural or common-sense methods of distinguishing between historical fact and fiction […] by asserting that both history and fiction are discourses, human constructs, signifying systems, and both derive their major claim to truth from that identity.1

Trotz der für historiografische Metafiktionen bezeichnenden postmodernen Anteile2 geht Hodd insgesamt weniger spielerisch mit der Auflösung der Grenzen zwischen historischen Fakten und Fiktion um.3 Stattdessen betont der Roman || 1 Linda Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. London 1988, S. 93. 2 Adam Thorpe benennt als eine seiner Bestrebungen während des Schreibprozesses postmodernistische Ziele wie „[…] truth through dissonance [H. i. O.], the clash and clang of difference, problematising the objective narrator’s metaposition, privileging overlap“. Adam Thorpe: „Turning the Confusion into Art: History and Fiction“. In: Liliana Sikorska (Hg.): History is Mostly Repair and Revenge: Discourses of/on History in Literature in English. Frankfurt a. M. 2010, S. 13–24, hier S. 16. Auch die Einschätzung Liliana Sikorskas, die Hodd als „postmodern fantasy“ bezeichnet, zieht die über den Postmodernismus hinausgehenden Züge des Romans nicht in Betracht. Liliana Sikorska: „Reading and Writing a Medievalist Text: Adam Thorpe’s Hodd. An Advertisement in Five Acts“. In: Dies. (Hg.): Thise Stories Beren Witnesse: The Landscape of the Afterlife in Medieval and Post-Medieval Imagination. Frankfurt a. M. 2009, S. 109– 138, hier S. 109. 3 Thorpe schreibt hierzu: „The past is over, it leaves traces, objects and words, from which we create a history that straddles art and science, but our immediate past is over, too, yet we know we lived it. Perhaps a better view is that we are part of a physical and mental continuum, occupying a particular place on the flowing river, our atoms and molecules joining it when we die. So the easy idea that everything in the past is a fiction is not enough, it’s too theoretical and games-playing“ (E-Mail-Korrespondenz vom 30.08.2013). Monika Fludernik hat in den 1990er Jahren bereits eine neue Tendenz historiografischer Metafiktionen beschrieben, die die Frage nach der Möglichkeit von Wissen über die Vergangenheit anders als ihre Vorgänger beantworten: „A new, more serious, mode of historiographic metafiction seems to be hatching, one that is less playful, more specifically concerned with ‘history’ (in different ways) [...].“ Monika Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth“. In: Bernd Engler (Hg.): Historiographic Metafiction in Modern American and Canadian Literature. Paderborn 1994, S. 81–101, hier S. 101. Die Wiedereinführung der Grenzen zwischen fiktionaler Literatur und nichtfiktionaler Historiografie bleibt hier jedoch noch unkommentiert. Neben Thorpes Roman finden sich weitere Vertreter des Genres, die fiktionsimmanente Fakten ähnlich wie Hodd behandeln. Dazu gehören Margaret Drabbles The Red Queen (2004), Peter Ackroyds The Fall of

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die Wichtigkeit historiografischen Wissens in einer Zeit des Zweifels am geschichtswissenschaftlichen Erkenntnispotenzial. Während beispielsweise Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) als prototypische historiografische Metafiktion noch spielerisch die Grenzen zwischen fiktionaler Literatur und nichtfiktionaler Historiografie auflöst, werden in Hodd die Grenzen zwischen Fiktion und Nichtfiktion – trotz allen Wissens um die Problematik dieser Grenzen – sichtbar. Hodd entspricht nicht Brian McHales Feststellung, „the postmodernists fictionalize history, but by doing so they imply that history itself may be a form of fiction“4, denn der Roman markiert deutlich, welche Elemente auf fiktiven und welche auf historiografischen Quellen beruhen, die auch außerhalb der Fiktion gelten. Für die Analyse von Thorpes Roman ergeben sich zwei Fragestellungen: Wie thematisiert der Roman das problematische Verhältnis zwischen Vergangenheit und Wissen über Vergangenheit, und auf welche Weise wird dieses Wissen zur Disposition gestellt? Zur Beantwortung dieser Fragen lässt sich die Theorie der möglichen Welten nutzbar machen.5 Marie-Laure Ryan hat in ihren Abhandlungen das zur Debatte stehende Verhältnis durch die Gegenüberstellung einer wirklichen Welt (actual world) und unzähliger möglicher Welten (possible worlds) beschrieben. Ihre Theorie kann so zur Erklärung des im Roman fingierten Konflikts zwischen Vergangenheit und vertexteter Geschichte beitragen. So erlaubt die Diskussion von Ryans Thesen die Unterscheidung zwischen einer aktualen, unergründlichen Vergangenheit und möglichen, ergründbaren Versionen innerhalb der Geschichtsschreibung, die diese Vergangenheit zu beschreiben suchen. Die Idee des in der Vergangenheit verloren gegangenen Originals wird in diesem Beitrag außerdem mit Jacques Derridas poststrukturalistischem Erklärungsmodell des Supplements (supplément) in Verbindung gebracht. Durch die Konzentration auf die entstandenen Supplemente und möglichen Textwelten innerhalb des Romans, welche versuchen, die außerhalb ihrer

|| Troy (2006) oder Jed Rubenfelds Romane The Interpretation of Murder (2006) und Death Instinct (2010). Die Bandbreite der im neuen Millennium entstandenen historiografischen Metafiktionen erlaubt es jedoch nicht, die Entwicklung des Genres in Hodd auf sämtliche nach 2000 publizierten historiografischen Metafiktionen zu übertragen. 4 Brian McHale: Postmodernist Fiction. New York 1987, S. 96. 5 Da es im Folgenden um Verweise fiktionaler Texte auf real existierende Texte bzw. auf die außertextuelle Welt gehen soll, lässt sich die Theorie der möglichen Welten als Erklärungsmodell heranziehen. Wie beispielsweise Ruth Ronen feststellt, beantwortet die Theorie wichtige Fragen, die durch die Beschäftigung mit dem Problem der Referenz in fiktionalen Texten entstehen: „Possible worlds legitimize an interest in referential problems and in everything that concerns the relations between literature and the actual world.“ Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 20.

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eigenen Textualität liegende Vergangenheit zu beschreiben, lassen sich Aussagen darüber treffen, wie das Wissen über die Vergangenheit in Hodd konzeptualisiert wird. Die Theorie der möglichen Welten und die Theorie vom textuellen Supplement mit ihrem Differenzierungspotential in Bezug auf mögliche textuelle Welten in Fiktion und Nichtfiktion stützen die hier vertretene These, dass in Thorpes Roman ontologische Grenzen zwischen Welten gezogen werden, wo nach dem postmodernen Postulat keine mehr existieren sollten.

2 Manuskriptverfasser, Übersetzer, Herausgeber: Der Robin-Hood-Mythos als Palimpsest Hodd beschreibt auf verschiedenen Zeitebenen den Versuch, den sich um Robin Hood rankenden Mythos historiografisch zu verifizieren: Der Text zeigt auf einer metahistoriografischen Ebene, wie sich ein Mythos ausbildet, verändert und Teil der Geschichtsschreibung eines Landes wird. Folglich kann Thorpes Roman in das Genre der historiografischen Metafiktion eingeordnet werden, da das Offenlegen der Mechanismen eines Geschichtsschreibungsprozesses das Genre konstituiert. In Thorpes Roman wird die Problematisierung des historiografischen Arbeitens durch folgendes Gedankenspiel initiiert: Im Jahr 1305 schreibt ein fiktiver Mönch im englischen North Yorkshire seine Lebensgeschichte nieder und bringt damit das heutige Geschichtsbild zum Wanken. Er gibt zu, in seiner Jugend eine Zeitlang in Gefangenschaft unter Robin Hood und seinen Anhängern gelebt zu haben und zu zahlreichen Verbrechen genötigt und verführt worden zu sein. Außerdem beichtet der Mönch, dass er gezwungen wurde, eine Lobeshymne zu Ehren des Geächteten zu singen, obgleich er diesen für einen grausamen Häretiker gehalten habe. Die entstandene Ballade hat der Mönch nach seiner Flucht aus der Gefangenschaft schließlich als Broterwerb in Gasthäusern rezitiert, wodurch sich die beschönigte Darstellung Robin Hoods als strahlender Held und Retter der Armen durchgesetzt hat. Die Ballade „Robin Hood and the Monk“ existiert nicht nur innerhalb der Fiktion als Produkt eines fiktiven Protagonisten, sondern ist unter dem Namen Robin Hode and the Munke in die mittelalterliche Balladentradition eingegangen. In der historiografischen Forschung geben Historiker wie James Clark Holt als Zeitpunkt der Verschriftlichung der Ballade das Jahr 1450 an. Damit zählt sie zu den frühesten Handschriften, die auf eine Figur namens Robin Hood verweisen. Bis heute ist unklar, wer die Ballade gedichtet und wer sie nach ihrer lan-

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gen mündlichen Überlieferung das erste Mal verschriftlicht hat.6 Im Roman bekennt sich der namenlose Mönch in seiner Beichtschrift zur Urheberschaft und befürchtet, durch sein wiederholtes Rezitieren der Ballade unfreiwillig zum Begründer des Robin-Hood-Mythos geworden zu sein. Aus diesem Schuldbewusstsein entsteht zum Ende seines Lebens jene Beichtschrift, deren Aufgabe es ist, den die Wahrheit verfälschenden Mythos zu revidieren und Robin Hood als brutalen Tyrannen darzustellen. Das durch die Mönchsbeichte entstandene lateinische Manuskript reist nach dem Tod des Mönches durch die Jahrhunderte, indem es im 15., 16. und 18. Jahrhundert von verschiedenen Kopisten immer wieder abgeschrieben und in den Marginalien kommentiert wird. Während des ersten Weltkriegs fällt eine dieser Kopien einem als Soldat dienenden Historiker namens Francis Belloes in die Hände, der es sich zur Lebensaufgabe macht, die Kopie ins Englische zu übertragen. Dabei reichert er die Erzählung des Mönches mit vielen Informationen und historischen Fakten über das Mittelalter an. Belloes zeigt aber auch an einigen Stellen, dass er den Bericht des Mönches für nur begrenzt zuverlässig hält.7 In einem Vorwort, das der Übersetzung vorgeschaltet ist, beschreibt der Historiker seine unermüdliche Suche nach dem Urmanuskript und dem Autor sowie seine Enttäuschung darüber, dass die Urschrift nicht mehr zugänglich ist. Außerdem ist er sich der Tatsache bewusst, dass er selbst die Kopie durch seine Übersetzung noch weiter verfälschen muss: „[M]y own conjurings obtruded upon the real thing, which is forever lost, and merely (and rather tantalisingly) haunts“ (S. 8). Dennoch bemüht sich der Historiker um einen professionellen Umgang mit dem Quellenmaterial. Er versieht seine Übersetzung mit 406 Fußnoten auf 294 Seiten, die zum größten Teil den Eindruck einer wissenschaftlichakribischen Recherche erwecken. Einige der Fußnoten weichen allerdings von || 6 Vgl. James Clark Holt: Robin Hood. London 1989, S. 15. In Thorpes Roman werden die Überlegungen von realen Historikern wie Holt abgebildet, die sowohl den Entstehungszeitpunkt der Ballade diskutieren als auch einen real existierenden Robin Hood ausgehend von früheren, nichtfiktionalen Zeugnissen in einem Zeitraum vor 1261 verorten. Siehe ebd., S. 187. 7 So bezweifelt Belloes häufig die vom Mönch angegebenen Daten und dessen Auslegung verschiedener Ereignisse. Insbesondere, wenn der Mönch Personen in einem besseren Licht darstellen möchte, weil er sich mit ihnen verbunden fühlt, greift der Übersetzer ein. Als Beispiel sollen die Ungereimtheiten im Bericht über den Eremiten gelten, der für den Mönch die Stellung eines Ziehvaters und Lehrmeisters einnimmt. Belloes deckt folgende Ungereimtheiten auf: „Also, if 1209 is an accurate date, then the hermit must have arrived almost immediately in the village as a fugitive clerk rather than a wandering ministrel-monk. It is possible that our author has confused the two stories, or deliberately ‘borrowed’ from the more familiar one, in a way that is typical of medieval practice“ (S. 289). Alle Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: Adam Thorpe: Hodd. London 2009.

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der Konvention wissenschaftlichen Schreibens ab, wenn Belloes subjektive Eindrücke der eigenen Lebenswelt mit den Aufzeichnungen des Mönches verflechtet.8 Diese Art von Subjektivität in der Darstellung des Vergangenen nimmt zu, wenn aus Belloes’ Fußnoten deutlich wird, wie sehr seine psychische Stabilität im Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der Übersetzer deutet sein Kriegstrauma und den Verlust eines engen Freundes in seinem Vorwort und in den Fußnoten an: „[M]y nerves suffered a blow from which they have yet fully to recover“ (S. 208). Paradoxerweise scheint es sich der fiktive Herausgeber auf der rahmenden Erzählebene zur Aufgabe gemacht zu haben, die Unzulänglichkeiten des Übersetzers herauszustellen und damit die Zuverlässigkeit des gesamten Editionsprojektes zu diskreditieren, obwohl er die Übersetzung für wissenschaftlich und genau genug erachtet, um sie als Fachliteratur und Beitrag zum Robin-HoodDiskurs zu veröffentlichen. Der Herausgeber entschließt sich zu diesem Zweck, sowohl die wissenschaftlichen als auch die unwissenschaftlichen Fußnoten des Übersetzers zu drucken. Dabei bleibt für den Leser leicht erkenntlich, zu welcher der beiden Arten die jeweilige Fußnote gehört.9 Des Weiteren macht er auch die nach dem ersten Druck der Übersetzung hinzugefügten Notizen des Übersetzers kenntlich, indem er die Bleistiftnotizen Belloes’ durch Fettdruck von den Fußnoten, die vor dem Druck entstanden sind, absetzt. Die von Belloes mit Bleistift eingefügten Notizen zeigen, dass er in der Zeit nach der ersten Druckprobe zwischen Realität und Wahnvorstellungen kaum noch unterscheiden konnte. So wird deutlich, dass zwischen den Arbeiten, die vor dem Ausbruch seines Wahnzustandes entstanden sind, und denen, die infolge des fortgeschrittenen Krankheitsverlaufs vorgenommen wurden, differenziert werden muss, der Übersetzer also nicht per se für unzuverlässig erklärt werden kann, ohne seinen allmählichen Weg in den Wahnsinn zu verhehlen. Die Rahmenerzählung des Herausgebers betont demnach die Unzuverlässigkeit des Übersetzers, anstatt sie zu verschweigen. Der Herausgeber berichtet in seinem Vorwort außerdem über die Spielsucht Belloes’ sowie das auf mysteriöse Weise im Haus des Übersetzers verbrannte Manuskript und warnt: „Hodd is not the medieval thing itself, but a translation from the Latin of a lost original“ (S. 39). Ein stärke-

|| 8 Beispielsweise veranlasst die Beschreibung einer mittelalterlichen Behausung den Übersetzer zu einem Kommentar über sein eigenes Heim: „The present translator of this MS lives similarly in a cottage some six hundred years old [...]“ (S. 20). 9 Thorpe kommentiert in einer E-Mail an Liliana Sikorska die Fußnoten in Hodd: „Most of the academic ‘refs’ are true, although always within the period state of knowledge (1920s). Obviously, Belloes’ own papers and books are invented […].“ Zitiert nach Sikorska (Anm. 2), S. 112.

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rer Verweis auf die Unzulänglichkeiten des zu veröffentlichenden Materials hätte vom Herausgeber kaum erbracht werden können. Umso paradoxer erscheint die Selbstsicherheit des Herausgebers, das Material trotz allem zu publizieren und in den bisherigen historiografischen Diskurs über den Robin-HoodMythos einzuordnen. Trotz seiner Warnung, das vorliegende Produkt einer jahrhundertelangen Überschreibung entspreche keineswegs „the medieval thing itself“, hält der Herausgeber am Gedanken eines Originals fest. Nach einer Auflistung der Mängel seiner Quelle unternimmt er den Versuch, seinen Fund an die Robin-Hood-Forschung anzubinden und in die Reihe der bereits vorliegenden historischen Dokumente einzugliedern. Ziel dieser Bestrebungen ist es, zu zeigen, dass ein Vergleich der Mönchsbeichte mit den literarischen Quellen aus dem englischen Spätmittelalter, in denen Robin Hood namentlich erwähnt und als Figur etabliert wird, möglich ist.10

3 Die Theorie der möglichen Welten Aristoteles definiert als Aufgabe des Poeten im Gegensatz zum Historiker, nicht zu beschreiben, was geschehen ist, sondern was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen könnte.11 Dieser Unterschied zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft ist immer wieder hinterfragt worden. So bestehen sehr unterschiedlich motivierte Zweifel, ob die Geschichtswissenschaft tatsächlich darstellen kann, was geschehen ist. Insbesondere die Literaturwissenschaft und der narrativistische Ansatz in der Historiografie12 gehen davon aus, dass sowohl fiktionale Literatur über Geschichte als auch nicht-

|| 10 Die Herausgeberfigur dient dabei als fiktives Pendant nichtfiktiver Historiker. Beispielsweise wird Holts Standardwerk zur Robin-Hood-Forschung explizit in der Herausgeberfiktion erwähnt. Die Versuche Holts, Robin Hood als historisch nachweisbare Person des englischen Mittelalters auszuweisen, beziehen den Fund des Namens ‚Robin Hood‘ in nichtfiktionalen Texten ab 1261 ein, in denen der Name als Sammelbezeichnung für Kriminelle benutzt wurde. Andere Historiker ziehen ausschließlich die spärlichen literarischen Quellen als Beweis für die Existenz Robin Hoods heran. Zwischen 1450 und 1765 entstanden fünf Balladen und ein Dramenfragment. Vgl. Holt (Anm. 6), S. 15 f. 11 Aristoteles: Poetik [Peri poietikes]. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 29 (Kap. 9, 1451b). 12 Narrativistische Positionen wie die Hayden Whites lösen die Unterscheidung zwischen fiktionaler Literatur und historiografischem Text auf, indem sie Geschichte auf ihren narrativen Charakter reduzieren. Vgl. Franziska Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert. Bern u. a. 2011, S. 62.

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fiktionale historiografische Texte lediglich repräsentieren, was passiert sein könnte. Beide Textsorten können zwar Diskurse über Vergangenes darstellen, eine präzise Abbildung der außertextuellen Welt bleibt aber unmöglich, da die tatsächliche vergangene Welt nicht mehr erfahrbar ist. Die Theorie der möglichen Welten, wie sie beispielsweise von Saul A. Kripke formuliert wurde, beschäftigt sich zunächst einmal gar nicht mit vergangenen Welten, sondern mit einem Modalsystem, in dem verschiedene Welten miteinander in Beziehung stehen. Ryan fasst die Argumentation Kripkes folgendermaßen zusammen: [R]eality–conceived as the sum of the imaginable rather than as the sum of what exists physically–is a universe composed of a plurality of distinct worlds. This universe is hierarchically structured by the opposition of one well-designated element, which functions as the center of the system, to all the other members of the set.13

Realität entspricht in Kripkes und Ryans Setzung einer vom Menschen abhängigen Größe und wird durch die Summe des an sich Denkbaren konstituiert. Realität ist also aus Konstrukten zusammengesetzt, die dem menschlichen Geist entspringen. Ich lege Ryans Theorie dahingehend aus, dass diese Konstrukte allesamt Textwelten sind, vom Menschen abhängige und gemachte Welten. Die actual world (AW) hingegen ist das hierarchische Zentrum, in dem Menschen leben und um das sämtliche Konstruktwelten kreisen. Nach Nicholas Rescher unterscheidet sich die aktuale Welt in ihrem ontologischen Status von den le-

|| 13 Marie-Laure Ryan: „Possible Worlds“. In: Peter Hühn u. a. (Hgg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/possible-worlds, § 2 [abgerufen am 15.12.2018]. Kripkes Definition lautet: „A model structure (m.s.) is an ordered triple (G, K, R) where K is a set, R is a reflexive relation on K, and GεK. Intuitively, we look at matters thus: K is the set of all ‘possible worlds;’ G is the ‘real world.’“ Saul A. Kripke: „Semantical Considerations on Modal Logic“. In: Acta Philosophica Fennica 16 (1963), S. 83–94, hier S. 84. Durch meine Auslegung von Ryans Theorie vernachlässige ich, wie auch Ryan vor mir, die modallogischen Implikationen Kripkes, Nicholas Reschers und David Lewis’, die auch nach der Übertragung des philosophischen Konzepts in das Feld der Literaturwissenschaften bestehen bleiben. Für einen umfassenden Überblick über die Kritik an der Übertragung des Modells empfiehlt sich Ronens Monografie. Nach Ronen basieren fiktive Welten auf dem Prinzip des Parallelismus, das ihre Autonomie in Bezug auf die aktuale Welt betont, während mögliche Welten in der Philosophie eher darauf basieren, dass sich aus einem aktualen Stand der Dinge eine Bandbreite an möglichen Welten entwickeln kann. Vgl. Ronen (Anm. 5), S. 8. Es geht mir jedoch weniger um kontrafaktische Sätze und deren Wahrheitswert als um das Konzept der Weltenbildung in fiktionalen Texten. Aus diesem Grund gebrauche ich die Begriffe der aktualen bzw. möglichen Welt in dieser Studie wie meine Vorgänger als heuristische Metaphern.

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diglich möglichen Welten,14 da sie unabhängig vom menschlichen Denken existiert. Sie kann aber durchaus mithilfe dieses Denkens, das durch Sprache – und damit Text – bedingt wird, verändert werden. Ryan folgt der zentralen These des linguistic turn, die besagt, dass unser gesamter Bezug zur aktualen Welt immer nur ein textueller Bezug ist: „[N]arrative universes – whether fictional or not – [function] as modal systems in which the external (i.e. physical) facts asserted by the narrator play the role of ‘textual actual world [TAW]’.“15 Narrative universes sind in diesem Zusammenhang immer auch als textuelle Universen zu verstehen, d. h. als vom Menschen erschaffene Universen im Gegensatz zur außertextuellen aktualen Welt, die ohne menschliches Zutun, aber nicht unbeeinflusst vom Menschen existiert. Da aus den Textwelten heraus jedoch kein direkter Zugriff auf diese außertextuelle Welt möglich ist, besitzt sie einen wichtigen, wenn auch hypothetischen Status. Richard Rorty fasst diese Erkenntnis auf prägnante Art zusammen: We need to make a distinction between the claim that the world is out there and the claim that truth is out there. […] Truth cannot be out there–cannot exist independently of the human mind–because sentences cannot so exist, or be out there. The world is out there, but descriptions of the world are not.16

Rorty betont, dass uns aus pragmatischen Gründen nichts anderes übrig bleibt, als unseren Sätzen und textuellen Welten einen wahren Kern zu unterstellen. Von heuristischem Wert für die Deutung von Hodd sind neben der Differenzierung zwischen der AW und den Textwelten die Kategorien ‚Nichtfiktion‘ und ‚Fiktion‘. Wenn von Texten und möglichen Textwelten angenommen wird, dass

|| 14 Nicholas Rescher: „The Ontology of the Possible“. In: Michael L. Loux (Hg): The Possible and the Actual: Readings in the Metaphysics of Modality. Ithaca/London 1979, S. 166–181. Als Gegentheorie zu Reschers moderatem Realismus gilt Lewis’ modaler Realismus, der davon ausgeht, dass die AW keinen ontologisch verschiedenen Status gegenüber allen möglichen Welten besitzt, sondern lediglich die Welt bezeichnet, in der sich der jeweilige Betrachter als Referenzpunkt dieser Welt gerade befindet. Demnach ist die AW abhängig vom jeweiligen Betrachter bzw. Bewohner dieser Welt. Siehe David Lewis: Counterfactuals. Cambridge 1973, S. 84–91. Diese indexikalische und relativistische Sichtweise wird in diesem Aufsatz vernachlässigt. Zu einer Auseinandersetzung mit Lewis’ und Reschers Ansatz siehe Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Indiana 1991, S. 20 f. Ebenso kann an dieser Stelle nicht auf den dritten, anti-realistischen Ansatz Nelson Goodmans eingegangen werden. Siehe Nelson Goodman: Ways of Worldmaking. Indianapolis 1978. Die Untersuchung der divergierenden Wünsche, Ziele oder Fantasien der Figuren der TAW würde gleichermaßen den Rahmen sprengen, weshalb auf Ryans Ausführungen zu diesem Thema hingewiesen sei. 15 Ryan (Anm. 13), § 16. 16 Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge 1989, S. 5.

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sie Wissen über die außertextuelle aktuale Welt, zum Beispiel in Form von beglaubigten wissenschaftlichen Theorien, enthalten und dass sie auf das bewusste Erfinden von Objekten, Ereignissen oder Figuren verzichten, werden diese Texte als Nichtfiktionen gelesen. Historiografische Texte entsprechen demzufolge, wenn sie keine Lügen oder Fehler enthalten, also zum jeweiligen Zeitpunkt ihres Entstehens von Zeitgenossen für gültig erklärt werden, Ryans Kategorie der „accurate nonfiction“17. Diese Kategorie von Texten verweist auf das Zentrum eines Realitätssystems (textual reference world, TRW), das als identisch mit der AW angenommen wird. Historiografische Texte sind insofern faktisch nachprüfbar, als dass sie sich auf anerkannte nichtfiktionale Texte beziehen lassen, welche Fakten über die Vergangenheit kreiert haben. Allerdings bedeutet diese Art von Faktizität nicht automatisch, dass wir das Wissen über eine vergangene Epoche mit der vergangenen AW gleichsetzen können. Die historiografischen Textwelten werden nur als effizient und funktional angesehen, wenn sie ein Modell liefern, das das vergangene Leben in der AW schlüssig erklären kann. Wird eine derart funktionale Textwelt von einer Gruppe von Menschen innerhalb einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Kultur nicht mehr hinterfragt, sondern bedingungslos für wirkmächtig erklärt, wird die AW mit der nichtfiktionalen TAW gleichgesetzt.18 Adam Thorpes Hodd muss als historiografische Metafiktion der Kategorie ‚Fiktion‘ zugeordnet werden, da sie zwar wie Nichtfiktionen auf Wissen über die Welt bzw. beglaubigte wissenschaftliche Theorien anspielt, dieses Wissen aber in einer fiktionalisierten Form zur Verfügung stellt und mit dem Imaginären kombiniert. Ryan postuliert, dass die Textkategorie der Fiktion eine TRW repräsentiert, die nicht mit der AW identisch ist. Eine weitere Unterscheidung zwischen fiktionaler Literatur und Historiografie kann durch die abweichende Position des Erzählers in der entsprechenden Welt getroffen werden. Während sich der Autor bzw. die Erzählinstanz eines nichtfiktionalen Textes in der AW befindet, ist die Erzählinstanz in einem fiktionalen Text ausschließlich Teil der TAW. Damit befinden sich im Fall nichtfiktionaler Texte Autor bzw. Erzählinstanz und Leserschaft in derselben Welt, während die Lesenden eines fiktionalen Textes

|| 17 Ryans Glossar listet folgende Fälle auf: „accurate“ bzw. „inaccurate nonfiction“ sowie „fiction told by reliable“ bzw. „unreliable narrator“. Ryan (Anm. 14), S. vii–viii. 18 Ryan schreibt dazu: „In nonfiction, the reader is entitled to question the accuracy of these facts, because the textual actual world is itself processed as the image of an ‘actual actual world’ that exists independently of the text.“ Marie-Laure Ryan: „From Parallel Universes to Possible Worlds: Ontological Pluralism in Physics, Narratology, and Narrative“. In: Poetics Today 27/4 (2006), S. 633–674, hier S. 648.

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aus der Perspektive der AW über eine Erzählinstanz der TAW urteilen, die ein Autor der AW erschaffen hat.

4 Robin Hood als Forschungsdesiderat in nichtfiktionalen und fiktionalen Texten Das Bedürfnis nach nichtfiktionalen Texten und Welten, die das gegenwärtige und vergangene Leben in der AW schlüssig erklären, nimmt keineswegs ab: Lubomír Doležel beschreibt in seinem Aufsatz „Mimesis and Possible Worlds“ (1988), wie Historiker nach dem historischen Kern einer über Jahrhunderte hinweg überlieferten Geschichte suchen.19 Als Beispiel nennt er die 1985 erschienene Abhandlung John G. Bellamys, Robin Hood: An Historical Enquiry, die versucht, den Ursprung des Robin-Hood-Mythos in einer historischen Figur nachzuweisen.20 Solche Ansätze haben das Anliegen gemein, Robin Hood aus literarischen Zeugnissen und historischen Dokumenten zu rekonstruieren.21 Dieses Szenario wird nun in Thorpes Roman durchdacht und zur Diskussion gestellt. Der fiktionale Text gibt durch das Einbetten eines Fußnotenapparates und das Vorwort des Herausgebers sowie des Übersetzers vor, ein faktisches Dokument zu sein. Eine fiktive TAW täuscht somit vor, durchgängig faktuale Informationen über Robin Hood zu liefern und damit der vergangenen AW zu entsprechen. Immer wieder suggerieren die drei fiktiven Erzählinstanzen im Roman, Teil der nichtfiktiven Welt zu sein, und nutzen zur Verifizierung fiktionale Paratexte, die formal nichtfiktionale Paratexte imitieren. Ziel dieser Bemühungen ist es, Robin Hood als real existierende Person zu etablieren, um so einen Meilenstein in der Robin-Hood-Forschung zu setzen. Obwohl im gesamten

|| 19 Lubomír Doležel: „Mimesis and Possible Worlds“. In: Poetics Today 9/3 (1988), S. 475–496, hier S. 476. 20 John G. Bellamy: Robin Hood: An Historical Enquiry. Beckenham/Kent 1985. 21 Ein neuerer Versuch stammt von David Greenwood, der positivistische Argumente vorbringt, die belegen sollen, dass Robin Hood zu Zeiten Edwards II. in der Nähe des St. AnnaBrunnens gelebt habe. Siehe David Greenwood: Robin of St. Ann’s Well Road: The Origins of Robin Hood. Nottingham 2007. Ein Kontrahent dieses Ansatzes ist der Literaturwissenschaftler Stephen Knight, der die These aufstellt, dass Robin Hood solange im Diskurs weiterlebt, wie über seine Existenz diskutiert wird. Folglich zeichnet Knight die Lebendigkeit des Mythos in verschiedenen Epochen bis zur heutigen nach, ohne ein Urteil über Robin Hoods außertextuelle Existenz zu fällen. Siehe Stephen Knight: Robin Hodd. A Mythic Biography. Ithaca/London 2003, S. 193.

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Text mit „offenen Faktizitätsverweisen“22 gearbeitet wird, bleibt für die Leserschaft des Romans der fiktionale Status des Gesamttextes erkennbar, da Erfundenes eingefügt und offen als fiktiv gekennzeichnet wird. Belloes’ Verweise auf seine eigenen historiografischen Monografien in den Fußnoten müssen beispielsweise zwangsläufig als fiktiv gelten, weil die Person Francis Belloes außerhalb des Romans nicht existiert. Andererseits werden durch den fiktiven Übersetzer auch Fußnoten eingebaut die auf Fachliteratur der 1920er Jahre anspielen, welche bis heute in Geschichtsbibliotheken unserer aktualen Welt nachprüfbar sind. George G. Coultons The Medieval Garner (1910) oder Social Life in Britain from the Conquest to the Reformation (1919) spiegeln den dominanten historiografischen Diskurs zum Thema Mittelalter wider. Es werden demnach zwei Arten von Fußnoten eingesetzt, die klar voneinander zu trennen sind: Die Verweise auf Belloes’ eigene Werke referieren nicht auf Objekte, Ereignisse oder Personen außerhalb des Textes, sondern fungieren nur innerhalb der TAW als mehr oder weniger anerkannte Nachweise. Es werden jedoch auch nichtfiktionale Texte anzitiert, die außerhalb der Fiktion existieren und die in fiktionalisierter Form, durch den Editionsprozess einer fiktiven Figur, Eingang in den Roman finden (vgl. S. 112). Durch diese zweite Art der Fußnoten wird historisches Wissen abgerufen. Gleichzeitig wird klar, dass durch die Anspielung auf nichtfiktionales, intersubjektiv gültiges Wissen nicht der fiktionale Charakter des Textes unterminiert werden kann, weil Fiktionalitätssignale, wie etwa die selbstreferentiellen Fußnoten Belloes’, als Metafiktionale Kommentare eingesetzt werden, die den Roman als Fiktion entblößen. Auch paratextuelle Marker wie die Klassifizierung „Fiction“ auf der Rückseite des Buches oder der Hinweis auf Thorpes ausschließlich fiktionales literarisches Werk auf der Seite vor dem Titelblatt weisen eindeutig darauf hin, dass Hodd eine Fiktion ist. Demnach wird der Versuch der drei fiktiven Erzählinstanzen, sich als nichtfiktive und außertextuell existierende Personen auszuweisen, vom nichtfiktionalen Paratext vereitelt. Hodd imitiert den Versuch vieler Historiker, eine neue nichtfiktionale Theorie über eine historische bzw. mythische Persönlichkeit im jeweiligen Diskurs zu platzieren und damit eine neue anerkannte Version dieser Persönlichkeit zu schaffen. Ähnliches intendiert der fiktionale Herausgeber in Hodd: Die Historisierung des Robin-Hood-Mythos soll durch das Abbilden der mehrfachen Überformung eines mittelalterlichen Manuskripts belegt werden. Nachdem der fiktive Herausgeber die Version Robin Hoods im Manuskript des Mönches verifiziert hat, stellt er Vergleiche zu anderen Robin-Hood-Figuren in|| 22 Peter Blume: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin 2004, S. 99 f.

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nerhalb des Diskurses um den Mythos an, um die von ihm hinzugefügte Version als plausibel und überzeugend zu vermarkten.

5 Robin Hood im Wandel der Diskurse Die diversen Ausformungen des Robin-Hood-Mythos vom Mittelalter bis in die Postmoderne bilden den Fokus von Thorpes Roman. Tragen Figuren in verschiedenen möglichen Welten denselben Namen, bedeutet dieser Sachverhalt nicht, dass die dargestellten transworld characters23 deckungsgleich sind, auch wenn sie sich auf denselben Referenten zu beziehen scheinen. Bezogen auf den transworld character Robin Hood lassen sich zunächst einmal Gemeinsamkeiten in historiografischen sowie literarischen Texten unterschiedlicher Zeitstufen feststellen, die von Stephen Knight folgendermaßen zusammengefasst werden: He lives in the greenwood and is expert with a bow; he leads a group of doughty fighters who resist the corrupt church, the sheriff, and his minions but remain loyal to the king. He rescues prisoners, celebrates at forest feasts, uses disguise to trick his enemies, and survives the dangers of town and castle.24

Dieser diffuse Bedeutungskern wird durch zusätzliche Eigenschaften der unterschiedlichen transworld characters erweitert. Im Roman zieht der Herausgeber einen expliziten Vergleich zwischen dem Robin Hood des Manuskripts und dem der spätmittelalterlichen Balladen, in denen der Beginn des immer stärker romantisierten Mythos liegt. Dabei werden große Diskrepanzen zwischen dem selbstlosen Helden aus den Balladen und dem grausamen Häretiker in der Beichte des Mönches sichtbar. In der Terminologie Doležels bzw. Ryans lässt sich konstatieren, dass Thorpes Version des spätmittelalterlichen Robin Hood der Balladen eine Expansion und eine Modifikation seines Charakters erfährt.25 || 23 McHale erklärt die Etablierung von transworld characters durch das Ausleihen eines Charakters aus einer anderen Welt. Vgl. McHale (Anm. 4), S. 57. 24 Knight (Anm. 21), S. 1. 25 Doležel unterscheidet drei Arten von postmodernen Adaptionen eines prototypischen Charakters: Expansion bezeichnet dabei die Bereicherung der Protowelt in der Adaption durch das Einfügen einer Vor- oder Nachgeschichte im Leben des geborgten Charakters; als Beispiel nennt er Jean Rhys’ Roman Wide Sargasso Sea (1966), in dem das Leben einer Nebenfigur aus Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) stärker ausgestaltet wird. Displacement meint hingegen die Übertragung von Figuren von einer Welt in eine andere, bei der das Schicksal und der Lebensweg der Figur verändert werden. Ryan schlägt für diese Form der Transfiktionalität den Begriff der modification vor, da der Begriff displacement zu sehr der dritten Form Doležels, der trans-

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Der Robin Hood des Romans wird mit einer vollständigen Vita ausgestattet, die die Figur psychologisiert und beispielsweise erklärt, weshalb er zu dem brutalen, verbitterten Häretiker geworden ist, den der Mönch in seiner Beichte beschreibt. Dieser transworld character Robin Hood bleibt innerhalb der Fiktion bis auf kleinere Richtigstellungen durch den Übersetzer in allen drei Textwelten identisch. Während der Mönch ihn als Initiator seiner eigenen Verfehlungen konstruiert, bemühen sich Belloes und der Herausgeber, die Schwarzmalerei des Mönches zu relativieren, indem sie dessen Motive offenzulegen suchen. Des Weiteren wird der Robin Hood der TAW in Hodd auf allen Erzählebenen intratextuell als real existierender Mensch konstruiert: Die Leserschaft des Romans weiß jedoch um den fiktiven Status der Figuren auf der Textebene, weshalb die Diskussion um das Wesen Robin Hoods für den Leser nur auf der Ebene der TAW des Romans stattfindet und Robin Hood außerhalb der Fiktion keinesfalls als historisch belegbarer Mensch der vergangenen AW feststeht. Die Frage nach dem Ursprung des Mythos bleibt deshalb außerhalb der Fiktion ungeklärt.

6 Derridas Theorie des Supplements Die in Thorpes Roman modellierte Beziehung zwischen einem vermeintlichen Ursprung und dessen Ersatz mit Hilfe von Text weist Parallelen zu Derridas Modell der Supplemente26 auf. Derridas Theorie kann zur Erklärung und Evaluation des Verhältnisses zwischen dem Mönchsmanuskript und dessen Kopien bzw. Übersetzung herangezogen werden, da sich die drei textuellen Träger des Robin-Hood-Mythos in Hodd durch ihren Supplementcharakter auszeichnen: Die Texte des Herausgebers und des Übersetzers sind Kopien von Kopien. Der Text des Mönches ersetzt das tatsächliche Geschehen in der Vergangenheit. Die ent|| position ähnelt, bei der der prototypische Charakter ohne Veränderung seiner Wesenszüge in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt wird. Als Beispiel führt Doležel Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf (1973) an; in diesem Roman wird Goethes WertherFigur in die DDR der 1960er verlagert. Vgl. Lubomír Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore 1998, S. 206 f. und Marie-Laure Ryan: „Transfictionality Across Media“. In: John Pier/José. Á. García Landa (Hgg.): Theorizing Narrativity. Berlin 2008, S. 385–417, hier S. 385. 26 Der französische Originalbegriff supplément wird in der deutschen Übersetzung der Grammatologie beibehalten, da Derrida den Begriff des suppléments semantisch neu besetzt und ihn neben seiner Bedeutung als ‚Ergänzung‘ auch im Sinne von ‚Ersatz‘ gebraucht. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [De la Grammatologie, 1967]. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger/Hanns Zischler. 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 250.

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standenen Supplemente besitzen, Derridas Argumentation folgend, eine Doppelnatur: Zum einen bereichern sie, wenn „etwas nicht von selbst [H. i. O.] voll werden“27 kann. Zum anderen treten Supplemente gleichzeitig auch als Ersatz an die Stelle von etwas anderem. Die scheinbar entstandene „Überfülle der Präsenz“ ist letztlich aber ein „Supplement der Sache selbst“28. Die Krux, die sich aus dem Einsatz eines Supplements ergibt, besteht darin, dass der Ersatz ein Einsetzen ist für etwas, das nicht da ist: [D]as Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von [H. i. O.]; wenn es auffüllt, dann so, wie wenn man eine Leere füllt. Wenn es repräsentiert und Bild wird, dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Präsenz.29

Das Original rückt dadurch in Vergessenheit, denn das „gefährliche Supplement bricht mit der Natur“30, wenn es die Anwesenheit des Abwesenden suggeriert. Das Supplement, „das Zeichen, das Bild, die Repräsentation, die die abwesende Anwesenheit ersetzt haben, sind Illusionen, die auf eine falsche Spur leiten“31. Derrida zufolge warnt Jean-Jacques Rousseau in Les Confessions (1782) vor der Gefahr, dass nachträgliche Supplementierungen tatsächliche Ereignisse tilgen, ohne sie adäquat ersetzen zu können. Derrida, die poststrukturalistische Historiografie und die historiografische Metafiktion sehen das Supplement weniger als „mittelmäßige[n] Notbehelf“32, sondern stellen vielmehr dessen Potential in den Vordergrund: Als schreckenerregende Bedrohung ist das Supplement der erste und sicherste Schutz – gegen diese Bedrohung selbst. Aus diesem Grund kann unmöglich auf es verzichtet werden. […] Der Ersatz ist nicht nur die Macht, eine abwesende Anwesenheit durch ihr eigenes Bild hindurch zu verschaffen [H. i. O.]: indem er uns diese durch Besorgung von Zeichen verschafft, hält er die Anwesenheit auf Distanz und beherrscht sie.33

Derrida stellt heraus, dass es ohne Supplemente nicht einmal die Spur einer ‚abwesenden Anwesenheit‘ geben kann. Auf Thorpes Roman bezogen lässt sich

|| 27 Derrida (Anm. 26), S. 250. Aus der Existenz des Supplements leitet Derrida auch die „Abwesenheit des Referenten oder des transzendentalen Signifikats“ ab und begründet so seine dekonstruktivistische Sprachphilosophie (ebd.). 28 Derrida (Anm. 26), S. 250. 29 Derrida (Anm. 26), S. 250. 30 Derrida (Anm. 26), S. 261. 31 Derrida (Anm. 26), S. 266. 32 Derrida (Anm. 26), S. 251. 33 Derrida (Anm. 26), S. 268.

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das Potential der Supplemente darin erkennen, dass ein nicht (mehr) existierender Urtext durch die verschiedenen Bearbeitungen erhalten und weitergetragen wird. Je mehr Supplemente sich im Laufe der Zeit anhäufen, desto präziser wird durch die Herausarbeitung ihrer Gemeinsamkeiten die absente Präsenz suggeriert. Gleichzeitig findet aber auch ein – im Rahmen okzidentaler Präsenzmetaphysik imaginierter – Verfall statt, da sich die Kopien immer weiter vom Originaltext, vom vermeintlichen Urzustand, entfernen. Der Mangel an Fülle, an Präsenz oder in diesem Fall an objektiv gültigen Informationen über Robin Hood soll ausgeglichen werden, indem Belloes die Perspektive des Mönches ergänzt und zu komplettieren sucht. Es entsteht ein Supplement des Mönchsmanuskriptes, das sich aus dem edierten, übersetzten und kommentierten Manuskript sowie dem Vorwort Belloes’ zusammensetzt. Wird das eingesetzte Dokument wiederum durch andere Supplemente ersetzt, entsteht eine Kette von Supplementen. In Hodd nutzt der Herausgeber den Übersetzungstext des Historikers als Ersatz für die Kopie des Manuskripts, die wiederum der Ersatz für den Urtext ist. Sowohl der Übersetzer als auch der Herausgeber sind auf unterschiedliche Zerrspiegel angewiesen, in denen der Mythos ‚Robin Hood‘ reflektiert, aber auch verändert wird. So werden etwa neben den Vorworten und den Fußnoten des Herausgebers und des Übersetzers auch Kommentare des Übersetzers in den Fließtext des Mönches eingesetzt, in denen Belloes beispielsweise darauf hinweist, dass er eigenmächtig Informationen aus dem Urtext auslässt. Als der Mönch zum wiederholten Male einen Beweis der eigenen Frömmigkeit ablegen will, unterbricht der Übersetzer diese Tirade resolut mit der nüchternen Zusammenfassung: „Here follow several pages of pious tendentiousness, which I again omit“ (S. 23). Diese Unterbrechung zeigt, wie sehr der Übersetzer einige Passagen des Mönchsberichtes herabwürdigt, wenn sie ihm nicht interessant genug erscheinen. Dass er auf diese Weise eine Zensur seiner Quelle vornimmt, überspielt und rechtfertigt Belloes damit, dass der Text durch das Auslassen von Textteilen leserfreundlicher werde. Da außerdem auch der Herausgeber in den Text des Übersetzers eingreift, indem er dessen Fußnoten ediert, erweitert und durch Fettdruck differenziert, kommt es zu mehrfachen Transgressionen der Grenzen zwischen den Erzählebenen. Die daraus resultierende, für Metafiktionen typische Bewusstmachung der Erzählebenen bricht fast ununterbrochen die Illusion der Binnengeschichte und verhindert ein Abtauchen der Leserschaft in die Welt des Mönches. Stattdessen wird dem Leser eine kritische Beobachterrolle auf einer Metaebene zugewiesen. Trotz ihrer Eingriffe in den Binnentext und der Betonung, dass das vorliegende Dokument nur noch die Übersetzung einer lateinischen Kopie einer Kopie eines verloren gegangenen Originals ist, evoziert die pseudowissenschaftliche

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Vorgehensweise des fiktionalen Herausgebers und des Übersetzers die Existenz eines Urzustandes , in dem es eine vollständige Fülle gab. Über die Gestalt einer vergangenen AW kann nur mittels einer Hypothese bzw. eines Textes gesprochen werden. So wird das nicht theoretisierte Alltagsbewusstsein des fiktionalen Herausgebers illustriert, wenn dieser nach mindestens vier inzwischen entstandenen Supplementen immer noch davon überzeugt ist, dass Robin Hood tatsächlich, wie im Bericht des Mönches behauptet, um das Jahr 1225 gelebt hat und zu dieser Zeit etwa dreißig Jahre alt und ein Psychopath war. Über eine Welt, in der Robin Hood durch Charakteristika wie ‚grausam‘ oder ‚häretisch‘ beschrieben wird, kann zwar gemutmaßt werden, dass sie möglich sei, nicht aber, dass sie der außertextuellen Welt entspreche. Mögliche textuelle Welten sorgen dafür, dass die aktuale, außertextuelle Welt präsent und absent zugleich bleibt. Historiografische Metafiktionen, die wie Hodd die ‚abwesende Anwesenheit‘ der AW am Beispiel des fehlenden Originals repräsentieren, dramatisieren imaginativ die Effekte von Textsupplementen. So wird der Unterschied zwischen der unergründbaren AW und möglichen Textwelten sichtbar und die Bedeutung der Textwelten umso größer, da in ihnen ausgehandelt wird, was – für einen bestimmten Zeitraum – als Vergangenheit gelten soll.

7 Grenzgänge zwischen den Welten Historiografische Metafiktionen thematisieren den Weltenentwurf historiografischer Texte, indem sie diesen in einem fiktionalen Rahmen imitieren und die Gleichsetzung von TAW und AW parodieren. Des Weiteren integrieren sie innerhalb eines fiktionalen Textes Anteile, die auf nichtfiktive Welten und nichtfiktionale Texte verweisen. Auf die postmoderne Tendenz, in historiografischer Metafiktion für die Nivellierung des ontologischen Unterschiedes zwischen faktisch nachprüfbaren und fiktionalen Erzählungen bzw. Versatzstücken innerhalb von Erzählungen zu plädieren, folgt in Hodd die Gegenbewegung hin zur erneuten Manifestierung dieses Unterschiedes. Während in prototypischen Vertretern des Genres die Grenzen zwischen Fiktion und Nichtfiktion bewusst verwischt werden, setzt sich Hodd für nachvollziehbare Grenzziehungen im Bewusstsein ihrer (pragmatischen) Notwendigkeit ein. Das Festhalten an einer hypothetischen, aktualen Welt ist nicht gleichzusetzen mit dem positivistischen Glauben an die Erkennbarkeit derselben. Zweifel an der Abbildbarkeit der AW sind schon in Hutcheons Thesen gegen Ende der 1980er Jahre angelegt:

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It is not that truth and reference have ceased to exist, as Baudrillard claims; it is that they have ceased to be unproblematic issues. We are not witnessing a degeneration into the hyperreal without origin or reality, but a questioning of what ‘real’ can mean and how we can know [H. i. O.] it.34

In der narrativistisch ausgelegten Historiografie lässt sich nach den 1980er Jahren ein ähnliches, wenn auch implizites Zugeständnis bezogen auf ontologische Grenzziehungen beobachten. Historiker wie Holt stellen ihren Standardwerken zum Robin-Hood-Mythos zum Teil einen pessimistischen Ausblick voran: „There is a quiverful of possible Robin Hoods. Even the likeliest is little better than the shot in the gloaming.“35 Auf den ersten Blick suggeriert seine Zusammenfassung der Ergebnisse der Robin-Hood-Forschung, dass alle Bemühungen von Historikern vergeblich sind, „to contain Robin Hood, constrain the complex mythic figure into narrow physical compass, biographical, not mythical“36. Allerdings folgt auf diesen Ausdruck des Bedauerns sowohl bei Holt als auch bei Knight eine detaillierte Auseinandersetzung mit den historisch überlieferten Quellen, die keinesfalls einen vergeblichen ‚Schuss ins Blaue‘ darstellen, sondern eine in Fachbüchern über historische Ereignisse oder Personen übliche Praxis darstellen. Holt resümiert, die Antwort auf die Frage „‘Who was Robin Hood’“ müsse sein: „‘There where more than one.’ That still leaves room for an original, but there can be no certainty as to who it may have been.“37 Holt macht deutlich, dass auch der Produzent eines nichtfiktionalen historiografischen Textes nur ohne Anspruch auf Gewissheit die Geschichte von Supplementen erzählen kann, die Geschichte der „in unendlicher Widerspiegelung [H. i. O.] statthabende[n] Repräsentation der Präsenz“38. Die historische Person Robin Hood der vergangenen AW bleibt für Romanautoren wie Historiker absent. Allerdings bedeutet diese Tatsache nicht, dass alle Versuche einer Rekonstruktion in Jean Baudrillards hyperrealer Welt enden müssen.39 Durch die Herausstel-

|| 34 Hutcheon (Anm. 1), S. 223. 35 Holt (Anm. 6), S. 7. 36 Knight (Anm. 21), S. xii. 37 Holt (Anm. 6), S. 190. 38 Peter Zima: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen u. a. 2001, S. 281. 39 Baudrillard geht davon aus, dass die gesamte Wirklichkeit durch Symbole, Bilder und Zeichen ersetzt wurde. In dieser hyperrealen Welt fungiert Baudrillards Simulacrum als Simulation einer Wirklichkeit, die nicht mehr präsent ist und die auch nicht durch die Simulation abgebildet wird. An die Stelle der Wirklichkeit setzt sich das Simulacrum: „[I]t masks the absence [H. i. O.] of a basic reality [...], it bears no relation to any reality whatever: it is its own pure simulacrum.“ Jean Baudrillard: „The Precession of Simulacra“. In: Brian Wallis (Hg.): Art after

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lung des kreativen Potentials der Supplemente durch Derrida wird deutlich, dass eine Figur wie Robin Hood erst präsent werden kann, wenn sie in verschiedenen Texten repräsentiert und evoziert wird. Aus dem Surrogat verschiedener Supplemente können nach einem vorsichtig abwägenden Vergleich Aussagen über die Relation und Natur der Supplemente getroffen werden. Wenn Robin Hood auch nicht in der außertextuellen Welt verortet werden kann, so können durch das Studium mittelalterlicher Texte oder durch Texte über das Mittelalter, seien sie fiktionaler oder nichtfiktionaler Natur, dennoch Hypothesen über das Leben im englischen Mittelalter abgeleitet werden. Knight resümiert daher: „To study Robin Hood is to study over five hundred years of the development of modern concepts of heroism, art, politics, and the self.“40 Thorpes Roman nimmt Knights Zusammenfassung ernst, indem er nicht nur die Geschichte des Mönches als bedeutsam kennzeichnet, sondern auch das Leben des Übersetzers in den Vordergrund rückt. So lässt sich nicht nur Wissen über das englische Mittelalter und den ersten Weltkrieg generieren, sondern auch Wissen darüber, wie der Mythos ‚Robin Hood‘ zu bestimmten Zeitpunkten in der Geschichte narrativisiert und funktionalisiert worden ist. Die Grenze zwischen fiktionaler Literatur und nichtfiktionaler Historiografie verschwimmt für den Leser dabei nicht, da der Roman bei aller Parodie wissenschaftlicher Konventionen doch markiert, welche Quellen im Text fiktiver bzw. nichtfiktiver Natur sind. Dabei bleibt das historiografische Faktum ein vom Menschen gemachtes Konstrukt und ist aufgrund dessen an die textuellen möglichen Welten gebunden, mit denen es kreiert wurde. Die präsentierten Fakten über Robin Hood, das Mittelalter und den ersten Weltkrieg werden mit Hilfe eines fiktionalen Textes vermittelt und erreichen so auch Leser, die mit dem Fachdiskurs um den Robin Hood der spätmittelalterlichen Balladen nicht vertraut sind. Die durch Hodd anzitierten und evozierten nichtfiktionalen Texte tradieren Wissen, das funktionale Erklärungen für Ereignisse der vergangenen aktualen Welt liefert, ohne mit der aktualen Welt korrespondieren zu müssen. In seinem demonstrativen Aufzeigen der Grenzen zwischen fiktiven und nichtfiktiven Welten sowie zwischen der aktualen Welt und möglichen Welten geht Hodd über die Weltentwürfe postmoderner historiografischer Metafiktionen hinaus.

|| Modernism: Rethinking Representation. Übers. v. Paul Foss/Paul Patton. New York 1986, S. 253– 281, hier S. 256. 40 Knight (Anm. 21), S. 208.

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Carmen Lăcan

Transworld Characters Interferenzen zwischen realer Welt und der Textwelt von Peter Handkes Don Juan Dass eine Figur mit demselben Namen in verschiedenen fiktiven Welten vorkommt, ist in der Literaturwissenschaft schon als Phänomen beschrieben und mit unterschiedlichen Bezeichnungen benannt worden. So verwenden Lubomír Doležel und Thomas G. Pavel in ihren einschlägigen Arbeiten den Terminus transworld identity,1 während Uri Margolin solche Figuren als itinerant (transworld) individuals oder einfach als versions bezeichnet.2 Die neuesten Untersuchungen zu diesem Phänomen bevorzugen Begriffe wie transtextual und transmedial characters.3 Über diese terminologischen Variationen hinaus versuchen Literaturwissenschaftler auf dieselbe grundlegende Frage einzugehen, nämlich wie der ontologische Status einer solchen Figur zu bestimmen sei. In einem zweiten Schritt konzentrieren sich die Literaturtheoretiker darauf, unter Berücksichtigung der Beziehungen zwischen der Originalfigur und ihren Varianten eine Klassifikation zu erstellen, anhand derer das Phänomen besser verdeutlicht und erklärt werden kann. Im Anschluss daran sollen die folgenden systematisch ausgerichteten Überlegungen die Identität von transworld characters neu bewerten, indem der Akzent nicht mehr auf die strukturellen Eigenschaften der Figur und auf quantitative Maßstäbe gelegt wird, sondern eine prozessual orientierte Annäherung an die Figurengestaltung im Vordergrund steht. Die vorliegende Untersuchung zielt darauf ab, sowohl die Unterschiedlichkeit der Interferenzen zwischen den Welten zu veranschaulichen als auch den Einfluss dieser Interferenzen auf die Konstruktion der Figur näher zu präzisieren.

|| 1 Vgl. Thomas G. Pavel: Fictional Worlds. Cambridge 1986; Lubomir Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998. 2 Vgl. Uri Margolin: „Individuals in Narrative Worlds: An Ontological Perspective“. In: Poetics Today 11/4 (1990), S. 843–871; Ders.: „Characters and Their Versions“. In: Calin-Andrei Mihăilescu/Walid Hamarneh (Hgg.): Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics. Toronto u. a. 1996, S. 113–132. 3 Vgl. dazu Brian Richardson: „Transtextual Characters“. In: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hgg): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film and Other Media. Berlin/New York 2010, S. 527–541; Werner Wunderlich: „Cenerentola Risen From the Ashes. From Fairy-Tale Heroine to Opera Figure“. In: Ebd., S. 542–567. https://doi.org/10.1515/9783110626117-007

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1 Die Gestaltung von transworld characters Der Begriff der Figur lässt sich ziemlich deutlich aus der Sicht der possible worlds theory fassen. In Anlehnung an Doležel definiert Margolin die Figur folgendermaßen: Possible non-actual INDS [individuals] are entiae rationis [sic!]: abstract objects, freely devised or constructed by an actual human mind in acts of hypothesizing, supposing, or imagining. They are called into existence and intersubjectively manifested by means of entity-invoking expressions, such as proper names and definite descriptions.4

Konzentriert sich die Begriffsbestimmung der Figur einerseits auf die Abgrenzung zwischen realen und fiktiven Individuen und andererseits auf die innere Struktur der Figur, so richtet sich die Definition der Figur im Falle von transworld identity auf die Identitätsproblematik, so wie sie sich aus Doležels Untersuchungen entnehmen lässt: Er definiert transworld identity als „[a] relationship of identity between entities that are located in different possible worlds“5. Egal ob die Figur ein reales Pendant hat, d. h. eine wirkliche Person, z. B. eine historische Persönlichkeit, oder ein fiktives, d. h. eine andere nicht-wirkliche Figur einer möglichen Welt, stellt sich die Frage nach der Identität zwischen Original und Version. Literaturtheoretiker haben versucht, diese Frage sowohl mit strukturellen Charakteristika als auch mit quantitativen und qualitativen Maßstäben zu beantworten. So interessiert sich Margolin für die Bestimmung eines „minimal degree of similarity required for the counterpart relation“6. In derselben Untersuchung geht er der Frage nach, ob es wesentliche Eigenschaften der Figuren gibt, welche alle Versionen beibehalten müssen, damit Beziehungen zum Original aufrechterhalten werden. Zu diesem Zweck kategorisiert Margolin in Anlehnung an Doležel die narrativen Eigenschaften der Figur und teilt sie in drei Merkmalsgruppen ein: Die erste Gruppe beinhaltet die Zeit-Raum-Koordinate und das Verhältnis der Figur zu den anderen Figuren aus derselben fiktiven möglichen Welt. Die zweite Gruppe von Merkmalen bezieht sich auf die Funktionen der Figuren für die Handlung bzw. auf die aktantiellen Rollen, und die dritte Gruppe schließlich enthält die intrinsischen mentalen und psychischen Eigenschaften der Figur. Obwohl diese Kriterien recht heuristisch zu sein scheinen, ist die Bestimmung eines minimalen Ähnlichkeitsgrades nicht mög-

|| 4 Margolin (1990, Anm. 2), S. 847. 5 Doležel (Anm. 1), S. 282. 6 Margolin (1996, Anm. 2), S. 119.

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lich, wie auch Margolin schlussfolgert: „As the preceding examples show, a specific minimal degree of similarity between prototype and surrogate, without which the counterpart relation does not hold, cannot be indicated.“7 Demgemäß erweist sich der Identifizierungsprozess eines stabilen Kerns schwer abgrenzbar und demzufolge auch vage. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es fast unmöglich scheint, zu entscheiden, welche Eigenschaften wesentlich bzw. unwesentlich sind, wie auch Maria E. Reicher in ihrer Abhandlung über die Ontologie der Figur hervorhebt: The tricky question is, of course, which of a character’s internal properties are supposed to be essential and which are not. What is the ‘essence’ of a character? The distinction between ‘essential’ (or ‘necessary’) and ‘inessential’ (or ‘contingent’) properties is a big metaphysical burden. I am afraid that it is impossible to draw a sharp line between a character’s essential properties on the one hand and its inessential properties on the other without arbitrariness. […] But the metaphysical concept of ‘essence’ does not allow for arbitrariness. Therefore, it seems that the distinction between essential and inessential properties must be dropped altogether.8

Als unbestritten erweist sich trotzdem die Tatsache, dass ein minimaler Ähnlichkeitsgrad zwischen Original und Version besteht. Auch wenn sich kein stabiler Kern der Figur festlegen lässt, ist das Abhängigkeitsverhältnis der Version vom Original offensichtlich. Die Ähnlichkeiten lassen sich anhand des principle of minimal departure9 aufschlussreich für die Gestaltung der Figur erklären. Nach diesem Prinzip erfolgt die Rekonstruktion der fiktiven Textwelt auf der Folie der wirklichen Welt, solange keine Abweichung durch den Text explizit erwähnt bzw. implizit nahegelegt wird. Zur Referenzwelt des Textes kann nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch eine andere fiktive Textwelt zählen, so dass in solchen Fällen die Intertextualität als maßgeblich für die Konstruktion einer neuen fiktiven Welt anzusehen ist. Marie-Laure Ryan hebt den interdependenten Charakter von Intertextualität und des principle of minimal departure hervor: „[T]he functioning of minimal departure depends as much on intertextual relations as the functioning of intertextuality relies on minimal departure.“10 Im Anschluss daran lassen sich auch die Ähnlichkeiten zwischen Figu-

|| 7 Margolin (Anm. 2), S. 868. 8 Maria E. Reicher: „The Ontology of Fictional Characters“. In: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hgg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film and Other Media. Berlin/New York 2010, S. 111–133, hier S. 127 f. 9 Vgl. dazu Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington 1991, S. 51. 10 Ryan (Anm. 9), S. 54.

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ren aus unterschiedlichen fiktiven Welten betrachten: Wenn die Figur eines Textes intertextuelle Bezüge zu einer anderen Figur aufweist, dann übernimmt die Figur alle Eigenschaften der Figur aus dem Hypotext11 gemäß einer minimalen Abweichung. Solange diese Eigenschaften nicht im Widerspruch zur aktualen fiktiven Textwelt stehen, dienen sie als Voraussetzung zur Konstruktion der Figur. Der Versuch, das Identitätsproblem der Figur durch Reduktion auf ihre wesentlichen Merkmale zu klären, erweist sich demzufolge als äußerst problematisch. Wie oben dargelegt, behandelt die Literaturwissenschaft das Problem als eine einzige Fragestellung. Diese scheint mir aber mehrere Aspekte zu beinhalten und nur mit Hilfe mehrerer Argumentationen beantwortet werden zu können. Schaut man sich genauer die Begriffserklärung von transworld identity an, welche den Bezugsrahmen der Figur in der realen oder in einer fiktiven Welt etabliert, so lässt sich festhalten, dass die Beziehung zwischen dem Original und der Version ganz unterschiedlich, je nach Art des ontologischen Status der Welt, in der die Originalfigur ‚beheimatet‘ ist, eingeordnet werden kann. Die Verschiedenartigkeit der Beziehungen zwischen dem Original bzw. Prototyp und der Version lässt sich nach Margolin in drei Typen unterteilen, in intratextuelle, intertextuelle oder extratextuelle Beziehungen.12 Dementsprechend lässt sich meines Erachtens die Kernfrage nach der Identität der Figur im Hinblick auf drei Aspekte verzweigen: 1. Die Identifizierung der Figur innerhalb derselben möglichen Welt, 2. die Identifizierung der Figur aus einer möglichen Welt (W1) mit einer Figur aus einer anderen möglichen Welt (W2) und 3. die Identifizierung der Figur aus einer möglichen Welt mit einer realen, historischen Person aus der wirklichen Welt. Betrachtet man diese Typlogie, so wird ersichtlich, dass die Identifizierung der Identität zwischen dem Prototyp und der Version nach unterschiedlichen Kriterien verläuft. Im ersten Fall der intratextuellen Beziehung bezieht sich die Identität der Figur auf das Prinzip der Beständigkeit in der Zeit. Im zweiten Fall der intertextuellen Beziehung gilt das Ähnlichkeitsprinzip als entscheidendes Krite-

|| 11 Im Bezug auf das Intertextualitätsverhältnis zwischen zwei Texten verwendet Gérard Genette zwei Termini, nämlich Hypertext und Hypotext. Unter Hypotext versteht Genette den vorhergehenden Text, also den Originaltext, und unter Hypertext den aktuell vorliegenden Text. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [Palimpsestes. La Littérature au second degré, 1982]. Übers. v. Wolfram Bayer/Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1996. 12 Vgl. Margolin (1996, Anm. 2).

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rium für die Beurteilung, ob eine Figur aus einer möglichen Welt (W1) identisch mit einer Figur aus einer anderen möglichen Welt (W2) ist. Auch für den dritten Fall, die extratextuelle Beziehung, gilt das Prinzip der Ähnlichkeit. Obwohl das bestehende Verhältnis zwischen dem wirklichen Original und der Version nicht geleugnet wird, sind sich die Theoretiker darüber einig, dass die Figur aus einer fiktiven Welt nicht äquivalent zu dem realen13 Prototyp sein kann. Das unwiderlegbare Argument dafür stützt sich auf die klare Unterscheidung zwischen einer fiktiven Entität und einer realen Person, welche die Semantik möglicher Welten etabliert. In Kein Ort. Nirgends (1979) von Christa Wolf wird eine Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode erzählt. Die beiden sind als Protagonisten der fiktiven Welt und nicht als reale Personen wahrzunehmen, auch wenn die Figuren des Textes bestimmte Ähnlichkeiten mit den realen Dichtern aufweisen. Die intratextuelle Beziehung stellt den ontologischen Status der Figur auf die Probe aus der Sicht ihrer Beständigkeit in der Zeit. Indem der Text keinen Hinweis in Bezug auf die Bestätigung einer gültigen Variante liefert, anhand derer der Leser beurteilen kann, welche Version im Hinblick auf die Figurenidentität die wahre ist, sind alle im Text dargestellten Versionen gleichberechtigt, ebenso glaubwürdig und demzufolge auch ontologisch gleich situiert. Eine solche Situation wird z. B. in Mein Name sei Gantenbein (1964) von Max Frisch dargestellt: Der Rezipient kann bis zum Ende des Romans nicht eindeutig bestimmen, wie viele Figuren handeln, da sich anscheinend vier Identitäten, nämlich ein Ich-Erzähler, Gantenbein, Enderlin und Svoboda, herauskristallisieren und sich zugleich bis zur völligen Überlappung verflechten. Das Fehlen eines Hinweises bezüglich einer zeitlichen Kontinuität zwischen der Figur und ihren vermeintlichen Versionen, oder besser gesagt, ihren Hypostasen, macht es unmöglich, eine Figurenidentität von den anderen scharf abzugrenzen. Nicht derart übereinstimmend sind die Auffassungen der Theoretiker über die intertextuelle Identifizierung der Figur aus einer möglichen Welt (W1) mit einer Figur aus einer anderen möglichen Welt (W2). Weil das Ähnlichkeitskriterium, wie bereits angesprochen, nicht scharf präzisiert werden kann, kristallisieren sich mehrere Auffassungen und Erklärungen heraus. Pavel behauptet, wenn sich die Figuren ähnlich sind, dann bildet die nachträgliche Figur nur eine stellvertretende Variante derselben (originalen) Figur.14 Gleicher Auffas-

|| 13 Zur Gegenüberstellung „fiktiv“–„real“ vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 2012, S. 15 f.: „Fiktiv [H. i. O.] steht im Gegensatz zu ‚real‘ und bezeichnet den ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten.“ 14 Vgl. Pavel (Anm. 1), S. 33–37.

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sung ist auch Brian Richardson, wie sich aus seiner Klassifizierung von transtextual characters ergibt. Indem Richardson das Ähnlichkeitsprinzip als allein gültiges Beurteilungskriterium annimmt, differenziert er schlicht zwischen Figuren aus verschiedenen fiktiven Welten unterschiedlicher Autoren, welche, obwohl sie denselben Namen tragen, verschiedene Identitäten haben („different author, different character“), und Figuren aus unterschiedlichen fiktiven Welten, welche miteinander identisch sind („different author, same character“).15 Ausgehend von demselben Beurteilungskriterium beschreibt Margolin die Version eines Prototyps entweder als counterpart, wenn zwischen beiden ein minimaler wesentlicher Ähnlichkeitsgrad besteht, oder als ‚Homonym‘ des Originals, wenn „an entirely different, unrelated individual“16 vorliegt. Es soll unterstrichen werden, dass Margolin unter counterpart-relation nicht das Identische zwischen dem Original und der Version bezeichnet: Following David Lewis once again, I hold that it makes little sense to speak of an identity relation between INDs in different, disjointed possible worlds. INDs are world-bound. Instead, we can say that each surrogate stands in a relation of counterparthood to its prototype, this relation being nontransitive and asymmetrical. The counterpart relation is based on overall similarity between prototype and surrogate.17

Berücksichtigt man nur das Ähnlichkeitsprinzip als einziges Beurteilungskriterium für die Bestimmung des ontologischen Status, so ergibt sich meines Erachtens keine befriedigende Lösung. Möchte man den ontologischen Status der transworld characters klären, so scheint mir wichtig, zum einen die literarische Kommunikation und zum anderen den Begriff der Intertextualität aus der Sicht der possible worlds theory zu berücksichtigen. Doležel zufolge lässt sich die literarische Kommunikation verstehen als eine Interaktion zwischen dem Autor, welcher den Text produziert und dadurch auch die fiktive Welt konstruiert, und dem Leser, welcher den Text rezipiert und dadurch die fiktive Welt rekonstruiert.18 Obwohl diese Prozesse, die Produktion bzw. die Rezeption, symmetrisch zu sein scheinen, betont Doležel, „these acts are not equivalent but complementary. While highlighting the active role of the reader, we insist on the asymmetry of control in literary communication.“19 Betrachtet man das Phänomen der In-

|| 15 Richardson (Anm. 3), S. 530–536. 16 Margolin (1996, Anm. 2), S. 124. 17 Margolin (1990, Anm. 2), S. 865. 18 Vgl dazu Doležel (Anm. 1), S. 202–205. 19 Doležel (Anm. 1), S. 205.

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tertextualität im Rahmen dieses literarischen Kommunikationsschemas, so lässt sich Folgendes festlegen: Der Autor eines Hypertextes ist vorher der Leser eines Hypotextes. Demzufolge setzt ein Hypertext immer den Prozess der Rekonstruktion der im Hypotext dargestellten fiktiven Welt voraus. Da der Prozess der Rekonstruktion nie identisch mit dem Akt des Schaffens, also der Konstruktion, sein kann, lässt sich schlussfolgern, dass die fiktive Welt des Hypertextes nie identisch mit der fiktiven Welt des Hypotextes sein kann. Dieselbe Konklusion gilt auch für die Figur als Element der fiktiven Welt: Es gibt keine Entsprechung in Form einer Eins-zu-Eins-Relation zwischen dem Prototyp und der Version, wie auch Roland Harweg pointiert ausführt: „[T]he non-identity of [...] worlds also implies the non-identity of the persons living in them.“20 Demzufolge kann die Figur aus einem Hypertext, also die Version, einer Figur aus dem Hypotext, dem Original, sehr ähnlich, aber nie mit ihr identisch sein. Es erhebt sich die Frage, ob man im Falle von Varianten derselben Geschichte, wie sie oft in der folkloristischen Literatur zu finden sind, von einer identischen Figur sprechen kann. In einer solchen Situation sollte die Antwort nicht nur theoretische Gründe, sondern auch empirische Untersuchungen implizieren, nämlich einen genauen Vergleich der Varianten. Wie schon dargelegt, lässt sich Folgendes zusammenfassen: Figuren aus zwei unterschiedlichen fiktiven Welten können sehr ähnlich sein, aber nicht identisch. Es bleibt aber die Frage nach der Art der Beziehung zwischen dem Original und der Variante. Die Antwort findet sich meines Erachtens in der Figurenkonstruktion selbst. Hierzu stütze ich mich auf das von Ralf Schneider übernommene Modell der Figurenrezeption.21 Schneider hebt hervor, dass die Figurenrezeption durch Informationen unterschiedlicher Herkunft gesteuert wird: Die Informationen werden teils vom Text selbst geliefert, teils vom Leser durch den Rückgriff auf verschiedene Wissensbestände aktualisiert. Zu den Wissensbeständen gehören auch literarische Informationen wie intertextuelle Hinweise. Im Anschluss an dieses Modell der Figurenrezeption und -gestaltung lässt sich die Beziehung zwischen dem Prototyp und seiner Variante folgendermaßen beschreiben: Für die Konstruktion der Variante dient das Original als extratextuelle Informationsquelle. Anders gewendet, stellt der Prototyp das kulturelle Weltwissen (wenn es um eine historische Person geht) oder den literari-

|| 20 Roland Harweg: „Are Fielding’s Shamela and Richardson’s Pamela One and the Same Person? A Contribution to the Problem of the Number of Fictive Worlds“. In: Style 38/3 (2004), S. 290–301, hier S. 299. 21 Vgl. Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000.

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schen Wissensbestand (im Falle einer fiktiven Figur) für die Konstruktion der Variante dar. Ein sehr gutes Beispiel zur Verdeutlichung des Gesagten ist der Fall derjenigen Figuren, welche so berühmt und demzufolge auch sehr einflussreich werden, dass sie zunehmend dem kulturellen Weltwissen angehören. Hierzu zitiere ich Margolin: [S]ome fictional INDs created by leading authors assume a further life of their own; they undergo a process of culturalization, where they finally become common cultural property, such that many or even most participants in the culture do not even know which is the first text in which they occur. [...] The proper name of such INDs are now well on their way to becoming common names or class concepts, as indicated in English by their use with the indefinite article (a Don Juan).22

Offensichtlich ist dies ein extremes Beispiel – obwohl es nicht selten in der Literatur bzw. in der Kultur anzutreffen ist –, das jedoch gut dazu dient, die Beziehung zwischen dem Prototyp und der Variante zu veranschaulichen. Weil ein minimaler Ähnlichkeitsgrad oder ein wesentlicher unabdingbarer Kern nicht scharf präzisiert werden können, erweisen sich die bisherigen Herangehensweisen wenig aufschlussreich und manchmal gar irreführend für die Figurenanalyse. Doležel bemerkt in Bezug auf Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1972) Folgendes: It is interesting to note that ideological critics minimize the connection between Goethe’s and Plenzdorf’s novels. In Marcel Reich-Ranicki’s opinion, rightly rejected by Jauss, Plenzdorf’s recourse to Goethe’s Werther is just “an amusing trick”. The ideological critic fails to understand that Plenzdorf’s book, though necessarily bound to local historical and political conditions, expresses a universal postmodernist need to reevaluate the classical canon.23

Die reine (Un-)Ähnlichkeit erweist sich daher als ein ungenügendes Analysekriterium für die Bestimmung des ontologischen Status der Figur, sie stellt aber einen Grundbestandteil der Figurengestaltung dar. Das Ähnlichkeits- bzw. Unähnlichkeitskriterium bestimmt sowohl die Beziehungen zwischen den Welten als auch die Konstruktion der Figur eines Hypertextes.

|| 22 Margolin (1996, Anm. 2), S. 116 f. Hierzu auch Peter W. Nesselroth: „When fictional names become part of our cultural knowledge, they acquire the same value and functions as historical names […].“ Peter W. Nesselroth: „Naming Names in Telling Tales“. In: Calin-Andrei Mihăilescu/Walid Hamarneh (Hgg.): Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics. Toronto u. a. 1996, S. 132–143, hier S. 141. 23 Doležel (Anm. 1), S. 272 f.

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Betrachtet man die Konstruktion einer Figur mit intertextuellen, oder, laut Gérard Genette, mit hypertextuellen Bezügen, so lässt sich feststellen, dass die Gestaltung der Figur aus vielen extratextuellen, oder, genauer gesagt, transweltlichen Charakteristika besteht. Es sind dies jedoch Eigenschaften, die nicht aus dem Text allein ersichtlich werden, sondern die sich immer erst unter der Berücksichtigung der vom Hypotext etablierten Bezugsrahmen herauskristallisieren, d. h., die nur im Rückgriff auf intertextuelle Informationen abgerufen und aktualisiert werden können. Deshalb scheint mir die Untersuchung der Interferenzen zwischen den Welten und ihrer Einflüsse auf die Figurengestaltung vielversprechend für die Figurenanalyse zu sein. Wie oben erwähnt, sind sowohl die Interferenzen zwischen den Welten als auch die Beziehung zwischen dem Prototyp der Figur und seiner Version von dem Ähnlichkeits- bzw. Unähnlichkeitsprinzip geprägt. Um ein heuristisches Potenzial für die Figurenanalyse aufzuzeigen, soll dieses Kriterium nicht allein, sondern in Zusammenhang mit unterschiedlichen Arten von intertextuellen Umschreibungsstrategien betrachtet werden. Laut Margolin lassen sich diese Strategien in fünf Sorten eingruppieren: völlige Überlappung, Einbeziehung des Originals in der Version, Einbeziehung der Version im Original, Überschneidung bzw. teilweise Überlappung und völliger Mangel an Überlappung.24 Diese intertextuellen Strategien setzen eine semantische Konstruktion voraus, welche den klassischen rhetorischen Operationen Addition, Subtraktion, Substitution und Permutation entsprechen. Margolin hebt hervor, dass daraus graduell unterschiedliche Arten von (Un-)Ähnlichkeiten entstehen. Ebenso unterschiedlich beeinflussen diese auch die Figurengestaltung der Version, möchte ich hinzufügen. Je nach Art der semantischen Konstruktion der fiktiven Welt und der zu ihr gehörenden Elemente wird auch die Figur des Hypertextes anders gestaltet. Für eine Beispielanalyse all dieser Arten von intertextuellen Umschreibungsstrategien in Zusammenhang mit der Figurengestaltung steht hier aber nicht der geeignete Raum zur Verfügung. Aus diesem Grund werde ich mich auf eine Beispielanalyse beschränken.

|| 24 Vgl. Margolin (1990, Anm. 2), S. 119. Im Fall der völligen Überlappung besitzen die Version und das Original alle und nur die Eigenschaften des anderen. Wenn das Original in der Version einbezogen wird, dann weist die Version alle aber nicht nur die Eigenschaften des Originals auf. Wird die Version im Original einbezogen, so besitzt die Version nur aber nicht alle Eigenschaften des Originals. Im Fall der Überschneidung bzw. der partiellen Überlappung verfügen sowohl das Original, als auch die Version über einen gemeinsamen Merkmalsatz, aber jeder ist auch durch andere distinktive Merkmale gekennzeichnet. Wenn es um einen völligen Mangel an Überlappung geht, dann haben die Version und das Original keine gemeinsame Eigenschaft außer dem Eigennamen.

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Wie die intertextuelle Strategie die Gestaltung der Figur jeweils im Einzelfall beeinflusst, lässt sich jedoch aus mindestens zwei Gründen nicht vorab theoretisch festlegen. Erstens gibt es zahlreiche Formen und Mischformen der Intertextualität, welche sich über eine breite Skala von Versionen erstrecken. Zweitens gibt es keine Eins-zu-eins-Relation zwischen den Formen der intertextuellen Strategien und ihrer Einwirkungen auf die Figurengestaltung, d. h., dass eine bestimmte Erscheinungsform von Intertextualität nicht eine ihr inhärente Einwirkung auf die Figurengestaltung ausübt, sondern je nach Werkzusammenhang unterschiedliche Einflüsse hat.

2 Interferenzen zwischen Welten und ihre Einflüsse auf die Figurengestaltung in Peter Handkes Don Juan (erzählt von ihm selbst) Da die Interferenzen zwischen den fiktiven Welten des Hypotextes und denjenigen des Hypertextes die Figurenkonstruktion bestimmen, möchte ich mich auf die Einflüsse dieser Interferenzen auf die Figurengestaltung konzentrieren. Demzufolge liegt der Schwerpunkt folgender Untersuchung nicht nur auf der Identifizierung und Hervorhebung der Ähnlichkeiten bzw. Unähnlichkeiten zwischen den Figuren des Hypotextes und des Hypertextes, sondern auch auf deren Wirkung auf die Figurenidentität. Im Folgenden wird Peter Handkes Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) unter diesem Fokus betrachtet. Der Ruhm der Don Juan-Sage erstreckt sich über Jahrhunderte hinaus, so dass diese Figur ab dem frühen 17. Jahrhundert25 bis heutzutage ständige Variationen aufweist. Don Juans Prototyp wird sowohl transgenerisch durch sein Vorkommen in Novellen, Romanen und in Theaterstücken, als auch intermedial stetig variiert, indem sein Charakter in Theater, Oper, Ballet und Film verarbeitet wird. Wie all diese Versionen zur Gestaltung der aktuellen Identität des Don Juans in Handkes Roman beitragen, wird im Folgenden analysiert. Da der Rückgriff auf eine prototypische Figur nie voraussetzungslos, sondern immer schon durch Ähnlichkeiten geprägt ist, stellen bestimmte Verweise auf die Originalfigur des Hypotextes Annährungen zwischen ihr und der Figur

|| 25 Die Komödie Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast (El burlador de Sevilla y convidado de piedra, 1630) von Tirso de Molina gilt als die erste literarische Version des Don Juan-Stoffes.

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des Hypertextes her oder führen sogar zu einer anscheinenden Überlappung. In Anlehnung an den Prototyp wird Handkes Don Juan-Version nach dem Prinzip der minimalen Abweichung konstruiert. In Anbetracht dieser Regel wird Don Juans Profil möglichst prototypisch übernommen, so dass ein Vertrautheitsgefühl beim Rezipienten schon am Anfang des Textes entsteht: Und obwohl wir zwei so zum ersten Mal aufeinandertrafen, erschien mir dieser Eindringling da augenblicklich vertraut. Ich wußte, auch ohne daß er sich vorzustellen brauchte – wozu er ohnedies nicht imstand gewesen wäre, sein Atem ein einziges, sonderbares Singen –: Ich hatte Don Juan vor mir; und nicht „einen“ Don Juan, nein, ihn, Don Juan. Nicht oft, aber doch immer wieder in meinem Leben sind mir solche Wildfremden, gerade sie, auf den ersten Blick vertraut vorgekommen, und diese Vertrautheit hat jedesmal, ohne daß sie sich im Bekanntwerden eigens zu vertiefen brauchte, weitergeführt. Es war mit ihr etwas anzufangen.26

Wie sich aus diesem Auszug ergibt, wird Don Juans Profil nicht im Einzelnen präzisiert, weil seine Identität bereits durch die einfache Erwähnung seines Namens aufgerufen wird. Demzufolge lässt sich auch kein stabiler Kern im Text selbst identifizieren, weil wesentliche Eigenschaften der Originalfigur nicht explizit übernommen werden, sondern die Figurengestaltung der vorliegenden Don Juan-Version auf dem Originalprofil mit allen prototypischen Merkmalen beruht, solange diese durch die Darstellung der aktualen fiktiven Textwelt nicht revidiert werden. Die Revision der Figurenidentität Don Juans wird schrittweise durchgeführt, angefangen mit minimalen Eigenschaften wie äußeren Kennzeichen: „Bloß zeigte sich Don Juan nicht schwarz-weiß gescheckt wie sein Vorgänger, sondern rot-weiß, dunkelrot-weiß“ (S. 18). Der Text hebt also einerseits derartige Unähnlichkeiten zwischen ‚diesem‘ Don Juan und dem Prototyp hervor, aber zugleich sind Ähnlichkeiten durch den ganzen Text verstreut, so dass immer wieder Rekurs auf die Originalfigur genommen und das Abhängigkeitsverhältnis der Version zur Originalfigur wiederhergestellt wird. So wird z. B. auf eine für Don Juan typische Verhaltensweise angespielt, nämlich seine Gewohnheit zu fliehen, nachdem er eine Frau verführt hat: „Don Juan war fluchtgewohnt und fluchtgeübt. Im Fliehen fand er in sein Element oder in eines seiner Elemente“ (S. 21). Trotz der Präzisierung dieser Eigenschaft zeichnet sich diese Don Juan-Version nicht durch handlungsorientiertes Verhalten, sondern eher durch eine kontemplative Haltung aus, indem aufmerksames Beobachten ihm

|| 26 Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt a. M. 2004, S. 14. Alle folgenden Zitate aus Don Juan beziehen sich auf diese Ausgabe.

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ermöglicht, das Wesen des Lebens deutlicher zu erfassen und aufzunehmen. Dieses neue Charakteristikum Don Juans beeinflusst auch die Erzählweise, so dass „das Erzählen insgesamt handlungsarm und nach innen gerichtet“27 ist: Bemerkenswert vielleicht, daß Don Juan, wenn in seiner Geschichte überhaupt Aktionen vorkamen, von ihnen bloß schnell Bericht erstattete, während er zu den inneren Begebenheiten und Verwicklungen immer wieder ziemlich ausführlich Luft holte. (S. 78 f.)

Indem ihre Wahrnehmung für Handkes Don Juan wichtiger als die Tatsachen selbst sind, liegt der Akzent nicht auf der Darstellung der Liebesabenteuer wie bei seinen Vorgängern, sondern auf der Beschreibung der Empfindungen, welche durch das Betrachten von Landschaften und Orten, aber auch von Ereignissen hervorgerufen werden. So bevorzugt Don Juan, ausführlich Damaskus, die Landschaft des Kaukasus und der spanischen Enklave Ceüta, sowie die von Orten und Menschen verursachten Eindrücke und Erlebnisse zu beschreiben, statt die Ereignisse selbst im Detail darzustellen. Die Begebenheiten an sich werden meistens nur beiläufig erwähnt. Demzufolge lässt sich Handkes Don Juan eher als ein Zuschauer beschreiben, der fast ohne Absicht an Geschehnissen teilnimmt. Diese meditative Einstellung des Protagonisten wird durch seinen ‚handelnden Blick‘ kompensiert: Es war ein Blick, der mehr und noch anderes erfaßte als sie [die Frau] da allein, der über sie hinausging und sie so sein ließ, und deshalb wußte sie sich von ihm gemeint und gewürdigt; ein Blick, der handelte. (S. 75)

Eine Differenz zwischen Handkes Don Juan und dem Prototyp besteht genau in der Art und Weise, wie sie handeln: Handkes Don Juan zieht die Frauen nicht durch seine Taten an, sondern durch seinen Blick. Anders gesagt, ist dieser Don Juan durch ein unwillkürliches Handeln charakterisiert im Vergleich zu seinem Vorgänger, der als willkürlich Handelnder beschrieben wurde. Als unbeabsichtigt erweist sich auch sein Blick, der aber mächtig und zugleich handlungserzeugend wirkt: Don Juans Macht kam von seinen Augen. Er brauchte nicht zu erwähnen, daß dabei nicht die Rede sein konnte von irgendwelchen eingeübten Blicken. Nie wollte oder gar plante er

|| 27 Die meditativen Figuren Peter Handkes sowie sein damit verbundenes handlungsarmes Erzählen bespricht Thorsten Carstensen ausführlich in „Herr seiner Zeit. Peter Handkes Don Juan und das heilsame Abenteuer des Erzählens“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 2 (2009), S. 281–300, hier S. 285. Siehe dazu auch Ders.: Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition. Göttingen 2013.

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derartiges. Und trotzdem war er sich im voraus der Macht oder der Bedeutung, die proklamiert würde im selben Moment, da er die Augen, nein, das Auge auf die Frau richtete, statt etwa herrscherlich eher beinahe ängstlich bewußt. (S. 74)

Eine für die Figurengestaltung ausschlaggebende Revision bezieht sich auf Don Juans Eigenschaft, verführerisch zu sein: Im Unterschied zur Originalfigur ist Handkes Don Juan kein gewissenloser Verführer. Während der Prototyp sich durch dieses Charakteristikum definiert, wird die Figurengestaltung hier grundlegend durch die Tilgung dieses Merkmals modifiziert. Je spezifischer sich die Eigenschaft für den Prototyp abzeichnet, desto prägnanter wirkt ihre Veränderung auf die Konstruktion der Version. So präzisiert der Erzähler, dass dieser Don Juan nicht darauf abzielt, die Frauen zu verführen: Don Juan war kein Verführer. Er hatte noch nie eine Frau verführt. Zwar waren ihm welche begegnet, die ihm das dann nachgesagt hatten. Aber diese Frauen hatten entweder gelogen, oder sie wußten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, und hatten damit eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. (S. 73)

Das neue Bild Don Juans wird durch einen weiteren neuen Aspekt seines Verhaltens abgerundet, nämlich durch seine Neigung, allein zu leben: „Wie schön und gut war doch die lange Periode des Alleinherumziehens gewesen, ohne Freundschaften, ohne Feindschaften“ (S. 68). Daraus ergibt sich eine starke Individualisierung dieses Don Juans im Vergleich zu seinen Vorgängern. Die Modifizierung der Figurengestaltung wird durch die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Don Juan und den Frauen verstärk: Don Juan verfolgt nicht mehr das Ziel, die Frauen zu verführen, sondern die Frauen verfolgen ihn. Die Frau übernimmt die Rolle der Verführerin und somit die Eigenschaften und das für diese Rolle spezifische Verhalten, so dass Don Juan zum Objekt der Frau wird. So wird die Frau in Ceüta, „die Schönheitskönigin der Enklave“ (S. 111), als die weibliche Variante der Originalfigur Don Juan dargestellt: Sie verführt und verlässt die Männer nach dem für Don Juan typischen Ritual. Die Episode über die Begegnung zwischen Don Juan und der Frau in Ceüta weist auf eine gegenseitige Spiegelung hin, die beängstigend auf die Frau wirkt. Im ganzen Text kristallisiert sich ein ständiger Prozess der Figurengestaltung heraus, in dem zwei unterschiedliche Gestaltungsweisen ersichtlich werden: Zum einen zeichnet sich die Individualisierung dieser Don Juan-Version durch die Modifizierung mancher Eigenschaften aus. Zum anderen wird eine Generalisierung des Don Juan-Bildes durch den konstanten Rückgriff auf den Prototyp aufrechterhalten. Die Verallgemeinerung des Don Juan-Bildes wird im Text prägnant sowohl durch die Verwendung des impersonalen Pronomens ‚man‘ statt des Personalpronomens ‚ich‘, als auch durch die Verallgemeinerung

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seiner Erlebnisse unterstrichen, was ebenfalls der Erzähler hervorhebt: „Ich bemerkte, wie oft Don Juan in seiner Geschichte statt ‚ich‘ das ‚Man‘ gebrauchte, so als sei ihm dabei die Allgemeingültigkeit seines Erlebens etwas Selbstredendes [...]“ (S. 60). Die zahlreichen intertextuellen Bezüge, die eine Figurversion mit anderen, vorher bestehenden Versionen bzw. der Originalfigur verbinden, werden auch vom Erzähler deutlich im Text durch die Abgrenzung von den anderen Don Juans hervorgehoben: Während der sieben Tage bei mir im Garten waren noch und noch andere Don Juans aufgetreten, im Nachtprogramm des Fernsehens, in der Oper, im Theater, und ebenso in der sogenannten primären Realität, in Fleisch und Blut. Doch durch das, was mein Don Juan mir von sich selber erzählte, habe ich erfahren: Das waren allesamt die falschen Don Juans – auch der von Molière; auch der von Mozart. (S. 157)

Obwohl sich Handkes Don Juan von den anderen ausdrücklich distanziert, weist er Ähnlichkeiten mit Mozarts Protagonisten auf: Er wird von einem stummen Diener begleitet nach dem Vorbild des Leporello aus der Oper Don Giovanni (1787). Dieser Diener bleibt aber namenlos, so dass der Prozess der Verallgemeinerung und Entindividualisierung um eine weitere Stufe erhöht wird. Dies ermöglicht, die Rollen zwischen Don Juan und seinem Diener zu wechseln: Mal wird Don Juan „vom Mitfahrer zum Fahrer“ (S. 59), mal übernimmt Don Juans Diener die typische Rolle des Verführers mit der entsprechenden Verhaltensweise sowie dem üblichen Szenario, nämlich der berühmten Flucht und der dazugehörenden Verfolgung: So kam es dann auch. Nur fiel Don Juans Flucht zusammen mit der seines Dieners. Und diese war, im Gegensatz zu der seinen, auffällig; bot alles was Fluchtbewegungen eben zu bieten hatten. Seine eigene Flucht wurde verfolgt allein von der verlassenen Frau, allein von deren Augen [...]. Der Diener dagegen floh vor aller Augen, und es setzte ihm, und seinem Herrn, der schon wartend im Auto saß, nach, wer auch immer von der Hochzeitsgesellschaft auf die eine und andere Weise beweglich war. Ganz klassisch fielen nicht bloß die Steine hinter dem Fahrzeug in den Staub (nur dass der eben davon nicht aufwirbelte), sondern formierte sich eine beinahe zünftige Verfolgungsjagd [...]. (S. 83 f.)

Als Konsequenz entsteht eine Übertragung der Eigenschaften Don Juans auf seinen Diener und umgekehrt, so dass es in dieser Sequenz schwer zu beurteilen ist, wer von beiden die dominante Figur ist. Die Figurengestaltung Don Juans wird gegenüber dem Prototyp auf zweierlei Weise verändert: durch die Ersetzung von Eigenschaften und die Neubewertung gleichbleibender Eigenschaften. Im ersten Fall bilden die neuen Charakteristika einen Gegensatz zu den Eigenschaften der Originalfigur. Im zweiten Fall übernimmt die Version anscheinend dieselben Eigenschaften der Originalfigur;

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die Revision besteht in der Umwertung dieser Eigenschaften, so dass die Figurengestaltung auch in diesem Fall stark davon geprägt wird und somit eine Abweichung der Version von der Originalfigur verdeutlicht wird. In dieser Hinsicht lässt sich auch Don Juans modus vivendi betrachten, das Leben von Augenblick zu Augenblick zu genießen. Der originale Don Juan der Frühmoderne zeichnet sich durch eine Lebensweise aus, die nach dem Prinzip des carpe diem geführt wird. Seine Lust am Abenteuer und seine ständige Suche nach Einmaligkeit verflechten sich sehr gut und enthüllen zum einen seine Begierde und zum anderen seine Ruhmsucht, wie Tirso de Molinas Theaterstück veranschaulicht.28 Ebenso großen Wert auf Lebensgenuss legt Molières Don Juan29, auch wenn sein epikureischer Lebensstil eher antiklerikal ausgerichtet ist. Im Vergleich zu seinen Vorgängern wird dieselbe Lebensweise in Handkes Version anders ausgedeutet, nämlich als „Variation des bereits Erlebten“30, denn „[d]ie Varianten gaben die Würze“ (S. 94). Demzufolge sucht sein Don Juan nicht die Einzigkeit des Moments, sondern die Ewigkeit oder die Permanenz des Moments, die er nur in der Wiederholung finden kann: Das Wiederholen hatte vielmehr, und dann immer stärker, seinen eigenen Schwung, und er überließ sich dem als einer Selbstverständlichkeit, ja einem Gesetz, wenn nicht Gebot. Das gleiche zu tun und zu unterlassen mit der Frau jetzt wie mit jener vom Vortag, das sollte sein. Das Wiederholen, dieses erst, beherzte ihn. (S. 93 f.)

Die Wiederholung nivelliert die Einzigartigkeit der Frauen und der Ereignisse, deshalb waren sogar die Frauen „im übrigen unauffällig, wie ohne Eigenschaften“ (S. 94). Im Vergleich zu den verführten Frauen anderer Don Juans, die immer stark individualisiert sind und ihre eigene Geschichte und somit eine prägnante Identität haben, erweisen sich die Frauen dieses Don Juans als geradezu unterschiedslos. Die Frauen werden kaum näher beschrieben und bleiben auch namenlos. Diese Anonymität trägt zum Prozess der Verallgemeinerung bei, die Frauen verlieren ihre Individualität, indem die Einmaligkeit jeder Frau verschleiert wird und nur generelle Verweise auf die jeweilige Frau gemacht werden: „Unruhig wurde Don Juan nur wieder, je näher die Station und das Aufeinandertreffen mit der Frau rückte“ (S. 109). Infolgedessen „führt das Prinzip der Wiederholung [...] zu einer relativen Austauschbarkeit der Figuren, Schauplätze und Handlungsdetails“31. Dasselbe Prinzip der Wiederholung liegt auch dem

|| 28 Vgl. Anm. 25. 29 Don Juan oder Der steinerne Gast (Dom Juan ou le Festin de pierre, 1665). 30 Carstensen (2009, Anm. 27), S. 332. Vgl. auch Carstensen (2013, Anm. 27), S. 292. 31 Carstensen (2013, Anm. 27), S. 331.

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Erzählen zugrunde, da es die Wiederholung des bereits Erlebten durch die Erinnerung voraussetzt, welche dadurch eine strukturierende und zugleich sinnstiftende Funktion erfüllt: „Indem bei Don Juan die sieben Stationen seiner Woche zu Wort kamen, realisierte, und praktizierte, er sie“ (S. 42). Das Erzählen ermöglicht durch die gedankliche Wiederholung der Ereignisse einerseits und durch die zeitliche Entfernung vom Geschehen andererseits die Objektivierung der Wahrnehmungsprozesse: Seine erste Erzählung richtete er allein an sich selbst, murmelte sie in sich hinein. Das kam daher, daß das Erlebte, die Episode mit dem Motorradlederpaar, ihm gerade erst zugestoßen war. Es war noch nicht erzählreif. Es gab darum nichts auszuholen, höchstens fürs erste sich zu vergewissern, in einem bloß stichwortartigen Selbstgespräch. Er sah sich noch zu sehr vorkommen in dem Geschehen; erst wenn es nicht mehr um ihn ginge, könnte er damit frei ausholen. (S. 28)

Die Wirkung der Wiederholung des Erlebten ist sowohl auf die Erzählung als auch auf den Erzähler selbst gerichtet, indem sie auf der einen Seite einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen gewährleistet und auf der anderen Seite die Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte fördert. Demzufolge identifiziert sich Don Juan nicht durch das Zählen der Frauen oder die darauf bezogenen Geschichten, sondern er findet sich im Erzählen selbst wieder. Der Akt des Erzählens konstruiert ihn und bestimmt somit seine Identität: Keine Idee, während jener Woche groß die Frauen zu zählen. Frauen und zählen, eine solche Frage stellte sich für Don Juan nicht, weder da noch je zuvor. Er erlebte die Frauenzeit vielmehr als ein großes Innehalten. Nicht zählen, sondern buchstabieren. Seine Zeit mit Frauen war eine Zeit, in der es keine Zahlen mehr gab. [...] Frauenzeit hieß wieder und wieder: Man hatte Zeit. War in der Zeit. Eingespielt in die Zeit. [...] Nicht bloß geschützt wußte man sich von jener Zeit, vielmehr darüber hinaus von ihr getragen und in der Folge, statt gezählt, von ihr erzählt. Für solche Zeit lang erlebte man sich aufgehoben und weitergegeben im Erzähltwerden. (S. 124–126)

Zum Schluss lässt sich Folgendes festhalten: Die Revision einer Figurengestaltung bringt andere Eigenschaften als diejenigen der Originalfigur hervor. Genau in den Unterschiedsmerkmalen besteht die Besonderheit der Version. Oder anders gewendet: Die Abweichungen vom Prototyp bestimmen die Figurengestaltung der Version. Die Eigentümlichkeit eines transworld character kommt zum Ausdruck in zweierlei Weise: Zum einen trägt der Rückgriff auf die Figur des Hypertextes zur Figurenkonstruktion der Version bei, indem ihr Eigenschaften der Originalfigur zugeschrieben werden, auch wenn diese nicht explizit im Text erwähnt sind. Diese Eigenschaften werden aufgrund des principle of minimal departure implizit vorausgesetzt. Zum anderen wird die Version durch die von der

Transworld Characters | 151

Originalfigur abweichenden Merkmale geprägt. Demzufolge lässt sich ein ständiger Verweis auf die Figur des Hypertextes festhalten, sei dieser in Ähnlichkeiten oder in Unähnlichkeiten konkretisiert. Die Interferenzen zwischen den Welten erweisen sich als grundlegend für die Konstruktion der Figur. Berücksichtigt man die Gestaltung eines transworld character, so ergibt sich ein unauflösliches Abhängigkeitsverhältnis der Version von der Originalfigur.

Literaturverzeichnis Carstensen, Thorsten: „Herr seiner Zeit. Peter Handkes Don Juan und das heilsame Abenteuer des Erzählens“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 2 (2009), S. 281–300. Carstensen, Thorsten: Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition. Göttingen 2013. Doležel, Lubomir: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. [Palimpsestes. La Littérature au second degré, 1982]. Übers. v. Wolfram Bayer/Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1996. Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt a. M. 2004. Harweg, Roland: „Are Fielding’s Shamela and Richardson’s Pamela One and the Same Person? A Contribution to the Problem of the Number of Fictive Worlds“. In: Style 38/3 (2004), S. 290–301. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2012. Margolin, Uri: „Individuals in Narrative Worlds: An Ontological Perspective“. In: Poetics Today 11/4 (1990), S. 843–871. Margolin, Uri: „Characters and Their Versions“. In: Calin-Andrei Mihăilescu/Walid Hamarneh (Hgg.): Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics. Toronto u. a. 1996, S. 113–132. Nesselroth, Peter W.: „Naming Names in Telling Tales“. In: Calin-Andrei Mihăilescu/Walid Hamarneh (Hgg.): Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics. Toronto u. a. 1996, S. 133–143. Pavel, Thomas G.: Fictional Worlds. Cambridge 1986. Reicher, Maria E.: „The Ontology of Fictional Characters“. In: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hgg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film and Other Media. Berlin/New York 2010, S. 111–133. Richardson, Brian: „Transtextual Characters“. In: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hgg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film and Other Media. Berlin/New York 2010, S. 527–541. Ryan, Marie-Laure: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington 1991. Schneider, Ralf: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000. Wunderlich, Werner: „Cenerentola Risen From the Ashes. From Fairy-Tale Heroine to Opera Figure“. In: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hgg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film and Other Media. Berlin/New York 2010, S. 542–567.

| Paradigma II: Unnatürliche erzählte Welten

Leitartikel Jan Alber

Unnatürliche erzählte Welten 1 Einleitung Mein Beitrag liefert einen Überblick über die kognitive Denkrichtung innerhalb der ‚unnatürlichen‘ Erzähltheorie (unnatural narratology). Ich werde in diesem Aufsatz zunächst den Begriff des Unnatürlichen definieren und anhand von ausgewählten Beispielen illustrieren. Wie ich zeigen werde, wird das Unnatürliche an realweltlichen Wahrnehmungsrastern gemessen, die auf unserem allgemeinen Weltwissen basieren. Außerdem werde ich es mit dem Begriff der Mimesis in Zusammenhang bringen und zeigen, dass das Unnatürliche antimimetisch im Sinne Platons, aber mimetisch im Sinne von Aristoteles ist. Schließlich werde ich zwischen zwei Erscheinungsformen des Unnatürlichen unterscheiden: Es gibt einerseits befremdliche bzw. verstörende Formen des Unnatürlichen, die noch nicht in gängige Wahrnehmungsraster überführt wurden; andererseits gibt es Formen des Unnatürlichen, die zentral mit Gattungskonventionen zusammenhängen und uns als Rezipienten durchaus vertraut sind. Ich werde dann kognitive Mechanismen bzw. Lesestrategien diskutieren, über die wir dem Unnatürlichen einen Sinn abgewinnen können. In meinem Ausblick möchte ich schließlich der Frage nach dem Mehrwert des Unnatürlichen nachgehen.

2 Definition und Beispiele In meinen Arbeiten1 bezeichnet der Begriff des Unnatürlichen physikalisch, logisch oder menschlich unmögliche Szenarien bzw. Ereignisse, die in erzählten

|| 1 Siehe z. B. Jan Alber: „Impossible Storyworlds – and What to Do with Them“. In: Storyworlds 1 (2009), S. 79–96; Ders.: „Unnatural Spaces and Narrative Worlds“. In: Jan Alber/ Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson (Hgg.): A Poetics of Unnatural Narrative. Columbus 2013, S. 45–66; Ders.: „Unnatural Narratology: Developments and Perspectives“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 63/1 (2013), S. 69–84; Ders.: „Unnatural Narratology: The Systematic Study of Anti-Mimeticism“. In: Literature Compass 10/5 (2013), S. 449–460. https://doi.org/10.1515/9783110626117-008

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Welten (storyworlds) auftreten.2 Die dargestellten Szenarien bzw. Ereignisse müssen entweder den bekannten Naturgesetzen oder logischen Prinzipien (wie dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs) widersprechen oder sie müssen die allgemein bekannten Grenzen menschlichen Wissens aushebeln. Der Begriff des Szenarios bezeichnet hierbei sowohl fiktive Situationen, die sich in einer erzählten Welt abspielen, als auch Erzählsituationen; der Begriff des Ereignisses umfasst sowohl intentionale Handlungen von Figuren als auch zufällige happenings.3 Ich bin mir des Umstandes bewusst, dass der Begriff des Unnatürlichen im alltäglichen Sprachgebrauch negativ konnotiert ist. Er wird beispielsweise häufig verwendet, um bestimmte Verhaltensweisen oder sexuelle Praktiken zu diffamieren. Meine Verwendung des Begriffs unterscheidet sich hiervon maßgeblich. Ich verwende ihn in einem rein deskriptiven Sinne: Er bezeichnet textuelle Segmente, die durch die Darstellung von Unmöglichkeiten über unser Weltwissen hinausgehen. Ein Beispiel für eine physikalische Unmöglichkeit wäre etwa Professor David Alan Kepesh, der Ich-Erzähler des Romans The Breast (1972) von Philip Roth, der sich vor Beginn des Romans in eine riesige weibliche Brust verwandelt hat. Er beschreibt seine Verwandlung wie folgt: I am a breast. A phenomenon that has been variously described to me as ‘a massive hormonal influx,’ ‘an endocrinopathic catastrophe,’ and/or ‘a hermaphroditic explosion of chromosomes’ took place within my body between midnight and four A. M. on February 18, 1971, and converted me into a mammary gland disconnected from any human form, a mammary gland such as could only appear, one would have thought, in a dream or a Dali

|| 2 Ich schließe mich hierbei der folgenden Definition von David Herman an: „Storyworlds are […] mental models of who did what to and with whom, when, where, why, and in what fashion in the world to which interpreters relocate […] as they work to comprehend a narrative.“ David Herman: „Storyworld“. In: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hgg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London 2005, S. 569–570, hier S. 570. 3 Einen Überblick über alternative Definitionen im Bereich der unnatürlichen Erzähltheorie findet man in Jan Alber/Stefan Iversen/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson: „What is Unnatural about Unnatural Narratology? A Response to Monika Fludernik“. In: Narrative 20/3 (2012), S. 371–382; Jan Alber/Stefan Iversen/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson: „What Really is Unnatural Narratology?“ In: Storyworlds 5 (2013), S. 101–118. Der Begriff des Unnatürlichen wurde erstmals von Brian Richardson verwendet, aber nicht eindeutig definiert. Siehe Brian Richardson: Unnatural Voices: Extreme Narration in Modern and Contemporary Fiction. Columbus 2006.

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painting. […] I am said to be of a spongy consistency, weighing in at one hundred and fifty-five pounds […], and measuring, still, six feet in length.4

Diese Brust bewohnt ein Krankenhauszimmer, in dem sie Besucher empfängt und auch mit diesen sprechen kann. Dieser Ich-Erzähler ist physikalisch unmöglich, weil wir uns in der wirklichen Welt nicht einfach so in eine Brust verwandeln können, und auch deshalb, weil Brüste nicht sprechen können.5 Mehrere logische Unmöglichkeiten werden z. B. in der Kurzgeschichte The Babysitter (1969) von Robert Coover dargestellt. Diese Erzählung konfrontiert den Leser mit einer fast unüberschaubaren Anzahl an Plotsträngen, die sich größtenteils logisch gegenseitig ausschließen, aber trotzdem gleichzeitig wahr und damit Teil der dargestellten Geschichte bzw. Teil der storyworld sind. In der in The Babysitter dargestellten Erzählwelt ist es wahr, dass Mr. Tucker von einer Party nach Hause fährt, um Sex mit seiner Babysitterin zu haben; es ist gleichzeitig aber auch wahr, dass er nicht von der Party nach Hause fährt, um Sex mit seiner Babysitterin zu haben. Diese Wahrheitswerte widersprechen dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs, da zwei logisch inkompatible Sachverhalte (A und nicht A) gleichzeitig wahr sind.6 || 4 Philip Roth: The Breast. New York 1972, S. 17. 5 Lubomír Doležel spricht in diesem Zusammenhang von „fictional worlds that violate the laws of the actual world“. Lubomír Doležel: Heterocosmica: Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998, S. 115. 6 Während sich die unnatural narratology für physikalische, logische und menschliche Unmöglichkeiten interessiert, verwenden Vertreter der possible worlds theory den Begriff impossible world ausschließlich für erzählte Welten, die logische Widersprüche enthalten. Ruth Ronen schreibt z. B. Folgendes über die Darstellung von logischen Unmöglichkeiten: „Although logically inconsistent states of affairs are not restricted to specific literary periods or genres, with postmodernism, impossibilities, in the logical sense, have become a central poetic device, which shows that contradictions in themselves do not collapse the coherence of a fictional world.“ Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 55. MarieLaure Ryan argumentiert ebenfalls, dass logische Widersprüche in Erzählungen die Sinnsuche nicht behindern müssen: „[I]f contradictions are limited to certain areas – to […] the holes in a Swiss cheese – then it remains possible to make stable inferences for the other areas and to construct a world.“ Marie-Laure Ryan: „From Parallel Universes to Possible Worlds: Ontological Pluralism in Physics, Narratology, and Narrative“. In: Poetics Today 27/4 (2006), S. 633– 674, hier S. 671. Der Logiker Graham Priest schreibt über den logischen Widerspruch in seinem eigenen Erzähltext „Sylvan’s Box“ (1997), in dem es um eine Schachtel geht, die gleichzeitig voll und leer ist, Folgendes: „[T]here are, in some undeniable sense, logically impossible situations or worlds. […] In particular, a [logically] impossible world/situation is (partially) characterized by information that contains a logical falsehood but that is closed under an appropriate inference relation.“ Graham Priest: „Sylvan’s Box: A Short Story and Ten Morals“. In: Notre Dame Journal of Formal Logic 38/4 (1997), S. 573–582, hier S. 580.

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Ein Beispiel einer menschlichen Unmöglichkeit wäre schließlich Saleem Sinai, der Ich-Erzähler im Roman Midnight’s Children (1981) von Salman Rushdie. Saleem Sinai funktioniert wie ein Radio, weil er die Gedanken der anderen ‚Mitternachtskinder‘, die genau wie er selbst am Tag der indischen Unabhängigkeit von Großbritannien geboren wurden, hören kann, was in der wirklichen Welt ebenfalls unmöglich ist. Er beschreibt seine „miracle-laden omniscience“7 wie folgt: My voices, far from being sacred, turned out to be as profane, and as multitudinous, as dust. Telepathy, then; the kind of thing you’re always reading about in the sensational magazines. […] It was telepathy; but also more than telepathy. […] Telepathy, then: the inner monologues of all the so-called teeming millions, of masses and classes alike, jostled for space within my head.8

Das Unnatürliche erstreckt sich auf Erzählparameter wie den Erzähler, die Figur, Zeit und Raum. Es betrifft jedoch in aller Regel nur einen Parameter pro Erzählung. Dies ist vermutlich deswegen so, weil die Dekonstruktion mehrerer Erzählparameter im selben Erzähltext zu einem zu hohen Grad an kognitiver Desorientierung führen würde. Ich interessiere mich in erster Linie für Unmöglichkeiten, die die Ebene der Geschichte (oder story) betreffen; es gibt aber auch Unmöglichkeiten, die eher den narrativen Diskurs betreffen bzw. mit der Diskrepanz zwischen der Ebene der Geschichte und der Ebene des narrativen Diskurses zusammenhängen. Ein Beispiel für eine unnatürliche Diskrepanz zwischen story und narrativem Diskurs wären die Figuren in Caryl Churchills Theaterstück Cloud Nine (1979), die auf der Ebene der Geschichte eine weibliche Anatomie, auf der Ebene des narrativen Diskurses aber eine männliche Anatomie haben (und keine intersexuellen Figuren sind). Ein Beispiel für einen unnatürlichen narrativen Diskurs wären Du-Erzählungen wie der Roman Bright Lights, Big City (1984) von Jay McInerney. Hier wird der Protagonist der Geschichte von einer neutralen Erzählstimme in der zweiten Person angesprochen, und diese Stimme erzählt ihm seine eigene Geschichte: You are not the kind of guy who would be at a place like this at this time of the morning. But here you are, and you cannot say that the terrain is entirely unfamiliar, although the details are fuzzy. You are at a nightclub talking to a girl with a shaved head. The club is ei-

|| 7 Salman Rushdie: Midnight’s Children. London 1981, S. 149. 8 Rushdie (Anm. 7), S. 166 f.

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ther Heartbreak or the Lizard Lounge. All might come clear if you could just slip into the bathroom and do a little more Bolivian Marching Powder. Then again, it might not.9

Man fragt sich hierbei sofort, woher die Erzählstimme diese ganzen Informationen über den Protagonisten bekommen hat (wenn nicht von ihm selbst) und wieso diese Stimme dem ‚Du‘ überhaupt erzählt, was es ohnehin wissen muss. Hier betrifft das Unnatürliche die Ebene des narrativen Diskurses; in der realen Welt kann es eine solche Situation bzw. ein solches Szenario nicht geben, denn wir können unseren Adressaten keine detaillierten und umfassenden Geschichten erzählen, die ihnen selbst widerfahren sind. Helmut Bonheim beschreibt das Eigentümliche der Du-Erzählung wie folgt: If one tells a story to a particular person who was on the scene of action himself, the reader will naturally ask why the ‘you’ needs to be told what he already knows. […] Where the ‘you’ is the chief character whose actions are described, it is difficult to find a believable motive for supplying him with information which would be familiar to him.10

Monika Fludernik kommentiert die Unnatürlichkeit der Du-Erzählung auf ganz ähnliche Weise: Second-person fiction, which appears to be a prima facie fictional, nonnatural form of story-telling, enhances the options already available to conversational narrative and extends the boundaries of the nonrealistically possible in emphatic ways.11

3 Das Unnatürliche und das ‚Natürliche‘ Ich messe das Unnatürliche an dem, was ich das ‚Natürliche‘ nenne. In meinen Arbeiten bezeichnet der Begriff des Natürlichen – ähnlich wie bei Fludernik12 – nicht die Natur an sich, auf die wir keinen unmittelbaren Zugriff haben, sondern Wahrnehmungsraster, die sich aus unserem körperlichen In-der-Welt-Sein ergeben, also frames und scripts, die unser Wissen über die Welt strukturieren.13

|| 9 Jay McInerney: Bright Lights, Big City. New York 1984, S. 1. 10 Helmut Bonheim: „Narration in the Second Person“. In: Recherches anglaises et americaines 16/1 (1983), S. 69–80, hier S. 76 f. 11 Monika Fludernik: „Second-Person Narrative as a Test Case for Narratology: The Limits of Realism“. In: Style 28/3 (1994), S. 445–479, hier S. 460. 12 Siehe Monika Fludernik: Towards a ‘Natural’ Narratology. London und New York 1996. 13 Frames sind kognitive Raster statischer Natur, während es sich bei scripts um dynamische Raster handelt: „Frames basically deal with situations such as seeing a room or making a

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Leser haben bestimmte Grundannahmen über Zeit, Raum und andere Menschen, und diese Annahmen spielen eine wesentliche Rolle bei der Rezeption von Erzähltexten. Beispielsweise wissen wir, dass die Zeit in der wirklichen Welt nicht rückwärts läuft; wir wissen, dass die Räume, die wir bewohnen, relativ stabil sind und sich nicht grundlos verwandeln (außer etwa durch Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Wirbelstürme); wir wissen, dass tote Menschen oder Gegenstände nicht sprechen können; wir wissen, dass wir keinen unmittelbaren Zugang zu den Gedanken und Gefühlen unserer Mitmenschen haben und stattdessen auf Interpretationen von Gesichtsausdrücken, Körperhaltungen usw. angewiesen sind. D. h., ich subsumiere unser Wissen über Naturgesetze, logische Prinzipien und die allgemein bekannten Grenzen menschlichen Wissens unter dem Begriff des Natürlichen. Es ist mir selbstverständlich bewusst, dass es Kulturen gibt, die völlig andere Auffassungen hierzu vertreten. Deshalb nehme ich in meinen Arbeiten die Perspektive eines neurotypischen zeitgenössischen Lesers ein, der ein wissenschaftlich-rationalistisches und empirisch orientiertes Weltbild hat. Aus einer solchen Perspektive können unnatürliche Szenarien bzw. Ereignisse nur in unserer Imagination, also in fiktiven Welten, dargestellt werden; sie sind in der wirklichen Welt unmöglich und dieser Umstand macht sie zu besonders interessanten Phänomenen. Ich möchte nun das Bild Le Blanc Seing (1965, dt. Die Blankovollmacht) des surrealistischen Malers René Magritte verwenden (Abb. 1), um zu verdeutlichen, wie natürliche und unnatürliche Darstellungsmodi miteinander in Interaktion treten können. Die in diesem Bild dargestellten Bäume sowie das Pferd und die Frau sehen (mehr oder weniger) aus wie Bäume, Pferde und Frauen in der wirklichen Welt, d. h., es bedarf keiner besonderen kognitiven Anstrengung, um zu verstehen, was hier dargestellt ist. Gleichzeitig ist es aber so, dass ein Baum, der sich hinter der Dame auf dem Pferd befindet, unsere Sicht auf die Dame und das Pferd verdeckt, während der Raum zwischen zwei weiteren Bäumen das Pferd, die Hand der Dame und die Zügel unsichtbar macht. Hier kommt das Unnatürliche ins Spiel: Eine solche Situation kann es in der wirklichen Welt nicht geben; es kann sie aber in der Welt des Bildes bzw. der Fiktion geben.14

|| promise while scripts cover standard action sequences such as playing a game of football, going to a birthday party, or eating in a restaurant.“ Manfred Jahn: „Cognitive Narratology“. In: Herman/Jahn/Ryan (Anm. 2), S. 67–71, hier S. 69. 14 Ulf Linde kommentiert Magrittes Bild daher wie folgt: „If we wish to call the world the painting refers to a possible world we must […] make an important limitation: the painting – and only the painting – makes that world possible.“ Ulf Linde: „Image and Dimension“. In:

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Abb. 1: René Magritte: Le Blanc Seing (1965), Öl auf Leinwand, 81x65 cm. © VG Bild, 2013.

|| Allén Sture (Hg.): Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences. Berlin/New York 1989, S. 312–328, hier S. 312.

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Mich interessiert in erster Linie, was es mit der Darstellung von solchen Unmöglichkeiten auf sich hat, und was der menschliche Verstand macht, wenn realweltliche Erklärungsmuster versagen.

4 Das Unnatürliche und die Mimesis Um Missverständnisse zu vermeiden, soll der Begriff des Unnatürlichen kurz mit dem Begriff der Mimesis in Zusammenhang gebracht werden. In der Politeia definiert Platon mimetische Kunst über die Kunst der Imitation bzw. Nachahmung, und da mimetische Kunst lediglich die empirische Welt abbildet und nicht zu einem tieferen Verständnis der von ihm postulierten Ideenwelt führt, verbietet Sokrates jedwede Kunst in Platons idealem Staat.15 Aristoteles dagegen definiert Mimesis in seiner Poetik als Vorgang der Darstellung, Repräsentation bzw. Simulation.16 Jean-Marie Schaeffer und Ioana Vultur beschreiben den aristotelischen Mimesis-Begriff wie folgt: „Mimesis coincides with artistic representation as such: epic poetry, drama, the art of dithyrambs, of flute and lyre, painting, choreography, and religious poetry are all mimetic.“17 Auf der einen Seite ist das Unnatürliche ganz eindeutig anti-mimetisch im Sinne Platons: Unnatürliche Szenarien bzw. Ereignisse versuchen eben nicht die empirische Welt zu imitieren bzw. nachzuahmen; das Unnatürliche hängt zentral mit der Darstellung von physikalischen, logischen und menschlichen Unmöglichkeiten zusammen. Auf der anderen Seite ist das Unnatürliche aber mimetisch im Sinne von Aristoteles, weil physikalische, logische und menschliche Unmöglichkeiten in fiktiven Welten dargestellt und simuliert werden können. Das Unnatürliche setzt genau wie das Natürliche einen Vorgang der Darstellung bzw. einen Prozess der Simulation voraus. Für mich sind sowohl das Unnatürliche als auch das Natürliche Spielarten der aristotelischen Mimesis; es sind beides Darstellungsmodi, die auf mentalen Modellen (mental models) im Sinne von Philip Johnson-Laird basieren.18

|| 15 Vgl. Platon: Politeia (The Republic) II, Books VI–X. Plato in Twelve Volumes, Bd. 6. Übers. v. Paul Shorey. Cambridge 1970, S. 431, 595A; siehe auch S. 439, 600C und S. 443, 601B. 16 Vgl. Aristoteles: Poetics. Hg. v. Stephen Halliwell. Cambridge 1995, S. 33–37, 1448a–b. 17 Jean-Marie Schaeffer/Ioana Vultur: „Mimesis“. In: Herman/Jahn/Ryan (Anm. 2), S. 309– 310, hier S. 309. 18 Siehe Philip Johnson-Laird: Mental Models: Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and Consciousness. Cambridge 1983, S. 10–12.

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5 Die zwei Erscheinungsformen des Unnatürlichen Es gibt prinzipiell zwei Erscheinungsformen des Unnatürlichen. Einerseits wirken die dargestellten Unmöglichkeiten des Postmodernismus bzw. magischen Realismus19 (wie z. B. die in Kapitel 2 erwähnten Beispiele) auf uns nach wie vor irritierend, verstörend oder befremdlich.20 Andererseits gibt es aber auch zahlreiche Unmöglichkeiten, die in Gattungskonventionen überführt wurden und daher überhaupt keine verstörende bzw. befremdliche Wirkung mehr entfalten. Beispiele hierfür sind etwa das sprechende Tier in der Tierfabel (wie The Nun’s Priest’s Tale von Geoffrey Chaucer [14. Jhd.]) oder der Kindergeschichte (wie Anne Sewells Black Beauty [1877]); der allwissende Erzähler in realistischen Texten (wie Henry Fieldings Tom Jones [1749]); die sprechenden Gegenstände in den circulation novels des 18. Jahrhunderts (wie z. B. Chrysal; or the Adventures of a Guinea [1760–64] von Charles Johnstone, The Adventures of a Bank-Note [1770] von Thomas Bridges oder The Adventures of a Hackney Coach [1781] von Dorothy Kilner); die zahlreichen (unmöglichen) Einblicke in das Innenleben von Figuren im modernistischen Roman (wie z. B. Mrs. Dalloway von Virginia Woolf [1925]); oder die Zeitreise in Science-Fiction-Geschichten (wie z. B. The Time Machine [1895] von H. G. Wells oder A Sound of Thunder [1952] von Ray Bradbury).21

|| 19 Brian McHale charakterisiert postmodernistische Literatur wie folgt: „[T]he dominant of postmodernist fiction is ontological.“ Brian McHale: Postmodernist Fiction. New York/London 1987, S. 10. D. h., dass postmodernistische Literatur konsequent die Existenz der dargestellten Welten durch Selbstreflexivität bzw. Metafiktion untergräbt. Der magische Realismus ist für mich eine Unterkategorie des Postmodernismus; laut Lois Parkinson Zamora und Wendy B. Faris verwenden magische Realisten „[…] ontological disruption [to represent] political and cultural disruption: magic is often given as a cultural corrective, requiring readers to scrutinize accepted realistic conventions of causality, materiality, motivation“. Lois Parkinson Zamora/Wendy B. Faris: „Introduction: Daiquiri Birds and Flaubertian Parrot(ie)s“. In: Dies. (Hgg.): Magical Realism. Theory, History, Community. Durham 1995, S. 1–13, hier S. 3. 20 Viktor Šklovskij verwendet für solche Effekte den Begriff ostranenie: „The technique of art is to make objects ‘unfamiliar,’ to make forms difficult, to increase the difficulty and length of perception because the process of perception is an aesthetic end in itself and must be prolonged.“ Viktor Šklovskij: „Art as Technique” [„Iskusstvo kak priem“, 1916]. In: Lee T. Lemon/ Marion J. Reis (Hg.): Russian Formalist Criticism. Lincoln 1965, S. 3–24, hier S. 12. 21 Siehe Jan Alber: „The Diachronic Development of Unnaturalness: A New View on Genre“. In: Jan Alber/Rüdiger Heinze (Hgg.): Unnatural Narratives, Unnatural Narratology. Berlin/ Boston 2011, S. 41–67; Ders.: „Unnatural Temporalities: Interfaces between Postmodernism,

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Das Wunderbare im Sinne von Tzvetan Todorov ist ein weiteres Beispiel für Unmöglichkeiten, die bereits in Gattungskonventionen überführt wurden und im Epos (z. B. Beowulf [8. Jhd.]), bestimmten Romanzen (wie Sir Orfeo; Sir Gawain and the Green Knight [14. Jhd.] und Thomas Malorys Le Morte Darthur [1485]), Schauerromanen (wie The Castle of Otranto [1764] von Sir Horace Walpole oder The Monk [1796] von Matthew Lewis) und neueren Fantasy-Romanen (wie der Harry Potter-Reihe von J. K. Rowling [1997–2007]) eine wesentliche Rolle spielen: In solchen Fällen existiert nach Todorov das Übernatürliche als echter und objektiver Bestandteil der erzählten Welt.22 Beim Fantastischen hingegen oszilliert der implizite Leser zwischen zwei Erklärungsmustern hin und her: Er weiß nicht, ob das im Text dargestellte Übernatürliche tatsächlich existiert oder auf einer Täuschung bzw. Halluzination der erlebenden Figur beruht. Beispielsweise könnte die Gouvernante in The Turn of the Screw (1898) von Henry James tatsächlich Geister gesehen haben; sie könnte aber auch unter psychosomatischen Störungen leiden. Da das Fantastische mit der Möglichkeit spielt, dass das Wunderbare nicht objektiv, sondern lediglich in der subjektiven Wahrnehmung einer Person existiert, halte ich das Fantastische nach Todorov für nicht genuin unnatürlich. Nancy H. Traill assoziiert das Übernatürliche (wie ich selbst auch) mit dem physikalisch Unmöglichen (sie spricht von „the physically impossible“23) und baut auf Todorovs Studie auf. Sie zeigt, dass im 19. Jahrhundert Erzählungen wie The Signal-Man (1866) von Charles Dickens das Übernatürliche absorbieren und in die realistische Textwelt integrieren: Das Übernatürliche wird in der ‚normalen‘ menschlichen Welt möglich und verliert dadurch gleichsam den Status der Übernatürlichkeit: The opposition [supernatural vs. natural] loses its force because we find that the word ‘supernatural’ is merely a label for strange phenomena latent within the natural domain.

|| Science Fiction, and the Fantastic“. In: Markku Lehtimäki/Laura Kartunen/Maria Mäkelä (Hgg): Narrative Interrupted: The Plotless, the Disturbing and the Trivial in Literature. Festschrift for Pekka Tammi. Berlin/Boston 2012, S. 174–191; Ders.: „Pre-Postmodernist Manifestations of the Unnatural: Instances of Expanded Consciousness in ‘Omniscient’ Narration and ReflectorMode Narratives“. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 61/2 (2013), S. 137–153. 22 Tzvetan Todorov: The Fantastic: A Structural Approach to a Literary Genre [Introduction à la littérature fantastique, 1970]. Übers. v. Richard Howard. Cleveland/London 1973, S. 42. 23 Nancy H. Traill: Possible Worlds of the Fantastic: The Rise of the Paranormal in Fiction. Toronto u. a. 1996, S. 9.

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Clairvoyance, telepathy, and precognition, for instance, are taken to be as physically possible as any commonplace human ability.24

In solchen von Traill als paranormal bezeichneten Texten findet also Unmögliches statt, das aber nicht mehr über die Existenz übernatürlicher Kräfte erklärt werden kann. Aus meiner Sicht identifiziert sie mit dem Paranormalen eine wichtige Verbindung zwischen dem Übernatürlichen in früheren Texten und den unnatürlichen Szenarien und Ereignissen der postmodernistischen Literatur: Sowohl in paranormalen als auch in postmodernistischen Erzählungen stoßen wir auf Unmöglichkeiten, die nicht mehr durch das Übernatürliche erklärt werden können, sondern nach anderen Erklärungsmustern verlangen. Meines Erachtens ist die Überführung unnatürlicher Elemente in kognitive Wahrnehmungsraster eine bisweilen unterschätzte Triebkraft bei der Entstehung neuer Gattungen und damit der Entwicklung der Literaturgeschichte. Beispielsweise hängt die Entstehung der Tierfabel zentral damit zusammen, dass Leser das sprechende Tier als Möglichkeit in der Welt der Fiktion akzeptieren: Das sprechende Tier ist heute eines der wichtigsten Merkmale der Tierfabel. Ganz ähnlich hängt die Entstehung der Gattung Science-Fiction zentral damit zusammen, dass Leser Zeitreisen, Außerirdische und rebellierende Roboter als Möglichkeiten in der Welt der Fiktion akzeptieren: Diese Elemente zählen heute zu den wichtigsten Gattungsmerkmalen von Science-Fiction-Geschichten. Darüber hinaus sind die beiden beschriebenen Erscheinungsformen des Unnatürlichen untrennbar miteinander verbunden: Der Postmodernismus stellt nicht die plötzliche Explosion des Anti-Mimetischen dar, die manche Literaturwissenschaftler in ihm sehen (oder sehen wollen);25 der Postmodernismus ist vielmehr in die Literaturgeschichte eingebettet und verwendet (mehr oder we-

|| 24 Traill (Anm. 23), S. 17. 25 Siehe z. B. Raymond Federman (Hg.): Surfiction: Fiction Now … and Tomorrow. Chicago 1975. Seyla Benhabib assoziiert die postmodernistische Literatur – ähnlich wie die Beiträger in dem Band von Federman – mit „the end of the episteme of representation“. Seyla Benhabib: „Feminism and the Question of Postmodernism“. In: Joyce Appleby u. a. (Hgg.): Knowledge and Postmodernism in Historical Perspective. New York 1996, S. 540–554, hier S. 544. Für JeanFrançois Lyotard hängt der Postmodernismus zentral mit der Darstellung des Unmöglichen sowie des Nichtdarstellbaren zusammen: „The postmodern would be that which in the modern invokes the unpresentable in presentation itself, that which refuses the consolation of correct forms, refuses the consensus of taste permitting a common experience of nostalgia for the impossible, and inquires into new presentations – not to take pleasure in them, but to better produce the feeling that there is something unpresentable.“ Jean-François Lyotard: The Postmodern Explained [Le Postmoderne expliqué aux enfants, 1988]. Übers. v. Don Barry u. a. 3. Aufl., Minneapolis/London 1997, S. 15.

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niger systematisch) unmögliche Szenarien und Ereignisse aus anderen Gattungen. Postmodernistische Texte verwenden kurz gesagt die bereits in Gattungskonventionen überführten Unmöglichkeiten aus anderen Textgattungen und verfremden diese wieder in einem realistischen Kontext. Beispielsweise empfinden Leser den Umstand, dass der tote Vater im Stück Family Voices (1981) von Harold Pinter aus dem Jenseits spricht, als befremdlich; sprechende Geister in Schauerromanen hingegen nicht. Ebenso empfinden Leser das sich verwandelnde Haus im Roman House of Leaves (2000) von Mark Z. Danielewski als verstörend,26 die ständigen Verwandlungen der Hogwarts School of Witchcraft and Wizardry in der Harry Potter-Reihe aber nicht.

6 Was tun? Die Entwicklung von neun Lesestrategien Ich habe auf der Grundlage der kognitiven Erzähltheorie sowie der possible worlds theory neun Lesestrategien bzw. kognitive Mechanismen entwickelt, die Lesern helfen, dem Unnatürlichen einen Sinn abzugewinnen.27 Ich werde nun im Folgenden diese Lesestrategien einzeln diskutieren und jeweils anhand eines Beispiels erläutern. 1. Meine erste Lesestrategie (the blending of frames) spielt in allen Fällen, in denen wir uns mit dem Unnatürlichen beschäftigen, eine wesentliche Rolle. Da das Unnatürliche einhergeht mit der Darstellung von physikalischen, logischen oder menschlichen Unmöglichkeiten, reichen realweltliche frames und scripts nicht aus, um die dargestellte Welt adäquat zu rekonstruieren, und wir sind somit stets dazu aufgefordert, neue Wahrnehmungsraster zu erzeugen. In diesem Zusammenhang spricht Mark Turner von „impossible blend[s]“.28 In seinem Aufsatz „Double-Scoped Stories“ (2003) erklärt er den Vorgang des blending wie folgt:

|| 26 Siehe auch den Beitrag von Maria Kim in diesem Band. 27 Siehe auch Jan Alber: Unnatural Narrative: Impossible Worlds in Fiction and Drama. Lincoln 2016, S. 47–57. 28 Mark Turner: The Literary Mind. New York/Oxford 1996, S. 60. Als Beispiel nennt Turner die Figur Bertran de Born in Dantes Inferno. Er spricht in diesem Zusammenhang von „a talking and reasoning human being who carries his detached but articulate head in his hand like a lantern“ (S. 62). „This is an impossible blending, in which a talking human being has an unnaturally divided body [Hervorhebung von J. A.]“ (S. 61).

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Cognitively modern human beings have a remarkable, species-defining ability to pluck forbidden mental fruit – that is, to activate two conflicting mental structures [...] and to blend them creatively into a new mental structure.29

In einem Experiment haben die niederländischen Kognitionswissenschaftler Mante S. Nieuwland und Jos J. A. van Berkum gezeigt, dass Probanden in der Tat versuchen, über den Vorgang des blending unnatürliche Entitäten (wie eine sinnliche Erdnuss bzw. eine weinende Jacht) in den Griff zu bekommen bzw. verständlicher zu machen: This process of projecting human properties (behavior, emotions, appearance) onto an inanimate object comes close to what has been called ‘conceptual blending,’ the ability to assemble new and vital relations from diverse scenarios.30

Wenn wir z. B. wie in der Kurzgeschichte Jealous Husband Returns in Form of Parrot (1996) von Robert Olen Butler mit einem sprechenden Tier konfrontiert sind, dann kombinieren wir unser Wissen über Tiere mit unserem Wissen über menschliche Erzähler und erzeugen so eine neues kognitives Raster, nämlich das des sprechenden Tieres (obwohl wir natürlich wissen, dass es so etwas in der wirklichen Welt nicht gibt). Weitere Beispiele für „impossible blends“ wären etwa der tote Erzähler (wie in The Lovely Bones [2002] von Alice Sebold), das vor sich hin sinnierende Spermium (in Night-Sea Journey [1968] von John Barth), die Figur, die sich plötzlich in eine andere Figur verwandelt (wie z. B. im Stück Cleansed [1998] von Sarah Kane), die rückwärts laufende Zeit (wie in Time’s Arrow [1991] von Martin Amis),31 die verdrehte Kausalität (wie in The White Hotel [1981] von D. M. Thomas, wo die Gegenwart teilweise von der Zukunft bestimmt wird) oder das sich verwandelnde Haus, das außerdem innen größer als außen ist (wie in Danielewskis House of Leaves). 2. In manchen Fällen ist der Vorgang des blending bereits abgeschlossen und wir haben das Unnatürliche schon in ein Wahrnehmungsraster überführt, das in aller Regel mit bestimmten Gattungskonventionen zusammenhängt. Beispielsweise wissen wir, dass die Tiere in der Tierfabel sprechen können, oder

|| 29 Mark Turner: „Double-Scope Stories“. In: David Herman (Hg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Stanford 2003, S. 117–142, hier S. 117. 30 Mante S. Nieuwland/Jos J. A. van Berkum: „When Peanuts Fall in Love: N400 Evidence for the Power of Discourse“. In: Journal of Cognitive Neuroscience 18/7 (2006), S. 1098–1111, hier S. 1109. 31 Siehe hierzu auch Jan Alber: „Unnatural Narratology: The Case of the Retrogressive Temporality in Martin Amis’s Time’s Arrow“. In: Vera Nünning (Hg.): New Approaches to Narrative. Cognition – Culture – History. Trier 2013, S. 43–56.

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dass es im Epos, in der Romanze, im Schauerroman oder in neueren FantasyRomanen übernatürliche Wesen und Magie gibt; wir wissen, dass sowohl der allwissende Erzähler als auch das neutrale Erzählmedium in modernistischen Bewusstseinsstrom-Romanen Zugriff auf die Gedanken und Gefühle der Figuren haben; wir wissen, dass man im Science-Fiction-Roman in die Vergangenheit oder in die Zukunft reisen kann, usw. In dem bereits erwähnten Experiment von Nieuwland und van Berkum haben die Probanden interessanterweise auch versucht, unnatürliche Entitäten im Zusammenhang mit bestimmten Gattungskonventionen zu sehen (z. B. „as actual ‘cartoon-like entities’ [i.e., a peanut that walks and talks like a human, having emotions and possibly even arms, legs and a face]“). Die Kognitionswissenschaftler schließen hieraus Folgendes: „The acceptability of a crying yacht or amorous peanut is not merely induced by repeated specific instances of such unusual feature combinations, but somehow also – perhaps even critically – by the literary genre [...] that such instances suggest [H. i. O.].“32 3. Manche unnatürliche Szenarien bzw. Ereignisse können einfach dadurch erklärt werden, dass wir sie den inneren Zuständen einer Figur bzw. des Erzählers zuschreiben. Ich denke hier in erster Linie an Träume, Visionen, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen. Diese Lesestrategie naturalisiert und neutralisiert das Unnatürliche, indem sie das vermeintlich Unmögliche als etwas völlig Natürliches, nämlich als nichts weiter als die Ausgeburt der Fantasie einer Figur oder des Erzählers entlarvt. Beispielsweise kann man die zahlreichen unmöglichen Räume und Zeitabläufe in Flann O’Briens Roman The Third Policeman (1967), in dem drei der Figuren einen Fahrstuhl nehmen, um ein bisschen in der Ewigkeit zu verweilen, über die Halluzinationen des langsam vor sich hin sterbenden Ich-Erzählers erklären. Solche Phänomene sind aber – genau wie das Fantastische nach Todorov – nur scheinbar bzw. auf den ersten Blick unnatürlich. 4. Andere Unmöglichkeiten werden verständlicher, wenn wir sie als thematisch motivierte Phänomene bzw. als Illustrationen bestimmter Themen lesen. Menachem Brinker definiert den Begriff des Themas wie folgt, und dieser Definition schließe ich mich an: [A] specific representational component that recurs several times in the [narrative], in different variations – our quest for the theme or themes of a story is always a quest for something that is not unique to this specific work. [...] A theme is […] the principle (or locus) of a possible grouping of texts. It is one principle among many since we often group together

|| 32 Nieuwland/van Berkum (Anm. 30), S. 1109.

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texts considered to have a common theme, which are importantly and significantly different in many other respects.33

Beispielsweise kann man den bereits erwähnten telepathischen Ich-Erzähler in Rushdies Roman Midnight’s Children aus einer thematischen Perspektive erklären. Saleem Sinais telepathische Kräfte scheinen in erster Linie für die Möglichkeit des wechselseitigen Verstehens unter verschiedenen ethnischen Gruppen, Religionen und Gemeinden im postkolonialen Indien zu stehen. Das Unnatürliche erfüllt in Midnight’s Children also in allererster Linie einen thematischen Zweck.34 5. Man kann bestimmte unnatürliche Elemente auch als Segmente abstrakter Allegorien sehen, die etwas Allgemeines über die conditio humana, also unser menschliches Dasein in der Welt, kommunizieren wollen. In solchen Fällen steht das Unnatürliche nicht für konkrete Menschen, Orte oder Zeiten, sondern für abstrakte Ideen bzw. Vorstellungen. In Kanes erwähntem Theaterstück Cleansed verwandelt sich die Figur Grace in ihren geliebten toten Bruder Graham. Man kann diese physikalisch unmögliche Verwandlung im Kontext einer Allegorie über die Vorzüge und Gefahren der Liebe lesen. Genauer gesagt steht die Verwandlung von Grace in Graham für eine spezifische Gefahr der Liebe, nämlich die Gefahr, sich in der Beziehung zum Anderen und dem verzweifelten Versuch, ganz im Anderen aufzugehen, gänzlich zu verlieren und damit die eigene Identität auszulöschen. 6. Erzählungen können unnatürliche Szenarien bzw. Ereignisse auch satirisch verwenden, um eine bestimmte Person oder eine historische Situation bloßzustellen, oder auch einfach, um sich über sie lustig zu machen. Satiren und Parodien beruhen auf dem Prinzip der Übertreibung, und bestimmte Übertreibungen können so extrem sein, dass sie ins Unnatürliche bzw. Unmögliche abgleiten. Beispielsweise macht sich Roths Roman The Breast durch die Verwandlung von Kepesh in eine riesige weibliche Brust über einen zwanghaften Professor für vergleichende Literaturwissenschaft lustig, der in seinen Vorlesungen über die Metamorphosen in Nikolai Gogols Die Nase (1842) und Franz Kafkas Die Verwandlung (1915) regelmäßig darauf beharrt hat, dass fiktionale Erzählliteratur unser Leben beeinflussen muss. Kepesh hat dies perfekt umgesetzt: Ihm ist genau das widerfahren, was den Figuren in den von ihm unter|| 33 Menachem Brinker: „Theme and Interpretation“. In: Claude Bremond/Joshua Landy/ Thomas Pavel (Hgg.): Thematics: New Approaches. Albany 1995, S. 33–44, hier S. 33. 34 Da laut Boris Tomaševskij jeder Erzähltext ein Thema hat, spielt diese Lesestrategie in fast allen Interpretationen eine Rolle. Siehe Boris Tomaševskij: „Thematics“ [„Tematika“, 1925]. In: Lemon/Reis (Anm. 20), S. 61–95.

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richteten Texten auch passiert ist. Fiktionale Erzählliteratur hat sein Leben beeinflusst, aber leider nicht in einem positiven Sinne – sie hat es ruiniert. 7. Manche dargestellten Unmöglichkeiten werden verständlicher, wenn wir davon ausgehen, dass sie mit einer jenseitigen Sphäre wie z. B. dem Himmel, der Hölle oder dem Purgatorium zusammenhängen. In diesen Sphären sind Unmöglichkeiten möglich, weil sie eben nicht den Gesetzmäßigkeiten der wirklichen Welt unterworfen sind. Das Theaterstück Play (1963) von Samuel Beckett konfrontiert uns z. B. mit einem zirkulären Zeitablauf bzw. einer Endlosschleife. Am Ende kehrt das Stück zu seinem Ausgangspunkt zurück und die drei Charaktere M, W1 und W2, die in Urnen festsitzen und von einem obskuren Licht verhört werden, müssen alles erneut durchleben. Diese Endlosschleife ergibt Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass sich die drei Figuren entweder in der Hölle oder in einer Art Purgatorium, in dem es aber keinerlei Erlösung gibt, befinden. Die drei Figuren sind dazu verdammt, ihre Dreiecksbeziehung im Jenseits immer wieder zu durchleben. 8. Wie Marie-Laure Ryan gezeigt hat, kann man mit den logischen Unmöglichkeiten in Coovers schon erwähnter Kurzgeschichte The Babysitter umgehen, indem man die logisch inkompatiblen Plotstränge als Teile eines Baukastens sieht, der uns die Möglichkeit gibt, unsere eigenen Geschichten zusammenzustückeln. Sie beschreibt diesen Umstand wie folgt: „The contradictory passages in the text are offered to the readers as material for creating their own stories.“35 Anders gesagt, stellt uns der Text mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, und wir sind dazu angehalten, uns diejenigen auszusuchen, die uns am besten gefallen. Diese Lesestrategie hängt eng mit Roland Barthes’ Idee vom ‚Tod des Autors‘ zusammen, der seiner Meinung nach mit der Geburt des Lesers einhergeht.36 In Erzählungen wie The Babysitter ist der Autor – im Sinne einer ordnenden Instanz – gänzlich abwesend, und der Leser muss sich seine eigenen Gedanken machen – nicht nur bezüglich einer möglichen Interpretation, sondern auch hinsichtlich der dargestellten story. 9. Manchmal sollte man es mit der Sinnsuche und der Interpretation vielleicht auch nicht übertreiben. Das was ich „the Zen way of reading“ nenne,37 setzt aufmerksame und gleichsam stoische Leser voraus, die die zuvor erwähn-

|| 35 Ryan (Anm. 6), S. 671. 36 Vgl. Roland Barthes: „The Death of the Author“ [„La mort de l’auteur“, 1968]. In: Vincent B. Leitch (Hg.): The Norton Anthology of Theory and Criticism. New York 2001, S.1466–1470, hier S. 1470. 37 Meine Formulierung folgt einem im persönlichen Gespräch geäußerten Vorschlag von Brian McHale.

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ten Lesestrategien ablehnen und stattdessen die Eigentümlichkeit des Unnatürlichen und Gefühle wie Angst und Panik, die das Unmögliche in ihnen auslöst, einfach akzeptieren. H. Porter Abbott ist ein strenger Verfechter dieser Idee.38 Ich finde den „Zen way of reading“ in erster Linie psychologisch interessant, sehe aber nicht, wie dieser Ansatz interessante Lesarten bzw. Interpretationen generieren soll. Ich gehe im Übrigen nicht davon aus, dass diese Lesestrategien chronologisch entsprechend dem Lektüreakt geordnet sind. Vielmehr nehme ich an, dass sie sich im Rezeptionsprozess gegenseitig überlagern. Ich sehe sie in erster Linie als Optionen, derer man sich bedienen kann, wenn man sich überhaupt mit dem Unnatürlichen beschäftigen will. Auch überschneiden sich die Lesestrategien an einigen Stellen; und ich möchte auch explizit darauf hinweisen, dass man sich dasselbe unnatürliche Szenario bzw. Ereignis aus der Perspektive mehrerer Lesestrategien gleichzeitig anschauen kann.

7 Ausblick: Der Mehrwert des Unnatürlichen Ich möchte meinen Aufsatz nun mit einigen allgemeinen Bemerkungen zum Mehrwert des Unnatürlichen beenden. Zunächst einmal versucht das Unnatürliche über die Darstellung von physikalischen, logischen oder menschlichen Unmöglichkeiten das Potenzial fiktionaler Texte bzw. der aristotelischen Mimesis auszureizen. Das Unnatürliche zeigt uns, was in der Welt der Fiktion alles möglich ist, und führt uns beharrlich jenseits realweltlicher Möglichkeiten; es versucht so (mehr oder weniger systematisch) die Grenzen des Fiktiven auszutesten. Das Unnatürliche zelebriert nicht die empirische Wirklichkeit, sondern die vielfältigen Möglichkeiten der Imagination; in diesem Zusammenhang spricht Werner Wolf von „the faculty of the human mind to engage in the field of ‘the imaginary’ regardless of rational ‘impossibilities’“39. Da uns unnatürliche Erzähltexte mit eigenartigen Phänomenen wie sprechenden Leichen, verdrehten Zeitabläufen oder sich verwandelnden Schauplät-

|| 38 Vgl. H. Porter Abbott: „Unreadable Minds and the Captive Reader“. In: Style 42/4 (2008), S. 448–470; Ders.: „Immersions in the Cognitive Sublime: The Textual Experience of the Extratextual Unknown in García Márquez and Beckett“. In: Narrative 17/2 (2009), S. 131–142. 39 Werner Wolf: „Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon. A Case Study of the Possibilities of ‘Exporting’ Narratological Concepts“. In: Jan Christoph Meister/Tom Kindt/Wilhelm Schernus (Hgg.): Narratology beyond Literary Criticism: Mediality, Disciplinarity. Berlin/New York 2005, S. 83–108, hier S. 102.

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zen konfrontieren, ist es kognitiv oft sehr mühsam, sich mit dem Unnatürlichen auseinanderzusetzen. Man kann sich daher fragen, warum bestimmte Autoren überhaupt mit dem Unmöglichen spielen bzw. warum bestimmte Rezipienten sich auf dieses Spiel einlassen. In diesem Zusammenhang argumentiert Lisa Zunshine, dass sich die Beschäftigung mit dargestellten Unmöglichkeiten positiv auf unser kognitives Wohlergehen auswirkt. Sie schreibt: „Contemplating concepts that challenge our cognitive biases may help the mind to retain its flexibility and its capacity for responding to its infinitely complex and changing environment.“40 Obwohl ich keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Erzählstrukturen und ethischen Implikationen zu erkennen vermag, denke ich doch ähnlich wie Zunshine, dass uns die Auseinandersetzung mit dem Unnatürlichen offener, flexibler und unter Umständen auch toleranter macht, weil wir dazu angespornt werden, uns mit besonders widerspenstigen und hartnäckigen Konzepten zu beschäftigen. Es gibt eine lange Liste an Denkern – von Platon bis John R. Searle41 – die argumentieren, dass fiktionale Texte ihre Leser grundsätzlich fehlleiten, weil sie falsche Erwartungen wecken. Dies scheint insbesondere auf unnatürliche Erzähltexte zuzutreffen. Im Gegensatz zu solchen Denkern sehe ich einen Mehrwert in der Darstellung von Unmöglichkeiten. Da uns unnatürliche Szenarien und Ereignisse in die entlegensten Bereiche des überhaupt Denkbaren entführen, weiten sie auf signifikante Art und Weise unseren kognitiven Horizont aus. Das Unnatürliche steht unserem einfachen und beschränkten Blick auf die Welt kritisch gegenüber und wirft Fragen und Probleme auf, die wir unter normalen Umständen eventuell ignorieren würden. Wie Schaeffer gezeigt hat,42 führen uns fiktionale Erzähltexte häufig in Gebiete jenseits des Tatsächlichen und Vertrauten und führen dabei wichtige Gedankenexperimente durch. Wolfgang Iser argumentiert ganz ähnlich: Fiction allows us to lead an ecstatic life by stepping out of our entanglements and into zones we are otherwise barred from. Fictional literature is not hedged in either by the

|| 40 Lisa Zunshine: Strange Concepts and the Stories They Make Possible: Cognition, Culture, Narrative. Baltimore 2008, S. 144. 41 Siehe John R. Searle: „The Logical Status of Fictional Discourse“. In: New Literary History 6/2 (1975), S. 319–332. 42 Siehe Jean-Marie Schaeffer: Why Fiction? [Pourquoi la fiction?, 1999]. Übers. v. Dorrit Cohn. Lincoln/London 2010.

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limitations or the considerations that determine the institutionalized organizations within which human life otherwise takes its course.43

Die Beobachtungen von Schaeffer und Iser treffen insbesondere auf Erzähltexte zu, die Unmöglichkeiten darstellen. Ganz allgemein gesprochen beschäftigen sich solche Erzählungen mit der Frage, wie es wohl ist (Herman spricht von „what it is like“44), Erzählwelten zu erfahren, die in der wirklichen Welt nicht realisierbar und daher nicht lebbar wären, weil sie einfach über realweltliche Grenzen hinausgehen. Durch unnatürliche Erzähltexte können wir uns vorstellen, wie es wäre, eine andere Entität zu sein, wie es wäre, wenn die Zeit rückwärts laufen würde, oder wie es wäre, wenn wir die Gedanken unserer Mitmenschen lesen könnten. Die neuen, durch unnatürliche Erzähltexte induzierten Wahrnehmungsraster sind nicht nur eine Form von l’art pour l’art; sie haben durchaus realweltliche Konsequenzen. Sie ermöglichen es Lesern, die Welt mit neuen Augen zu sehen. In diesem Zusammenhang schreibt Turner: „Blended spaces do cognitive work in the strongest sense. They provide inferences, emotions, and novel actions, and consequently leave their mark upon the real world.“45 Beispielsweise haben die zahlreichen Tiererzähler im 18., 19. und 20. Jahrhundert, die beharrlich das Leiden von Tieren unter rücksichtslosen Besitzern aus der Perspektive von Tieren schildern (wie z. B. The Life and Perambulations of a Mouse [1783] von Dorothy Kilner oder Sewells bereits erwähnter Roman Black Beauty), sicherlich zu einem veränderten Bewusstsein bezüglich Tieren geführt. Meine Lesestrategien können uns helfen, die von Turner beschriebenen Implikationen bzw. Konsequenzen von „impossible blends“ genauer zu bestimmen. Nichtsdestotrotz möchte ich auch betonen, dass ich im Gegensatz zu Abbotts Behauptungen46 nicht versuche, dargestellte Unmöglichkeiten zu normalisieren oder die kognitiven bzw. emotionalen Effekte des Unerklärlichen zu neutralisieren. Im Gegenteil: Ich möchte vielmehr das Besondere des Unnatürlichen hervorheben und damit seine fundamentale Eigentümlichkeit erhalten.

|| 43 Wolfgang Iser: „Why Literature Matters“. In: Rüdiger Ahrens/Laurenz Volkmann (Hgg.): Why Literature Matters: Theories and Functions of Literature. Heidelberg 1996, S. 13–22, hier S. 19. 44 David Herman: Basic Elements of Narrative. Malden 2009, S. 14. 45 Turner (Anm. 28), S. 74. 46 Siehe Abbott (2008, Anm. 38), S. 448.

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Maximilian Alders

Die unnatürliche Natürlichkeit des Realismus Am Beispiel von Margaret Drabbles The Radiant Way But one cannot, really, wholly differentiate these three women. In their mid-forties, after more than half a lifetime of association, they share characteristics, impressions, memories, even speech patterns: they have a common stock of knowledge, they have entered, through one another, worlds that they would not otherwise have known. Margaret Drabble: The Radiant Way1

Überblickt man die durch die Konvention(en) des so genannten allwissenden Erzählens dominierte Literatur des Realismus im Sinne des formal realism Ian Watts2, so lässt sich folgende Beobachtung machen: Auf der Ebene der story3 präsentieren derart erzählte Welten in der Regel empirisch glaubhafte Schauplätze, Figurenkonstellationen und Handlungsverläufe. Die Evokation dieser Welten zielt auf eine größtmögliche Simulation der jeweils historisch bedingten Alltagswirklichkeit in der Rezeptionserfahrung, auf eine in diesem Sinne maximale Natürlichkeit ab. Auf der Ebene des discourse hingegen ist die durch den allwissenden Erzähler4 kommunizierte Vermittlung dieser Welten im Rahmen

|| 1 Margaret Drabble: The Radiant Way. London 1987, S. 108. Alle folgenden Zitate aus The Radiant Way beziehen sich auf diese Ausgabe. The Radiant Way eröffnet eine Roman-Trilogie Drabbles, die durch A Natural Curiosity (1989) und The Gates of Ivory (1991) komplettiert wird. 2 Der Begriff Realismus wird im Folgenden als ein (sich typischerweise in Erzähltexten mit allwissenden Erzählern manifestierendes) Phänomen verstanden, welches sowohl synchron (im Sinne der Stilepoche des 19. Jahrhunderts) als auch diachron (im Sinne eines generellen Erzählmodus) auftritt. Inhaltlich orientiere ich mich hierbei an Ian Watts Konzept des formal realism, mithin „[...] the narrative embodiment of a premise, or primary convention, that the novel is a full and authentic report of human experience, and is therefore under an obligation to satisfy its reader with such details of the story as the individuality of the actors concerned, the particulars of the times and places of their actions, details which are presented through a more largely referential use of language than is common in other literary forms“. Ian Watt: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding. London 1957, S. 32. 3 Die Kategorien story (Ebene des Erzählten) und discourse (Ebene des Erzählens) folgen Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca u. a. 1978, S. 19. 4 Freilich ist die in diesem Terminus inhärente Anthropomorphisierung nicht unproblematisch, worauf beispielsweise Albrecht Koschorke hinweist: „[Diese] erzählende Instanz wird der Einfachheit halber ‚Erzähler‘ genannt, obwohl es sich dabei nicht notwendig um ein männlihttps://doi.org/10.1515/9783110626117-009

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der konzeptuellen Darlegungen Jan Albers dezidiert als unnatürlich5 einzustufen, als eine in mehrfacher Hinsicht deutliche Überschreitung der Natürlichkeit realweltlicher Gegebenheiten. Aus dieser Bestandsaufnahme ergibt sich die Frage, wie sich die unnatürliche Diskursivität realistisch-allwissenden Erzählens auf die auf diese Weise aufgerufenen fiktionalen Welten auswirkt. Paradoxerweise, so lautet die den weiteren Ausführungen dieses Beitrages zugrunde liegende These, erweist sich der mit unnatürlichen Kapazitäten ausgestattete allwissende Erzähler als die maßgebliche Ordnungsinstanz, welche die narrativen Welten des Realismus nicht lediglich evoziert, sondern auch deren Kohärenz und unmittelbare Lesbarkeit gewährleistet. Zugespitzt postuliere ich, dass die narrativ vermittelte (Illusion der) Natürlichkeit der Welten des Realismus durch die diskursive Unnatürlichkeit allwissenden Erzählens zustande kommt. Die prominenteste Manifestation dessen, was dieser These zufolge mittels eines Oxymorons als unnatürliche Natürlichkeit allwissenden Erzählens identifiziert werden kann, ist die umfassende Bewusstseinsdarstellung dieses Modus; durch die Repräsentation der Innenwelten der Figuren wird diese These am deutlichsten belegt. Das in diesem Beitrag relevante Verständnis von ‚Welt‘ bezieht sich daher auf die vom allwissenden Erzähler vermittelten Bewusstseinswelten.6 Der allwissende Erzähler kennt, arrangiert und artikuliert die interagierenden, konfligierenden und sogar fusionierenden Bewusstseinssphären aller || ches Individuum noch überhaupt um eine Person handelt, der ein bestimmtes Sprechen zurechenbar ist. Streng genommen ist sogar die Rede von einer Erzählinstanz (im Singular) irreführend, weil Erzählungen in ihrem Verlauf oft zwischen uneinheitlichen und mitunter inkohärenten Sprech- und Sichtweisen wechseln, so dass die Einheit eines Textes keineswegs von der Einheit einer identifizierbaren Zentralinstanz abhängen muss. Will man ‚den‘ Erzähler überhaupt als Subjekt ansprechen, so hat man es mit einer wandernden, dispersen, vielfach fragmentierten Subjektform zu tun.“ Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012, S. 84. 5 Im Folgenden verwende ich ‚natürlich‘ und ‚unnatürlich‘ als Übersetzungen der in der Debatte zwischen Monika Fludernik (natural narratology) und Jan Alber (unnatural narratology) zum Einsatz kommenden Ausdrücke. Fludernik und Alber erläutern jeweils, in welchem Sinne sie diese Ausdrücke gebrauchen. Siehe Monika Fludernik: Towards a ‘Natural’ Narratology. London/New York 1996, S. 12–19, und Jan Alber: „Impossible Storyworlds – and What to Do with Them“. In: Storyworlds: A Journal of Narrative Study 1/1 (2009), S. 79–96, hier S. 80. 6 Hierbei unterteile ich das Phänomen ‚Welt‘, grob gesprochen, in Außenwelt (im Sinne von materieller Umwelt) und Innenwelt (im Sinne von Bewusstseinswelt). Zwar durchdringen diese beiden Arten von Welt einander ständig; primäre Bedeutung kommt für mich aber den Innenwelten zu. An den im Folgenden vorgestellten Ausführungen Doležels und Palmers orientiere ich mich unter anderem insofern, als dass eine fiktionale Welt in meinem Verständnis sowohl als intra- als auch intersubjektive Innenwelt relevant ist.

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Figuren. Im Rahmen der Klassifikation Lubomír Doležels sind die Welten des Realismus somit nicht als one-person worlds, sondern als multiperson worlds7 einzustufen. Mitunter nutzt der Erzählerdiskurs zu diesem Zweck gar eine explizite Welten-Rhetorik, etwa wenn im obigen Romanauszug mitgeteilt wird, „they have entered, through one another, worlds that they would not otherwise have known“ (S. 108). Dieses Zitat, welches den Sonderfall eines kollektiven Akteurs bzw. social mind im Sinne Alan Palmers8 und somit einer zumindest partiellen Bewusstseinsverschmelzung diverser Figuren vorstellt, exemplifiziert pointiert die nicht an normalmenschliche Wissensgrenzen gebundene Einsicht des allwissenden Erzählers. Um diese einführend lediglich skizzierten Zusammenhänge näher auszuführen, wird im Folgenden zunächst dargelegt, dass und inwiefern (1) allwissendes als unnatürliches Erzählen im Sinne Jan Albers zu verstehen ist und (2) die ‚unnatürlich‘ erzählten Welten des Realismus mit Doležel als prägnante Exemplare einer multiperson world aufzufassen sind. Schließlich wird anhand von Margaret Drabbles Roman The Radiant Way (1987) demonstriert, (3) dass und wie – d. h. mittels welcher konkreten Strategien – der unnatürliche Diskurs des allwissenden Erzählers die multiperson worlds des Realismus erzählt.

1 Allwissendes als unnatürliches Erzählen Die Analyse erzählter Welten ist seit einigen Jahren um das Forschungsprogramm der so genannten unnatürlichen Narratologie (bzw. unnatural narratology)9 erweitert worden, welche sich auf die Untersuchung verschiedener Ausprägungen unnatürlicher Erzählungen konzentriert. Alber ist ein Vertreter dieser Schule und legt im Leitartikel zu diesem Beitrag seine Auffassung über die in|| 7 Vgl. Lubomír Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998, S. 32 f. 8 Bezüglich kollektiven Bewusstseins orientiere ich mich an Palmers Konzept des social mind: „An important aspect of the social mind is our capacity for intermental thought. Such thinking is joint, group, shared, or collective, as opposed to intramental [H. i. O.], or individual or private thought. […] Intermental thought is a crucially important component of fictional narrative, because, just as in real life, where much of our thinking is done in groups, much of the mental functioning that occurs in novels is done by large organizations, small groups, work colleagues, friends, families, couples, and other intermental units.“ Alan Palmer: Social Minds in the Novel. Columbus 2010, S. 41. 9 Für eine Liste relevanter Publikationen siehe die entsprechende Webseite des Narrative Research Lab der Universität Aarhus: www.unnaturalnarratology.com.

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haltliche Bestimmung, die erzähltheoretische Relevanz und die pragmatischinterpretatorische Funktion solcher Narrationen dar. Bündig zusammengefasst ist Erzählen dann als unnatürlich im Sinne Albers einzustufen, wenn es logisch, physikalisch oder menschlich unmögliche Szenarien und Ereignisse beschreibt.10 Ein Charakteristikum der Systematik Albers besteht darin, zwischen Erzählungen, die solche unmöglichen Szenarien beschreiben, und solchen, die dies nicht tun, keinen kategorischen Unterschied zu konstatieren, sondern vielmehr eine fundamentale Gemeinsamkeit. Gegenüber einer strengen Dichotomie befürwortet Alber die Vorstellung eines zwischen den Polen natürlich und unnatürlich kontinuierlich verlaufenden Spektrums, auf dem auch (un-)natürliche Hybride verortet werden können. Folglich betont Alber, dass die nach seinem Verständnis offensichtlichen Unmöglichkeiten „anti-mimetischer“11 Erzählverfahren, die beispielsweise für postmoderne Texte besonders typisch sind (Metalepsen; rückläufige Chronologie; Koexistenz diverser Kontradiktionen), nicht als grundsätzlich anders und neu zu verstehen sind, sondern als Radikalisierungen von in „mimetischen“12 Erzählungen beispielsweise realistischer Orientierung bereits tendenziell präsenten narrativen Phänomenen (Selbstreflexivität des Erzählers; Rückblenden; komplex-widersprüchliche Figurenpsychologie). So lässt sich mit Alber sagen, dass die Unnatürlichkeit anti-mimetischer Erzählungen ihr Profil nicht in oppositioneller Alterität zur Natürlichkeit mimetischer Erzählungen entwickelt, sondern dass erstere in letzterer bereits angelegt ist, – um dann allerdings mit Hilfe bestimmter narrativer Strategien in unnatürlichen Geschichten systematisch und überdeutlich extremisiert zu werden. Um mein hiesiges Anliegen zu konkretisieren, ist es aufschlussreich, kurz auf einen spezifischen Aspekt der unlängst (2012) in der Zeitschrift Narrative geführten Debatte zwischen Monika Fludernik und Alber u. a. aufmerksam zu machen. Hintergrund dieser Debatte ist, dass das von Fludernik (1996)13 errichtete Gebäude einer natürlichen Narratologie einen Orientierungsrahmen der unnatürlichen Narratologie darstellt, wie Alber u. a. in ihrer Antwort auf Fludernik bestätigen.14 Fludernik geht ihrerseits zuvor der Frage nach, wie natürlich

|| 10 Alber (Anm. 5), S. 80. 11 Brian Richardson: Unnatural Voices. Extreme Narration in Modern and Contemporary Fiction. Columbus 2006, S. 14. 12 Richardson (Anm. 11), S. 1. 13 Fludernik (Anm. 5). 14 Jan Alber/Stefan Iversen/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson: „What Is Unnatural about Unnatural Narratology? A Response to Monika Fludernik“. In: Narrative 20/3 (2012), S. 371–382, hier S. 371.

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beziehungsweise unnatürlich die unnatürliche Narratologie sei.15 Im Zuge dessen hebt sie neben tiefergehenden erzähltheoretischen Differenzen zwischen natürlicher und unnatürlicher Narratologie einen bestimmten Punkt hervor, der das gegenwärtige Thema – die unnatürliche Natürlichkeit realistisch-allwissenden Erzählens – im Kern bereits erfasst. So schreibt Fludernik, „what ‘unnatural’ narratology may set out to do is to characterize in more detail how the fantastic is woven through the texture of realism […]“, und „one of the most important practical [H. i. O.] consequences of discovering the ‘unnatural’ in the deceptively realist or familiar text is therefore this recuperation of the fabulous, magical, fantastic or supernatural“16. In ihrem Fazit unterstreicht Fludernik für die unnatürliche Narratologie erneut, dass „one line of enquiry that might be particularly fruitful is the recovery of both the fantastic and the impossible within the realist tradition […]“17. Allerdings hatten Alber u. a. bereits zu einem früheren Zeitpunkt (2010) angemerkt, dass „standard realist texts […] are full of unnatural elements such as narratorial omniscience […]“18. Alber greift dies auf, wenn er den allwissenden Erzähler aufgrund von dessen menschlich unmöglicher Fähigkeit der umfassenden Einsicht in die Bewusstseinsvorgänge aller individuellen sowie auch kollektiven Figuren einer demgemäß multipersonalen Welt als unnatürlich einstuft: From my perspective, the ‘omniscient’ narrator’s most important power is the (humanly impossible) ability to penetrate the minds of the characters and correctly report all their ‘secret activities’, which is ‘something none of us can do in daily life’ [...].19

Es zeigt sich, dass die unnatürliche Narratologie allwissendes als unnatürliches Erzählen begreift.

|| 15 Monika Fludernik: „How Natural is ‘Unnatural Narratology’; or, What Is Unnatural about Unnatural Narratology?“. Narrative 20/3 (2012), S. 357–370. 16 Fludernik (Anm. 15), S. 363. 17 Fludernik (Anm. 15), S. 368. 18 Jan Alber/Stefan Iversen/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson: „Unnatural Narratives, Unnatural Narratology: Beyond Mimetic Models“. In: Narrative 18/2 (2010), S. 113–136, hier S. 130. 19 Jan Alber: „Pre-Postmodernist Manifestations of the Unnatural: Instances of Expanded Consciousness in ‘Omniscient’ Narration and Reflector-Mode Narratives“. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 61/2 (2013), S. 137–153, hier S. 142. Die Hervorhebungen am Ende des Zitats beziehen sich wiederum auf ein Zitat von Meir Sternberg: Expositional Modes and Temporal Ordering in Fiction. Bloomington 1978, S. 282.

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Als aus meiner Sicht nicht unerhebliches Ergänzungsargument merke ich nun speziell gegenüber Alber (2013) an, dass das umfassende Wissen dieses Erzählertyps über die Bewusstseinswelten der Figuren nicht lediglich in einen correct report mündet, sondern in die Ausgestaltung eines facettenreichen Erzählerdiskurses über Bewusstsein, den ich andernorts als mind-telling20 konzipiere. Meine Beobachtungen akzentuieren, dass der allwissende Erzähler des Realismus von seinen unnatürlichen Kapazitäten (raum-zeitliche Omnipräsenz; Allwissenheit) dergestalt Gebrauch macht, dass er einen elaborierten und Kohärenz stiftenden Diskurs über die multiplen Bewusstseinswelten der fiktiven Charaktere führt. Die stilistische und funktionale Komplexität dieses Diskurses, so argumentiere ich überdies, grenzt diesen Erzähl(er)typus sowohl extraliterarisch von nicht-fiktionalen Erzählweisen als auch binnenliterarisch von anderen Erzählertypen wie etwa Ich-Erzählern ab, insofern letztere auf die Subjektivität einer zugleich erlebenden und erzählenden Figur beschränkt sind.21 Doležels Konzept der multiperson world unterstreicht, dass die diversen Figuren und deren Bewusstseinswelten auf komplexe Weise interagieren, konfligieren und fusionieren. Adäquaterweise ist im Falle der multiperson world deswegen von einer Pluralität ineinander verstrickter Subjektwelten, einer veritablen multipersonalen Welten-Matrix zu sprechen. Da die Bewusstseinswelten diverser Figuren innerhalb der raumzeitlichen fiktionalen Lebenswelt situiert sind, gleichsam als deren Intimsphäre(n), kommt die Unnatürlichkeit der Art, wie der allwissende Erzähler diese Subjektwelten kennt und kommuniziert, umso deutlicher zum Vorschein. Während in Abschnitt 3 die zu diesem Zweck eingesetzten narrativen Mittel anhand eines Textbeispiels diskutiert werden, klärt der nächste Abschnitt zunächst, inwiefern Doležels Kategorie der multiperson world ein heuristisch wertvolles Modell liefert, um die fundamentale Bedeutung der Größen ‚Welt‘ und ‚Figur‘ im Realismus narratologisch zu konzeptualisieren.

|| 20 Maximilian Alders: „Mind-Telling in Silas Lapham“. In: Journal of Narrative Theory 44/2 (2014), S. 212–243. 21 Maximilian Alders: „But Why Always Dorothea? Omniscient as Unnatural Narration Revisited“. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 61/4 (2013), S. 341–354.

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2 Lubomír Doležels Konzept der multiperson world und Kollektivität In einem Buch, in dessen Titel sich bereits die Verschachtelung verschiedenartiger Welten terminologisch fixiert, Heterocosmica, konstatiert Doležel die fundamentale erzähltheoretische Bedeutung narrativ erzeugter Welten: „The basic concept of narratology is not ‘story’, but ‘narrative world’, defined within a typology of possible worlds.“22 Doležel spezifiziert sein Konzept von Welt durch vier Parameter. So ist eine Welt zunächst durch bloße Zustände und statische Objekte als ein „closed, atemporal, Parmedian realm of stillness and silence, where nothing changes, nothing happens“23, charakterisiert. Auf der nächsten Stufe dynamisiert sich die anfänglich statische Welt durch das Einwirken der (leblosen) Kräfte der Natur, wodurch dementsprechende Veränderungen bewirkt werden. Hierbei handelt es sich um „a model of actual nature, the universe of discourse of natural science and the world of nature poetry, art, and music […]“24. Auf der dritten Stufe wird die Welt um eine bedeutende Kategorie erweitert, nämlich die der Person. Personen besitzen neben ihren physischen Eigenschaften entscheidenderweise auch mentale Kapazitäten, was sie in die Lage versetzt, durch willentlich gesteuerte Handlungen nachhaltige Veränderungen in ihrer Umwelt herbeizuführen. Personen produzieren überdies auch neue Gegenstände („artifacts“) und sind semiotisch tätig, etwa in Form von Sprechakten, indem sie Zeichen benutzen, um Informationen zu übermitteln.25 Die Bedeutung der Anwesenheit und Aktionen von Personen in Welten könnte gemäß Doležel größer kaum sein: World-with-person […] is the space of human or humanlike existence, the universe of discourse of human and social sciences, and, most importantly for this study, the world of narrative. Stories require the presence in the fictional world of at least one person-agent. World-without-person can provide the initial or the end state of some elementary stories (the genesis of the human race or its apocalyptic extinction) but by itself is below the threshold of narrativity. It is worlds with persons or, better, persons within worlds that generate stories.26

|| 22 Doležel (Anm. 7), S. 31. 23 Doležel (Anm. 7), S. 32. 24 Doležel (Anm. 7), S. 32. 25 Vgl. Doležel (Anm. 7), S. 32. 26 Doležel (Anm. 7), S. 32 f.

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Auf der vierten Stufe schließlich veranschaulicht Doležel, dass sich die „worldwith-person“ in zwei Gestalten zeigt: „as a one-person world, where only one person is present, and as a multiperson world, where at least two persons exist and act“27. Diese Unterscheidung ist allerdings weniger als binäre Opposition denn als graduelle Erweiterung der ersten drei Stufen aufzufassen. So merkt Doležel an, dass der one-person world durch die Anwesenheit lediglich einer Person zwar eine starke narrative Beschränkung inhärent ist, dass deren semantisches Potential im Gegensatz dazu aber beträchtlich ist: „Isolating a person from others bares the rudimentary features of acting and mental life. The oneperson world is the most felicitous and instructive starting point for fictional semantics.“28 Da die one-person world dergestalt allerdings lediglich den Anfangspunkt fiktionaler Semantik darstellt, ist die für Doležel auschlaggebende Dimension letzten Endes dennoch die multiperson world: „The most fertile ground for narrative is the fictional world where two or more persons, potential agents, are present.“29 Doležels hierarchisch aufgebautes Stufenmodell impliziert eine Bemessungsskala anhand zweier zentraler, interdependenter Phänomene: Multipersonalität und Interaktion. Doležel schreibt, dass „the semantics of narrative is, at its core, the semantics of interaction“30, preist „the narrative complexity and plasticity of the multiperson world“31 und postuliert, dass „the persons’ interaction, individually or in groups, is the prime source of stories“32. Diese Aussagen definieren die multiperson world als die höchste Ausprägung narrativer Strukturen, womit, wie erwähnt, untrüglich ein Evaluationsraster einhergeht: Umso intensiver die Interaktion zwischen (mindesten zwei) Figuren in einer fiktionalen Welt ist, umso höher und fruchtbarer ist der Grad an Narrativität. Doležel geht im Kapitel „Interaction and Power“33 näher auf die Beschaffenheit der multiperson world ein. So sind die Handlungsumstände in der multipersonalen Welt durch einen klassisch-realistischen Topos34 bestimmt: Jede Figur

|| 27 Doležel (Anm. 7), S. 32. 28 Doležel (Anm. 7), S. 37. 29 Doležel (Anm. 7), S. 74. 30 Doležel (Anm. 7), S. 97. 31 Doležel (Anm. 7), S. 74. 32 Doležel (Anm. 7), S. 74. 33 Doležel (Anm. 7), S. 96–112. 34 Wie an mehreren Stellen in diesem Beitrag deutlich wird, leitet sich eine unterschwellige Motivation meiner Ausführungen aus der Wahrnehmung ab, dass die literaturwissenschaftliche Erforschung dieses Topos – „the tendency to examine individuals within the complexities of group life“ – zu einseitig auf individuelle Phänomene gerichtet ist. Alan Palmer: „Realist

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ist in ein Netzwerk interpersonaler Beziehungen eingespannt, welches die Existenz des Selbst unweigerlich in ein dynamisches Verhältnis zu Anderen setzt. Zwar behält die Einzelperson die Kapazität zu eigenständiger Motivation, subjektiven Ansichten, individuellen Absichten und einer charakteristischen Handlungsweise bei; entscheidend ist jedoch, dass diese individuellen Aktivitäten in der Matrix des interpersonalen Netzwerks mit denen der Ko-Agenten aufeinander treffen: Agieren wird zu Inter-agieren, und zwar zwingend. Zudem oktroyieren soziale Gruppen ihre kollektiven Direktiven auf die Intentionalität des Einzelnen. Hierdurch ergibt sich für den Bewohner der multipersonalen Welt, dass er seine Handlungen unter aus seiner Sicht komplexen, unbestimmten und letztlich unkontrollierbaren Konditionen auszuführen hat. Diese für die agierende Figur chaotisch erscheinende Welt ist aber die in narrativer Hinsicht fruchtbarste, so Doležel, der diesen Absatz mit dem bereits zitierten Postulat schließt, dass „the semantics of narrative is, at its core, the semantics of interaction“35. Kollektives Bewusstsein stellt ein weiteres, spezielles Phänomen im Zusammenhang der multipersonalen Welt dar. Auf der Basis sozialpsychologischer Studien versammelt Doležel unter dieser Rubrik kognitive Systeme wie Sprache, kulturelle Archetypen, ethnische Vorstellungen, religiöse Überzeugungen, Ideologien und wissenschaftliche Erkenntnisse. Dieses supraindividuelle kognitive Umfeld wird als bedeutendste Determinante menschlicher Existenz und als der primäre soziale Anstoß(er) für Interaktionen ausgegeben. Zudem wird die Wirkungsmacht dieses Umfeldes durch einhergehende kollektive Emotionen wie etwa nationalen, politischen oder religiösen Eifer und dergleichen verstärkt. Für den Zusammenhalt der Gruppe sind kollektives Bewusstsein und kollektive Emotionen von grundlegender Bedeutung, da sie die Welt in ‚wir‘ und ‚die‘ aufspalten und die Interaktionen zwischen Gruppen motivieren.36 Doležel betont abschließend jedoch auch, dass Motivation in der multipersonalen Welt durch ein dialektisches Modell kollektiven und individuellen Bewusstseins geprägt ist; die Motivation des Individuums entwickelt sich demgemäß im Spannungsfeld zwischen der Durchsetzungskraft kollektiver Faktoren und einem intensiven Streben nach motivationaler Selbstbehauptung.37 Ande|| Novel“. In: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hgg.): The Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York 2005, S. 491–492, hier S. 491. Meines Erachtens sollten kollektive Phänomene ebenso intensiv untersucht werden, wozu bislang lediglich erste Schritte unternommen wurden, vor allem von Palmer (Anm. 8) selbst. 35 Doležel (Anm. 7), S. 97. 36 Vgl. Doležel (Anm. 7), S. 101. 37 Vgl. Doležel (Anm. 7), S. 101–103.

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rerseits erläutert Doležel im Abschnitt über „social acting“, dass das Handeln zwischen Gruppen in Korrespondenz zum Handeln zwischen Individuen strukturiert ist, und dass kollektive Akteure, wie beispielsweise Institutionen, gemäß den Parametern individueller Akteure verstanden werden können.38 Im Ergebnis offenbart sich die multipersonale somit vor allem als eine soziale Welt, da Individuen nicht lediglich in interpersonale (gleichsam inter-individuelle) Beziehungen verflochten sind, sondern auch als Mitglieder in soziale Gruppen integriert sind – mit anderen Worten, dass ihre Individualität in unterschiedlichem Maß in kollektiven Konstellationen absorbiert wird. Nachdem zunächst auf abstrakter Ebene realistisch-allwissendes als unnatürliches Erzählen herausgestellt wurde und zudem Doležels Schema der multiperson world als eine narratologische Konzeptualisierung von fiktionaler Welt vorgestellt wurde, in welcher der Interaktion diverser Individuen maßgebliche Bedeutung zukommt, soll betont werden, dass die fiktionale Welt des Realismus im Besonderen durch eine reichhaltige Darstellung der Innenwelten dieser Individuen gekennzeichnet ist. Um den Zusammenhang der eben genannten theoretischen Perspektiven zu demonstrieren, wird nun abschließend vor Augen geführt, unter Verwendung welcher narrativen Mittel diese Phänomene in einem konkreten Textbeispiel, Margaret Drabbles Roman The Radiant Way, präsentiert werden.

3 Die multiperson world des Realismus: Margaret Drabbles The Radiant Way 3.1 Inhaltsangabe The Radiant Way zeichnet die Lebensläufe dreier weiblicher Hauptfiguren (Liz, Alix und Esther) nach, die seit ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Universität Cambridge eine enge Freundschaft verbindet. Der Plot setzt ein mit einer von Liz und ihrem Ehemann Charles veranstalteten Neujahrsfeier im Jahr 1979/1980 in deren Stadthaus im Zentrum Londons; Charles lässt sich kurz darauf nach über 20 Jahren Ehe von Liz scheiden. Die Handlung ist zunächst von der Trennungsgeschichte geprägt und davon, wie Liz im Austausch mit ihren Kindern sowie ihren Freundinnen Alix und Esther ihr verändertes Leben in London gestaltet. Zudem stellen häufige Rückblenden die Entwicklungsgeschichte der || 38 Vgl. Doležel (Anm. 7), S. 110–112.

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Hauptfiguren dar, vor allem die Studienzeit der drei Frauen in Cambridge und die Jugendzeit von Liz und ihrer Schwester Shirley. Im Zuge dessen kontrastiert der Roman hauptsächlich zwei Lebensräume, nämlich das (fiktive) nordenglische Northam, wo Liz und Shirley aufwuchsen und wo Shirley dann früh eine Familie gründet, und die Metropole London, wo Liz nach dem Studium als Psychotherapeutin Karriere macht. Es stellt sich heraus, dass der früh durch Suizid umgekommene Vater der Schwestern pädophil war; die Mutter wird im Laufe des Romans zunehmend debil und stirbt schließlich (in Northam). London ist allerdings der Hauptschauplatz der Erzählung. Hier kommen Liz, Alix und Esther nicht nur ihren beruflichen und privaten Ambitionen nach, sondern werden überdies von einer Mordserie tangiert. Insgesamt durchzieht den Roman auf diese Weise ein Netz an dia- und synchronen Handlungssträngen.

3.2 Drabbles new metafictional feminist realism Sowohl in formaler als auch in thematischer Hinsicht kennzeichnend für The Radiant Way ist die Symbiose aus einem passionierten Bekenntnis zu den Grundsätzen des literarischen Realismus – nicht zuletzt feministischer Prägung – einerseits und dem Einbezug erzähltechnischer Verfahren einer dezidiert postmodernen Poetik andererseits.39 Pamela Bromberg bezeichnet diese Symbiose in einem Essay über Drabbles Werk als „a new metafictional feminist realism“40. Bromberg nimmt die im Roman wirksame Multipersonalität als narratives Strukturprinzip wahr, welches bemerkenswerterweise eher einem rotierend-zirkulären als einem linear-progressiven Handlungsverlauf folgt, denn „with its emphasis on relations, a heterogeneous collective life, and the quotid-

|| 39 Vgl. Margaret Drabble: „Mimesis: The Representation of Reality in the Post-War Novel“. In: Mosaic 20/1 (1987), S. 1–14, hier S. 12–14. 40 Pamela Bromberg: „Margaret Drabble’s The Radiant Way: Feminist Metafiction“. In: Novel: A Forum on Fiction 24/1 (1990), S. 5–25, hier S. 7. Siehe auch Brombergs weitere Erläuterungen in diesem Zusammenhang: „Along with such feminist theorists and literary critics as Rita Felski, Judith Newton, and Linda Alcoff, Drabble is articulating – in her novels and in her essay and interview – a defense of literary realism, the reality of the subject, and the possibility of human agency, which also acknowledges the postmodernist recognition that the subject is culturally constructed. Thus Drabble writes a new metafictional feminist realism, which includes destabilizing discourse about her own narrative craft and the European novelistic tradition she has inherited, critiqued, revised“ (S. 6–7).

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ian and its subversions of linear plotting, The Radiant Way represents a contemporary instance of this genre“41. Es fällt auf, dass zwischen Brombergs und Doležels Überlegungen deutliche Parallelen bestehen. Bromberg argumentiert, dass ein Spezifikum von Drabbles new metafictional feminist realism darin besteht, das narrative Muster fortlaufender Entwicklungs- und Handlungsschemata individueller Figuren abzulösen und stattdessen eine multipersonale Struktur zu etablieren, welche die relationalen, intersubjektiven Gegebenheiten, somit die Verhältnisse zwischen den Figuren, in den Vordergrund rückt. Kollektivität rückt an die Stelle von Individualität, Relationalität an die Stelle von Linearität.42 Zwar sind diese Parameter nicht durch oppositionelle Inkompatibilität gekennzeichnet, sondern vielmehr durch gegenseitige Integrationsfähigkeit. Zugleich aber lässt sich innerhalb einer gegebenen Erzählung jeweils einer der beiden Pole als dominante Tendenz herausstellen. In den feministischen Romanen Virginia Woolfs (modernistischer Realismus) oder Margaret Drabbles (postmodernistischer Realismus) etwa herrscht eindeutig das Muster ‚Multipersonalität/Relationalität‘ vor, welches, wenn mit Doležels Überlegungen zur multiperson world als Kern narrativer Semantik tituliert, feministische zu prototypischen Erzählweisen machen würde. Wie erwähnt, sieht Bromberg ebenso wie Doležel in diesen Kriterien nun nicht lediglich ein thematisch-inhaltliches Programm, sondern nimmt Multipersonalität, Interaktion und Relationalität vielmehr als miteinander verflochtene Strukturprinzipien wahr. Drabble selbst führt in ihrem Aufsatz „Mimesis“ an, dass sich dies vor allem in von weiblichen Autoren verfassten Erzählungen nach dem Zweiten Weltkrieg in einer entsprechenden Bandbreite vermeintlich neuer narrativer Techniken niederschlage, da es sich bei dieser Literatur von und über Frauen um „new ground, in the sense that it is a new reality“43 handle: „The New Woman has had to forge a new novel to describe these new experiences.“44 Bromberg greift diese Innovationsemphase in ihrem luziden Essay auf („this is a new story, requiring new fictions and new narrative devices“45) und nennt die prominentesten der von Drabble in The Radiant Way eingesetzten Techniken. Von letzteren sind dessen ungeachtet einige Komponenten einer || 41 Bromberg (Anm. 40), S. 11. Mit „Genre“ rekurriert Bromberg auf Zagarells Konzept der „narrative of community“. Vgl. Sandra Zagarell: „Narrative of Community: The Identification of a Genre“. In: Signs 13/3 (1988), S. 498–527. 42 Bromberg (Anm. 40), S. 8–10. 43 Drabble (Anm. 39), S. 7. 44 Drabble (Anm. 39), S. 7. 45 Bromberg (Anm. 40), S. 9.

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generell postmodernen Poetik zu unterscheiden, vornehmlich die im Erzählerdiskurs des Romans präsenten Phänomene Selbstreflexivität und Intertextualität, welche in Allianz mit einer weithin konventionellen realistischen Erzählweise funktionieren. Laut Bromberg macht dies The Radiant Way insgesamt zu „a highly problematic novel, burdened by the tension between Drabble’s postmodernist self-awareness and desire to claim her place in the great tradition of the English novel“46. In engerem Bezug nun zur ästhetisch-poetologischen Umsetzung des Konzeptes der multipersonalen Welt, die im Text mit den eben genannten postmodernen Komponenten vermischt auftritt, diskutiert Bromberg vorrangig drei Strategien. Erstens münde Drabbles Experimentieren mit narrativer (Multi-)Perspektivität in den Einsatz kollektiver Protagonisten („communal protagonists“47). Mit der strukturellen Realisierung dieses „plot of friendship“48 geht Bromberg zufolge „a meta-plot of relatedness“ einher, „explored most fully through the three protagonists and the new story of their friendship, but operating as a central structural principle throughout the novel“49. Während dergestalt inhaltliche („plot“) und formale („structure“) Elemente miteinander verflochten sind, konstatiert Bromberg, dass die in kollektiven bzw. kollektivierten Figuren versinnbildlichte Fokussierung auf Multipersonalität, Kollektivität und Relationalität auch eine Abkehr von den dominanten Merkmalen des klassischen Realismus darstellt.50 Hierbei ist allerdings angesichts Drabbles dezidiertem Innovationsanspruch, der von Bromberg bestätigt wird, zu fragen, ob die Darstellung von Kollektivität im klassischen Realismus des 19. Jahrhunderts eine de facto unterrepräsentierte Dimension ist oder ob die literaturwissenschaftliche Reflexion diese Dimension nicht vielmehr lediglich unzureichend wahrgenommen und konzeptualisiert hat. Die Untersuchungen Palmers51 deuten darauf hin, dass Letzteres der Fall ist. Neben kollektiven Protagonisten ist für Bromberg auch Drabbles Beschreibung mehrerer party-Szenarien (im Sinne der Darstellung eines gesellschaftlichen Zusammenkommens bzw. social gathering) ein narratives Werkzeug, um die oben genannten Prinzipien zu implementieren:

|| 46 Bromberg (Anm. 40), S. 9. 47 Bromberg (Anm. 40), S. 9. 48 Bromberg (Anm. 40), S. 9. 49 Bromberg (Anm. 40), S. 11. 50 Vgl. Bromberg (Anm. 40), S. 10. 51 Palmer (Anm. 8).

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[T]he party functions (in all three novels) as a non-sequential narrative structure linking multiple characters in a complex web of relationships centered around the hostess and defining individual identity as a function of relationships, not a solitary biographical trajectory.52

Auch hier ist nichtsdestotrotz zu hinterfragen, wie innovativ dieses Mittel als solches ist. Sowohl Bromberg als auch Drabble betonen kurioserweise gerade die Kontinuität einer von Jane Austen bzw. Virginia Woolf geprägten Tradition weiblicher Autorschaft, in der dieses Mittel zweifelsohne eingesetzt wurde. Zudem stellt die überwiegende Mehrheit der von männlichen Autoren verfassten Realismusromane im 19. Jahrhundert gesellschaftliche Zusammenkünfte dar; von einer Besonderheit der women’s literature kann folglich hierbei nicht gesprochen werden. Ein dritter Faktor, der zur Illustration des Romans als einer multiperson world im Sinne Doležels herangezogen werden kann, ist die von Bromberg als „Woolfian or feminist chronotope“53 bezeichnete Zeit- und Raumdarstellung Drabbles. Auch wenn diese Phrase auf mindestens drei Einflüsse (Woolf; Feminismus; Bachtin) rekurriert und daher kaum als Neuheit angepriesen werden kann, scheint dieses Phänomen besser geeignet als die beiden erstgenannten, um die spezielle Machart von Drabbles postmodernem Realismus bzw. „new metafictional feminist realism“54 zu bestimmen. Bromberg schreibt: „[S]ynchrony and the spatialization of narrative, as opposed to linear temporal sequencing, are techniques used repeatedly in The Radiant Way to resist traditional causality as the main engine of narrative“55. Laut Bromberg resultiert dies in folgender Erkenntnis: [T]ime travels quickly in The Radiant Way only in the blank spaces between vignettes saturated with the everyday, in the summarizing flashbacks, or in generalizing passages where the narrator steps away from her characters to present them from a quasi-historical or journalistic perspective.56

Drabbles feminist chronotope ist somit eine bestimmte Art der Charakterisierung bzw. Figurendarstellung der multipersonalen Welt inhärent:

|| 52 Bromberg (Anm. 40), S. 13. 53 Bromberg (Anm. 40), S. 17. 54 Bromberg (Anm. 40), S. 6–7. 55 Bromberg (Anm. 40), S. 16. 56 Bromberg (Anm. 40), S. 17.

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[A] series of vignettes, for example, juxtaposes the simultaneous lunches of six characters: Liz, Esther, Shirley, Shirley’s husband, Cliff Harper, Alix, and Charles Headleand. The characters’ interior monologues and distinctive lunch menus and sites presumably tell us much or more truth about each character as would more conventional representations of dramatic stories. With an anthropological perspective on the food and settings for each lunch Drabble conveys a spectrum of social role and identity in non-linear form.57

Die drei von Bromberg genannten, eng miteinander verbundenen Strategien – der Einsatz kollektiver Protagonisten, die strategisch-programmatische Beschreibung gesellschaftlicher Zusammenkünfte (party-Szenarien) und die Ausgestaltung eines feminist chronotope – geben jedoch lediglich teilweise Auskunft über das Spezifische der Erzählweise Drabbles. Daher sollen nun weitere Merkmale angeführt werden, um noch stärker herauszuarbeiten, wie The Radiant Way Doležels Konzept der multiperson world auf Basis der unnatürlichen Natürlichkeit allwissenden Erzählens realisiert.

3.3 (Weitere) Narrative Strategien in The Radiant Way Zunächst ist festzuhalten, dass der Roman auf ganz grundlegende Weise als multipersonale Welt strukturiert ist, dergestalt, dass die Erzählung regelmäßig von einer Figur und deren subjektiver Erfahrungswelt abrupt zu einer anderen übergeht. Dieser Übergang wird entsprechend nicht durch die explizite Überleitung des auktorialen Erzählers vermittelt, sondern wird durch das rekurrente Muster einer Leerzeile zwischen den einzelnen Abschnitten markiert, so dass folgendes Strukturprinzip vorherrscht: [Erfahrungswelt Figur(en) 1 / Leerzeile / Erfahrungswelt Figur(en) 2 / Leerzeile usw.]. Durch diese gleichsam stillschweigenden Lakunen kommt eine implizite Sektionierung der Erzählung zustande, deren Abschnitte teils einzelne Figuren darstellen, teils aber auch mehrere Figuren zusammenbringen, letztere oft dezidiert im Sinne eines Kollektivakteurs. Erstaunlicherweise funktioniert die Leerzeile rezeptionspragmatisch allerdings eher als Binde- denn als Trennmittel. Zwar unterscheidet die Leerzeile die beiden aufeinander folgenden Sektionen formal voneinander und etabliert so einen optischen Riss zwischen ihnen, doch wird diese Trennung im Leseprozess unweigerlich gerade als Weiterführung der Erzählung und nicht als Unterbrechung oder Fragmentierung derselben erfahren. Dieser transsektionale Kontinuitätseffekt, so argumentiere ich, kommt durch den Kontextualisierungsdis-

|| 57 Bromberg (Anm. 40), S. 16.

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kurs des auktorialen Erzählers innerhalb der Sektionen zustande, der die Funktionsprinzipien Multipersonalität, Interaktion und Relationalität rhetorisch implementiert und so den Bezug der Sektionen zu- und ihre Relevanz füreinander explizit macht. Diese Erläuterungsfunktion des Erzählers dominiert den Roman von Beginn an, noch bevor der Leser einen der Bewohner der fiktionalen Welt kennenlernt: New Year’s Eve, and the end of a decade. A portentous moment, for those who pay attention to portents. Guests were invited for nine. […] Most of them will go: the communal celebration draws them, they need to gather together to bid farewell to the 1970s, they need to reinforce their own expectations by witnessing those of others, by observing who is in, who is out, who is up, who is down. They need one another. Liz and Charles Headleand have invited them, and obediently, expectantly, they will go, dragging along their tired flat feet, their aching heads, their over-fed bellies and complaining livers, their exhausted opinions, their weary small talk, their professional and personal deformities, their doubts and enmities, their blurring vision and thickening ankles, in the hope of a miracle, in the hope of a midnight transformation, in the hope of a new self, a new life, a new, redeemed decade. (S. 1)

Inhaltlich ist für diesen Anfangsabschnitt des Romans charakteristisch, dass er zunächst eine generelle Perspektive über das hier noch ganz anonyme gesellschaftliche Kollektiv liefert – ein namenlos-unspezifiziertes „they“ (d. h. die Gäste) – welches sich zur Neujahrsfeier als einer „communal celebration“ zusammenfindet. Um mein Argument zu demonstrieren, ist aber entscheidender, die Etablierung einer offenen, direkten Sprechweise des Erzählers zur Kenntnis zu nehmen: Der Leser fasst dessen Kommentare nicht im Sinne manch (anderer) postmoderner Literatur als ‚überkodiert‘ auf, sondern versteht sie als Äußerungen, die das unmittelbare Geschehen erläutern. Durch die Mitteilung genau solcher Zusammenhänge, wie soeben zitiert, konstituiert sich jener bereits mehrfach genannte Diskurs des allwissenden Erzählers, der dem Leser nicht lediglich ermöglicht, die fiktionalen Ereignisse unmittelbar mitzuvollziehen, sondern sich darüber hinaus auch deren Semantik zu erschließen, welche sich oftmals aus psychologischen, eindeutig intersubjektiven Umständen ergibt: „They need to reinforce their own expectations by witnessing those of others, by observing who is in, who is out, who is up, who is down.“ Auf diese Weise wird im Rezeptionsprozess trotz der strukturellen Zäsuren in Form der Leerzeilen die Kontinuität und Kohärenz des Erzählten als einer zwischen mehreren individuellen und kollektiven Identitätspolen rotierenden Multipersonalität erfahren. Das Wissen über diese Zusammenhänge und dessen Artikulation sind im Sinne Albers hochgradig unnatürlich.

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Wie bereits angedeutet, umfasst die von mir ins argumentative Zentrum gerückte Komplexität des allwissenden Erzählerdiskurses in The Radiant Way komplementär zu den von Bromberg identifizierten Phänomenen diverse weitere Strategien speziellerer Art, die zur Vermittlung der multipersonalen Welt beitragen. Um das Spektrum der in The Radiant Way eingesetzten Mittel noch deutlicher herauszuarbeiten, gehe ich im abschließenden Teil des Beitrags auf folgende Gegebenheiten näher ein: 1. Die Auffächerung kollektiver Protagonisten, 2. die Personifizierung psychisch-emotionaler Qualitäten in Form agierender Protagonisten und 3. die direkte Gegenüberstellung zweier Figuren. 1. Erstens birgt die Darstellung kollektiver Protagonisten im Roman eine beträchtliche Vielfalt in sich, so dass verschiedene Szenarien mitsamt verschiedenartigen Kollektivakteuren unterschieden werden können. Zwar stellt das von Bromberg zu Recht ins Zentrum gerückte Dreiergespann Liz-Esther-Alix58 das Standardbeispiel hierfür dar, da dieses Kollektiv in der Erzählung am präsentesten ist. Daneben gibt es aber mehrere weitere kollektive Protagonisten sowie Konstellationen, in denen Handlungen und Bewusstseinsvorgänge gemeinschaftlich verlaufen. Besonders anschaulich verdeutlicht dies Shirleys soziale Situation in Northam, dem Parallelschauplatz zum Londoner Lebensraum von Liz und Co. Anders als Liz, die nach ihrem Studium in Cambridge eine Karriere in der südenglischen Weltmetropole gemeistert hat und dort infolgedessen in die obere Mittelschicht mitsamt Immobilieneigentum in Zentrumsnähe aufgestiegen ist, blieb ihre Schwester Shirley im kleinbürgerlichen Milieu der nordenglischen Kleinstadt Northam zurück, um früh eine Familie zu gründen.59 Der Erzählerdiskurs expliziert die Ambivalenz der Art, wie Shirley ihre Existenz im Rahmen einer Gemeinschaft erfährt, deren Lebensform durch Promiskuität, ökonomische Zwänge, vorgefasste Meinungen und intellektuelle Betäubung durch das allgegenwärtige Fernsehprogramm charakterisiert ist. Gesellige Zusammenkünfte involvieren absurde Situationen wie die folgende: Sometimes, after acquisition of a television set in Coronation year, they would all watch television together. Shirley had enjoyed that. Mr and Mrs Harper had sat in their respective armchairs, Marge had sat on a red leather pouffe and she, Steve and Cliff had occupied the two-seater settee of the three-piece suite. Cliff liked to get her in a corner but she liked to sit in the middle. There, by small wrigglings and the exercise of will, she could encourage them both to insert their hands into different parts of her clothing, her body, sometimes simultaneously. Steve’s hand would cup her breast inside her blouse, while Cliff’s would explore her suspenders, her knickers. She learned to control these manoeu-

|| 58 Siehe das Zitat zu Beginn des Beitrags. 59 Siehe auch Punkt 3.

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vres with great expertise. The Harper parents never noticed, but continued to watch the programmes: What’s My Line, Down You Go, Animal, Vegetable, Mineral?, Twenty Questions, Science Review. Shirley watched the programmes too, but was occasionally distracted by an intensity of experience that sometimes approached orgasm. A communal event. (S. 58 f.)

Shirley erlebt ihre eigene Bevölkerungsschicht in epiphanie-ähnlichen Visionen als inauthentisch und kleinkariert: [A]nd Shirley, hearing this phrase for the millionth time, had a vision of households all over Britain in which censorious, ignorant old bags like her mother-in-law, who had never done anything for the public good, who had nothing positive ever to contribute to any argument, passed judgement on others while stuffing themselves with goose and roast potatoes and sprouts and apple sauce. The backbone of the nation, the salt of the earth. (S. 53)

Zugleich aber empfindet sie auch die Vorzüge der Routine des gemeinsamen Zusammenlebens und der damit einhergehenden Kollektivmentalität: [A]nd off they went again, with their second-hand opinions, their echoes of overheard conversations, their phrases from advertisements and tabloid newspapers: and yet to Shirley there was perhaps something comfortable, despite all, something reassuring about the hands of cards, the button and matchstick money, the green baize of the table, the predictable, ancient jokes, the cigarette ends in the big red ashtray: there was safety here, of a sort, […] society of a sort: the society she had discovered as a teenager […]. (S. 57)

Shirleys gespaltene Haltung gegenüber ihrer sozialen Umwelt exemplifiziert den Spannungsbereich zwischen individuellen und kollektiven Impulsen und Bedürfnissen, den Doležel als ein Spezifikum der multipersonalen Welt anführt. Sie nimmt sehr wohl die moralische und intellektuelle Insuffizienz des ‚supraindividuellen kognitiven Umfeldes‘ der sie umgebenden Kollektivmentalität wahr; gleichermaßen bietet ihr der wiederkehrende Alltagsablauf dieser Gemeinschaft aber auch den Komfort, die Sicherheit und das Zugehörigkeitsgefühl einer Heimat. Die Subsumierung ihrer Individualität ins Kollektiv bleibt infolge dieser Ambivalenz fragil, was zutage tritt, als Shirley später im Roman eine existenzielle Krisensituation durchlebt: It is nothing, all of it nothing. Sex and small children had provided a brief purpose, the energy they generated had made sense of the world for a while, had forged a pattern, a community: clinics, playgrounds, parks, nursery groups, mothers waiting at the school gate: and now, nothing. An idle flutter of garbage over an empty pavement. Coldness, nothingness, grips Shirley as she stands in her kitchen. (S. 200)

Im Gegensatz zu der Sicherheit und Zugehörigkeit, die für Shirley im ersten Teil des Romans die problematischen Züge ihrer kleinbürgerlichen Gemeinschaft

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kompensieren, wird sie hier stattdessen in einer Art Folgevision von der Vergänglichkeit, Kälte und Bedeutungslosigkeit ihrer individuellen Existenz als Teil dieser Gemeinschaft erfasst. Somit wird die ohnehin prekäre Integration ihres Selbst in die übergeordnete Denk- und Fühlweise des Kollektivs aufgebrochen hin zu einer Re-Individualisierung, die allerdings mit einer existenziellen Desillusionierung gekoppelt ist. Erzähltechnisch ist hierbei auffällig, dass psychologisch-emotionale Qualitäten als personifizierte Quasi-Akteure auftreten – „Coldness, nothingness grips Shirley as she stands in her kitchen“ –, deren situative Usurpation der narrativen Machtverhältnisse in diesem Fall durch den Einsatz des Präsens verstärkt wird. 2. Das eben genannte Beispiel verkörpert bereits treffend das zweite narrative Verfahren, mittels dessen The Radiant Way noch eingehender als multiperson world verstanden werden kann, nämlich die Artikulation psychologisch-emotionaler Komponenten, die die Handlung im Sinne von Quasi-Protagonisten mitbestimmen und auf diese Weise kognitive Umstände an die Oberfläche treten lassen. Kurz gesagt: Kognitionen werden zu Charakteren. Wie bereits ausgeführt, ist diese narrative Strategie insofern eine Ausprägung unnatürlichen Erzählens, als dass einmal mehr das hierbei zugrunde liegende Wissen des allwissenden Erzählers über die mentalen Vorkommnisse und Verhältnisse in den Bewusstseinswelten aller individuellen und kollektiven Figuren der fiktionalen Welt eine menschlich unmögliche Kapazität darstellt. So erfährt der Leser in Bezug auf Liz und Charles während ihrer Autofahrt von Northam nach London beispielsweise, dass „a heavy, physical, solid peace possessed them both, as though something serious had been settled“ (S. 314). Gleichermaßen artikuliert der Erzähler über Liz’ erste Ehe mit Edgar Lintot, dass „they married, and quarrelled, and parted, while the dark depths of both lay dormant, unstirred, impenetrable“ (S. 141). Diese narrative Technik der Offenlegung mentaler Hinter- und Untergrundbereiche geht meines Erachtens deutlich über einen correct report (Alber) hinaus und manifestiert vielmehr eine stilisierte Artikulation der Allwissenheit des Erzählers. Hinsichtlich der Thematik der multipersonalen Welt ist vor allem bemerkenswert, dass kollektives bzw. geteiltes Bewusstsein dargestellt wird. Bereits in Bezug auf individuelle Figuren ist die explizite Nennung mentaler Umstände ein herausstechendes Merkmal allwissenden Erzählens nicht lediglich realistischer Machart, doch der Fokus auf kollektive Denk- und Fühlweisen, seien sie situativ oder permanent – (hier sind sie insbesondere unbewusst) – stellt ein noch pointierteres Werkzeug dar, um das Konzept der multipersonalen Welt umzusetzen.

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3. Ein weiteres narratives Mittel, welches zu Drabbles narrativem Projekt beiträgt, ist die direkte Gegenüberstellung zweier Figuren. Diese Kontrasttechnik findet sich bei vielen Autoren (etwa in George Eliots Middlemarch [1871/72]) und ist, genau wie die bereits genannten Techniken, aufgrund ihrer Konzentration auf Inter-Relationen maßgeschneidert für die Ausgestaltung der multipersonalen Welt. Ein Beispiel aus The Radiant Way soll dies belegen. Der Roman klärt mittels eines retrospektiven Vergleichs folgendermaßen über das Verhältnis zwischen Liz und Shirley auf, vor allem in Hinsicht auf ihre gemeinsamen Fixpunkte, die zunehmend debile Mutter und den früh verstorbenen, pädophilen Vater: And her [Shirley’s] sister Liz sat at home, missing all the fun, deaf to the call of the flesh, with her Alternative Mathematics, her Chemistry and her Biology, wasting her youth, wasting her opportunities, obeying the will of their mother, programmed, docile, chaste, pale. One autumn night, when Liz was preparing for Oxford and Cambridge entrance, Shirley had come home at ten from the Harper’s, flushed from sexual excitement and from running through the cold streets und the yellowing smoke-scented suburban trees, her body on fire, and had found Liz still sitting staring at the pale-green wall, as though in a catatonic trance. (S. 59)

Der Erzähler kompliziert aber diese Charakterisierung der beiden Schwestern wie folgt: Yet while Liz, the good daughter, the dutiful daughter, was taking a deep hot bath on New Year’s Eve before changing for her party, Shirley the rebel was serving up a hot meal for her mother in the old house in Abercorn Avenue before rushing back (without appearing to rush) to see what was happening in her own oven at home, where she was cooking a goose for her husband Cliff, his brother Steve and his wife Dora, her own mother-andfather-in-law, and Dora’s Uncle Fred. While Liz was nibbling pistachio nuts, surveying dominions, Shirley, hot, red and angry (but not appearing to be angry) was listening yet once more to her mother-in-law’s description of her digestive system […]. (S. 49)

Diese Passagen funktionieren als das, was als character contrast bezeichnet werden kann, die direkte Gegenüberstellung zweier Figuren. Es ist jedoch erneut zu verzeichnen, dass hierbei nicht lediglich eine Nebeneinander- oder Gegenüberstellung zweier Figuren als formales rhetorisches Mittel eingesetzt wird, sondern dass der Erzählerdiskurs darüber hinaus die Semantik dieses Kontrastes expliziert, die wenig überraschend ergibt, dass Liz und Shirley nicht holzschnittartig in binäre Kategorien einzuordnen sind. Man könnte soweit gehen, zu sagen, dass durch die Einbeziehung der Entwicklungsgeschichte der beiden Mädchen hin zu den Frauen, die sie in der Gegenwart des Romans darstellen, die Dimension einer jeweils inner-figuralen Multipersonalität offenbar

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wird, welche jeweils eine Pluralität durchaus konträrer Rollen und Identitätspole beherbergt – was freilich auch für andere Figuren im Roman gilt.

4 Fazit Allwissendes Erzählen tritt nicht ausschließlich im Modus des Realismus auf und der Modus des Realismus wird nicht ausschließlich durch allwissendes Erzählen vermittelt. Besonders Beispiele für den ersten Fall – allwissendes Erzählen etwa im Schauerroman – liefern Textmaterial, welches die Ausgangsthese dieses Beitrages infrage stellt. Solche Texte sind demgemäß nicht durch das Phänomen der unnatürlichen Natürlichkeit gekennzeichnet, das in diesem Beitrag im Zentrum stand und hier als eine Möglichkeit konstruiert wurde, das Norm(al)phänomen realistisch-allwissenden Erzählens zu bestimmen. Diese Bestimmung hat nichtsdestotrotz ergeben, dass der allwissende Erzähler mit seiner unnatürlichen epistemischen und ontologischen Ausstattung – insbesondere in Form seiner umfassenden Kenntnis der Innenwelten aller Figuren – die unabdingbare Instanz ist, welche die immensen Fliehkräfte dieser multiplen Bewusstseinswelten reguliert und bis zu einem gewissen notwendigen Maße auch diskursiv homogenisiert bzw. einrahmt. Kollektive Bewusstseinsformen bzw. social minds stellen hierbei ein zugleich faszinierendes wie untererforschtes Phänomen dar, welches nicht zuletzt dadurch an Bedeutung gewinnt, dass es sich bei den erzählten Welten des formal realism überwiegend um multiperson worlds handelt. Diese Feststellung gilt einerseits, wie gezeigt, für The Radiant Way. Sie gilt andererseits aber für potentiell alle Spielarten des sich diachron manifestierenden formal realism. Die Heterogenität der individuellen Innenwelten einer multipersonalen Welt bedarf meines Erachtens genau derjenigen Kontextualisierungs- und Supervisionskapazität, welche von allen Erzählertypen lediglich dem allwissenden Erzähler zukommt. Unter anderem ausgestattet mit „omniexperientiality“60, vermag er es, mittels eines mehr oder minder expliziten und (selbst-)reflexiven, auf jeden Fall aber autoritativen Erzählerdiskurses, das Abrutschen der multipersonalen Welt in ein in struktureller Hinsicht willkürliches Chaos einzudämmen. Letzteres würde dem Leser ohne eine solche auktoriale Diskursinstanz eine weit beträchtlichere Entschlüsselungsleistung abverlangen, da die literarischen Mitteilungen sonst nicht unmittelbar kohärierbar wären.

|| 60 Alders (Anm. 21), S. 344.

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Demgegenüber erhält der allwissende Erzähler in The Radiant Way eine literarische Kommunikation aufrecht, die dem Rezipienten die direkte Lesbarkeit der multipersonalen Welt gewährleistet. Das Phänomen der unnatürlichen Natürlichkeit realistisch-allwissenden Erzählens konnte hier somit identifiziert und im Zusammenhang der hiesigen Thematik narratologisch konzeptualisiert werden. Die entsprechende Romananalyse hat zudem eine Reihe konkreter narrativer Strategien aufgezeigt, nicht zuletzt im Hinblick auf social minds. Meines Ermessens ist der Variationsreichtum des realistisch-allwissenden Erzählerdiskurses mit seiner Unnatürlichkeit zunächst lediglich entdeckt. Es gilt nun, die sprachlich-narrativen Strategien, mit denen dieser Diskurs insbesondere Bewusstseinswelten erzählt, auf der Basis bestehender Forschung systematischer als bisher zu erforschen.61

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|| 61 An anderer Stelle unternehme ich dazu erste Schritte, vgl. Alders (Anm. 20).

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Maria Kim

Die unmögliche(n) storyworld(s) in Mark Z. Danielewskis House of Leaves 1 Multiple storyworlds: Mentale Repräsentationen textueller Universen David Herman definiert eine storyworld als mentale Welt, die der Rezipient aus den Elementen eines narrativen Textes entwirft und in die er sich mittels Verschiebung seines deiktischen Zentrums hineinversetzt. Sein Begriff legt – in Übereinstimmung mit ähnlichen Termini aus anderen Disziplinen – die Betonung auf die Beteiligung des Rezipienten an der Konstruktion narrativer Welten: Storyworlds can be defined as the worlds evoked by narratives; reciprocally, narratives can be defined as blueprints for a specific mode of world-creation. Mapping words (or other kinds of semiotic cues) onto worlds is a fundamental – perhaps the fundamental – requirement for narrative sense-making [H. i. O.].1

Die storyworld ist Herman zufolge das Resultat der durch einen narrativen Text ausgelösten Weltkreation und eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen einer Erzählung. H. Porter Abbott präzisiert jedoch, dass es in einer Erzählung immer mindestens zwei Welten2 gibt, eine, in der die Figuren und die Handlung angesiedelt sind, und eine, in der erzählt wird. Eine Welt, in der erzählt wird, kann zugleich eine erzählte Welt sein, wenn eine Figur zur Erzählinstanz einer Binnenerzählung wird.3 Bei mehreren Binnenerzählungen konstruiert der Leser also auch mehrere storyworlds. Diese Welten sind üblicherweise raumzeitlich voneinander getrennt und können in eine hierarchisierte Struktur gebracht werden, in der sie ineinander eingebettet sind. Die Gesamtheit der einzelnen erzählten Welten bezeichne ich in Anlehnung an Marie-Laure Ryan

|| 1 David Herman: Basic Elements of Narrative. Malden u. a. 2009, S. 105. 2 Ich differenziere hier und im Folgenden die ‚erzählte Welt‘ als rein textuelles Phänomen von der storyworld, die im Rezeptionsprozess auf Basis der ersteren kreiert wird. Diese schematische Unterscheidung, die eine Existenz von Welten innerhalb eines Textes – unabhängig von der Rezeption – unterstellt, ist für mein Argument sinnvoll, da ich zwischen erzählten Welten, die storyworlds hervorrufen, und solchen, die dies nicht ermöglichen, unterscheide. 3 Vgl. Porter H. Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative. Cambridge 2008, S. 169. https://doi.org/10.1515/9783110626117-010

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als das textuelle Universum („textual universe“4), und das mentale Korrelat, das im Lesevorgang aus einem solchen textuellen Universum konstruiert wird, als multiple storyworld. Eine erzählte Welt zu verstehen und daraus eine storyworld zu kreieren, heißt, sie mit bestehenden kognitiven Strukturen zu erfassen und zu ergänzen, ein Prozess, den Jonathan Culler einflussreich als Naturalisierung beschrieben hat: „[T]o naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible.“5 Die Fremdartigkeit eines Textes soll also mit kognitiven Schemata erfasst und dadurch verständlich gemacht werden. Dafür müssen nicht nur die einzelnen narrativ erzeugten Welten mit lebensweltlichen Schemata zu korrelieren sein, sondern das gesamte textuelle Universum, d. h. das Zusammenspiel der einzelnen erzählten Welten. Die Konstruktion einer multiplen storyworld, die mehrere storyworlds miteinander kombiniert, ist selbstverständlich kognitiv anspruchsvoller. Dennoch stellt eine solche Kreation keine größere Schwierigkeit für einen Leser dar, solange die erzählten Welten möglich sind, d. h., wenn weder die jeweiligen Welten in sich noch ihr Zusammenspiel im textuellen Universum den logischen und physikalischen Gesetzen unserer Lebenswelt widersprechen. Wie aber funktioniert die Kreation einer multiplen storyworld seitens des Lesers, wenn ein textuelles Universum den logischen oder physikalischen Gesetzen unserer Lebenswelt widerspricht? In meinem Beitrag möchte ich die Grenzen der storyworld-Konstruktion ausloten, die durch das Zusammenspiel unterschiedlicher erzählter Welten innerhalb eines Romans entstehen können. Als Beispiel für einen Roman, dessen narrative Strategien die Evokation einzelner storyworlds erschweren und die Evokation einer kohärenten multiplen storyworld sogar verhindern, dient Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000).6 Dieser Text entwirft ein Konglomerat erzählter Welten, in dessen innerster Welt ein scheinbar physikalisch unmögliches Haus existiert. Die im Verlauf des Romans aufgeworfene Frage, ob sich die Welten überhaupt hierarchisieren lassen, erweist sich aber als die eigentliche Schwierigkeit für den Leser. Das in House of Leaves dargestellte textuelle Universum verweigert sich der mentalen Projektion als kohärente multiple storyworld. Eine Analyse des Romans, die versucht, eine

|| 4 Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory. Bloomington 1991, S. 24. 5 Jonathan Culler: Structuralist Poetics: Structuralism, Linguistics, and the Study of Literature. London 1975, S. 138. 6 Mark Z. Danielewski: House of Leaves. New York 2000. Alle Zitate aus dem Roman beziehen sich auf diese Ausgabe.

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mögliche Naturalisierung durch Rückgriff auf bestimmte kognitive Schemata oder durch Formen der Schemaerweiterung und -überblendung zu erklären, soll aufzeigen, dass solche Naturalisierungsstrategien nicht notwendigerweise die Erzeugung einer multiplen storyworld ermöglichen. Mithilfe von Umberto Ecos Unterscheidung zwischen semantischem und kritischem Verstehen soll ein qualitativer Unterschied zwischen Naturalisierungsstrategien, die Welterzeugung zulassen, und solchen, mit denen ein Text nur auf einer abstrakten, metatextuellen Ebene erfasst werden kann, deutlich werden.

2 House of Leaves als unnatürliche Erzählung Ein Roman wie House of Leaves wird von Jan Alber und anderen Vertretern einer unnatural narratology7 als unnatural narrative bezeichnet.8 Alber definiert den Begriff ‚unnatürlich‘ bzw. ‚unmöglich‘ folgendermaßen: „The term unnatural denotes physically impossible scenarios and events, that is impossible by the known laws governing the physical world, as well as logically impossible ones, that is impossible by accepted principles of logic.“9 Wie eine solche unmögliche erzählte Welt mental repräsentiert werden kann, hat Alber in seinem Aufsatz „Impossible Storyworlds and What to Do With Them“ (2009) beschrieben. Er schlägt fünf Strategien vor, mit denen der Rezipient unmögliche erzählte Welten mit Rückgriff auf lebensweltliche Schemata naturalisieren kann:10 || 7 Die Gruppe der Narratologinnen und Narratologen, die durch ihr gemeinsames Forschungsinteresse sogenannte unnatural narratives in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, postulieren jeweils geringfügig unterschiedliche Definitionen des Begriffes unnatural. Die verschiedenen Verwendungen des Begriffes hat Brian Richardson in seiner Rezension von Publikationen im Bereich der unnatural narratology zusammengefasst. Siehe Brian Richardson: „Unnatural Narratology. Basic Concepts and Recent Work“. In: DIEGESIS 1/1 (2012), S. 95–103, hier S. 97 f. Gemeinsam ist den Definitionen, dass unnatural narratives als Gegenpart zu natural narratives nach Monika Fludernik konzipiert werden, die nicht-fiktionalem, mündlichem Erzählen nachempfunden sind, und deren Produktion und Rezeption auf kognitiven Parametern basieren, die in lebensweltlichen menschlichen Erfahrungen verankert sind. Vgl. Monika Fludernik: Towards a ‘Natural’ Narratology. London 1996, S. 14–17. 8 Vgl. Jan Alber: „The Diachronic Development of Unnaturalness. A New View on Genre“. In: Ders./Rüdiger Heinze (Hgg.): Unnatural Narratives – Unnatural Narratology. Berlin/Boston 2011, S. 41–67, hier S. 41. 9 Jan Alber: „Impossible Storyworlds – and What to Do With Them“. In: Storyworlds 1/1 (2009), S. 80–96, hier S. 80. 10 Diese fünf Strategien hat Alber mittlerweile modifiziert und auf neun Lesestrategien erweitert. Siehe Jan Alber/Stefan Iversen/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson: „What is Unnatu-

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Reading events as internal states: Unmögliche Ereignisse werden als Ausdruck der Psyche einer der Figuren, z. B. als Traum, interpretiert. 2. Foregrounding the thematic: Unmögliche Ereignisse werden als symbolisch für das Thema einer Erzählung verstanden. Alber führt als Beispiel für eine solche Naturalisierung Harold Pinters Drehbuch zu The Basement (1967) an, in dem unnatürliche Veränderungen im Mobiliar eines Zimmers und schnelle Wetterumschwünge die wechselnden Dominanzverhältnisse während der Machtkämpfe der Protagonisten spiegeln. 3. Reading allegorically: Ausweitung von foregrounding the thematic, die bedeutet, dass die gesamte Erzählung als Allegorie gelesen wird. 4. Blending scripts: Kombination von zwei scripts, z. B. das eines sprechenden Menschen mit dem eines sprachunfähigen Pferdes, so dass ein sprechendes Pferd vorgestellt werden kann. 5. Frame enrichment: Erweiterung bestehender Schemata mittels multipler blendings, so dass Welten, die unvereinbare Widersprüche beinhalten, vorstellbar werden. Diese Strategie ist im Wesentlichen als Erweiterung von blending scripts zu verstehen. Das blending bezieht sich nicht nur auf eine Figur, wie bei dem sprechenden Pferd, sondern auf die Gesamtheit der erzählten Welt. Danielewskis House of Leaves ist sowohl inhaltlich als auch durch die Form seiner Vermittlung als typisches Beispiel einer unnatural narrative zu bezeichnen. Der Roman entwirft verschiedene erzählte Welten, die der Leser zunächst in folgende Beziehung zueinander bringt (vgl. Abb. 1): Die innerste Welt wird durch den Dokumentarfilm The Navidson record vermittelt, der den Einzug des Fotografen Will Navidson mit Karen Green und ihren beiden Kindern in ein neues Haus zum Thema hat. Nach kurzer Zeit verändert sich das Haus, und bei Ausmessungen stellt sich heraus, dass dieses paradoxerweise innen größer zu sein scheint als außen. Im Zentrum des Filmes stehen die anschließenden Erkundungstouren durch die neuen Räume des Hauses. Diese sind durch einen im Wohnzimmer entstandenen Korridor zugänglich, vor allem durch vollkommene Dunkelheit charakterisiert und verändern sich ständig in Größe und Gestalt. Navidson leitet und filmt die Expeditionen in das

|| ral about Unnatural Narratology? A Response to Monika Fludernik“. In: Narrative 20/3 (2012), S. 371–382, hier S. 376 f. Da meine Argumentation von diesen weiteren Strategien allerdings nicht berührt wird, konzentriere ich mich in dem vorliegenden Beitrag auf die fünf ursprünglich von Alber vorgeschlagenen Strategien. Siehe Alber (Anm. 9), S. 82 f.

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Innere der labyrinthischen Räume, ohne allerdings zu einer Erklärung für deren Existenz zu kommen.

Abb. 1: Die multiple storyworld von House of Leaves

Diese Handlung wird durch mehrere vermittelnde Ebenen gefiltert, die wiederum Welten konstituieren. Die Welt, von der der Film The Navidson record erzählt, ist dem Rezipienten zugänglich durch die wissenschaftliche Abhandlung des blinden Zampanò über den Film. Gemäß den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses versieht er die Beschreibung der Handlung mit Fußnoten und zitiert zahlreiche andere wissenschaftliche Arbeiten zu dem Film. Sein Schreibstil ist durch diverse lange Exkurse gekennzeichnet, wodurch ein Verfolgen der Handlung des Navidson record erschwert wird. Dieses Manuskript wird nach Zampanòs Tod von Johnny Truant, der Lehrling in einem Tätowierstudio ist, gefunden und ediert. Truants Welt wird vom Leser als dritte narrative Ebene konstruiert, in der das Manuskript zwar existiert, der Film selbst und die von Zampanò zitierten Studien allerdings nicht. In seiner Einleitung erwähnt Truant, dass er trotz intensiver Recherche weder das Haus noch den Film darüber gefunden habe (xix). In das Manuskript setzt er großenteils assoziativ, teils vollkommen willkürlich Fußnoten, in denen er Ereignisse beschreibt, die sich während der Bearbeitung des Textes in seinem Leben zutragen. In der vierten und äußersten Welt schließlich wird der gesamte Text von nicht näher spezifizierten, fiktiven editors vermittelt. In dieser Welt kann die Zusammenstellung der Endversion eines umfangreichen Anhangs verortet werden. Die Fußnoten der Herausgeber verweisen den Leser an unterschiedlichen

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Textstellen auf Informationen im Anhang, deren Lektüre, wie die Analyse zeigen wird, teilweise eine andere Lesart der Geschehnisse ermöglicht. Der Anhang besteht aus zusätzlichem Textmaterial aus Zampanòs Welt, Skizzen und Fotos, die am wahrscheinlichsten von Truant stammen, sowie den Briefen von Truants Mutter Pelafina, die sie ihrem Sohn jahrelang aus der psychiatrischen Klinik geschrieben hat und denen zu entnehmen ist, dass sie ihn als Kind schwer misshandelt und schließlich versucht hat, ihn umzubringen. Auf diese Briefe verweisen die editors in einer Fußnote, um dem Leser zu einer besseren Interpretation der Figur Truant zu verhelfen (vgl. S. 72).

3 Die unmögliche erzählte Welt Navidsons Unmöglich bzw. unnatürlich ist der Roman zunächst im Bezug auf die erzählte Welt des Navidson record. Ein Haus, das innen größer ist als außen und dessen Dimensionen sich kontinuierlich verändern, hat keine Entsprechung in unserer Lebenswirklichkeit. Allerdings ist ein Haus, das sich lediglich in Größe und Form verändert, durchaus vorstellbar, z. B. mithilfe der Strategie blending scripts: Das leblose, statische Haus kann mit einem Lebewesen, z. B. einer Pflanze überblendet werden, wodurch ein dynamisches Haus vorstellbar ist, das sich in Form und Größe verändern kann. Schwieriger verhält es sich mit der logischen Unmöglichkeit eines Behälters, dessen Innenraum eine größere Fläche einnimmt, als die äußere Begrenzung zulässt. Eine solche Unmöglichkeit lässt sich überhaupt nicht konkret vorstellen. In Zampanòs Abhandlung wird dem Rezipienten jedoch bereits eine metaphorische Lesart als Erklärungsversuch für die vorgebliche Existenz des physikalisch und logisch unmöglichen Hauses angeboten, die auf den Topos des Labyrinths als Suche nach dem Selbst verweist. So werden die labyrinthischen Gänge im Inneren des Hauses von verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen als Ausdruck der Psyche der Protagonisten interpretiert. Eine dieser Studien analysiert das Verhalten von Navidsons Freundin Karen: Karen has begun to deconstruct her various mechanisms of denial. She does not continue to insist on the ineffectual science of Feng Shui. She recognizes that the key to her misery lies in the still unexplored fissure between her and Navidson. Without knowing it she has already begun her slow turn to face the meaning, or at least one meaning, of the darkness dwelling in the depths of her house. (S. 316)

Eine derartige Lesart, die Albers foregrounding the thematic entspricht, kann vom Leser als Hinweis auf eine Interpretation dieser erzählten Welt angenom-

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men werden. Die weiteren Ereignisse im Haus bestärken eine derartige Interpretation sogar. So wird Navidson am Ende von seiner Frau aus dem dunklen Teil des Hauses gerettet. Die problemlose Rettung scheint nur möglich, da beide zuvor jeweils lange an ihren Beziehungsproblemen gearbeitet hatten. Einzelne unnatürliche Elemente dieser erzählten Welt können also mühelos vom Leser naturalisiert werden, und im Fall dieser innersten erzählten Welt ist trotz widerständiger Elemente auch die Kreation einer storyworld möglich. Die Erzeugung einer storyworld, in der psychische Zustände die physische Umwelt verformen können, erfordert die Strategie frame enrichment, die es ermöglicht, sich realistische und nicht realistische Elemente gleichberechtigt nebeneinander vorzustellen.

4 Das unmögliche textuelle Universum in House of Leaves Das zentrale Problem bei der Naturalisierung von House of Leaves ist allerdings nicht die physikalisch und logisch unmögliche erzählte Welt des Navidson record, sondern die Beziehung der einzelnen Welten des textuellen Universums zueinander. Diese stellen den ontologischen Status der jeweils eingebetteten Welten implizit oder explizit infrage. In jeder der Welten gelten unterschiedliche Elemente als ‚real‘ bzw. existent. In Navidsons Welt ist das Haus real. In Zampanòs Welt ist zwar der Film über das Haus real, für die Welt, die der Navidson record evoziert, werden allerdings zwei Rezeptionshaltungen angeboten: Die Ereignisse werden weder von Zampanò noch von den anderen Wissenschaftlern, die Abhandlungen darüber schreiben, als fiktiv bezeichnet. An dem Beispiel der Interpretation des Hauses als Manifestation der Psyche seiner Bewohner ist allerdings zu sehen, dass die wissenschaftlichen Studien den Film mit Methoden der Literaturwissenschaft untersuchen. Eine derartige metaphorische Interpretation wäre als Erklärungsversuch für ein reales Phänomen unangemessen, ist aber für die Begebenheiten in einer fiktiven Welt durchaus geeignet. Damit wird in Zampanòs Welt bereits eine Lesart angedeutet, die den Film als Fiktion behandelt, wodurch der ontologische Status der dargestellten Welt des Navidson record unsicher wird. In Truants Welt existieren weder der Film noch das Haus, beide Welten werden von ihm eher für Erfindungen Zampanòs gehalten. In der Welt der Herausgeber wiederum stößt man, wenn man einer ihrer ersten Fußnoten nachgeht, die als Anmerkung zu Truants Ausführungen gesetzt ist, auf die Briefe von

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Truants psychisch kranker Mutter aus der Klinik. Hiermit wird ein Erklärungsmodell angeboten, welches das Labyrinth im Inneren des Hauses als symbolisch für Truants Suche nach sich selbst durch Konfrontation mit seinem Kindheitstrauma liest. Hinweise auf eine solche Lesart sind auch die Verbindungen zwischen den Ereignissen, die vom Film dargestellt werden, und Truants Leben. Am Ende des Romans wird von Truant selbst der Titel der ersten Auskoppelung des Navidson record, „The Five and a Half Minute Hallway“, mit den fünfeinhalb Minuten in Verbindung gebracht, in denen er sich von seiner Mutter vor ihrer Einweisung in die psychiatrische Heilanstalt verabschiedete. Truant beschreibt den Moment folgendermaßen: I can dimly see here my own dark hallway, or maybe it was just a foyer and maybe not dark at all […], where I had stood at the age of seven, gripping my mother’s wrists, trying as hard as I could to keep her from going. […] Like a bad dream, the details of those five and a half minutes just went and left me to my future. (S. 517)

Eine solche Interpretation versteht sowohl die Welt des Navidson record als auch die Abhandlung Zampanòs als Fantasiegebilde Johnny Truants. Diese Perspektive auf die Geschehnisse begünstigt wiederum eine andere Naturalisierungsstrategie der Ereignisse, nämlich Albers erste Strategie, reading events as internal states. Folgt man hingegen einem Hinweis auf der paratextuellen Ebene des Romans, kann auch Truants Welt als fiktiv gelesen werden. Die Texte der unterschiedlichen Autoren und die durch sie vermittelten Welten sind jeweils mit unterschiedlichen Schriftarten verbunden. Zampanòs Bericht über den Film ist in Times New Roman wiedergegeben, Truants Fußnoten in Courier und die wenigen Anmerkungen der Herausgeber in Bookman. Für die Titelseite des Buches wird die Schriftart Dante verwendet und auch die Briefe von Truants Mutter Pelafina sind in Dante gehalten. Letzteres legt die Spekulation nahe, dass alle Welten des Romans letztlich eine Schöpfung ihrer kranken Psyche sein könnten. Eine solche Interpretation liest zum einen die Namen der Schriftarten als sprechende Namen: Dante ist im Gegensatz zu den anderen Namen eine Referenz auf einen Autor. Zum anderen markiert Dante als Schriftart des Covers typografisch die erste und damit den editors noch vorgeordnete Ebene des Textes. In dieser Lesart wären die Welten von Navidson, Zampanò und Truant Fantasiewelten Pelafinas, und die einzig ‚reale‘ Welt im textuellen Universum wäre von ihren Briefen evoziert und darüber hinaus nur durch das Entziffern von versteckten Signalen innerhalb der Fantasiewelten greifbar. Eine Geschichte, die Truant am Ende seiner Aufzeichnungen wiedergibt, könnte einen Hinweis auf den Auslöser von Pelafinas Geisteskrankheit und die damit verbundene

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Fantasieweltkreation enthalten – und somit auf die Lesart, die sie als Autorin der Welten Navidsons, Zampanòs und Truants identifiziert. Diese Geschichte handelt von einer Frau, die ein Baby zur Welt bringt, das nicht lebensfähig ist (S. 518–521). Die Löcher im Gehirn des Babys („holes in his brain“, S. 519) stellen einen Bezug zu den dunklen Gängen in Navidsons Haus her. Außerdem murmelt die Mutter am Bett des Babys „‘Etch a Poo air’“ vor sich hin, „which everyone translates quickly enough into something about an etching of Pooh Bear“ (S. 520), was aber offensichtlich als Bibelzitat verstanden werden soll (ecce puer). Dieses Zitat, das auf die Wiederauferstehung eines toten Kindes verweist, kann in diesem Zusammenhang als Hinweis auf Pelafinas Wiedererweckung des Kindes in Form der fiktiven Figur Jonny Truant verstanden werden. Das textuelle Universum kann als Projektion Truants oder Pelafinas naturalisiert werden. Beide Lesarten werfen aber genauso viele Fragen auf, wie sie beantworten, und können nicht in einen schlüssigen Zusammenhang mit dem gesamten Roman gebracht werden. Warum beispielsweise sollte Pelafina als Reaktion auf den traumatischen Verlust ihres Kindes eine Geschichte erfinden, in der ihr Sohn überlebt, sie ihn aber misshandelt, und er ein von falschen Freunden, Gewalt und Drogen geprägtes Leben führt, das schließlich mit dem Auffinden eines mysteriösen Manuskriptes vollständig aus den Fugen gerät? Wie Natalie Hamilton in ihrer Untersuchung des Labyrinth-Motivs in House of Leaves feststellt, gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem labyrinthischen Roman und einem echten Labyrinth: Ein Labyrinth hat einen ‚richtigen‘ Weg, der hinausführt. House of Leaves dagegen ist ein Roman, der verschiedene Wege, in Form von Lesarten, durch sein inneres Labyrinth präsentiert, von denen jedoch keiner eine endgültige Lösung bietet.11 Zampanòs diesbezügliche Beobachtung in seiner Abhandlung scheint sich nicht unbedingt nur auf den Film zu beziehen, sondern das Problem des Rezipienten mit dem Roman als Ganzem vorwegzunehmen: From the onset of The Navidson Record we are involved in a labyrinth, meandering from one celluloid cell to the next, trying to peek around the next edit in hopes of finding a solution, a centre, a sense of the whole, only to discover another sequence leading in a completely different direction, a continually devolving discourse, promising the possibility of discovery while all along dissolving into chaotic ambiguities too blurry to ever completely comprehend. (S. 114)

|| 11 Vgl. Natalie Hamilton: „The A-Mazing House: The Labyrinth as Theme and Form in Mark Z. Danielewski’s House of Leaves“. In: Critique: Studies in Contemporary Fiction 50/1 (2008), S. 3– 15, hier S. 11 f.

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Die Erzählfigur jeder erzählten Welt weckt also Zweifel an der ‚Realität‘ der von ihr vermittelten Welt. Diesen Prozess des Infragestellens verfolgt der Leser in umgekehrter Reihenfolge, beziehungsweise nur partiell, da die besondere Textstruktur Leseprozesse begünstigt, bei denen zunächst entweder dem Fließtext oder den Fußnoten gefolgt wird, wodurch dem Rezipienten nicht alle Welten gleichermaßen präsent sind.12 Im Leseerlebnis bleibt aber auch in diesem Fall eine permanente Unsicherheit bezüglich der Relationen der Welten zueinander bestehen. Die Behandlung der einzelnen erzählten Welten als ‚real‘ oder fiktiv wird durch das Auftauchen verschiedener rätselhafter Analogien und Verbindungen zwischen den Welten wiederum entweder bestätigt (wie z. B. im Fall des kranken Gehirns des Babys und den Korridoren in Navidsons Haus) oder aber negiert. So lassen zahlreiche Analogien zwischen der Welt des Filmes und den anderen Welten erstere trotz ihrer mehrfach verneinten Existenz seltsam real erscheinen. Gegen Anfang seiner Fußnoten erwähnt Truant, dass er, seit er sich mit Zampanòs Manuskript beschäftigt, eine Verbindung zwischen seiner Welt und der, die er rezipiert und ediert, bemerkt hat. So fühlt er sich von einem nicht menschlichen Wesen verfolgt (S. 26), das mit dem Knurren in Verbindung gebracht werden kann, welches ursprünglich dem Labyrinth des Hauses zugeordnet ist. Navidson hört das Knurren bei seiner ersten Erkundung der dunklen Räume und nimmt es mit seiner Kamera auf (S. 67). In der Welt Zampanòs schließlich scheint das Geräusch die reale Form eines Untiers angenommen zu haben; Truant, der Zampanòs Leiche findet, sieht neben dem Toten vier tiefe Furchen im Holzboden, die von den Krallen eines riesigen Tieres zu stammen scheinen (S. xv). Eine weitere Verbindung zwischen den Welten besteht in dem Phänomen, dass sich bestimmte Gegenstände, die sich im Inneren der dunklen Korridore des Hauses befinden, auflösen. In Zampanòs Wohnung und Umgebung sind nach seinem Tod alle Katzen verschwunden (S. xv) und Truant muss eines Tages während seiner Arbeit an dem Text feststellen, dass er auf einmal keine Knöpfe mehr an seinem Mantel hat (S. 150). Zudem lassen Analogien zwischen Navidsons Freundin Karen und Truants Mutter Pelafina vermuten, dass eine bedeutungsvolle Beziehung zwischen den beiden besteht: Sowohl Karen als auch Pelafina üben als Kind vor dem Spiegel ein perfektes Lächeln, das ihre

|| 12 Eine Studie, die sich mit der besonderen Rolle der multimodalen Form von House of Leaves bei der Rezeption auseinandersetzt, ist Alison Gibbons „The Narrative Worlds and Multimodal Figures of House of Leaves“. In: Marina Grishakova/Marie-Laure Ryan (Hgg.): Intermediality and Storytelling. Berlin/New York 2010, S. 285–311.

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wahren Gefühle versteckt (S. 58; 615), und beide tragen während zentraler Ereignisse in ihrem Leben ein pinkfarbenes Haarband (S. 523; 599). Zudem tragen die Analogien zwischen den Welten dazu bei, ihre Grenzen zu verwischen. Die damit verbundene Unmöglichkeit, die unterschiedlichen Welten klar voneinander zu trennen, wird am deutlichsten vorgeführt durch die Existenz des Buches House of Leaves auf allen Ebenen. Zampanòs Manuskript gibt in der Remedialisierung von Navidsons letzter Expedition eine Passage wieder, in der Navidson im Labyrinth verloren ist: „Taking a tiny sip of water and burying himself deeper in his sleeping bag, he turns his attention to the last possible activity, the only book in his possession, House of Leaves“ (S. 465). Das Buch, das in der Form, in der es dem Rezipienten vorliegt, erst von Zampanò geschrieben, von Truant ediert und von den Herausgebern mit dem umfangreichen Anhang versehen werden müsste, taucht also schon in dem Film, den Zampanòs Manuskript untersucht, auf. Dieses Phänomen wird innerhalb des textuellen Universums reproduziert, als Truant auf den letzten Seiten seiner Geschichte, die in Fußnoten innerhalb des Manuskriptes erzählt wird, das dementsprechend noch nicht fertiggestellt ist, das fertige Buch House of Leaves von einem Sänger in einer Bar in die Hände gedrückt bekommt. Julian Hanebeck führt hierzu aus, dass die metaleptischen Grenzverwischungen und der mit ihnen verbundene instabile ontologische Status der einzelnen Welten in House of Leaves die Narration bzw. das Verstehen der Narration – zumindest für einen Moment – unmöglich machen. Er analysiert eine Textstelle, in der Johnny Truant behauptet, das seltsame Gefühl zu haben, erzählt zu werden. Diesem Unterlaufen der Hierarchie der Welten folgt aber direkt im Anschluss die erneute Evokation der ursprünglich etablierten Ebenenhierarchie. Hier zeigt sich Hanebeck zufolge, dass ein Geschehen, das sich nicht klar in einer Welt verorten lässt, vom Leser nicht verstanden werden kann: In der metaleptischen Transgression wird deutlich, mit welchen raumzeitlichen Positionen das Verstehen eines Mediums einhergeht. Wenn die erzählte Welt sich nicht in einem solchen Sinne ‚lokalisieren‘ [H. i. O.] lässt, wenn es keinen raumzeitlichen Ort, ob fiktional oder faktisch, gibt, auf den Geschehen unzweideutig bezogen werden kann, wird Narration in gewisser Hinsicht unmöglich […].13

|| 13 Julian Hanebeck: „Der ontologische Rahmen von (Re)Medialisierungen: Metaleptische Echos in Mark Z. Danielewskis House of Leaves“. In: Ansgar Nünning/Jan Rupp (Hgg.): Die Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart: Theoretischer Bezugsrahmen, Genres und Modellinterpretationen. Trier 2011, S. 203–217, hier S. 214.

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Diese Unmöglichkeit der Darstellungslogik, in der eine Hierarchie der Welten unterlaufen, aber immer wieder aufgebaut wird, um sie anschließend wiederum zu demontieren, lässt den Rezipienten im Unklaren darüber, welche der Welten des textuellen Universums die textual actual world im Sinne Ryans,14 also die Welt im Zentrum des textuellen Universums darstellt, von der aus die anderen Welten erzählt oder imaginiert werden. Ryan bezeichnet diesen Effekt als typisch für die Literatur des 20. Jahrhunderts: In 20th-century literature, the classical ontological model that underlies realism gives way to an ontology that questions its central tenet: the hierarchical relation that places a single actual world at the center of the system and subordinates merely possible worlds to this actual world.15

Der ontologische Status der jeweiligen Welten kann also nicht abschließend bestimmt werden. Die Welten oszillieren in ihrer Relation zueinander; es kann nicht sicher gesagt werden, aus welcher Welt heraus die anderen evoziert werden. Brian McHale bezeichnet ein derartig konzipiertes textuelles Universum als heterarchy: „A heterarchy is a multileveled structure in which there is no single ‘highest’ level. This means […] that it is impossible to determine who is the author of whom, or, to put it slightly differently, which narrative level is hierarchically superior, which subordinate.“16

5 Semantisches und kritisches Verstehen Eine Auflösung der Diskrepanzen innerhalb des textuellen Universums des Romans ist unmöglich. Der Leser ist zwar in der Lage, temporär storyworlds zu kreieren und sich dementsprechend die Ereignisse innerhalb dieser Welten vorzustellen, der ontologische Status der einzelnen Welten in House of Leaves wird allerdings durch die gleichzeitige Existenz der anderen Welten und die Analogien zwischen ihnen unsicher. Dass die Vorstellung der einzelnen storyworlds und einzelner Erklärungsmodelle in einem Text wie House of Leaves – zumindest vorübergehend – gelingen kann, das textuelle Universum als Ganzes

|| 14 Ryan (Anm. 4), S. 24. 15 Marie-Laure Ryan: „Possible Worlds“. In: Peter Hühn u. a. (Hgg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/possible-worlds, § 20 [abgerufen am 27.07.2018]. 16 Brian McHale: Postmodernist Fiction. New York 1987, S. 120.

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jedoch rätselhaft bleibt und sich einem vollständigen Verstehen zu entziehen scheint, erklärt Eco mit der sequenziellen Natur des Lesevorganges: Bei einem verbalen Text erschwert die lineare und zeitlich (Schritt für Schritt) angeordnete Aufeinanderfolge eine Gesamtanalyse des ganzen Textes – die ein Zusammenwirken von Kurz- und Langzeitgedächtnis erfordert. Darum ist es möglich, bei verbalen Texten die Darstellung unmöglicher Welten oberflächlich als Seite für Seite vorstellbar aufzufassen, bis man schließlich die zwischen ihnen bestehende Widersprüchlichkeit begreift.17

Die mentale Evokation einer multiplen storyworld von House of Leaves, die die Gesamtheit der erzählten Welten einbezieht, erscheint schwierig. Aufgrund der Möglichkeit, das entworfene Universum im Lesevorgang „als Seite für Seite vorstellbar aufzufassen“, bleibt der Roman zwar lesbar, eine Naturalisierung von House of Leaves ist aber nur auf einer sehr allgemeinen Ebene möglich, auf welcher der Roman die Idee in Zweifel zieht, dass es eine Realität außerhalb von Vermittlung gibt. Der Text verlangt also einen kritischen Leser im Sinne Ecos, der die Unmöglichkeit eines semantischen Verstehens durch kritisches Verstehen kompensieren kann: „Die semantische Interpretation ist das Ergebnis eines Prozesses, durch den der Leser angesichts einer linearen Manifestation des Textes diesen mit einer bestimmten Bedeutung erfüllt. Die kritische Interpretation hingegen ist eine metasprachliche Aktivität, die beschreiben und erklären möchte, aus welchen formalen Gründen ein bestimmter Text eine bestimmte Reaktion hervorruft.“18 Die von Alber vorgeschlagenen Naturalisierungsstrategien enthalten diese Unterscheidung zwischen semantischem und kritischem Verstehen implizit. So kann z. B. die kognitiv vergleichsweise anspruchslose Strategie blending scripts das semantische Verstehen einer unnatürlichen Gegebenheit ermöglichen. Eine solche Gegebenheit darf allerdings nicht zu sonderbar sein, denn es müssen zwei scripts für ‚natürliches‘ Geschehen identifizierbar sein, die miteinander kombiniert werden können. Die wesentlich komplexere Strategie reading allegorically ist hingegen eher der Ebene des kritischen Verstehens zuzuordnen. Letzteres verlangt nicht unbedingt die Kreation einer storyworld bzw. einer multiplen storyworld. Diese Naturalisierungsstrategie ist auch die einzige, die man für das gesamte textuelle Universum von House of Leaves anwenden kann. Der Leser kann zwar einzelne Teile des Textes semantisch naturalisieren und temporär storyworlds kreieren, ein umfassendes Verstehen des Romans ist aller-

|| 17 Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation [I Limiti dell’Interpretazione, 1990]. Übers. v. Günter Memmert. München 1992, S. 275. 18 Eco (Anm. 17), S. 273.

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dings nur als kritisches Verstehen möglich, da der einzige Diskurs, der bereits natürlich und verständlich im Sinne Cullers ist (siehe Kap. 1) und mit dem House of Leaves in Verbindung gebracht werden kann, ein literaturwissenschaftlicher Metadiskurs ist. Ein semantisches Verstehen der Welten als Produkte der Imagination Johnny Truants oder seiner Mutter (das der Strategie reading events as internal states entsprechen würde) ist zwar denkbar. Diese Lesarten blenden aber weite Teile des textuellen Universums aus, da sie nicht in der Lage sind, dieses in seiner Komplexität zu erklären. Die verschiedenen erzählten Welten können nur isoliert voneinander und temporär naturalisiert werden. Das textuelle Universum als Ganzes widersteht einer semantischen Naturalisierung, da es aufgrund des Oszillierens der in ihm enthaltenen Welten nicht als eine multiple storyworld vorstellbar ist. Das Verstehen einer Erzählung ist laut Herman notwendig an die Kreation einer mentalen Repräsentation der erzählten Welt, und in diesem Fall eines textuellen Universums, gebunden. Eine solche Repräsentation lässt House of Leaves aber nicht zu, da das entwickelte textuelle Universum ontologisch instabil und inkohärent ist. Ein abschließendes Verstehen des Romans gestaltet sich also als schwierig, da immer in einer Welt verstanden wird. Ist keine multiple storyworld vorstellbar, welche die einzelnen Subwelten eines narrativen Textes kohärent miteinander verbindet, ist dem Rezipienten die Grundlage des Verstehens – zumindest des semantischen Verstehens – entzogen.

Literaturverzeichnis Abbott, H. Porter: The Cambridge Introduction to Narrative. Cambridge 2008. Alber, Jan/Iversen, Stefan/Nielsen, Henrik Skov/Richardson, Brian: „What is Unnatural about Unnatural Narratology? A Response ot Monika Fludernik“. In: Narrative 20/3 (2012), S. 371–382. Alber, Jan: „Impossible Storyworlds – and What to Do With Them“. In: Storyworlds 1/1 (2009), S. 80–96. Alber, Jan: „The Diachronic Development of Unnaturalness. A New View on Genre“. In: Jan Alber/Rüdiger Heinze (Hgg.): Unnatural Narratives – Unnatural Narratology. Berlin/ Boston 2011, S. 41–67. Culler, Jonathan: Structuralist Poetics: Structuralism, Linguistics, and the Study of Literature. London 1975. Danielewski, Mark Z.: House of Leaves. New York 2000. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation [I Limiti dell’Interpretazione, 1990]. Übers. v. Günter Memmert. München 1992. Fludernik, Monika: Towards a ‘Natural’ Narratology. London 1996.

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Matei Chihaia

Mögliche Welten als Allegorien der Fiktion Die Grenzen narrativer Sinnstiftung bei Julio Cortázar

1 Die Theorie möglicher Welten und die narratologische Fiktionstheorie Dass beim Import des Begriffes der möglichen Welten aus der analytischen Philosophie in die Literaturwissenschaft einiges an Differenziertheit verloren geht, hat Ruth Ronen in einer einschlägigen Untersuchung nachgewiesen.1 Dass es umgekehrt in der Literatur selbst eine Fülle von Formen und Funktionen gibt, für welche die Kategorien der philosophischen possible worlds theory in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nicht ausreichen, hat der Systematisierungsversuch von Marie-Laure Ryan angedeutet.2 Ryan entwirft darin eine Poetik von Textsorten, die sich durch ein jeweils unterschiedliches Verhältnis zwischen der actual world, also der Lebenswelt des Lesers, kurz Leserwelt, und der textual actual world, der im Text konstruierten Lebenswelt, kurz Textwelt, charakterisieren lassen.3 Auf diese Weise kann die systematische Fiktionstheorie auch historische Kategorien der Poetik aufnehmen und erneuern, die auf Aristoteles zurückgehen: Thema, Stil, Wahrscheinlichkeit. „Thematic focus“ entspricht der gattungsspezifischen Vorliebe für bestimmte Gegenstände und die Möglichkeit, andere auszublenden, „stylistic filtering“ erneuert die Lehre von den rhetorischen Stilniveaus und „probabilistic emphasis“ nimmt die Idee der Wahrscheinlichkeit wieder auf, um weit abliegende, exotisch-romantische Sujets von nächstliegenden, trivialeren Ereignissen zu unterscheiden.4 Über diese Erneuerung der aristotelischen Kategorien hinaus ermöglicht die Suche nach den spezifischen, generisch kodierten Beziehungen zwischen Leserwelt und Textwelt eine recht präzise Bestimmung von anti-logischen Genres: „Texts such as nonsense rhymes, surrealistic poems, the theater of the absurd, or postmodernist fiction may liberate their universes from the principles of noncontradiction.“5 || 1 Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994. 2 Marie-Laure Ryan: „Possible Worlds and Accessibility Relations: A Semantic Typology of Fiction“. In: Poetics Today 12/3 (1991), S. 553–576. 3 Ryan (Anm. 2), S. 555 f. 4 Ryan (Anm. 2), S. 571 f. 5 Ryan (Anm. 2), S. 557 f. https://doi.org/10.1515/9783110626117-011

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Genau genommen, werden in diesen Texten ‚unmögliche‘ oder zumindest unwahrscheinliche, thematisch oder stilistisch seltsame Welten konstruiert; ihre jeweils unterschiedliche Art der Unmöglichkeit kann gemäß der jeweiligen Schnittmenge von Leserwelt und Textwelt bestimmt werden. Beide können Objekteigenschaften, Objekte, Naturgesetze, die Zeitordnung, die taxonomische Ordnung, die logischen Gesetze, die Sprache miteinander teilen oder signifikant voneinander abweichen. Im ersten Fall kann der Leser von seiner bestehenden Welt ausgehen, um sich in der fiktiven Welt zu orientieren, im zweiten Fall muss er sich der Abweichung gemäß reorientieren. Auch innerhalb der Textwelt selbst wird die Differenz von Leserwelt und Textwelt wiedereingeführt: durch fiktive Leser, fiktive Erzähler oder Autoren und verschiedene Formen transtextuellen Bezuges. Zu den Typen im Text modellierter Bezugssysteme gehören nicht nur der Erfahrungswelt homologe Systeme, welche ‚nur‘ eine Reorientierung innerhalb des neuen, fiktionalen Koordinatensystems verlangen, sondern auch dezentrierte Textwelten oder gespaltene Systeme, bei denen verschiedene Bereiche der Realität unterschiedlichen Gesetzen unterstehen.6 Ein prägnantes Beispiel für eine solche intratextuell verankerte Unmöglichkeit, auf das Ryan in verschiedenen Publikationen zurückkommt, ist Julio Cortázars Erzählung Continuidad de los parques (1960):7 Die Hauptfigur dieses Textes, ein Leser, vertieft sich darin in einen Roman, dessen Diskurs zunehmend mit der Rede des Erzählers interferiert. Am Höhepunkt des Textes entsteht so der Eindruck, dass eine Figur des Romans aus dessen Rahmen tritt, um eben jenen Leser zu ermorden. Diese narrative Metalepse beschreibt einerseits eine ontologische Unmöglichkeit8 – eine Romanfigur ist ebenso wie der Erzähler ein „‚Wesen aus Papier‘“9 –, andererseits kann sie auch als „Allegorie der Immersion“ 10 verstanden werden, also als fiktionsironische Thematisierung eines ‚realistischen‘ Verhältnisses von Leserwelt und Textwelt. Cortázars Werk umfasst zum

|| 6 Vgl. Ryan (Anm. 2), S. 558–570. 7 Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality: Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore 2001, S. 163–171. Vgl. Marie-Laure Ryan: „Logique culturelle de la métalepse, ou la métalepse dans tous ses états“. In: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hgg.): Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris 2005, S. 201–224, hier S. 221. 8 Vgl. Marie-Laure Ryan: „Impossible Worlds and Aesthetic Illusion“. In: Werner Wolf/Walter Bernhart/Andreas Mahler (Hgg.): Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media. Amsterdam 2013, S. 131–148, hier S. 135. 9 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer [L’Aventure sémiologique, 1985]. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, S. 126. 10 Der Begriff der „Allegory of Immersion“ stammt von Ryan, die ihn auch schon auf Cortázars Erzählung Continuidad de los parques anwendet. Siehe Ryan (Anm. 7), S. 163–171.

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einen fast alle Gattungen des Unmöglichen, die von Ryan aufgezählt werden, zum anderen eine Fülle metapoetischer Reflexionen, in denen die möglichen Welten als Allegorien der Fiktion thematisiert werden. Im Folgenden möchte ich zum einen mit Hilfe von Ryans Kategorien die Vielfalt der erzählten Welten Cortázars aufzeigen, in denen das Verhältnis von Textwelt und Leserwelt experimentell variiert wird. Zum anderen will ich die Grenzen narrativer Sinnstiftung, also die Grenzen der Kontrolle über die Bedeutungen der Textwelt analysieren, wie sie sich in unterschiedlichen Typen von Fiktionen finden lassen. Denn der Sinn der Erzählungen wird auf unterschiedlichen Ebenen produziert. Die Instanzen, die diese Kontrolle prinzipiell ausüben können und in dieser Funktion bei Cortázar erscheinen, sind die Figuren der Textwelt (die als Übersetzer und ‚Fremdenführer‘ im anderen Universum fungieren können), sodann die Erzählerfunktion (die sich von Figuren der Textwelt distanzieren und deren Andersheit thematisieren kann) und schließlich der gestaltende Autor oder der Gestalten bildende Leser.

2 Die Theorie möglicher Welten in der CortázarForschung Ein erster Versuch, Cortázars Erzählungen mit Hilfe eines Konzeptes möglicher Welten zu charakterisieren, ist Jaime Alazrakis Theorie des neo-fantástico. Die Konkurrenz zweier ‚Ordnungen der Dinge‘, zweier Diskurse und somit zweier möglicher Weltordnungen unterscheidet das neo-fantástico vom fantastischen Erzählen des 19. Jahrhunderts, das lediglich Erschütterungen der bestehenden Welt zum Gegenstand hat – ohne die Grundannahme realistischen Erzählens, die Kongruenz von Textwelt und Leserwelt, infrage zu stellen. Laut Alazraki beschreibt das neo-fantastische Sujet eine neue Ordnung der Wirklichkeit, die der Erzähler zu vermitteln oder zu verstehen sucht. Allerdings muss mit Metaphern und Vergleichen kompensiert werden, dass die Gesetze und die „Grammatik“ dieser anderen Realität nicht bekannt sind.11 Wenn es zwei oder mehrere mögliche Welten gibt, schreibt Alazraki, so steht der Erzähler beiden mit dem gleichen Gefühl von Realität oder Irrealität gegenüber.12

|| 11 Vgl. Jaime Alazraki: En busca del unicornio. Los cuentos de Julio Cortázar. Madrid 1983, S. 35. 12 Vgl. Jaime Alazraki: Hacia Cortázar: Aproximaciones a su obra. Barcelona 1994, S. 69 f.

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Mit Ryans Kategorien lässt sich das von Alazraki Gemeinte noch weiter präzisieren. Was hier häufig vorliegt, ist eine Diskrepanz der Naturgesetze bei gleichzeitiger Kongruenz der Taxonomie. Die Textwelt ist von den gleichen Spezies bevölkert wie die Erfahrungswelt, aber ihre Beziehungen werden von anderen, eben unvertrauten Normen geregelt.13 Auf die Erzählungen von Cortázars Bestiario (1951) trifft diese Beschreibung bemerkenswert gut zu. Die Helden sind Menschen und Tiere, die den Alltagserfahrungen des Lesers entsprechen: Allerdings geraten sie in ein Verhältnis, das unbekannten Naturgesetzen folgt. Der Protagonist von Carta a una señorita en París (1951) z. B. ist nicht erstaunt, dass er Kaninchen aus seiner Kehle ziehen kann, und versucht nur, dieser Überbevölkerung seines Zimmers irgendwie Herr zu werden. Auch kontrafaktische Aussagen in späteren Texten lassen sich – in einer Erweiterung des Modells von Alazraki – mit den Begriffen der possible worlds theory analysieren. In dieser Perspektive liest Guillaume Martel LaSalle die illustrierte Erzählung Fantomas contra los vampiros multinacionales (1975), in der Cortázar ein Gegenbild zur Gegenwart entwirft.14 Hier hat sich die Zeitlinie so signifikant verändert, dass die Aktualität der Textwelt nicht mehr zu derjenigen der Leserwelt kongruent ist. In der Neofantastik liegt außerdem auch der Ansatz zu einer Aufspaltung der Textwelt. Die Bedeutung des Textes lässt sich nicht ohne eine Vermittlung zwischen solchen alternativen Interpretationsrahmen bestimmen, die innerhalb der Textwelt eine Spaltung in verschiedene Sinnbereiche herbeiführen. In ihrer Analyse der Erzählung Silvia aus der Sammlung Último Round (1969) verwendet Alice Jedličková den Begriff der möglichen Welten nach Lubomír Doležel, um ein solches Nebeneinander zweier unterschiedlicher Ontologien zu analysieren – also das, was Ryan als split ontologies bezeichnet.15 Die Welt der Kinder, in welcher die rätselhafte Silvia auftaucht und wieder verschwindet, wirkt in der vom Erzähler entworfenen Textwelt weitgehend unabhängig von der Welt der Erwachsenen, die sich einer bildungsbürgerlichen Konversation hingeben und die Figur der Silvia für eine imaginäre Freundin halten. Die Erzählerfigur allerdings, die an beiden Welten partizipiert, versucht zu vermitteln, was aus Sicht des Lesers ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigt: „The effect of unreliable narration does not result from a simple difference between the norms of the character

|| 13 Vgl. Ryan (Anm. 2), S. 564. 14 Guillaume Martel LaSalle: „Julio Cortázar, l’utopiste de l’excentrement“. In: Postures 10 (2008), S. 53–66, hier S. 60. 15 Siehe Ryan (Anm. 2), S. 567 f.

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narrator and the reader, but, above all, from the narrator’s attempt at negotiating the differences by narrative mediation.“16 Auch die Differenz einer erzählten Leserwelt und einer erzählten Textwelt kann schließlich, wie am Beispiel von Continuidad de los parques gezeigt, zu Interferenzen zwischen diesen beiden Welten führen, was neben Ryan auch Javier Rodríguez Pequeño in Begriffen der possible worlds theory analysiert hat.17 Insgesamt wird also Alazrakis Theorie durch die jüngeren Beiträge in vielen Hinsichten präzisiert. Verschiedene fiktionstheoretische Aneignungen der Theorie möglicher Welten dienen dabei einer Analyse einzelner Texte und vor allem narratologischer Aspekte der Poetik Julio Cortázars. Dabei deutet sich an, dass narrative Sinnstiftung auf unterschiedlichen Ebenen an Grenzen stößt. Tatsächlich wird das Motiv der möglichen Welten von Cortázar ebenfalls auf dieses Thema, die Kontrolle von Bedeutung in der Textwelt und ihre Grenzen, hin spezifiziert.

3 Die möglichen Welten als Referenz Julio Cortázars Um uns der Poetik der möglichen Welten in Cortázars Erzählungen zu nähern, können wir uns auch auf einige metapoetische Andeutungen aus seinem Werk selbst stützen. Das in Rayuela (1963), Abschnitt 28, einfließende geflügelte Wort „Por suerte todo va muy bien en el mejor de los mundos posibles“ ist eine Übersetzung der Maxime „alles ist zum Besten in der besten aller möglichen Welten“ („tout est pour le mieux dans le meilleur des mondes possibles“), welche der Philosoph Pangloss in Voltaires Erzählung Candide ou de l’optimisme (1759) zu mehreren unpassenden Gelegenheiten äußert.18 Der Protagonist von Cortázars experimentellem Roman, Horacio Oliveira, zitiert diese Worte mit einer gewis-

|| 16 Alice Jedličková: „An Unreliable Narrator in an Unreliable World. Negotiating between Rhetorical Narratology, Cognitive Studies and Possible Worlds Theory“. In: Elke D’hoker/ Gunther Martens (Hgg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel. Berlin/New York 2008, S. 281–302, hier S. 301. 17 Vgl. Ryan (Anm. 7). Siehe die Erläuterungen zur „Unmöglichkeit“ bei Javier Rodríguez Pequeño: „Mundos imposibles: ficciones posmodernas“. In: Castilla: Estudios de literatura 22 (1997), S. 179–188, hier S. 180–183. Während Ryan die ontologische Dimension des paradoxen Erzählens betont, sieht Pequeño allerdings die Unmöglichkeit in einem logischen Widerspruch. 18 Julio Cortázar: Rayuela [1963]. Hg. v. Julio Ortega/Saúl Yurkievich. Madrid 1996, S. 143.

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sen rhetorischen Ironie, um die gelingende Kommunikation über Kunstwerke, genau genommen über die meta-pikturale Dimension von Rembrandts Gemälden, zu feiern. Tragische Ironie ist es hingegen, dass dieses Zitat ausgerechnet dann fällt, als die Maga, Horacios Geliebte, den Tod ihres Kleinkinds entdeckt. Die besondere Funktion dieser Art von Ironie macht aus dem 28. Kapitel eine mise en abyme des experimentellen Lektüremodus, den Cortázar im „Armaturenbrett“ („Tablero de dirección“)19 des Romans empfiehlt. So wie der Leser durch das Überspringen einzelner Kapitel der linearen Entwicklung der Handlung „komplizenhaft“20 vorgreifen kann, wissen die um Oliveira und die Maga versammelten Freunde bereits vor der Mutter von dem Tod ihres Kindes – ohne allerdings dieses Ereignis in ihren Diskurs integrieren zu können. Diese doppelte, rhetorische und tragische Ironie knüpft unmittelbar an den Effekt an, den Voltaires Candide ou de l’optimisme durch die Karikatur von Gottfried Wilhelm Leibniz’ These einer perfekten Schöpfung erzielen möchte. Die möglichen Welten, auf die hier Bezug genommen wird, sind somit zwar nicht diejenigen der analytischen Philosophie, sondern der Aufklärung. Aber sie stehen in einem ausdrücklich metapoetischen Zusammenhang, in dem von „Metamalerei“ und „Metamusik“ die Rede ist, und wo das für Cortázars Poetologie zentrale Stichwort des „Fensters“ („ventana“) fällt, das sich in besonderen Kunstwerken öffnet.21 Die kontrollierte Stiftung von Sinnüberschüssen kontrastiert allerdings mit dem Thema des Kindstodes, das offenbar nicht auf diese Weise bewältigt werden kann. Nachdem Rayuela als experimenteller Roman den Leser einlud, auf zwei unterschiedlichen Wegen von Kapitel zu Kapitel zu schreiten (oder zu springen), und damit auch zwei unterschiedliche Alternativen anbot, die Textwelt zu konstituieren, entfaltet La vuelta al día en ochenta mundos (1967) das Konzept einer kombinatorischen Vervielfältigung der Textwelt noch weiter. Die Illustration auf dem Einband der von mir zitierten Ausgabe zeigt eine Figur, die mit Weltkugeln jongliert; diese Illustration unterstreicht den spielerisch-kalauerhaften Aspekt der Permutation der bekannten Titelwörter. Sortiert man diese Titelwörter anders und ändert auch noch Numerus und Sprache, ergeben sie ungefähr den Titel eines Romans von Jules Verne, Le Tour du monde en quatrevingt jours (1872). Hier kommt es also nicht zu einer ontologischen Spaltung in

|| 19 Cortázar (Anm. 18), S. 3; vgl. auch die poetologischen Erläuterungen der Figur Morelli innerhalb des Romans, ebd. S. 326 f. 20 Der Ausdruck „lector cómplice“ gehört zur Poetologie der Figur Morelli, vgl. Cortázar (Anm. 18), S. 327. 21 Cortázar (Anm. 18), S. 143.

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verschiedene Sinnwelten, sondern zu einer kombinatorisch variierten Vervielfältigung der Textwelt.22 Neben die Kombinatorik von Rayuela tritt in La vuelta al día en ochenta mundos zudem ein anderes Prinzip der Vervielfältigung, und zwar die intermediale Aufspaltung in unterschiedliche Sinnwelten, die eine zunehmend komplexe Reorientierung des Lesers fordern. Die „operación fantástica moderna“, so etwa José Sanjinés, führe als Grenzüberschreitung vom Horizont des Grundtextes in diese intermedialen (er sagt „intertextuellen“) Horizonte.23 Die Fotos und Reproduktionen von Stichen und Zeichnungen dienen nicht dazu, den dargestellten Raum zu strukturieren, sondern spalten die semantische Struktur der Textwelt auf.24 Gewiss, manche Porträts und Abbildungen dienen einfach der Illustration der Texte – andere jedoch, wie die menschengroße Grille, die auf dem Rücken eines hockenden Mannes lastet und ihm etwas ins Ohr zu flüstern scheint,25 erschliessen sich nicht unmittelbar. Die Ordnung der visuellen Zeichen durchkreuzt die Ordnung der Sprache, was – wie wir mit Ryans Systematik sagen können – zu dezentrierten oder nur in den Grenzen des jeweiligen Mediums definierten Weltmodellen führt.26 Zusammenfassend kann man also feststellen, dass Cortázar eine größere Anzahl der von Ryan beschriebenen Möglichkeiten fiktionaler Weltbildung ausschöpft – es ist also keineswegs möglich, seine Fiktionen auf eine einfache Strukturformel zu bringen. Dabei bezieht er sich auf französische Vorläufer der possible worlds theory, die (im Fall von Voltaire und Vernes geflügelten Worten) zu allgemeinem Bildungsgut geworden sind. Aus diesen Fundstücken konstruiert der Autor jeweils metapoetische Fiktionsmodelle, welche die ‚möglichen Welten‘ als Allegorie einer experimentellen Fiktion verwenden. Diese stellt die Identität der Textwelt infrage – und auf diese Weise stößt die narrative Sinnstif-

|| 22 Die diskursgeschichtlichen Hintergründe dieser Vervielfältigung vermute ich in der Geschichtsphilosophie Auguste Blanquis, die Cortázar durch die Vermittlung von Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares kennen musste. Borges und Bioy kommentieren an verschiedenen Stellen ihres Werkes Blanquis Idee, dass es eine möglicherweise unendliche Zahl paralleler Welten gibt, die entweder vollkommen identisch zu der unsrigen oder von dieser minimal verschieden seien. Vgl. Rosa Pellicer: „La eternidad melancólica de los mundos posibles. Borges, Bioy Casares“. In: Variaciones Borges 15 (2003), S. 93–110. 23 José Sanjinés: Paseos en el horizonte. Fronteras semióticas en los relatos de Julio Cortázar. New York u. a. 1994, S. 63. 24 So die These von María de Lourdes Dávila: Desembarcos en el papel. La imagen en la literatura de Julio Cortázar. Rosario 2001. 25 Julio Cortázar: La vuelta al día en ochenta mundos [1967]. Bd. II. 5. Aufl., México 1970, S. 22. 26 Vgl. Ryan (Anm. 2), S. 566–570.

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tung selbst an Grenzen. Wo die Grenzen der Sinngebung für verschiedene Instanzen (Figur, Erzähler, Autor, Leser) verlaufen, muss an einer näheren Betrachtung einiger Erzählungen erläutert werden. Schon an den hier besprochenen Beispielen deutet sich jedoch eine Spannung an zwischen der Kombinatorik, dem fiktionsironischen Jonglieren mit Welten und der existenziellen oder psychoanalytischen Bedeutung der Transgression, durch welche dieses freie Spiel auf Identitätskrisen und Sinnverlust bezogen werden kann.27

4 Rezentrierung und Dezentrierung: Inszenierte Textwelten als Allegorie fiktionaler Sinnstiftung Das dynamische Modell, das Ryan entwirft, eignet sich besonders gut zur Beschreibung der Permutationen, die sich – so lassen sich die bisherige Diskussion der Sekundärliteratur und die Analyse der metapoetischen Äußerungen von Cortázar zusammenfassen – auf drei Ebenen ereignen: dem Objekt- und Figurenbereich der Textwelt, dem Subjekt- und Erzählerbereich der Textwelt und der Differenz von Text und Medium, in der sich die Identität der Fiktion bestimmt, die zwischen Autor und Leser verhandelt wird. Diesen drei Ebenen soll jeweils ein Unterabschnitt gewidmet sein.

4.1 Die Welt, in der die Dinge fehl am Platz sind Eines der Leitmotive von Cortázars Erzählungen ist die Erfahrung einer alternativen Realität. Die Differenz zwischen Textwelt und Leserwelt, die hier innerhalb der Fiktion selbst inszeniert wird (wie fast immer bei Cortázar als metapoetische Allegorie), entsteht dabei durch eine Permutation habitualer Verknüpfungen zwischen den Elementen der Textwelt. Es handelt sich also, um in Ryans Kategorien zu sprechen, um den Fall, dass die Objekte der Leserwelt wiedererkennbar sind, aber ihre Beziehungen – und somit ihre Eigenschaften – sich so signifikant verändert haben, dass sie nicht unmittelbar wiedererkannt werden

|| 27 Hier beziehe ich mich auf die Ergebnisse von Wolfram Nitsch: „Die lockere und die feste Schraube. Spiel und Terror in Julio Cortázars Rayuela“. In: Ulrich Schulz-Buschhaus/Karlheinz Stierle (Hgg.): Projekte des Romans nach der Moderne. München 1997, S. 263–287.

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können.28 Dabei wirken die neuen Konfigurationen unwahrscheinlich (jedoch nicht unmöglich) und dysfunktional.29 Zahlreiche Texte inszenieren diese Permutation in der Objektwelt, die Eigenschaften und Taxonomien verwandelt. La banda (1956) schildert eine potenziell komische Situation: Der Held begibt sich in ein elitäres Kino – das Gran Cine Opéra –, um einen Film von Anatole Litvak zu sehen, und findet sich stattdessen mit einer folkloristischen Variéténummer konfrontiert, die von der Belegschaft einer Schuhfabrik aufgeführt wird. Diese Situation wird allerdings nicht komisch inszeniert, sondern als eine existenzielle Erschütterung. Der Ernst der Lage wird im Motto durch den Hinweis auf den Selbstmord des Surrealisten René Crevel „aufgrund solcher Dinge“ („por cosas así“)30 betont und in einem abschließenden Kommentar ausgeführt. Der Protagonist, dessen Schilderung vom Erzähler referiert wird, erfährt das Missverständnis als die Offenbarung einer möglichen anderen Realität: Er fühlte sich, als sei ihm endlich ein Blick in die Wirklichkeit zuteil geworden. Ein Augenblick der Realität, die ihm falsch vorgekommen war, weil sie wahr war, die Wirklichkeit, die er jetzt nicht mehr sah. Das, was er miterlebt hatte, war das Wahre, das heißt, das Falsche. Er spürte nicht mehr das Skandalöse daran, von Elementen umgeben zu sein, die nicht an ihrem Platz waren. Denn er verstand, indem er sich einer anderen Welt bewusst wurde, dass diese Vision sich auf die Straße, auf das Galeón, auf seinen blauen Anzug, auf seine Planung des Abends erstrecken konnte […]. (Übersetzung von M. C.)31

Die Erfahrung führt den Helden also – nach einigen Momenten der Empörung über den Skandal – zu einer antirealistischen Haltung. Er zweifelt die Möglichkeit einer einzigen und zuverlässig geordneten Wirklichkeit an, in der die Dinge

|| 28 In der Taxonomie von Ryan entspricht dem eine Unwahrscheinlichkeit in Bezug auf die Kategorien „Übereinstimmung der Objekteigenschaften in Textwelt und Leserwelt“ und „Übereinstimmung der taxonomischen Ordnungen in Textwelt und Leserwelt“. Vgl. Ryan (Anm. 2), S. 558 f. 29 Diese Unwahrscheinlichkeit lässt sich auf die „probabilistic emphasis“ bei Ryan beziehen: Die Ereignisse sind gleichzeitig realistisch auf die Leserwelt beziehbar und aus verschiedenen Gründen höchst ungewöhnlich. Vgl. Ryan (Anm. 8), S. 571. 30 Julio Cortázar: „La banda [1956]“. In: Ders.: Los relatos, 3: Pasajes. Madrid 2000, S. 110–115, hier S. 110. 31 „Sintió como si le hubiera sido dado ver al fin la realidad. Un momento de la realidad, que le había parecido falsa porque era la verdadera, la que ahora ya no estaba viendo. Lo que acababa de presenciar era lo cierto, es decir lo falso. Dejó de sentir el escándalo de hallarse rodeado de elementos que no estaban en su sitio. Porque en la misma conciencia de un mundo otro, comprendió que esa visión podía prolongarse a la calle, al Galeón, a su traje azul, a su programa de la noche […].“ Cortázar (Anm. 30), S. 114.

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„an ihrem Platz sein“ können. Damit ist ein Thema angesprochen, das in zahlreichen poetologischen und literarischen Texten Cortázars auftaucht und das Fernando Aínsa auf den Begriff der „descolocación“ – also des ‚Verstelltseins‘, des ‚Fehl am Platz Seins‘ – gebracht hat.32 Die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Wirklichkeit verbindet den Autor nicht nur mit der surrealistischen Tradition, für die der genannte René Crevel steht, sondern dämpft auch die antiperonistische Tendenz der Geschichte. Nicht das Skandalon des von Fabrikarbeiterinnen besetzten Kinos bildet das Sujet, sondern die Überwindung des Vorurteils, dass die Arbeiterinnen sich auf die Produktion von alpargatas beschränken müssten, und das Eintauchen in eine ebenso labile wie soziologisch unwahrscheinliche Performance.33 Allerdings bildet die Rede des Erzählers einen Rahmen um diese Erzählung und so etwas wie ein Brückengeländer, an dem sich der Leser festhalten und in seine Leserwelt zurückfinden kann. Dieses Verfahren der Kontrolle über die inszenierten Inkongruenzen findet sich auch in anderen Texten. Die poetische Verfremdung der Dinge, die deren Funktion und Beziehung verändert, lässt sich als ein Produkt fiktionaler Rahmung verstehen; die surrealistischen objets trouvés entsprechen einer Aufmerksamkeit, die ästhetische Rahmen nach Belieben setzt und überschreitet und damit die möglichen Welten vervielfältigt. So schreibt Cortázar über eine Figur von Ramón Gómez de la Serna: Gustavo – von magischer Inkongruenz getroffen – verwechselt Gemälde mit Spiegeln (und vermutet Spiegel in den Gemälden), entdeckt Strände voller Briefbeschwerer und verliebter Frauen und lebt ein Leben als unfreiwilliger Dichter, für den die Poesie in die Dinge einbricht, bevor sie in die Verse gelangt. (Übersetzung von M. C.)34

Die „incongruencia mágica“ des avantgardistischen Lebensgefühles verweist auf das Wechselverhältnis von magischer Allmacht und internalisierter Entmachtungsdrohung, das Freud entdeckt hat – und somit auf die Ursprünge sur-

|| 32 Fernando Aínsa: „Las Dos Orillas de Julio Cortázar“. In: Revista Iberoamericana 39/84–85 (1973), S. 425–456. 33 Der Name alpargatas – Bastschuhe – ist eine Anspielung auf den peronistischen Slogan „Alpargatas sí, libros no!“, wie in der Sekundärliteratur bereits signalisiert wurde. Siehe das kritische Referat der Interpretation als soziopolitische Allegorie bei Patricio Goyalde Palacios: La interpretación, el texto y sus fronteras. Estudio de las interpretaciones críticas de los cuentos de Julio Cortázar. Madrid 2005, S. 193–210. 34 „Gustavo –dolido de incongruencia mágica– confunde cuadros con espejos (y sospecha espejos en los cuadros), descubre playas llenas de pisapapeles y mujeres enamoradas, y vive una vida de involuntario poeta para quien la poesía irrumpe en las cosas antes que en los versos.“ Julio Cortázar: Obra Crítica II. Hg. v. Jaime Alazraki. Buenos Aires 1994, S. 90.

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realistischer Ästhetik, die für das Werk Gómez de la Sernas eine gewisse Bedeutung hat.35 Der Diskurs des Kritikers Cortázar, der sich mit markanten rhetorischen Figuren (z. B. dem komplizierten Zeugma „voller Briefbeschwerer und verliebter Frauen“) vom Imaginären des Protagonisten distanziert, versucht mit diesen Ausdrücken auktorialer Souveränität zwischen der inkongruenten Gegenstandswelt und der Leserwelt zu vermitteln. In Historias de Cronopios y Famas (1962) stellt Cortázar dieses Erlebnis der Inkongruenz in den Mittelpunkt eines eigenen Texts, La foto salió movida: Der Protagonist greift in seine Tasche und findet dort statt seines Hausschlüssels eine Schachtel Zündhölzer. Dies bekümmert ihn nicht wenig, denn er überlegt sich, dass möglicherweise die ganze Welt sich mit einem Mal umgestellt habe („sería horrible que el mundo se hubiera desplazado de golpe“36) und jetzt seine Brieftasche voller Zündhölzer, die Zuckerdose hingegen voller Geldscheine, das Klavier voller Zucker, das Telefonbuch voller Musik – und so weiter – wäre. Aber es kommt noch schlimmer: Ein Blick in den Spiegel zeigt ihm nicht seine eigene Gestalt, sondern den Schirmständer (denn der Spiegel steht leicht schräg). Auch hier wird die Krise mit einer gewissen ironischen Distanz inszeniert. Wieder führen die Permutationen keinen ganz unmöglichen Zustand herbei, sondern eine auf unheimliche Weise unwahrscheinliche Verschiebung. Der Erzähler präsentiert dabei das Imaginäre der Figur als die eigentliche Ursache der Inkongruenz und hält eine realistische Sicht der Dinge für den Leser bereit. Der Erzähler-Fokus rückt sozusagen den Spiegel wieder zurecht, nimmt die Permutation der Gegenstandswelt so selbstverständlich wieder zurück, wie er sie eingeführt hatte: es genügt ein kurzer Hinweis auf die optische Täuschung, deren Opfer die Figur wird.

4.2 Der defigurierte Erzähler Während in einigen Texten Cortázars also die Permutation ein Kunststück ist, bei dem der Erzähler als ein geschickter Jongleur mit möglichen Konfigurationen der Welt erscheint, verfängt er sich in anderen Texten selbst in den von ihm inszenierten Alternativen. Diese Spannung von narrativer Rezentrierung und Dezentrierung der Textwelt ist besonders gut in der bekannten Erzählung Las || 35 Das Werk, von dem hier die Rede ist, El incongruente (1922), gilt vielen Kritikern als einer der ersten surrealistischen Romane überhaupt. Zur kritischen Diskussion vgl. María José Flores Requejo: „Ramón Gómez de la Serna y el amor surrealista“. In: Anuario de estudios filológicos 21 (1998), S. 73–83, hier S. 77 f. 36 Julio Cortázar: Historias de Cronopios y de Famas [1962]. 8. Aufl., Buenos Aires 1972, S. 134.

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babas del diablo (1956) zu beobachten. Zunächst erscheint der Erzähler hier in einer souveränen Position, die zwischen verschiedenen Diskursen alternieren kann; aber in dieser Situation macht sich auch ein Unbehagen spürbar: „Nie weiß man, wie man das erzählen soll, ob in erster oder in zweiter Person, ob in der dritten Person Plural oder ständig Formen erfindend, die zu nichts gut sind.“37 Gleich mehrere der von Ryan beschriebenen Typen werden hier angesprochen: Das fiktionale „re-centering“ des Diskurses um einen neuen Ursprung ist in der anfänglichen Disjunktion zwischen erster, zweiter und dritter Person aktuell; die Erfindung von sinnlosen Formen, in welche diese Überlegung mündet, entspricht den „undecidable relations“, die in diesem Fall auf einen Autoritätsverlust des Sprechers hinweisen.38 Ähnlich wie die Inkongruenzen auf Diskursebene bleiben auch die Alternativen auf Ebene der Geschichte nicht folgenlos. Der Erzähler präsentiert die möglichen Ausgänge der Handlung als ein freies Spiel seiner Imagination: Alles was sich ereignen könnte, sich jedoch noch nicht ereignete („Todo esto podía occurrir, pero aún no occurría… imaginé los finales posibles.“39). Tatsächlich schlägt diese Freiheit der narrativen Fantasie in den Zwang eines transgressiven Imaginären um, das sich dem erzählenden Ich aufdrängt: Die in den ersten Versionen übersehene männliche Figur – ein für den homophoben Erzähler besonders bedrohlicher Verführer – tritt aus dem Rahmen der Fotografie, um ihn k. o. zu schlagen. Damit erstarrt die Textwelt in einer bestimmten Form, die im Vergleich zu herkömmlichen fiktionalen Genres stark eingeschränkt wirkt: Der Diskurs mündet in eine wenig narrative Bestandsaufnahme dessen, was im Gesichtsfeld des Erzählers erscheint – so als wäre er eine Kamera, vor deren Objektiv Wände, Wolken und der eine oder andere Sperling vorbeiziehen. Während bis zu diesem Punkt der Erzähler die Inkongruenzen der Gegenstandswelt von einem sicheren Ufer aus betrachten konnte, wird er durch die Metalepse selbst in den Wirbel der Defigurationen gerissen. Der Standortwechsel des Erzählers, der aus seiner Verankerung gerissen wird und durch die Immersion einen neuen Mittelpunkt in einer alternativen Existenz findet, ist ein Leitmotiv von Cortázars metapoetischen Äußerungen. In zahlreichen Erzählungen wird dieser Wechsel zwischen möglichen Perspekti|| 37 „Nunca se sabrá cómo hay que contar esto, si en primera persona o en segunda, usando la tercera del plural o inventando continuamente formas que no servirán de nada.“ Julio Cortázar: „Las babas del diablo“ [1959]. In: Ders.: Los relatos, 3: Pasajes. Madrid 2000, S. 224–239, hier S. 224, Übersetzung von M. C. 38 Ryan (Anm. 2), S. 566 f. Für den Typ „Radical lack of authority“ wird Samuel Becketts The Unnamable (1953) als Beispiel angeführt. 39 Cortázar (Anm. 37), S. 232.

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ven als Allegorie der Fiktion inszeniert. Der Autor beschreibt die Suche nach einer anderen Ordnung des Wirklichen schon in einer frühen, zu seinen Lebzeiten unveröffentlichen Monografie über John Keats, aus der er in der späteren Sammlung La vuelta al día en ochenta mundos einige Kernstellen veröffentlicht (und die über das Motiv des Sperlings auch mit Las babas del diablo verknüpft ist). Darin heißt es: „Der Dichter, dem nach Dasein dürstet, streckt sich unablässig nach der Wirklichkeit und sucht mit der unermüdlichen Harpune des Gedichtes eine immer tiefer ergründete, immer realere Realität.“40 Cortázar zitiert Keats – „Wenn ein Sperling sich an meinem Fenster niederlässt, nehme ich an seinem Dasein teil und picke am Boden“41 – und verweist auf den deutschen Ausdruck „Einfühlung“, um dieses Immersionserlebnis zu charakterisieren.42 In zahlreichen Erzählungen wird das Thema der Immersion variiert, welches das Keats-Fragment anspricht, und zu mehr oder weniger imaginären Metempsychosen ausgebaut. Lejana (1951), Axolotl (1956) und El otro cielo (1966) handeln wie Las babas del diablo vom Wechsel eines Standpunktes, bei dem die Erfahrung einer alternativen Wirklichkeit einer anderen, neuen Verankerung des Subjektes, einem re-centering innerhalb einer doppelbödigen Textwelt entspricht.43 Der Erzähler findet sich auf einmal im Standpunkt einer anderen Figur, ja sogar eines Tieres – dem exotischen Axolotl – oder Gegenstandes – einem Kameraobjektiv – wieder. Während die Kontrolle des Erzählers über die Bedeutung des Textes dabei in dem Maße beschränkt wird, in dem die Erzählerfigur aus der Erzählerrolle fällt, wird die Position des impliziten Autors – des Rahmens also, der die generische Identität der Textwelt als ‚fiktionale Erzählung‘ garantiert – jedoch nur gestärkt. Dies ändert sich erst, wenn die Textwelt selbst intermedial vervielfältigt wird.

4.3 Der vielgestaltige Text Die Experimente mit möglichen Welten führen in ihrer äußersten Form zu einer Vervielfältigung der Textwelten. In plurimedialen Büchern wie La vuelta al día

|| 40 „Sediento de ser, el poeta no cesa de tenderse hacia la realidad buscando con el arpón infatigable del poema una realidad cada vez mejor ahondada, más real [H. i. O.].“ Cortázar (Anm. 25), S. 190, Übersetzung von M. C. Vgl. Alazraki (Anm. 11), S. 69 f. 41 „Si un gorrión se posa junto a mi ventana, tomo parte en su existencia y picoteo en el suelo“. Cortázar (Anm. 25), S. 188, Übersetzung von M. C. 42 Cortázar (Anm. 25), S. 189. 43 Auch dies wurde bereits zu Lebzeiten Cortázars in der Sekundärliteratur beschrieben von Wiltrud Imo: „Julio Cortázar. Poeta Camaleón“. In: Iberoromania 22 (1985), S. 46–66.

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en ochenta mundos wird die semantische Konkretisierung einer geschlossenen fiktiven Welt durch eine Rhetorik der Sprünge durchkreuzt. Zu solchen Sprungfiguren zählen die Homonymie (eine semantische Sprungfigur), die Antimetathese (eine BuchstabenSprungfigur) und die Inversion (eine syntaktische Sprungfigur), die gemeinsam mit grafischen Sprungfiguren wie der Hand mit Index […] und unzähligen Querverweisen, die das ganze Buch durchziehen, als zentrale Leitfiguren posteuklidischer Mimesis zu begreifen sind, deren elementare Funktion darin besteht, den Hypotext in eine Dimension des „Offenen“ zu überführen […].44

Die Kontrolle über diese Mimesis wird nun teilweise an den Leser abgegeben. In Rayuela formuliert Cortázar eine gestaltpsychologische Allegorie des Buches als sichtbare Form: Das Buch sollte so wie jene Zeichnungen sein, die die Gestaltpsychologen zeigen, und einige Linien sollten so den Betrachter dazu führen, in seiner Einbildung die Linien zu ziehen, die die Figur abschließen. Manchmal jedoch waren die fehlenden Linien die wichtigeren, die einzigen, die wirklich zählten.45

Der Roman als eine gezeichnete Figur, die vom Betrachter zu unterschiedlicher Gestalt ergänzt werden kann – diese gestaltpsychologische Alternative erscheint an verschiedenen Stellen, um die Komplexität des Kunstwerkes zu charakterisieren und die Möglichkeit eines vielgestaltigen Textes zu erläutern.46

|| 44 So, unter Bezug auf La vuelta al día en ochenta mundos, Kirsten Kramer/Kirsten Mahlke: „XXVIII: Reise um den Tag in 80 Welten“. In: ‚Passepartout‘ (Hg.): Weltnetzwerke – Weltspiele. Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“. Konstanz 2013, S. 205–209, hier S. 206. 45 „El libro debía ser como esos dibujos que proponen los psicólogos de la Gestalt, y así ciertas líneas inducirían al observador a trazar imaginativamente las que cerraban la figura. Pero a veces las líneas ausentes eran las más importantes, las únicas que realmente contaban.“ Cortázar (Anm. 18), S. 386, Übersetzung von M. C. Auch außerhalb seiner Fiktion verwendet Cortázar den Gestaltbegriff, um etwa seine Erinnerung an eine Geschichte zu beschreiben: „Ich erinnere mich sehr gut daran, weil eine Art komplette Gestalt von der Angelegenheit zurückgeblieben ist.“ („[M]e acuerdo muy bien de eso porque quedó una especie de gestalt [H. i. O.] completa del asunto.“). Julio Cortázar/Omar Prego Gadea: La fascinación de las palabras [1985]. Buenos Aires 1997, S. 93, Übersetzung von M. C. 46 Für die Tradition der entsprechenden psychologischen Grundlegung von Gattung in der Gestalttheorie vgl. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 80–85. Zum Zusammenhang zwischen dem durch die Kognitionspsychologie ‚wissenschaftsfähig‘ gemachten Formbegriff und moderner Kulturphilosophie (Georg Simmel, Ernst Cassirer) vgl. Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln/Weimar/Wien 2001, S. 197.

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Schon im frühen Entwurf seiner Monografie über Keats greift Cortázar auf den Gestaltbegriff zurück, um den Umgang bestimmter Maler mit der Perspektive zu erläutern: Ein Benozzo Gozzoli, wie Endymion, verzeichnet die Welt, für die er eine Vorliebe hat; und jede Bestandsaufnahme dessen, wofür man eine Vorliebe hat, verlangt nach Aussonderung und Ausschnitten. Heutzutage bevorzugen wir die Gestalt, die Strukturen, die in ihrer vollen Komplexität und Verschiedenartigkeit gegeben werden, welche zugleich ihre wesentliche Einheit ist. Wir kehren zurück zu Giotto und Masaccio, die ins Ganze eintauchen, anstatt Ausschnitte zu bieten.47 (Übersetzung von M. C.)

Der Gestaltbegriff wird also eingeführt, um die perspektivische Verkürzung, wie sie in der Malerei der Renaissance perspektivische Tiefe ausdrückt, mit einer ganzheitlichen und damit auch lebensechten Darstellungsweise zu vergleichen. Cortázar kontrastiert die Selektion der Alten Meister mit der vielgestaltigen Malerei des Kubismus, die die Konstituierung einer geschlossenen Welt, die semantische Rezentrierung verhindert. Pablo Picasso, der ein Porträt gleichzeitig in frontaler Ansicht und im Profil darstellt, ist ein Beispiel für diesen Kampf der Moderne um eine möglichst komplexe Darstellung der Realität.48 Auch in Rayuela ist das Ziel wohl eine Totalität, die nur scheinbar konfus, tatsächlich aber eine Herausforderung der kognitiven Aktivität, des Gestaltsehens des Lesers ist. Die kontrollierte, experimentelle Abgabe von Autorität über die Textwelt stützt sich dabei auf einen gestaltpsychologischen Diskurs, um die Identität der Fiktion zu festigen. Denn die möglichen Gestalten, die der Leser dem Text gibt, werden durch das ‚Armaturenbrett‘ programmiert. Ob diese Allegorie vom Roman eingelöst wird, darf man allerdings bezweifeln – zu tief sitzt der surrealistische Vorbehalt gegen die Sinnstiftung.49 Erst recht wird das Konzept der ‚Gestalt‘ von den Almanachen wie La vuelta al día en ochenta mundos infrage gestellt, bei denen Bildteil und Textteil mitun-

|| 47 „Un Benozzo Gozzoli, como Endimión, hace el inventario de su mundo predilecto; y todo inventario de lo predilecto supone apartamiento, recorte. Hoy preferimos las Gestalt, las estructuras dadas en su plena complejidad y diversidad, que es a la vez su unidad esencial. Nos volvemos a Giotto y a Masaccio que calan en el todo en vez de recortar [H. i. O.].“ Julio Cortázar: Imagen de John Keats. Buenos Aires 1996, S. 130, Übersetzung durch M. C. 48 „Picasso bringt in einem Gesicht die Stirnseite und das Profil zusammen. Was für eine Verzweifelung von Gestalt, damit dem Auge auf der Leinwand nicht entgeht, was es in der Raumzeit gesehen hat.“ („Picasso junta en una cara el frente y el perfil. ¡Qué desesperación de Gestalt, de que el ojo no pierda en la tela lo que ha visto en el espacio-tiempo!“). Cortázar (Anm. 47), S. 130f., Übersetzung durch M. C. 49 Vgl. dazu Nitsch (Anm. 27).

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ter wenig kongruent wirken. Die intermediale Vielgestaltigkeit erschwert die Konstituierung einer geschlossenen Textwelt, die entstehenden Sinnangebote appellieren nicht so sehr an eine kognitive Leistung als an ein radikales Imaginäres, das mit inkommensurablen Elementen, mit radikaler Andersheit umgehen kann.50 Das Nebeneinander von Bild und Text kann also nicht immer in eine Gestalt integriert werden, obwohl der implizite Autor auch hier die Identität der Textwelt mit Hilfe der bereits genannten rhetorischen Sprungfiguren, mit Hilfe von generischen Illustrationen (vor allem den in Bild-Text-Relationen verankerten Stichen zu Verne) und ikonografischen Legenden (die notwendigerweise zu ihren Bildern ‚passen‘) wiederherzustellen sucht. Die Sekundärliteratur hat die surrealistischen Tendenzen dieser experimentellen Texte bereits eingehend analysiert.51 Während in den bisher besprochenen Beispielen der Surrealismus zitiert und die Grenzen der Sinnstiftung allegorisch inszeniert werden, stellen die Almanache die Identität der Fiktion effektiv infrage.

5 Fazit Auf drei Ebenen – der erzählten Welt, dem Erzähler und dem Text – wird also eine Defiguration inszeniert, die durch unterschiedliche Rahmungen zumindest teilweise wieder sinnvoll eingefangen wird. Dabei werden teils die Figur eines natürlichen Erzählers, teils die Instanz eines impliziten Autors aktualisiert, um die generische Identität einer unwahrscheinlichen, hinsichtlich ihrer Geschichte oder ihres Diskurses seltsamen Textwelt abzusichern. Nicht nur in der intermedialen, zwischen Bildteil und Textteil aufgespaltenen Fiktion, also auf Ebene des Textes selbst, werden die Grenzen dieser Sinnstiftung allegorisch inszeniert – im Sinn einer spätsurrealistischen Poetik –, sondern auch in gelegentlichen Wortneuschöpfungen, Inkonsistenzen und schwer- bis unverständlichen Privatsprachen.52 So kann der Text den Leser auch mit „undecidable relations“ im

|| 50 Ich beziehe mich hier auf die Bestimmung des Imaginären bei Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution [L’institution imaginaire de la société, 1975]. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 1990, S. 399–409. 51 Hier verweise ich auf die Analysen im Buch von Dávila und auf ihre bereits zitierte These (Anm. 24). 52 Ausführlich erforscht hat dies am Beispiel des weniger bekannten Frühwerks François Gramusset: Perdre le sens. Essai de lecture des premieres nouvelles cortazariennes. Grenoble 2003. Die entsprechenden Passagen in Rayuela finden sich z. B. im Kapitel 68 des Romans (Cortázar [Anm. 18], S. 305).

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Sinne Ryans konfrontieren, die durch bewusste semantische Operationen nicht begründet werden können, sondern eher auf unbewusste Assoziationen und das Magma des Imaginären verweisen.53 Charakteristisch ist hier also die Oszillation zwischen einer gelingenden und einer unvollständigen Rahmung der Textwelt. Auf der einen Seite wird der Leser eingeladen, der Textwelt eine klare Gestalt zu verleihen, auf der anderen Seite entzieht sie sich ihm wieder durch ihre unzugängliche, surreale Konfusion. Aber es wird an zahlreichen Kommentaren und Anspielungen auf die „möglichen Welten“ deutlich, dass der Autor die Organisation dieses Spiels mit einer gewissen theoretischen Distanz überblickt. Cortázars metapoetische Allegorien beschreiben nicht nur eine desorganisierte Textwelt, sondern entwerfen auch Strategien der ästhetischen Organisation; der Rückzug der sinnstiftenden Instanzen ist ein geordneter Rückzug.

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|| 53 Vgl. dazu die Bestimmung des ‚Magmas‘ bei Castoriadis (Anm. 50), S. 409.

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Gramusset, François: Perdre le sens. Essai de lecture des premieres nouvelles cortazariennes. Grenoble 2003. Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973. Imo, Wiltrud: „Julio Cortázar. Poeta Camaleón“. In: Iberoromania 22 (1985), S. 46–66. Jedličková, Alice: „An Unreliable Narrator in an Unreliable World. Negotiating between Rhetorical Narratology, Cognitive Studies and Possible Worlds Theory“. In: Elke D’hoker/Gunther Martens (Hgg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel. Berlin/ New York 2008, S. 281–302. Kramer, Kirsten/Mahlke, Kirsten: „XXVIII: Reise um den Tag in 80 Welten“. In: ‚Passepartout‘ (Hg.): Weltnetzwerke – Weltspiele. Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“. Konstanz 2013, S. 205–209. Martel LaSalle, Guillaume: „Julio Cortázar, l’utopiste de l’excentrement“. In: Postures 10 (2008), S. 53–66. Nitsch, Wolfram: „Die lockere und die feste Schraube. Spiel und Terror in Julio Cortázars Rayuela“. In: Ulrich Schulz-Buschhaus/Karlheinz Stierle (Hgg.): Projekte des Romans nach der Moderne. München 1997, S. 263–287. Pellicer, Rosa: „La eternidad melancólica de los mundos posibles. Borges, Bioy Casares“. In: Variaciones Borges 15 (2003), S. 93–110. Rodríguez Pequeño, Javier: „Mundos imposibles: ficciones posmodernas“. In: Castilla: Estudios de literatura 22 (1997), S. 179–188. Ronen, Ruth: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994. Ryan, Marie-Laure: „Possible Worlds and Accessibility Relations: A Semantic Typology of Fiction“. In: Poetics Today 12/3 (1991), S. 553–576. Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality: Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore 2001. Ryan, Marie-Laure: „Logique culturelle de la métalepse, ou la métalepse dans tous ses états“. In: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hgg.): Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris 2005, S. 201–224. Ryan, Marie-Laure: „Impossible Worlds and Aesthetic Illusion“. In: Werner Wolf/Walter Bernhart/Andreas Mahler (Hgg.): Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media. Amsterdam 2013, S. 131–148. Sanjinés, José: Paseos en el horizonte. Fronteras semióticas en los relatos de Julio Cortázar. New York u. a. 1994. Simonis, Annette: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln/Weimar/Wien 2001.

Anna-Felicitas Geßner

Die doppelte Welt von Guy Ritchies Film Revolver als Spielwelt Eine Rahmenanalyse Menschen konstruieren permanent Sinn, während sie sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Die Fantastik thematisiert diese Auseinandersetzung. Sie zeigt die Veränderlichkeit und Relativität der menschlichen Wahrnehmung auf, indem sie eine Kluft zwischen subjektiven Ordnungsmustern und dem Dargestellten entstehen lässt. Diesem Riss liegt ein Verfremdungsverfahren zugrunde, das zwei unterschiedliche narrative Systeme entwirft und gegeneinander ausspielt. Sich in dem Grenzbereich zwischen ihnen bewegend treibt die narrative Fantastik ein Spiel mit dem Rezipienten, wenn sie Zweifel hervorruft und ihn bei seiner Urteilsfindung auf falsche Fährten lockt. Wie sich dieses Spiel gestalten kann, will der vorliegende Beitrag anhand der Betrachtung einer filmischen Narration demonstrieren. Die Analyse von Wahrnehmungsmustern, sogenannten frames, soll diesbezüglich die Prozesse der Sinnkonstruktion bei der Rezeption der erzählten Welt transparenter machen. Guy Ritchies Mystery-Film Revolver (2005) bietet sich für die Untersuchung eines solchen Zusammenhanges an, da er sowohl über einen spielerischen Umgang mit frames die für die Fantastik konstitutive Unschlüssigkeit evoziert, als auch das Spiel leitmotivisch thematisiert. Das Spiel mit dem Zweifel basiert hier auf einer ambivalenten Motivationsstruktur auf der Ebene der Ereignisverknüpfungen. In diesem Sinne ist die Filmwelt von Revolver eine Spielwelt, weil sie eine doppelte Welt ist.

1 Theoretische Vorüberlegungen 1.1 Zur Rahmenanalyse Narrative Medien besitzen die funktionale Eigenschaft, den Rezipienten nicht nur zum passiven Konsum, sondern zu einer aktiven kognitiven und kulturellen Tätigkeit der Imagination fiktiver Welten aufzufordern. Auch für die Rezeption filmischer Narrationen sind Sinnfindungsprozesse typisch, bei denen der Zuschauer semantische und zeitlich-kausale Beziehungen zwischen den einzelnen sequenziellen Ereignissen innerhalb der Filmwelt herstellen muss. Viele Verhttps://doi.org/10.1515/9783110626117-012

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knüpfungen zwischen den Erzählelementen werden wie bei der literarischen Rezeption vom Betrachter durch Inferenzen ergänzt, ohne dass sie explizit vom Datenmaterial bereitgestellt werden.1 Seine Konstruktionstätigkeit zielt darauf ab, eine kohärente Einheit zwischen den heterogenen Fragmenten der Inszenierung herzustellen – sie sind sein ‚Spielmaterial‘.2 Die These Wolfgang Isers, dass in der Literatur das Spiel zu einer Struktur werde, die das Ineinandergreifen von Fiktivem und Imaginärem reguliere,3 lässt sich ebenso auf filmische Narrationen übertragen. Dort ist jedoch der Grad der Imaginationslenkung durch die Fiktion höher, da das Medium dem Rezipienten viele audiovisuelle Dispositionen der erzählten Welt bereits vorgibt. Dennoch muss der Betrachter auch hier die Frage beantworten: „What is it that’s going on here?“4 Wenn die Konstruktionstätigkeit des Rezipienten auf die Erschaffung einer sinnvollen Einheit abzielt, dann erscheint die Übertragung von Erving Goffmans Prämissen der Rahmenanalyse, wie er sie in Frame Analysis (1974) formuliert hat, von der Soziologie auf die Komparatistik nicht abwegig. Seine wissenschaftlich fast in Vergessenheit geratenen Untersuchungen von face-to-faceInteraktionen können einen ersten Zugang zu Mitteln und Strategien der Bedeutungskonstitution in Erzählungen darstellen, der allerdings aus fiktionstheoretischer Perspektive verändert und erweitert werden muss. Goffman verweist z. B. darauf, dass es bei der Betrachtung eines Kampfes einen Unterschied macht, ob es sich um eine ernsthafte Konfrontation oder um ein nachgestelltes Schauspiel handelt. Im zweiten Fall entwickelt sich das ursprüngliche Ereignis (der Kampf) zu einem neuen Ereignis mit einer neuen Bedeutung (einem Spiel), ohne den Bezug zum ‚Original‘ einzubüßen. Die hier wirkenden Organisationsprinzipien, die einem Individuum helfen, Situationen im

|| 1 Vgl. Matías Martínez: „Erzählen“. In: Ders. (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart 2011, S. 1–12, hier S. 5. 2 Vgl. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore/London 2001, S.175–199. 3 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 15. Die Basis von Literatur ist laut Iser das Zusammenspiel der Trias von Realem, Fiktivem und Imaginärem. Das intentionale Fiktive vermittle dabei als Eigenschaft des Textes die umformulierte Wirklichkeit und mache sie dadurch dem Imaginären des Rezipienten zugänglich. Das Fiktive überführe das Imaginäre in eine konkrete Gestalt und sorge einerseits für ein Irrealwerden des Realen und andererseits für ein Realwerden des Imaginären. So werde die im literarischen Text fingierte Realität zum Bezeichnenden und das Imaginäre zu seiner Bedeutung, dem Bezeichneten. Siehe S. 20–23. 4 Erving Goffman: Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. Boston 1974, S. 46.

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Alltag korrekt einzuordnen und ihnen Sinn5 zu verleihen, belegt Goffman mit dem Begriff frames.6 In Bezug auf das eben beschriebene Beispiel bedeutet dies vereinfacht, dass unser Wissen über die schematypischen Merkmale eines Kampfes und eines Spiels die Wahrnehmung von sozialen Situationen beeinflusst, ähnlich einem Rahmen oder Filter. Selten ist lediglich ein einzelner frame aktiv. Ich werde Goffmans Begriff des belief system oder ‚Vorstellungswelt‘ verwenden, wenn ich Bündelungen von frames beschreibe, die zur Entschlüsselung einer Situation unter derselben Kategorie zusammengefasst werden können. Ein belief system ist ein Gefüge von Glaubenssätzen, Postulaten und Regeln. Diese wirken bei der Wahrnehmung meist unbewusst und repräsentieren sowohl die Denkweisen eines Individuums als auch diejenigen seiner Kultur. Goffman erläutert diesen Zusammenhang in Hinblick auf primäre Rahmen, welche Feststellungen darüber gestatten, ob ein Ereignis durch natürliche (physikalische) Ursachen oder die willensgeleitete Handlung einer Intelligenz zustande gekommen ist: Taken together, the primary frameworks of a particular social group constitute a central element of its culture, especially insofar as understandings emerge concerning principal classes of schemata, the relations of these to one another, and the sum of forces and agents that these interpretive designs acknowledge to be loose in the world. One must try to form an image of a group’s framework of frameworks – its belief system, its ‘cosmology’ […].7

Der Begriff belief system ist hier aus zwei Gründen von Interesse. Beim Eintauchen in eine narrative Welt projiziert der Rezipient die institutionalisierten und konventionalisierten Rahmenschemata seines believe system auf das Wahrgenommene und schafft sich so ein mentales Bild von den Gesetzmäßigkeiten, auf denen diese Welt basiert. Die Regeln des fiktiven Kosmos können also zum einen im Bewusstsein des Rezipienten verankert sein (etwa das Wissen über Genrekonventionen, Charakterbilder, Handlungsverläufe etc.), sie können aber zum anderen vom Medium selbst festgelegt werden und den Fiktivitätsgrad des Er-

|| 5 ‚Sinn‘ verstehe ich mit Paul Tiedemann als eine „Relation zwischen einem mit Weltbewußtsein begabten Subjekt und seiner Welt“. Paul Tiedemann: Über den Sinn des Lebens. Die perspektivische Lebensform. Darmstadt 1993, S. 5. 6 Goffman (Anm. 4), S. 10. Werner Wolf ergänzt in diesem Zusammenhang, dass Rahmen als Schlüssel zur Enkodierung von weiteren Interpretationsschemata als „Metakonzepte“ verstanden werden können. Werner Wolf: „Introduction. Frames, Framings and Framing Borders in Literature and Other Media“. In: Werner Wolf/Walter Bernhart (Hgg.): Framing Borders in Literature and other Media. Amsterdam/New York 2006, S. 1–40, hier S. 3. 7 Goffman (Anm. 4), S. 27.

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zählten bestimmen. Belief systems werden zum Beispiel über Informationsquellen wie Paratexte oder auch über Figuren etabliert. So fungieren Protagonisten als Träger und Repräsentanten bestimmter Vorstellungswelten, welche wiederum die Beschaffenheit der ganzen narrativen Welt bestimmen. Der Bedeutungszusammenhang solcher belief systems innerhalb des narrativen Universums wird während des Rezeptionsprozesses permanent erforscht.8 Weitere grundlegende Begriffe müssen als Basis für die folgende Filmanalyse erläutert werden: Unter key fasst Goffman „the set of conventions by which a given activity, one already meaningful in terms of some primary frameworks, is transformed into something patterned on this activity but seen by the participants to be something quite else“9. Anhand von Material aus den Bereichen Film, Fernsehen, Theater und Zeitung untersucht er den Prozess des keying, durch den Erfahrungseinheiten verändert werden, unterscheidet dabei jedoch nicht zwischen Fiktion und Alltagserfahrung. Nach Goffman findet die Bedeutungstransformation eines Ereignisses statt, wenn es nachgebildet, imitiert, fantasiert, beschrieben oder analysiert wird. In Bezug auf das erwähnte Beispiel bedeutet dies, dass das Spielen eines Kampfes ein key ist, da die Bedeutung der ursprünglichen Konfliktsituation durch andere Rahmeninformationen verändert wird. Keying hingegen bezeichnet den kognitiven Prozess, der im Bewusstsein des Rezipienten bei der Verarbeitung dieser Sinnvariation verläuft.10 Als selektive Repräsentationen von Wirklichkeit können Filme unter den Begriff der Module gefasst werden.11 Der Film nimmt ein Stück der Wirklichkeit und transformiert es zu einer eigenen Welt mit eigenen Regeln. Gleichsam ‚parasitär‘ verwendet er – wie alle fiktionalen Erzählungen – reale Quellen für die

|| 8 Der Terminus der primären Rahmung ist zwar aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht so präzise wie das im Folgenden vorgestellte, auf Fiktionen bezogene Konzept der doppelten Welt, führt jedoch auffällig direkt zum ‚Komplex des Erstaunlichen‘ („astonishing complex“) und dessen Relevanz für unser globales Weltverständnis: „An event occurs, or is made to occur, that leads observers to doubt their overall approach to events, for it seems to account for the occurrence, new kinds of natural forces will have to be allowed or new kinds of guiding capacities, the latter involving perhaps new kinds of active agents.“ Goffman (Anm. 4), S. 28. 9 Goffman (Anm. 4), S. 43. 10 Seit der Übersetzung von Hermann Vetter haben sich in der deutschen Forschung die Begriffe Modul und Modulation für key und keying etabliert. Siehe Erving Goffman: RahmenAnalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übers. v. Hermann Vetter. Frankfurt a. M. 1977, S. 52–97. 11 Betrachten wir Strategien der Bedeutungskonstitution im Film, muss uns also stets bewusst sein, dass es sich hier, wie bei allen fiktionalen Erzählungen, um Module in einem Modul handelt.

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Konstruktion seines Weltentwurfs.12 Diese Art der Welterzeugung ist ein Akt des make-believe. Darunter versteht Goffman „an activity that participants treat as an avowed, ostensible imitation or running through of less transformed activity, this being done with the knowledge that nothing practical will come of the doing“13. Innerhalb des medialen Rahmens geschehen die Ereignisse ‚wirklich‘. Sie sind nicht identisch mit Ereignissen der Realität, werden aber so behandelt, als wären sie es. Interessant ist nun, dass die wichtigste Art des ‚So-tun-als-ob‘ laut Goffman tatsächlich das Spiel ist. Die Definition einer Situation als Spiel setzt die gewöhnliche Bedeutung bestimmter Handlungen in der Realität außer Kraft, man weiß, dass ‚nur so getan wird‘. Im Spiel legen Konventionen fest, welche Gegenstände in der Fantasie denen in der Realität entsprechen, und so wird beispielsweise aus einem Stock ein Schwert. Ähnlich betrachtet Kendall L. Walton fiktive Welten in Literatur und Film als Gegenstand eines Spiels des makebelieve. Das ‚Als-ob‘-Spiel generiere jene Ansammlung fiktionaler Wahrheiten, aus denen sich eine erdichtete Welt zusammensetzt.14 Die Fähigkeit zur mentalen Simulation, die durch das Datenmaterial angeregt wird, versetze den Rezipienten in die Lage, die narrative Welt gleichzeitig von außen und innen zu betrachten.15 Paradoxerweise akzeptiert er im Spiel des make-believe den fiktiven Kosmos als seine derzeitige Welt, während er gleichzeitig weiß, dass es sich lediglich um Erdachtes handelt. Der make-believe-key ist nicht nur für fiktive Welten generell konstitutiv, sondern bestimmt auch maßgeblich die Fantastik, weil er hier zum Thema und zu einer dominanten Struktur gemacht wird. Um den Status des Moduls aufrecht zu erhalten, ist es zwingend erforderlich, dass der Rezipient nahezu vollkommen in die simulierte Welt eintaucht. Immersion, also die Akzeptanz der fingierten Welt als deiktisches Orientierungssystem,16 ist eine Bedingung für die kontinuierliche (Re-)Konstruktion narrativer Welten. Leser wenden hierzu kognitive Strategien an, die die modalen Parameter des Notwendigen, Möglichen und Unmöglichen neu konfigurieren. Die Fantastik jedoch arbeitet mit Fiktionsbrüchen und alternierenden (Un-)Möglichkeiten, sodass ein Wechselspiel entsteht zwischen stark immersiven Phasen und solchen, in denen dem Betrachter die ‚Gemachtheit‘ des Werkes mitsamt der eigenen Rezeptionssituation bewusst || 12 Vgl. Umberto Eco: „Small Worlds“. In: Versus. Quaderni di Studi Semiotica 52 (1989), S. 53– 70, hier S. 63. 13 Goffman (Anm. 4), S. 48. 14 Siehe Kendall L. Walton: „How Remote are Fictional Worlds from the Real World?“. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 37/1 (1978), S. 11–23, hier S.15 f. 15 Siehe Walton (Anm. 14), S. 21. 16 Vgl. Ryan (Anm. 2), S. 96.

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gemacht wird. Der fantastische Film macht den Betrachter glauben, er wüsste, was vor sich geht, nur um dann mit der Installation eines neuen frame diese Sicherheit aufzulösen. Eine Konvention des filmischen make-believe ist das Tonund vor allem das Bildvertrauen, welches das Subjekt dem Werk entgegenbringt, d. h. es vertraut darauf, dass es sich bei dem Dargestellten um fiktive Wahrheiten handelt. Durch ein permanentes Spiel mit Rahmungen bricht die filmische Fantastik mit dieser Konvention. Auf diese Weise wird das makebelieve als ein solches bloßgestellt. Die Fantastik kreist um diese Entblößung der Fiktion.17

1.2 Zur Fantastik Bis heute existiert kein Konsens darüber, was unter fantastischer Literatur zu verstehen ist.18 Einige Wissenschaftler bestreiten die Existenz des Genres, verstehen es als „ästhetische Kategorie“19, als Struktur20 oder kommen zu dem Schluss, das Fantastische sei „nicht definierbar, allenfalls beschreibbar“21. Die zahlreichen Definitionsversuche teilt Uwe Durst in zwei Gruppen: Die „maximalistische Genredefinition“22, welche das Feld der theoretischen Auseinandersetzung beherrsche, schließt alle erzählenden Texte ein, in deren fiktiver Welt gegen Naturgesetze der Wirklichkeit verstoßen wird.23 Dem vorliegenden Beitrag

|| 17 Zum Begriff der Entblößung von Fiktion im ‚Als-Ob‘ siehe Iser (Anm. 3), S. 48. Uwe Durst sieht die fantastische Literatur als eine Bloßlegung der immanenten Wunderbarkeit des Erzählvorgangs an sich. Vgl. Uwe Durst: Theorie der Phantastischen Literatur. Tübingen/Basel 2001, S. 330. 18 „Bei kaum einer anderen literarischen Gattung ist die Lage – für Experten und Laien gleichermaßen – so unübersichtlich und unbefriedigend wie im Bereich der Phantastik.“ Heinrich Kaulen: „Wunder und Wirklichkeit. Zur Definition, Funktionsvielfalt und Gattungsgeschichte der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur“. In: JuLit 30 (2004), S. 12–20, hier S. 12. 19 Hans Holländer: „Das Bild in der Theorie des Phantastischen“. In: Christian W. Thomson/ Jens Malte Fischer (Hgg.): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt 1980, S. 52–78, hier S. 77. 20 Vgl. Monika Schmitz-Emans: „Phantastische Literatur: Ein denkwürdiger Problemfall“. In: Neohelicon 22/2 (1995), S.53–116, hier S. 93. 21 Jörg Krichbaum: „Einige Gedanken zur Phantastik“. In: Franz Rottensteiner (Hg.): Quarber Merkur: Aufsätze zur Science Fiction und Phantastischen Literatur 34 (1979), S. 177–182, hier S. 179. 22 Uwe Durst (Anm. 17), S.27. 23 Hierauf stützt sich auch die unnatural narratology, wenn sie das ‚Unnatürliche‘ versteht als „physically impossible scenarios and events, that is, impossible by the known laws governing the physical world, as well as logically impossible ones, that is, impossible by accepted princi-

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liegt die „minimalistische Genredefinition“24 zugrunde, welche von einer Forschungsminderheit vertreten wird, für die Tzvetan Todorov, der das Unschlüssigkeitskriterium zum zentralen Aspekt dieses „genre toujours évanescent“25 erhebt, als wegweisend gilt.26 Während Todorov die Unschlüssigkeit des Lesers bezüglich der binnenfiktionalen Tatsächlichkeit des Übernatürlichen am Ende der Erzählung in die eine oder andere Richtung aufgelöst sehen möchte, plädieren andere Theoretiker wie Jacques Finné für eine Fantastik, welche sie unaufgelöst bestehen lässt.27 Durst erweitert die Theorie von Todorov: Er differenziert zwischen einer fiktionsexternen Wirklichkeit (die Welt des Lesers) und einer fiktionsinternen Realität. Um eine Abgrenzung zum außerliterarischen Terminus der ‚Wirklichkeit‘ zu schaffen und die Eigengesetzlichkeit literarischer Realitätsgebote zu akzentuieren, bringt er den Begriff des „Realitätssystems“28 in die Diskussion ein. Dieser bezieht sich auf die Organisation von Gesetzen, die innerhalb der fiktiven Welt bestehen. Dursts Modell beruht auf der „konventionsbedingten Antipolie zwischen einer Normrealität (reguläres System R) und einer Abweichungsrealität (wunderbares System W). Es bezeichnet das Spektrum narrativer Realitätssysteme [H. i. O.] und formuliert eine Deviationspoetik der erzählten Welt“29. Das reguläre System (R-System) will den Anschein erwecken, mit der außerliterarischen Wirklichkeit identisch zu sein. Auch R-Systeme sind wunderbar, doch sie verschleiern ihre Wunderbarkeit. Alle innerliterarischen Realitätssysteme weisen Komponenten auf, die mit dem Außerliterarischen nicht übereinstimmen. Das reguläre System bezeichnet also kein ‚realistisches‘ System, sondern meint, dass eine spezifische Textwelt mit der ihr eigenen Realität etabliert wird. Nur vor dem Hintergrund der R-Systeme können W-Systeme als wunderbar klassifiziert werden, weil sie von jener Normrealität abweichen. Für das Fantastische deklariert Durst, es befinde sich zwischen den Bereichen R und W:

|| ples of logic“. Jan Alber: „Impossible Storyworlds – And What to Do with Them“. In: Storyworlds: A Journal of Narrative Study 1/1 (2009), S. 76–96, hier S. 80. 24 Durst (Anm. 17), S. 36. 25 Tzvetan Todorov: Introduction a la littérature fantastique. Paris 1970, S. 47. 26 „L’hésitation du lecteur [H. i. O.] est donc la première condition du fantastique.“ Todorov (Anm. 25), S. 36. 27 Siehe Jacques Finné: La littérature fantastique. Essai sur l’organisation surnaturelle. Brüssel 1980, S. 81. 28 Durst (Anm. 17), S. 80. 29 Durst (Anm. 17), S. 89.

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[Es] basiert auf einem Verfremdungsverfahren, das ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätssystem infrage stellt. […] Hier besteht eine Unschlüssigkeit, eine Ambivalenz, in der sich die Gesetze zweier Realitätssysteme überlagern, gegenseitig bekämpfen und ausschließen.30

Zur terminologischen Präzisierung bietet Durst an, das Fantastische als „Nichtsystem“31 (N-System) zu behandeln, welches sich aus der gegenseitigen Negation der Erklärungsangebote der Systeme R und W ergebe. Im N-System entwirft das Gelesene, das Gesehene oder das Gehörte eine erzählte Welt, die gleichzeitig sowohl ins Reguläre als auch ins Wunderbare tendiert und keine Hilfe anbietet, um eine abschließende Einordnung in die eine oder andere Richtung zu fällen. Hier offenbart sich ein interessanter Gegensatz zwischen ‚Spielwelt‘ und fantastischer Welt: Beim institutionalisierten Spiel soll durch Immersion vollkommen vergessen werden, dass es sich um ein make-believe handelt. Werden Regeln missachtet, zeigt sich die Fragilität der Spielwelt, sie kollabiert. Erst dann kann die Regelhaftigkeit der Simulation reflektiert werden. Die Fantastik jedoch präsentiert ihre dargestellte Welt (phasenweise) im Modus des „Als-Ob“32 und blockiert dadurch eine vollkommene Immersion. Auch die Realitätssysteme der Fantastik folgen Regeln bzw. Konventionen. Sie sind die Orientierungspunkte des Rezipienten. Diese Regeln betreffen nicht nur zeitliche und räumliche Dimensionen, sondern in erster Linie die Determiniertheit der Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen. Bei der Konstruktion eines Nichtsystems wird eine metareflexive Phase eingeleitet, die den Rezipienten durch den evozierten Zweifel dazu bringt, sowohl die Ordnungsmuster der Narration als auch seine eigenen Interpretationsschemata zu überprüfen. Der Reiz der fantastischen Erzählung im minimalistischen Sinne liegt in der Oszillation zwischen Regelkonformität und Regelbruch.33 Beide ‚Als-Ob‘-Welten (die des Spiels und die der Fantastik) ermöglichen vergleichbare Prozesse, sobald sie als make-believe bewusst werden: Durch den Umgang mit Paradoxien wird eine Differenzierung ermöglicht zwischen den Eigenschaften des Objektes – den Inhalten des Wahrgenommenen – und den

|| 30 Durst (Anm. 17), S. 101. 31 Durst (Anm. 17), S. 89, siehe auch S. 101–107. 32 Siehe Iser (Anm. 3), S. 37: „Im Kenntlichmachen des Fingierens wird alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob.“ 33 Diese Regeldekodierung verwendet Iser zur Untermauerung seiner Text-Spiel-Analogie. Demnach erhöhe sich das ästhetische Vergnügen, „wo der Text seine Spielregeln verborgen hält, sodass deren Entdeckung selbst zum Spiel zu werden vermag“. Iser (Anm. 3), S. 476.

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Funktionseigenschaften der frames auf der Metaebene, also auf welche Weise wahrgenommen wird.34 Die Unsicherheit, die der Rezipient erfährt, wenn er die narrativen Systeme nicht mehr exakt zuordnen kann, wird maßgeblich über einen spielerischen Umgang mit frames hervorgerufen. Dies destabilisiert die Regeln der fiktiven Welt. Damit tritt der fantastische Film aus der Domäne des regelgeleiteten Spiels heraus und begibt sich in ein ‚freies Spiel‘, das Bedeutungen offen lässt.35 Hier regieren Paradoxie, Absurdität, Täuschung, Grenzüberschreitung, Identitätswechsel, Wahrnehmungsstörung, Bedeutungsverunsicherung und Orientierungsverlust. Immer wird der Aspekt der Illusion als ästhetisches Phänomen miteinbezogen. Wie zu zeigen sein wird, können sich daraus resultierende Ambiguitäten sowohl auf die Motivationen der handelnden Figuren beziehen als auch auf die motivationalen Verknüpfungen der Geschehnisse.

1.3 Zur Motivation Eine Strategie, sich der Beantwortung der Frage ‚Was geht hier vor?‘ anzunähern, ist die Identifizierung von motivationalen Zusammenhängen, welche den Ereignissen der Narration zugrunde liegen. Bereits Goffman sieht die Ermittlung von Motivationsrelevanzen als ein wichtiges Anliegen des Betrachters einer sozialen Situation.36 Während er diese jedoch in erster Linie auf die Beweggründe personaler Handlungen bezieht, versteht Matías Martínez Motivation als den Zusammenhang zwischen Ereignissen innerhalb einer narrativen Welt, der das erzählte Geschehen erst zu einer Geschichte werden lässt.37 Martínez untersucht einen speziellen Erzähltyp, für den eine narrative Struktur konstitutiv ist, die das Geschehen paradoxerweise gleichzeitig kausal und final motiviert erscheinen lässt. Zunächst unterstützt der Text die anfängliche Erwartung des Rezipienten, welche von einem empirischen, sprich kausalen Ursache-Wirkungs-Ver-

|| 34 Gunter Gebauer und Christoph Wulf postulieren als Konstitutionsprinzip des Spiels, dass die Spielwelt „die durch Spielrahmen bewirkte Differenzierung zwischen Meta- und Objektaussage sowie das Umgehen mit den Paradoxien innerhalb des Rahmens“ lehre. Gunter Gebauer/ Christoph Wulf: Spiel, Ritual, Geste: Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 195. 35 Zum Begriff des freeplay vgl. Wolfgang Iser: „The Play of the Text“. In: Ders.: Prospecting: From Reader Response to Literary Anthropology. Baltimore 1989, S. 249–261, hier S. 252. 36 „Motive and intent are involved, and their imputation helps select which of the various social frameworks of understanding is to be applied.“ Goffman (Anm. 4), S. 22,; vgl. auch S. 38. 37 Siehe Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 22.

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hältnis der aufeinanderfolgenden Geschehnisse ausgeht.38 Im Verlauf der Erzählung wird allerdings suggeriert, das Geschehen könne auch final motiviert sein, d. h. von einer übergeordneten Macht gelenkt werden. Im ersten Fall wird eine Welt vermittelt, in denen die Kategorien Zufall und Glück relevant sind. Im zweiten Fall gewinnen Schicksal und Bestimmung an Bedeutung. Die Figuren sind dann keine Manipulatoren der fiktiven Welt, sondern Instrumente eines höhergestellten Willens. Wichtig ist, dass der „ungewisse Status dieser Suggestion“39 nicht durch eine eindeutig kausale oder finale Erklärung beseitigt wird. Da narrative Welten stets lückenhaft sind, „können literarische Texte aufgrund dieses unbestimmten Status der Geschehensmotivation eine systematische Zweideutigkeit der Ereignisverknüpfung erzeugen, indem die Konkretisation der Unbestimmtheitsstellen durch widersprüchliche Signale gesteuert wird“40 – evoziert wird somit eine doppelt motivierte Welt. Das Verhältnis zwischen den Begriffen doppelte Welt und ‚Fantastik‘ nach Todorov erläutert Martínez wie folgt: [Ersterer] ist enger, weil er mit der paradoxen Koexistenz von kausaler und finaler Motivation nur einen speziellen Fall übernatürlichen Geschehens darstellt; in ihm scheinen nämlich nicht nur nicht empirische Kausalitäten wirksam zu sein, sondern es wird zudem eine zukunftsgewisse Vorbestimmtheit des Geschehens suggeriert. Andererseits ist der Erzähltyp der doppelten Welt weiter als der Bereich der phantastischen Literatur, weil die finale Motivation der doppelten Welt nicht notwendig als übernatürlich markiert sein muß.41

Während Todorovs Verständnis der Fantastik nur unter Berücksichtigung der oben genannten Differenzen mit dem Terminus der doppelten Welt in Verbindung gebracht werden kann, erlaubt Dursts Modell der Realitätssysteme einen engeren Anschluss. So wird zu zeigen sein, dass in Revolver die Annahme einer kausalen Motivation mit der Konstruktion der Normrealität (R-System) einhergeht. Die Suggestion einer finalen Motivation hingegen wird mit dem Aufbau eines wunderbaren Systems (W-System) verknüpft, das eine Abweichungsrealität entwirft. Der Erzähltyp der doppelten Welt ist demnach eine Möglichkeit, ein Nichtsystem (N-System) zu konstruieren, also eine erzählte Welt, in der beide Erklärungsangebote – die des regulären und die des wunderbaren Systems – koexistieren. Die erzählerischen Verfahren, die dieses N-System generieren, || 38 Siehe Martínez (Anm. 37), S. 34. 39 Martínez (Anm. 37), S. 32. 40 Martínez (Anm. 37), S. 25. Den Begriff der Unbestimmtheitsstelle verwendet Martínez in Auseinandersetzung mit Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes. Tübingen 1968. 41 Martínez (Anm. 37), S. 36 (H. i. O.).

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operieren mit wechselnden Rahmeninformationen und Modulen, deren Sinnzuschreibungen sich stets ändern können. Das keying wird dadurch in seiner Eigenschaft als höchst dynamischer Prozess hervorgehoben. Der Rezipient wird im fantastischen Film in ein Spiel konzentrischer Sinnfindungsprozesse hineingezogen, bei dem er rätselt, ob das erzählte Sonderbare fiktionsintern tatsächlich existiert und in logische Zusammenhänge gebracht werden kann. Teil dieses Spiels ist die Identifikation von motivationalen Beziehungen. Goffmans Idee der Relevanz von primären Rahmen scheint sich prinzipiell auch in Martínez’ Konzept der Motivierung narrativer Geschehnisse zu zeigen: Ob wir ein Ereignis auf das steuernde Eingreifen einer übergeordneten Daseinsform zurückführen oder nicht, verändert den Verständnishintergrund für eine fiktive Welt fundamental.

2 Rahmenanalyse von Guy Ritchies Revolver In Hinblick auf seine vorherigen Filme erwartete man von Guy Ritchies Revolver eine smarte Gangster- und Kleinganoven-Komödie. Doch im Verlauf des Films wird immer deutlicher, dass dieser sowohl mit den Erwartungen des Zuschauers als auch mit Genrekonventionen spielt. Die kontextzentrierte Rahmung des Rezipienten kann keine sinnvolle Anwendung mehr finden. Ritchies filmische Anleihen gehen von einer Hommage an Quentin Tarantino in ein Experiment à la David Lynch über – es will sich zunehmend kein globaler Sinn einstellen. Auf vier Ebenen geht es in dem genretechnisch schwer einzuordnenden Film um das Spiel: Das Spiel selbst, das Spiel, das man zu beherrschen glaubt, während andere es lenken, das Spiel, das man mit anderen treibt, während andere glauben sie würden es beherrschen, und das Spiel, das man mit sich selbst spielt.

2.1 Kausale Motivation und Normrealität in Revolver Der Pokerspieler und Kleinbetrüger Jake Green (Jason Stratham) verlässt zu Beginn des Films das Gefängnis, wo er sieben Jahre in Einzelhaft verbracht hat. Seine über voice-over eingespielte Erzählstimme begleitet das Bildgeschehen und verleiht diesem einen pseudo-dokumentarischen Effekt. Das meist mit dem Dokumentarfilm assoziierte kinematische Verfahren wird hier zur Steigerung der Glaubwürdigkeit des Erzählers eingesetzt. Gleichzeitig ist seine Verwendung auch im Neo-Noir üblich, wodurch bereits am Anfang des Films eine radikale Subjektivierung der Erzählung angedeutet wird. Zunächst erfahren wir nur,

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dass Jake einen Feind hat – Mr. Dorothy Macha (Ray Liotta), ein Casinobesitzer und mächtiger Gangsterboss, dem er durch Demütigung und Geldverlust möglichst großen Schaden zufügen möchte. Erst im Verlauf des vordergründig ablaufenden plots wird die story phasenweise über kommentierte Rückblenden vermittelt, nämlich warum und wie Jake diese Aufgabe bewältigen will. Die Rückblendenerzählung, in welcher der Erzähler der Rahmenhandlung zugleich auch der Protagonist der Binnenerzählung ist, stellt ein keying her. In den vordergründig präsentierten plot werden temporale Klammern gesetzt, die das Modul begrenzen. Ohne die darin vermittelten Informationen wäre die story nicht vollständig und nachvollziehbar, sie werfen einen interpretatorisch bedeutungsvollen Schatten auf die Gegenwart, indem sie die Motivation des Helden aufdecken. Gleichzeitig befähigen Jakes Berichte den Rezipienten zu einer besseren Einschätzung seines Charakters und somit auch zu konkreten Hypothesen über seine zukünftigen Handlungen. Die Bedeutungszuschreibung über die Rahmenstrategie der Rückblendenerzählung ist fest mit der Sphäre des Zeitlichen verbunden. Sie ermöglicht dem Zuschauer das Eintauchen in ein Geschehen, das zwar außerhalb des Rahmens der ‚aktuellen‘ Handlung liegt, diese aber maßgeblich beeinflusst. Zentral ist hier die Funktionalisierung der Rückblende für die Erzählkonvention der backstorywound, eine Verletzung, welche dem Protagonisten in der Vergangenheit widerfahren ist, eine Begebenheit, über die er psychisch nicht hinwegkommt und die den inneren Antrieb seiner gegenwärtigen Handlungen ausmacht.42 Sieben Jahre zuvor nahm Jake als Ersatzspieler für Mr. Macha an einem Pokerspiel teil, in dessen Verlauf er einem ihn provozierenden Mitspieler eine Schussverletzung zufügte. Der Justiz verschwieg er, dass das Spiel von Macha organisiert worden war. Macha hingegen vertraute nicht auf Jakes Loyalität und schickte seine Häscher zu der Familie von dessen Bruder, um Jake unter Druck zu setzen. Ein versehentlicher Schuss im Handgemenge tötete Jakes Schwägerin. Dieses vergangene Ereignis begründet seinen gegenwärtigen Rachefeldzug nach dem Gefängnisaufenthalt, für den er ebenfalls Macha verantwortlich macht, und suggeriert eine kausale Motivierung der Geschehnisse. Die Analepse wird als Rahmenstrategie eingesetzt, um den Eindruck zu erwecken, die aktuellen Ereignisse der Erzählung seien logisch-kausale Folgen der vorhergehenden. Dies wird über das Rache-Motiv eng verknüpft mit einer psychologischen Motivation der Hauptfigur.

|| 42 Zur backstorywound siehe Michaela Krützen: Dramaturgie des Filmes. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a. M. 2006, S. 25–62.

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Warum Jake denkt, es mit einem so mächtigen Feind aufnehmen zu können, erfahren wir ebenfalls über Rückblenden. Während seiner Zeit im Gefängnis lernte er von mysteriösen Zellennachbarn (einem Schachmeister und einem Trickbetrüger) die Formel für den ultimativen Betrug, das ultimative Spiel kennen. Er selbst hat seine Lehrer nie zu Gesicht bekommen, die Kamera zeigt uns dennoch seine mentalen Projektionen von ihnen, wenn auch nur verschwommen. Die wichtigsten Regeln des Spiels sind folgende: 1. Rule one of any game and con: You can only get smarter by playing against a smarter opponent. (00:48:21–00:48:25)43 2. Rule number two: The more sophisticated the game, the more sophisticated the opponent. (00:48:26–00:48:31) Dank des Wissens um die Formel wird Jake nach seiner Entlassung ein extrem erfolgreicher Spieler, der seinem Gegner Macha mit Leichtigkeit schadet, indem er ihm bei einem Kartenspiel eine große Summe Geld abknöpft, und schon bald Schutz vor dessen Gang bedarf, die den Auftrag hat, das ‚Störelement‘ aus der Welt zu schaffen. Im Folgenden entwickelt sich zunehmend das Konzept eines strategischen Spiels, an dem diverse Parteien teilnehmen. Die narrative Welt wird explizit als Spielwelt ausgewiesen. Dem Spielprinzip des Wettbewerbes folgend, versuchen die Figuren sich einen Vorteil zu verschaffen, anderen zu schaden und ihre Investitionen zu schützen. Der Film unterstützt zunächst die Annahme, dass sich der ausbrechende Mafiakrieg in den Grenzen der für eine Action- und Gangsterkomödie typischen Konventionen bewegt. Paratextuelle Hinweise – etwa eingeblendete Kapitelüberschriften aus den Fundamentals of Chess –, zahlreiche Szenen, in denen Schach gespielt wird, sowie die komplizierte Handlungsstruktur lassen im Verlauf jedoch erahnen, dass der Film in seinem stetigen Wechsel von Aktion und Reaktion das Schachspiel simuliert. Die wichtigsten Figuren fungieren hierbei als Träger und Repräsentanten von bestimmten Vorstellungswelten, welche wiederum die Beschaffenheit der narrativen Welt bestimmen. Verdeutlicht wird dies durch repetierte Sentenzen, die fest mit dem jeweiligen Charakter verknüpft sind. Jakes belief system basiert auf der Trennung von Sieger und Verlierer. Er betont stets, wie wichtig es sei, seine Position innerhalb des Spiels zu kennen und gegebenenfalls zum eigenen Vorteil zu verändern: „In every game and con there’s always an opponent, and there’s always a victim. The trick is to know when you’re the latter, so you can become the former“ (00:01:30–00:01:39). Die universale, treibende Kraft der Spielwelt ist für ihn Anerkennung: „Fear or revere me, but please think I’m spe|| 43 Revolver. Reg. Guy Ritchie (2005). Ascot Elite Home Entertainment.

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cial. We share an addiction. We’re approval junkies“ (00:57:08–00:57:18). Sein Gegenspieler Macha erhebt die Selbstbereicherung zur Leitidee: „[T]here’s only one rule in this world, a small question that drives all success. […] What’s in it for me?“ (00:05:31–00:05:53). Diese Aussagen transportieren auf der einen Seite die Charakterbilder der Protagonisten. Andererseits fungieren sie als Spielregeln, welche den Eindruck einer Ganzheitlichkeit der narrativen Welt vermitteln, da sie die in ihr wirksamen Handlungs- und Ereigniswahrscheinlichkeiten abstecken. Es gibt allerdings auch Sentenzen, die nur den Handlungsspielraum und die Disposition einzelner Figuren betreffen. Ein Beispiel hierfür ist der Satz „Sorter never […] misses“ (00:13:23–00:13:24), welcher sich auf die Trefferquote des unter Machas Befehl stehenden Scharfschützen Sorter (Mark Strong) bezieht. Die Vorstellungswelten der teilnehmenden Parteien suggerieren, dass der Erfolg in diesem Spiel von Wissen und einer speziellen Überlebenstaktik abhängt. Vor allem Jake glaubt, durch die Anwendung seiner Formel und die eigene Cleverness die Geschicke des Spiels autonom bestimmen zu können, und somit an eine kausale Motivierung der Ereignisse. Lange Zeit denkt Jake – und sein Erfolg in mehreren Spielszenen bestätigt dies –, seine Art zu spielen sei anderen überlegen und es gäbe keinen smarteren Gegner, obwohl bereits seine pauschale Spielformel die Universalität des Geltungsbereichs dieser Regeln in der gesamten fiktiven Welt deutlich macht. Das einzige, was aus dieser Perspektive dem Erreichen seines Zieles entgegenstehen könnte, ist der Zufall. Dies ist die Normrealität von Revolver. Sie entspricht der Annahme einer kausalen Motivation der Geschehnisse. Auf der story-Ebene wird die kausale Motivation durch die Rahmenstrategien der Rückblendenerzählung und der backstorywound suggeriert. Außerdem verknüpfen die als Maximen dargestellten belief systems eine kausale Motivation der Geschehnisse mit psychologischen Motivationsrelevanzen und untermauern auf unterschiedliche Weise die Annahme, dass in der fiktiven Welt empirisch-kausale Ursache-Wirkungs-Relationen herrschen. Jedoch zeigt sich bald, dass der Film spielerisch mit diesen Rahmenstrategien umgeht. Mehrmals berichtet Jake über Erlebnisse seiner Vergangenheit, die sein derzeitiges Verhalten legitimieren sollen. Dabei fällt auf, dass sich bei wiederholten Rückblenden die Darstellung derselben Ereignisse verändert, etwa durch das Hinzufügen von Informationen. Auf die bereits vorhandenen keys (die Rückblenden) werden neue Informationen aufgepfropft, was zu einer Neubewertung der Situation (keying) führt. Hierdurch wird klar, dass bei den zuerst gezeigten Rückblenden ein undertelling vorlag und Jakes Berichte höchst subjektive Informationsquellen sind. Dies sind erste Anzeichen für einen unzuverlässigen Erzähler, der etwas vorenthält, weil er Angst hat, schlecht dazustehen

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oder durch preisgegebene Einblicke angreifbar zu sein. Die dargestellten belief systems werden an dieser Stelle jedoch noch nicht destabilisiert, denn auf psychologischer Ebene ergibt sich Jakes Erzählverhalten logisch aus seiner Sucht nach Anerkennung und bewegt sich somit im Rahmen der Spielregeln.

2.2 Das Nichtsystem in Revolver Kurz nachdem Machas erster Schachzug Jakes Gefolge aus dem Weg geräumt hat und dieser somit alleine dasteht, kommen zwei mysteriöse Kredithaie, Zach (Vincent Pastore) und Avi (André Benjamin) ins Spiel, die Jake unterbreiten, er habe durch eine seltene Krankheit nur noch drei Tage zu leben, ihm jedoch gleichzeitig anbieten, für erhebliche finanzielle Gegenleistungen vor seinem Ableben noch alles ‚richtig zu stellen‘ und ihn vor den Killern Machas zu schützen. Jake zweifelt an dieser plötzlichen Hilfsbereitschaft und vermutet eine Verschwörung, lässt sich aber auf ein Treffen mit ihnen in einer Spielbar ein, bei dem Avi und Zach die Konditionen des Schutzvertrages erläutern. In dieser Szene operiert der Film besonders deutlich mit Unbestimmtheitsstellen. Das voice-over lässt den Zuschauer an den Gedanken Jakes teilhaben: Er vermutet ein Komplott, einen Trick, der ihn finanziell ruinieren soll („This is a con.“, 00:16:04–00:16:05). Sonderbar ist nun, dass Avi und Zach seine nicht geäußerten Gedanken sofort in ihrer Rede aufgreifen, und zwar fast wörtlich: „It is only natural that you think that you’re somehow being conned, but think a little harder and you will realize that this is not a trick“ (00:16:05–00:16:13). Der bisher im R-System herrschende implizite frame, dass die stillen Gedanken einer Figur nur ihr selbst zugänglich sind, wird durch diese Szene infrage gestellt. Um diese Abweichung von der Normrealität zu erklären, gibt es nun mindestens zwei Interpretationsvarianten. Eine rationale wäre die Annahme, dass Jakes Dialogpartner diese Art von Gespräch schon sehr oft geführt haben und daher über so viel Erfahrung mit der Denkweise ihrer Gegenüber verfügen, dass sie diese nun bei Jake vorhersagen können. Dies würde der Annahme eines kausalen Motivationszusammenhanges entsprechen: Da die beiden Kredithaie besonders gut in ihrem Geschäft sind, besitzen sie auch Kenntnisse über die Vorstellungswelten ihrer Mitspieler. In diesem Fall wäre das erzählte Geschehen weiterhin in einem R-System verortet. Eine andere Interpretation akzeptiert das Wunderbare, indem sie den beiden Figuren etwa die Fähigkeit zuschreibt, Gedanken lesen oder die Zukunft vorhersagen zu können. Erste Zeichen der Einschränkung von Jakes Vermögen, die Situation zu kontrollieren, können in Anbetracht dieser Erklärung als Indizien für eine finale Motivierung gedeutet werden. Der Film gibt an dieser Stelle keinen Hinweis zugunsten einer dieser

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Auslegungen. So wird der Zuschauer mit einem Nichtsystem konfrontiert. Dass Jake sich trotz seiner Zweifel auf die Vereinbarung einlässt (er könnte sich auch verstecken oder mit seinem großen Vermögen andere Söldner anheuern), zementiert den Unschlüssigkeitszustand zusätzlich auf der Ebene der Figurenmotivation. Durch den Zweifel wird der Zuschauer aufgefordert, sich seiner persönlichen Deutungsmuster bewusst zu werden, da er zu einer eigenen Sinnkonstruktion gedrängt wird, die die Narration selbst nicht eindeutig vorgibt. Die Identität von Jakes ambivalenten Helfern, ihre wahre Position im Spiel, wird im Verlauf des Films weiterhin verschleiert und mit Widersprüchen verbunden. Sie fügen Jake Leid zu, indem sie die Kredite ihrer Schuldner aus seiner Tasche finanzieren, unterstützen ihn aber auch in seinem Vorgehen gegen Macha. Ob sie überhaupt Kredithaie sind, wird in Anbetracht der Auswahl ihrer Schuldner (z. B. eine bettelarme Seniorin) zweifelhaft. Auch Jake fragt sich, warum Zach und Avi gerade ihm helfen. Sie sind die Einzigen, die scheinbar Zugang zu den Wissenssystemen aller Figuren haben und von der Machthierarchie der narrativen Welt unbeeinflusst und unbeeindruckt agieren. So wirken sie wie nahezu omnipotente Spieler, die die Regeln des Spiels beherrschen, deren Geltung aber ebenso jederzeit aushebeln können. Der Vorstellung, in der erzählten Welt würden feste, widerspruchsfreie Gesetze herrschen, wird die Idee der Manipulierbarkeit von Regeln entgegengesetzt. Auf diese Weise werden die ursprünglichen Rahmeninformationen über Figurendispositionen destabilisiert. Auf diesem Weg wird die zentrale Frage aufgeworfen: Wer ist überhaupt den Regeln des ultimativen Spiels in welchem Grade unterworfen?

2.3 Finale Motivation in Revolver Ein bekanntes narratives Verfahren, das als Rahmenstrategie behandelt werden kann, ist der plot twist. Die Erzählung wartet mit einer überraschenden Wendung auf, welche die Entwicklung der Geschichte in eine neue Richtung lenkt – ein Täuschungsmanöver, das der Rezipient (im optimalen Fall) nicht erwarten konnte. Einige solcher Wendungen werden durch Hinweise im Verlauf von Revolver vorbereitet, andere sind unvorhersehbar und wirken wie ein kognitiver Schock, der den Rezipienten zwingt, sein Wissen in Hinblick auf Spielregeln des Films zu reorganisieren; es findet ein keying statt. Für den Film ergibt sich daraus ein Mehrwert, der aus der Eröffnung einer neuen Perspektive auf die erzählte Welt besteht. Gleichzeitig wird der plot twist zu einem zentralen Element des Rahmungsspiels, denn durch ihn wird die Eignung der bisher dargestellten believe systems als Mittel der korrekten Einschätzung von innerfiktiven Sachlagen hinterfragt.

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Besonders gut illustriert dies – in Hinblick auf das Spiel – die Beziehung zwischen Avi und Jake. Es werden immer wieder Sequenzen gezeigt, in denen die beiden gegeneinander Schach spielen. Jake gewinnt unter Verwendung seiner ultimativen Formel jede Partie. Im Verlauf einer dieser Partien erklärt er Avi, es sei wichtig, seinen Gegner in Sicherheit zu wiegen, ihm partiell etwas davon zu geben, was er haben will, während man dessen Spielzüge für sich ausnutzt. Der aufmerksame Zuschauer ahnt bereits, dass Jake mit seinem Hochmut einer Illusion erliegt. Der vorläufige plot twist in der finalen Schlüsselszene des Films ist Jakes Einsicht, dass es sich bei Avi eigentlich um seinen ehemaligen Gefängnisnachbarn (den Schachmeister) handelt, der ihn bis dato stets absichtlich gewinnen ließ. Dies verändert rückwirkend den Sinn der vorangegangenen Szenen. In Jakes Welt ist er selbst derjenige, der die anderen manipuliert und so zu seinen Objekten macht. Diese Subjekt-Objekt-Relation wird durch den plot twist systematisch vertauscht. Obwohl die globalen Regeln des Spiels am Anfang des Films erläutert wurden, überrascht es den Zuschauer, dass sich hier die Dynamik wendet und damit die vormalige Vorhersagbarkeit der Handlungen relativiert wird. Der nun eingesetzte Rahmen gestaltet nicht nur die Sicht auf das Vergangene neu, sondern erlaubt einen anderen Blick auf das Zukünftige. Dass zuvor vereinzelte Hinweise auf die heimliche Kontrolle von Zach und Avi eingestreut wurden, wird durch eine Bilderschau verdeutlicht, die Details aus dem bisherigen Film in Erinnerung ruft. Nur der aufmerksame Zuschauer wird diese Indizien, wie die unscharfe Aufnahme der Zellennachbarn, bemerkt haben. Er fühlt sich als Gewinner, denn seine These über die wahre Identität der zwei Helfer erweist sich als zutreffend. Die Erzählung lässt allerdings nur kurzzeitig zu, dass sich sein Interpretationsmodell in diesem sicheren Zustand der zutreffenden Vorhersagbarkeit befindet. So hat sie dem Zuschauer – der Vergleich mit Jakes Ausführungen liegt hier auf der Hand – ein wenig von dem gegeben, was er haben will. Doch nur, um eine weitere Wendung kurzzeitig zu kaschieren und durch diese Maskerade ihren schockierenden Effekt zu intensivieren. Unüblich rasch schließt sich ein weiterer twist an. Avi offenbart Jake: „We are you“ (01:43:05–01:43:06). Eine Deutung dieser Aussage wäre nun, dass Zach und Avi ein Teil von Jakes Bewusstsein sind. Auf dieser Basis würden all ihre Szenen rückwirkend zu einer Projektion von Jakes Innenperspektive werden. Das Werk würde sich dann in die filmische Tradition des Neo-Noir einreihen, in der Identitätskrisen, Subjektivität und Schizophrenie häufig behandelte Themen sind. Doch nicht alle Teile des Puzzles – die rätselhaften Verhaltensweisen der Protagonisten – lassen sich nach dem final plot twist in einen einheitlichen Zusammenhang eingliedern. „We are you“ gewinnt unter Berücksich-

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tigung eines anderen Aspektes eine weitere Bedeutung. In einer vorangehenden Szene halten Avi und Zach einen Vortrag. Avi verweist auf die zwei wichtigsten Regeln eines jeden Spiels (siehe Abschnitt 2.1) und wirft die Frage auf: „Where does the game stop?“ (01:11:55–01:11:57). Seine Darlegungen erweitern den Geltungsbereich dieser Regeln auf die Dimension des menschlichen Bewusstseins. Auf dieser Ebene ist das ‚Ego‘ eines Menschen wie ein dominanter Spieler zu sehen. Es bringt das Ich dazu, Handlungen auszuführen, die es eigentlich nicht ausführen will oder muss. „We are you“ könnte aus dieser Perspektive auch ein Verweis darauf sein, dass das Bewusstsein von Avi und Zach auf die gleiche Weise funktioniert, sprich, den gleichen Spielregeln unterliegt, wie das von Jake. Dann wäre die Aussage ein verkürzter Vergleich eines ‚We-are-likeyou‘. In beiden Fällen wird die Bedeutung des Dargestellten verändert und zwar durch den Austausch des Bezugsobjektes eines frames (der Spielregel). Auf Basis dieses Diskurses über die Funktionsweisen des menschlichen Geistes erweist sich der Erzähler Jake im letzten Drittel des Films als unzuverlässig. Es kommt zu einem geistigen Duell, das der an Klaustrophobie leidende Held mit sich selbst in einem Fahrstuhl austrägt. Jake fordert sein Ego auf, sich ihm zu stellen. Die überraschende Wendung besteht darin, dass es die über voice-over eingeblendete Stimme des Erzählers ist, die ihm antwortet. Sie stellt sich als eine Manifestation von Jakes Ego heraus, welches dem ‚wahren‘ Jake Angst macht und ihn so zu ungewollten Handlungen verführt. Jake hat also nun zwei Stimmen: sein altes Ego und sein neues Ich. Erst hier fällt dem Betrachter wirklich auf, dass er selbst einem unzuverlässigen Erzähler auf den Leim gegangen ist und der trügerischen Stimme des Egos bereitwillig durch die narrative Welt gefolgt ist. Diese Rahmenänderung initiiert ein erneutes keying, denn das bisherige Erzählprinzip wird infrage gestellt. Jakes Autonomie, die bisher gesichert schien, verliert ihre Absolutheit, da seine Handlungen und Aussagen nun nicht mehr auf seine eigenen Intentionen zurückzuführen sind, sondern auf die seines Egos. Dass das Verhalten der Hauptfigur eigentlich aus der Initiative einer manipulierenden Instanz resultiert, lässt sich als finale Motivierung beschreiben. Der Subjektivierungsgrad durch das Verfahren des voice-over44 ist jedoch so hoch, dass wir im Nachhinein nicht mehr unterscheiden können, wann Jake aus eigener Motivation agiert und wann sein Ego, also der unzuverlässige Erzähler, seine Geschicke lenkt. Aufgrund dieser Zweideutigkeit der Motivierung kann in Anlehnung an Martínez konstatiert werden, dass die Spielwelt von Revolver eine doppelte Welt ist. || 44 Zur Subjektivierung vermittels der voice-over-Technik siehe Bruce F. Kawin: Mindscreen. Bergman, Godard, and First-Person Film. Princeton 1978.

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Nach der Offenlegung der erzählerischen Unzuverlässigkeit kommt es zum großen surrealistischen Showdown. Da Jake sein Ego besiegt hat, sein Handeln also nicht mehr von Angst gesteuert wird, tritt er seinem Gegenspieler Macha friedlich entgegen. Die in neon-violetten Tönen gehaltene Szene zeigt nun wiederum ein wirres Duell zwischen Machas Ego und dessen Ich, deren innere Stimmen beide über ein voice-over zu hören sind. Machas Ich verliert den Wettstreit. Es ist zu vermuten, dass er sich anschließend erschießt. Genau wissen wir dies jedoch nicht, denn die visuelle Darbietung endet hier. Nur das akustische Signal eines Schusses begleitet den Übergang zu einer schwarzen Bildfläche, die als filmische Interpunktion das Ende der Erzählung signalisiert. Erst nach diesem großen verwirrenden Finale findet sich wieder eine konkretere Interpretationshilfe in Form einer paratextuellen Rahmung: Vor dem Abspann werden Ausschnitte aus nicht-fiktiven Interviews gezeigt. Wissenschaftler werden zum Thema ‚das Böse‘ befragt. Erst diese Paratexte machen den eigentlichen final plot twist des Films aus: „There is no such thing as an external enemy, no matter what that voice in your head is telling you“ (1:48:17– 1:48:19). Es geht in erster Linie um die These, dass das Böse nicht Teil der externen Welt, sondern eines jeden Individuums ist; es wird vom Ego selbst geschaffen. Hier handelt es sich um einen konstruktivistischen Ansatz, der verdeutlichen soll, dass das Böse sowie Feindschaft im menschlichen Bewusstsein kreiert und auf die Außenwelt projiziert werden. Durch ein mental inszeniertes make-believe glaubt das Ich, fälschlicherweise mit dem Ego identisch zu sein: „The greatest con that was ever pulled was making you believe that he [the Ego] is you“ (01:46:46–01:46:55). Diese Paratexte legen eine allegorische Deutung des Films nahe. Man könnte behaupten, der größte ‚Schachzug‘ von Revolver sei die verschleierte Allegorie. Was sich vordergründig wie eine Gangstergeschichte gibt, offenbart sich schließlich als bildliche Darstellung von mentalen Bewusstseinsprozessen, die in Form eines Spiels im menschlichen Geist ablaufen. Auch der Zuschauer ist den Regeln des ultimativen Spiels unterworfen – das ist die zentrale Erkenntnis. Die Spielwelt teilt sich tatsächlich in eine stoffliche Welt der äußeren Handlung und in eine subjektive, mentale Welt, die im Wechselspiel ihre allegorische Bedeutung entfalten. Ausgehend von dieser Erklärung wäre anzunehmen, dass die Geschehnisse in der narrativen Spielwelt bildhafte Manifestationen für die inneren Prozesse von Jake sind. Doch auch dieses Interpretationsmodell ist mit einigen Elementen des Films inkompatibel. So gibt es Figuren, die zwar für den Verlauf des Mafiakrieges zentral, von Jake aber absolut unabhängig sind, beispielweise der Scharfschütze Sorter. Sie beeinflussen die Handlung auf der stofflichen Ebene

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des Spiels, treten aber niemals in direkten Kontakt mit der Hauptfigur. Ihre Existenz kann somit nicht der illusorischen Wahrnehmung von Jake zugeordnet werden. Es ist jedoch durchaus möglich, dass die Erzählung von einem umfassenden Bewusstseinsmodell ausgeht, bei dem alle beteiligten Instanzen autonom, und ohne unbedingt voneinander zu wissen, operieren. Dann wäre es aus logischer Sicht wenig sinnvoll, dass Jake als Teil des Ganzen gleichzeitig auch das Ganze ist. Denkbar wäre auch, dass ein übergeordnetes Bewusstsein, in dem diese Instanzen agieren, sich in einer Sphäre außerhalb der bildlichen Darstellung befindet. Doch Revolver gibt keinen eindeutigen Hinweis zugunsten einer dieser Erklärungsversuche. Selbst die am Ende des Films paratextuell dargebotenen Deutungshilfen lösen nicht alle Widersprüche auf. Der Betrachter muss die Unbestimmtheit der Narration durch eine eigene Sinnkonstruktion überbrücken.

3 Resümee Es erweist sich stets als schwierig, einen Gegenstand wissenschaftlich zu erfassen, dessen Hauptanliegen es ist, die menschliche Wahrnehmung an sich zu hinterfragen. Letztendlich stellt sich bei Revolver keines der hier vorgestellten Erklärungsmodelle als absolut bindend heraus. Das Verhindern einer eindeutigen Entschlüsselung des Rätsels verweist auf den Bereich des Fantastischen, der um das Prinzip des Zweifels kreist. Die Rahmenanalyse stellt sich als probates Mittel zur Untersuchung jenes Verfremdungsverfahrens heraus, welches zwei narrative Systeme gegeneinander ausspielt. Als Konvergenzpunkte sich wandelnder Sinnbeziehungen sind frames und believe systems ein geeignetes Material für das freie Spiel der Fantastik, das Fiktives und Imaginäres (im Sinne Isers) auf paradoxe Weise verknüpft. Es vereinen sich Glaubens- und Erfahrungssysteme neu zu einem Spiel mit der Fantasie. Das Spiel ist jedoch nicht nur für die innere Struktur des Films von Bedeutung, sondern erfüllt auch eine Spiegelfunktion nach außen. Der Betrachter merkt rasch, dass auch mit ihm ein Spiel gespielt wird, welches ihn zur Reflexion über seine eigenen Ordnungsschemata herausfordert. In Revolver wird die Projektion von mentalen Glaubenssätzen auf die Außenwelt und damit auch das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Umgebung explizit thematisiert. Diese Metareflexionen provozieren eine Offenlegung der Narration als make-believe. Durch die thematische Verknüpfung von dargestellten Vorstellungswelten und den Deutungsschemata des Rezipienten verweist der Film ausdrücklich darauf, dass das auf-

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gezeigte Spiel der Bewusstseinsinstanzen ebenfalls im Geiste des Zuschauers abläuft. Das Spiel mit dem Zweifel wird zugleich zur Struktur und zum Thema. Zweifel kann dabei immer nur auf der Folie einer glaubhaften, kontrastiven Welt hervorgerufen werden. In Revolver geht das realistisch anmutende System mit der Suggestion einer kausalen Motivation einher, wohingegen die Abweichungsrealität mit einer finalen Motivation assoziiert wird. Hierbei werden die narrativen Rahmenstrategien des voice-over, der Rückblendenerzählung sowie der backstorywound als Stützen für die Annahme einer kausalen Motivation funktionalisiert, wohingegen der (final) plot twist, der unzuverlässige Erzähler und die paratextuellen Rahmungen der Suggestion einer finalen Motivation dienlich gemacht werden. Die Zweideutigkeit der Motivierung auf der Ereignisebene und der unklare ontologische Status der Figuren erweisen sich in Revolver als markante Charakteristika jener Verfremdungstechnik, durch die das für die Fantastik typische Nichtsystem konstruiert wird. Die doppelte Welt etabliert ein Nichtsystem, indem sie ein – mit einer kausalen Motivation verknüpftes – reguläres Realitätssystem durch ein weiteres mit einer finalen Motivation hinterfragt, sodass eine Unschlüssigkeit darüber entsteht, welche Gesetze der Ereignisverknüpfung gültig sind. Die Paradigmen des fantastischen Nichtsystems und der doppelten Welt lassen sich miteinander verbinden, da die doppelte Welt eine von vielen möglichen Varianten ist, ein Nichtsystem zu generieren.

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Kai Spanke

Kampf um Kontingenz und Darstellung von Providenz im Slasherfilm 1 Pädagogik vs. Ästhetik – zum Umgang mit dem Slasher Ohne Geheimnis keine Kunst. Die Durchschlagskraft dieser im ästhetiktheoretischen Diskurs gängigen Maxime lässt sich fast nirgends so eindringlich studieren wie am Beispiel des Horrorfilms. Denn Horror ist nicht gleich Horror. Auf der einen Seite gibt es die arrivierten Perlen des Genres, ihr kultureller Rang scheint unstrittig, ihr Platz im Kanon der Filmgeschichte ist gesichert. Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922) zählt genauso dazu wie Roman Polanskis Rosemary’s Baby (1968) oder Nicolas Roegs Don’t Look Now (1973). Was diese Filme eint, ist ihr Mut zur Lücke: Sie buchstabieren nicht aus, sie verunklären; sie wollen die Fantasie nicht domestizieren, sondern anregen. Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang die Duschszene in Alfred Hitchcocks Psycho (1960), da es dort hauptsächlich Filmschnitte zu sehen gibt, keine Messerstiche. Dennoch gilt ausgerechnet Psycho als Vorläufer jener Filme, deren Gewaltexzesse die Figuren zugunsten von Überwältigung, Schock und Ekel marginalisieren. Während die Klassiker den Seelenhaushalt von Tätern und Opfern erforschen, ist der in den 1970er Jahren entstehende Slasher „vor allem fasziniert vom Tathergang [H. i. O.]“1. Zu den prominentesten Beispielen dieses HorrorSubgenres, in dessen Mittelpunkt immer ein Killer steht, der die Mitglieder einer Teenagergruppe tötet, zählen Tobe Hoopers The Texas Chain Saw Massacre (1974), John Carpenters Halloween (1978), Sean S. Cunninghams Friday the 13th (1980) und Wes Cravens A Nightmare on Elm Street (1984). Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Nahsicht auf zerlegte Körper. Diese vom Enigmatischen wegund zum Offensichtlichen hinführende Entwicklung hat der Reputation des Horrorfilms schwer geschadet. Bis heute fordert sein konfrontativer Gestus immer wieder zu zwei Einsprüchen heraus – einem ästhetischen und einem ethischen.

|| 1 Hans Richard Brittnacher: „Bilder, die unter die Haut gehen. Zur Inszenierung von Schock und Schrecken im Horrorfilm“. In: Thomas Koebner/Thomas Meder in Verbindung mit Fabienne Liptay (Hgg.): Bildtheorie und Film. München 2006, S. 526–543, hier S. 530. https://doi.org/10.1515/9783110626117-013

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Der ästhetische Vorbehalt richtet sich gegen die physische Ansprache des Slashers, denn die geschundenen Körper im Film sollen sich unmittelbar auf den Körper des Zuschauers auswirken – und seit Descartes ist der Körper unter Intellektuellen in Verruf, der Geist hingegen zu allen Ehren gekommen. Deswegen sieht Robert Gernhardt eine unauflösbare Differenz zwischen der westlichen Hochkultur und jenen fünf Genres, die darauf zielen, den Rezipienten durch körperliche Entladung außer Gefecht zu setzen: Die Komödie will Lachtränen, das Melodram Tränen der Rührung, der Thriller Schweißausbrüche, der Porno Orgasmen und der Horror im drastischsten Fall Erbrechen, im harmlosesten Fall Erschrecken und Gänsehaut. „All diese Genres“, so Gernhardt, „sind auf Reaktionen aus und nur auf sie, sie alle ordnen alle ästhetischen Mittel diesem Zweck unter.“2 Solchen Überrumpelungen als Bedürfnisbefriedigungen haftet das Image des Geschmacklosen, wenn nicht Perversen an. Im Unterschied zur Kunst nämlich „läßt das Genre von den unendlich vielen denkbaren Aspekten und Interpretationsmöglichkeiten der Welt all die weg, die nicht dem erstrebten Zweck dienen. Daher das letztlich Flache jedes artistischen Produktes, das ganz und gar auf Wirkung ausgerichtet ist.“3 Ihre reine Zweckgebundenheit sei zudem der Grund dafür, dass von Genre-Erzeugnissen oft geredet wird, als handele es sich um Gebrauchsgegenstände. Wenn man einen Krimi richtig dreht, provoziert er Gänsehaut, ein Horrorfilm funktioniert erst dann korrekt, wenn der Zuschauer sich ekelt. Deshalb schätze man in der Regel das Produkt, nicht den lediglich als „Bedarfsdecker“4 fungierenden Produzenten. Wer sich trotzdem an Genreregisseure und nicht an deren Filme hält, tue das nur, weil „diese Namen verläßliche Wirkungen garantieren“5. Insofern erscheinen Ästhetik und Horror als „Gegensatz-Paar“6. Das akademische Interesse am Horrorfilm ist folglich meist ein kulturwissenschaftlichsoziologisches, kein künstlerisches. Ein Großteil der vorliegenden Untersuchungen setzt den Horrorfilm in ein Verhältnis zu gesellschaftspolitischen7,

|| 2 Robert Gernhardt: Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik. Frankfurt a. M. 2008, S. 549. 3 Gernhardt (Anm. 2), S. 549 f. 4 Gernhardt (Anm. 2), S. 551. 5 Gernhardt (Anm. 2), S. 550. 6 Claudio Biedermann/Christian Stiegler: „Horror und Ästhetik. Das Gegensatz-Paar“. In: Dies. (Hgg.): Horror und Ästhetik. Eine interdisziplinäre Spurensuche. Konstanz 2008, S. 7–8. 7 Siehe z. B. Jonathan Lake Crane: Terror and Everyday Life. Singular Moments in the History of the Horror Film. Thousand Oaks/London/New Delhi 1994. Crane bemerkt: „Although violence in the slasher film makes little conventional sense, it does offer a vivid visual approximation of what it feels like to live in an inordinately dangerous world – a world, which, like the purpose-

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psychoanalytischen8, philosophischen9 und gendertheoretischen10 Aspekten, wobei alle vier Schwerpunkte häufig ineinander spielen. Hinzu kommen etliche Untersuchungen zum sogenannten Horrorparadox, also der lustvollen Rezeption von Bestialität und Barbarei.11 Und von dort aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum moralischen Aufschrei, denn aus der Frage, was einen Menschen dazu treibt, sich freiwillig dem blanken Grauen auszusetzen, ergibt sich zwingend diejenige nach den Folgen des Horrorkonsums. Die über fünftausend Studien zur Relation von Medien und Gewalt belegen die Signifikanz des Themas.12 Handfeste Ergebnisse liefern sie jedoch nicht, denn ob – und falls ja: mit welcher Frequenz – mediale Gewalt bei Jugendlichen13 zu realer Gewalt führt, ist keineswegs geklärt.14 Nichtsdestotrotz neigen Politiker und Pädagogen gleichermaßen dazu, ästhetischen Gewaltdarstellungen pauschal einen abstumpfenden Effekt zu unterstellen und ihnen die Schuld für reale Aggressionen zu geben. Kaum jemals werden die relevanten sozialen Ursachen von Gewaltdelikten in Betracht gezogen.15 Horrorfilme, so die gebetsmühlenartig wiederholte || less scenes of graphic mayhem randomly scattered through the slasher film, has also stopped making sense“ (5). 8 Siehe z. B. Steven Jay Schneider (Hg.): Horror Film and Psychoanalysis. Freud’s Worst Nightmare. Cambridge 2004. In der Einleitung des Bandes unterstreicht Schneider die Bedeutung der Psychoanalyse „for shedding light on specific horror films, cycles, and subgenres“. Steven Jay Schneider: „Introduction: Psychoanalysis in/and/of the Horror Film“, S. 1–14, hier S. 8. 9 Siehe z. B. Steven Jay Schneider/Daniel Shaw (Hgg.): Dark Thoughts. Philosophic Reflections on Cinematic Horror. Lanham/Oxford 2003. In den Eingangsbemerkungen heißt es: „Another similarity between tragedy and horror is that both genres raise philosophical questions about the meaning and purpose of human existence.“ Steven Jay Schneider/Daniel Shaw: „Introduction“, S. VII–IX, hier S. IX. 10 Siehe z. B. Carol J. Clover: Men, Women, and Chain Saws. Gender in the Modern Horror Film. Princeton 1992. Die Welt des Horrorfilms, so Clover, „is in any case one that knows very well that men and women are profoundly different (and that the former are vastly superior to the latter)“ (15). 11 Siehe z. B. Noël Carroll: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York/ London 1990, hier vor allem S. 159–195. 12 Vgl. Michael Kunczik/Astrid Zipfel: „Wirkungsforschung I: Ein Bericht zur Forschungslage“. In: Thomas Hausmanninger/Thomas Bohrmann (Hgg.): Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München 2002, S. 149–159, hier S. 149. 13 Zur Horrorrezeption bei Heranwachsenden siehe Gerhard Mayer: „Das Unheimliche in Horrorfilmen. Rezeptionsstrategien bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen“. In: Der Deutschunterricht 3 (2006), S. 68–73. 14 Vgl. Kunczik/Zipfel (Anm. 12), S. 151 f. 15 Zur Simplizität und Betagtheit der gängigsten Vorwürfe vgl. Hans Richard Brittnacher: „Der Horrorfilm – Katharsis der Subkultur?“. In: Martin Vöhler/Dirck Linck (Hgg.): Grenzen der

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Warnung, machten aus harmlosen Nerds gemeingefährliche Delinquenten. An Theorien zum Thema mangelt es nicht.16 Vor allem Werner Glogauer, der wohl eifrigste Vorkämpfer antimedialer Mobilmachung, erinnert unermüdlich an die zersetzende Macht der Bilder: „Der Prozeß der Zerstörung der sozialethischen, moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft ist schon längst dadurch in Gang gesetzt, daß die Gewaltdarstellungen in den Medien gegen die in den Verfassungen festgelegten Grundlagen und die entsprechenden Ziele für Bildung und Erziehung in den Lehrplänen der Schulen in massiver Weise wirken.“17 Dass die tatsächlich nicht zu leugnenden Nachahmungstaten Einzelfälle von vielfach ohnehin gewaltbereiten Menschen sind, wird genauso gerne verschwiegen wie die Tatsache, dass Rezipienten nach dem Konsum von Horror fast nie den Drang zu exzessivem Handeln verspüren.18 Ein Mittel im Kampf gegen Gewaltdarstellungen ist die Indizierung. Sobald die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien bei einem Horrorfilm „unsittliche, verrohend wirkende sowie zu Gewalttätigkeit“19 anreizende Inhalte entdeckt, kommt er auf den Index. Verrohend sei eine Gewaltdarstellung unter anderem dann, wenn sie „selbstzweckhaft und detailliert“20 ist. Diese Definition

|| Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin 2009, S. 323–337, hier vor allem S. 324. 16 Die Habitualisierungsthese geht davon aus, dass Gewaltkonsum zu Abstumpfung und letztlich zu Gewaltakzeptanz führt. Nach der Suggestionsthese verursacht Gewaltkonsum fast zwangsläufig Gewaltnachahmung. Die Excitation-Transfer-These besagt, dass der Zuschauer durch Medieninhalte auf unspezifische Weise emotional-triebhaft aufgewühlt werden kann. Anhänger der Stimulationsthese glauben, dass die Rezeption von bestimmter (z. B. notwendiger) Gewalt in bestimmten Situationen bei einer bestimmten Persönlichkeitsdisposition Aggressionen schürt. Laut der Rationalisierungsthese schauen sich gewalttätige Menschen violente Programme an, um das eigene Verhalten zu relativieren. Selbstredend wartet die Theorie auch mit Plädoyers für mediale Gewalt auf. Nach der Katharsisthese ist die Beobachtung fiktiver Gewaltakte eine Möglichkeit ihres imaginären und also aggressivitätssenkenden Mitvollzugs. Fürsprecher der Inhibitionsthese sind überzeugt, dass mitreißend dargebotene Gewalt beim Zuschauer Ekel und Aggressionsangst auslöst. Vgl. Kunczik/Zipfel (Anm. 12), S. 152–155. 17 Werner Glogauer: Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien. Wirkungen gewalttätiger, sexueller, pornographischer und satanischer Darstellungen. Baden-Baden 1991, S. 7. Glogauers Prohibitionsfantasien machen mitnichten beim Horrorfilm Halt. Ins Visier geraten auch Billighefte, Hardrock sowie Computer- und Rollenspiele. Der Vorwurf bleibt freilich immer der gleiche: Fiktionales vermittele ein falsches Weltbild und desorientiere Kinder wie Jugendliche, sodass aus ihnen deviante Soziopathen würden. 18 Vgl. Kunczik/Zipfel (Anm. 12), S. 150. 19 Petra Meier: „Horrorfilme in der Indizierungspraxis der Bundesprüfstelle“. In: Der Deutschunterricht 3 (2006), S. 73–76, hier S. 75. 20 Meier (Anm. 19), S. 75.

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ignoriert den Sachverhalt, dass Literatur, Film und bildende Kunst Gewalt so zur Wahrnehmung bringen, „wie sie in anderen Kontexten nicht wahrgenommen werden kann oder wahrgenommen werden darf. Gerade weil sie die reale Gewalt in das Spiel ihrer Erscheinungen überführt, kann die Kunst, anders als jeder Diskurs, jeder Bericht und jede Statistik die Zufügungen artikulieren, die im Erleiden oder auch im Ausführen von Gewalthandlungen liegt.“21 Die Kunst vergewissert sich durch den Selbstzweck ästhetischer Gewaltimaginationen ihrer Autonomie, weswegen Karl Heinz Bohrer sogar ein „Bedingungsverhältnis“22 zwischen Ästhetik und Gewalt erkennt. Allerdings kann auch die Bundesprüfstelle die Kunstfrage nicht vollständig ausklammern. Oliver Stones Film Natural Born Killers (1994) sei zwar brutal, transportiere darüber hinaus aber eine „sehr medienkritische künstlerische Aussage“23. Letztere bewahrte ihn vor dem Verbot. Das heißt zugleich: Allem Indizierten spricht die Bundesprüfstelle den Kunststatus ab. Hier zeigt sich, dass bei der Filmbewertung Ethik und Ästhetik in einer ungünstigen Wechselbeziehung stehen. Zuerst wird nach der ethischen Dimension gefragt, anschließend danach, ob es eine ästhetische gibt, die wiederum die ethische beeinflussen könnte – falls ja, werden Zugeständnisse gemacht, falls nein, wird indiziert. Der dabei angelegte Kunstbegriff orientiert sich weniger an der Struktur und am Erscheinungscharakter ästhetischer Phänomene als vielmehr am pädagogischen und kulturvermittelnden Mehrwert. Natural Born Killers, so die Unterstellung, helfe beim Begreifen der Gesellschaft und bei der persönlichen Besserung. Dieses Verständnis geht konform mit dem kulturwissenschaftlichen Streben nach allgemeiner Erkenntnis und der pädagogischen Suche nach nützlichen Einsichten. Nun ist gegen Kulturwissenschaft und Pädagogik überhaupt nichts einzuwenden – solange sie sich um Kultur und Erziehung kümmern, nicht um Ästhetik. Eine Filmwissenschaft als reine Kultur- bzw. Erziehungswissenschaft schlägt deshalb fehl, weil es ihr nicht um das Verständnis der individuellen Gestalt eines künstlerischen Ausdrucks geht, sondern darum, den Film auf seine Anschlussfähigkeit an Historisches, Ethisches, Soziales etc. abzuklopfen. Das Ästhetische stellt jedoch eine Differenz dar, nicht eine metaphorisch minimal verschobene Variante der Realität. Für unseren Zusammenhang beutetet das: Will man die dargestellte Welt des Horrorfilms, seine Form und narrative

|| 21 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2003, S. 314. 22 Karl Heinz Bohrer: „Ästhetik und Gewalt als Bedingungsverhältnis. Jenseits anthropologischer Begründungen“. In: Ders.: Die Grenzen des Ästhetischen. München 1998, S. 138–159. 23 Meier (Anm. 19), S. 76.

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Logik angemessen begreifen, sollte man eventuelle kulturwissenschaftliche und vor allem pädagogische Ambitionen im Zaum halten. Speziell beim Slasherfilm zahlt sich diese Zurückhaltung aus, da die strukturelle Ordnung seiner dargestellten Welt bestimmten, nur selten modifizierten Konventionen gehorcht.24 Im Zentrum steht ein Killer, der nacheinander die Mitglieder einer Gruppe von Jugendlichen ermordet, um am Ende selbst vom letzten überlebenden Mädchen, dem final girl, kampfunfähig gemacht zu werden. Der Slasher verzichtet auf komplexe Persönlichkeiten (die Opfer sind beliebig austauschbar, der Mörder trägt meist eine Maske) und elaborierte Dialoge (die Opfer schreien, der Mörder schweigt fast immer).25 Gemeinsam ist den Opfern, dass sie Produkte einer permissiven Gesellschaft sind – ihr Nonkonformismus kommt durch sexuelle Aktivität, Drogenkonsum und Hallodrihaftigkeit zum Ausdruck –, was zum Forschungskonsens führte, der Slasher sei ein konservatives, kein subversives Genre. Allein das schüchterne, strebsame, oftmals regelrecht prüde final girl entkommt dem Blutbad, welches der Mörder bevorzugt mit Messern, Äxten, Haken, Folterapparaturen oder Kettensägen anrichtet26 – das englische Verb „to slash sb“ heißt soviel wie „jemanden aufschlitzen“. Rollen, Aufgaben und Möglichkeiten sind im Slasherfilm klar definiert: Das Ziel des Killers ist es, einen möglichst spektakulären Tod seiner Opfer zu inszenieren. Die Teenager versuchen (so sie die Gelegenheit dazu haben), das Vorgehen ihres Gegners zu antizipieren, um sich effektiv wehren zu können und zu überleben.

|| 24 Zur Struktur und Phänomenologie des Slashers siehe grundsätzlich Vera Dika: Games of Terror: Halloween, Friday the 13th and the Films of the Stalker Cycle. Cranbury 1990; Adam Rockoff: Going to Pieces. The Rise and Fall of the Slasher Film, 1978–1986. Jefferson 2002. Zu Abweichungen und Variationen slashertypischer Usancen siehe z. B. Brigid Cherry: Horror. Abingdon/New York 2009, hier vor allem S. 19–36; Tony Williams: „Trying to Survive on the Darker Side: 1980s Family Horror“. In: Barry Keith Grant (Hg.): The Dread of Difference. Gender and the Horror Film. Austin 1996, S. 164–180. 25 Freddy Krueger ist die große Ausnahme dieser Regel. Er trägt keine Maske, sondern sein von Brandwunden entstelltes Gesicht zur Schau. Ferner wachsen sein Redebedürfnis und seine Stand-Up-Comedy-Tauglichkeit mit jedem Teil der Nightmare-Reihe. Vgl. Tony Magistrale: Abject Terrors. Surveying the Modern and Postmodern Horror Film. New York 2005, S. 159. 26 Zur Bedeutung spezifischer Tötungswerkzeuge im Horrorfilm siehe Hans Richard Brittnacher: „Die Bilderwelt des phantastischen Schreckens. Die Verführungskraft des Horrors in Literatur und Film“. In: Christine Ivanović/Jürgen Lehmann/Markus May (Hgg.): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film. Stuttgart/Weimar 2003, S. 275–297, hier vor allem S. 285–295.

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Dieser Ablauf ist gleichermaßen ein Kampf um Kontingenz wie eine Darstellung von Providenz.27 Um Kontingenz kämpfen die Verfolgten, allen voran das final girl. Es spekuliert auf die Möglichkeit des ungewissen Ausgangs und hofft auf seine Chance. Der Killer hingegen garantiert als metaphysischer Strippenzieher des Geschehens dessen providenzielle Qualität, denn dass er überlebt und dass das Gros der Opfer stirbt, ist sicher.28 Der aus dieser Konstellation hervorgehenden Spannung soll nun anhand von zwei paradigmatischen und erfolgreichen Filmen des Genres nachgegangen werden: John Carpenters Halloween und Wes Cravens A Nightmare on Elm Street. Zunächst wird gezeigt, inwiefern die dargestellte Welt der beiden Slasher durch den Gegensatz von Providenz und Kontingenz geprägt ist, genauer: inwiefern der Killer als Agent einer providenziellen Welt auftritt, in der das final girl um Kontingenz kämpft. Sodann werden die Konsequenzen des daraus resultierenden seriellen Schemas einzelner Handlungen und ganzer Filmreihen besprochen.

2 Die gefestigte Einrichtung der Slasherwelt – Providenz und Kontingenz Bei der Lektüre eines Texts oder der Sichtung eines Films erscheint uns das sich vollziehende Geschehen erst dann sinnvoll, wenn es in den Erklärungszusammenhang einer kohärenten Geschichte integriert ist. Diese Leistung erbringt die sogenannte Motivation. Darunter versteht man den „Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählenden oder dramatischen Text dargestellte Geschehen“29. Eine gänzlich motivationslose Handlung bestünde aus funktionslosen Ereignissen, die willkürlich aufeinander und gerade nicht auseinander folgten. In der

|| 27 Auf den Slasherfilm bezogen modifiziere ich unter Ausklammerung des Spielaspekts Johan Huizingas Behauptung: „Das Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas“. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938]. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 22. 28 Dass der Kampf um Kontingenz und die Darstellung von Providenz auch zu Komik führen können – nämlich dann, wenn der Fiesling um Kontingenz kämpft, und es doch niemals schafft, sein auserkorenes Opfer zur Strecke zu bringen –, zeigen etwa die Serien Tom and Jerry, Wile E. Coyote and Road Runner sowie die in der Simpsons-Welt laufende Trickserie Itchy & Scratchy. Siehe hierzu Kai Spanke: „Fun ist ein Blutbad. Zur Komik von Gewalt und Tod im amerikanischen Verfolgungscartoon“. In: Susanne Kaul/Oliver Kohns (Hgg.): Politik und Ethik der Komik. München 2012, S. 133–149. 29 Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 2002, S. 110.

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Erzähltheorie werden drei Motivationstypen unterschieden: kausale, finale und kompositorische Motivation.30 Die kompositorische Motivation bezieht sich auf die künstlerische Verknüpfung von Motiven und auf das Zusammenspiel zwischen Motiven und Handlung.31 Die kausale Motivation „erklärt ein Ereignis, indem sie es als Wirkung in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einbettet, der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt“32. Die finale Motivation „findet vor dem mythischen Sinnhorizont einer Welt statt, die von einer numinosen Instanz beherrscht wird. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an festgelegt“33. Ein final motiviertes Geschehen gilt als inkompatibel mit einer kausal motivierten Ereignisfolge, denn der „Handlungshorizont kann nicht zugleich offen und geschlossen, die kausale Beeinflußbarkeit der Zukunft nicht zugleich möglich und unmöglich sein“34. Es existieren allerdings Texte und Filme, die mit beiden Motivationsarten spielen, indem sie dem Rezipienten zunächst suggerieren, die dargestellte Welt zeichne sich durch ein kausales Prinzip aus. Doch dann wird im Verlauf der Handlung, manchmal sogar erst am Ende, deutlich, dass eine finale Motivation vorliegt, die die kausale Auslegung des Geschehens aber keineswegs negiert. Diese widersinnige Motivationsstruktur bezeichnet Matías Martínez als doppelte Welt.35 Eine solche doppelte Welt findet sich in dem Slasher, der als „blood relati36 ve“ von Hitchcocks Psycho gilt: Halloween. Den Anfang macht eine Sequenz, die, so informiert eine Einblendung, in der Halloween-Nacht 1963 spielt. Das wackelige Bild einer subjektiven Kamera nähert sich einem Haus im kleinstädtischen Amerika. Zwar wissen wir noch nicht, aus wessen Perspektive wir das Geschehen wahrnehmen. Dass aber durch die Augen einer Figur fokalisiert

|| 30 Vgl. Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, vor allem S. 13–36; Martínez/Scheffel (Anm. 29), S. 111–119. 31 Vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 29), S. 114. 32 Martínez/Scheffel (Anm. 29), S. 111. 33 Martínez/Scheffel (Anm. 29), S. 111. 34 Martínez (Anm. 30), S. 28. 35 Vgl. Martínez (Anm. 30), S. 34. 36 Joseph Maddrey: Nightmares in Red, White and Blue. The Evolution of the American Horror Film. Jefferson 2004, S. 62. Mit dem von Michael Myers verübten Mord an seiner Schwester Judith verbeugt sich Carpenter vor der Duschszene aus Psycho. Außerdem spielt Jamie Lee Curtis, die Tochter von Janet Leigh – die wiederum Marion Crane in Psycho verkörperte –, die Hauptrolle in Halloween. Marions Liebhaber heißt Sam Loomis. Der einzige Mann im Leben von Curtis’ Figur Laurie ist der ihr nachstellende Killer, dessen Psychiater ebenfalls Sam Loomis heißt.

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wird, ist eindeutig.37 Wir hören Schritte und zirpende Grillen. Durch die Vorhänge der Tür sind die Schemen eines Pärchens zu erkennen, das bald im Nebenraum verschwindet. Die Kamera schleicht am Haus entlang, der Blick nähert sich dem Wohnzimmerfenster. Beide Teenager lümmeln knutschend auf dem Sofa. Als der Junge sich eine Clownsmaske vors Gesicht hält, ermahnt sie ihn, mit den Albernheiten aufzuhören. „We are alone, aren’t we“, fragt er etwas nervös. „Michael’s around someplace“, antwortet sie desinteressiert. Nun schwant uns, dass wir die Handlung durch Michaels Augen sehen und dass es sich bei dem Mädchen um seine Schwester handelt. Lachend stehen die Teenager auf und gehen in den ersten Stock. Michael, immer noch draußen, schaut nach oben, wo in einem Zimmer das Licht erlischt. Er betritt die Küche und nimmt sich ein Messer aus der Besteckschublade. Vom Wohnzimmer aus beobachtet er, wie der Junge die Treppe herunterkommt, sich von dem Mädchen verabschiedet und das Haus verlässt. Gemeinsam mit Michael laufen wir in den ersten Stock. Auf dem Boden liegt die Clownsmaske. Michael zieht sie sich über den Kopf, vom Sichtfeld bleiben zwei kleine Sehschlitze, Atemgeräusche sind zu hören. Schließlich betritt er das Zimmer seiner Schwester. Sie sitzt unbekleidet vor dem Spiegel ihres Schminktischs und kämmt sich die Haare. Die Wahrnehmungskonstellation gewinnt hier maximale Komplexität: Michael beobachtet, wie sich seine Schwester selbst im Spiegel beobachtet; wir wiederum nehmen alles aus seiner Perspektive wahr. Sobald sie ihn sieht, ruft sie empört seinen Namen. Ohne zu zögern, sticht er auf sie ein. Nach dem Mord verlässt Michael das Haus, und die Kamera gibt ihre aktoriale Fokalisierung zugunsten einer neutralen auf. Da steht ein kleiner, mit einem riesigen Messer bewaffneter Junge im Clownskostüm. Er wird von seinen gerade heimkehrenden Eltern – der Vater reißt ihm die Maske vom Kopf – gestellt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er ins Nichts (0:02:06–0:06:41)38. Hier endet der Auftakt. Die restliche Filmhandlung spielt fünfzehn Jahre später. Wir erfahren, dass Michael Myers seit der Bluttat im Hochsicherheitstrakt einer geschlossenen Anstalt untergebracht ist. Doch dann bricht er pünktlich zu Halloween aus, um in seiner Heimatstadt Haddonfield weiterzumorden. Soweit handelt es sich um die Geschichte eines Psychopathen, wie sie sich tatsächlich ereignen könnte. Der Film präsentiert eine homogene Welt, „insofern das zugrundeliegende System von Möglichem, Wahrscheinlichem und Not-

|| 37 Zum Verhältnis von Kameraführung, Zuschauer und Killer in Halloween siehe Steve Neale: „‘Halloween’: Suspense, Aggression and the Look“. In: Barry Keith Grant (Hg.): Planks of Reason: Essays on the Horror Film. Metuchen/London 1984, S. 331–345. 38 Halloween. Reg. John Carpenter(1978). Anchor Bay Entertainment.

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wendigem jeweils einheitlich ist“39 und nicht mit unserer Realität bricht. Zudem verfolgt der Zuschauer einen kausal und kompositorisch motivierten Ereigniszusammenhang, der überall dort, wo es an expliziten Erklärungen mangelt, wenigstens unterstellt wird. Wir gehen beispielsweise davon aus, dass die Beobachtung der turtelnden Teenager Michaels Aggression befördert, denn der Bezug zwischen sexueller Spannung und Gewalt ist „unbestimmt vorhanden“40. Sowohl Michael als auch der Freund der Schwester tragen die Clownsmaske; der Freund nutzt sie als Teil des schäkernden Vorspiels, Michael als Accessoire während des Mords. Beide betrachten das Mädchen also durch dieselben Augenlöcher, bevor sie ihr sexuell respektive gewalttätig zu Leibe rücken. Dass die dargestellte Welt wohl doch eine heterogene und darüber hinaus final motiviert ist, ahnt der Zuschauer, sobald er die Einlassungen von Michaels Psychiater Sam Loomis ernst nimmt. Zu einer Kollegin sagt er: „Don’t underestimate it“ (nicht „him“, sondern „it“, 0:07:56); nach Michaels Ausbruch: „The evil is gone“ (0:10:22); zum Sheriff von Haddonfield: This isn’t a man. […] I met him fifteen years ago. I was told there was nothing left. No reason, no conscience, no understanding, in even the most rudimentary sense, of life or death, of good or evil, right or wrong. I met this six-year-old child with this blank, pale, emotionless face and … the blackest eyes, the Devil’s eyes. I spent eight years trying to reach him and then another seven trying to keep him locked up because I realized that what was living behind that boy’s eyes was purely and simply evil. (0:35:47–0:37:46)

Schließlich warnt er: „Death has come to your little town, Sheriff“ (0:55:26). Loomis nennt Michael das Böse. Er sieht in ihm also keine Person, sondern eine Kategorie, die im moralphilosophischen und ästhetischen Diskurs bis heute als besondere Herausforderung empfunden wird.41 Dann attestiert er ihm die Augen des Teufels und bezeichnet ihn obendrein als fleischgewordenen Tod. „Aus dem psychisch gestörten Mörder“ wird für Loomis eine „apersonale, un-

|| 39 Martínez/Scheffel (Anm. 29), S. 127. 40 Martínez (Anm. 30), S. 25. 41 Siehe die nicht abreißenden Publikationen zum Thema, etwa: Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen. München 2010; Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Für eine ästhetische Kategorie. München 2004; Terry Eagleton: On Evil. New Haven/London 2010; Werner Faulstich (Hg.): Das Böse heute. Formen und Funktionen. München 2008; Susan Neiman: Evil in Modern Thought. An Alternative History of Philosophy. Princeton 2002; Jean-Claude Wolf: Das Böse. Berlin/Boston 2011.

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heimliche Macht.“42 Tommy, ein Junge, der an den Schwarzen Mann glaubt, sagt über Michael: „You can’t kill the boogeyman“ (1:18:54). Wie Recht er damit hat, zeigt das Ende des Films: Ausgestattet mit Maske und Messer, hat Michael in der Halloween-Nacht bereits drei Teenager getötet. Als Laurie, das final girl, deren Leichen entdeckt, wird sie von Michael überrascht. Im letzten Moment entwischt sie ihm und schafft es, sich ins Nachbarhaus herüberzuretten, wo sie als Babysitterin auf zwei Kinder aufpassen soll. Dort beginnt ein spektakulärer Showdown, bei dem Laurie mit allen Mitteln um Kontingenz kämpft. Sie rammt ihrem Verfolger eine Stricknadel in den Hals, einen Kleiderbügel aus Draht ins Auge und ein Messer in die Brust, sie rennt davon und versteckt sich. Doch jedes Mal, wenn sie sich in Sicherheit wähnt, geht das Spiel von vorne los. Als ihr Retter betritt Dr. Loomis die Szene. Beherzt feuert er sechs Schüsse auf Michael ab. Den befördert die Wucht der Kugeln über ein Balkongeländer. Mit einem dumpfen Aufprall landet er rücklings auf dem Boden und bleibt liegen. Nach einem Schnitt zeigt die Kamera wieder das Innere des Hauses. „It was the boogeyman“, wimmert die am Boden hockende Laurie. „As a matter of fact it was“, bemerkt Loomis. Als er zum Balkon geht, um nach der Leiche zu schauen, ist Michael – verschwunden. Daraufhin startet das Halloween-Thema, eine monoton-unheimliche Pianomelodie im 5/4-Takt, die nur von Michaels schwerem Atmen unter der Maske übertönt wird. Die letzte Einstellung des Films zeigt das leer stehende und heruntergekommene MyersHaus, in dem der sechsjährige Michael einst seine Schwester erstach (1:12:23– 1:25:01). Dieses Ende lässt keinen Zweifel daran, dass Jochen Fritz und Neil Stewart falsch liegen, wenn sie dem Killer im Slasher alles Übernatürliche absprechen und behaupten: „In ontologischer Hinsicht unterscheidet sich Michael Myers […] von seinen Opfern ja letztlich nur dadurch, daß er tötet während sie getötet werden.“43 Michael Myers unterscheidet sich sehr wohl von seinen Opfern. Als übermenschliche Kreatur ist er unsterblich, seine Taten kommen einem Gottesurteil gleich, ihm verdankt das Geschehen seine finale Motivation. Im Gegensatz zu Halloween präsentiert A Nightmare on Elm Street von vornherein eine heterogene Welt. Eingangs ist zu sehen, wie sich Freddy Krueger, das Monster des Films, in einem rumpeligen Arbeitsraum sein Mordwerkzeug

|| 42 Gerhard Hroß: „Horror: ‚Friday the 13th‘ und der Schrecken des Erwachsenwerdens“. In: Thomas Hausmanninger/Thomas Bohrmann (Hgg.): Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München 2002, S. 81–95, hier S. 85. 43 Jochen Fritz/Neil Stewart: „Einleitung: Das schlechte Gewissen der Moderne“. In: Dies. (Hgg.): Das schlechte Gewissen der Moderne. Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur und Film nach 1968. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 7–24, hier S. 10.

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bastelt – einen mit rasiermesserscharfen Klingen besetzten Handschuh. Sein Gesicht wird nicht ins Bild gebracht, erkennbar sind allein seine Arme und Beine. Zwischen zischenden Dämpfen und tropfenden Ablagen macht er sich ans Werk. Es wird gehämmert, geschliffen und geschweißt. Metallgelenke werden auf ihre Tauglichkeit geprüft, einzelne Klingen von allen Seiten begutachtet. Nach getaner Arbeit zieht er sich den neuen Handschuh über und fährt damit, von martialischen Geräuschen und mysteriöser Musik untermalt, durch einen Stoffvorhang. Auf den Messerschnitt folgt ein Filmschnitt, der den Vorspann beendet und die Handlung einleitet. Wir sehen ein Mädchen im weißen Nachthemd, das mit verschüchtertem Blick durch einen dunklen Heizungskeller irrt. Obwohl nun kalte Blautöne und Hell/Dunkel-Kontraste dominieren – in der anfangs gezeigten Werkstatt war es braunes Kolorit –, scheint der Raum sich vom vorherigen nicht so sehr zu unterscheiden, denn auch hier dampft und tropft es. Das Mädchen eilt Richtung Kamera, männliches Gekicher mischt sich unter diffuses Summen, jemand ruft: „Tina.“ Irgendwo klappert es, ein blökendes Schaf rennt über den Gang. Dem Zuschauer ist längst klar, dass es sich bei diesem surrealistischen Arrangement um ein von Tina geträumtes Szenario handelt. Ihr Weg führt sie auf Gerüste und vorbei an den ausrangierten Rohren, Ventilen und Kesseln einer alten Industrieanlage. Das eben noch verhaltene Gekicher steigert sich zum hämischen Lachen. Dann ist ein unangenehmes Quietschen zu hören. Freddy streift mit den Klingen seines Handschuhs über rostiges Metall. Schon wieder zerfetzt er den Stoffvorhang aus der Eingangssequenz. Dann nimmt er die Verfolgung auf. Rasch landet Tina in einer Sackgasse, vor ihr die lodernden Flammen eines Ofens. Abermals ist Blöken zu hören, nun ergänzt durch das Weinen eines Babys. Plötzlich schnellt Freddy hinter ihr empor, sie zuckt zusammen und – erwacht. Doch es ist ein böses Erwachen: Vier nebeneinander liegende Messerklingen haben ihr Nachthemd zerschnitten (0:00:10–0:03:42)44. Die Heterogenität der dargestellten Welt steht außer Frage, da der Film zwei verschiedene Sphären kombiniert. Auf der einen Seite haben wir den fantastischen Sachverhalt, dass Freddy Krueger, ein aufgrund eines Justizfehlers zuerst freigesprochener und dann vom wütenden Mob bei lebendigem Leib verbrannter Kindermörder, als Traumdämon zurückkehrt, um sich am Nachwuchs seiner Peiniger zu rächen. Dabei löst er die Grenze zwischen Realität und Traum auf: Sobald er einen Teenager im Traum tötet, stirbt er auch in der Wirklichkeit. Auf der anderen Seite ist die restliche Handlung an der erfahrungsgemäßen Tatsächlichkeit orientiert. Dass der tote Freddy Krueger in den Träumen argloser || 44 A Nightmare on Elm Street. Reg. Wes Craven (1984). Warner Bros. Entertainment.

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Schüler wieder aufersteht, scheint den Eltern der Protagonistin Nancy nachgerade absurd. Mitunter rückt der Film beide Weltsysteme visuell so eng zusammen, dass sie wie die Komponenten einer Versuchsanordnung wirken. Nach ihrem Alptraum greift sich Tina das über ihrem Bett hängende Kruzifix. Während sie es fest umklammert hält, ist bereits die Tonspur der nächsten Szene vernehmbar. Junge Mädchen singen im Chor: „One, two / Freddy’s coming for you…“. Der Schnitt erfolgt mit geringer Verzögerung. In weichgezeichneter Optik erblicken wir jetzt die infantilen Sirenen beim Seilspringen auf einem Rasen. Sie singen weiter: „… Three, four / Better lock your door / Five, six / Grab your crucifix / Seven, eight / Gonna stay up late / Nine, ten / Never sleep again.“ Noch während des Lieds schwenkt die Kamera auf die Straße, wo Tina mit ihren Freunden Nancy und Glen in einem Auto vorfährt. Nun verschwindet der Weichzeichner, die Konturen werden härter (0:04:03–0:04:30). Die Verbindung zwischen der ersten und zweiten Szene kommt zustande durch das von Tina festgehaltene Kreuz und die Empfehlung der Kinder, man solle sich zur Rettung vor Freddy ein Kruzifix schnappen. Der Anschluss zwischen der zweiten und dritten Szene wird durch den gleitenden und schnittfreien Übergang hergestellt. Auf diese Weise führt der Film nicht nur die Heterogenität der dargestellten Welt vor Augen; es wird außerdem anschaulich, wie durchlässig die Grenze zwischen kausaler Realität und final motiviertem Traumreich ist.45 Die Konsequenzen davon bekommt Tina in ihrem letzten Traum zu spüren: Sie verlässt das Haus, betritt den Garten. Freddy haucht ihren Namen und kommt in einer Gasse lachend auf sie zu, seine Arme sind zu meterlangen Tentakeln verformt. „Please, God“, fleht Tina. „This …“, ruft Freddy beflügelt und hält sich den Klingenhandschuh neben das vernarbte Gesicht, „… is God.“ Damit versichert er, dass ihre Bitte erhört wurde und dass der Gott ihrer geträumten Welt längst vor ihr steht. Die Unerschöpflichkeit seiner Möglichkeiten beweist Freddy durch seine Macht über Zeit und Raum. Binnen eines Augenblicks kann er von einer Seite der Straße auf die andere gelangen; er kann sich hinter einem dünnen Baumstamm verstecken und gleichsam unsichtbar werden; und er kann die geträumte Welt transzendieren: Im Traum wird Tina von Freddy regelrecht zerfleischt, woraufhin sie in der dargestellten Wirklichkeit an den geträumten Verletzungen stirbt (0:14:12–0:17:16). Nachdem ihre Freunde von Krueger ermordet wurden, sagt das final girl Nancy diesem providenziellen System den Kampf an. Ihr Ziel ist die Rückgewinnung geträumter Kontingenz, indem sie Freddy aus dem Traum in die Wirk|| 45 Vgl. Brittnacher (Anm. 1), S. 532.

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lichkeit zerrt und dort unschädlich macht. Nancy ist dabei noch aktiver als Laurie in Halloween. Verständlich, denn sie muss das doppelte Versäumnis ihrer Eltern und der Eltern ihrer Freunde ausgleichen. Erst haben sie den Mord an ihren Kindern nicht verhindert, dann haben sie mit ihrer Lynchjustiz ein „metaphysisches Ungeheuer“46 geschaffen. Jetzt greift Nancy zur Selbsthilfe und erfüllt laut Hans Richard Brittnacher das „uramerikanische Konzept eines wehrhaften, selbstgenügsamen und kämpferischen Individualismus“47. Dieser Individualismus sucht nach Möglichkeiten und günstigen Augenblicken. Er gründet im Pioniergeist der Siedler und umfasst Tugenden wie Emsigkeit, Umsicht, Kontrolle, handwerkliches Geschick und notfalls auch Gewaltbereitschaft.48 Sein Nährboden ist die Kontingenz einer unabsehbaren Welt. Entsprechend besonnen bereitet sich Nancy auf ihren Angriff vor (1:08:53– 1:09:56): Im Haus installiert sie Stolperseile, kleine Bomben und einen schwingenden Hammer. Nachdem sie Freddy im Traum an sich gerissen hat und vom Klingeln des minutengenau gestellten Weckers aufwacht, beginnt der Kampf außerhalb des Traums. Nancy zerschlägt eine Kaffeekanne auf Freddys Kopf, aktiviert die zuvor gebauten Fallen, übergießt den Gegner mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündet ihn an. Dennoch hat es Krueger geschafft, noch ins Schlafzimmer der Mutter einzudringen und sie zu töten. Als er auch Nancy an den Kragen will, raubt sie ihm seine Macht durch schiere Willenskraft. Sie sagt: „I know the secret now. This is just a dream. You’re not alive. This whole thing is just a dream. I want my mother and friends again. […] I take back every bit of energy I gave you. You’re nothing. You’re shit.“ Konsterniert probiert Freddy eine letzte Attacke, bei der er sich jedoch in Luft auflöst. Unmittelbar danach tritt Nancy mit ihrer Mutter vor die Haustür. Die Freunde fahren im Cabriolet vor, Nancy steigt ein. Auf einmal verschwimmen die Konturen, wieder ist das Bild weichgezeichnet. „You believe this fog?“, fragt Glen. „Oh, I believe anything is possible“, ruft Nancys Mutter. Das Faltverdeck des Autos schließt sich, es ist rot-grün gestreift – wie der Pullover von Freddy Krueger. Die Scheiben fahren automatisch hoch. Panik bricht aus. Der Wagen rollt davon, vorbei an einem Stück Rasen, auf dem drei Mädchen seilspringen und singen: „One, two / Freddy’s coming for you …“ Nancys Mutter schaut ihrer Tochter nach. Auf einmal schießt hinter ihr Freddys Krallenhand aus dem Türfenster und zieht sie ins Haus (1:17:30–1:25:40). In A Nightmare on Elm Street bestätigt sich abermals das providenzielle Gesetz des Slashers: „Das Böse kann

|| 46 Brittnacher (Anm. 15), S. 538. 47 Brittnacher (Anm. 15), S. 332. 48 Vgl. Brittnacher (Anm. 15), S. 332 f.

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nicht geheilt werden, das Böse kann auch nicht weggesperrt werden und es kann auch nicht getötet werden. Im Gegenteil, das Böse bleibt letztlich Sieger.“49 Daran ändert auch das ausdauernde Duell nichts, das sich das final girl mit dem Killer liefert. Intuitiv scheint es abwegig, den Schlusskampf als Duell zu bezeichnen, da der Begriff zuvörderst mit Kategorien wie Courage und Männlichkeit, Persönlichkeitswahrung und Satisfaktion, Antimaterialismus und Honneur verbunden ist.50 Noch im 19. Jahrhundert waren Duelle Ehrenzweikämpfe, in denen man nicht um ein handfestes Ergebnis stritt, sondern seine Ehre unter Beweis stellte. Es kam nicht darauf an, wer am schnellsten zog oder die kräftigsten Hiebe austeilte; wichtig war allein die Tatsache, daß sich beide Gegner einem vielleicht tödlichen Kampf stellten und auf diese Weise zu erkennen gaben, daß sie ihre ‚Ehre‘ höher schätzten als ihr Leben.51

Im Slasherkontext geht diese Definition an der Sache vorbei, da es dort im Duell ausschließlich um Sieg oder Niederlage geht. Die Kontrahenten sind ein Mann und eine Frau – nicht zwei Männer –, denen Ehrbeweise nichts, das Töten (im Fall des Killers) und Überleben (im Fall des final girl) hingegen alles bedeuten. Es kommt fraglos darauf an, wer am schnellsten zieht und die kräftigsten Hiebe austeilt; wichtig ist allein die Tatsache, dass sich beide Gegner einem definitiv letalen Kampf stellen und auf diese Weise zu erkennen geben, dass sie nichts höher schätzen als den Unterschied zwischen Leben und Tod. Diese Schlacht als Duell zu bezeichnen, hat trotzdem seine Berechtigung. Zum einen übernimmt das final girl jene Rolle, die zuvor der duellerprobte Westerner innehatte. Er ist ein notorischer Einzelgänger, schweigsam und pragmatisch meistert er das Leben in der Nähe der frontier.52 Bis heute gilt er, der „strong, silent type“53, in verschiedenen Kontexten als Männlichkeitsideal. Zum anderen stellt das Duell geschichtlich gesehen eine „‚Inszenierung‘ im Span-

|| 49 Hroß (Anm. 42), S. 83. 50 Vgl. Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991, S. 11. 51 Frevert (Anm. 50), S. 11. 52 Vgl. Brittnacher (Anm. 1), S. 541. 53 Der aufgrund von Panikattacken um seine Virilität und Chauvipotenz besorgte Mafiaboss Tony Soprano sagt gleich in der ersten Folge der Serie The Sopranos zu seiner Psychologin: „Whatever happened to Gary Cooper? The strong, silent type? That was an American. He wasn’t in touch with his feelings.“ The Sopranos. Reg. David Chase u. a. (1999–2007). Home Box Office. Episode 1: „Pilot“, 0:27:02–0:27:11.

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nungsfeld zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit“54 dar. Semantisch deckt es also genau den Bereich ab, der hier für den Slasher in Anspruch genommen wird. Im Mittelalter gab das Duell Auskunft über das Gottesurteil, der Ausgang wurde als höheres Eingreifen gedeutet. Demgegenüber ist das im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gefällte Urteil eines Zweikampfs zunehmend paradox. Das Duell ist „weder zur Gänze der Verantwortung eines allmächtigen Gottes anvertraut oder auferlegt; noch der Entscheidungsautorität der irdischen Gerichte“55. Diese historische Duellsituation wird im Slasher reaktiviert und ästhetisch gewendet, denn dort treten jene Figuren, die beide Konzepte der Ordnungsstiftung inkarnieren, direkt gegeneinander an – der gottgleiche Killer und das um Kontingenz kämpfende final girl.

3 Das immer Gleiche immer anders – Serialität des Slashers Es versteht sich von selbst, dass der Killer, als Organisator und Verwalter der providenziellen Welt, das Duell überlebt. Blessuren, auch ernstere, sind erlaubt; alles, was darüber hinausgeht, ist tabu. Michael und Freddy – aber ebenso Jason Voorhees aus Friday the 13th und mit Abzügen Leatherface aus The Texas Chain Saw Massacre – metzeln nicht neunzig Minuten lang einen Jugendlichen nach dem anderen nieder, um schließlich selbst eliminiert zu werden; sie sind nicht mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet, um ausgerechnet dem langweiligsten Mauerblümchen des Films zu unterliegen. Vielmehr verstärkt ihre Unsterblichkeit die sie umgebende Aura des Geheimnisvollen. Ganz so unmysteriös und in allen Einzelheiten plakativ wie seine Gegner ihn gern hätten, ist der Slasher nämlich keinesfalls. Schon die Wortkargheit des Monsters ist ein abgründiges Enigma, das im Zeichen der Brutalität steht, denn von alters her birgt Verschwiegenheit etwas Gewaltsames in sich. Das geht etwa „aus dem Gebrauch der Gestalt der Sphinx als Siegel bei Kaiser Augustus hervor: Das Geheimnis bringt nur zum Sprechen, wer das Bild zerstört. Das Verhältnis von Geheimnis und Gewalt [H. i. O.] wird hier in einem einfachen medialen Zusam-

|| 54 Gerhard Neumann: „‚Der Zweikampf‘. Kleists ‚einrückendes‘ Erzählen“. In: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Kleists Erzählungen. Stuttgart 2007, S. 216–246, hier S. 230. 55 Neumann (Anm. 54), S. 231.

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menhang sinnfällig.“56 Es ist ein alter Topos der abendländischen Ästhetik, dass es sich beim Dechiffrieren eines Geheimnisses um einen rabiaten Akt handelt.57 Indem das final girl die Gewalt des Killers mit Gegengewalt beantwortet, wagt sie auch einen hermeneutischen Versuch: Sie will verstehen, mit was für einem geheimnisvollen Wesen sie es zu tun hat. Deswegen begreift Laurie erst nach dem letzten Gefecht, dass Michael tatsächlich der Schwarze Mann ist („It was the boogeyman“). Und daher lüftet auch Nancy das Geheimnis um Freddy im Anschluss der Schlacht, nicht im Vorfeld („I know the secret now. This is just a dream. You’re not alive“). Überdies garantiert die Unsterblichkeit des Protagonisten, dass es im nächsten Teil der jeweiligen Reihe genauso weitergeht wie bisher. Jene in den Fortsetzungen vorgenommenen Variationen, etwa ein erhöhter body count (Halloween II, Rick Rosenthal, 1981) oder die Fertigkeit des Bösewichts, das Verhalten seiner Opfer zu kontrollieren (A Nightmare on Elm Street Part 2. Freddy’s Revenge, Jack Sholder, 1985), können nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Zentrum nach wie vor die serielle Darstellung von Tötungsakten steht. Durchweg ordnet sich die Narration der Reihung unter und führt ohne geschlossenen Rahmen mit Exposition, Steigerung, Peripetie, retardierendem Moment und Katastrophe lediglich von einem markanten Punkt zum nächsten.58 Dieser Fokus auf spezielle Stellen erfolgt auf Kosten einer logisch nachvollziehbaren Entwicklung sich auseinander ergebender Ereignisse. Bei zahlreichen Slashern transzendiert das Prinzip des Nacheinanders die Diegese, indem die Filme selbst in Serie gehen.59 Halloween bringt es bislang auf sieben Sequels, ein Remake und ein Sequel des Remakes, A Nighmare on Elm Street auf acht Folgefilme. In seinem Text über die Innovation im Seriellen erinnert Umberto Eco daran, dass die Fertigung von Nachbildungen eines Prototyps bereits in der Antike unter den Termini ars oder techne stattfand – das „Qualitätsurteil wurde anhand des Modells abgegeben“60. Dies ignorierend, hat uns

|| 56 Michael Angele: „Geheimnis. Vom mystischen Schweigen zum ironischen Erzählen“. In: Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt a. M. 2002, S. 58–73, hier S. 61. 57 Vgl. Angele (Anm. 56), S. 61. 58 Vgl. Fritz/Stewart (Anm. 43), S. 12; vgl. außerdem Heike Klippel: „Das Unwesen. Subjektivität und Geschlechtlichkeit im Horrorfilm“. In: Jochen Fritz/Neil Stewart (Hgg.): Das schlechte Gewissen der Moderne. Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur und Film nach 1968. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 211–229, hier S. 214. 59 Vgl. Fritz/Stewart (Anm. 43), S. 12. 60 Umberto Eco: „Die Innovation im Seriellen“. In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München 1988, S. 155–180, hier S. 156.

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die moderne Ästhetik im Glauben an einen unzerstörbaren Konnex von Innovation und Erlesenheit, von Neuem und Niveau, von Hermetik und Raffinement, von Einmaligkeit und Kunst erzogen. Darum erscheinen uns Formen von Serialität erst dann als hochwertig, wenn sie mit Wahrnehmungsgewohnheiten brechen, sich als sperrig erweisen und Neuland ausloten. Der Reputation des Slashers gereicht all das zum Nachteil. Kurz nach seiner Entstehung hat sich das in unserer Gegenwartskultur wichtige Kreativitätsdispositiv herausgebildet. Es macht Kreativität nicht nur zum persönlichen Begehren, sondern auch zum gesellschaftlichen Imperativ, indem es sich auf ganz heterogenen Feldern Bahn bricht: „in der kulturellen Prägekraft der creative industries, der Kreativitätspsychologie, dem erweiterten Starsystem, der globalen postmodernen Kunst sowie der politischen Planung der creative cities.“61 Dergestalt vollzieht sich eine Verfeinerung der Sensibilität für alles ästhetisch Neue. Kunstwerke, Inszenierungstechniken oder Ereignisse, „die vom Betrachter als neuartig wahrgenommen werden, erscheinen am ehesten des Interesses wert und haben eine Chance, eine Zeitlang in dessen Lichtstrahl zu verbleiben, um einen ästhetischen Effekt zu produzieren“62. Ob die flüchtige Aufmerksamkeit des Rezipienten anschließend in eine anhaltende Wertschätzung des ästhetischen Artefakts übergeht, hängt von kollektiven Diskursmechanismen ab.63 Slasher-Sequels orientieren sich keineswegs am ästhetischen Gebot von Originalität und Kreativität. Gleichwohl entziehen sie sich dem Regiment des Neuen auch nicht vollständig. Ihre serielle Strategie lässt sich mit Beate Ochsner folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Wiederholung Desselben mit dem Anschein des Neuen.“64 Das ‚Was‘ ist bekannt (Teenager werden getötet), das ‚Wie‘ ist immer neu (Mordwerkzeug, Morddramaturgie, Blutrünstigkeit). Die jeweiligen Handlungsgrenzen deuten stets auf ein „potentielles Ende wie auch die mögliche Wiederaufnahme und Fortführung des Stoffes“65. Allerdings ist die Serialität nicht der Makel, mit dem man dem Slasher argumentativ den Garaus machen kann; vielmehr ist sie sein spezifischer ästhetischer Wert, sowohl im einzelnen Film als auch innerhalb ganzer Filmreihen. Damit soll nicht die breite Palette von qualitativ unterernährten Fehlschlägen || 61 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2013, S. 53. 62 Reckwitz (Anm. 61), S. 331. 63 Vgl. Reckwitz (Anm. 61), S. 331 f. 64 Beate Ochsner: „Serial Killer oder: Zum Prinzip der Serialität“. In: Jochen Fritz/Neil Stewart (Hgg.): Das schlechte Gewissen der Moderne. Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur und Film nach 1968. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 163–177, hier S. 169. 65 Ochsner (Anm. 64), S. 170.

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des Genres gerechtfertigt werden. Wohl aber sei darauf hingewiesen, dass Wiederholungsschemata im künstlerischen Kontext seit jeher gang und gäbe sind. Man findet sie in der Architektur, in der Lyrik, in der Musik, in der Malerei, im Film und generell im postmodernen Spiel von Intertextualität und Zitat, von Referenz und Reverenz. Immer etablieren Wiederholungen eine Ästhetik des Aufrechterhaltens, keine des Übertrumpfens. Erst die Befreiung von angestrengten Novellierungen erlaubt die Entdeckung struktureller Rhythmen, erst die Serie öffnet den Blick für Variationen. So gesehen sind die Klassiker des Slashers weniger agil, als man intuitiv vermuten würde. Unaufgeregt besinnt sich dieses Genre auf sich selbst, auf seine Regeln und narrativen Muster. Damit lädt es gerade nicht zu vorschneller Ignoranz oder pädagogisch motivierten Ressentiments ein, sondern, ganz im Gegenteil, zu skrupulöser Betrachtung.

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276 | Kai Spanke

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| Paradigma III: Raum und erzählte Welten

Leitartikel Andreas Mahler

Raum und ‚erzählte‘ Welt Zyklik – Linearität – Proliferation

1 Raum und Welt Kulturen basieren auf Geschichten. Es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne sie. Nicht so sehr scheint der Mensch allein schon gekennzeichnet durch das Vermögen der Sprache als vielmehr durch deren gezielte (narrative) Nutzung zum Finden, Erfinden, Bearbeiten, Wiederholen, ständigen Verbreiten, zum ‚Erzählen‘ und Weitererzählen von Geschichten.1 Von allen Merkwürdigkeiten, welche wir auf andere, womöglich gar außerirdische intelligente Wesen ausstrahlen würden, wäre dementsprechend diese wohl eine der rätselhaftesten und am schwersten erklärbaren: Warum in aller Welt gibt es auf der Erde so viele Geschichten, die ganz offenkundig nicht wahr sind.2 Offensichtlich eignet dem Menschen ein fundamentales Fiktionsvermögen, aber, damit einhergehend, auch eine fundamentale Fiktionsbedürftigkeit, ein Fiktionsbedürfnis.3 In solcher Sicht ist der Mensch in erster Linie ein geschichtenerzählendes Wesen; er ist ein homo narrans, der unablässig Geschichten produziert und rezipiert,

|| 1 Der Begriff des ‚Erzählens‘ meint im Rahmen des vorliegenden Beitrages in metaphorischer Sicht lediglich ein ‚Modellieren‘, ein ‚Vermitteln‘ von Geschichten, und nicht im engeren, eigentlichen, nicht-figurativen Sinn den Akt fingierter oder realer mündlicher Rede, vermittels dessen eine Geschichte verbal an einen Hörer/Leser gebracht werden soll. Entsprechend bezeichnet die Rede von ‚erzählten‘ Welten das inhaltliche Resultat einer wie auch immer gearteten Vermittlung und nicht den Prozess einer im engeren Sinne auch ‚erzählerischen‘ Vermittlung. Insofern steht im Titel ‚erzählte‘ Welt stellvertretend für eine ‚vermittelte‘ bzw. ‚modellierte‘ Welt; insofern wäre es auch unzulässig, vom Resultat (einem ‚Erzählten‘) unmittelbar auf einen vermeintlich zugehörigen Prozess (ein ‚Erzählen‘) zu schließen. 2 Vgl. Jurij M. Lotman: „Die Entstehung des Sujets – typologisch gesehen“ [„Proischoždenie sjužeta v tipologičeskom osveščenii“, 1973]. In: Ders.: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Übers. v. Michael Dewey u. a. Hg. v. Klaus Städtke. Leipzig 1981, S. 175–204, hier S. 175. 3 Zur Frage „Warum sind wir fiktionsbedürftig?“ siehe Wolfgang Iser: „Anglistik. Eine Universitätsdisziplin ohne Forschungsparadigma?“ In: Poetica 16 (1984), S. 276–306, hier S. 301. https://doi.org/10.1515/9783110626117-014

282 | Andreas Mahler

mit anderen Worten: der von Geschichten ‚lebt‘ und sich auf diese Weise die Welt erklärt oder gar allererst macht bzw. konfiguriert.4 So wie Kulturen auf Geschichten basieren, so basieren Geschichten ihrerseits auf Vorstellungen vom Raum.5 Wohl kaum eine Geschichte kommt aus ohne die Kategorie des Raumes, sei es topografisch ganz konkret in spezifisch handlungslokalisierender Form, sei es eher topologisch abstrakt in imaginationsbezogener Veranschaulichung der Handlungslogik. Dies scheint geschuldet unserer grundsätzlichen Verortung. Anthropologisch liefert uns als Menschen die Kategorie Raum eine der basalsten Orientierungen in der Welt.6 Gravi|| 4 Zur kulturellen Zentralstellung eines homo narrans siehe in jüngerer Zeit Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012, vor allem S. 9–25; Koschorke bezieht sich dabei als möglichen ‚Ahnherrn‘ vor allem auf Walter Fisher: Human Communication as Narration. Columbia 1984. 5 Für die ‚Zeitkunst‘ des Erzählens gibt es in der Regel nicht allzu viel zum Raum; für einen knappen Überblick über sein weitgehendes Ausbleiben in gängigen Narrativik-Einführungen siehe Ansgar Nünning: „Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven“. In: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hgg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 33–52, hier vor allem S. 33–35, wie auch die dortige ‚Einführung‘ der beiden Herausgeber. Nach den narratologischen Ebenen lässt sich zunächst grundsätzlich scheiden in ‚erzählten Raum‘ (Ebene der histoire), ‚Erzählraum‘ (Ebene des discours bzw. der narration) und ‚Textraum‘ bzw. ‚Schriftraum‘ (Ebene des materialen Textes bzw. des récit); vom ersteren ist mit Blick auf die ‚erzählten Welten‘ hier die Rede. Zum Raum allgemein siehe die Beiträge in Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hgg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, vor allem mit Blick auf Literatur den Teil zu den ‚Ästhetischen Räumen‘, S. 449–545; zu seiner wissenschaftlichen Bearbeitung in den diversen Disziplinen siehe Stephan Günzel: Raumwissenschaften. Frankfurt a. M. 2009 sowie Ders. (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010. Zur expliziten Behandlung von ‚erzählten Welten‘ siehe Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 123–134; zu einer frühen Unterscheidung etwa in ‚gestimmten Raum‘, ‚Aktionsraum‘ und ‚Anschauungsraum‘ siehe Gerhard Hoffmann: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart 1978, vor allem S. 55–108 (dort eine Fülle weiterer Differenzierungen); zu einer nützlichen Differenzierung in ‚physisch begehbare Räume‘ und imaginäre (‚metaphorische‘) Räume siehe Elisabeth Bronfen: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus „Pilgrimage“. Tübingen 1986; für einen knappen und informativen Überblick zum Raumproblem in der Narrativik aus heutiger Sicht siehe MarieLaure Ryan: „Space“. In: Peter Hühn u. a. (Hgg.): Handbook of Narratology. Berlin/New York 2009, S. 420–433, sowie das Raum-Kapitel in Koschorke (Anm. 4), S.111–148. 6 „Auf eine sehr grundsätzliche, aber schwer faßbare Art und Weise ist unsere eigene Identität unlösbar mit der Kenntnis der räumlichen Umwelt verbunden.“ Roger M. Downs/David Stea: Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen [Maps in Minds: Reflections on Cognitive Mapping, 1977]. Übers. v. Daniela u. Erika Geipel. Hg. v. Robert Geipel. New York 1982, S. 49.

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tation, Gesichtsfeld, Furcht und Bedenken vor dem Unbekannten spannen uns in ein Feld von Welterfahrungen, welches alles Erlebbare zunächst einmal lokalisierbar, projizierbar werden lässt im Raum. Ausgehend von uns als ‚Origo‘, als uns selbst durch unsere Weltwahrnehmung und nicht zuletzt durch die Rede zugespieltem illusionären Weltenzentrum, entspannt sich vor uns ein Netz möglicher Vektoren, potentieller Relationen.7 Dies ist der Gedanke vom Raum als zunächst nichts anderem als einer „heterogenisierenden Relationalität“.8

1.1 Raumorientierung und Weltsemantik Dieser Gedanke vom Raum als einer sprachinduzierten (mathematischen) Menge von (heterogenen) Möglichkeitsvektoren kristallisiert sich am sinnfälligsten in der Sicht von ‚Kultur‘ als „Semiosphäre“9. Dies hat der Semiotiker und Kulturwissenschaftler Jurij M. Lotman am eingängigsten theoretisiert: Am Beginn jeder Kultur steht die Einteilung der Welt in einen inneren („eigenen“) und einen äußeren Raum (den der „anderen“). Wie diese Einteilung interpretiert wird, hängt vom jeweiligen Typus der Kultur ab, die Einteilung an sich aber ist universal. Die Grenze kann zwischen Lebenden und Toten, zwischen Sesshaften und Nomaden oder zwischen Stadt und Steppe gezogen werden, sie kann staatlicher, sozialer, nationaler, konfessioneller oder anderer Natur sein. Es ist frappierend, in welchem Maß sich die Ausdrücke gleichen, die ganz verschiedene Zivilisationen zur Beschreibung der Welt jenseits der Grenze finden. Ein Mönch und Chronist im Kiev des 11. Jahrhunderts etwa beschreibt das Leben der anderen, noch heidnischen ostslawischen Stämme so: „Die Derevljanen aber lebten auf tierische Art, wie das Vieh lebend; und sie töteten einander und aßen alles Unreine. Ehen gab es bei ihnen nicht, sondern sie raubten die Mädchen. Die Radmičen und Vjatičen und Severjanen hatten einerlei Sitten: sie lebten im Walde wie jegliches wildes Getiere, aßen alles Unreine und führten zuchtlose Reden vor Vätern und Schwiegertöchtern. Ehen gab es bei ihnen nicht, sondern Spielplätze zwischen den Dörfern. Da kamen sie zusammen auf den Spielplätzen zu Tänzen und zu allerhand teuflischen Liedern.“ Und

|| 7 Zur Origo-Gebundenheit unserer Weltwahrnehmung siehe Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934]. Stuttgart/New York 1982, S. 102–120. 8 Zu dieser gegen vorschnelle Substantialisierungen oder auch scheinplausible Vereindeutigungen, wie etwa diejenige der Container-Metapher, gerichtete, ‚allgemeinste‘ Konzeptualisierung von Raum siehe die sehr informative, aus dominant kunsthistorischer Perspektive unternommene Zusammenfassung bei Michaela Ott: „Raum“. In: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe. 6 Bde. Stuttgart/Weimar 2000–2005, Bd. VI, S. 113–149; das Zitat S. 113 u. ö. 9 Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur [Vnutri mysljaščich mirov, 2000]. Übers. v. Gabriele Leupold/Olga Radetzkaja. Hg. v. Susi K. Frank/ Cornelia Ruhe/Alexander Schmitz. Berlin 2010, S. 161–290.

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so beschreibt ein christlicher Chronist in Franken die Sitten der heidnischen Sachsen: „Sie sind von wildem Schlag, Teufelsverehrer und Feinde unseres Glaubens, sie achten weder menschliche noch göttliche Gesetze und halten das Verbotene für erlaubt.“ In den letzten Worten zeigt sich das spiegelbildliche Verhältnis von „unserer“ und „anderer“ Welt: Was bei uns verboten ist, ist bei den anderen erlaubt.10

Was Lotman hier skizziert, ist die allenthalben praktizierte, auf kulturtypische Weise differentiell identitätsstiftende wie -schaffende Entgegensetzung und Gegenüberstellung eines Innen- oder Nahraums zu einem Außen- oder Fernraum und dessen unmittelbare Semantisierung zum Gegensatzpaar von ‚eigen‘ vs. ‚fremd‘, ‚Vertrautem‘ vs. ‚Unbekanntem‘, bevor mit der Spreizung in ‚Verbotenes‘ vs. ‚Erlaubtes‘ weitere Semantisierungen einsetzen, welche, wie die zitierten Chroniktexte zeigen, den Raum des Eigenen zum ‚zivilisierten‘, ‚menschlichen‘, ‚reinen‘, ‚gläubigen‘, ‚ehrhaften‘, ‚züchtigen‘ stilisieren und zugleich in binär oppositiver Projektion den des Fremden als ‚wilden‘, ‚barbarischen‘, ‚tierischen‘, ‚unreinen‘, ‚gottlosen‘, ‚liderlichen‘ und ‚unzüchtigen‘ imaginieren bzw. immer schon zu wissen vorgeben. All dies ist zudem eingelassen in eine noch generellere räumliche Erfahrung. Neben der einzelkulturstiftenden Absetzung von einem projizierten Anderen erleben wir Räumlichkeit – ‚biosphärisch‘ – zudem noch ganz basal körperlich: Der Mensch ist umgeben von einem realen, naturgegebenen Raum. Konstanten wie die Erdumdrehung (die Bahn der Sonne am Himmel), die Bewegung der Himmelskörper, die Zyklen der Natur haben unmittelbaren Einfluss darauf, wie der Mensch die Welt in seinem Bewusstsein modelliert. Nicht minder wichtig sind die physischen Konstanten des menschlichen Körpers, die ein bestimmtes Verhältnis zur Außenwelt vorgeben. Die relative Größe seines Körpers führt dazu, dass die Welt der Mechanik mit ihren Gesetzen dem Menschen „natürlich“ erscheint, während er sich die Welt der Partikel oder kosmischen Räume nur spekulativ vorstellen kann und seinem Denken dafür in gewisser Weise Gewalt antun muss. Das Zusammenspiel zwischen der Erdanziehungskraft, dem durchschnittlichen Gewicht des Menschen und seiner vertikalen Körperhaltung hat den in allen Menschheitskulturen vorhandenen Gegensatz von oben und unten hervorgebracht, mit den dazugehörigen inhaltlichen (religiösen, sozialen, politischen, moralischen usw.) Interpretationen. Man kann sich fragen, ob der Satz „Er hat das Höchste erreicht“ auch für

|| 10 Lotman (Anm. 9), S. 174 f. Zum Gedanken eines ‚Monosemierungsgebots‘, wonach das Fremde auf wenige, wo nicht ein einziges, oppositiv gesetztes Merkmal reduziert wird, siehe auch Andreas Mahler: „Venedig als Xenotopos in der Literatur des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts“. In: Volker Barth/Frank Halbach/Bernd Hirsch (Hgg.): Xenotopien. Verortungen des Fremden im 19. Jahrhundert. Berlin 2010, S. 209–221, hier S. 211–213.

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eine denkende Fliege oder für jemanden, der in einer schwerelosen Umgebung aufgewachsen ist, ohne weiteres verständlich wäre.11

Bestimmt also die Semiosphäre als Ausprägungsraum von ‚Kultur‘ eine grundsätzliche Innen-Außen-Orientierung mit einer konnotativen Spezifizierung in ‚vertraut‘ vs. ‚fremd‘, ‚sicher‘ vs. ‚gefährlich‘, so scheint die Biosphäre, die ‚Natur‘ des Menschen, bereits aufgrund der Erdanziehungskraft und der Unzugänglichkeit der Himmelssphären vorgängig eine Oben-Unten-Ausrichtung zu suggerieren, welche ihrerseits konnotativ aufgeladen ist mit ganz allgemeinen semantischen Werten wie ‚Zwang‘ vs. ‚Freiheit‘, ‚Last‘ vs. ‚Erleichterung‘, ‚schlechter‘ vs. ‚besser‘. Zu diesen beiden Achsen des ‚Innen‘ – ‚Außen‘ wie des ‚Oben‘ – ‚Unten‘ kommt, wie Karl Bühler eindringlich gezeigt hat, sodann noch eine dritte hinzu, welche sich unserer anthropologisch bedingten Wahrnehmungsperspektive im Raum verdankt. Als „Sehtiere“12, aber zugleich auch nicht ausschließlich solche, so Bühler in seinen Überlegungen zur Deixis am Phantasma, nehmen wir zwar dominant über die Augen ‚Wirklichkeit‘ wahr, sind aber zugleich auch über die anderen Sinne ihr gegenüber immer schon dergestalt gestellt, dass wir allein durch unseren Wahrnehmungsapparat „Raumorientierung“13 über das, was Bühler im Anschluss an die Physiologen seiner Zeit „Körpertastbild“ nennt, erlangen und sie zugleich wiederum in Kommunikation mit anderen flexibel verschieben und übersetzen können: Wenn derselbe Mensch Wörter wie vorne – hinten, rechts – links, oben – unten verwendet, so wird eine neue Tatsache offenbar, die Tatsache nämlich, daß er in Relation zu seiner optischen Orientierung auch seinen Körper verspürt und zeigend einsetzt. Sein (bewußtes, erlebtes) Körpertastbild steht in Relation zum Sehraum. Die Raumorientierung kann nirgendwo bei Tier oder Mensch eine Angelegenheit des isoliert gedachten Gesichtssinns allein sein. Sonst verständen wir eine Menge wohlbekannter Tatsachen nicht. Wir wissen vom Menschen, daß Daten des Gesichts-, Tast- und Gehörsinns zusammen von jenem bereits genannten Registrierapparat aufgenommen und verwertet und daß von bestimmten

|| 11 Lotman (Anm. 9) S. 175. Lotman konstruiert seine Theorie von der Semiosphäre in enger Anlehnung an den Gedanken der von dem renommierten russischen Biologen Vernadskij so genannten ‚Biosphäre‘; zu dessen nach wie vor bestehender Aktualität siehe die rezente Übersetzung: Vladimir I. Vernadskij: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft [Biosfera, 1926]. Übers. v. Felix Eder/Peter Krüger. Hg. v. Wolfgang Hofkirchner. Frankfurt a. M. 1997. Wo also die Biosphäre Sonnenenergie in physikalische und chemische Energie verarbeitet, verwandelt die Semiosphäre über Texte beständig geistige Energie in andere geistige Energie. 12 Bühler (Anm. 7), S. 127. 13 Bühler (Anm. 7), S. 128.

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Eigenbewegungen unseres Kopfes und Körpers her noch einmal eigene Beiträge, Beiträge der sogenannten Kinästhesis dort mit verbucht werden.14

Hieraus entwickelt Bühler die jeweiligen Orientierungssysteme der „Kopfkoordinaten“ wie auch der „Brust- bzw. Beckenkoordinaten“15. Sie verleihen der theoretisch nach allen Seiten offenen Origo eine ihnen immer schon eingeschriebene perspektivische Zurichtung und fügen über unsere körperliche Ausrichtung dem ‚Innen‘ – ‚Außen‘, ‚Oben‘ – ‚Unten‘ noch so etwas wie ein ‚Vorne‘ – ‚Hinten‘ bzw. ‚Nähe‘ – ‚Ferne/Weite‘ hinzu. Weltorientierung vollzieht sich demnach für uns basal topologisch (oder in Bühler’scher Begrifflichkeit „topomnestisch“ über Vektoren im Raum. Sie ist grundsätzlich in einem ersten Zugriff subjektbezogen „egozentrisch“, aber zugleich stets situativ wandelbar, verschiebbar, objektbezogen oder ‚symbolisch‘ anpassbar.16 Sie verwandelt die Kontingenz ‚heterogenisierender Relationalität‘ in begreifbare, wo nicht begehbare, Vorstellung17: Sie übersetzt räumliche Kontingenz in ein stets auszubildendes, stets auszuverhandelndes räumliches Imaginäres; sie verwandelt potentiell allfällige Heterogenisierung in einen möglichen Vorschlag der Homogenität, vektoriale Entropie in welterklärende, eigentlich allererst weltkonstituierende Gerichtetheit.

1.2 Raumsprache und Weltmodellierung In diesem Sinn erscheint ‚Welt‘ als zeitweilig plausibel gemachter, zumindest im Ansatz ‚homogenisierter‘ Raum: als Vorschlag einer modellierten Ordnung, welche aus der Kontingenz des Beobachtbaren einen vereinheitlichenden ‚Sinn‘ zu ziehen sucht, als Zurichtung ungeordneter Gegebenheit auf ein interpretativ konstruiertes Ziel. Dies ist der (wissenssoziologische) Gedanke von der Konstruktion der Wirklichkeit: „Jede gesellschaftliche Wirklichkeit ist gefährdet und jede Gesellschaft eine Konstruktion am Rande des Chaos.“18 In anderen Worten: Gesellschaft (oder auch Kultur) ist immer schon Strukturierung (oder wenigstens Strukturierungsversuch) eines Chaos (allemal prozessual bleibend,

|| 14 Bühler (Anm. 7), S. 129 (H. i. O.). 15 Bühler (Anm. 7), S. 131. 16 Bühler (Anm. 7), S. 131. 17 Zum Begriff des ‚physisch begehbaren Raums‘ siehe Bronfen (Anm. 5), S. 25–54. 18 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie [The Social Construction of Reality, 1966]. Übers. v. Monika Plessner. Frankfurt a. M. 1984, S. 111.

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allerdings mit reifizierendem, verdinglichendem Effekt), sie ist dessen sinnhaft relationierende Ordnung, modellierende Kreation einer Semiosphäre. Solche Konstruktion vollzieht sich individuell bereits in den Phasen der Menschwerdung, in denen ich mir als Kind im ständigen Dialog mit anderen zunehmend begreiflich (und erzählbar) zu machen suche, was andere (und folgerecht sodann auch ich) für „die Welt“ halten.19 Sie vollzieht sich kollektiv in Kulturen, die sich gemeinschaftlich einen Konsensraum schaffen bzw. ‚basteln‘ (eben genau eine sie charakterisierende Semiosphäre), in welchem zu ratifizierende Grundannahmen als Setzungen der Einvernahme instituiert und sogleich immunisierend in die Latenz verschoben werden, um deren Gefährdung durch beständige Infragestellung zu vermeiden. Auf diese Weise entsteht uns die Leitfiktion einer „objektive[n] Welt“20: die epistemologisch geführte Ingestaltziehung eines kollektiven Imaginären in eine gemeinschaftlich geteilte, als ‚Welt‘ und ‚Wirklichkeit‘ praktizierte Fiktion.21 Diese wird von uns erfahren, sie wird uns erzählt, wir erzählen sie uns selbst, und wir erzählen sie anderen. Weil diese aber eine in Verdeckung zu haltende Fiktion ist, ist sie stets prekär und bedroht, und sie steht unter dem ständigen Verdacht, uns mehr zu täuschen denn zu helfen. Entsprechend bilden wir uns zugleich einen Cordon von ‚falschen‘, auch möglichen Geschichten, um darüber das von uns für ‚wirklich‘ Gehaltene einkreisend zu garantieren: D. h., die vielen in Kulturen kursierenden ‚falschen‘ Geschichten scheinen oftmals nur deshalb zu existieren, weil sie so in der Lage sind, die eine ‚falsche‘ ‚wahre‘ zu immunisieren, ihre ‚Falschheit‘ zu verdecken, ihren Konstruktcharakter tunlichst und effektiv in der Latenz zu halten.22 Dies alles tun wir semiosphärebedingt mit Sprache im Rekurs auf eine uns aufgrund unserer Origo-gestellten, zentrumsgläubigen Befindlichkeit in der || 19 Berger/Luckmann (Anm. 18), S. 61–72. 20 Berger/Luckmann (Anm. 18), S. 63. 21 Zum ‚Fiktiven‘ als Ingestaltziehung eines numinosen ‚Imaginären‘ mit den Mitteln eines zuhandenen ‚Realen‘ siehe Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993, vor allem S. 20; zu einem ‚gesellschaftlichen Imaginären‘ als kultureller Ingestaltziehung eines immer unzugänglich bleibenden ‚radikalen Imaginären‘ siehe Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie [L’Institution imaginaire de la société, 1975]. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 1990. 22 Dies wäre nochmals die Frage nach dem Sinn der vielen unwahren Geschichten bei Lotman (Anm. 2), S. 175; zum Versuch einer Weiterentwicklung dieses Gedankens über den Ausweis einer ‚Katalysator‘-Funktion ‚falscher‘ Geschichten für die Stabilisierung der vermeintlich ‚wahren‘ siehe Andreas Mahler: „Semiosphärische Störungen. Über den Sujettext als Kulturkatalysator“. In: Susi K. Frank/Cornelia Ruhe/Alexander Schmitz (Hgg.): Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited. Bielefeld 2012, S. 193–216.

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Welt insgeheim zugespielte „Sprache räumlicher Relationen“23. Über die Deiktika nutzen wir die räumliche Vektorialität (‚hier‘ – ‚dort‘) zur Artikulation unserer Orientierung und setzen zugleich stets die Beobachtungen zu uns in Relation: ‚das liegt mir fern‘, ‚sie ist ganz oben‘, ‚wer trinkt, sinkt‘, ‚die eigentliche Bedrohung kommt von rechts‘, ‚sie hat sich endlich rausgewagt‘, ‚hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine kluge Frau‘, ‚Ihr Vorschlag hat mich hinterrücks erwischt‘ oder ‚sein Vorteil ist die Hinterlist‘ sind allesamt Aussagen, welche einen an sich nicht-räumlichen Sachverhalt über räumliche Vorstellungen auszudrücken suchen.24 Es sind dies Aussagen, welche allererst räumliche Koordinatenachsen nutzen zur Beschreibung unserer ‚Welt‘ und diese, indem sie sie so beschreiben, zugleich auch als solche plausibilisierend konstituieren. Unsere sprachliche Welterzeugung ruht mithin entscheidend auf räumlichen Koordinaten.25 Dies tut sie sowohl als ‚Welt‘ vermeintlich abbildendes (‚primär modellierendes‘) Konstrukt als auch als solche ‚Welt‘ bearbeitendes, infrage stellendes, in Verhandlung treibendes, das vermeintlich Bestehende affirmierendes, alterierendes (‚sekundär modellierendes‘) Gegenkonstrukt.26 Als Konstrukt, als primäre Modellierung, ist Welterzeugung vornehmlich interessiert am Prinzip, an Stabilisierung (an Assimilationsversuchen).27 Ihre Ausrichtung ist im wesentlichen ‚diskursiv‘: D. h., sie etabliert ‚Welt‘ beschreibende und plausibilisierende || 23 Jurij M Lotman: Die Struktur literarischer Texte [Struktura chudožestvennogo teksta, 1970]. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 313. 24 Vgl. Lotman (Anm. 23), S. 301; es wäre dies ein menschlicher Grundgestus permanenter ‚Übersetzung‘ von Nicht-Räumlichem in Räumlichkeit. Zum prominent gesetzten Übersetzungsbegriff bei Lotman siehe Lotman (Anm. 9), S. 163–202. 25 Solches geschieht etwa über Rahmenbildung, Differenzziehungen, Ausgrenzungen, logische Operationen; zu einigen typischen Weisen menschlicher Welterzeugung siehe Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung [Ways of Worldmaking, 1978]. Übers. v. Max Looser. Frankfurt a. M. 1990, S. 20–30. 26 Zur Unterscheidung von primärer und sekundärer Modellierung siehe Lotman (Anm. 23), S. 22–27. 27 Die prozessuale Dynamik von Assimilation und Akkommodation entstammt dem genetisch-anthropologischen Modell von Piaget, siehe Jean Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie [Introduction à l’épistémologie génétique, 1970). Übers. v. Friedhelm Herborth. 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1988; zum Versuch einer Übertragung dieses Gedankens auf historische Sujetwandelprozesse siehe Andreas Mahler: „Welt Modell Theater. Sujetbildung und Sujetwandel im englischen Drama der Frühen Neuzeit“. In: Poetica 30 (1998), S. 1–45. Zur anregenden Nutzung des genetischen Modells für die Beschreibung historischer Prozesse überhaupt siehe Wolfgang Krohn: „Die ‚Neue Wissenschaft‘ der Renaissance“. In: Gernot Böhme/ Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn: Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt a. M. 1977, S. 13–128.

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„Systeme des Denkens und Argumentierens“ und baut auf deren Kontinuität.28 Entsprechend bewegt sie sich innerhalb/diesseits von Grenzen: Diskursive Welterzeugung scheint dominant interessiert an der Wahrung des semiosphärischkulturellen Innen (ich will nach außen hin geschützt sein), an der ordnungssichernden Position innerhalb eines Oben-Unten-Gefüges (ich will, dass ich nicht falle, aber ich will zugleich auch nicht unbedingt, dass andere mir gegenüber, mich und meine Position gefährdend, steigen), an der Privilegierung eines ehrlich-aufrichtigen Vorn (ich will nicht, dass man mir in den Rücken fällt, sondern lieber erwarten, dass man ihn mir stärkt, mich stützt). Diskursivität stabilisiert sich mithin vornehmlich über das Unmarkierte.29 Demgegenüber arbeitet sich Welterzeugung als Gegenkonstrukt, als sekundäre Modellierung, vornehmlich ab an Überschreitungen von Grenzen (Akkommodationsvorschlägen), welche sich im Gegensatz zu den etablierten Systemen des Denkens und Argumentierens fassen lassen als diese zitierend befragende, auf Alternativen hin öffnende ‚Ereignisse‘, als „Kampf mit der Konstruktion der Welt“30. Ereignisse dieser Art wären etwa die drohende Invasion von außen; der unzeitgemäße, unerwartete Fall des Mächtigen; der soziale Aufstieg des Emporkömmlings; der Erfolg des in den Rücken fallenden Betrügers. Konterdiskursivität operiert mithin vornehmlich am Markierten, erprobt dessen Realitätspoten-

|| 28 Zur Definition von ‚Diskursen‘ und des ‚Diskursiven‘ als thematisch bestimmte „Systeme des Denkens und Argumentierens“ vgl. Michael Titzmann: „Kulturelles Wissen, Diskurs, Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61, S. 51; zum Versuch einer pragmatischen Differenzierung in diskursiven Sprachgebrauch und nicht-diskursiven Sprachgebrauch siehe Andreas Mahler: „Diskurs. Versuch einer Entwirrung“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 120 (2010), S. 153–173. 29 Der Normalisierungspunkt läge demnach dort, wo es mir (etwa als ‚weißem‘ Mittel-/Oberschichtenmann) im Gegensatz zum Anderen (Arbeiter, Migranten, Frau) momentan bzw. dauerhaft gut geht; zur westlich geprägten, ideologischen Normierung solcher Normalisierung durch die Lokalisierung des weißen Oberschichtenmannes am Nullpunkt eines so genannten ‚Würfel des Patriarchats‘, von dem aus ‚man‘ ‚fallen‘ oder in den ‚Hintergrund‘ verdrängt werden, aber auch nach außen hin Neues erobern kann, siehe Andreas Mahler: „Kontextorientierte Theorien“. In: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 115–125, hier S. 119. 30 Jurij M. Lotman: „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen“ [„O metajazyke tipologičeskich opisanij kul’tury“, 1969]. Übers. v. Adelheid Schramm. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hg. v. Karl Eimermacher. Kronberg im Taunus 1974, S. 338–377, hier S. 359; vgl. Jurij M. Lotman: „Das Sujet im Film“ [„Sjužet v kino“, 1973]. In: Lotman (Anm. 2), S. 205–229, hier S. 205.

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tiale und erkundet entsprechend die Bedrohungen einer Kultur, die Versehrbarkeit wie auch Veränderungsnotwendigkeit ihrer semiosphärischen Ordnung.31

1.3 Weltmodellierung und Wirklichkeitskonzeption Solche Verhandlung hängt schließlich grundsätzlich ab vom allgemeinen Status der epistemologischen Einschätzung von ‚Welt‘. Hans Blumenberg hat einmal sehr schön und einprägsam die Entstehung dessen, was er die „Möglichkeit des Romans“ genannt hat, herauszuarbeiten gesucht als Moment der (nichthäretischen) Vorstellbarkeit künstlerisch alternativer Realisierung einer Welt: Die Frage nach der Möglichkeit des Romans als eine ontologische, d. h. als eine die Fundierung im Wirklichkeitsbegriff aufsuchende, zu stellen, bedeutet also, nach der Herkunft eines neuen Anspruches der Kunst zu fragen, ihres Anspruches, nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.32

Damit verortet Blumenberg den Roman als Hauptträger ‚erzählter‘ Welt an der Schnittstelle zwischen einer Wirklichkeitskonzeption ‚garantierter Realität‘, welche ‚die Welt‘ in singulärer Einheit als geschlossenen Kosmos imaginiert mit Gott als „zuverlässigem Bürgen“, und derjenigen einer ‚Realisierung‘, der zufolge sich ‚Welt‘ plural darstellt als offenes Universum von (zunächst einmal rein heterogenen) Resultaten je individueller Realisierung,33 als Addition einzelner ‚Welten‘. Es ist dies die Schnittstelle zwischen mittelalterlich-christlichem, in Gott garantiertem Geschlossenheitswillen und den Versuchen bzw. Unabwendbarkeiten frühneuzeitlich-individueller Öffnung, zwischen verzweifelter/zweifelnder Assimilation und ebensolcher Akkommodation: Es ist die Verzeitlichung, die Vervielfältigung der Welt. Während davor Erzählen vornehmlich in sich kreist im rekodierend wiederherstellenden Wiederholen, beginnt es mit dem Roman sich abzuarbeiten an einem prospektiv gestellten, zu ‚realisierenden‘ Neuen. Das eine operiert mithin (assimilatorisch) am ‚Prinzip‘, das andere widmet sich (versuchsweise akkom-

|| 31 Dies wäre nochmals die Funktion des Sujets als „Kulturkatalysator“, vgl. Mahler (Anm. 22). 32 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ [1964]. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, S. 47–73, hier S. 61 (H. i. O.). 33 Vgl. Blumenberg (Anm. 32), S. 50–52.

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modierend, meist jedoch noch abweisend) dem ‚Einzelfall‘.34 Das eine ist bezeichnet worden als ‚zyklisches Erzählen‘, in gewisser Art als (restitutive) Arbeit am ‚Mythos‘, das andere als ein ‚lineares Erzählen‘, als Entwicklung eines potenziell weltverändernden, allererst welterzählenden, weltschaffenden ‚Sujet‘.35 Hierin liegt zudem die Häresie: Der Künstler tritt in Konkurrenz zu Gott als bislang uneingeschränktem Weltenschöpfer: Die Vergleichbarkeit des menschlichen Werkes mit dem göttlichen Schöpfungswerk war die heimliche oder ausdrückliche Orientierung eines neu sich bildenden Begriffes vom Künstler, und das führte natürlich mit Vehemenz zurück auf die Frage nach dem Verhältnis des Kunstwerkes zur Naturwirklichkeit, nach der notwendigen oder zufälligen Abhängigkeit oder der Lösbarkeit dieses Bezuges. Wenn diese Auffassung von dem frühen Impuls für die Kunstauffassung der Neuzeit richtig ist, dann liegt in der Konsequenz des Ansatzes nicht nur eine Neubestimmung der Differenz ästhetischer und physischer Gegenstände, sondern die Idee der Konkurrenz des Künstlers mit der vorgefundenen Welt im ganzen, also nicht nur ihrer Abwandlung, Idealisierung, Variierung, sondern der künstlerischen Erschaffung weltebenbürtiger Werke. Sowohl nach dem antiken Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz als auch nach dem mittelalterlichen der Realitätsbürgschaft Gottes wäre eine solche Idee der künstlerischen Konkurrenz mit dem Gegebenen sinnlos und bodenlos gewesen. Erst ein neu sich durchsetzender Begriff von Wirklichkeit, der nichts anderes als die Konsistenz des Gegebenen im Raume und in der Zeit für die Intersubjektivität als den einzig möglichen Rechtstitel auf Anerkennung durch ein Wirklichkeitsbewußtsein bestimmte, ließ den Anspruch auf Totalität künstlerischer Setzungen neben dem Faktum Welt überhaupt tragbar, wenn nicht allererst verstehbar werden.36

Der Gedanke der ‚Weltebenbürtigkeit‘, die Konkurrenz „mit der vorgefundenen Welt im ganzen“, der ‚Totalitätsanspruch‘ der künstlerisch weltenerzeugenden Setzung verweisen auf das sich im späten Mittelalter und früher Neuzeit ausprägende (unerhörte) Novum. Was sich neu zeigt, ist die Eigenmächtigkeit – die Selbstautorisiertheit – der Realisierung: Was sich ergibt, ist keine nochmalige, lediglich schöpfungswiederholende (metonymische) Abkartierung der (göttli-

|| 34 Zu dieser Begrifflichkeit siehe Lotman (Anm. 2), S. 178; vgl. auch, dort als „Prinzip“ und „Zufall“, Lotman (Anm. 9), S. 205. 35 Zum expliziten Entwurf einer Theorie des Sujet siehe Lotman (Anm. 23), S. 329–247; dabei ist Lotman vor allem wichtig die Vorordnung (1.) des Topologischen vor (2.) das dieses mit Bedeutung ausstattende Semantische und erst zuallerletzt, und dann auch noch fakultativ, (3.) ein mögliches Topografisches, also nochmals die Grundlegung aller ‚Erzählung‘ durch den (abstrakten) Raum: „Eben die topologischen Eigenschaften des Raums geben die Möglichkeit seiner Verwandlung in ein Modell nicht-räumlicher Beziehungen.“ Jurij M. Lotman: „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa“ [„Problemy chudožestvennogo prostranstva v proze Gogol’ja“, 1968]. In: Lotman (Anm. 30), S. 200–271, hier S. 269, Anm. 10. 36 Blumenberg (Anm. 32), S. 60 (H. i. O.).

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chen) Welt, sondern vielmehr eine aus dem schöpfenden (weltlichen) Subjekt heraus selbstautorisierte, eigenmächtige (metaphorische, d. h. modellbildende) Kreation einer Welt, näherhin meiner Welt, die ‚Realisierung‘ eines begrenzten, mich betreffenden ‚in sich stimmigen Kontextes‘, welcher sich an die Stelle setzt des absoluten, ‚garantierten‘ göttlich-rahmenden Kontextes christlich gedachter Schöpfung: Die ersehnte Erneuerung des griechischen Epos wie die Behauptung seiner absoluten Maßstäblichkeit brachen sich an einem Wirklichkeitsverständnis, für das die Welt ‚eine‘ Welt, der Kosmos ein Universum geworden war. Der mit Leibniz und Wolff endgültig scheiternde Versuch, der faktischen Welt die ratio sufficiens zu sichern, öffnete die Schleusen für eine Kritik des Faktischen vom Möglichen und Rationalen her, die auch die Imagination affizieren und zur Sinnhaltigkeitserprobung ihrer ‚Welten‘ innervieren mußte. [...] Der Roman konnte keine ‚Säkularisierung‘ des Epos nach der Entgöttlichung der Welt sein; im Gegenteil, gerade auf die Theologisierung der Welt geht ihre Kontingenz, die Faktizität des unbestimmten Artikels, der Zudrang der possibilia zurück. Die ‚Welten‘, denen das ästhetisch eingestellte Subjekt jeweils nur auf Widerruf zu gehören bereit ist, in der verfügbaren Endlichkeit eines Kontextes, sind der Inbegriff der Realitätsthematisierung durch den Roman [...].37

Hierüber bekommt das weltenerzählende, weltenerzeugende Kunstwerk überhaupt erst seinen eigenen Raum und damit zugleich seine eigene ‚Wahrheit‘. Nicht mehr geht es um den Vergleich zwischen real beobachtbarer ‚Tatsächlichkeit‘ und ausgestellt fiktivem ‚Seinsollen‘, sondern die Kunst tritt in einen Parallelraum auch möglicher, realisier- wie denkbarer Wahrheit und Wirklichkeit: Die Kunst sollte sich vielmehr im Raume des von Gott und der Natur nicht Verwirklichten ansiedeln, und hier gab es keine Dualität mehr von vorgegebener Wirklichkeit und nachgestaltendem Werk; vielmehr war jedes sich an dem neuen Wirklichkeitsbegriff messende Werk immer schon die Wirklichkeit des Möglichen, dessen Nicht-Realität die Voraussetzung für die Relevanz seiner Realisierung sein mußte. [...] Die Wandlung des Wahrheitsbegriffes eröffnet erst einen neuen Spielraum für die Kunst, ‚wahr‘ zu sein.38

Fiktionstheoretisch ist dies ein bedeutsamer Moment, insofern hier das ‚Als-Ob‘ des Fiktionalen seine Lizenz gewinnt. Nicht mehr steht allein das Reale neben dem immer schon Fiktiven, sondern es beginnen darüber hinaus die bislang beständig in Schach gehaltenen, ausgegrenzten hybriden Formen der Überkreuzung, der Dissimulation und der Simulation, in denen einerseits das Reale so tut, als sei es fiktiv (d. h. seine Faktizität dissimuliert, wie im ‚Dramati-

|| 37 Blumenberg (Anm. 32), S. 61, Anm. 11 (H. i. O.). 38 Blumenberg (Anm. 32), S. 62 (H. i. O.).

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schen‘), und andererseits das Fiktive so tut, als sei es real (d. h. Faktizität simuliert, wie im ‚Narrativen‘), allmählich die ihnen zukommende Legitimität zu gewinnen.39 Hierin findet sich die ‚Sprache räumlicher Relationen‘ nunmehr explizit genutzt zum konstruktiven, fiktionalen (konter- bzw. a-diskursiven, sekundär modellierenden) Aufbau wahrheitsbeanspruchender Welten, zur Herstellung von auch-wahren, auch-möglichen Alternativen im ‚anderen Raum‘: zur Ausbildung von Alterität. Ort solch raumbasierter Verhandlung alternativer Welten scheint in früher Neuzeit zunächst vornehmlich das (elisabethanische) Theater. Zwar zeigen sich in Karneval, Mystik, Skepsis bereits zuvor Alteritätsagenturen des Austarierens anderer Möglichkeiten, gleichwohl ballt sich das Befragungspotential garantierter Wirklichkeit – vor allem unter den besonderen Bedingungen von Wahrheitserprobung auf der Londoner Bühne – in der Shakespeare-Zeit um 1600. Die dort gezeigten Welten40 rekurrieren mit Vehemenz auf das angestammte, überkommene Versprechen einer Schließung, welche sich trotz aller Mühen nicht mehr einzustellen vermag.

2 ‚Erzählte‘ Restitution der einen Welt. Geschlossener Raum und zyklische Bewegung Wohl mit am sinnfälligsten erscheint dies in William Shakespeares King Lear (1605/06). Wie manches andere Stück Shakespeares auch ist er gebaut nach dem zyklischen Prinzip vertikal ausgerichteter, feudaler Ordnungsversicherung, dem zufolge die Welt immer dann in Ordnung ist, wenn Friede herrscht im Oben-Raum. Dies ist das ideologische Prinzip des Personenverbandes, wie es

|| 39 Zur frühneuzeitlichen Entwicklung einer solchen „Matrix des Fiktiven“ mit zwei ‚geraden‘ (das Faktuale, das Fiktive) und zwei überkreuz gesetzten Formen (das Dramatische, das Narrative) siehe Andreas Mahler: „Glauben, Nicht-Glauben, Anders-Sagen. Wege des Fingierens in Englands früher Neuzeit“. In: Ulrike Schneider/Anita Traninger (Hgg.): Fiktionen des Faktischen in der Renaissance. Stuttgart 2010, S. 23–44, hier S. 25–29; vgl. zu ähnlichen Differenzierungen Harry Berger jr.: „The Renaissance Imagination. Second World and Green World“. In: Ders.: Second World and Green World. Studies in Renaissance Fiction-Making. Berkeley 1988, S. 3–40, sowie, in Anschluss und Wiederaufnahme hieran, Verena Olejniczak Lobsien/Eckhard Lobsien: Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert. München 2003. 40 Zum Einsatz des Begriffs von der ‚erzählten‘ Welt auch für eine auf der Bühne ‚gezeigte‘ bzw. gemeinhin ‚modellierte‘ Welt vgl. den Kommentar oben in Anm. 1.

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sich inszeniert findet bereits in den epischen Texten des Mittelalters.41 Diese schicken einen Vertreter des Oben-Raums über die Bedrohung seiner ehrverlustigen Versetzung nach unten in ein vorübergehendes ‚suspendierendes‘ Exil der avanture, aus deren heldenhafter Lösung er seine Identität gewinnt, nur um sie, etwa im privaten verligen, noch einmal zu verlieren und abermals, nunmehr weltbestätigend und hierin recht eigentlich weltkonstituierend, rückzugewinnen; es ist dies das Schema des ‚doppelten Kursus‘.42 Geschichten garantierter Realität sind mithin zuallererst auf Restitution bedachte Eigen- bzw. Innenraumgeschichten: Ihnen geht es um den Erhalt des einen Kosmos. Wie bereits der obige Blick auf die Chroniken gezeigt hat, sichern sie die eigene Kultur über die trennlinienziehende Abgrenzung zu einem komplementär fantasierten Außenraum, von dem sie sich identitär abzusetzen suchen, indem sie der grundsätzlichen (und ebenso prinzipiell verdeckten) Tautologie folgen: ‚Wir sind wir und nicht die anderen‘. Der Abschottung nach außen korrespondiert zugleich eine Wahrung innerer vertikaler Ordnung nach dem hierarchisch-christlichen Weltmodell. Dies entspricht dem prägenden Gedanken einer weltordnenden chain of being, der zufolge kosmische (‚Welt‘-)Harmonie immer dann gegeben ist, wenn sich die irdischen Dinge allesamt im Einklang befinden.43 Das Phantasma ebenbürtig-egalitärer Brüderlichkeit samt dem drohenden Schrecknis eines ‚Falles‘ unterspannt in der Regel alle Geschichten der Restitution solchermaßen als maßgeblich angesehener feudaler/dynastischer Ordnung. So etwa in Chrétien de Troyes’ Erzählung der Liebesgeschichte von Yvain und Laudine, wie dies Rainer Warning analysiert hat: Ihre Geschichte besteht auf einer elementaren Konstitutionsebene aus einer Sequenz von Erzähleinheiten, die offensichtlich ein stereotypes Schema aktualisieren: Der Held sieht

|| 41 Zum feudalen Grundprinzip eines adligen Personenverbands mit einem primus inter pares als dessen Herrscher siehe Theodor Mayer: „Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates in hohen Mittelalter“ [1939]. In: Hellmut Kämpf (Hg.): Herrschaft und Staat im Mittelalter. Darmstadt 1964, S. 284–331. 42 Zu diesem Schema siehe Hugo Kuhn: „Erec“ [1948]. In: Hugo Kuhn/Christoph Cormeau (Hgg.): Hartmann von Aue. Darmstadt 1973, S. 17–48; zu seiner Wiederaufnahme und Weiterentwicklung siehe Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman“. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hgg.): Identität. München 1979, S. 553–589, und neuerdings Jing Xuan: Subjekt der Herrschaft und christliche Zeit. Die Ritterromane Chrestien de Troyes. München 2012. 43 Zur Seinskette siehe Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, 1936]. Übers. v. Dieter Turck. Frankfurt a. M. 1993.

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sich von widerhöfischen Mächten herausgefordert, besiegt sie und bringt die bedrohte Artuswelt wieder in Ordnung. Ebenso offenkundig aber ist, daß die Abfolge dieser Abenteuer untereinander bereits einem anderen Schema folgt: Der Held gewinnt seine Geliebte, geht ihrer aufgrund eigener Verfehlung verlustig und muß sie in einem Prozeß der Bewährung erneut gewinnen.44

Hierin überlagert sich ein Schema von „Konfrontation, Domination und Attribution“ mit einem „Restitutionsschema“ von (Attributions-)Verlust und deren Rückgewinnung, eben dem ‚doppelten Kursus‘.45 Räumlich in Opposition gestellt ist ein höfischer, ‚ehrhafter‘ Oben-Raum mit einem ‚widerhöfischen‘, ‚ehrlosen‘ Unten-Raum. Dies ist ergänzt durch einen zusätzlichen Enklavenraum, welcher die Restitution ermöglicht. Und verzeitlicht ist dies jeweils einmal als vorläufiger Gewinn plus Niederlage (Verlust der Attribution) und einmal als (vermeintlich) endgültiger Gewinn (Wiedererringung der Attribution) bis hin zur neuen Krise. Hieraus resultiert die elementare Zyklik: Mit dem Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution ist die elementare Struktur des Abenteuers im höfischen Roman beschrieben. Yvain kämpft mit Harpin, bezwingt ihn und attribuiert sich und damit der ritterlichen Welt die von Harpin Gefangenen und Bedrohten. Zugleich wird deutlich, daß nicht schon das Modell selbst, sondern erst seine axiologische Besetzung das Abenteuer konstituiert. Erzählt wird aus der Perspektive eines ritterlichen Wertsystems, das Yvains Attribution als Restitution im Blick auf eine vorangehende unrechtmäßige Attribution durch Harpin selbst erweist. Manifestiert sich also im typischen Einzelabenteuer die perspektivisch vereindeutigte Attribution objektiver Werte, so kann die den höfischen Roman charakterisierende Serie von Abenteuern die Zirkularität des Schemas als solche veranschaulichen, verweist doch diese Serie auf einen potentiell unendlichen Zyklus von Störung, Restitution, erneuter Störung, erneuter Restitution usw. Die am Ende eines Romans restituierte „joie de la cort“ ist nur temporär. Sie wird erneut gestört und muß erneut – von einem anderen Ritter – restituiert werden.46

Auf diese Weise garantiert das Erzählen solcher ‚Welt‘ trotz ständigen Wandels dauerhafte Beständigkeit: den trotz zeitweiliger Schicksalsstörung legitimen Erhalt des Oben-Raumes. In diesem Sinne ist es ein ‚mythisches‘ Erzählen47, Bestätigung des – trotz sich ändernder Besetzung – immer gleichen Kosmos, wie es sich etwa über Chaucer hinweg insbesondere weithin auch noch bei Shakes-

|| 44 Warning (Anm. 42), S. 558. 45 Warning (Anm. 42), S. 559. 46 Warning (Anm. 42), S. 561. 47 Zum ‚mythischen‘ Erzählen siehe nochmals Lotman (Anm. 2), S. 175; vgl. Lotman (Anm. 9), S. 203–233.

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peare findet, dort allerdings zuweilen schon ironisiert oder nurmehr im sehnsuchtsvollen Zitat.

2.1 Restitutionsversuche Eine Komödie wie Shakespeares As You Like It (1599/1600) beginnt folgerecht genau mit einer Klage über eine solchermaßen unrechtmäßige Attribuierung: Ihr Auftakt ist eine schon zu Beginn auf Restitution heischende Störung. Der Eingangsmonolog des Orlando (I.1.1–23)48 ist konstruiert um eine an der Vertikalen ausgerichteten Welt mit einer klaren Grenze zwischen Oben („keeps“; 5) und Unten („unkept“; 8). Er beginnt mit dem Gegensatz erwartbar angemessener Erziehung und Sorge („My brother Jaques he keeps at school“; 5) und deren Störung („but I, his brother, gain nothing under him but growth“; 12–13). Zwischen dem Auftrag des Vaters „to breed me well“ (4) und seiner Erfüllung durch Oliver steht mithin eine Barriere: „He [...] bars me the place of a brother“ (17–18; Hervorhebung von A. M.). Orlando ist nicht, wo er hingehört; seine „gentility“ wird unterminiert („mines“; 19) durch eine Behandlung „that differs not from the stalling of an ox“ (9–10), durch Gleichstellung mit „hinds“ (18) und „animals on dunghills“ (14). Die Gegenüberstellung mit der Aufzucht der Pferde („His horses are bred better, [...] they are taught“; 10–11) verdeutlicht die Störung der ‚erzählten‘ Welt: Orlando ist unterhalb der Pferde; statt eine angemessene (Aus-)Bildung zu bekommen, verkommt er auf zu niedriger Stufe in bloßer tierischer „servitude“ (22). Das Sujet von As You Like It konstituiert sich also 1. über eine an der Idee der Seinskette orientierte vertikale Ordnungsvorstellung mit einer festen Grenze zwischen Oben/Unten, Mensch/Tier, befehligendem gentleman und dienendem peasant, und 2. über die Versetzung der nach Oben gehörigen Figur des Orlando über diese Grenze nach Unten.49 Dies wird sogleich gedoppelt durch den Streit zwischen den Brüdern Duke Frederick und Duke Senior. Beides lässt jedoch von Beginn an eine Restitution erwarten, denn solche Sujets stellen über gezeigte Grenzverletzung in der Regel stets feudale Ordnung wieder her. So auch in As

|| 48 William Shakespeare: As You Like It [1599/1600]. The Arden Shakespeare. Third series. Hg. v. Juliet Dusinberre. London 2006; alle Zitate folgen dieser Ausgabe. Ich nehme hier unmittelbar wieder auf, was ich ausführlicher dargelegt habe in anderem Zusammenhang in Mahler (Anm. 27), S. 12–17; dort auch die genaueren Belege. 49 Zur Konstitution des Sujets über die drei Elemente ‚zwei Felder‘, ‚Grenze‘, ‚grenzüberschreitender Held‘ vgl. Lotman (Anm. 23), S. 342; zu einer logischen Reduktion auf zwei Elemente ‚zwei Felder + Grenze‘ und ‚Held‘ siehe Mahler (Anm. 27), S. 6–12.

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You Like It: Die nach Unten versetzten Figuren fliehen allesamt zunächst in die Enklave des Ardennerwaldes und bleiben dort in einem Raum der Suspension, bis sich die Konflikte lösen. Ein solcher Umweg erweist sich als das bereits zu Beginn gesuchte „wise remedy“ (23). Was in der ‚alten‘ Welt des Hofes und der Familien nur Wunsch, Versprechen oder Mahnung ist, löst sich in der Karnevalsenklave des Ardennerwaldes scheinbar ‚von selbst‘. Anfänglich individuelle „sadness“ kippt in allgemeine Freude, irdische Unordnung in kosmische Harmonie. „Then there is mirth in heaven,“ sagt gegen Schluss unter Sphärenklängen die Harmoniefigur des Hymen, „When earthly things made even / Atone together“ (V.4.106–108). In der zyklisch geprägten Versöhnung und Rückführung in eins (‚atone‘/‚at one‘) liegt die störungsbeseitigende Kraft der Restitution. Damit bestätigt der Einzelfall noch einmal das Prinzip. Die Versetzungen über die Oben/UntenGrenze werden annuliert: zunächst durch die „conversion“ Olivers (IV.3.135), der im Wald sein Fehlverhalten erkennt; sodann durch Duke Frederick, welcher gleichfalls konvertiert: „Both from his enterprise and from the world, / His crown bequeathing to his banished brother, / And all their lands restored to them again / That were with him exiled“ (V.4.160–163). Auf diese Weise ist das Restitutionsschema erfüllt. „Welcome, young man“, bilanziert der wiedereingesetzte Herzog, „Thou offer’st fairly to thy brothers’ wedding: / To one his lands withheld, and to the other / A land itself at large, a potent dukedom“ (164–167). Die Wiedererlangung der alten Ordnung („the good of our returned fortune“; 172) symbolisiert sich in allgemeiner Harmonie und wird noch in der Enklave gefeiert mit Musik und Tanz, bevor die (Hof-)Gesellschaft wieder in den Ernst der Lebenswelt entlassen wird: „Play music! And you brides and bridegrooms all, / With measure heaped in joy to th’ measures fall“ (176–177). Das Spiel von As You Like It ist ein Sujet zyklischer Restitution kosmischer Harmonie.50 Die modellierte Welt ist ausgerichtet an der Vertikalen und verfügt über einen feudalen Oben- (A) und einen nicht-feudalen Unten-Raum (B) sowie einen Frei- und Fluchtraum einer von dieser Teilung unberührt bleibenden Enklave (C). Ihre Ordnung ist erfüllt durch eine eindeutige Zuordnung von Figuren zu Raum A (F1-Figuren) wie zu Raum B (F2-Figuren); sie ist gestört durch eine aus der Rivalität von F1-Figuren (Duke Senior vs. Duke Frederick; Oliver vs. Orlando) resultierende, den Personenverband verletztende, ereignishafte Versetzung der Unterlegenen (Duke Senior, Orlando, Rosalind und Celia) nach B; sie wird wiedererlangt über den Umweg der Enklave, der die vorübergehend Unterlegenen in ihr altes Recht setzt (A–B–C–A) und die usurpierenden Sieger || 50 Für eine grafische Veranschaulichung siehe Mahler (Anm. 27), S. 16.

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reintegriert oder einstweilen noch neutralisiert (A–C–A). Der Verlauf der Handlung beschreibt einen Kreis der Restitution und mündet über die Rücknahme der Grenzüberschreitung in die alte Ordnung. Die Komödie von As You Like It bietet so eine auf das Adelsparadigma rückverpflichtende integrative Lösung „as they did in the golden world“ (I.1.113) und erfüllt damit die Sehnsüchte all derjenigen, denen solches zur nostalgischen Abdichtung der Defizite ihrer Lebenswelt ‚gefällt‘. Ihr Titel ist Programm. Im Kampf zwischen einem Weltmodell und dessen Destruktion gewinnt das zyklische Weltmodell; das im Resultat ereignislose Sujet von As You Like It ist ein – in dieser Form womöglich letztes – Sujet integrierender Assimilation.

2.2 Misslingende Restitution Auf diesem Grundmodell basiert auch das Sujet des Lear. Dies artikuliert sich am einlässigsten in der Gloucester-Handlung in Edmunds erstem Monolog (I.2.1–22)51. Der Monolog formuliert den Beginn eines Bruderkonflikts im Hause Gloucester und steht im Zeichen einer für Edmund scheinbar doppelten Bedrohung als jüngerer Bruder („For that I am some twelve or fourteen moonshines / Lag of a brother“; 5–6) wie als Bastard („Why bastard? Wherefore base?“; 6). Nach den Ereignissen der Auftaktszene sieht Edmund seine Position als F1-Figur trotz faktischer Betonung seiner Gleichstellung („the whoreson must be acknowledged“; I.1.22–23) und entgegen aller Anzeichen seiner Gleichwertigkeit („my dimensions are as well compact, / My mind as generous, and my shape as true / [...] / Our father’s love is to the bastard Edmund / As to the legitimate“; I.2.7–9,17–18) gefährlich bedroht. Damit konstituiert sich die Handlung um Gloucester als Entgegensetzung eines Oben und eines Unten mit der semantischen Spezifizierung ‚±Ehre/Erbe‘ und bedeutet dem jüngeren unehelichen Bruder seine Versetzbarkeit in den Unten-Raum: „Why brand they us / With base? With baseness, bastardy? Base, base?“ (9–10). Aus der Gleichsetzung von ‚bastard‘ und ‚baseness‘ ergibt sich die sujetbestimmende Rivalität unter zwei F1Figuren; entsprechend begehrt Edmund auf: „Well then, / Legitimate Edgar, I must have your land. / […] / Edmund the base / Shall top th’ legitimate. I grow, I prosper: / Now gods, stand up for bastards!“ (15–22). Dies ist ein Usurpationskonflikt wie der zwischen Duke Frederick und Duke Senior. Edmunds Intrige

|| 51 William Shakespeare: King Lear [1605/06]. The Arden Shakespeare. Third series. Hg. v. R. A. Foakes. London 2007; alle Zitate folgen dieser Ausgabe. Für jeweils genaue Belegung am Text siehe Mahler (Anm. 27), S. 18–23.

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versetzt Edgar vom Oben- (A) in den Unten-Raum (B), von wo dieser nunmehr seinerseits in „basest and most poorest shape / That ever penury in contempt of man / Brought near to beast“ (II.2.178–80) unmittelbar flieht in die ‚neutralisierende‘ Wildnis der Heide (C): „Edgar I nothing am“ (192). Umgekehrt sichert sich Edmund die Oben-Position sodann auch gegen den Vater: „The younger rises when the old doth fall.“ (III.3.24) Gleichwohl wird das Ereignis vertikaler Ordnungsstörung am Schluss wieder getilgt: Edgar kehrt aus der Enklave zurück, seine wiedererstarkte Kraft zeigt sich symbolisch in der Beseitigung von Edmunds Vertrautem Oswald und vollendet sich in der Eliminierung Edmunds: „The wheel is come full circle“ (V.3.172). Damit wird die zu Unrecht versetzte F1Figur über den Umweg der Enklave wieder in ihr altes Recht gesetzt (A–B–C–A), der usurpierende Gegenspieler aus der Welt eliminiert (A–Ø). Das Sujet der Gloucester-Handlung ist ein Sujet tragischer Restitution mit Edgar als dem Garanten seiner Ordnung. Diesem Sujetaufbau folgt auch die Lear-Handlung. Sie beginnt mit einem Ritual versuchter Neuregelung der vertikalen Ordnung. Die durchaus legitime Übergabe königlicher Macht wird inszeniert als Nachrückzeremonie im ObenRaum. Lears Rückzug in den ersehnten Freiraum eines sorgenfreien Alterskarnevals (I.1.49–50) macht seine Position im Oben-Raum frei für die drei Töchter. Deren gegenläufige ‚Investitur‘ symbolisiert sich in der angestrebten präventiven Bekanntgabe ihrer Mitgift (42–44). Der Personenverbandsideologie entsprechend, insistiert der Text wiederum mehrfach auf der grundsätzlichen Gleichheit der Beteiligten. Als legitime Erben gehören Töchter wie Schwiegersöhne allesamt in den Oben-Raum (A); es sind F1-Figuren, denen gegeben wird, was ihnen ohnehin irgendwann zusteht. Vor diesem Hintergrund ist das erste sujetkonstitutive Ereignis der Lear-Handlung die Versetzung der Cordelia in den Unten-Raum (B). Topologisch drückt sich dies unmittelbar aus im Bild des Falles (198), semantisch in der Tilgung ihres Erbes (109–121). Mit dieser Herabsetzung der Garantin seines Alterskarnevals riskiert Lear jedoch die eigene Position. Die Norm-Figur des Kent erkennt dies und drängt unmittelbar auf Restitution. Lear aber beharrt und wird dadurch seinerseits zum Sicherheitsrisiko im Oben-Raum. Fortan betreiben Goneril und Regan die Versetzung Lears nach Unten (B). Im Moment der Fixierung seiner Unterordnung flieht er jedoch im Wahn auf die Heide und befindet sich nunmehr auf demselben Parcours wie Edgar und Cordelia (A–B–C). D. h., nicht seine Abdankung ist das ordnungsstörende Ereignis, sondern sujetkonstitutiv ist 1. die durch ihn in „hideous rashness“ (I.1.152) betriebene Versetzung Cordelias und 2. die aus dieser „rashness“ folgende eigene Versetzung durch Goneril und Regan, und beiden Ereignissen

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folgt unverzüglich die neutralisierende Flucht der versetzten Figuren in eine ordnungssuspendierende Enklave. Von dort, von Frankreich und der Heide, ergeben sich sodann die Restitutionsbemühungen. Hierüber scheint Kents Gebet („Fortune, good night: smile once more; turn thy wheel“; II.2.171) in Erfüllung zu gehen. Lear kommt zur Ruhe, und mit der Bitte um Vergebung (IV.6.83–84) bringt er Cordelia zurück in die ihr zugedachte Position der sorgenden Tochter. Damit schließt sich der erste Restitutionskreis der Lear-Handlung; die ordnungsstörende Versetzung ist getilgt, Cordelias Geschichte wirkt am Ende des vierten Akts wie ein über Selbsterkenntnis und Reintegration geführtes Sujet komödienhafter Restitution. Die zweite Ordnungsstörung – Lears eigene Versetzung – hingegen besteht noch. Der übliche Versuch ihrer Annullierung über Kampf misslingt (V.2.6). Und doch ersteht zu guter Letzt wieder die alte Ordnung, denn Goneril und Regan eliminieren sich gegenseitig und machen so den Oben-Raum frei. Entsprechend hebt die einzig überlebende F1-Figur Albany an zu einer die Macht an Lear zurückgebenden Rede (V.3.297–299). Mit dieser Reinthronisierung schließt sich der zweite Restitutionskreis; das Sujet der Lear-Handlung erlangt an dieser Stelle seine alte Ordnung wieder. Doch genau hier wird Cordelias Tod Gewissheit: Damit erlischt die Hoffnung einer „chance which does redeem all sorrows“ (264): Cordelia ist tot, und gleich darauf stirbt auch der alte/neue König Lear (309). Am Ende des fünften Akts sind die Usurpationsfiguren eliminiert (A–Ø), die Restitutionsfiguren sind es aber auch (A–B–C–A–Ø). Hierüber verliert die Restitution ihre Geltung. Das Sujet des Lear zeigt in den drei Varianten der Versöhnung (Cordelias mit Lear), des Kampfes (Edgars gegen Edmund) wie des Zufalls (Lear gegen die ‚bösen‘ Töchter) jeweils noch einmal einen vollständigen Restitutionsparcours, ohne dass das damit verbundene Ordnungsversprechen eingelöst wird. Was am Textende bleibt, ist nicht mehr die erwartete Affirmation zyklischen Sinns, sondern Ratlosigkeit und Trauer: „The weight of this sad time we must obey,“ bilanziert Edgar und setzt resignativ-bedeutungsleer hinzu, „Speak what we feel, not what we ought to say“ (V.3.322–323). Auf diese Weise wirkt das Sujet des Lear wie das Negativ zu As You Like It. Anstelle eines bis zuletzt erhofften „promised end“ (261) herrscht „general woe“ (318), statt erstrebten Staunens über „returned fortune“ (V.4.172) und „mirth in heaven“ (106) in As You Like It bleibt der wortkarge Rückzug aufs ‚Gefühl‘. Während dort der Einzelfall zu guter Letzt noch einmal kontrafaktisch an das Prinzip zyklischen Sinns assimiliert wird, fallen im Lear Einzelfall und Prinzip auseinander. Die zyklische Sujetmodellierung verliert ihre Funktion als ‚Sinnbestimmungsagentur‘ des Lebens. Damit steht das Sujet des Lear genau zwischen Assimilation und Akkommodation; mit seiner spektakulären Funk-

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tionsentleerung des überkommenen Welterklärungsmusters am Schluss bedingt es eine schon länger geahnte ‚Umdeutung des Lebens‘ und nimmt auf diese Weise eine, wenn nicht die entscheidende Stelle ein im Prozess frühneuzeitlichen Sujetwandels. Shakespeares Arbeit am Restitutionsparcours verschärft sich noch einmal im Sujet des Hamlet (1601/02).52 Nach zwei langen Phasen linearer Erarbeitung der tatsächlichen Legitimität des designierten Restitutionshelden zeigt es am Schluss die Brüchigkeit des Restitutionsprinzips an der problematisch gewordenen Rückkehr des todgeweihten Weltenretters. Entsprechend geht es dem nur mehr konjunktivischen ‚neuen‘ König Hamlet („For he was likely, had he been put on, / To have proved most royal“; V.2.381–382) im Sterben neben der Designation seines Nachfolgers vornehmlich um die Propagation seiner Geschichte, um das Legat „To tell my story“ (333). Über das Erzählen solcher Geschichten, so Lotman, bezeugt sich der Mensch die Sujethaftigkeit des Lebens: Die HamletGeschichte – jenes kontingente Konglomerat „Of carnal, bloody and unnatural acts, / Of accidental judgements, casual slaughters, / Of deaths put on by cunning, and for no cause, / And in this upshot purposes mistook / Fallen on th’inventors’ heads“ (365–369) – erzählt von den Bedingungen zyklischer Restitution und den Unwägbarkeiten ihrer Linearisierung und verweist so mit Insistenz auf die in früher Neuzeit aufbrechenden Erklärungsdefizite des Providenzmodells. Obwohl durch die Auflösung der Hamlet- in die Fortinbras-Welt die Ausgangsordnung am Schluss strukturell doch noch erreicht wird, stellt sich das Sujet des Hamlet dominant dar als Sujet problematisierter Ereignisbannung. D. h.: Die Restitution findet also auch hier noch einmal statt, doch bleibt ihr Held gewissermaßen ‚auf der Strecke‘. Der Restitutionsparcours führt die F1Figur des Hamlet vom Erbanwärter (A) über die adoptierte Vaterposition (B), die Maskerade (C) und das unfreiwillige Exil (C’) in den Kampf und in den im Moment des Sieges bereits gewussten Tod (Ø–[A]).53 Während also im Lear – zumindest für wenige Zeilen – Hoffnung auf den Bestand der wiedererlangten Ordnung bleibt (A–Ø), steht das Sujet des Hamlet im Moment vermeintlicher Ordnungswiederherstellung bereits im Zeichen gewusster neuer Instabilität. In der mühsamen prozessualen Tilgung des textinternen Ereignisses und der beständig bewusst gehaltenen Latenz ihres Misslingens entbirgt sich eine kaum mehr enthebbare Divergenz zum Geltung beanspruchenden zyklischen Welt-

|| 52 William Shakespeare: Hamlet [1601/02]. The Arden Shakespeare. Third series. Hg. v. Ann Thompson/Neil Taylor. London 2006; alle Zitate folgen dieser Ausgabe. Für genauere Belegung am Text siehe wiederum Mahler (Anm. 27), S. 23–18. 53 Der Gesamtparcours des Hamlet lässt sich wie folgt darstellen: (A–B–Ø)–B–C–C’–Ø–(A).

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modell. Der F1-Parcours dankt ab; das Sujet des Hamlet ist ein Sujet infrage gestellter und letztlich scheiternder Assimilation.

3 ‚Erzählte‘ Realisierung möglicher Welt/en. Offener Raum und lineare Bewegung In gewisser Weise sind die ‚Helden‘ Shakespeare’scher Dramen schon weniger Stellvertreter göttlichen Garantentums als bereits lineare ‚Realisatoren‘ vergangener zyklischer Wirklichkeit. Genau dies hat Lotman wohl im Sinn mit der Rede von der Überlagerung zyklischer und linearer Sinnbildungsmechanismen bei der Entstehung des frühneuzeitlichen Sujets aus typologischer Sicht.54 Eine Figur wie Rosalind in As You Like It ist sich vermeintlich noch gewiss, dass sie das Chaos richten kann: „I have promised to make all this matter even“ (V.4.18); bereits Viola in Twelfth Night (1601/02) fühlt sich heillos überfordert: „O time, thou must untangle this, not I. / It is too hard a knot for me t’untie“ (II.2.40– 41)55; Edgar im Lear ist angesichts des Ausbleibens zyklischer Restitution trotz aller Bemühung, wie gesehen, nichts als ratlos; und die Figur des Hamlet verflucht, sobald er sich dessen bewusst wird, von vornherein die ihm zugepasste, ‚realisierend‘ ordnungswiederherstellende Rolle: „O cursed spite / That ever I was born to set it right!“ (I.5.186–187). Die Idee des ‚Helden‘ wandelt sich mithin in früher Neuzeit von derjenigen eines willfährigen ‚Objekts‘ göttlichen Providenzwillens zu der eines selbstautorisierten ‚Subjekts‘ mit eigenen zu realisierenden Zielen: vom Erfüller eines bereits vorgegebenen Resultats zum Erwirker erst noch zu erzielender Resultate.56 Dies hat man beschrieben als ‚Öffnung‘ oder ‚Pluralisierung‘ der Welt; es ist dies der Wandel von einem zum immer gleichen gottgegebenen Resultat zurückfin-

|| 54 Zum Ausweis von Sujetbildungen als frühneuzeitliche Formationen einer Überlagerung siehe Lotman (Anm. 2), S. 175–183. 55 William Shakespeare: Twelfth Night [1601/02]. The Arden Shakespeare. Third series. Hg. v. Keir Elam. London 2008. 56 Zum Gedanken frühneuzeitlicher Entwicklung individueller ‚Selbstbehauptung‘ siehe Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit. Erster und zweiter Teil [1966/1974]. Frankfurt a. M. 1983; zur Herleitung des Gedankens frühneuzeitlicher ‚Subjektivität‘ aus einer vornehmlich protestantisch geführten Valorisierung des Alltags als Positivierung des ‚gewöhnlichen Lebens‘ siehe Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität [Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, 1989]. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1996.

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denden – ‚finalen‘ – Providenzmodell zu einem zukunftsoffenen, nie dasselbe Resultat je wieder erreichenden – anfangsbestimmt ‚kausalen‘ – Kontingenzmodell, dessen ‚Chaos‘ nicht mehr in Schach gehalten wird durch die Garantie göttlicher Schöpfung, sondern allein durch die Legitimität der jeweilig irdischmenschlichen Handlungsmacht.57 Darin stellt sich nunmehr verschärft die Frage nach der Autorität des Handelnden. Der Held ist nicht mehr ein von Gott eingesetzter Erfüllungsheld, sondern ein sein Handeln diesseitig rational plausibilisierender Realisierungsheld. Das Sujet springt von der Restitution zur (potentiellen) Transgression. Nicht mehr geht es darum, eine als gültig anerkannte Ordnung erneut zu (r)etablieren, sondern es geht um die lineare Realisierung – oder Verhinderung – eines Einzelwillens: um den Aufstieg/Nicht-Aufstieg des gemeinen Mannes in die Oberschicht, um die Emanzipation/Nicht-Emanzipation der Frau aus der umgrenzten Sphäre des Hauses in den Raum öffentlichen Handelns, um die Übernahme/Nicht-Übernahme eines ‚neu‘ entdeckten Territoriums als das eigene. Dies ist die neuzeitliche Trias von Aufsteiger-, Domestikations- und Expansionssujet.58 Räumlich ersetzt sie das topologische Bild eines sinnversichernden zyklischen Restitutionsparcours (A–B–C–A) durch das der linear-transgressiven ‚ereignishaften‘ Aneignung/Eroberung neuen Terrains (A→B oder B→A): des herrschaftlichen, des männlichen, des fremden Raumes. Allen dreien ist gemein die nur mehr binäre Gegenüberstellung eines ‚Oben‘ (A) und eines ‚Unten‘ (B) – oder eines ‚Innen‘ (A) und eines ‚Außen‘ (B) – im offenen Raum, ohne gesonderte Enklave, samt einer festen ideologischen Verortung des gemeinen ‚Volkes‘ im ‚Unten‘ und der Frau im ‚Innen‘. Einzige lizenzierte Transgression ist für lange Zeit die des weltenerobernden Mannes nach ‚Außen‘. Es geht also nur mehr um eine Versetzung von A nach B bzw. B nach A oder deren ereignistilgende bzw. -vermeidende Verhinderung. Die ‚erzählten‘ Geschichten sind nicht mehr dieje-

|| 57 Zum Gedanken der ‚Öffnung‘ der Welt siehe Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum [Du monde clos à l’univers infini, 1957]. Übers. v. Rolf Dorbacher. Frankfurt a. M. 1980; zu den Modellen ‚kausaler‘ und ‚finaler‘ Orientierung siehe Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [1932]. Frankfurt a. M. 1976, S. 66–98, vor allem S. 84 f.; zu einer Analyse ihrer Überlagerung siehe Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 15 f. Ich benutze den Gedanken finaler ‚Motivation von hinten‘ und kausaler ‚Motivation von vorn‘ etwas freier im Sinne eines auf dem Zeitstrahl nach rechts hin geschlossenen Providenzmodells einerseits und eines im Gegensatz dazu nach rechts hin offenen Modells einer in der Zeit sich erst ereignenden, kausal von ‚links‘ motivierten Realisierung. 58 Zu dieser Trias siehe Mahler (Anm. 27), S. 42–45; zum daraus entwickelten ‚Würfel des Patriarchats‘ siehe nochmals Mahler (Anm. 29), S. 118–120.

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nigen einer wundersamen Wiederherstellung der ‚einen‘ Welt, sondern vielmehr solche der ereignishaften ‚Realisierung‘ oder Evokation einer möglichen neuen: einer Welt, in der sich ein Selbst (Eroberer, Knecht, Diener, Frau), indem es – sein Handlungsterrain erweiternd – sich fremden Raum aneignet, eigenmächtig zu behaupten sucht.59 „Why might not I marry?“, wendet sich John Websters Duchess of Malfi im gleichnamigen Stück (1623) gegen die ihr die Heirat zu verbieten suchenden Brüder, „I have not gone about, in this, to create / Any new world, or custom“ (III.2.110–112)60, und protestiert damit selbstbewusst gegen die ihr gendermäßig drohend bevorstehende Verortung rein im Innenraum: „Why should only I, / Of all the other princes of the world / Be cas’d up, like a holy relic?“ (137–139) – „But, what am I?“, fragt der Diener Mosca in Ben Jonsons Volpone (1606) seinen aus dem ‚Fuchsbau‘ herausgekommenen Meister, und dieser antwortet: „’Fore heaven, a brave clarissimo, thou becom’st it! / Pity, thou wert not born one.“ Woraufhin Mosca aufstiegsbewusst entgegnet: „If I hold / My made one, ’twill be well“ (V.5.2–5).61 So wird „a fellow of no birth, or blood“ auf gesellschaftsbedrohliche Art unversehens zum „gentleman“ (V.12.111 f.).

3.1 Realisierungsversuche Solcher Aufstiegswille ist späterhin eines der wesentlichen Sujets ‚realistischen‘ Erzählens, etwa bei Honoré de Balzac. Schon im „Avant-Propos“ (1842) zur Comédie humaine weist er soziale Mobilität aus als wesentliches Element seiner erzählten Welt: L’État Social a des hasards que ne se permet pas la Nature, car il est la Nature plus la Société. La description des Espèces Sociales était donc au moins double de celle des Espèces Animales, à ne considérer que les deux sexes. Enfin, entre les animaux, il y a peu de drames, la confusion ne s’y met guère; ils courent sus les uns sur les autres, voilà tout. Les hommes courent bien aussi les uns sur les autres; mais leur plus ou moins d’intelligence rend le combat autrement compliqué. Si quelques savants n’admettent pas encore que

|| 59 Zum Gedanken von Realität als dem ‚Resultat einer Realisierung‘ siehe Blumenberg (Anm. 32), S. 51 f.; zu einer genaueren Darstellung des frühneuzeitlichen Sujetwandels siehe Mahler (Anm. 27), S. 29–42. 60 John Webster: The Duchess of Malfi [1623]. In: Ders.: Three Plays. Hg. v. David Gunby. Harmondsworth 1972; alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 61 Ben Jonson: Volpone, or The Fox [1606] Hg. v. Philip Brockbank. London 1977; alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

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l’Animalité se transborde dans l’Humanité par un immense courant de vie, l’épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social.62

Dies setzt animalische Biosphäre gegen soziale Semiosphäre und scheidet den Raum des Menschlichen von dem des Tierischen über den Mehrwert („se transborde“) eines sich – nicht zuletzt in Sprache – artikulierenden Denk- und Interpretationsvermögens („leur plus ou moins d’intelligence“). Zugleich scheidet es einen diskursiv-wissenschaftlichen Anspruch der Welterfassung („quelques savants“) von einem konterdiskursiv-literarischen. Entsprechend modelliert Balzac in seinem Roman César Birotteau (1837) den ereignishaften Aufstieg einer F2-Figur – in diesem Falle eines Parfümeriehändlers – aus dem sozialen Unten-Raum B in den Oben-Raum A („l’épicier devient certainement pair de France“) und analog die Gegenbewegung des gleichermaßen ereignishaften Falles einer F1-Figur – des Baron Hulot – von A nach B („et le noble descend parfois au dernier rang social“) im Teilroman der Cousine Bette aus den Parents pauvres der Comédie humaine. Mit am anschaulichsten zeigt sich diese Art der nunmehr sozialen, ein gesellschaftliches Resultat zu realisieren oder zu verhindern suchenden Fügung eines Aufsteigersujets in Balzacs Illusions perdues (1837–43). Im Eingangsteil der „Deux poètes“ konstituiert der Erzähler eine an der Vertikalen ausgerichtete Welt, in der eine der Hauptfiguren, der Dichteraspirant Lucien de Rubempré, sich als F2-Figur vom Unten- in den Oben-Raum träumt. Die aufgerufene Welt teilt sich zunächst nach räumlichen Kriterien in eine Unterstadt (‚l’Houmeau‘) und eine Oberstadt (‚Angoulême‘). Die Szene, die dies anlegt (S. 85–88)63, zeigt Lucien auf dem ihm angemessenen, weil ordnungsbestätigenden Rückweg nach unten („Lucien descendit à l’Houmeau par la belle promenade de Beaulieu, par la rue du Minage et la Porte-Saint-Pierre“; S. 85, dort auch die Folgezitate), auf dem er es sich zur Gewohnheit gemacht hat, ‚unter‘ den Fenstern der von ihm angebeteten Mme de Bargeton vorbeizuflanieren: „Il éprouvait tant de plaisir à passer sous les fenêtres de cette femme.“ Noch bevor der Erzähler zu einer weiten Deskription der von ihm erzählten Welt ansetzt, konstituiert er den von ihm verantworteten Raum als ein aus zwei Teilräumen bestehendes Sujet mit stärker moralisch definierten denn rein topographischen Grenzen („barrières morales bien autrement difficiles à franchir que les rampes“), welche die Teilräume voneinander trennen („séparait“, „divisées“) und auf Distanz („distance“) hal|| 62 Honoré de Balzac: „Avant-Propos“ [1842]. In: Ders.: La Comédie humaine. 12 Bde. Hg. v. Pierre-Georges Castex. Bd. 1. Paris 1976, S. 7–20, hier S. 9. 63 Honoré de Balzac: Illusions perdues [1837–43]. Hg. v. Philippe Berthier. Paris 1990; alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

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ten. In dieses vertikale Modell von Unterstadt („ville basse“) und Oberstadt („ville haute“) setzt er sodann, als einen Vertreter des Unten-Raumes (B), die Figur des Lucien, eines ehrgeizigen jungen Mannes („ambitieux“), der es bereits geschafft hat, zumindest zeitweilig in den Oben-Raum (A) der F1-Figuren einzudringen („qui venait de s’introduire dans l’hôtel de Bargeton“) und auf diese Weise eine Verbindung zwischen den Räumen herzustellen („comme un pont volant entre la ville et le faubourg“), die ihn dazu bemächtigen würde, ganz im Oben-Raum zu bleiben („d’étendre son pouvoir“), solange ihn keine Sanktion („disgrâce“) ereilt. Hierüber konstituiert sich ein klassisches Aufsteigersujet. Topologisch besteht es aus einem Unten-Raum (B) und einem Oben-Raum (A) mit einer ‚Verbotsgrenze‘ dazwischen. Topografisch spezifiziert es sich anhand der konkreten Lage Angoulêmes zur Entgegensetzung von Unter- und Oberstadt. Semantisch füllt es sich zunächst über die ortstypischen Verhaltensweisen („les mœurs particulières“), bevor dies in der sich anschließenden Deskription näherhin ausgeweitet wird in den allgemeinen Gegensatz von Adelsgesellschaft und aufstrebender industrieller Bourgeoisie (S. 86, dort wiederum die weiteren Zitate). Damit spezifiziert sich der Oben-Raum zu dem der Herrschaft, des Einflusses, der Institutionen („où restèrent le Gouvernement, l’Évêché, la Justice, l’aristocratie“), aber zugleich auch indirekt zu einem der Trägheit und des Todes, welchem im Unten-Raum ein ‚zweites Angoulême‘ gegenübersteht, das trotz aller Vitalität („son active et croissante puissance“) und wirtschaftlichen Reichtums („industrieuse et riche“) es zu nicht mehr bringt als zu einem bloßen „annexe“ des oberen Raumes. Oben Adel und Macht („la Noblesse et le Pouvoir“), unten Handel und Geld („le Commerce et l’Argent“) – hieraus speist sich eine unversöhnliche Entgegensetzung zweier „zones“ und eine auf Dauer gestellte Rivalität („aussi est-il difficile de deviner qui des deux villes hait le plus sa rivale“). Genau dies artikuliert sich schließlich in der strikten Wahrung einer unsichtbaren Grenze, die topologisch aus der erzählten Welt eine erzählenswerte macht, weil sich an ihr das narrative Konfliktpotenzial des Romans bemessen lässt. Die Oberstadt stellt sich mithin dar als eine geschlossene Gesellschaft, eine „nation autochtone“ von „indigènes“, die sich nach außen hin isoliert („dans laquelle les étrangers ne sont jamais reçus“), anderen sorgsam den Zutritt verweigert („mais quant à les admettre chez elles, elles s’y sont refusées constamment“; S. 87 und Folgezitate) und jede Art von Mobilität verhindert („ces maisons se marient entre elles, se ferment en bataillon serré pour ne laisser ni sortir ni entrer

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personne“).64 Hierin verräumlicht sich auf mustergültige Weise die französische Gesellschaft nach der Restauration und der Einsetzung des ‚Bürgerkönigs‘ Louis-Philippe. Nach der ‚Bürgerrevolution‘ von 1830, so Balzacs an Angoulême explizierte sujetbezogene Analyse, verharrt der „État social“ in einer unversöhnlichen Entgegensetzung von „noblesse“ und „bourgeoisie“, und insbesondere der Angoulêmer Adel reagiert hierauf mit unnachsichtigem Ausschluss aller bürgerlichen Elemente aus dem Oben-Raum („La société noble [...] devint là plus exclusive qu’en tout autre endroit en France“) und deren sozialer Degradierung („L’habitant de l’Houmeau ressemblait assez à un paria“). Entsprechend erscheint das Eindringen des Apothekersohnes Lucien aus l’Homeau in den Oben-Raum ganz wörtlich im Lotman’schen Sinn als ‚revolutionäres Ereignis‘: „Un homme de l’Houmeau, fils d’un pharmacien, introduit chez Mme de Bargeton, était donc une petite révolution.“ Hier nun liegt der Ehrgeiz des Aufsteigers: in der Eroberung des Obenraumes samt immerwährendem Verbleib. Genau dies aber erweist sich als bloße ‚Illusion‘. Im Mittelteil „Un grand homme de province à Paris“ wird Lucien von seiner nunmehr im Kreis ihrer Pariser Cousine Mme d’Espard verkehrenden Geliebten verleugnet. Bei Mme d’Espard mit billigem Vorwand nicht hinauf in die Herrschaftsräume vorgelassen, begegnet Lucien, zu Fuß unterwegs, den zwei Cousinen zwischen der place de la Concorde und den Champs-Élysées bei der sonntäglichen Ausfahrt in der erhöhten, mit Adelswappen versehenen Kutsche und wird explizit missachtet: Mme de Bargeton ne voulut pas le voir, la marquise le lorgna et ne répondit pas à son salut. La réprobation de l’aristocratie parisienne n’était pas comme celle des souverains d’Angoulême: [...] pour Mme d’Espard, il n’existait même pas. Un froid mortel saisit le pauvre poète quand de Marsay le lorgna; le lion parisien laissa retomber son lorgnon si singulièrement qu’il semblait à Lucien que ce fût le couteau de la guillotine. La calèche passa. (S. 212–213)

Auch am Folgetag wird er nicht vorgelassen („mais encore le portier ne le laissa pas monter“; S. 213), da man, was Lucien nicht weiß, ihn schon beim Opernbesuch als Bürgerlichen „M. Chardon“ ausgewiesen und entsprechend sozial disqualifiziert hat. Statt einer F2-Figur, die triumphal den Aufstieg schafft, gilt er mithin den F1-Vertretern des Obenraumes als vernachlässigbares, ignorierbares Nichts, und er fällt zurück nach unten („laissa retomber“).

|| 64 Dies folgt noch einmal musterhaft der bei Lotman eindringlich geschilderten Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden; siehe Lotman (Anm. 9), S. 174–190.

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Das Sujet der Illusion perdues zeichnet Luciens Weg sozialen Aufstieges und verweigert ihn am Schluss. Es führt eine Unten-Oben-Bewegung vor und annulliert sie, indem es die Grenzen nochmals fester zurrt (B–A–B). Damit sichert es in frühkapitalistischer Zeit noch einmal die Ständeordnung, ohne allerdings die Möglichkeit einer solchen realisierenden, ‚revolutionär‘ grenzüberschreitenden Aneignung des Oben-Raumes von Haus aus zu negieren. Wie der Verweis auf die Aufsteigerfigur des – im übrigen Luciens Aufstieg maßgeblich verhindernden – Rastignac verdeutlicht („Eh bien, vous avez été desservi dès votre début par M. de Rastignac“; S. 213), ist ganz in Balzacs Sinn lediglich der Zufall (‚hasard‘65) dafür verantwortlich, dass in diesem speziellen ‚Einzelfall‘ Lucien dem zunehmend Geltung beanspruchenden ‚Prinzip‘ individueller Realisierung von Wirklichkeit entgegensteht.

3.2 Misslingende Realisierung Solche Realisierungsphantasmen befragt mit Insistenz sodann Gustave Flaubert. Auch seine Sujets scheinen zunächst auf linear realisierende Situationsveränderung ausgerichtet. In Madame Bovary (1856/57) konstituiert sich das Sujet horizontal über die Entgegensetzung eines Innen- mit einem Außen-Raum. Es stellt einander gegenüber die monotone Langeweile öden Provinzlebens mit den vermeintlich aufregenden Abenteuern der Kapitale oder gar ferner Länder. Einer der entscheidenden Auslöser dieser Gegenüberstellung ist Emmas Besuch des Balles in la Vaubyessard und vor allem ihr Tanz mit dem Vicomte. Dies hinterlässt eine füllungssehnsüchtige Lücke in ihrem Leben („trou dans sa vie“; S. 116)66. Emma sieht sich mit einem Schlag in einem Nah-Raum der Ödnis und den Vicomte im Fern-Raum eines herbeigesehnten Paris (vgl. S. 117–119; dort alle Folgezitate). Der Text stellt einander gegenüber ein ici und ein „là-bas“ und spezifiziert dies zunächst topologisch zu einem Raum der Nähe („voisines“, „immédiatement“) im Gegensatz zu einem Raum der Ferne („au-delà“), welche sich topografisch konkretisieren zur Entgegensetzung des vertrauten „Tostes“ mit einem über Stadtpläne und Lektüren (und nicht zuletzt die Lektüre Balzacs) angeeigneten „Paris“ und sich sodann semantisch füllen als Orte einer von dummen Kleinbürgern („petits-bourgeois imbéciles“) bevölkerten und einer lähmenden Mittelmäßigkeit gekennzeichneten („médiocrité de l’existence“) ge-

|| 65 Vgl. Balzac (Anm. 62), S. 9. 66 Gustave Flaubert: Madame Bovary [1856/57]. Hg. v. Bernard Ajac. Paris 1986; alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

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fängnishaften, todbringenden Provinz („campagne ennuyeuse“) sowie eines maßlosen („démesuré“, „vaste“), bohèmehaft Vergnügen versprechenden („plaisir“), romantisch ‚sublim‘ in einem vagen Oben („une existence au-dessus des autres, entre ciel et terre“) angesiedelten, unendlichen Land der Glückseligkeiten und Leidenschaften („immense pays des félicités et des passions“). Hierüber zeigt sich das Sujet als tentatives Ausbruchssujet mit einer Grenze zwischen einem alltagsmonoton negativen Innen (A) und einem positiv besetzten, rauschhaft-besonderen Außen (B), das Emma gleichwohl im gesamten Verlauf des Romans nie erreichen wird. Denn Flauberts Verfahren liegt in der Rücknahme aller Sujethaftigkeit in die Figurenperspektive. Die raumbezogene Semantikproduktion erweist sich durchweg als nur mehr figurale Welterzeugung, nicht mehr als eine einem weltverbürgenden Erzähler verpflichtete auktoriale. Räume und Grenzen existieren allein in Emmas Kopf: Emmas Weg ist der Weg ihrer Lektüren: Zur endgültigen Grenzüberschreitung, der geplanten Flucht nach Italien, kommt es nicht, die gewähnte Ereignishaftigkeit ihrer Liebe zu Rodolphe zersetzt sich ebenso wie später die ihrer Liebe zu Léon, nur in ihrer Perspektive bleibt die schäbige Hirondelle das Emblem romantischer Sehnsucht, nur in ihrer Perspektive wird Rouen, diese „vieille cité normande“, zu einer „capitale démesurée“ [...], in der sie sich in eine babylonische Kurtisane verwandelt. Dabei ist gerade die Iterativität ihrer Reise das Dementi der gewähnten Ereignishaftigkeit. Statt in einen anderen Raum zu gelangen, bleibt sie in einer Absteige des bürgerlichen Rouen [...]. Zum tatsächlichen Konflikt kommt es nicht. Emma ist die Heldin ihrer Träume [...].67

Der Versuch einer weltverändernden, ereignishaften Grenzüberschreitung aus der bürgerlichen Enge in die Weite einer unendlich erfüllten mondänen Existenz misslingt. Der gewähnte faszinierende Fremdraum erweist sich stets als nur der erweiterte monotone eigene. Statt einer einmaligen weltverändernden Transgression zeigt das Sujet wiederholtes Scheitern, statt syntagmatisch ausgerichteter Situationsveränderung enervierend immer gleiche Repetition (A– [B=]A). Dies ist der Schritt zum „paradigmatische[n] Erzählen“68. Es ist zugleich eine Absage an das lineare Wirklichkeitsverständnis. Trotz allen Handelns und Agierens bleiben die Resultate aus. Bis hin zu ihrem Tod verbleibt Emma in A. Ähnlich wie sich in früher Neuzeit Sujetfügungen in zunehmender Verzweiflung am Phantasma zyklischer Restitution abarbeiten, zeigen sie ab der zweiten Hälf-

|| 67 Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 175 f. 68 Zum Gedanken eines ernsthaft mit Flaubert beginnenden, am Beginn der ‚Moderne‘ zu lokalisierenden ‚paradigmatischen Erzählens‘ siehe Rainer Warning: „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209, S. 179 u. ö.

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te des 19. Jahrhunderts deutliche Skepsis am Gedanken linearer Realisierbarkeit von Resultaten.

4 ‚Er-zählte‘ Proliferation multipler Welten. Infiniter Raum und kontingente Bewegung Solche Skepsis ist namhaft gemacht worden für die erzählten Welten ab der Moderne.69 Sie zeigt sich zunächst in einer Reduktion von ‚Welt‘ und Ereignishaftigkeit. Flauberts Éducation sentimentale (1869) folgt privat – als Liebessujet – wie öffentlich – als Sujet politischer Revolution – dem in der Bovary beobachteten Muster repetitiver Annullierung (A–[B=]A), bevor sie sich in der spektakulären Schlussanalepse gänzlich nichtet als – eine womöglich einem nichtlinearen Fehlen einer geraden Linie („défaut de ligne droite“) oder auch umgekehrt einem überlinearen Übermaß an Geradheit („excès de rectitude“), in jedem Fall aber figural dem Zufall („hasard“) bzw. den kontingenten Umständen der Zeit („circonstances de l’époque“) geschuldete – Erzählung von an sich gar nicht Erzählenswertem.70 Diesem Muster scheiternden Ausbruches folgen die Sujets etwa eines James Joyce: Auch sie operieren, solange sie noch im mimetischen Raum agieren, am Phantasma der Realisierbarkeit und verweigern konsequent die Resultate.71 Der ‚literarische‘ Glaube an lineare Verkettbarkeit korrodiert. Realität ist in maßgeblichen Sujets fortan nicht mehr das Resultat einer von einem eigenverantwortlichen Subjekt durchgeführten Realisierung; sie ist kontingent, widerständig, undurchdringbarer ‚Filz‘: „Das Ich ist ein fließender Ring in der Ursachenkette,“ erklärt Dr. Pfeifenstrauch in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930–42) den neugierigen Besuchern der Moosbruggerschen Irrenanstalt und fährt fort:

|| 69 Zu den Schüben ‚epistemologischer‘ Skepsis bis hin zu ‚ontologischer‘ Skepsis gegenüber ‚erzählten‘ Welten siehe Brian McHale: Postmodernist Fiction. London 1987, vor allem S. 9–11; ich kann den weiteren Verlauf des Sujetumbaues, der sich nicht teleologisch auf ein Ziel gerichtet versteht, sondern vielmehr als aus Akten wiederum zunehmend verzweifelter Assimilation und einer gegenwärtig in Ermangelung eines neuen ‚positiven‘ Wirklichkeitsbegriffs (vgl. Anm. 72) stets nur tentativ bleibenden Akkommodation gespeist, hier nur mehr skizzieren. 70 Gustave Flaubert: L’Éducation sentimentale. Histoire d’un jeune homme [1869]. Hg. v. Claudine Gothot-Mersch. Paris 1985, S. 508; siehe hierzu Warning: (Anm. 67), vor allem S. 311, Anm. 67. 71 Dies habe ich zu zeigen versucht in Andreas Mahler: „Joyce’s Bovarysm. Paradigmatic disenchantment into syntagmatic progression“. In: Comparatio 5 (2013), S. 249–295.

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und diese ist gar keine Kette, sondern ein Gefilz; wir sind unsre eigene Mitursache und Mitfolge. Nehmen Sie an, ein Herr A. kommt zu einem Herrn B. und reizt ihn zur Eifersucht gegen einen C. Dann geht er zu C. und bestellt ihn irgendwohin, wo ihn B. unter verdächtigen Umständen treffen muß. Es geschieht, und B tötet den C: war A. dran Schuld?72

Trotz allen Kausalitätsaufwandes scheint die Welt (zumindest literarisch) linear nicht mehr interpretierbar: Die Motivation ‚von vorn‘ als welterklärendes Modell wird eindringlich befragt und beginnt zu schwinden.73 Das Räumlichkeitsmodell der ein-direktionalen Linie (A–B bzw. B–A) dankt ab; es wird ersetzt durch Figuren der Kurve, des Labyrinths, der Bifurkation, des Rhizoms, der vertikalen Ebenenflucht, der Möbius’schen Fläche.74 Der offene Raum findet sich nicht mehr gebannt durchmessen durch lineare Bewegung, vielmehr erscheint er als infiniter Raum ‚heterogenisierend‘ pluralisiert in die Relationalität kontingenter Bewegungen. ‚Welt‘ wird nicht mehr mimetisch (nach)erzählt, sondern multipel hergestellt, im wahrsten Sinn ‚er-zählt‘, performativ vor uns gemacht: Reduktion kippt in Proliferation.75 Dies zeigt sich mit Insistenz in den Erzählungen etwa eines Jorge Luis Borges. Borges war mit den

|| 72 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften [1930–42]. 2 Bde. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1987, Bd. II, S. 1697; zu einer Analyse genau dieses „Gefilzes“ siehe Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 240–243. Zum diesbezüglichen Versuch der Erfassung ‚gegenwärtiger‘ Wirklichkeit mit dem Etikett ‚Kontingenz‘ oder ‚Widerstand‘ als ‚das dem Subjekt nicht Gefügige‘ siehe Blumenberg (Anm. 32), S. 53 f.; dieser gegenüber dem antiken Konzept der ‚momentanen Evidenz‘, dem mittelalterlichen der ‚in Gott verbürgten Garantie‘ und dem aufklärerischen von Realität als dem ‚Resultat einer Realisierung‘, vierte, von Blumenberg ins Spiel gebrachte Wirklichkeitsbegriff unterscheidet sich von den drei anderen durch seine Negativität: Statt wie sie das avisierte Wirklichkeitskonzept positiv zu benennen, scheint er lediglich das Ausbleiben von Realisierung zu vermerken, erweist sich also als bloße Negation des dritten Konzeptes. Eine positive Benennung eines das Realisierungsphantasma ablösenden Wirklichkeitskonzeptes steht mithin noch aus. 73 Zu den unterschiedlichen Motivationsrichtungen siehe oben Anm. 57 und den entsprechenden Kommentar. 74 Einer der ersten Texte, welcher Linearitätskonzepte kaum nach ihrer Geltung beanspruchenden Einführung bereits wieder zu befragen beginnt, ist bekanntermaßen Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman [1759–66]. Hg. v. Graham Petrie. Harmondsworth 1975, dort vor allem das Kapitel über die Linien ‚gerader‘ und ‚ungerader‘ Erzählvorgänge (VI.40, S. 453–455); zu unterschiedlichen ‚Welten‘, Weltkonstruktionen und Papierwelten, vor allem unter dem Begriff der ‚zone‘, siehe McHale: (Anm. 69), S. 43–58; 99–130; 179–196. 75 Zur Unterscheidung von ‚Mimesis‘ im Sinne von ‚Imitieren‘, ‚Nachahmen‘ von (vermeintlich) Gegebenem und ‚Performanz‘ als ‚Symbolisieren‘, ‚Vorahmen‘ von noch nicht Existentem siehe Iser (Anm. 21), S. 426–480.

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narrativen Errungenschaften eines Flaubert wie Joyce wohlvertraut.76 Seine Kurzgeschichte Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1940) ist eine Stilübung narrativer Welterzeugung; sie schafft aus der ‚Konjunktion eines Spiegels und einer Enzyklopädie‘ („la conjunción de un espejo y de una enciclopedia“77) im Landhaus des (realen, fiktiven) argentinischen Dichters Adolfo Bioy Casares eine Raumflucht vom in Klein-Asien gelegenen Land „Uqbar“ zu dessen Fantasiereich „Tlön“ zu dessen enzyklopädischer Erfassung in Gestalt eines eigenen Planeten namens „Orbis Tertius“, d. h. sie erzählt von einer Welt, aus deren Raum sie von einer weiteren Welt erzählt, die noch eine, und schließlich noch eine, Welt ‚erzählen‘ lässt. Dieser Teleskopierung der Diegesen (intra/hypo/hypohypo/hypohypohypo) entspricht auf Autorenseite die Vervielfältigung der Instanzen: Der reale Autor Borges schreibt einen Text, dessen impliziter Autor ‚Borges‘ eine Welt erfindet, in welcher der fiktive (homodiegetische) Erzähler „Borges“ in Ramos Mejía auf eine im Raubdruck hergestellte unautorisierte Enzyklopädie stößt, aus der sich aus Versehen („Ups“; S. 15) aus einer Spiegelung und einer (logischen) Konjunktion (‚p q‘) auf fünf zusätzlichen Seiten das Supplement einer weiteren Welt („Uqbar“) herstellt, deren Literatur eine erneute Welt („Tlön“) kennt, deren enzyklopädische Erfassung unter dem Titel „Orbis Tertius“ sodann einen ganzen Planeten („la historia total de un planeta desconocido“; S. 20) entbirgt. Ohne Unterlass gebären die Räume der Erzählung weitere ‚erzählte Welten‘. Dies ist nicht mehr die dem Roman eignende ‚Möglichkeit‘ einer Welt78; es ist die für Borges’ Erzählungen typische und in der Folge modellbildende (im Prinzip unendliche, nicht mehr stillstellbare) Proliferation immer noch mehr, immer ‚neuerer‘ erfundener, ‚er-zählter‘ Welten. Das Sujet verändert sich. Syntagmatisch weltdeutende Mimesis kippt in paradigmatische Performanz des Imaginären.

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|| 76 Siehe zu beiden Autoren etwa Jorge Luis Borges: „Vindicación de ‘Bouvard et Pécuchet’“ [1932] sowie „Flaubert y su destino ejemplar“ [1932]. In: Ders.: Prosa completa. 3 Bde. Hg. v. Carlos v. Frías. Barcelona 1980, Bd. I, S. 205–209 und S. 211–214; ich zitiere Borges stellvertretend für eine lange, sich nicht zuletzt gerade auch an ihn anschließende Folge von (Prosa-) Schriftstellern des 20. und 21. Jahrhunderts, deren (arbiträre) Linie etwa maßgeblich über Thomas Pynchon führt bis hin zu, sagen wir, Mark Z. Danielewski. 77 Jorge Luis Borges: „Tlön, Uqbar, Orbis Terius“ [1940]. In: Ders.: Ficciones [1944]. Madrid 2003, S. 13–40, hier S. 13; alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 78 Vgl. oben Anm. 32.

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Ein See, zwei Ufer Raum und erzählte Welt des Markusevangeliums Womit soll man Unvergleichliches vergleichen, und wie soll man Unbegreifliches auf den Begriff bringen? Wie kann man, „was kein Auge gesehen hat“, vor Augen stellen, „und was kein Ohr gehört hat“, zu Gehör bringen?1

1 Einleitende Überlegungen zur Enzyklopädie und funktionalen Relation neutestamentlicher Texte Die 27 Schriften des Neuen Testaments stellen das „Grunddokument“2 des frühchristlichen Wirklichkeitsverständnisses dar. In diesen Schriften unternimmt die frühe Christenheit den – keineswegs ohne innere Kontroversen ablaufenden – Versuch, die von ihr erfahrene Glaubensgewissheit, d. h. die durch das Gekommensein, Leben und Sterben Jesu Christi neu erschlossene Weltsicht, sich selbst und anderen bildhaft vor Augen zu stellen und verständlich zu Gehör zu bringen. Die im Neuen Testament hierbei anzutreffende Pluralität an Weltentwürfen resultiert aus dem generationenübergreifenden Bemühen der neutestamentlichen Autoren, ihre Glaubensgewissheit in – räumlich, zeitlich und kulturell – wandelnde Kommunikationssituationen hinein zu übertragen und in Auseinandersetzung mit jüdischen und paganen Weltentwürfen zu formulieren. In großer literarischer Freiheit sowie mit teils theologischer Kühnheit greifen die Autoren des Neuen Testaments auf die diversen Vorstellungen und Weltentwürfe ihrer antiken Umwelt zurück. Die Weltbilder, die im Neuen Testament entworfen werden, sind damit nicht ‚selbstverständlich‘, sondern sie bedienen sich || 1 Hans-Joachim Eckstein: „So haben wir doch nur einen Gott. Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament“. In: Ders.: Kyrios Jesus. Perspektiven einer christologischen Theologie. Neukirchen-Vluyn 2010, S. 3–33, hier S. 3. Zu den Teilzitaten vgl. Jes 64,3 und 1Kor 2,9. Alle weiteren Übersetzungen dieses Beitrags erfolgen hingegen durch J. R. 2 Vgl. hierzu ausführlich Peter Lampe: Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie. Neukirchen-Vluyn 2009. https://doi.org/10.1515/9783110626117-015

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einer überaus vielfältigen Enzyklopädie (im Sinne Umberto Ecos)3 bzw. kognitiven Verstehensschemata4: Sie setzen das politische, topografische und architektonische Vorwissen der Rezipienten voraus, fußen auf den religiös-moralischen Werten und Normen ihres spezifischen Kulturraums oder bedienen sich komplexer Wirklichkeitskonstrukte, wie z. B. der Auferstehungshoffnung. Die neutestamentlichen Weltbilder sind dabei nicht nur einfaches Abbild vorgegebener bzw. zuvor artikulierter Wirklichkeitsverständnisse. Vielmehr verweist die Pluralität der im Neuen Testament anzutreffenden Weltentwürfe bereits auf deren „funktionale Relation“5: Die neutestamentlichen Autoren setzen ihr jeweiliges Wirklichkeitsverständnis in Bezug zu anderen Wirklichkeitskonstrukten, indem sie diese bestätigen, fortschreiben, verfremden, transponieren, relativieren, konzentrieren, dramatisieren, dementieren usw. Es geht den neutestamentlichen Autoren – trotz ihres erkennbaren historischen Grundinteresses – letztlich nie darum, eine Welt lediglich abzubilden, sondern zugleich immer auch darum, in die Lebenswelt der intendierten Rezipienten6 einzugreifen und, nicht selten wider allen Augenscheins, eine hoffnungsvolle Gegenwelt zu evozieren. Inmitten dieses frühchristlichen Milieus, das darum bemüht ist, sein eigenes Weltbild zu finden, zu veranschaulichen und sich dessen zu vergewissern, stellt das Markusevangelium einen besonders interessanten und für die Raumthematik aufschlussreichen Forschungsgegenstand dar. Nach den Briefen des Paulus, die in argumentativer Weise das Weltbild des frühen Christentums entfalten, ist das Markusevangelium die erste Erzählung dieser jungen Glaubensbewegung. Die Konzeption des Raums und die erzählte Welt dieses Textes spie-

|| 3 Siehe Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten [La cooperazione interpretativa nei testi narrativi, 1979]. Übers. v. Heinz G. Held. 3. Aufl., München 1998, S. 94–106. 4 Der aus der Kognitionswissenschaft stammende Begriff des Schemas konzentriert sich auf die Bedingungen des Verstehens im Lektüreprozess. Er lässt sich differenzieren in a) statische frames, d. h. inhaltlich-semantisches Vorwissen, und b) prozesshafte scripts, d. h. Wissen um bestimmte Situationen, Handlungen und Ereignisse. Vgl. David Herman: „Scripts, Sequences and Stories. Elements of a Postclassical Narratology“. In: Proceedings of the Modern Language Association 112/5 (1997), S. 1046–1059. 5 Andreas Mahler: „Kontextorientierte Theorien“. In: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorien, Analysen, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 115–124, hier S. 116. 6 Unter intendierten Rezipienten wird hier das mentale Modell verstanden, das sich der Autor von seinen Rezipienten macht. Der intendierte Rezipient ist somit weder eine bloße Textstruktur noch mit dem realen Leser identisch. Vgl. hierzu Sönke Finnern: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28. Tübingen 2010, S. 52 f.

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geln die missionarische Euphorie der Zeit wider und stellen den Rezipienten auf eindrückliche Weise vor Augen, wie sich das „Evangelium von Jesus Christus“ (Mk 1,1), das sich durch dessen Auftreten und Wirken manifestiert (Mk 1,15), unaufhaltsam über die Grenzen Galiläas hinaus in die umliegenden, heidnischen Gebiete ausbreitet. In analytischer Hinsicht sind hier vor allem das Primärsetting am See von Galiläa sowie Jesu sonderlicher Reiseweg über Tyros (Mk 7,24– 30) und Sidon in die Dekapolis (7,31–37) von Interesse. Um das Jahr 70 n. Chr., also rund 40 Jahre nach dem Kreuzestod Christi und knapp 20 Jahre nach dem ersten Schreiben des Apostels Paulus, wird die markinische Erzählung zugleich in eine Situation des jüdischen Krieges hineingeschrieben, in der die Zerstörung des Jerusalemer Tempels unmittelbar bevorsteht oder sich jüngst ereignet hat7 und die Gemeinde zahlreichen inneren wie äußeren Konflikten ausgesetzt ist. In dieser Situation der tiefen Verunsicherung erinnert das Markusevangelium seine Rezipienten an den Anbruch der Königsherrschaft Gottes (basileía tou theou)8 und stellt anhand der zahlreichen Heilungsberichte vor Augen, welche revolutionäre und Grenzen überwindende Kraft dieser innewohnt. Gleichzeitig wird die Ablehnung gegenüber Jesus dadurch erklärt, dass Menschen in althergebrachten Lebensverhältnissen sowie Weltbildern verharren. Die Rezipienten sollen demgegenüber in die Nachfolge Christi gerufen werden, wenngleich sich diese unter den konkreten politischen und sozialen Umständen als entbehrungsreich und gefährlich darstellt. Mitten in der Not, so der Zuspruch des Evangeliums, ist es der auferstandene Christus selber, der seiner Gemeinde vorangeht (Mk 16,7) und den intendierten Rezipienten nahe ist.

2 Methodik: Raumbezogene Analysekriterien im Dialog von Exegese und Narratologie Bevor der Raum und die erzählte Welt des Markusevangeliums analysiert werden, sollen an dieser Stelle zunächst eine methodische Klärung und eine Be-

|| 7 Vgl. zu den Datierungsmöglichkeiten Eve-Marie Becker: Das Markusevangelium im Rahmen antiker Historiographie. Tübingen 2006, S. 77–80. 8 Im Unterschied zur jüdischen Apokalyptik, die ihrerseits einen starken Dualismus zwischen der Königsherrschaft Gottes und den Heidenvölkern propagiert (vgl. z. B. TestXII 5,10–13; 1QM VI,6; Sib 3,767 f.), ereignen sich im Markusevangelium die Zeichen dieser Königsherrschaft auch auf heidnischem Gebiet und bewirken dort einen beispielhaften Glauben.

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schreibung der zugrunde gelegten Analysekriterien erfolgen. Notwendig ist eine solche Klärung allein schon deshalb, weil im innerexegetischen Forschungsdiskurs (diverse) narrative Ansätze und eine historisch-kritische Methodik zumeist unverbunden nebeneinander bestehen bleiben bzw. deren Verhältnisbestimmung noch nicht hinreichend reflektiert wurde.9 So erweist sich die immer wieder anzutreffende Grobunterscheidung zwischen ‚diachronen‘ und ‚synchronen‘ Methodenschritten in der eigentlichen Auslegungspraxis häufig als wenig ergiebig. Durch die kurze Darstellung bisheriger Zugänge und Fragestellungen sollen ebendiese methodischen Defizite offengelegt und der Mehrwert einer narratologisch informierten Exegese verdeutlicht werden. Hierbei wird sich zeigen, dass vor allem neuere kontextorientierte bzw. kognitive Ansätze aus dem Bereich der Narratologie für die Exegese fruchtbar gemacht werden können.

2.1 Innerexegetischer Forschungsstand aus narratologischer Perspektive Überblickt man die bisherigen innerexegetischen Forschungen zum Raum im Markusevangelium, so lassen sich weitestgehend drei Interessensgebiete voneinander abgrenzen. Es handelt sich um das Interesse 1. am geografischen Wissensstand des Autors, 2. an der diachronen Textdimension, d. h. den historischen Hintergründen und/oder der Textgenese, sowie 3. an der synchronen Textdimension, d. h. der Textstruktur und/oder den Möglichkeiten einer (textimmanenten) Interpretation. 1. Interesse am Autor/Erzähler10: Die geografischen Kenntnisse des ersten Evangelisten sowie dessen Fertigkeiten zur Ausgestaltung eines einheitlichen Erzählraums werden seit Rudolf Bultmanns negativem Diktum11 aus dem Jahre

|| 9 Vgl. Sönke Finnern/Jan Rüggemeier: Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehrund Arbeitsbuch. Tübingen 2016, S. 173–176. 10 Im Fokus des exegetischen Interesses steht der ‚historische‘ Autor, der zumeist nicht vom Erzähler des Evangeliums unterschieden wird. Im Falle des Markusevangeliums wäre eine solche Differenzierung auch tatsächlich künstlich, da der Autor zumindest keinen Erzähler konstruiert, den die intendierten Rezipienten von seiner eigenen Person unterscheiden könnten. Vielmehr tritt hier der Autor als Erzähler auf. Ich folge hiermit dem Autor/ErzählerVerständnis von Finnern (Anm. 6), vor allem S. 47–56, und verwende im Folgenden nur noch den Begriff des Erzählers. 11 Vgl. Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition [1921]. Mit einem Nachwort von Gerd Theißen. 10. Aufl., Göttingen 1995, S. 364.

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1921 bis in die heutige Forschung hinein immer wieder kritisch beurteilt. So attestiert Martin Ebner dem Erzähler des Markusevangeliums eine „katastrophale Landeskunde“12 und verweist dabei auf die fragwürdige Lokalisierung Gerasas (Mk 5,1) sowie die sonderbaren Reiserouten Jesu in Mk 7,31 und 11,1. Diese Mängelliste ließe sich noch problemlos erweitern.13 Allerdings stellt sich in methodischer Hinsicht die Frage, ob man die geografischen Kenntnisse eines antiken Erzählers durch den Hinweis auf derartige Ungereimtheiten überhaupt bewerten kann. In jedem Fall darf eine solche Beurteilung nicht zu vorschnell auf der Grundlage heutiger Kilometermessungen oder eines exakten Kartenmaterials erfolgen. Für die Interpretation erscheint es methodisch angemessener zu sein, die geografischen Angaben eines historischen Textes mit zeitgenössischen Quellen sowie dem Wirklichkeitsverständnis und Weltwissen antiker Rezipienten zu vergleichen.14 Zudem gilt es unter Berücksichtigung literarischer Konventionen und des prozeduralen Vorwissens der Rezipienten nach möglichen Lesestrategien zu fragen, die bei der Bewältigung geografischer Ungereimtheiten helfen konnten.15 Im analytischen Teil dieses Artikels wird sich die von Jan Alber zur Interpretation ‚unnatürlicher Welten‘ vorgeschlagene Strategie des foregrounding the thematic16 als hilfreiche Beschreibungsmöglichkeit erweisen (siehe Abschnitt 3.1). 2. Interesse an der Diachronie: Beginnend mit Ernst Lohmeyers wegweisender Studie zu Galiläa und Jerusalem im Markusevangelium17 zeigt sich vor allem in der deutschsprachigen Exegese ein starkes Interesse an den historischen Hintergründen der markinischen Erzählung sowie den Prozessen der Textgene-

|| 12 Martin Ebner/Stefan Schreiber: Einleitung in das Neue Testament. 2. Aufl., Stuttgart 2013, S. 156 f. 13 Z. B. Mk 6,53 (Gennesaret wird statt Bethsaïda erreicht); 10,1 (Reiseweg über Gebiete jenseits des Jordans); Fehlen zentraler Residenzstädte (Sepphoris/Tiberias). 14 So bereits Paul Gerhard Klumbies: „Das Raumverständnis in der Markuspassion“. In: Ingrid Baumgärtner/Paul-Gerhard Klumbies/Franziska Sick (Hgg.): Raumkonzepte: Disziplinäre Zugänge. Göttingen 2008, S. 127–144, hier S. 128 f. Vgl. auch Kai Brodersen: Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung. Hildesheim u. a. 1995, S. 54–58 und 191–199, der für die römische Geografie gezeigt hat, dass diese weitgehend auf subjektive Wegbeschreibungen und Itinerare konzentriert war. 15 Vgl. diesbezüglich etwa Peter Dschulnigg: Das Markusevangelium. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. Bd. 2. Stuttgart 2007, S. 196, der den in Mk 6,53 anzutreffenden Bruch in der Raumdarstellung mit dem Hinweis auf Fallwinde erklärt. Damit setzt Dschulnigg bereits ein spezifisch nautisches Wissen der Rezipienten voraus. 16 Jan Alber: „Impossible Storyworlds – and What to Do With Them“. In: Storyworlds 1/1 (2009), S. 79–96, hier S. 85 f. 17 Siehe Ernst Lohmeyer: Galiläa und Jerusalem. Göttingen 1936.

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se. Lohmeyers These lautet in dieser Hinsicht, dass in der markinischen Erzählung eine programmatische Opposition zwischen Galiläa und Jerusalem konstruiert werde, die allerdings nicht erst das Werk des Evangelisten sei, sondern die sich auf Gemeindezwistigkeiten zwischen Jerusalem und Galiläa zurückführen ließe. Galiläa sei im späten 1. Jahrhundert zur terra christiana avanciert und die Tatsache, dass Galiläa im Markusevangelium als zentrale Wirkstätte Jesu und Ort nahezu aller Wunder erscheine, spiegele diese Situation wider. Wenngleich Lohmeyers These in den darauffolgenden Jahrzehnten zahlreiche Modifikationen erlebte18 und vor allem die Existenz einer namhaften galiläischen Gemeinde in Zweifel gezogen wurde,19 konzentriert sich ein Großteil deutscher Exegeten bis heute auf derartige historische Haftpunkte der markinischen Erzählung bzw. einzelner Traditionsstücke. So wird die Tatsache, dass im Markusevangelium bedeutende Residenzstädte wie Sepphoris und Tiberias unerwähnt bleiben, auf die vermeintliche Zurückhaltung des historischen Jesus zurückgeführt20 oder man versucht, die unterschiedlichen Traditionsstücke – wie z. B. den Passionsbericht oder die Wundersammlung (Mk 4,35–5,43) – historisch zu kontextualisieren und vor dem Hintergrund konkreter Gemeindesituationen plausibel zu machen. Zweifelsohne bleiben solche historischen Rückfragen und eine Analyse der Textgenese auch zukünftig ein wichtiges und berechtigtes Anliegen exegetischer Forschungsarbeit. Allerdings muss meines Erachtens stärker zwischen den unterschiedlichen Textzugängen bzw. -dimensionen unterschieden werden. Häufig mündet die diachrone Analyse zu schnell in die Interpretation des Endtextes. Für die Interpretation sind die historischen Bezüge sowie die Stadien der Textentwicklung allerdings nur dann von Relevanz, wenn den intendierten Rezipienten diese Aspekte ebenfalls bewusst waren. Methodisch ist also stärker zwischen den konkreten Verstehensschemata der Rezipienten und einem allgemeinen historischen oder traditionsgeschichtlichen Kontext zu differenzieren.21 Zugleich macht die Vielfalt an kognitiven

|| 18 Vgl. zum Verlauf dieser Forschungsgeschichte ausführlich Elizabeth Struthers Malbon: „Galilee and Jerusalem: History and Literature in Marcan Interpretation“. In: Catholic Biblical Quarterly 44 (1982), S. 242–247. 19 Vgl. hierzu Günter Stemberger: „Galilee – Land of Salvation?“. In: William D. Davies (Hg.): The Gospel and the Lord. Berkeley 1974, S. 409–438, vor allem S. 415–421. 20 So etwa Klaus Scholtissek: „Von Galiläa nach Jerusalem und zurück. Zur theologischen Topographie im Markusevangelium“. In: Gunda Brüske/Anke Händler-Kläsener (Hgg.): Oleum laetitiae. Festgabe für P. Benedikt Schwank. Münster 2003, S. 56–77, hier S. 61. 21 So bereits Finnern (Anm. 6), S. 473, der die Kriterien der „Erinnerungsnähe“ und „Parallelität“ vorschlägt.

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Schemata, die in der Narratologie diskutiert werden, dafür sensibel, dass die Exegese bisher längst nicht alle für die Interpretation relevanten Vorverständnisse in den Blick nimmt. „Geprägte Traditionen und Motive sowie Realia erfassen noch nicht alles, was im intendierten Rezipienten an Vorstellungen entsteht.“22 Insbesondere der Bereich des Alltagswissens und der prozeduralen Vorverständnisse (scripts), mit deren Hilfe Rezipienten die Handlungsverläufe einer Erzählung antizipieren, werden bisher noch nicht systematisch berücksichtigt. 3. Interesse an der Synchronie: Mit dem Aufkommen der redaktionsgeschichtlichen Forschung in den 1950er Jahren und dem damit einhergehenden Bewusstsein dafür, dass die neutestamentlichen Schreiber nicht nur als Sammler und Tradenten, sondern zugleich als Theologen zu begreifen seien, wandte sich die Markusexegese verstärkt dem Endtext zu. So lässt sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein stetig wachsendes Interesse an den Möglichkeiten der Kompositions- und Textstrukturanalyse erkennen, das durch die in Deutschland aufkommende narrative Analyse Ende der 1980er Jahre23 zusätzlichen Auftrieb erhielt. Die Exegese beschränkte sich allerdings lange Zeit auf den textimmanenten Ansatz des französischen Strukturalismus. Doch auch durch die allmähliche Entdeckung des rezeptions- bzw. wirkungsästhetischen Ansatzes in der Exegese24 lässt sich das Problem eines methodischen Nebeneinanders von historisch-kritischer Methodik und narrativer Analyse noch nicht befriedigend lösen. So wird etwa durch Wolfgang Isers Kategorie des impliziten Lesers25 zu wenig „das benötigte Vorwissen und die typischen Verstehensprozesse bei der Lektüre [...] berücksichtigt“, und „die Rede von ‚Leerstellen‘ erfordert eigentlich die genaue Rekonstruktion kognitiver Inferenzprozesse“26. Auch im englischsprachigen narrative criticism, der seinerseits vom (New) Literary Criticism beeinflusst wurde und sich deshalb durch eine programmatische Abwertung des historischen Kontextes auszeichnet, konnte es zu keiner

|| 22 Finnern (Anm. 6), S. 471. 23 Vgl. Wilhelm Egger: Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden. Freiburg u. a. 1987, S. 119–133. 24 Tatsächlich lässt sich in der Markusexegese erst seit den 1990er Jahren eine umfassendere Einbeziehung rezeptionsästhetischer Ansätze beobachten. Vgl. dazu Christian Rose: Theologie als Erzählung im Markusevangelium. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Untersuchung zu Mk 1,1–15. Tübingen 2007, S. 45–63. 25 Vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des englischen Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972. 26 Finnern (Anm. 6), S. 187.

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Annäherung zwischen exegetischer und narratologischer Methodik kommen. Beispielhaft betont Elizabeth Struthers Malbon in ihrer Monografie zum narrative space im Markusevangelium: „The Marcan text intends to be ‘the beginning of the good news of Jesus Christ, the Son of God‘. In interpreting such a text, an historical approach is inadequate, a literary approach promising.“27

2.2 Narratologische Analysekategorien Einen neuen Horizont für die bisher auf textimmanente und rezeptionsästhetische Ansätze fokussierte Exegese eröffnet meines Erachtens erst die kognitive Wende innerhalb der Narratologie. Dass Rezipienten über ein historisch und kulturell spezifisches Vorwissen verfügen, kann in der Exegese dafür sensibilisieren, dass es stärker zwischen den tatsächlichen Verstehensvoraussetzungen der Rezipienten und einem allgemeinen traditionsgeschichtlichen Bezugsrahmen (‚Umwelt des Neuen Testaments‘) zu unterscheiden gilt. So lässt sich das durchaus reiche historische Wissen der Exegese konkreter in die Interpretation einbeziehen. Dass Rezipienten zudem die Fähigkeit besitzen, die Handlung zu antizipieren und im Lektüreprozess Schlussfolgerungen zu ziehen, verdeutlicht, dass die bislang ausschließliche Berücksichtigung expliziter Ortsangaben zu kurz greift. Stattdessen gilt es, das mentale Modell28 des Raums zu rekonstruieren, das bei den intendierten Rezipienten durch die markinische Erzählung evoziert wird und das sich über den Lektüreprozess hinweg weiterentwickelt. In Anlehnung an Marie-Laure Ryan29 lassen sich für die Analyse folgende drei Kategorien formulieren: 1. Als Raum soll in diesem Aufsatz die jeweilige Umgebung eines tatsächlich stattfindenden Ereignisses verstanden werden (spatial frame30), die zum Teil explizit erwähnt wird oder von den Rezipienten aus dem Erzählten erschlossen wird. Häufig lässt sich die Umgebung in weitere Unterräume untergliedern oder setzt diese voraus. So stellt in Mk 2 der Ort Kapharnaoum den übergeordneten

|| 27 Elizabeth Struthers Malbon: Narrative Space and Mythic Meaning in Mark. San Francisco 1986, S. 255. 28 Vgl. zum Raum als mentales Modell Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin/ New York 2009, S. 99–114. Auch Dennerlein unterstreicht die Bedeutung eines Modell-Lesers, „dem die Kenntnis aller einschlägigen Codes und alle notwendigen Kompetenzen zugeschrieben werden, um die vom Text geforderten Operationen erfolgreich durchzuführen“ (S. 196). 29 Marie-Laure Ryan: „Space“. In: Peter Hühn u. a. (Hgg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/space [abgerufen am 27.07.2018]. 30 Vgl. Ryan (Anm. 29), § 9.

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Ereignisraum dar, während das Innere und Äußere der dortigen Synagoge jeweils weitere Unterräume darstellen. Die Räume lassen sich im Hinblick auf ihre Darstellungsgenauigkeit, die Reihenfolge ihrer Präsentation sowie die Art ihrer Verknüpfung oder ihre Wandelbarkeit beschreiben. Auf narrativer Ebene ist darauf zu achten, aus welcher Perspektive der Raum geschildert und wahrgenommen wird. Die Rezipienten haben nicht selten konkrete Vorverständnisse von einzelnen Räumen (z. B. von der Beschaffenheit einer Synagoge oder einer Grabeshöhle) sowie von deren Ausmaß. Die einzelnen Räume können Bewegungen und Handlungen der Figuren begünstigen (‚Aktionsraum‘), indem sie beispielsweise Gegenstände bereithalten oder Übergänge ermöglichen, oder umgekehrt eine Handlungsgrenze markieren.31 Solche Grenzen können nach Jurij M. Lotman vorübergehend (restitutive Grenzüberschreitung) oder permanent (revolutionäre Grenzüberschreitung)32 überwunden werden. In der markinischen Erzählung besitzen Grenzüberschreitungen eine wichtige Funktion, da sie die Dynamik der angebrochenen Königsherrschaft Gottes veranschaulichen (vgl. Abschnitt 3.2). 2. Die erzählte Welt besteht nicht allein aus der Anzahl aller explizit erwähnten Räume. Zur erzählten Welt gehören vielmehr auch jene Räume, die durch das Auftreten einzelner Figuren sowie das entsprechende Vorwissen der Rezipienten vorauszusetzen sind.33 Im Markusevangelium muss z. B. durch die Erwähnung des Kaisers (Mk 12,13–17) und eines centuríōn (Mk 15,39) die Existenz Roms bzw. des gesamten Imperium Romanum angenommen werden. Die erzählte Welt erscheint damit weder als reine Textstruktur noch als bloßes Abbild einer textexternen ‚Wirklichkeit‘, sondern als mentales Modell der intendierten Rezipienten. Um die erwartbaren Gesetzmäßigkeiten (z. B. Naturgesetze) und die ethisch-religiösen Normen der erzählten Welt zu erfassen, müssen die Inferenzen zwischen den kulturell und zeitgeschichtlich geprägten Verstehensschemata der Rezipienten und den vorhandenen Textsignalen analysiert werden. Zu diesem Vorwissen der Rezipienten, das es historisch-philologisch zu

|| 31 Vgl. zum Begriff der Grenze Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte [Struktura chudožestvennogo teksta, 1970]. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 311–329 u. 337. Bei Lotman ist der Begriff der Grenze aber nicht allein auf räumliche Strukturen im engeren Sinne begrenzt, sondern umfasst auch soziale, religiöse und ethnische Gegensätze (vgl. S. 312). Diese fußen ihrerseits auf kulturell variablen Begebenheiten und können nur durch die Erschließung des textexternen Vorwissens hinreichend analysiert werden. 32 Vgl. zu dieser Terminologie Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. Aufl., München 2012, S. 158. 33 Vgl. Ryan (Anm. 29), § 11–12.

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ergründen gilt, zählen politische, sozio-kulturelle, topografische und architektonische Alltagskenntnisse ebenso wie das Wissen um die Symbolik von Orten. 3. Auch der Schauplatz (setting) einer Erzählung ist als mentales Modell zu verstehen. Im Lektüreprozess setzen die Rezipienten die einzelnen Räume in Relation zueinander und fügen diese aufgrund ihres textexternen Vorwissens zu einem abstrahierten Schauplatz mit bestimmten sozialen, ethnischen, geografischen und historischen Bestimmtheiten zusammen. Das setting übernimmt im Lektüreprozess eine wichtige Orientierungsfunktion, kann sich aber meines Erachtens über den Erzählverlauf hinweg durchaus wandeln.34 Man könnte in dieser Hinsicht zwischen einem Primär-, Sekundärsetting usw. unterscheiden. Über diese drei Kategorien hinaus ist bei der Analyse zu berücksichtigen, dass auf der diskursiven Ebene einzelne Figuren bzw. Figurengruppen individuelle Weltbilder formulieren können (z. B. in einem Gespräch) oder sich ein solches Weltbild aus ihrem Handeln ableiten lässt. Im Markusevangelium geben häufig die Äußerungen oder das Verhalten Auskunft darüber, ob eine Figur vom Anbruch der Königsherrschaft Gottes überzeugt ist oder welchen Werten und Normen sie folgt.

3 Analyse: Raum und erzählte Welt im Markusevangelium 3.1 Stereotypisierung und foregroundig the thematic als Aspekte der markinischen Raumdarstellung Ein See, zwei Ufer: So lautet die schlichte Geografie Galiläas, die zu Beginn des Markusevangeliums skizziert35 bzw. im Sinne eines oben beschriebenen Primärsettings evoziert wird. Es ist der See von Galiläa mit seinen beiden ethnisch disparaten Uferseiten, an den die Rezipienten – nach einem kurzen Auftakt in der Wüste Judäas (Mk 1,1–13) – geführt werden und der den wichtigsten Orientierungspunkt im anfänglichen Lektüreprozess darstellt (Mk 1,16–9,49). Mit Hilfe dieses Primärsettings können die intendierten Rezipienten die Übergänge zwi-

|| 34 Anders Ryan (Anm. 29), § 10: „[T]his is a relatively stable category which embraces the entire text.“ 35 Dass sich die Erzählung durch eine geringe Detailliertheit der Raumdarstellung auszeichnet, fällt auch im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Texten auf. Vgl. Josephus: Vita 398– 406 und Bell 3,506–521 oder 3,635.

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schen den einzelnen Schauplätzen und Episoden – ohne vermessungstechnisches Expertenwissen,36 ohne detaillierte Strukturanalysen37 und ohne kognitive Karte38 – mühelos verfolgen, weil einerseits die erwähnten Bootsüberfahrten zwischen beiden Uferseiten Orientierung bieten39 und Markus andererseits eine vereinfachende, stereotype Ausgestaltung beider Uferseiten vornimmt. So besitzt der See des Markusevangeliums – durchaus im Unterschied zur historischen Siedlungsstruktur40 – eine rein heidnische Uferseite im Osten und eine jüdische Uferseite im Westen, die jeweils im Wechsel aufgesucht werden. Diese ethnisch motivierte Raumaufteilung wird dadurch erzeugt, dass auf beiden Uferseiten repräsentative Figuren bzw. Figurengruppen41 auftreten, sich die Handlung auf typische Gebäude konzentriert bzw. jeweils entsprechende Rituale und Gebräuche erwähnt werden (z. B. Synagogengottesdienst, Sabbat) oder kleinere Requisiten zum Tragen kommen (z. B. Schaufäden am Gewand Jesu42). Durch die beiläufige Einstreuung solcher Anhaltspunkte, die wiederum an entsprechende frames der Rezipienten anknüpfen (z. B. Wissen um jüdische Klei|| 36 So Klumbies (Anm. 14), der meint, Markus präsentiere einen Raum in Kreuzform, und dies auf eine etruskische bzw. römische Vermessungstechnik zurückführt (siehe S. 142–144). 37 Siehe Malbon (Anm. 27), S. 17 f. und 152–168. Malbon listet im Zuge ihrer strukturalistischen Raumanalyse insgesamt 72 Relationen auf, leitet daraus letztlich aber eine – für den Strukturalismus keineswegs untypische, aber für die Interpretation wenig ertragreiche – Binarität von Ordnung (order) und Chaos (chaos) ab. 38 Mit Dennerlein (Anm. 28), S. 106–110, erscheint mir Ryans Theorie einer solchen kognitiven Kartierung nicht weiterführend zu sein. Solche cognitve maps führen „zu einer Beschränkung auf topographische Objekte [...], die nur eine Teilmenge des erzählten Raums ausmachen“ (S. 107), und bleiben an heutige Ordnungskategorien gebunden, die meist nicht von Relevanz sind (z. B. konkrete Himmelsrichtungen). Ob das markinische Kapharnaoum weiter im Norden liegt als Dalmanutha oder umgekehrt, ist für das Verständnis der Erzählung letztlich irrelevant. Die hier abgedruckte schematische Karte (Abb. 1) soll nichtsdestotrotz den Lesern dieses Beitrags eine grobe Orientierung bieten. 39 Vgl. Mk 4,35; 5,1; 5,21; 6,45; 6,53; 8,10; 8,13 und 8,22. 40 Vgl. zur historischen Siedlungsstruktur Jürgen K. Zangenberg: „Jesus – Galiläa – Archäologie. Neue Forschungen zu einer Region im Wandel“. In: Carsten Claußen/Jörg Frey (Hgg.): Jesus und die Archäologie Galiläas. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 7–38. 41 Auf der jüdischen Uferseite treten Pharisäer, Schriftgelehrte und ein Synagogenvorsteher (Mk 5,22) auf, während im heidnischen Gebiet z. B. Schweinebauern auftauchen (Mk 5,14–17). Der Beruf des Schweinebauern wurde von Juden aufgrund der Reinheitsvorschriften äußerst selten ausgeübt. Vgl. mBQ 7,7 („Schweine züchtet man nirgends“); Lev 11,7 f.; Dtn 14,6; Jes 65,4; 66,18. 42 Gemeint sind in Mk 6,56 die vier Schaufäden eines jüdischen Gebetsüberwurfs, die ein Jude zu tragen verpflichtet war (vgl. Num 15,38 f.; Dtn 22,12) und dessen Nichttragen sogar unter Strafe gestellt sein konnte. Vgl. hierzu Hermann L. Strack/Paul Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd. 2. 10. Aufl., München 2009, S. 277–292.

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dung), verfestigt sich im Rezeptionsprozess der Eindruck einer durch den See und die ethnischen Bestimmtheiten geteilten Landschaft. Mit Ausnahme von Jesus und seinen Jüngern, die regelmäßig von einem Ufer zum anderen übersetzen und für die der See trotz aufkommender Winde keine Handlungsgrenze darstellt, verbleiben alle übrigen Bewohner Galiläas in ihrem jeweiligen Ausgangsraum. Beide Teilräume erweisen sich in dieser Hinsicht als konstant.43

Sidon Tyros

Syrophönizien (heidnisch)

Cäsarea

Bethsaïda Kapharnaoum Galiläa (jüdisch) ? Dalmanutha

Dekapolis (heidnisch) See von Galiläa

Gerasa

Nazareth

Abb. 1: Schemakarte Primärsetting

Im Vergleich zu diesem Primärsetting, das sich auf den See von Galiläa und die beiden Uferseiten konzentriert, besitzt die erzählte Welt von Anfang an einen weiteren Horizont: Zum einen erscheint Galiläa als jener Ort, an dem sich in der

|| 43 Vgl. zu sozialen, religiösen und ethnischen Gegensätzen als Grenze Lotman (Anm. 31), S. 312.

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Person Jesu und durch sein Wirken die basileía tou theou manifestiert (vgl. Mk 1,14 f.). Zum anderen wird Galiläa von den Rezipienten als Grenzland wahrgenommen, in das die Menschen der umliegenden Landschaften herbeiströmen und von dem aus sich die Botschaft des Evangeliums unaufhaltsam ausbreitet. Diese umliegenden Gebiete geraten erstmals nach einem längeren Aufenthalt in Kapharnaoum in den Blick. War bereits dort davon die Rede, dass sich die Kunde über Jesus „in ganz Galiläa ausbreitete“ (Mk 1,28), und hatte Jesu Wirken dort zugleich zur Konfrontation mit den Autoritäten und zum frühzeitigen Mordplan geführt (Mk 2,1–3,6), so ist nun erstmals von einer größeren Menschenmenge die Rede, die Jesus an den See begleitet: Eine große Menge aus Galiläa folgte ihm nach und [zwar] aus Judäa und Jerusalem und Idumäa und von jenseits des Jordan und dem Umland von Tyros und Sidon. Eine große Schar, hörten sie doch, was er alles tat, und sie kamen zu ihm (Mk 3,7 f.).

Obwohl durch die Nennung dieser Regionen der Blick der Rezipienten über Galiläa hinaus gerichtet wird und mit Tyros und Sidon explizit nichtjüdische Orte bzw. Gebiete Erwähnung finden, wird diese Textstelle innerhalb der Exegese häufig als Hinweis auf eine angedeutete Rekonstitution Israels verstanden.44 Demnach würden die genannten Gebiete im Süden, Norden und Osten auf die ursprünglichen Grenzen Israels hinweisen. Die in Mk 3,7 f. genannten Regionen in diesem Sinne zu interpretieren, mutet den intendierten Rezipienten jedoch ein kaum vorstellbares Geschichts- und Geografiewissen zu. Diese müssten schließlich, im Sinne konkreter Verstehensschemata, das ursprüngliche Siedlungsgebiet Israels (annäherungsweise) kennen und mit den im Text genannten Gebieten identifizieren und dies, obwohl die Nennung der Gebiete weder vollständig ist, noch mit der ursprünglichen Bezeichnung der jüdischen Territorien übereinstimmt. Eine andere Interpretation ist meines Erachtens näherliegend: Mit Ausnahme von Idumäa werden die Gebiete im weiteren Erzählverlauf zu Orten exemplarischer Einzelbegegnungen, wobei jeweils die positive (Mk 7,24–31; 10,46– 52; 11,1–11) oder negative Wirkung (Mk 10,1-31; 11,15–19; 11,27–33) des zuvor verkündigten Evangeliums demonstriert wird. Konzentrieren wir uns in diesem Kontext auf Kapitel 7 des Markusevangeliums: Im Gebiet von Tyros und Sidon wird von einer beispielhaften Begegnung zwischen Jesus und „einer Griechin aus Syrophönizien“ (Mk 7,26) berichtet, wo|| 44 Vgl. Jens Schröter: „Jesus aus Galiläa. Die Herkunft Jesu und ihre Bedeutung für das Verständnis seiner Wirksamkeit“. In: Carsten Claußen/Jörg Frey (Hgg.): Jesus und die Archäologie Galiläas. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 245–270, hier S. 269.

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bei der Begriff der Griechin auf die Religion der Frau45 und Syrophönizien als Herkunftsbezeichnung auf die Region weiter nördlich verweist. Jesus begegnet der Frau zunächst abweisend und schlägt die erbetene Heilung der Tochter aus. In einem ebenso drastischen wie unmissverständlichen Bildwort wird der Heilsvorrang der Juden festgehalten: „Lass zuerst (prōton) die Kinder satt werden! Es ist nämlich nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hündchen (kunarion)46 vorzuwerfen“ (Mk 7,27). An dieser Stelle wird der intendierte Rezipient vom weiteren Gesprächsgang, in dessen Verlauf sich Jesus vom beispielhaften Glauben der Frau beeindrucken und zur Heilung umstimmen lässt, überrascht. Es wäre jedoch eine Verkürzung, diese Episode und die in ihr geschilderte Heilung als „Ausnahme“47 vorschnell abzutun. Auch sonst sticht diese Erzählung – aus Sicht der intendierten Rezipienten – gleich in mehrfacher Hinsicht aus dem bisherigen Erzählverlauf hervor: 1. Nachdem sich die Erzählung konstant auf den See von Galiläa sowie die angrenzenden Ufer und Gebiete konzentriert hatte, verlässt Jesus zum ersten Mal sein Herkunftsgebiet und Wirkungszentrum. 2. Erstmals ist Jesus nach der Berufung der Jünger allein unterwegs. Die Jünger sind erst nach einer zeitlichen Zäsur in Mk 8,1 wieder anwesend. 3. Die weitere Routenführung widerspricht jedem erwartbaren Reiseweg, da Jesus zunächst von Tyros in das nördlich gelegenere Gebiet von Sidon aufbricht, um von dort in entgegengesetzter Richtung an den See von Galiläa „und mitten in (aná méson) das Gebiet der Dekapolis“ (Mk 7,31) zurückzukehren. Da die beiden Hafenstädte Tyros und Sidon48 weit über deren Einzugsgebiet hinaus als bekannte Handelsplätze galten und auch die Lage der Dekapolis den Rezipienten vermutlich bekannt war, ist an dieser Stelle von einer bewussten Inszenierung auszugehen. Im Sinne von Albers Lesestrategie des foregrounding the thematic49 lässt sich dieser Reiseweg als unnatürliches Szenario ohne eigentliche mimetische Intention verstehen. Die Route deutet die rasche Verbreitung des Evangeliums und

|| 45 Hellenis bezeichnet hier, wie häufig im Neuen Testament, die Gesamtheit aller Heiden und zwar gerade im Unterschied zu den Juden (vgl. Apg 19,10; 20,21; Röm 1,16; 2,9 f.; 3,9; 10,12; 1Kor 1,24 u. ö.). 46 Die Vorstellung, dass Hunde bzw. die heidnischen Völker das (heilige) Brot Israels essen könnten, ist in der antiken jüdischen Literatur durchaus verbreitet (vgl. Mt 7,6; Did 9,5; 4QMMT). Im Neuen Testament kann der Begriff „Hund“ dann zudem Ausgeschlossene oder Häretiker bezeichnen (Phil 3,2; Offb 22,15; 2Petr 2,1–3 und 12). 47 So bereits Bultmann (Anm. 11), S. 38. 48 Vgl. zu Tyros Josephus: Bell 2,459 und 588; 3,38; 4,105. Vgl. zu Sidon Apg 27,3; Josephus: Ant 18,153. 49 Siehe Anm. 16.

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dessen Wirkung in den heidnischen Gebieten an. Nachdem die Rezipienten bereits in Mk 3,7 f. erfahren hatten, dass die Menschen in Tyros und Sidon von Jesus und seinen Taten wissen, wird dies bereits zu Beginn des bizarren ‚Solotrips‘ bestätigt. Jesus kann auch außerhalb Galiläas nicht verborgen bleiben. Die Menschen suchen ihn auch hier in einem Haus auf (Mk 7,24 f.; vgl. 2,1; 3,20). Im Weiteren wird dann exemplarisch gezeigt, dass die Botschaft vom angebrochenen Gottesreich in den heidnischen Gebieten nicht nur gehört wurde, sondern außerdem einen beispielhaften Glauben bewirkt. Die Syrophönizierin sowie die Menschen in der Dekapolis vertrauen allein aufgrund des Gehörten auf Jesus und seine heilende Kraft (Mk 7,24–30; 7,31–37) und preisen ihn für seine Wundertaten (Mk 7,37; vgl. Jes 35,5). In Mk 8,1–10 wird das Wunder der Brotvermehrung, das sich in Mk 6,30–43 auf der jüdischen Uferseite ereignet hatte, auf heidnischem Gebiet auf nahezu identische Weise wiederholt. Eine solche Lesart, die Jesu Reiseweg als Erweis der Wirksamkeit des Evangeliums interpretiert und die Gebiete pauschalisierend als Heidengebiete erfasst, gewinnt vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Stereotypisierung der beiden Uferseiten sowie eines allgemeinen antiken Geografieverständnisses an Plausibilität.50 So zeigt sich in der Antike auch sonst ein ausgesprochenes Interesse an ethnologischen Raumaufteilungen und Stereotypisierungen, während demografische Details nahezu durchgängig vernachlässigt werden.51 Der innerhalb des exegetischen Diskurses immer wieder anzutreffende Verweis auf eine jüdische Bevölkerungsminderheit in Tyros, die einer einseitigen Interpretation des Gebietes als Heidenland im Wege stehe, erweist sich demgegenüber als anachronistisch. Man wird den intendierten Rezipienten des Markusevangeliums gerade keine derart differenzierte Betrachtung der lokalen Demografie zuzutrauen haben. An dieser Stelle wird in methodischer Hinsicht eine Problematik deutlich, die sich durch eine vorschnelle Einbeziehung archäologischer ‚Fakten‘ ergibt. Das Verständnis intendierter Rezipienten ist stärker von ihrem kulturell gepräg-

|| 50 Ähnlich motiviert ist wohl die Verlegung des bedeutenden Ortes Gerasa an den See von Galiläa (Mk 5,1–20). Markus hat kein primäres Interesse an der tatsächlichen Lokalisierung (60 km östlich des Sees), sondern nutzt die Bedeutung, die die intendierten Rezipienten dieser heidnischen Metropole zuschreiben. 51 Das Begriffspaar ‚Tyros und Sidon‘ steht schon im alttestamentlichen Kontext stereotyp für die Heidengebiete bzw. Phönizien (vgl. Jer 25,15–28; 27,3; 47,1–7; Joel 3,1–8; Sach 9,2; 1Makk 5,15; Jud 2,28).Von einer „ethnography-cum-geography“ im Hinblick auf eine solche Stereotypisierung spricht Greg Woolf: „Saving the Barbarian“. In: Erich S. Gruen (Hg.): Cultural Identity: In the Ancient Mediterranean. Los Angeles 2011, S. 255–271, hier S. 256. Vgl. dazu etwa Strabo: Geogr I 2,28.

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ten Wirklichkeitsverständnis abhängig, als von einer äußeren, mit den Mitteln heutiger Archäologie präzise nachweisbaren Wirklichkeit. Auch hier kann ein präzises Datenmaterial Exegeten buchstäblich in die Irre führen.

3.2 Revolutionäre und restitutive Grenzüberschreitungen: die relationale Funktion des markinischen Raumkonzepts Die markinische Konzeption des Raums und der erzählten Welt ließ bisher ein enges Verhältnis zwischen Raum- und Figurendarstellung erkennen. Dieser Zusammenhang spiegelt sich auch in der häufig anzutreffenden Thematik der Grenzüberschreitung wider. In den meisten Heilungsberichten spielt die Überwindung individueller Grenzen eine wesentliche Funktion, wodurch insbesondere die revolutionäre Kraft der neuen Königsherrschaft Gottes veranschaulicht wird. Beispielhaft sei hier auf den blinden Bartimäus verwiesen (Mk 10,46–52), der am Straßenrand sitzend von der Menge zurückgewiesen wird, letztlich aber die Zuwendung Jesu erfährt und als Geheilter in die Nachfolge Jesu tritt. Zurück bleibt lediglich der alte Bettlermantel, den Bartimäus fortan nicht mehr braucht und der die alte Existenz symbolisiert. Neben derartigen Heilungsberichten sind es auch die anfänglichen Jüngerberufungen, bei denen es zu einer revolutionären Grenzüberschreitung kommt. Die Jünger verlassen ihre bisherigen Berufe und Lebensverhältnisse (Mk 1,16–18 und 19–20; 2,13–17) und auch sie lassen das zurück, was in der Nachfolge Jesu nicht mehr benötigt wird. Wird durch ebensolche Grenzüberschreitungen die Dynamik der Königsherrschaft zum Ausdruck gebracht, so drückt sich umgekehrt der Unglaube der Menschen darin aus, dass diese an gewohnten Lebensverhältnissen festhalten und in ihren bisherigen Weltbildern gefangen bleiben. Der reiche Jüngling folgt Jesus gerade nicht nach, er hängt stattdessen an seinem Reichtum (Mk 10,17– 23). Die Verwandten Jesu (Mk 3,20 f.) sowie die Bewohner Nazareths (Mk 6,1–6) lösen sich nicht von ihrem festgeprägten Bild, das sie vom „Nazarener“ (vgl. Mk 1,9; 1,27; 10,47; 14,67; 16,6) besitzen, sondern nehmen an ihm Anstoß: Viele, die zuhörten, erstaunten und sagten: ‚Woher hat der das?‘ und ‚Was ist das für eine Weisheit, die dem gegeben ist?‘ und ‚Solche Wunderwerke geschehen durch seine Hände?‘ ‚Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon?‘ ‚Und sind nicht seine Schwestern hier bei uns?‘ Und sie nahmen Anstoß an ihm (Mk 6,2 f.).

Auch die Schriftgelehrten und Pharisäer können in Jesu Handeln nicht die Zeichen der angebrochenen Königsherrschaft erkennen, sondern empfinden dieses

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als anstößig. Sie beurteilen sein Handeln auf der Grundlage ihres bestehenden Weltbildes, d. h. ihres kulturell und zeitgeschichtlich bedingten Werte- und Normensystems. Jesu Heilungen am Sabbat werten sie als Sabbatbruch (Mk 3,2– 5),52 seine Dämonenaustreibungen führen sie auf seine eigene Besessenheit zurück (Mk 3,22) und seinen Umgang mit Sündern und Zöllnern, besonders seine Vergebungsbotschaft, verstehen sie als Blasphemie (Mk 2,6 f.; 2,16). Ihre Ablehnung gipfelt schließlich im Mordplan (Mk 3,6; vgl. 11,18; 12,12), der distanzierend als Redebericht wiedergegeben wird, sowie in der Verurteilung Jesu wegen Blasphemie (Mk 14,63 f.) und dessen Hinrichtung (Mk Kap. 15). Solche Reaktionen schaffen in der markinischen Erzählung den notwendigen Kontrast zu der oben beschriebenen positiven Wirkung des Evangeliums in heidnischen Gebieten sowie zum vorbildlichen Glauben der Geheilten. Gleichzeitig werden durch die Streitgespräche und den expliziten oder impliziten Standpunkt Jesu moralische Ansichten und Haltungen relativiert bzw. sogar dementiert. Hierbei handelt es sich um Standpunkte, die gerade auch für die intendierten Rezipienten – in einer ethnisch gemischten Gemeinde – von Relevanz sind und einer Klärung bedürfen. Die zahlreichen Konfliktschilderungen haben also nicht bzw. nicht ausschließlich die Diffamierung bestimmter Personengruppen zum Ziel, sondern dienen primär der ethisch-religiösen Unterweisung. Dem entspricht, dass es nicht nur die Autoritäten und Gegner Jesu sind, die auf überraschende Weise die Zeichen der angebrochenen Königsherrschaft Gottes nicht erkennen. Auch die Jünger Jesu, die in der frühen Kirche ihrerseits als Autoritäten galten, erweisen sich über den Erzählverlauf hinweg als unverständig und fungieren als negative Identifikationsfiguren. Statt im Seewandel Jesu Messianität und Gottähnlichkeit zu erkennen (Mk 6,45–52) – ein Bezug, den die Rezipienten aufgrund zahlreicher Epiphaniemotive ihrerseits herzustellen vermögen –,53 meinen die Jünger ein Gespenst (phántasma) vor sich zu sehen. Und obwohl sie bei beiden Speisungswundern dabei gewesen sind, vertrauen sie in ihrer eigenen Not nicht auf die Wunderkraft Jesu (Mk 8,14–21): „Begreift ihr immer noch nicht und versteht ihr nicht? Sind eure Herzen verhärtet? Augen habt ihr und seht nicht! Und Ohren habt ihr und hört nicht!“ (Mk 8,17 f; vgl.

|| 52 Hierbei handelt es sich um eine strikte Auslegung des Sabbatgebots, die einerseits keine Ausnahmeregeln kennt und zugleich eine ungewöhnlich harte Bestrafung vorsieht (vgl. dagegen bSchab 128b; bJoma 84b). 53 Ähnlich bereits Ludger Schenke: Das Markusevangelium. Literarische Eigenart – Text und Kommentierung. Stuttgart 2005, S. 177–179, der insgesamt fünf derartige Motive benennt.

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Mk 4,12). Am Ende lassen die Jünger ihren Herrn im Stich und fliehen während der Festnahme Jesu, statt ihm in seinem bevorstehenden Leid beizustehen. Das Unverständnismotiv erreicht schließlich seinen Höhepunkt in der letzten Episode des Markusevangeliums, in der die Frauen am Grab Jesu die Ereignisse rund um seine Auferstehung missverstehen (MK 16,1–8). Die Worte des Engels, in dem sie nur einen einfachen Jüngling zu erkennen vermögen, bleiben für sie sinnlos. Das leere Grab, wo sie den Leichnam des „Nazareners“ (Mk 16,7) vermuteten, wird für sie zum Ort des Schreckens und Schauderns und nicht zum Ort des Aufbruchs und der Auferstehungsfreude. Indem das Markusevangelium mit dieser Schilderung und der Flucht der Frauen endet, will es die Rezipienten aber gerade nicht verstören oder gar die Auferstehungswirklichkeit infrage stellen. Vielmehr sollen die Rezipienten durch dieses Negativbeispiel aufgerufen werden, ihrerseits die verkündigte Botschaft zu hören und darauf zu vertrauen. Sie sollen sich mit den Menschen identifizieren, die in Galiläa und darüber hinaus der Botschaft Jesu Gehör geschenkt haben. An jenen Ort des anfänglichen Evangeliums, an jenen Ort, wo Juden und Heiden der neuen Botschaft Gehör schenkten (vgl. Mk 3,7 f.; 4,33; 5,27; 6,14; 6,55; 7,25), kehrt deshalb auch der Auferstandene zurück. Er bleibt nicht am Ort des Todes, auch nicht an dem Ort, der um 70 n. Chr. seiner unmittelbaren Zerstörung durch die Römer entgegengeht, sondern er geht seinen Jüngern voran und kommt damit zugleich den Rezipienten entgegen.54

4 Resümee und Ausblick Aus der vorangegangenen Analyse des Markusevangeliums, d. h. der Beschäftigung mit einem antiken und religiösen Text, sollen abschließend einige Paradigmen abgeleitet werden, die meines Erachtens für den Dialog von Exegese und (historischer) Narratologie sowie die Interpretation des Raums und der erzählten Welt weiterführend sind.

|| 54 Diese These gewinnt zusätzlich an Plausibilität, wenn man die markinische Gemeinde in Syrophönizien und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu Galiläa lokalisiert. Vgl. zu den Fragen der Lokalisierung Ebner/Schreiber (Anm. 12), S. 171 f. Demgegenüber mutet man einem antiken Erzähler meines Erachtens zu viel zu, wenn man die angedeutete Rückkehr nach Galiläa im Sinne eines relecture-Hinweises interpretieren will, durch den der Leser zur erneuten Lektüre des Markusevangeliums angeregt werden soll; so z. B. Schenke (Anm. 53), S. 353. Hierdurch gerät unweigerlich die relationale Funktion der Erzählung außer Acht.

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Ein wesentliches Ergebnis der zurückliegenden Untersuchung ist, dass die einzelnen Räume im Markusevangelium durch das Auftreten repräsentativer Figuren sowie die Erwähnung bestimmter Figurenmerkmale eine Stereotypisierung erfahren und sich im Lektüreprozess der Eindruck eines in zwei ethnische Räume geteilten settings etabliert. Durch die erwähnten Pilgerströme (Mk 3,7) und Jesu auffällige Reiseroute in die nördlichen sowie östlichen Regionen (Mk Kap. 7) wird der Schauplatz des Sees sodann in eine erweiterte erzählte Welt eingebettet, die den Blick der Rezipienten auf die umliegende heidnische Umgebung lenkt. Hierdurch rückt die Thematik der Heidenmission in den Mittelpunkt. Um die historisch-kulturell geprägten Vorstellungsinhalte und Schlussfolgerungsprozesse nachzuzeichnen, die dieser Stereotypisierung zugrunde liegen, war es notwendig, das entsprechende Weltwissen der intendierten Rezipienten historisch-philologisch aufzubereiten. Im Zuge des historical turn hat auch die Narratologie die Bedeutung des historischen Kontextes für sich erkannt. Um bei der Interpretation jedoch nicht im Assoziativen und Pauschalen zu verbleiben,55 bedarf es einer methodisch reflektierten Erschließung der historischen Kontexte. Gerade hier konnte sich der Dialog zwischen Exegese und Narratologie als gewinnbringend erweisen, ließe sich aber noch weiter vertiefen. Die Diskussion um Jesu bizarr anmutenden Reisewege in Kapitel 7 macht dafür sensibel, dass die Ergebnisse einer historisch-archäologischen Rekonstruktion sehr differenziert zu behandeln sind. So lässt sich die in frühchristlichen Erzählungen evozierte Wirklichkeit nie auf eine – wie auch immer verstandene – ontologische Realität beziehen, sondern steht immer schon in Relation zu vorher artikulierten Wirklichkeitsverständnissen und damit zu konstruierten sowie intersubjektiv akzeptierten Vorstellungen der Wirklichkeit. Aufgabe des Exegeten oder Historikers ist es „zu begreifen, wie sich für damalige Menschen die von ihnen konstruierte Wirklichkeit darstellte“56. Ob diese Wirklichkeitsvorstellung religiös geprägt ist oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Eng hiermit verbunden ist die Frage nach der Analyse von fiktiven Elementen. Diese lassen sich nicht allein auf der Grundlage textinterner Fiktionalitätssignale (z. B. direkter Hinweise) erschließen, sondern müssen zudem auf der

|| 55 Vgl. die Beispiele und die treffende Diagnose bei Eckhard Auberlen: „New Historicsm“. In: Ralf Schneider (Hg.): Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Tübingen 2004, S. 83–116, vor allem S. 106–107. 56 Lampe (Anm. 2), S. 180.

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Grundlage textexterner Fiktivitätssignale erfolgen,57 d. h. sie lassen sich nur mit Hilfe eines – historisch-philologisch zu erhebenden – Vorwissens der intendierten Rezipienten aufzeigen. Im Markusevangelium sind das Ereignis der Auferstehung (Mk 16,1–8) sowie die Existenz böser Geister (Mk 6,45–52) in dieser Hinsicht als faktisch zu bezeichnen! Die Landschaftsbezeichnung Gennesaret (Mk 6,53), die von der sonst üblichen Bezeichnung Gennesar abweicht,58 könnte hingegen durchaus fiktive Züge besitzen und lässt sich als eine bewusste Angleichung an den Ortsnamen Nazareth verstehen. Auch die Lokalisierung Gerasas am See von Galiläa ist wohl als fiktiv anzusehen.59 Zur Interpretation solcher Stellen kann eine Berücksichtigung reflektierter Lesestrategien sowie möglicher Schlussfolgerungsprozesse hilfreich sein. Trotz aller Rekonstruktionsbemühungen bleibt letztlich bei der Analyse historischer Erzählungen und der historischen Welt ein „garstig breiter Graben“60 bestehen, der zwischen einer heutigen Lektüre und der Erstrezeption verläuft. Heutige Re-Konstruktionen beruhen immer auf einem fragmentarisch-selektiven Bild von der Antike, da die Quellen kein vollständiges Bild liefern können (Fragmentarität) und jeder Forscher nur einen selektiven Zugriff auf diese Quellen hat (Selektivität).61 Im Wissen um diese Begrenzungen wurde in diesem Aufsatz die These vertreten, dass die erzählte Welt des Markusevangeliums neben historisch und geografisch überprüfbaren Teilräumen auch durch (z. T. fiktive) Elemente strukturiert wird, welche die Narration vom neuen christlichen Weltbild stützen und auf vielfältige Weise den Standpunkt und die Haltung der Rezipienten beeinflussen sollen.

|| 57 Vgl. zu diesem Sachverhalt sowie der Terminologie Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 234. 58 Vgl. Victor Hasler: „Gennesaret“. In: Horst Balz/Gerhard Schneider (Hgg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Teil I. 3. Aufl., Stuttgart 2011, S. 586. 59 Vgl. Anm. 50. 60 Gotthold Ephraim Lessing: „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“. In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 8. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1989, S. 437–445, hier S. 443. 61 Vgl. Lampe (Anm. 2), S. 180–189.

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Florian M. Schmid

„der getwerge ebenture in den holen bergen“ Mittelalterliche Konstruktion und Rezeption von Raum im Laurin

1 Einleitung Zwerge, Riesen, magische Gürtel und Ringe, wundersame Gärten, Auen und Berge sind typische und textimmanent unhinterfragte Erzählelemente der Aventiurehaften Dietrichepik.1 Aus neuzeitlicher Sicht konstruieren diese Elemente eine fiktive Welt: Innerhalb der Werke der Aventiurehaften Dietrichepik lässt sich eine Trennung eines nicht-magischen Raumes der Helden um Dietrich von Bern von einem Raum des ‚Wundersamen‘ seiner Gegenspieler feststellen.2 Doch inwiefern lässt sich diese Perspektive auch für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit plausibel annehmen? Lässt sich die Textwelt in zwei unterschiedliche Sphären mit einem jeweils eigenen ontologischen Status aufgrund jeweils eigener Referenzierbarkeit aufteilen?3 Und lässt sich die narrativ entworfene Welt als eine kontrafaktische, alternative Welt verstehen, für die andere Eigenschaften konstitutiv sind als für die aktuale Welt?4 Am Beispiel des Laurin

|| 1 Das älteste Zeugnis von Aventiurehafter Dietrichepik ist der altenglische Waldere (zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts), in dem auf Dietrichs Gefangenschaft bei Riesen angespielt wird. Vgl. Elisabeth Lienert (Hg.): Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts. Tübingen 2008, S. 48; 288. Die schriftliche Aventiurehafte Dietrichepik entstand im 13. Jahrhundert. Vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin u. a. 1999, S. 1; 34. 2 Hinsichtlich des Wundersamen sind ‚Wunder‘ und ‚Wunderbares‘ grundsätzlich terminologisch zu unterscheiden von ‚Zauber‘ und ‚Zauberhaftem‘. Wunder stehen in mittelalterlicher Literatur zum Teil unmittelbar als (An-)Zeichen für göttliches Wirken, während – sowohl positiv als auch negativ konnotierter – Zauber oftmals in gänzlich anderen Zusammenhängen auftritt wie in Bezug auf magische Utensilien. Im hier bezeichneten Korpus wird in der Begrifflichkeit nicht systematisch zwischen wunder und zouber unterschieden, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass es gerade das Anliegen der Texte ist, zu zeigen, dass und wie sich das scheinbar Wunderbare als etwas ‚nur‘ Zauberhaft-Magisches herausstellt. 3 Zum Konzept einer „layered or split ontology“ vgl. Marie-Laure Ryan: „Possible Worlds in Recent Literary Theory“. In: Style 26/4 (1992), S. 528–553, hier S. 539. 4 Zur Konstruiertheit möglicher Welten siehe Saul A. Kripke: Naming and Necessity. Cambridge 1980, besonders S. 44. Zur Übertragung des philosophischen Konzeptes der possible worlds theory auf narrative Texte siehe Carola Surkamp: „Narratologie und possible-worlds theory. https://doi.org/10.1515/9783110626117-016

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möchte ich im Folgenden einer historisch spezifischen Konstruktion und Rezeption vermeintlich fiktiver Zwergenräume nachgehen und dabei anhand von Unterschieden zwischen zwei Textversionen aus dem 13. und 15. Jahrhundert Wandlungsprozesse in der textinternen und -externen Wahrnehmung dieser Räume durch Erzähler, Figuren und Rezipienten nachzeichnen.5 Im Zentrum des Beitrags steht die im und über den Text sukzessiv konstruierte und vermittelte Raumwahrnehmung, die in der Gesamtschau einen literarisch vermittelten Wahrnehmungsraum ergibt.6 Dietrich von Bern gilt als die prominenteste Figur der germanischen Heldensage, in der die Erinnerung an den Ostgotenkönig Theoderich den Großen († 526) fortlebte.7 Der Laurin ist nach dem Gegner Dietrichs benannt, einem Zwergenkönig. Erzählt wird, wie der Dietrichheld Witege den Rosengarten des Zwergenkönigs mutwillig zerstört, um ihn zum Kampf herauszufordern. Auf eine Versöhnung der Gegenparteien erfolgt eine Einladung in den Zwergenberg, wo es zu erneuten Kampfhandlungen zwischen den Helden auf der einen und Zwergen sowie Riesen auf der anderen Seite kommt. Die Helden sind am Ende siegreich, befreien Kühnhild, die von Laurin entführte Schwester des Dietrichhelden Dietleib, und kehren an den Berner Hof zurück. Der Laurin bietet sich aus dreierlei Gründen für eine Analyse der Konstruktion und Wahrnehmung von Raum an: 1. Bezeugt wird die Bedeutung dieses Werkes durch seine reiche, geografisch weiträumig verbreitete sowie langlebige Überlieferung.8 Die überlieferten Textzeugen werden mit Joachim Heinzle zu

|| Narrative Texte als alternative Welten“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hgg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 153–183. 5 Methodisch ist zwischen dem Raumkonzept eines Textes und der mental map, also der kognitiven Karte als mentaler Repräsentation von Raum der Dichter und Rezipienten zu unterscheiden, die hochgradig von textinternen Raumstrukturen differieren können. Vgl. David Lowenthal: „Geography, Experience, and Imagination: Toward a Geographical Epistemology“. In: Annals of the Association of the American Geographers 51/3 (1961), S. 241–261; Yi-Fu Tuan: „Images and mental maps“. In: Annals of the Association of American Geographers 65/2 (1975), S. 205–213. 6 Zur Unterscheidung von Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsraum siehe Michael Dück: Der Raum und seine Wahrnehmung. Würzburg 2001, S. 44–46. 7 Zu den umfangreichen und vielfältigen Zeugnissen für und Anspielungen auf Dietrich von Bern und Theoderich den Großen bis ins 17. Jahrhundert vgl. Lienert (Anm. 1). 8 Die Überlieferung setzt mit einer Federprobe in einer lateinischen Pergamenthandschrift von ca. 1300 ein. Bekannt sind insgesamt 18 Handschriften vom Anfang des 14. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, davon elf Fragmente, sowie elf Drucke (1479–1590) und jeweils eine tschechische (Handschrift von 1472; Text vermutlich aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts) und

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fünf Versionen gruppiert.9 Davon gelten zwei als Ältere Vulgatversion (ÄV; 1498 Verse) bzw. Jüngere Vulgatversion (JV; 2830 Verse).10 2. Verschiedene und zeitlich auseinander liegende Versionen eines Werkes spiegeln jeweils spezifische Aneignungs- und Deutungsprozesse eines Stoffes oder Werkes wider und indizieren unterschiedliche Rezeptionsinteressen und -horizonte. Mit den beiden Vulgatversionen stellt der Laurin einen Sonderfall in der Aventiurehaften Dietrichepik dar. Zugleich ist dieses Phänomen der ‚Retextualisierung‘, bei der durch ein erneutes Erzählen eines vorgegebenen Stoffes eine aktualisierte Sinnstiftung erzielt wird, typisch für große mittelalterliche Erzählformen.11 3. Aventiurehafte Dietrichepik nimmt hinsichtlich der Konstruktion von Raum eine Sonderstellung ein. Zum einen partizipiert sie an einem spezifischen Wahrheitsund Verbindlichkeitsanspruch der Heldenepik im Vergleich zu anderen Gattungen.12 Zum anderen werden in ihr Orte und Räume des Wundersamen erzählt,

|| eine dänische Bearbeitung (Druck 1599) sowie eine färöische Ballade (Handschrift um 1500) in vier Fassungen. Vgl. Heinzle (Anm. 1), S. 56; 145–152; 155; 159. 9 Vgl. Heinzle (Anm. 1), S. 152–154. 10 Der Überlieferungsbefund ergibt eine zeitliche, räumliche sowie materiale Differenzierung: Die ÄV wurde vom vermutlich 13. bis ins 16. Jahrhundert im ganzen ober- und mitteldeutschen Sprachraum und ausschließlich in Handschriften verbreitet. Dagegen dominiert die JV seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Straßburg ausgehend und ist in Drucken überliefert. Grundsätzlich zitiere ich nach der ÄV und gebe jeweils zuerst die Verse in der ÄV, dann in der JV an (ÄV/JV). Textausgabe: Elisabeth Lienert/Sonja Kerth/Esther Vollmer-Eicken (Hgg.): Laurin. Bd. I: Einleitung, Ältere Vulgatversion, Walberan. Bd. II: Preßburger Laurin, Dresdner Laurin, Jüngere Vulgatversion, Verzeichnisse. Berlin/Boston 2011. 11 Zum Begriff und Konzept der ‚Retextualisierung‘ vgl. Joachim Bumke: „Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik“. In: Joachim Bumke/Ursula Peters (Hgg.): Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005, S. 6–46; Florian M. Schmid: Die Fassung *C des ‚Nibelungenlieds‘ und der ‚Klage‘. Strategien der Retextualisierung. Berlin/Boston 2018, S. 65–98. 12 Heroische Überlieferung gilt „als spezifische Form mündlicher, nicht-schriftgestützter Überlieferung des illiteraten Kriegeradels“ (Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung. Berlin 2015, S. 9). Auch in der schriftlich konzipierten Form der Heldenepen als Adelsüberlieferung scheint ein gewisser, jedoch nur im Einzelfall bestimmbarer Verbindlichkeitsgrad bis in die Frühe Neuzeit bewahrt zu bleiben (vgl. ebd.), der vor allem die ‚Historische‘ Dietrichepik auszeichnet, die vornehmlich die vergeblichen Rückeroberungsversuche des Exilanten Dietrich in Italien erzählt. Ein Bewusstsein für diese beiden Stränge der Dietrichepik ist bereits für das Mittelalter anzusetzen: In den Überlieferungszeugen sind zwar häufig Epen der jeweiligen Gruppe gemeinsam, jedoch nie Epen beider Gruppen zusammen überliefert. Vgl. Heinzle (Anm. 1), S. 34. Die Aventiurehaften Epen sind nicht an den geschichtlich verifizierbaren Kern rückgebunden, partizipieren jedoch „etwa über Motivik, Stilistik und Legitimierungsstrategien […] an jenem Anspruch auf Bedeutsamkeit, der der Gattung eigen ist“. Kay Malcher:

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wodurch sie sich etwa von der ‚Historischen‘ Dietrichepik unterscheidet. Auch der Laurin weist aus neuzeitlicher Perspektive Orte mit und ohne Referenzierbarkeit zu Orten der außerliterarischen Wirklichkeit auf. Bei der Untersuchung von Dietrichepik sind methodisch folgende Voraussetzungen zu berücksichtigen: 1. Auch schriftlich konzipierte Heldenepik ist grundsätzlich in eine mündlich tradierte ‚Heldenwelt‘ einzuordnen und ohne diese nur unzureichend zu verstehen.13 In der mittelalterlichen Rezeption kann die Sagenkenntnis der Rezipienten vermeintliche Lücken im Text füllen und zum Teil auch die textinterne stereotype Kennzeichnung der Figuren auffangen.14 2. Aus diesem Dialog von Sage und Text ergibt sich, dass diese Epen keine isolierte, in sich geschlossene Erzählwelt evozieren. Der Anfang und das Ende einer Erzählung, wie wir sie in einem Überlieferungszeugen finden, entsprechen also nicht vollständig den Grenzen einer Textwelt;15 anders als bei neuzeitlichen Romanen sind die Helden bereits bekannt. 3. Weil die Distanz zwischen der tatsächlichen Welt und der Textwelt gering ist,16 ist auch die Grenze zwischen Realität und Literatur weniger distinkt. 4. Die Perspektive auf diese Grenze wandelt sich im Verlauf der Zeit. Abzulesen ist dies auch an den beiden Vulgatversionen des Laurin. In der ÄV ist der Textein- und -ausstieg (V. 1498)

|| Die Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik. Berlin 2009, S. 2 f.; vgl. 195. 13 Bis in das 17. Jahrhundert sind zahlreiche Dietrichanspielungen zu verzeichnen, die Elemente sowohl schriftlich fixierter Epen wie wohl auch mündlicher Sagentradition aufgreifen. Nur durch die Annahme der mündlichen Sagentradition sind Motive zu erklären, die in anderen schriftlichen, also beispielsweise auch in historiografischen Werken nicht belegt sind. Vgl. Lienert (Anm. 1), S. 15. 14 Die Stereotypie ist allerdings auch Merkmal der Gattung sowie der Testimonien generell, die sich bis ins 17. Jahrhundert kaum verändert. Vgl. Lienert (Anm. 1), S. 19 f. Lienert hebt hervor, dass Figuren in mittelhochdeutscher Heldenepik „hybride“ sind, „die aus mindestens zwei Schichten – der des Einzeltexts und der der Sage (ggf. auch verschiedener Sagenversionen) – zusammengesetzt sind“. Elisabeth Lienert: „Aspekte der Figurenkonstitution in mittelhochdeutscher Heldenepik“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 139 (2016), S. 51–75, hier S. 55. Dies bedeutet grundsätzlich, dass Vorwissen über eine Figur die Rezeption eines Textes beeinflusst, zugleich kann der Einzeltext die Figur jedoch auch anders, zum Teil im Widerspruch zu Sage und/oder anderen Texten gestalten, ohne dass für den Einzeltext eine kohärente Figurenkonzeption zu erwarten ist. Siehe ebd., S. 57 f. Widersprüche in der Figurenkonstitution ergeben sich aufgrund von Mehrschichtigkeit und Überdetermination. Siehe ebd., S. 55. 15 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 126. 16 Zu graduellen Abstufungen zwischen der tatsächlichen Welt und unterschiedlichen Textwelten unter anderem aufgrund unterschiedlicher physikalischer Gesetze vgl. Doreen Maître: Literature and Possible Worlds. London 1983, S. 79. Vgl. Ryan (Anm. 3), S. 536.

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relativ knapp markiert: Er setzt unmittelbar mit dem Erzählen ein und endet „abrupt“17 ohne einen medialen Hinweis auf die Schriftlichkeit des Textes. Dagegen bietet die JV – als einziger Text der Aventiurehaften Dietrichepik – einen Pro- (V. 1–16) und einen Epilog (V. 2816–2836), wobei über die Bezeichnung des Textes als „bůch“ (V. 2832) und die beiden Schlussverse (V. 2835 f.: „Hie endet sich das lesen / von dem cleinen Laurein“) die schriftliche Verfasstheit des Textes expliziert ist. Mit Kay Malcher ist dieser Rahmen als eine „vertextete Kommunikationssituation“18 zu deuten, in dem nicht nur „die Bedeutsamkeit des aktuellen Erzählvorgangs behauptet“19, sondern vor allem die Geschichte vom Kampf gegen den Zwergenkönig als eine „erzählte Geschichte“20 markiert wird. Im Folgenden werde ich mich auf den erzählten Raum und dessen Wahrnehmung durch Erzähler, Figuren und mittelalterliche Rezipienten konzentrieren und an relevanten Stellen Unterschiede zwischen den beiden Vulgatversionen des Laurin aufzeigen. Zunächst kläre ich das hier verwendete Verständnis von Raum (2.), vergleiche die Konstruktion beider Vulgatversionen hinsichtlich der Orte (3.), der Wege (4.) und des Raumes (5.) und kontextualisiere die Ergebnisse durch eine Korrelation mit Raumvorstellungen des Mittelalters.

2 Raumdefinition Die im Laurin erzählten Orte und Räume verstehe ich grundsätzlich als literarische Konstrukte, durch die als real gedachte Räume spezifisch semantisiert werden. Ein solches Verständnis ist auch für das Mittelalter anzusetzen, dem die aus der antiken Tradition übernommene Unterscheidung von Topografie und Topothesie, also zwischen faktenbasierter und literarisch frei entworfener

|| 17 Lienert (Anm. 10), S. 152, ad nach V. 1498. Siehe ebd. weitere Ausführungen zur möglicherweise defekten Überlieferung. 18 Malcher (Anm. 12), S. 348. 19 Malcher (Anm. 12), S. 346. 20 Malcher (Anm. 12), S. 349. Hinzu kommt, dass nur die JV eine Vorgeschichte beinhaltet, in der erzählt wird, dass Kühnhild (ÄV) bzw. Simild (JV), die Schwester von Dietrichs Vasallen Dietleib, von Laurin entführt wurde, ohne dass den Berner Figuren die Identität des Entführers bekannt ist (V. 17–235). Während die ÄV in vier Versen (V. 1495–1498/2715–2718) die Heimholung und Ehe Kühnhilds berichtet, schließen sich in der JV 117 Verse an (V. 2719–2836). In diesen werden die anfangs erzählte Entführung und die dort erzählten Orte aufgegriffen sowie die Rückkehr an den Hof Dietrichs erzählt. In der JV findet sich außerdem eine Autorfiktion (V. 2826: „Heinrich von Ofterdingen“).

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Beschreibung selbstverständlich war.21 Im Folgenden schließe ich an eine begriffliche Unterscheidung zwischen Ort und Raum an, die Michel de Certeau vorgeschlagen hat, und in der sich eine mittelalterliche Raumdefinition anhand der Parameter Ausdehnung und Begrenzung spiegelt: Ort wird verstanden als eine „momentane Konstellation von festen Punkten“; dagegen ist ein Raum das „Resultat von Aktivitäten“22, die Orten erst Sinn und Richtung verleihen. Eine Scheidung von Ort und Raum bleibt insofern offen, da ein Ort durch Bewegungen von Figuren zu einem Raum wird. Ergänzt wird dieses Verständnis von Ort und Raum durch die Grenze, die mit Werner Paravicini als mittelalterlich relevante Konstituente von Raum zu verstehen ist, weil durch diese eine dem Raum eigene Qualität bestimmt wird.23 Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass sich im Mittelalter imaginäre und reale Raumkonzepte nicht als klar voneinander getrennte Bereiche verstehen lassen.24 Nach mittelalterlicher Wahrnehmung konstituiert sich Raum nicht über mathematische Messbarkeit, sondern er wird durch qualitative, d. h. soziale Kriterien wie Status bestimmt.25 Entsprechend entsteht Raum auch relativ zum Status des Betrachtenden. Darüber hinaus hängt die Einschätzung der räumlichen Entfernung eines Objektes vom Standort des Betrachters davon ab, „ob er dieses Objekt positiv oder negativ bewertet, ob es für ihn neu ist oder altvertraut“26. Auch Dieter Läpple geht von einer kulturspezifischen Wahrnehmung von Raum aus, da dieser gesellschaft-

|| 21 In den Schemata dianoeas heißt es: Topographia „est l o c i d e s c r i p t i o [...]“, Topothesia „est l o c i p o s i t i o , cum describitur locus, qui non est, sed fingitur“. Karl Halm (Hg.): Rhetores latini minors. Ex codicibus maximam partem primum adhibitis. Unveränd. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1863. Frankfurt a. M. 1964, S. 71–77, hier S. 73, §§ 11 f. 22 Michel de Certeau: Kunst des Handelns [Arts de faire, 1980]. Übers. v. Ronald Voullié. Berlin 1988, S. 218. 23 Vgl. Werner Paravicini: „Zeremoniell und Raum“. In: Ders. (Hg.): Zeremoniell und Raum. Sigmaringen 1997, S. 11–36, hier S. 14. 24 Vgl. Laetitia Rimpau: „Einleitung“. In: Laetitia Rimpau/Peter Ihrung (Hgg.): Raumerfahrung – Raumfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident. Berlin 2005, S. 11–15, hier S. 12. 25 Vgl. Hartmut Kugler: „Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter“. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 116 (1987), S. 1–29, hier S. 17.; vgl. Karl-Heinz Spieß: „Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter“. In: Paravicini (Anm. 23), S. 39–61, hier S. 42–45. 26 Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt a. M. 1993, S. 14.

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lich produziert sei.27 Den folgenden Überlegungen liegt damit ein dynamisches und prozessuales Raumkonzept zugrunde. Kennzeichnend für die Aventiurehafte Dietrichepik sind ein Aufbruch, eine individuelle oder kollektive Grenzüberschreitung mit einem Handeln in einem anderen Raum und schließlich eine Heimkehr.28 Das Handeln in diesem anderen Raum ist stets mit einer Krise von Statusrepräsentation verbunden,29 die am Ende der Narration überwunden ist. Malcher schlägt daher eine Analyse des Laurin mithilfe von Jurij M. Lotmans kultursemiotischem Sujet-Konzept vor: Zwei statische oppositionelle Räume, d. h. ein Innenraum kultureller Ordnung und ein kulturelle Unordnung symbolisierender Außenraum sind durch eine Grenze getrennt, deren Überschreitung im Sinne einer Bewährungsfahrt zu verstehen ist.30 Julia Zimmermann hat dagegen das wissenssoziologischkulturanthropologische Konzept der Heterotopie von Michel Foucault31 herangezogen, mit dem sich Unterschiede des Zwergenraumes zum mythischen Raum oder auch zur Utopie klarer herausarbeiten lassen.32 Anders als bei diesen beiden Ansätzen geht es mir im Folgenden um eine diachron unterschiedliche Rezeption narrativer Raumgestaltung im Anschluss an das Konzept der alternativen Welt.33 Bei der hier avisierten Bestimmung der Wahrnehmung von Raum

|| 27 Dieter Läpple: „Essay über den Raum“. In: Hartmut Häußermann (Hg.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen. Pfaffenweiler 1991, S. 157–207. 28 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 318–397. 29 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 326. 30 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte [Struktura chudožestvennogo teksta, 1970]. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972. 31 Heterotopien sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“. Michel Foucault: „Andere Räume“ [„Des espaces autres“, 1967]. Übers. v. Walter Seitter. In: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. 6. Aufl., Leipzig 1998, S. 34–46, hier S. 39. 32 Vgl. Julia Zimmermann: „Anderwelt – mythischer Raum – Heterotopie. Zum Raum des Zwerges in der mittelhochdeutschen Heldenepik“. In: Johannes Keller/Florian Kragl (Hgg.): 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldenzeiten – Heldenräume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage? Wien 2007, S. 195–219, hier S. 198 f. 33 Dass Raum nicht unabhängig von Zeit gedacht werden kann, hat etwa Michail M. Bachtin mit dem Begriff Chronotopos betont. Michail M. Bachtin: Chronotopos [Voprosy literatury i ėstetiki, 1975]. Übers. v. Michael Dewey. Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin 2008. Im Laurin verläuft die Zeit linear, bleibt weitgehend unbestimmt, anhand einzelner Textmerkmale wird von Zimmermann die Möglichkeit einer eigenen Zeitlichkeit im Zwergenberg erwogen; siehe Abschnitt 3.3.

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werden Grenzen, jeweils eigene Qualitäten eines Raumes, Korrelationen von Raum und die ihm zugeordneten Figuren, Indikatoren für einen bestimmten Realitätsstatus, unterschiedliche Perspektiven und Wertungen von Erzähler und Figuren sowie Orte und Wege, aus denen sich ein Raum zusammensetzt, berücksichtigt.

3 Orte 3.1 Dietrichs Hof zu Bern Ausgangs- und Endpunkt der Handlung im Laurin ist der Hof Dietrichs. Der Text der ÄV setzt unmittelbar mit einer Angabe in Erzählerrede ein, in der der Hof lokalisiert wird (V. 1–3/237–239): „Czu Berne waz geseßen / eyn degen so vormeßen / der waz geheysen Dytherich“.34 Diese konkrete Lokalisierbarkeit literarischer Orte ist ein typisches Merkmal der Dietrichepik, deren Handlungsraum Tirol ist. ‚Bern‘ kommt mit Matthias Meyer in den Texten die Funktion des Fixpunktes der bekannten Welt zu und kann als Signatur der Dietrichepik verstanden werden.35 Der Laurin konstruiert Orte und Räume also nicht nur literarisch, sondern referiert zugleich auch auf reale Orte und erfahrbare Räume der außerliterarischen Wirklichkeit. Damit schafft er eine Verbindung von fiktiver und

|| 34 In der Aventiurehaften Dietrichepik fungiert Bern (gemeint ist Verona) als topischer Ausgangs- und Endpunkt; vgl. Dominik Hey: „Dietrichs Bern: Überlegungen zur mittelhochdeutschen Dietrichepik“. In: Maximilian Benz/Katrin Dennerlein (Hgg.): Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie. Berlin/Boston 2016, S. 121–146, hier S. 122; 134; 140. Setzt man Lotmans Raummodell voraus, dann ließe sich das „Ausreiten und Verlassen des Hofes“ als Überschreiten einer Grenze deuten (ebd., S. 122; vgl. 142), da die Aventiure außerhalb Berns in einem Raum mit eigener Qualität jenseits einer Grenze bestritten werde (vgl. S. 134; 141). Eine Ausnahme bildet die Walberan-Fortsetzung des Laurin, in der unmittelbar vor den Mauern der Stadt gekämpft wird. Gemäß der ‚Historischen‘ Dietrichepik wird Bern von Dietrichs Vater Dietmar erbaut. Dietrich ist mit der Stadt sowohl in genealogischer wie in räumlich-geographischer Hinsicht verbunden (ebd., S. 122), da die Geschichte des Herrscher(geschlecht)s und die des Raumes parallelisiert werden (vgl. ebd., S. 127; 130). Dietrichs Anliegen ist es, seinen ‚Herkunftsraum‘ zu verteidigen (vgl. ebd., S. 122), so dass Bern nicht durch eine Grenze von der restlichen erzählten Welt getrennt erscheint (ebd., S. 142), sondern „als räumlich-struktureller Mittelpunkt der Erzählung“ zusammen mit Oberitalien ein räumliches „Kontinuum“, eine „Ereignisregion“ bildet (S. 142; vgl. 122; 131; 134). 35 Vgl. Matthias Meyer: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1994, S. 238 f.

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real erfahrbarer Welt. Weil die Handlung in die – wenn auch unbestimmte – Vergangenheit eingeordnet ist, wird auf diese Weise eine historische, d. h. diachrone Kontinuität von Orten und Räumen hergestellt. Eine weitere Kennzeichnung erfährt der Hof „czu Berne“ durch räumliche Angaben nicht. Er wird jedoch über das dort lebende Personal weiter konturiert, wobei Erzähler- und Figurenrede weitgehend kongruent sind: In einem topischen Herrscherlob Dietrichs wird in Erzählerrede ausgesagt, dass er überaus tapfer (V. 2/238), der Beste von allen (V. 4 f./240 f.), im Kampf stets siegreich (V. 7/243), tugendreich (V. 9/ 245), mächtig (V. 11/247) und vorbildlich (V. 8/244; 12/248; 20/256) ist. Auch das weitere Personal ist ähnlich positiv gekennzeichnet: Es zeichnet sich durch „ere und vromekeit“ (V. 15/251) sowie Tugend (V. 16/252) aus. Das Lob Dietrichs wird in Figurenrede wiederholt (V. 23–28/258–264), wobei die preisende Figur in der ÄV selbst positiv markiert ist (V. 21: „Du sprach sich Wilandes son [scil. Witege], / eyn recke bederve und vrom“). Allein Dietrichs Berater Hildebrand stellt textintern einen Mangel an Dietrich fest, der strukturell ein Erzählen erst ermöglicht:36 Dietrich müsse zuerst noch einen schwierigen Gegner besiegen, um als der beste aller Helden gepriesen werden zu können (V. 39 f./275 f.) – den Zwergenkönig Laurin. Der Berner Hof ist mit Ausnahme der Ortsangabe also nur über die ihm zugeordneten Figuren sowie in der Figurenrede Hildebrands als Ausgangspunkt für Abenteuer gekennzeichnet und ist am Ende Ort der erfolgreichen Rückkehr.

3.2 Laurins Rosengarten Im Raum der Zwerge finden sich mit Rosengarten und hohlem Berg zwei Ortstypen. In den Text eingeführt werden sie in der Figurenrede Hildebrands als Orte der „ebenture“ (V. 28/266–268), d. h. potenziell der Gefahr, der Bewährung und auch des Wundersamen. Attribute des Raumes sind wie selbstverständlich mit denen der Figur Laurin verbunden. Der Zwerg lebt „in den holen bergen“ (V. 29/ 267), wo bereits viele Helden erschlagen wurden (V. 33/272); Laurin ist „vil wndirs undirtan“ (V. 52/290) und „[y]me dinen alle wilde lant“ (V. 60/298). Das Adjektiv „wilde“ kann als „Reflex auf die unhöfische Herkunft“ Laurins gelesen werden; markiert ist damit zugleich ein Gegenort bzw. -raum zum Berner Hof.37 Hinsichtlich der Rezeption ist alles Nachfolgende unter bestimmte Vorzeichen gesetzt: Laurins Herrschaftsgebiet ist gekennzeichnet durch Wunderbares,

|| 36 Vgl. Meyer (Anm. 35), S. 241. 37 Björn Michael Harms: Narrative ‚Motivation von unten‘. Zur Versionskonstitution von ‚Virginal‘ und ‚Laurin‘. Berlin/Boston 2013, S. 205.

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bleibt jedoch defizitär. Laurin selbst ist zwar „cleyn“ (V. 51/289), aber wie Dietrich ebenfalls „lobesam“ (V. 62/299) und der „kune aller manne“ (V. 63/301). Aufgerufen werden an dieser Stelle stereotype Elemente, wie sie auch die spätmittelalterliche Heldenbuch-Prosa (vor 1479) überliefert, die durch volkssprachliche Dichtungen vermitteltes Wissen über Zwerge und Riesen zusammenfasst.38 Über Hildebrand wird ebenfalls der „rosen garte[n]“ (V. 66/304) „als ein hochsymbolischer Ort mit sehr konkreten Regeln“39 eingeführt, den er „[i]n deme Tyroldes tanne“ (V. 64/302) lokalisiert und als mit einem seidenen Faden (V. 68/308) eingegrenzt beschreibt. Wer diesen Faden zerreiße, der ziehe die Rache Laurins auf sich (V. 69 f./309 f.). Der Garten ist auch der erste Zwergenort, den die Helden erreichen. In der Erzählerrede werden weitere Elemente des Gartens genannt: Er liegt auf einem „plan grune“ (V. 98/336) und ist mit einem goldenen Band umgrenzt (V. 100/ 338 f.), die Rosen sind mit Gold und Edelsteinen behängt (V. 101–103),40 duften lieblich und leuchten hell (V. 108 f./346 f.), und der Garten hat eine wunderbare, alles Leid vertreibende Wirkung: „der en solde sehen an, / der muste sin truren lan“ (V. 105 f./342–344), was traditionellerweise die Funktion eines locus amoenus ist.41 In der Figurenrede ergibt sich allerdings eine ambivalente Kennzeichnung dieses synästhetisch wie emotional wahrnehmbaren Ortes (Sehen, Riechen; Fühlen): Während Dietrich in Übereinstimmung mit der Erzählerrede die positiven Qualitäten des Besitzers (V. 118/356: „eyn bider man“), den lieblichen Duft der Rosen und die Freude hervorrufende Wirkung des Gartens (V. 119–122/357–360) hervorhebt, beurteilt Witege den Garten als Teufelswerk

|| 38 Demnach schuf Gott zunächst die Zwerge, die das Land urbar machen, Schätze sammeln, aufgrund ihrer Kunstfertigkeit als eine Adelskultur in hohlen Bergen leben und sich durch Listigkeit und mit Tarnkappen verteidigen können. Aufgabe der nachfolgend geschaffenen Riesen war die Verteidigung der Zwerge vor wilden Tieren. Als einige der Riesen abtrünnig wurden, sollten die neu geschaffenen Helden den Zwergen in der unwirtlichen Gebirgswelt beistehen. Vgl. Adelbert von Keller (Hg.): Das deutsche Heldenbuch, nach dem mutmaßlich ältesten Drucke. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Stuttgart 1867. Hildesheim 1966, S. 2. Zur Deutung von Zwergen in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Walther Müller-Bergström: „Zwerge und Riesen“. In: Hans Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin/Leipzig 1941, Bd. 9, Sp. 1008–1138. 39 Hartmut Bleumer: „Wert, Variation, Interferenz: Zum Erzählphänomen der strukturellen Offenheit am Beispiel des Laurin“. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2004), S. 109–127, hier S. 116. 40 Eindeutiger ist in der JV die Umgrenzung ausgestattet mit Gold und Edelsteinen (V. 338– 341). 41 Zum Topos des locus amoenus vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl., Tübingen/Basel 1993, S. 202–209.

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und Ausdruck der „hoffart“ (V. 126/364) des Besitzers (V. 124–129/362–366). Markiert ist über die je nach Figur unterschiedliche Kennzeichnung eine Verhandlung der „Differenz zwischen höfischem Erscheinungsbild und tatsächlicher höfischer Vollkommenheit“42. Witege zerstört den Garten und damit auch dessen Wirkung (V. 131–140/369–379), um die Aventiure zu provozieren.43 Dass der Ort des Wunders zerstört werden kann, offenbart nicht nur seine Fragilität, sondern indiziert zugleich denselben Realitätsstatus von Helden- und Zwergenraum, die jeweils Teile eines übergreifenden Makroraumes sind. Der Garten erfährt über die ihm zugeordnete Figur eine weitere Kennzeichnung: Der Zwergenkönig wird als genius loci in einer ausführlichen descriptio (V. 147–224/383– 490) als reich ausstaffierter (u. a. V. 151/387; 175/411; 221/487: „golde“; V. 165/401; 210/472: „gesteyne“; nur ÄV, V. 172: „elfenbeyn“), mit einem seidenen Banner (V. 154/390) und Waffenrock (V. 201/459) ausgestatteter höfischer König (V. 152/388) beschrieben, aber auch als Träger magischer Elemente wie einer Krone, auf der künstliche Vögel „mit zcouber“ (V. 218/484) lebendig wirken, und eines Gürtels, der dem Träger die Kraft von zwölf Männern verleiht (V. 187–190/425–427). Diese Beschreibung Laurins übersteigt sowohl quantitativ als auch qualitativ die von Dietrich, der äußerlich keinerlei Kennzeichnung im Text erfährt. Dass die Beschreibung Laurins in deutlichem Kontrast zu den eher holzschnittartig gezeichneten Helden steht, ist jedoch ein textinterner Befund, der ebenso für die Art der Beschreibung der diesen Figuren zugeordneten Orte gilt. Denn durch die bei den Rezipienten vorauszusetzenden Kenntnisse über die Dietrichsage und weitere schriftliche Erzählungen braucht der Text nur wenige Aspekte Dietrichs zu schildern, während Laurin als unbekannter Gegenspieler erst etabliert werden muss. Wie der Raum so ist auch sein Besitzer in der Erzählerrede positiv konnotiert. Erneut erfolgt eine Differenzierung in der Figurenrede, so dass dasselbe Erzählprinzip erkennbar ist: Dietrich und Witege vertreten unterschiedliche Perspektiven, jedoch wie überkreuzt mit umgekehrter Bewertung: Verteufelte Witege zuvor die Wirkkraft des Gartens, hält er Laurin nun zunächst für den Erzengel Michael, den Hüter des Paradiestores

|| 42 Harms (Anm. 37), S. 206. 43 Diese Zerstörung scheint den Helden negativ zu kennzeichnen, weil Aventiure dazu dient, entweder zufällig auf Abenteuer zu stoßen oder einen Feind zu bekämpfen, jedoch nicht der Provokation. Zu verschiedenen Deutungen siehe Anica Schumann: „Der sympathische Gegner: Mechanismen der Sympathiesteuerung im Laurin“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 136 (2017), S. 39–62, hier S. 52, Anm. 46. Zur Semantik (und ihrer Veränderung) von Aventiure siehe Klaus-Peter Wegera: ,Spracharbeit‘ im Mittelalter. Paderborn u. a. 2011, S. 16–26.

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(V. 231–234/497–500).44 Dieses Mal ist es Dietrich, der sich der Wirkung Laurins entzieht und Witege anhält, sich auf einen Kampf vorzubereiten (V. 237– 240/502–506). Sowohl der Ort als auch die zugehörige Figur sind in der Figurenrede und durch den ‚Rollentausch‘ in der Bewertung von Garten bzw. Zwergenkönig somit ambivalent gekennzeichnet; erzeugt wird eine „Spannung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Reflexion“45 bzw. Bewertung. Neu ist das für den mittelalterlichen Rezipienten jedoch nicht, da Zwerge als dämonische Wesen gelten und damit per se ambivalent konnotiert sind: Einerseits treten Zwerge als Berater und Helfer auf, andererseits zeichnen sie sich wegen ihrer hohen Listigkeit und dem Verfügen über magische Elemente auch durch Täuschung und Betrug aus.46 Explizit eingeschrieben ist dies in beide Texte zunächst nicht, spiegelt sich jedoch in der unterschiedlichen Figurenwahrnehmung. Derartige negative Handlungsweisen werden wegen Laurins Rolle als künftig zu überwindender Gegenspieler Dietrichs durch die Rezipienten erwartet. Laurin nutzt im Kampf zur Verteidigung eine Tarnkappe (V. 456/840: „helkeppelin“), schließlich gelingt es Dietrich, Laurin den magischen Gürtel abzureißen (V. 517–521/899–906). Ohne magische Utensilien ist Laurin gegenüber Dietrich hilflos. Durch diese Entzauberung wird wie zuvor beim Rosengarten deutlich, dass die magischen Utensilien als äußere Requisiten zu verstehen sind, durch die Figuren und Orte zwar eine zusätzliche Qualität des Wundersamen gewinnen, die aber letztendlich nur sekundär konstitutiv für den Raum sind.

3.3 Berg des Vasallen Laurins Zur Versöhnung lädt Laurin Dietrich und dessen Vasallen zu sich in seinen Zwergenberg ein. Witege hat wiederholt Bedenken (u. a. V. 824–826/1300–1302; 841 f./1323; 891–894/1510–1516; 930–933/1597 f.), was erneut die ambivalente Kennzeichnung von Zwergen und -raum aufzeigt. Wie zuvor der Berg und der Rosengarten in der Figurenrede Hildebrands eingeführt wurde, wird nun in der

|| 44 Das Motiv, dass Zwerge als Engel oder Teufel wahrgenommen werden, geht vermutlich auf die mittelalterliche Vorstellung zurück, nach der Zwerge unter anderem als gefallene Engel galten, die beim Höllensturz an der Erde hängen geblieben sind. Vgl. Müller-Bergström (Anm. 38), Sp. 1036 f. 45 Bleumer (Anm. 39), hier S. 110. 46 Zu Strategien der Sympathie- wie Antipathieerzeugung in Bezug auf die Figuren siehe Schumann (Anm. 43).

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Figurenrede Laurins der Berg näher gekennzeichnet (V. 782–798/1248–1264), wobei Laurin jedoch andere Elemente als Hildebrand zu Beginn beider LaurinVersionen aufzählt: Der Zwergenberg sei ein Ort der „kurczewile vil“ (V. 789/ 1255), der Musik (V. 790/1256) und der „wunne“ (V. 796; in der JV, V. 1261 stattdessen erneut „kurczweil“). Die Zeit vergehe im Berg wie im Fluge (ÄV, V. 792: „Eyn jar dunket uch eyn kurcze zcil“; JV, V. 1258: „uch ist ein iar als ein tag“), was man mit Zimmermann auch als eine dem Berg eigene Zeitlichkeit deuten könnte.47 Der Zwergenberg ist in der Figurenrede Laurins also als ein positiver, übersteigerter höfischer Ort beschrieben, der – bis auf die Zeitlichkeit – zunächst nicht durch magische Elemente gekennzeichnet erscheint. Auch in dieser Textpassage lässt sich die erzähltechnische Verzögerungsstrategie erkennen, die Ambivalenz des Raumes textintern erst später zu offenbaren.48 In der Perspektive der mittelalterlichen Rezipienten ist der Berg dagegen traditionell ein ambivalenter Ort.49 Nur in der JV wird von einem zweiten hohlen Berg erzählt, in dem die Reisegesellschaft bei einem Vasallen Laurins unterkommt. In der Erzählerrede ergeben sich die folgenden Attribute: Vor dem Berg findet sich ein Brunnen (V. 1356), auch hängt dort „ein guldin schelle“ (V. 1360), die jedoch nicht geläutet wird (V. 1361). Der Berg muss aufgeschlossen werden (V. 1366 f.); im Gegensatz zur Finsternis der Nacht außerhalb des Berges wird das Berginnere durch das Strahlen eines Edelsteins heller „als der tag“ (V. 1369) erleuchtet, was Dietrich verwundert (V. 1374–1376), aber aus der Perspektive der Zwerge alltäglich ist, wie Laurin feststellt: „‚Ein karfunckel gibt disen schein, / der maniger in dem berge stat.‘“ (V. 1379 f.). Im Berg sieht man „manigen wundner zwerg“ (1394), hört Musik (V. 1397), aber auch „fogel gesang“ (V. 1398), die Helden werden „tugenreich“ (V. 1409) und „wirdikleich“ (V. 1410) empfangen und bewirtet. Erneut ist ein Zwergenort durch eine Grenze und als Raum mit einer anderen Qualität markiert. Die Beschreibung in der Erzählerrede korrespondiert mit der in Laurins Figurenrede, wobei das Wundersame dieses grundsätzlich höfisch anmutenden Ortes stärker als zuvor exponiert ist. Im erzähltechnischen

|| 47 Vgl. Zimmermann (Anm. 32), S. 213. 48 Vgl. Meyer (Anm. 35), S. 254 f. 49 Der Berg ist im Erzählgut unterschiedlicher Kulturen ein ambivalenter Ort, der als Sakral-, aber auch als Taburaum gedeutet wird und von dämonischen Wesen wie Riesen und Zwergen bewohnt ist. Auch die Vorstellung eines hohlen Berges ist weit verbreitet: Dort leben unter anderem Zwerge, Helden werden dorthin entrückt und in seinem Inneren birgt er Orte wie Schlösser sowie unermessliche Schätze. Vgl. Donald Ward: „Berg“. In: Kurt Ranke (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. 14 Bde. Berlin/New York 1979, Bd. 2., Sp. 138–146, hier Sp. 141–143.

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Sinne kann diese Episode als spannungssteigernde Verzögerungsstrategie gedeutet werden, weil die Rezipienten den ‚Showdown‘ im Berg erwarten. Für die hier intendierte Herausarbeitung der literarisch konstruierten Raumstruktur liegt die Deutung nahe, dass in der JV die Grenze zwischen Helden- und Zwergenraum weniger distinkt erzählt wird, indem eine „Übergangszone“50 inszeniert wird. Am Ende wünscht der Wirt des Berges den Helden eine gute Reise: „Er sprach: ‚Got laß uch wol farn, / mies uch leib vnd er bewarn!‘“ (V. 1451). Malcher hat aufgrund dieses Grußes dem Vasallen Christlichkeit zugesprochen.51 Aus dieser Perspektive könnte man einen markanten Unterschied zwischen der ÄV und der JV in der Konstruktion eines sozialen Raumes feststellen: Während in der ÄV eine klare Opposition von Helden und Zwergen und d. h. zwischen Christen und Heiden erzählt würde, wäre diese Opposition in der JV zwar nicht aufgehoben, aber der Zwergenraum erschiene insofern homogenisiert, als dass auch Christen in ihm lebten. Allerdings ist dies nur eine der möglichen Deutungen. Erzähltechnisch ist der Laurin versionsübergreifend durch ein mehrfaches Wiederholen von Formeln und Verspaaren geprägt. Auch in diesem Fall werden zwei Verse fast identisch wiederholt, die sechs Verse zuvor in Dietrichs Figurenrede verwendet wurden (V. 1443 f.: „Er sprach: ‚Wir wend von hinen farn, / Got mus uch uwer er bewarn!‘“). Der Abschiedsgruß kann also strukturell als Erzähltechnik entsprechend einem Prinzip der Wiederholung oder aber als Grußformel verstanden werden, so dass die ‚Christlichkeit‘ des Vasallen nicht überbewertet werden darf.

3.4 Laurins Berg Als letzter Ort der Aventiure findet sich in beiden Versionen des Laurin schließlich dessen Zwergenberg. Vorab textintern nicht eingeführt ist ein Anger vor dem Berg, der wiederum eine Paradiesassoziation durch die Schilderung als locus amoenus hervorruft. Auch in diesem Fall ist also ein Vorbereich, wie zuvor der Brunnen in der JV, ein Teil des Berges. Doch ist die Schilderung des Angers markant gesteigert, wenn einzelne Elemente in den beiden Versionen auch chronologisch unterschiedlich genannt werden: So heißt es in der Erzählerrede, dass er Wonne hervorruft (V. 850/1470; ÄV, V. 854), dass dort „eyne linde[] grune“ (V. 851/vgl. 1491) wächst, zahlreiche duftende Blumen unterschiedlichster Art blühen (ÄV, V. 859–862) bzw. Obstbäume wachsen (JV, V. 1472–1476), er

|| 50 Malcher (Anm. 12), S. 353. 51 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 366.

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erfüllt von höchst melodiösem Vogelgesang ist (V. 863–870/1477–1484) und gezähmte Tiere friedlich umherlaufen (V. 871–874/1485–1491). Anders als bei der Beschreibung des Rosengartens ist neben dem Sehen und Riechen als weitere Sinneswahrnehmung in diesem Fall auch das Hören angesprochen. Erneut wird ebenso die alles Leid vergessend machende Wirkung betont – dieses Mal in einem expliziten Erzählerkommentar:52 Vor war ich daz sprechen sol: Der plan waz froude vol. Der in solde sehen an, der muste sin truren lan. (V. 875–878/1494–1496)

Die paradiesisch anmutende Wirkung des Angers wird ebenso in der Figurenrede Dietrichs (V. 880–882/1498–1500: „‚Zcugangen ist alle unse swere. / Mich trugen den alle myne sinne und myne wise, / wir sint in dem pardyse.‘“) und Wolfharts (V. 884–886/1502–1504) wiederholt. Eine ambivalente Kennzeichnung von Ort und Raum findet sich auch in diesem Fall in den Figurenreden, wenn Hildebrand (V. 888–890/1506–1508) und Witege (V. 892–894/1510–1516) vor kommendem Unheil warnen.53 Dies entspricht der Erwartung des Rezipienten von einem künftigen Konflikt. Die Perspektiven von Erzähler und Figuren unterscheiden sich hinsichtlich der Bewertung des Realitätsstatus des Ortes nicht. Nur in der ÄV definiert Laurin den Anger als Tanz- und Lustort der Zwerge (V. 901–908), betont jedoch, dass dessen Schönheit nichts im Vergleich zu der des Berginneren sei (V. 899 f.). Laurin kennzeichnet den Anger somit explizit als Vor- bzw. Schwellenraum zum Berg. Durch die Beschreibung des Angers als Grenzbereich, als locus amoenus und als christlich konnotiertes Paradies sowie als Lustort der Zwerge ist er ambivalent gekennzeichnet bzw. „hybridisiert“54. Der Eingang in den Berg und damit der Grenzübertritt unterscheidet sich in den beiden Versionen des Laurin: In der ÄV treten die Helden zusammen mit Laurin durch eine kleine Tür, die nach dem Durchschreiten nicht mehr sichtbar ist (V. 925–929). Was der Grund für diese eingeschränkte Sichtbarkeit ist, also || 52 Dies erfolgt in derselben Formulierung wie im Fall des Rosengartens, so dass beide Orte nicht nur über ihre Qualitäten, sondern ebenfalls auf sprachlicher Ebene aufeinander bezogen sind; vgl. Björn Reich: „Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im Laurin“. In: Zeitschrift für Germanistik 23 (2013), S. 487–498, hier S. 490. 53 Es ergibt sich eine Steigerung der Anfangskonstellation vor dem Rosengarten, weil jetzt jeweils zwei Figuren der Wirkung unterliegen bzw. davor warnen. 54 Zimmermann (Anm. 32), S. 214. Anders als der Rosengarten wird der Anger nicht zerstört; er wird nachfolgend im Text nicht mehr erwähnt.

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ob es etwa eine Magie des Raumes ist, wird in der ÄV nicht erzählt. Die JV geht einen anderen Weg: Wie zuvor beim Berg des Vasallen Laurins gibt es hier ebenfalls eine Art Klingel vor dem Berg, dieses Mal ist es ein „horn von golde“ (V. 1545), das jedoch seitens Witege auch benutzt, d. h. geblasen wird (V. 1546), was wiederum das Öffnen des Berges durch einen „kamerer“ (V. 1565) zur Folge hat, so dass hier zum einen eine strukturelle Doppelung zum Berg des Vasallen und zum anderen eine Steigerung zu beobachten ist. Die Schließung des Berges nach dem Eintritt ist explizit als Handlung Laurins markiert (V. 1580: „Das schůff laurein der zwerg“). Auch bittet er einen zauberkundigen Vasallen zu bewirken, dass die Helden einander nicht mehr sehen können: Einer in dem berge sas, der zauberey ein meister was. Laurein hies in fur sich gan. Er sprach: ‚Sichstu die fremden man? Die hand zů streiten grosse kraft. Kanstu von zaber meisterschaft, den wurf an si kreftiglich, trut gesel, des bit ich dich, das si einander nit me sehen. Darumb will ich dir lobe iehen. (V. 1579–1590)

Die JV markiert also die Unsichtbarkeit als Ergebnis eines intentionalen Aktes durch Laurin und weist damit zugleich auf den kommenden Betrug des Zwerges hin. Für die Raumwahrnehmung bedeutet dies, dass der Zwergenraum graduell rationaler konstituiert und weniger unterschiedlich zum Heldenraum als in der ÄV wirkt, wenn die Qualität des Wundersamen als etwas äußerlich Zusätzliches bestimmt wird. Malcher geht für die JV daher von einer „Nivellierung der topologischen Ordnung des Textes“ bzw. einer „Homogenisierung und von Distanzgewinn“ aus.55 Während sich in der ÄV also relativ abgeschlossene Ereignisräume gegenüber stehen, findet sich in der JV ein ausgedehnter, kontinuierlicher und zugleich homogenisierter Raum.56 Das Berginnere entspricht Laurins Ankündigung, so dass Figuren- und Erzählerrede kongruent sind: Der höfische Raum der Dietrich-Helden scheint in allem hyperbolisch gesteigert. Beide Versionen bieten eine ausführliche descriptio des Berginneren (V. 938–996/1623–1709): Er erstrahlt im Glanz von Gold und Edelsteinen (V. 942/1627; nur ÄV, 956 f.), es finden sich dort vortreffliche und bestens gewandete Zwergenritter (V. 938–941/1623–1626), höfische Spei|| 55 Malcher (Anm. 12), S. 354; 366. 56 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 379.

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sung (V. 960 f./1836–1841) und Unterhaltung mit Musik und Turnieren (V. 962– 984/1635–1654; nur JV, V. 1684–1709). Die JV weitet die Beschreibung quantitativ und qualitativ aus. Zusätzlich wird beispielsweise von Bildern erzählt, die lebendig zu sein und zu schweben scheinen (V. 1824–1826); auch trägt Kühnhild an ihrer Krone einen magischen Stein, der den Zauber gegen die Helden aufhebt, so dass sie einander wieder sehen können (V. 1723–1731). Eine negative Kennzeichnung erfährt der Zwergenberg in beiden Versionen durch die mangelnde Christlichkeit, die die entführte Kühnhild als Grund für ihren Wunsch angibt, den Berg zu verlassen (V. 1040 f./1793 f.; V. 1043/1798), sowie durch die Rache Laurins, der seine entsprechenden Pläne Kühnhild gegenüber früh äußert (V. 1092f./1914 f.), auch wenn er zunächst davon absehen will (V. 1102/ 1934). Rachsucht und Verrat gelten als weitere typische, zugleich unhöfische Eigenschaften von Zwergen aus mittelalterlicher Perspektive. Ausgestattet mit einem magischen Ring, der ihm die Kraft von zwölf Männern verleiht (V. 1103– 1106/1939–1941), lässt Laurin die Helden schließlich doch beim Festmahl, dem vielleicht höchsten Symbol der Versöhnung, betäuben (V. 1131–1135/1987–1996) und gefangensetzen (V. 1138/1999–2018). Mit dieser Handlung verstößt Laurin gegen das Gebot der triuwe, der gegenseitigen Verpflichtung und Abhängigkeit beider Parteien und einem der Grundwerte der höfischen Adelsgesellschaft.57 Kühnhild befreit zunächst ihren Bruder Dietleib, gibt ihm einen magischen Ring (V. 1194/2131 f.), dann befreit Dietleib die Helden. Sein sonst so bewährtes Schwert kann gegen Laurin nichts ausrichten, was wieder auf eine magische Qualität hindeutet (V. 1288–1293/2281–2286). Der list der Zwerge kann offenbar nur mit den gleichen Mitteln bekämpft werden, zumal die Zwerge von den Helden nicht gesehen werden können (V. 1321/2336). Ausgestattet mit einem magischen Gürtel (V. 1327–1333/2346–2354) bzw. mit magischen Ringen (V. 1391/ 2431 f.; V. 1447–1451/2605–2617), mittels derer die Helden die Zwerge sehen können, besiegen (V. 1474–1484/2661–2677) sie nicht nur diese, sondern auch die fünf aus dem Wald hinzugerufenen Riesen mit ihren Stahlstangen (ÄV, V. 1396–1400; vgl. JV, V. 2544–2546).58 Die Helden nehmen Laurin, nun all seiner Herrlichkeit und Magie beraubt, mit an den Dietrich-Hof, wo er fortan als Gaukler sein Dasein fristen muss (V. 1493 f./2713 f.). In der Welt der Helden sind Zwergenraum und Zwergenkönig also entzaubert. Laurin ist am Ende nichts

|| 57 Auf diese Weise wird das provozierende Verhalten der Berner nachträglich durch die verräterische Rache im Berg gerechtfertigt. Vgl. Meyer (Anm. 35), S. 250. 58 Die JV ist deutlich ausgeweitet und erzählt auch die Riesenkämpfe ausführlicher.

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anderes als ein kleiner Mann.59 Wundersame Elemente finden sich „zce Berne“ nicht.

4 Wege Neben den Orten und den ihnen zugeordneten Figuren konstituiert sich Raum ebenfalls über die Wege zwischen diesen Orten. Relevant sind hier der Weg vom Hof Dietrichs zum Rosengarten sowie vom Rosengarten zum Zwergenberg Laurins. Der Reiseweg zum Garten ist in sechs Versen (V. 91–96/329–334) mit nur wenigen Elementen beschrieben: Er führt durch den Tiroler Wald (V. 92/330) und weist eine gewisse Ausdehnung auf, denn die Helden reiten eine längere Zeit (V. 95/333: „by eyne wile“) über eine Entfernung von sieben Meilen (V. 100/ 334). Wegen der knappen Beschreibung und dem mittelalterlichen Topos des Waldes als unhöfischem Gefahrenraum lässt sich der Weg als Grenze zwischen dem Ort der Helden und dem der Zwerge deuten. Allerdings ergibt sich über die konkrete Entfernungsangabe zunächst kein qualitativer Unterschied zwischen beiden Orten, denn die Helden können ihn ohne besondere Hilfsmittel erreichen und er liegt innerhalb des Dietrichreiches. Wie Laurin den Rosengarten erreicht, ist im Text nicht erzählt. Nachdem sich die Helden nach der Zerstörung in das Gras niedergelassen haben, setzt der Text neu mit einer Publikumsadresse (V. 147/383: „Sich“/„Sehent“) an und hebt hervor, dass Laurin „mit swinden siten“ (V. 148/in der JV, V. 384: „nach ritterlichen sitten“) herbeigeritten kommt. Wege sind in erster Linie dargestellt, wenn die Bewegung der Helden zwischen Orten oder im Raum aufgezeigt werden soll; narrativ darzustellende Zeitlichkeit bezogen auf Laurin interessiert den Text wenig. Unterschiedlich beschreiben die beiden Vulgatversionen dagegen den Weg zum Zwergenberg Laurins. In der ÄV wird der Weg vom Rosengarten zum Zwergenberg knapp in vier Versen erzählt, wobei auch eine Vagheit bzw. Sinnestäuschung thematisiert wird. So erscheint der Zwergenberg nah und kann doch erst nach längerer Zeit erreicht werden: Also sy den berg ane saen, sy wonten, her were nae.

|| 59 Deutlich anders erzählt die Walberan-Fortsetzung des Laurin, in der sich Laurin taufen lässt, Freund Dietrichs wird und ihn schließlich vor einer wahrscheinlichen Niederlage im Kampf gegen seinen Onkel Walberan bewahrt.

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An dem andern morgen vru quamen sye alrest dir zcu. (V. 843–846)

In der JV ist die unsichere Einschätzbarkeit der räumlichen Distanz zum Berg seitens der Helden quantitativ und qualitativ weiter auserzählt (V. 1320–1466): Witege reitet „me dann ein gancze meile“ (V. 1328) voran, bis er der Bergspitze ansichtig wird. Auch Wolfhart wähnt dann den Berg in unmittelbarer Nähe (V. 1337 f.: „Wolfhart sprach: ‚Nu bin ich fro, / mich duncket, wir sein schier do.‘“). Laurin korrigiert ihn jedoch umgehend: „‚Neun, wir‘, sprach da Laurein, / ‚ich sage uch, traut gesellen mein, / wir hand noch trey meilen dar‘“ (V. 1339–1341). Der Raum wird also von unterschiedlichen Figuren anders wahrgenommen: Nur Laurin als Teil des Zwergenraumes kann die Entfernung textintern ‚realistisch‘ einschätzen, die Wahrnehmung der Helden ist gestört. Konstituiert Raum sich hier relativ zum Status des Betrachtenden? Entsteht hier im Erzählprozess ein Zwischenraum, der allegorisch als Raum der Orientierungslosigkeit gedeutet werden kann? Die unterschiedliche Wahrnehmung ist wohl primär als eine Auswirkung der Magie des Berges zu deuten, dessen unsichere Lokalisierung die Ambivalenz dieses Ortes demonstriert und auf den späteren Kampf vorausdeutet.60 Deutlich ist zwar eine Raumerweiterung in der JV, die inhaltlich jedoch keine wesentlich neuen Markierungen von Raum einführt.

5 Raumkonstruktion Realer Raum und reale Landschaft sind ontologisch früher als die Topographie im Laurin; sie werden als vorhanden vorausgesetzt. Der literarisch vermittelte Wahrnehmungsraum kongruiert nur bedingt mit der realen Geographie, insofern räumliche Aspekte wenig detailliert ausgestaltet sind. Über den ausdrücklichen Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit wird jedoch ein Anschein von Objektivität erzeugt. Versionsübergreifend konstituiert sich der Zwergenraum über die zwei Ortstypen ‚Garten‘ und ‚Berg mit Vorplatz‘ mit einer eigenen Qualität, da sie jeweils mit Elementen des Wundersamen verknüpft sind. Die Orte sind erzählstrategisch hinsichtlich ihrer Schönheit und Wirkungskraft gesteigert erzählt, aber auch in Bezug auf ihre Möglichkeit zur Bewährung und damit zur Statusrepräsentation durch die Motivation zum Kampf (Provokation durch die Helden versus Verrat an den Helden), Kampfsituationen (Zweikämpfe versus Schlacht) sowie Anzahl und Art der Gegner (ein Zwerg versus tausende Zwerge || 60 Vgl. Zimmermann (Anm. 32), S. 214.

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sowie Riesen). Die Ambivalenz des Zwergenraumes, dessen Orte zunächst als loci amoeni gekennzeichnet sind, wird explizit in Figurenrede vorgeführt und ergibt sich anschließend durch das Figurenhandeln. Die Grenzen und ihre Übergänge sind jeweils deutlich markiert (Faden, Pforte), so dass zunächst das Konzept eines geschlossenen Ortes festzustellen ist.61 Diese anfängliche Opposition von Innen und Außen wird jedoch aufgelöst, indem die Orte zerstört oder entzaubert werden. Typisch für Texte des Mittelalters ist es, dass der Text wenig Interesse an der Darstellung der Verbindung, d. h. am Reisen zwischen den einzelnen Orten zeigt. Die einzelnen Orte wirken vor allem in der ÄV aufgrund ihrer Abgeschlossenheit wie Inseln, die über die Bewegung der Hauptfiguren miteinander verknüpft werden.62 Die Korrelation von Raum und zugehörigen Figuren hat im Fall Laurins ein wichtiges Ergebnis gebracht. Erzählt wird ein Auseinandertreten von Schein und Sein, so dass die Frage nach dem Status der Figuren in das Blickfeld gerückt wird. So wie Laurin entzaubert wird, wird es auch der Raum. Da der Körper in mittelalterlicher Literatur in der Regel mit „visuell wahrnehmbaren Zeichen äußerer Statusrepräsentation“63 verbunden ist, ermöglicht erst diese Entzauberung eine klare „Orientierung im sozialen Raum“64. Textintern wird dem Zwergenraum in keiner Version ein anderer Realitätsstatus zugewiesen. Die magischen Elemente verändern den Raum nur nachträglich und sind daher nur sekundär konstitutiv für den Raum der Zwerge. Es besteht also keine Opposition einer magischen und einer nicht-magischen Gesellschaft und ihrem jeweiligen Raum, sondern es handelt sich bei dem magischen Raum um eine Erweiterung ein und desselben Raumes.65 Der Zwergenraum ist zwar als makelbesetzt, nicht jedoch im dualistischen Sinne als Gegen-

|| 61 Faden und Pforte sind als Grenze unterschiedlich gekennzeichnet: Der Faden deutet sie an, ist aber ohne Schwierigkeit zu zerreißen. Bleumer versteht ihn als eine „nur symbolisch angedeutete[] Umgrenzung“. Bleumer (Anm. 39), S. 116; vgl. Reich (Anm. 52), S. 489. Die geschlossene Pforte ist als unüberwindbares Hindernis gedacht. 62 Da das Reisen als eigentlich kontinuierliche Bewegung durch einen Raum in wenigen Versen geschildert wird, lässt sich dieser Zwischenraum nach Zimmermann auch als Grenzüberschreitung deuten. Vgl. Zimmermann (Anm. 32), S. 210. Allerdings weisen Garten und Berg jeweils bereits eine Grenze auf, so dass hier dann eine Doppelung bestünde. 63 Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008, S. 7. Schulz geht an dieser Stelle auf die Rolle des adeligen Körpers im Kontext der Identitätskonstruktion ein. 64 Schulz (Anm. 63), S. 7. 65 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 343.

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pol zum Heldenraum zu deuten.66 Die Überwindung dieses Raumes durch die Helden markiert den Raum der Magie als negativ besetzt. Anliegen der Erzählstrategie des Textes ist es daher, das Wundersame und Fremde des Zwergenraumes durch eine „sukzessive Integration ins Vertraute und Bekannte“67 zu bewältigen. Der Vergleich der beiden Vulgatversionen hinsichtlich der textinternen Raumwahrnehmung und der Konstruktion des jeweiligen Wahrnehmungsraumes hat unterschiedliche Erzählstrategien offengelegt, die für die Darstellung von Raum und seine Wahrnehmung durch die Rezipienten relevant sind. Auffällig ist, dass sich der Großteil des Textes der ÄV in einer nahezu identischen Formulierung auch in der JV findet. Allerdings sind auch immer wieder Verspartien weggefallen oder umformuliert worden. Zwischen Textpassagen, die beide Versionen aufweisen, ist in der JV Plusmaterial eingeschoben, so dass die JV fast doppelt so viele Verse wie die ÄV umfasst. Darin finden sich oftmals weitere kennzeichnende Elemente von Figuren und Räumen ohne großen Neuigkeitswert, die im Text der ÄV jedoch vor allem durch das Einbeziehen der vorausgesetzten Sagenkenntnis impliziert sind. Die JV ist durch das Einschreiben weiterer Informationen konkreter, kontextunabhängiger und steht einer – neuzeitlich geprägten – Erwartung kausal-logischer Kohärenz näher.68 Einzelne zusätzliche Elemente der JV, wie der Berg des Vasallen Laurins, führen strukturell und funktional die in der ÄV angelegte Strategie der Verzögerung weiter, strukturieren aber dadurch auch den erzählten Raum anders. Durch den auserzählten Weg zwischen den Orten der Helden und denen der Zwerge ist der Raum in der JV ausgedehnter, differenzierter und homogener als der stärker diskontinuierlich strukturierte Raum in der ÄV. Diese Homogenisierungstendenzen der JV gleichen solchen, die Bernhard Jahn in Prosaromanen des 15. und 16. Jahrhunderts erkennt, so dass sich hier möglicherweise eine gattungsübergreifende Tendenz und „Umformungen zu einem ‚realistischen‘ Raumbild beobachten“69 lassen. Zurückzuführen ist dieser Transformationsprozess vermutlich auf einen erhöhten Informationsbedarf seitens der spätmittelalterlichen Rezipienten. Die zusätzlichen Informationen erzeugen einen höheren Grad an „Situationsabs-

|| 66 Vgl. Klaus Grubmüller: „Artusroman und Heilsbringerethos. Zum Wigalois des Wirnt von Gravenberc“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 107 (1985), S. 218– 239, hier S. 219. 67 Diese vermutet Zimmermann als werkübergreifende Strategie in der nachnibelungischen Heldenepik, vgl. Zimmermann (Anm. 32), S. 200. 68 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 382. 69 Jahn (Anm. 26), S. 347 f.

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traktheit“70, indem sie weniger Kontextwissen voraussetzen. Insofern ist textintern in der JV zwar eine ‚realistischere‘ Raumwahrnehmung zu beobachten, andererseits wird die Einbettung in die außertextliche Wirklichkeit reduziert, da die JV in sich geschlossener erscheint. Damit, so Malcher, „befinden [wir] uns auf dem Weg der Entwicklung jenes Entlastet-Seins von direkter Wirklichkeitsreferenz, wie es Literatur in einem modernen Verständnis eigen ist“71. Zusammen mit der vertexteten Kommunikationssituation indiziert dies zwar keine Opposition zwischen Helden- und Zwergenraum, jedoch einen gewissen Grad an Opposition zwischen erzählter und außerliterarischer Welt.72 Lassen sich aus mittelalterlicher Perspektive im Laurin also fiktive Orte bzw. Räume mit und ohne historisch-geografischer Referenzierbarkeit unterscheiden? Bei der Beantwortung dieser Frage ist dreierlei zu berücksichtigen: 1. Zwerge und Riesen galten als real-mögliche Gestalten. Auf das Agieren von Riesen wurden spezifische Erd- und Felsbildungen zurückgeführt, auch fossile Knochenfunde wie Mammutknochen stützten vom Altertum bis ins 18. Jahrhundert den Glauben an die Existenz von Riesen.73 2. Bis ins 15./16. Jahrhundert hinein wird in deutschsprachiger Literatur nicht trennscharf zwischen Fiktion und Historie unterschieden. Unter den Begriff der ‚Historie‘ fallen aus heutiger Perspektive sowohl geschichtliche als auch fiktionale Erzählungen. Joachim Knape unterscheidet für diesen Zeitraum drei Aspekte des mit ‚Historie‘ verbundenen Wahrheitsbegriffs: a) Faktenwahrheit; b) Darstellungswahrheit; c) höhere, d. h. religiöse, philosophische oder moralische Wahrheit.74 3. Bis ins 15. Jahrhundert hinein beziehen sich Raumkonzepte primär auf ein theologisch geprägtes,75

|| 70 Malcher (Anm. 12), S. 377. 71 Malcher (Anm. 12), S. 309. 72 Vgl. Malcher (Anm. 12), S. 342. 73 Vgl. Lutz Röhrich: „Riese, Riesin“. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. 14 Bde. Berlin/ New York 2004, Bd. 11, Sp. 668–682, hier Sp. 675. 74 Vgl. Joachim Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984, S. 355–365. 75 Vgl. Brigitte Englisch: Ordo orbis terrae. Die Weltsicht in den Mappae mundi des frühen und hohen Mittelalters. Berlin 2002, besonders S. 464–495. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts zeichnet sich ein Konzeptwandel in der Philosophie hin zu einem mechanistischen Weltbild ab, in dem die Natur als ein kontinuierlicher Raum ohne qualitative Sprünge beschrieben wird. Vgl. Heribert M. Nobis: „Die Umwandlung der mittelalterlichen Naturvorstellung. Die Ursachen und ihre wissenschaftsgeschichtlichen Folgen“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), S. 34–57. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ältere und jüngere Raumkonzepte auch gleichzeitig aktiv sein können.

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nicht jedoch auf ein naturwissenschaftliches Weltbild, das Raum empirisch und zumindest auf rein topografischen Karten als objektive Gegebenheit versteht. Welchen Realitätsstatus hat man also dem Zwergenraum des Laurin im 13. bzw. 15. Jahrhundert zugewiesen? Die Rezipienten dürften die Möglichkeit eines magischen Raumes nicht grundsätzlich ausgeschlossen haben. Auch fehlen für das Mittelalter sichere Kriterien, anhand derer der Realitätsstatus eines Ortes oder Raumes eingestuft werden kann. Grundsätzlich ist daher mit Jahn die „Anzahl für wirklich gehaltener Räume a priori sehr viel höher und vice versa ist es problematisch, sich überhaupt einen fiktiven Raum auszudenken, der gegen Realitätspostulate des 15. Jahrhunderts verstößt“76. Dies bedeutet, dass der aus neuzeitlicher Sicht fiktive Zwergenraum von den mittelalterlichen Rezipienten zumindest auch als realer Raum aufgefasst werden konnte. Einige Zeugnisse des 16. Jahrhunderts weisen jedoch auf eine veränderte Wahrnehmung hin: Die Aventiurehafte Dietrichepik wurde in dieser Zeit als eine bestimmte Form der Geschichtsüberlieferung gedeutet, „indem man das Sagenpersonal zur allegorischen Repräsentation historischer Figuren oder Stände erklärt. Riesen und Zwerge stünden demnach für Tyrannen und einfaches Volk, die Helden für die rechtschaffenen Adligen und Fürsten“77. Dies findet sich z. B. in der Wormser Chronik (1570) von Friedrich Zorn sowie in der Mansfeldischen Chronica (1572) und im Adels-Spiegel (1594) von Cyriacus Spangenberg.78 Weil sich im 15. Jahrhundert ein sich theoretisch reflektierendes Fiktionalitätsbewusstsein erst langsam herauszuschälen beginnt, verwundert es nicht, dass die Analyse der Laurin-Versionen keinen textinternen unterschiedlichen ontologischen Status von Helden- und Zwergenraum sowie keine kontrafaktische Textwelt gegenüber der aktualen Welt aus Sicht der mittelalterlichen Rezipienten ergeben hat.

|| 76 Jahn (Anm. 26), S. 353. 77 Lienert (Anm. 1), S. 12. 78 Florian M. Schmid: „Formen und Formationen von ‚Geschichte‘. Dietrichsage und -dichtung als Quellen volkssprachiger Chroniken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“. In: Graduiertenkolleg Literarische Form (Hg.): Formen des Wissens. Epistemische Funktionen literarischer Verfahren. Heidelberg 2017, S. 255–286.

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Romy Steiger

Kausalität und Künstlichkeit? Erklärungsmuster in Mahrtenehengeschichten

1 Handlungsschema und erzählte Welt der Mahrtenehengeschichten Im Mittelpunkt meines Beitrags stehen zwei Erzählungen der frühen Neuzeit, welche von der Ehe eines Ritters mit der Fee Melusine erzählen: Die um 1400 entstandene, französische Verserzählung Mélusine von Couldrette und ihre gleichnamige deutsche Bearbeitung durch Thüring von Ringoltingen (1456).1 Die Ereignisabfolge verläuft weitestgehend nach ein und demselben Handlungsschema, der sogenannten Mahrtenehe, die aus drei wesentlichen Stationen besteht2: Die Verbindung eines Mannes mit einer Fee garantiert großes Glück, solange er ihr Geheimnis wahrt (1). Da der menschliche Partner – wie schemaüblich – das Tabu bricht (2), ist der Verlust der Fee und aller Glücksgüter die Folge; in den meisten Fällen ist dieser Verlust unwiderruflich (3a), in wenigen Fällen kann er sie zurückgewinnen und sich rehabilitieren (3b). Bei den Romanen Couldrettes und Thürings handelt es sich um die schemakonforme negativ endende Variante, in welcher die Fee nicht zurückgewonnen werden kann. Der Erzählschluss wird bereits frühzeitig im Handlungsverlauf vorweggenommen und auch weitere zentrale Erzählstationen (wie der Tabubruch) werden durch den Erzähler angekündigt. Dadurch erscheint der Handlungsverlauf,

|| 1 Couldrette: A Bilingual Edition of Couldrette’s Mélusine ou Le Roman de Parthenay. Hg. v. Matthew W. Morris. Lewinston 2003 und Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. I: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten. Hg. v. André Schnyder. Wiesbaden 2006. Alle folgenden Zitate aus den Melusinenromanen beziehen sich auf diese Ausgaben. 2 Für diese Stationen vgl. Christoph Huber: „Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der gestörten Mahrtenehe“. In: Udo Friedrich/Bruno Quast (Hgg.): Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2004, S. 247–273. Stärker untergliedert Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990. Zur internationalen Verbreitung vgl. Wei Tang: Mahrtenehen in der westeuropäischen und chinesischen Literatur. Würzburg 2009. https://doi.org/10.1515/9783110626117-017

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so kann man mit Clemens Lugowski sagen, „von hinten“3 motiviert. Man fragt sich als Rezipient folglich nicht, ob das Tabu überhaupt gebrochen wird, sondern wie dies passiert. Der textübergreifende Handlungsverlauf beider Romane lässt sich wie folgt skizzieren: Raymond/Reymond tötet bei einem Jagdunfall seinen Onkel Aymeri/ Emmerich. Danach reitet er ziellos durch den Wald und trifft an einem Brunnen auf die Fee Melusine. Sie weiß von dem Unfall und schlägt ihm ein Tauschgeschäft vor: Wenn er sie zur Frau nimmt, macht sie ihn zu einem mächtigen Herrscher und verschleiert die Umstände von Aymeris/Emmerichs Tod. Bedingung dafür ist, dass Raymond/Reymond nicht nach ihrer Herkunft fragt und sie an keinem Samstag aufsuchen darf. Bricht er dieses Tabu, wird Melusine ihn sofort verlassen und er all sein Glück verlieren. Daraufhin heiraten sie, bekommen zehn Söhne und Raymond/Reymond wird ein mächtiger Herrscher. Auch wird erzählt, wie sich die Söhne als Ritter, Geistliche und Könige bewähren. An einem Samstag spioniert Raymond/Reymond – angestiftet von seinem Bruder – Melusine nach und sieht sie vom Nabel abwärts in eine Schlange verwandelt; er schweigt darüber und sie verlässt ihn vorerst nicht. Als jedoch sein Sohn Geoffroy/Geffroy Brudermord an Froymond begeht, stellt Raymond/Reymond in seiner Wut Melusine öffentlich bloß und verrät ihre Herkunft; daraufhin verlässt sie ihn endgültig. Geoffroy/Geffroy tötet danach Raymonds/Reymonds Bruder. Abschließend wird erzählt, wie sich Raymond/Reymond ins Kloster zurückzieht und stirbt. Sein Land geht an zwei seiner Söhne. Auch Geoffroy/Geffroy stirbt. Es werden noch zwei Episoden um Melusines Schwestern erzählt, deren Verbindungen mit einem Menschen ebenfalls scheitern. Nun ist auffällig, dass in beiden Versionen der Melusine gerade der Tabubruch besonders ausführlich erklärt wird. Er wird nicht allein durch das übergeordnete Handlungsschema motiviert. Da die Erzählungen jeweils von hinten motiviert sind, würde es reichen, dass Raymond/Reymond das Tabu überhaupt bricht, damit er Melusine verliert und damit der negative Schluss des Mahrtenehenschemas eintritt. Couldrette und Thüring erzählen diese Station aber anders: Raymond sieht sich ausgeliefert an eine überpersönliche Macht – Fortuna –, während der Reymond der deutschen Bearbeitung seine eigene Schuld eingesteht. Auf der Protagonistenebene ist der Handlungszusammenhang daher über das Mahrtenehenschema hinaus motiviert. Dass ein Handlungsschema um weitere Motivationen und Erklärungen ergänzt wird, ist an sich nicht ungewöhnlich und nicht weiter überraschend. Dies || 3 Siehe Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung [1932]. Frankfurt a. M. 1994, S. 66–80.

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ist in vielen Erzähltexten der Fall. Was passiert nun aber, wenn eine Figur, die zum Inventar eines stark schematischen Handlungsablaufs gehört, sich selber für die Ereignisse verantwortlich macht? Wenn sie keine Instanz wie Fortuna bemüht, sondern „ſelbes ſchuldig“ (Z. 2141) ist? Für Thürings Melusine wurde mehrfach beobachtet, dass Reymond sich für den Tabubruch und den Verlust Melusines verantwortlich sieht.4 Wie lässt sich diese Beobachtung aus narratologischer Sicht fassen? Thürings Reymond hört hier auf, so meine These, Funktion des Mahrtenehenschemas zu sein. Sein Verhalten ist nicht allein über das Handlungsschema motiviert, sondern Ausdruck kausaler Zusammenhänge, die innerhalb der erzählten Welt bestehen. Die Schuldgeständnisse Reymonds brechen – so meine weitere These – das Mahrtenehenschema formal auf und destabilisieren es. Dadurch, dass das Handlungsgeschehen kausallogisch motiviert ist, erscheint die erzählte Welt wiederum ontologisch stabiler. Mit Couldrette und Thüring liegen somit zwei Versionen einer Mahrtenehengeschichte vor, deren Motivationsstrukturen sich auf signifikante Weise voneinander unterscheiden. Im Folgenden möchte ich genauer untersuchen, welchen Einfluss die Figurenreden und die dazugehörigen Erzählerkommentare in beiden Melusinenromanen auf die Stabilität des Mahrtenehenschemas und auf die Stabilität der erzählten Welt haben. Hierfür sollen die Begriffe literarischer Motivation von Matías Martínez und Lugowski herangezogen werden. Abschließend werde ich exemplarisch die Figurenreden und dazugehörigen Erzählerkommentare der beiden Versionen im Hinblick auf die genannten Parameter miteinander vergleichen.

2 Arten literarischer Motivierung 2.1 Kausale und kompositorische Motivierung nach Martínez Die erzählte Welt stellt den „Inbegriff der Sachverhalte“ dar, „die von einem narrativen Text als existent behauptet oder impliziert werden“.5 Die literarische

|| 4 Zuletzt Catherine Drittenbass: Aspekte des Erzählens in der Melusine Thürings von Ringoltingen. Heidelberg 2011, S. 134 und der Stellenkommentar in André Schnyder (Hg.): Melusine. Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006, S. 27 und 30. 5 Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. Aufl., München 2012, S. 214.

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Motivierung oder Motivation (ich gebrauche beide Begriffe im Anschluss an Martínez synonym6) bringt die erzählten Ereignisse in einen Erklärungszusammenhang; sie integriert das dargestellte Geschehen zum sinnhaften Zusammenhang einer Geschichte.7 Dabei gibt es Motivierungen, die innerhalb der erzählten Welt als Kräfte wirken. Diese bezeichnen Matías Martínez und Michael Scheffel als kausale und finale Motivierung. Die kausale Motivierung erklärt ein Ereignis ontologisch, „indem sie es als Wirkung in einen Ursache-WirkungsZusammenhang einbettet, der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest als möglich gilt“8. Der Reymond in Thürings Melusine etwa macht sich selbst verantwortlich für seine Missetaten. Weil er auf eine bestimmte Weise handelt, verliert er Melusine.9 Im Falle einer finalen Motivierung hingegen ist der Handlungsverlauf von Beginn an festgelegt und findet vor dem mythischen Sinnhorizont einer Welt statt, die dem Wirken göttlicher Allmacht unterliegt. Durch die Instanz Gottes, die das Geschehen final motiviert, wird die komponierende Kraft des Autors in der erzählten Welt selbst repräsentiert.10 Eine weitere Motivationsart ist die kompositorische Motivierung. Anders als kausale und finale Motivation wirkt sie nicht als Kraft innerhalb der erzählten Welt, sondern außerhalb von ihr. Sie bezieht sich auf die „Funktion“11 der Ereignisse, die diese im Rahmen eines Handlungsschemas einnehmen. Die kompositorische Motivierung wird in beiden Versionen der Melusine dann spürbar, wenn Couldrette und Thüring als auktoriale Erzählerinstanz auftreten. In Form von Kommentaren nehmen sie etwa den negativen Erzählschluss vorweg und weisen ihm seine Funktion im Mahrtenehenschema zu. Schon bei der ersten Begegnung Raymonds/Reymonds mit Melusine kündigen Couldrette (V. 666– 670; 679–684) und Thüring (Z. 304–307; 311–316) an, dass er Melusine unwiderruflich verlieren wird. Statt die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt beispielsweise final als göttliche Fügung zu motivieren, wird der Zusammenhang der erzählten Ereignisse so außerhalb der erzählten Welt über das Handlungsschema hergestellt.

|| 6 Vgl. Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 21. 7 Vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 5), S. 113 f. 8 Vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 5), S. 114. 9 Aymeris/Emmerichs Jagdunfall wird in beiden Texten zunächst mit dem Wirken Fortunas erklärt (V. 429–471/Z. 195–210). Bei Thüring erklärt Reymond die Tötung Emmerichs jedoch rückblickend mit seiner eigenen Schuld (Z. 1986 ff.). Bei Couldrette findet sich diese Schuldübernahme nicht. 10 Vgl. Martínez (Anm. 6), S. 28. 11 Martínez/Scheffel (Anm. 5), S. 117.

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Wie hängen kausale und kompositorische Motivierung nun zusammen? In beiden Erzählungen werden die Tabubrüche in einen kausalen Zusammenhang gebracht: Raymond/Reymond spioniert Melusine an einem Samstag nach, weil sein Bruder ihn dazu angestiftet hat; damit bricht er das erste Tabu. Anschließend wird erzählt, wie Geoffroy/Geffroy Froymond tötet. Das verärgert Raymond/Reymond so sehr, dass er Melusine öffentlich bloßstellt. Der Verlust Melusines löst den Zorn Geoffroys/Geffroys aus: Er tötet Raymonds/Reymonds Bruder, den er für die Vorkommnisse verantwortlich macht (V. 2975–5366/ Z. 1593–2759). Diese Kausalkette wird in beiden Romanen unterschiedlich begründet, sowohl auf Protagonisten- als auch auf Erzählerebene. Der Reymond Thürings erklärt sich die Ereignisse kausal, indem er stets seine eigene Schuld als Ursache angibt. Auf Erzählerebene wird mit dem Mahrtenehenschema gearbeitet: Reymond wird Melusine wegen seines Tabubruchs verlieren (Z. 1630 ff.).12 Ein und dasselbe Ereignis – hier der erste Tabubruch – wird im Textzusammenhang sowohl kausal als auch kompositorisch erklärt. Wie in vielen anderen Erzähltexten auch, liegt in Thürings Melusine eine „doppelte Motivation“13 vor. Diese Dopplung ist deshalb nicht paradox, weil die kausalen und kompositorischen Erklärungen verschiedene Aspekte des Textes betreffen: Erstere machen das Handlungsgeschehen innerhalb der erzählten Welt nachvollziehbar, letztere weisen den Ereignissen ihre Funktion im übergeordneten Handlungsschema zu. Der Raymond Couldrettes hingegen übernimmt keinerlei Verantwortung für seine Taten und begründet die Ereignisse damit, dass Fortuna ihn alles habe tun lassen. Er sieht sich ausgeliefert an höhere Mächte und zweifelt nie daran, dass er Melusine verlieren und untergehen wird. Dies wird auf Erzählerebene unterstützt. Allerdings begründet Couldrette die Ereignisse nicht mit dem Wirken Fortunas, sondern mit dem Mahrtenehenschema; Raymond wird Melusine wegen seines Tabubruchs verlieren (V. 3884–3888). Auch hier dominiert die kompositorische die kausale Motivierung: Während sich Raymond auf Protagonistenebene dadurch entlastet, dass er die Tabubrüche mit einer höheren Erklärungsinstanz begründet, wird auf Erzählerebene sichergestellt, dass der Handlungsverlauf stets durch das übergeordnete Handlungsschema vorgegeben ist.

|| 12 Thüring motiviert das Handlungsgeschehen erst dann nicht mehr mit dem Mahrtenehenschema, als Reymond das Tabu um Melusine endgültig bricht. Hier begründet der Erzähler – in Form eines besonders eindringlichen Erzählerkommentars (Z. 2041–2049) – die Ereignisse mit Reymonds eigener Schuld. 13 Vgl. Martínez (Anm. 6), S. 27.

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Anders verhält es sich bei der Kopplung von kausaler und finaler Motivation: Treffen sie innerhalb der dargestellten Welt eines Einzeltextes aufeinander, so liegt nach Martínez eine „doppelte Welt“14 vor. Beide Erklärungen sind als miteinander unvereinbare Alternativen zu verstehen, denn „der Handlungshorizont kann nicht zugleich offen und geschlossen, die kausale Beeinflußbarkeit der Zukunft nicht zugleich möglich und unmöglich sein“15. Das Wirken numinoser Mächte wird bei einer solchen Motivationsstruktur lediglich suggeriert und angedeutet, nie aber eindeutig bestätigt. Da es bei Suggestionen und Anspielungen bleibt, dass den Geschehnissen eine verborgene Absicht zugrunde liegt, wird der Zusammenhang der empirischen Kausalketten nicht zerstört: Die finale Motivation nimmt einen sekundären Status ein, sie setzt die Existenz einer kausalen Motivierung voraus, aber nicht umgekehrt.16

2.2 Lugowskis Motivation von hinten Wie ich zu zeigen versuchte, lässt sich mit Martínez’ Unterscheidung zwischen kompositorischer und finaler Motivierung differenzieren, ob eine paradoxe, doppelte Motivierung innerhalb der erzählten Welt vorliegt (kausal und final), oder ob es sich jeweils um verschiedene Erklärungen innerhalb und außerhalb der erzählten Welt für ein und dasselbe erzählte Ereignis handelt (kausal und kompositorisch). Lugowski hatte in seiner bedeutenden Untersuchung zur Form der Individualität im Roman (1932) eine solche Differenzierung nicht vorgenommen: Kompositorische und finale Motivierung fallen bei ihm unter den Begriff der Motivation von hinten17. Martínez weist darauf hin, dass dies keine methodische Unsauberkeit Lugowskis darstelle, sondern vielmehr die Pointe seiner Systematik ausmache. Indem die beiden Bedeutungen zusammenfallen, werfe die kompositorische Motivation „auf das kausale Gefüge einen finalisierenden Schatten“; die erzählte Welt, die gerade durch die kompositorische Motivierung als Schöpfung, als Künstlichkeit erscheint, könne „man sich schlechterdings nicht ohne übergeordnete Intention vorstellen, selbst wenn in [H. i. O.] der erzählten Welt keine übernatürlichen, realitätsinkompatiblen Elemente enthalten sind“ 18.

|| 14 Siehe Martínez (Anm. 6), S. 32–36. 15 Martínez (Anm. 6), S. 28. 16 Vgl. Martínez (Anm. 6), S. 33. 17 Vgl. Lugowski (Anm. 3), S. 66 ff. 18 Vgl. Martínez (Anm. 6), S. 29.

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Besonders deutlich wird die kompositorische und finale Kraft der Motivation von hinten in Couldrettes Melusine. Auf Erzählerebene wird mit der kompositorischen Motivierung gearbeitet: Die Erzählerkommentare Couldrettes stellen für den Rezipienten sicher, dass Raymond lediglich so agiert, wie es vom Handlungsschema vorgegeben ist. Der Rezipient weiß so, dass Raymond das Tabu nur bricht, damit er Melusine verliert und damit der negative Schluss des Mahrtenehenschemas eintritt. Auf Protagonistenebene kommt eine finalisierende Komponente hinzu: Die als Kausalkette angelegten Tabubrüche werden durch Raymond zusätzlich – und eben lediglich zusätzlich – mit einer überpersönlichen Erklärungsinstanz begründet. Mit Fortuna wird, so kann man sagen, das Handlungsgeschehen einer übergeordneten Intention unterstellt. Sie verkörpert innerhalb der erzählten Welt die finalisierende Komponente, welche die künstliche Setzung auf das kausale Gefüge wirft. Die Kausalkette der Tabubrüche wird so besonders stark auf zwei Ebenen von hinten motiviert. Damit hält Couldrette die Fäden der Narration wie ein Puppenspieler in der Hand und gestaltet sie im besonderen Maße als „Doppelheit der Realität“19, die durch die Dominanz einer Motivation von hinten über die Motivation von vorn zustande kommt.20

2.3 Motivationale Unbestimmtheit (am Beispiel Der Ritter von Staufenberg) Die Motivation von hinten, die das Handlungsgeschehen als vom Autor komponiert sichtbar macht, wird laut Lugowski immer dann spürbar, wenn die Narration nicht ausreichend durch „vorbereitende Motivierungen“ gedeckt ist.21 Während die Tabubrüche bei Couldrette und Thüring als Kausalkette ‚von vorn‘ nachvollzogen werden können, gibt es Erzählungen, die nahezu ohne kausale Motivierungen auskommen. Durch die kausalen Lücken wirken die Texte dann besonders schematisch und künstlich konstruiert. Bemerkenswerterweise lässt sich nun gerade an solchen Texten zeigen, dass ein und dasselbe Ereignis sowohl kompositorisch als auch kausal erklärbar ist. Ein Beispiel: Die 1310 entstandene Verserzählung Der Ritter von Staufenberg erzählt in Form einer einfachen Reihung die Geschichte Peters, der ein Verhält-

|| 19 Lugowski (Anm. 3), S. 80. 20 Wie die kausale Motivation macht die Motivation von vorn ontologische Aussagen über die Ursachen von Ereignissen innerhalb der erzählten Welt. Vgl. Martínez (Anm. 6), S. 28. 21 Vgl. Lugowski (Anm. 3), S. 110.

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nis mit einer Fee eingeht.22 Bedingung hierfür ist, dass er keine andere Frau heiratet.23 Peter genießt die Liebschaft für eine längere Zeit, gerät allerdings aufgrund seiner Ehelosigkeit zunehmend in Bedrängnis. Er bleibt dennoch standhaft und schweigt über seine heimliche Geliebte. Auch als er schließlich doch auf Anraten der Fee von ihr erzählt, lässt er sich nicht von der Verbindung abbringen. Befremdlich erscheint, dass Peter nun – mit Lugowski gesprochen – ‚plötzlich‘24 in die Ehe mit einer Verwandten des Königs einwilligt, ohne dass diese Entscheidung näher erklärt wird. Als ihm Geistliche unterstellen, ein Bündnis mit dem Teufel zu haben, heißt es kurz, „die pfaffheit hat in úber rett“ (V. 981), und Peter stimmt der Ehe ohne Umschweife zu. Anders als Raymond/Reymond bringt Peter das, was sich ereignet hat, nicht in einen kausalen Zusammenhang. Auch die nochmals angekündigte Konsequenz, dass Peter sterben muss, wenn er eine andere Frau heiratet, spielt keine Rolle (V. 1009–1028). Es wird lediglich einmal erwähnt, dass Peter vor seiner Hochzeit über die Warnungen der Pfaffen nachdenkt (V. 1029–1036), und nicht näher erklärt, warum er seine so standhafte Treue gegenüber der Fee so plötzlich und ohne Angabe von Gründen revidiert. Die Pfaffen veranlassen ihn, das Tabu zu brechen, und er tut es. Trotz dieser auffallend großen kausalen Lücken bleibt der narrative Zusammenhang aber – und das ist entscheidend – durch die Motivation von hinten ungestört. Die kausalen Lücken innerhalb der erzählten Welt sind dem Mangel an vorbereitender Motivierung geschuldet und lassen das übergeordnete Handlungsschema gleichsam durchscheinen.25 Eine Geschichte voller derartiger Leerstellen, wie der Ritter von Staufenberg, macht zweierlei deutlich: Zum einen wird die künstliche Setzung des Autors genau an diesen Leerstellen sichtbar, weil die vorbereitende Motivierung keine zureichende Begründung liefert. Zum anderen sind die kausalen Verknüpfun-

|| 22 Egenolf von Staufenberg: Der Ritter von Staufenberg. Hg. v. Eckhard Grunewald. Tübingen 1979. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. 23 Mit Huber (Anm. 2, S. 252) und Simon (Anm. 2, S. 37–40) begreife ich den Text als schemakonforme Reihung und bin wie Tang (Anm. 2, S. 2) der Auffassung, dass das Verbot der Untreue ein hinreichendes Kriterium ist, um es als Tabu der Mahrtenehe zu werten. 24 Zum Begriff des ‚Plötzlichen‘ vgl. Lugowski (Anm. 3), S. 66. 25 Anders Fuchs-Jolie, der die Unschärfen im Staufenberg „weniger als mangelnde Motivierungen, sondern vielmehr als Effekte systematischer Übercodierung“ begreift. So werde ein „komplexes, vieldeutiges Netz von Verweisen und Zeichen“ ausgebildet. Stefan Fuchs-Jolie: „Von der Fee nur der Fuß. Körper als Allegorien des Erzählens im Peter von Staufenberg“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (2009), S. 53–69, hier S. 57.

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gen dennoch „unbestimmt vorhanden [H. i. O.] und werden vom Leser im konkretisierenden Akt der Lektüre mitgesetzt“26. Man kann Peters plötzlichen Sinneswandel so verstehen, dass er die Überzeugungen der Pfaffen übernimmt und sich für die Ehe entscheidet, weil sie ihn dann doch „úber rett“ haben. Der Text gibt nur versatzstückweise Hinweise, die sich zu einer – recht losen – kausalen Kette verknüpfen lassen.27 Erklärt man die Ereignisse mit dem Mahrtenehenschema, so erscheinen die Pfaffen als dessen ‚Funktion‘: Sie veranlassen Peter, das Tabu zu brechen und bringen so die Narration voran. Kausale und kompositorische Motivierungen bestehen auch da nebeneinander, wo sie lediglich unbestimmt vorhanden sind. Das Geschehen im Staufenberg ist über ein stabiles Handlungsschema motiviert, welches auf weiterführende Erklärungen des Protagonisten verzichtet. Die kausalen Lücken führen jedoch dazu, dass die dargestellte Welt aus ontologischer Sicht nicht sonderlich stabil ist.

3 Handlungsschemata und Motivierungen auf Protagonistenebene in der Melusine Couldrettes und Thürings von Ringoltingen Wir haben gesehen, dass kausale und kompositorische Motivationen nebeneinander bestehen können, da sie verschiedene Aspekte einer Erzählung – zum einen innerhalb, zum anderen außerhalb der erzählten Welt – betreffen. In den Mahrtenehengeschichten, die ich bisher als Beispiele herangezogen habe, dominiert klar die kompositorische die kausale Motivierung im Sinne einer ‚Doppelheit der Realität‘. Die kausallogische Verkettung der Tabubrüche und das Heranziehen einer höheren Erklärungsinstanz stellen lediglich zusätzliche Erklärungen dar für die allzeit präsente Motivation von hinten: Der Protagonist

|| 26 Martínez (Anm. 6), S. 25. 27 Paracelsus’ Nacherzählung des Staufenberg ist hier eindeutiger: Peter hält die Fee hier für eine Teufelin und heiratet deshalb eine andere Frau. Vgl. Theophrastus von Hohenheim genannt Paracelsus: Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus. Hg. v. Robert Blaser. Bern 1960, S. 31. Paracelsus sei überhaupt darum bemüht, kausale Erklärungen in den Text hineinzunehmen, so Stefan Fuchs-Jolie: „Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens“. In: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hgg): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Berlin 2010, S. 99–118, hier S. 109 f.

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unterstellt, dass das Handlungsgeschehen der übergeordneten Intention Fortunas unterliegt (in Couldrettes Mélusine). Ich habe außerdem versucht zu zeigen, dass kausale und kompositorische Motivierung auch dann nebeneinander bestehen, wenn kausale Motivierungen lediglich unbestimmt vorhanden sind (in Der Ritter von Staufenberg). Nun macht es aber einen Unterschied, ob sich der männliche Protagonist überpersönlichen Mächten ausgeliefert sieht, oder ob er sich eigenverantwortlich zeigt für das, was sich in der erzählten Welt ereignet. Im ersten Fall, so kann man mit Lugowski sagen, ist Raymond durchgehend „Funktionsträger“ des übergeordneten Handlungsschemas, „Träger einer bestimmten Handlungsfunktion und nur […] das“28. Er ist stets „gehabt“29 vom Mahrtenehenschema, auch dann, wenn er seine Taten durch sein Ausgeliefertsein an Fortuna erklärt. Was passiert hier aus narratologischer Sicht, wenn Fortuna in Thürings Version als Erklärungsinstanz fehlt und durch Schuldeingeständnisse Reymonds ersetzt wird? Die Figur hört hier wohl auf, Funktionsträger des Mahrtenehenschemas zu sein. Gleichzeitig – so lautete eingangs meine These – wird das übergeordnete Handlungsschema destabilisiert. Im Folgenden möchte ich die beiden Versionen der Melusine miteinander vergleichen und an ihrem Beispiel zeigen, wie sich die verschiedenartigen Begründungen der Protagonisten auf die Stabilität des Mahrtenehenschemas auswirken. Mit Blick auf Thüring stellt sich die Frage, ob die dargestellte Welt – aufgrund kausaler Figurenhandlungen – hier ontologisch stabiler ist als bei Couldrette. Für die weitere Analyse möchte ich zunächst den Begriff des Mahrtenehenschemas näher definieren und auf seine Motivations- und Spannungsart eingehen.

3.1 Schematische Handlungsabläufe Wie eingangs erwähnt, besteht das Mahrtenehenschema aus drei wesentlichen Erzählstationen, die in allen Mahrtenehengeschichten vorkommen: Erstens die Verbindung von Mensch und Fee, die einem Tabu unterliegt. Zweitens, dass der menschliche Partner das Tabu bricht und die Fee verliert. Drittens gibt es offene Alternativen für den Schluss: Gewinnt er die Fee zurück, liegt ein positiver Erzählschluss vor, gewinnt er sie nicht zurück, liegt ein negativer Schluss vor.

|| 28 Lugowski (Anm. 3), S. 60. 29 Zum Begriff des „Gehabtseins“ vgl. Lugowski (Anm. 3), S. 61–66.

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Christoph Huber bezeichnet diese drei Stationen als „Kernformel der Mahrtenehe“30. Die Systematik Hubers stellt eine Art Minimalversion des Mahrtenehenschemas dar. Alle drei Stationen sind fester Bestandteil des Schemas und werden in linearer Abfolge erzählt, wie etwa im Staufenberg. Dieser Text enthält keine Erklärungen des Handlungsgeschehens durch den Protagonisten und läuft linear in Form einer einfachen Reihung ab. Zum Tabubruch merkt Ralf Simon an, dass dieser stets durch eine dritte Figur provoziert wird: Es tritt immer ein Akteur aus dem Kreis des männlichen Protagonisten auf, der ihn dazu anstachelt, das Tabu zu brechen.31 Es gibt also stets einen Antagonisten, der zum Inventar des Mahrtenehenschemas gehört; er bringt als dessen ‚Funktionsträger‘ die Handlung im Sinne der Motivation von hinten voran. Bei Couldrette und Thüring stachelt der Bruder Raymond/Reymond an, Melusine samstags nachzuspionieren. Im Staufenberg sind es die Pfaffen, die Peter veranlassen, die Verwandte des Königs zu heiraten. Innerhalb der erzählten Welt erscheinen die Antagonisten somit als kausallogische Ursache für den Tabubruch, die nichts anderes als eine vorbereitende Motivierung für den Erzählschluss des Mahrtenehenschemas ist. Das Mahrtenehenschema hat also eine eigene innere Logik, die sich aus der Abfolge der drei Stationen ergibt. Der negative Erzählschluss des Mahrtenehenschemas dominiert alle Handlungszüge. Ich bezeichne ihn deshalb mit Lugowski auch als „Ergebnis“ 32; er ist das Motivierende schlechthin und ‚rechtfertigt‘33 die Einzelzüge der Handlung als abgeschlossene und sinnhafte Komposition des Autors. Im Sinne Lugowskis ist das Mahrtenehenschema somit eine „geschlossene Künstlichkeit“, die mythosorientierte Strukturen aufweist.34 Wie bereits erwähnt, wird dem Rezipienten dabei schon früh im Handlungsverlauf dargelegt, wie die Geschichte insgesamt endet. Durch Vorwegnahmen zentraler Erzählstationen wird das Ob-Überhaupt der Handlung zu weiten Teilen aufgelöst. Es stellt sich eine Wie-Spannung ein, da der Rezipient stets weiß, warum die Figur so handelt, wie sie es gerade tut.35 Das Handlungsgeschehen verliert mit Lugowski gesprochen so an Ernst, es wird gleichsam

|| 30 Huber (Anm. 2), S. 252. 31 Vgl. Simon (Anm. 2), S. 45. Er untergliedert das Mahrtenehenschema in neun Funktionen, die er vom Handlungsschema des Artusromans herleitet, siehe ebd., S. 37–40. 32 Lugowski (Anm. 3), S. 73 f. 33 Vgl. Lugowski (Anm. 3), S. 75. 34 Zum zentralen Begriff des „mythischen Analogons“ siehe Lugowski (Anm. 3), S. 12 f. 35 Vgl. Lugowski (Anm. 3), S. 39–42.

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„entkräftet, entwertet“, ihm wird „das Gefährliche, Ungewisse, Zeithafte genommen“36.

3.2 Erklärungsmuster Von den bisher betrachteten Erzählungen gibt es nur einen Text, in dem das Mahrtenehenschema nahezu alle Handlungszüge erklärt: Der Ritter von Staufenberg. In den beiden anderen Texten kommen Begründungen durch die Protagonisten hinzu, welche die Stationen des Mahrtenehenschemas zusätzlich erklären (z. B. Fortuna bei Couldrette). Ich möchte sie im Folgenden mit dem Begriff Erklärungsmuster bezeichnen. Es handelt sich um ‚Muster‘, weil sie erstens sehr häufig, d. h. nahezu an jeder Gelenkstelle des Mahrtenehenschemas, und zweitens immer wieder auf dieselbe Weise eingesetzt werden. Wenn es einmal Fortuna ist, die verantwortlich ist für den Tabubruch, dann ist sie es auch für den Verlust der Fee und den Niedergang des Ritters. Der Begriff des Erklärungsmusters erlaubt eine systematische Vergleichbarkeit von Mahrtenehengeschichten in Hinblick auf die Begründungen der männlichen Protagonisten: Je nachdem, wie das Erklärungsmuster motiviert ist, handelt es sich um eine Variation des Grundschemas oder um einen Schemabruch. Wird kein Erklärungsmuster hinzugenommen, liegt eine einfache Reihung vor.

3.3 Variationen und Brüche von schematischen Handlungsabläufen Im Folgenden möchte ich nun am Beispiel der beiden Melusinenromane darauf eingehen, welche Auswirkungen es auf das Mahrtenehenschema und die dargestellte Welt hat, wenn Erklärungsmuster auf der Protagonistenebene hinzukommen. Bei Couldrettes Mélusine liegt eine Variation des Grundschemas vor, denn das Mahrtenehenschema wird um ein Erklärungsmuster (Fortunas Macht) ergänzt. Die Erzählung ist dabei weiterhin von hinten motiviert. Ich zähle solche Erklärungsmuster bei variierten Texten deshalb mit Lugowski zu den, bereits erwähnten, vorbereitenden Motivationen. Anders ausgedrückt: Weil das Erklärungsmuster hier die Motivation von hinten lediglich „deckt“37, könnte es genauso gut fehlen. Die Geschichte wäre dann nur kürzer, ihre Stationen und ihr

|| 36 Lugowski (Anm. 3), S. 73. 37 Lugowski (Anm. 3), S. 110.

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Ergebnis jedoch identisch. Im Fall einer Variation ist das Erklärungsmuster daher ein retardierendes Motiv. Das Walten Fortunas als Erklärungsmuster in Couldrettes Mélusine zielt auf den negativen Schluss des Mahrtenehenschemas: Aus Figurenperspektive lässt Fortuna Raymond das Tabu brechen, damit er die Fee Melusine für immer verliert, damit er in lebenslanges Unglück stürzt. Raymond ist quasi in doppelter Hinsicht ‚gehabt‘: Zum einen von der finalisierenden Macht der Fortuna, zum anderen als Funktionsträger des Mahrtenehenschemas. Gegen dieses doppelte ‚Gehabtsein‘ kann sich Raymond nicht wehren. Auch der negative Erzählschluss ist stets als Ergebnis präsent, da nie infrage gestellt wird, dass Raymond scheitern und untergehen wird. Der Tabubruch ist in beiden Versionen der Melusine gedoppelt: Raymond bricht zunächst das Sehtabu: Angestiftet von seinem Bruder spioniert er Melusine nach und sieht, wie sie vom Nabel abwärts in eine Schlange verwandelt ist. In Raymonds Figurenrede, die sich an seine Entdeckung anschließt, wird Fortuna ohne Umschweife als Strippenzieherin benannt; sie hat ihn diesen schlimmen Fehler begehen lassen: „Oh weh, oh weh!“, sagte Raymond, „Es gibt keinen ärmeren Mann auf der Welt, für wahr und mit Sicherheit, als ich es bin. Oh weh! Melusine, an diesem heutigen Tage, wegen meines Fehlers, habe ich dich verloren.“ In Kummer schauderte er und zitterte. „Oh weh! Werde ich dich verlieren, meine Liebe, mein Herz, mein Wohlbefinden, mein Leben? Wegen dir, du grausame Fortuna, werde ich meine Freude und Inspiration verlieren, meine Melusine, die mich zu demjenigen gemacht hat, der ich bin?“ (V. 3137–3147, Übersetzung von R. S.)38

Raymond bricht im Anschluss ein weiteres Gebot der Fee. Er verrät Melusines Herkunft und stellt sie damit öffentlich bloß. Nachdem Raymond Melusine endgültig verloren hat, macht er neben Fortuna auch seinen Bruder – den Antagonisten – dafür verantwortlich. Das doppelte ‚Gehabtsein‘ durch überpersönliche Mächte und durch das übergeordnete Handlungsschema wird durch Passivkonstruktionen noch verstärkt: Er sagte abermals: „Meine sanftmütige Liebste, ich habe dich belogen und betrogen, und das wegen der Worte eines wertlosen Schuftes! All dies hat mein Bruder mich tun lassen; ich bin seinetwegen unaufrichtig und verdreht, voller Laster und vollkommen verdorben.

|| 38 „‘Helas, helas!’ ce dist Raymonds, / ‘Ou monde n’a si pouvre homs, / En verité, comme je suy. / Helas! Mellusigne, au jour d’uy / Par ma faulte vous ai perdue.’ / De deul fremist et tout tressue. / ‘Helas! vous perdrai ge, m’amye, / Mon cueur, mon bien, m’amour, ma vie? / Par toi, Fortune douleureuse, / Perdrai ge ma pensee joyeuse, / Qui m’avoit fait tel comme suys?’“

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Mein Glück hat mich so sehr verlassen, wie damals ganz am Anfang, als ich meinen Herrn im Wald getötet habe. Keiner wurde jemals von so großem Unglück heimgesucht! [...] Falsche Fortuna, die du von Neid durchdrungen bist, du führtest mich in diese grausame, ausweglose Situation, in welcher ich all mein Vergnügen verlor. In welcher ich all meine Fröhlichkeit verlor. In welcher ich all meine Reichtümer verlor und all meine Freude.“ (V. 4313–4335, Übersetzung von R. S.)39

Raymond leistet Buße, indem er zum Papst nach Rom reist und anschließend Mönch wird. Sein Klostereintritt fällt mit dem negativen Ergebnis des Mahrtenehenschemas zusammen. Er zieht sich aus der Welt zurück, weil er Melusine und sein Glück verloren hat (V. 5577–5603). Von einer Variation unterscheidet sich grundlegend der Schemabruch: Zwar wird hier auch ein Erklärungsmuster hinzugezogen, aber es zielt nicht länger auf dasselbe Ergebnis wie das Mahrtenehenschema. Seine Stationen werden nicht um eine weitere Erklärung ergänzt, sondern umbesetzt. Wo das Erklärungsmuster hinzugenommen wird, ist die Handlung nicht länger von hinten motiviert und das lineare Gefüge wird „gelockert“40. Das Erklärungsmuster bricht das Mahrtenehenschema gleichsam auf. Als Textbeispiel dient nun Thürings Melusine, die frühneuhochdeutsche Bearbeitung von Couldrettes Version. Anders als bei Couldrette lässt Thüring Reymond jedes Mal seine eigene Schuld eingestehen. Nicht Fortuna, sondern Reymond ist „ſelbes ſchuldig dar an“ (Z. 2141), die Gebote Melusines übertreten zu haben. Indem die Verantwortung auf die Figur übergeht, hört sie auf, Funktion des Mahrtenehenschemas zu sein. Das Mahrtenehenschema wird hier – so meine These – durch die ‚Individualität‘ des Protagonisten zersetzt und verliert seine Ganzheit und Geschlossenheit. Individualität ist dabei als Form aufzufassen, die laut Lugowski mythosanaloge Strukturen zurückdrängt.41 Sie zeigt sich dann, wenn Handlungszüge einer Geschichte, die von hinten motiviert ist, anders motiviert sind und nicht zum Ergebnis passen. Genau dies liegt meines Erachtens in Thürings Melusine vor: Reymond ist hier nicht länger ‚Funktionsträger

|| 39 „Souvent disoit: ‘Ma doulce amye, / Je t’ay depceüe et traÿe. / Et par enort de put affaire, / Tout ce m’a fait mon frere faire; / Je suys par luy faulx et parvers, / Plain de vices et plain de vers. / Bien me mescheut fortuneement / A mon premier comencement, / Quant ou boys occis mon seigneur. / Oncques meschief n’advint grigneur. / [...] Faucle Fortune, par envie / M’as admené a ce dur port / Ou j’ay perdu tout mon deport, / Ou j’ay perdu toute lÿesse, / Ou j’ay perdu toute richesse, / Ou j’ay perdu joye enterigne.’“ 40 Lugowski (Anm. 3), S. 110 f. 41 Zusammenfassend vgl. Lugowski (wie Anm. 3), S. 182 und die detaillierten Beispielanalysen zu den „Zersetzungssymptomen“, S. 83–141.

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des Mahrtenehenschemas‘, sondern er übernimmt selbst Verantwortung für die erzählten Ereignisse. Seine Schuldgeständnisse ersetzen die Motivation von hinten durch eine kausallogische Motivation von vorn; die Individualität der Figur erscheint somit als ‚Formproblem‘, weil sie die mythosorientieren Strukturen des Handlungsschemas zurückdrängt.42 Als Beispiel soll Reymonds Figurenrede nach dem ersten Tabubruch dienen. Thüring lässt Fortuna als Erklärungsinstanz weg und schiebt einen längeren Bericht ein. Reymond ist sich bewusst, den Schwur selber gebrochen zu haben.43 Die Motivationsart wechselt hier also vom Schema weg hin auf die Figur und der Tabubruch wird nun auch auf Figurenebene als Kausalzusammenhang dargestellt. Resümiert wird mit der eigenen Schuld des männlichen Protagonisten: So war nun Reymond in großem Unmut und starkem Leid, und er besann sich darauf, dass er, als er Melusine zur Frau genommen hatte, ihr so hoch und heilig versprochen und geschworen hatte, dass er sie an keinem Samstag je suche, noch jemanden das tun lasse, und falls er das breche und ihr sein Versprechen nicht hielte, dass er sie verliere und sie nie mehr sehen werde. [...] Und als er begann, über all diese Dinge genau nachzudenken und sie zu überlegen, da fing er an tief zu seufzen [...]. (Z. 1675–1687, Übers. nach Schnyder [Anm. 1])44

Unmittelbar nach dem zweiten Tabubruch – der öffentlichen Bloßstellung Melusines – fügt Thüring einen Erzählerkommentar ein, der besonders eindringlich wirkt, weil Reymond direkt angesprochen wird. Er ist deutlich länger als bei Couldrette45 und betont ebenfalls die Schuld Reymonds. Das Handlungsgeschehen wird nun auch auf Erzählerebene als Kausalzusammenhang dargestellt. Der Erzähler legitimiert Reymonds Schuldgeständnisse und bricht das Mahrtene-

|| 42 Vgl. Jens-Dieter Haustein: „Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität?“ In: Jürgen Fohrmann/Ingrid Kasten/Eva Neuland (Hgg.): Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Bielefeld 1999, S. 553–572, hier S. 556. 43 Vgl. hierzu auch den Kommentar von Schnyder (Anm. 4), S. 27. 44 „Alſo was nů reymond in groſſē wider můtt / vnd hertʒlich kommer vnd beſinte ſich das do er melußinen by dem erſten nam Er ir ſo tǔre vnd hoch gelopt vn̄ geſworen hatt / Das er ſ / an keinem ſamſtag niemer wolte erſůchen noch niemant gehellen ʒů tůnde vnd wo er das breche vnd ir ſin gelǔbde nit hielte das er ſhi verliere vnd niemer me geſehen wǔrde [...] vnd alſo ſich / Reymond diſer ſachen aller begůnde eyentlichen hinderdenken vnd beſynnen Do begůnde er gar Jnneklichen ʒů erſǔfftʒende [...].“ 45 Bei Couldrette heißt es lediglich, dass er das Gebot gebrochen hat und damit Melusine verlieren wird (V. 3884–3888). Motiviert wird hier allein mit dem Mahrtenehenschema.

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henschema formal auf:46 „Bei Gott, Reymond, wie hast du dich von jeder Vernunft getrennt und wie hast du Verblendung in dir so mächtig überhand nehmen lassen. [...] [W]obei sie dir auch vor allem anderen sagte, dass du sie verlieren würdest, wenn du ihr dein Gelübde nicht hieltest! Reymond, dein Glück, dein Wohlergehen und alle deine Freude und Ansehen werden leider jetzt ein Ende haben“ (Z. 2041–2049).47 Nach dem endgültigen Verlust Melusines gesteht Reymond wieder seine eigene Schuld. Fortuna und sogar der Antagonist sind als Erklärungsinstanzen gestrichen: „Besonders klagte er sehr, dass er sie wegen seiner Missetat verloren hatte und er sie nie mehr wieder bekommen würde. Und er nahm sich alles so sehr zu Herzen, dass ihn danach nie mehr jemand fröhlich sah bis an sein Ende“ (Z. 2240–2243).48 Die besprochenen Beispiele sollen keine literaturhistorisch-teleologische Entwicklung hin zu einer Offenheit des Erzählens, ausgelöst durch eine Dominanz der Motivation von vorne, verdeutlichen: Individualität, wenn man sie mit Lugowski als Form auffasst, fungiert in Thürings Melusine lediglich als ‚Sollbruchstelle‘. Mit dem Einsatz kausaler Motivierungen wird das Mahrtenehen-

|| 46 Thüring kontrastiert anhand der Tabubrüche die Eigenverantwortung Reymonds mit den Fügungen des Glückes: Er stellt den Tabubrüchen ein Exemplum voran (Z. 1582–1593), in dem es heißt, weltliches Glück sei ein sicheres Zeichen der ewigen Verdammnis (Z. 1580 f.). In ihrer Abschiedsrede lässt er Melusine weitere Beispiele für die Wechselfälle des Glückes geben (Z. 2131–2136). Sie werden den Tabubrüchen gegenübergestellt, für die sie Reymond unmissverständlich verantwortlich macht: „Dies kommt von der Fügung des Glücks, das einen hinaufträgt, den anderen hinunterwirft. Aber du bist selbst schuld daran und wegen deiner großen Unwahrhaftigkeit und Treulosigkeit wirst du dein teuerstes Herzliebstes verlieren“ (Z. 2140– 2143; „Dis kompt von des glǔckes cʒůualle das einen hohet den andern nydert Aber du biſt ſelbes ſchuldig dar an vnd von diner groſſen vnworheit vn̄ vntruwe wegen ſo wǔrſ / tu din liebſtes hertʒ liep verlieren vnd vmb ſy komen.“). Couldrette lässt Melusine Raymond zwar auch anklagen (V. 4063–4078), anschließend aber Raymond besonders ausführlich seine Verantwortung auf Fortuna und seinen Bruder schieben (V. 4313–4362). Couldrette entlastet so Raymond stets mit Fortuna, während Thüring dessen Eigenverantwortung betont. 47 „Ach got / Reymond wie haſtu dich do von aller vernůnfft / verloſſen vnd lieſt / vmbeſcheidenheit / in dir ſo gewaltlichen richen [...] Das / Ob du ir nicht enthielteſt din gelǔbde das du sy wǔrdeſt verlierē / Reymond din glǔck din ſelde vnd alle dine froͤ ude vnd ere ſollent leyder yetʒunnt haben ein.“ 48 „Beſunder clagete er gar ſere dʒ vō ſiner miſſetat wegē er ſie verlorn hatte vnd ir niemer me bekūmē moͤ chte Vnd ſatʒete alles ſo ſwer ʒů hertʒen Das in dar noch niemer me kein menſch froͤ lich ſach bitʒ an ſin ende“. Bei Müller heißt es „von seiner missetat wegen vnd schuld wegen“ (S. 125, Z. 7), vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990, S. 9–176.

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schema gebrochen, um dann ein neues Schema einzufügen, das dem Erzählschluss zugrundeliegt. Nachdem Reymond Melusine verloren hat, zieht er sich wie bei Couldrette ins Kloster zurück. Bei Thüring wird dieser Rückzug allerdings nicht nach dem Mahrtenehenschema, sondern nach dem sogenannten moniage-Schluss (d. h. dem Klostereintritt als Erzählschluss) erzählt. „Äußere und innere Notsituation und [ein] sich darbietender schützender Klosterort, Bekräftigung der unbedingten Ernsthaftigkeit des Entschlusses, [...], Stiftungstätigkeit, vita communis und asketische Spiritualität des geistlich ausgerichteten Lebens“49 sind nach Corinna Biesterfeldt für den moniage-Schluss wesentlich. Der moniage geht eine conversio (d. h. Umkehr) voraus, ein radikaler Lebenswandel, der mit der Bereitschaft zur Sündenbekenntnis und Buße einhergeht.50 In Thürings Bearbeitung lassen sich zahlreiche Belege dafür finden, dass Reymond Reue empfindet und Buße tun möchte, weil er sich versündigt hat. Er betont mehrfach, dass er sich wegen seiner Sünden aus der Welt zurückziehen möchte, nicht nur gegenüber seinem Sohn Geffroy (Z. 2773–2778)51, sondern sogar vor dem Papst (Z. 2849–2860); Reymonds Bekenntnisse sind dabei wieder kausallogisch aufgebaut.52 Bei Couldrette ist Raymonds Klostereintritt, wie gesagt, nicht über das Mahrtenehenschema hinaus motiviert. Thürings Reymond hingegen ‚wehrt‘ sich erfolgreich gegen sein ‚Gehabtsein‘ als Funktionsträger. Dies gilt allerdings nur für das Mahrtenehenschema: Denn Reymond ist, so kann man sagen, bereits während seiner Schuldbekenntnisse ‚Funktionsträger‘ || 49 Corinna Biesterfeldt: Moniage. Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu Kaiserchronik, König Rother, Orendel, Barlaam und Josaphat, Prosa-Lancelot. Stuttgart 2004, S. 137. 50 Vgl. Corinna Biesterfeldt: „Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als Ja zu Gott und der Welt“. In: Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder (Hgg.): Wolfram-Studien XVIII. Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2004, S. 211–232, hier S. 213–215. 51 Reymond bekräftigt mehrfach seinen Entschluss zur moniage, sollte er Melusine durch seine eigene Schuld verlieren (Z. 2759–2768; zuvor Z. 1693 ff.). Bei Couldrette fehlt diese Wiederholung: Geffroy trifft hier auf seinen jüngeren Bruder, der auch Raymond heißt, nicht auf seinen Vater (V. 5231–5284). Durch einen Figurentausch betont Thüring so abermals die Eigenverantwortung Reymonds und die Unbedingtheit des Entschlusses. 52 Ähnliches gilt auch für Geffroy, der ebenfalls Reue empfindet. Er gesteht seinem Vater, dass sein Mord an Freimund Auslöser für den Verlust Melusines war. Auch für die Tötung von Reymonds Bruder übernimmt er Verantwortung (Z. 2769–2773). Zudem bekennt er seine Sünden vor dem Papst und zeigt sich für sie verantwortlich (Z. 2888–2891). Der Wideraufbau des Klosters Malliers, das er verbrannte und so Freimund mordete, erscheint als Bußtätigkeit und conversio (besonders deutlich in Z. 2835–2849). Bei Couldrette hingegen leistet Geoffroy nur eine summarische Abbitte (V. 5405 ff.) und der Klosteraufbau wird nicht weiter motiviert (V. 5685–5694).

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des Schlusskonzepts moniage. Sie sind stets vorbereitende Motivationen für den moniage-Schluss. Die erzählte Welt, wie wir sie bei Thüring finden, ist ontologisch gesehen stabiler als die in Couldrettes Version; die kausal motivierten Figurenhandlungen Reymonds machen seinen Klostereintritt auch jenseits künstlich gesetzter Schemata nachvollziehbar. Bei Couldrette hingegen wird Raymonds Rückzug aus der Welt über eine Mechanik aus Tabubruch und Strafe bewältigt. Argumentiert man mit Lugowski, so kann man bei Thürings Roman nicht nur von einer „unterschiedlichen Zeichnung Reymonds“53 sprechen. Pointiert gesagt, möchte ich dafür plädieren, dass Thürings Melusine sich aus drei Künstlichkeiten zusammensetzt: dem Mahrtenehenschema, der Individualität als ‚Sollbruchstelle‘ und dem moniage-Schluss.

4 Fazit Was durch die Anwendung von Lugowskis Formansatz und Martínez’ Weltkonzept auf Mahrtenehengeschichten deutlich wurde, ist, dass die Erzählungen von Ritter, Fee und Tabubruch als intellektuelle Spiele mit Formen und Strukturen verstanden werden können. Es ergeben sich so verschiedene Typen von Mahrtenehengeschichten: Bei einer schemakonformen Reihung werden keine Erklärungsmuster in den Text hineingenommen. Kausale Erklärungen liegen allenfalls punktuell vor oder werden motivational unbestimmt durch den Rezipienten mitgesetzt (Der Ritter von Staufenberg). Werden die Stationen des Mahrtenehenschemas um eine Erklärung ergänzt (Fortuna in Couldrettes Melusine), handelt es sich um eine Variation. Das Erklärungsmuster fügt sich kompositorisch in das Mahrtenehenschema ein und das Handlungsgeschehen ist stets auf den Erzählschluss hin gerichtet. Von einem Schemabruch spreche ich, wenn sich das Erklärungsmuster nicht mehr kompositorisch in das Mahrtenehenschema einfügt und es aufbricht (wie in Thürings Melusine). Der Vergleich der drei Erzählungen hat gezeigt, dass eine erzählte Welt, die kausale Erklärungen für das Handlungsgeschehen aufweist, ontologisch stabiler ist (Thürings Melusine) als eine erzählte Welt, die zwar über ein stabiles Handlungsschema dargestellt wird, aber kaum kausale Erklärungen aufweist (der Staufenberg). Couldrettes Erzählung nimmt mit seiner höheren Erklärungsinstanz und den Tabubrüchen als Kausalkette eine Zwischenstellung ein.

|| 53 Vgl. Drittenbass (Anm. 4), S. 134.

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Literaturverzeichnis Biesterfeldt, Corinna: „Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als Ja zu Gott und der Welt“. In: Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder (Hgg.): WolframStudien XVIII. Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2004, S. 211–232. Biesterfeldt, Corinna: Moniage. Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu Kaiserchronik, König Rother, Orendel, Barlaam und Josaphat, Prosa-Lancelot. Stuttgart 2004. Couldrette: A Bilingual Edition of Couldrette’s Mélusine ou Le Roman de Parthenay. Hg. v. Matthew W. Morris. Lewinston 2003. Drittenbass, Catherine: Aspekte des Erzählens in der Melusine Thürings von Ringoltingen. Heidelberg 2011. Egenolf von Staufenberg: Der Ritter von Staufenberg. Hg. v. Eckhard Grunewald. Tübingen 1979. Fuchs-Jolie, Stefan: „Von der Fee nur der Fuß. Körper als Allegorien des Erzählens im Peter von Staufenberg“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (2009), S. 53–69. Fuchs-Jolie, Stefan: „Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens“. In: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hgg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Berlin 2010, S. 99–118. Haustein, Jens-Dieter: „Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität?“. In: Jürgen Fohrmann/Ingrid Kasten/Eva Neuland (Hgg.): Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Bielefeld 1999, S. 553– 572. Huber, Christoph: „Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der gestörten Mahrtenehe (besonders im ‚Ritter von Staufenberg‘ und bei Walter Map)“. In: Udo Friedrich/Bruno Quast (Hgg.): Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2004, S. 247–273. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung [1932]. Frankfurt a. M. 1994. Martínez, Matías: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9. Aufl., München 2012. Schnyder, André (Hg.): Melusine. Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006. Simon, Ralf: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990. Tang, Wei: Mahrtenehen in der westeuropäischen und chinesischen Literatur. Würzburg 2009. Theophrastus von Hohenheim genannt Paracelsus: Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus. Hg. v. Robert Blaser. Bern 1960. Thüring von Ringoltingen: Melusine. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990, S. 9–176. Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. I: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten. Hg. v. André Schnyder. Wiesbaden 2006.

Lukas Werner

Räume, Zeiten und Welten in Grimmelshausens Simplicissimus 1 Reisen durch die Welt: Der Weg des Simplicius Simplicissimus In Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) bereist der sich mal bauernklug durchmogelnde, mal von seiner curiositas motivierte und mal vom Glück herumgetriebene Held eine Unzahl von Städten und Ländern. 1 Simplicius’ Weg beginnt auf einem Bauernhof im Spessart; als Narr, Soldat, Musiker und Quacksalber besucht er Hanau, Köln, Soest, Paris und Wien, Russland und Japan, den Blocksberg und das Erdinnere, bis er sich schließlich auf die Kreuzinsel zurückzieht. Die horizontale Bewegung durch den Raum der Welt wird dabei begleitet von der vertikalen durch die sozialen Schichten ihrer Gesellschaft. Durch seine permanente Bewegung und sein Erzählen davon erschließt Simplicius verschiedene Räume seiner Welt, die ihm teils vertraut sind, die teils aber auch wunderbar oder fremd auf ihn wirken. Veranlasst vom Tod des Einsiedlers, bei dem Simplicius nach einem Reiterüberfall auf den Hof seines Knans Zuflucht gefunden hat, „thut“ er „den ersten Sprung in die Welt“ (ST I 18, S. 67). Er schlägt sich allein durch. Als er sich auf gewohnte Weise etwas zu essen verschaffen will und kurz davor steht, eine Bauernküche zu plündern, wird er Zeuge sonderbarer Vorgänge. Er sieht, wie die Bewohner des Hauses auf Besen, Stühlen und anderem Gerät zum Fenster hinausfliegen. In der verlassenen Stube schaut sich Simplicius um; als er auf einer Bank Platz nimmt, fährt er plötzlich ebenso zum Fenster hinaus. Augen-

 1 Im Haupttext wird der Simplicissimus Teutsch mit der Sigle ST und die Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi mit C abgekürzt, zitiert wird nach folgender Ausgabe: Simplicissimus Teutsch. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Hg. v. Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2005, S. 9–551; Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi oder der Schluss desselben. In: ebd., S. 553–699. Der Nachweis erfolgt jeweils mittels Buch-, Kapitel und Seitenangaben.  Anmerkung: Dieser Aufsatz ist größtenteils ein Wiederabdruck des Simplicissimus-Kapitels aus meiner Studie Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit. Berlin/Boston 2018, S. 293–312. Das Kapitel wurde passagenweise mit Blick auf die Fragestellung dieses Bandes überarbeitet und dabei sowohl erweitert als auch gekürzt. https://doi.org/10.1515/9783110626117-018

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blicklich ist er auf dem Blocksberg und beobachtet eine „höllische Gesellschafft“ (ST II 17, S. 178), die sich bei einem „wunderlichen Tantz“ (ebd., S. 177) und sonderlicher Musik vergnügt. Aus Angst vor dem unheimlichen Treiben flüchtet sich Simplicius mit seinen Bitten zu Gott und unverzüglich verschwindet der Spuk. Fraglich jedoch ist der Wirklichkeitsstatus dieser Ereignisse, denn Simplicius ist währenddessen, als ob er einen „schweren Traum“ habe (ebd., S. 178). Damit steht infrage, ob die Reise in der erzählten Welt realiter stattgefunden hat oder ob sie – wie die Ständebaum-Allegorie (ST I 15–18) und seine Höllen-Vision (C 2–8) – in den Bereich der Traumerscheinungen gehört. Für ihre Faktizität in der erzählten Welt spricht, dass sich Simplicius am Ende nicht in der Küche, sondern in Magdeburg wiederfindet. Doch der dieser Geschichte nachfolgende Exkurs über die Existenz von Hexen wiederum verunsichert den Status des Geschilderten mehr, als dass er zu seiner definitiven Klärung beitragen würde2 – ein erzählerisches Verfahren, das im Simplicissimus und der Continuatio immer wieder zum Einsatz kommt. Zwei Bücher später, also einige Zeit nach diesen sonderbaren Ereignissen, schließt sich Simplicius in den Kriegswirren um Offenburg – angetrieben von der Hoffnung auf gewinnbringenden Kriegsdienst und eine gute Stelle – einem schwedischen Obristen an und folgt ihm zuerst nach Livland und dann weiter nach Moskau, wo er jedoch von ihm sitzen gelassen wird. Simplicius hält sich einige Monate in Moskau über Wasser, bis er samt allen anderen Ausländern der Stadt verwiesen wird. Auf dem Rückweg fangen ihn aber russische Soldaten ab, da der Zar Interesse an Simplicius’ Kriegs- und Fortifikationswissen hat. Nach etwas Hin und Her lässt er sich für die Dienste des Zaren gewinnen, für den er daraufhin in der Nähe von Moskau Pulvermühlen baut. Schließlich wird er nach Astrachan ans Kaspische Meer geschickt, um auch dort Schießpulver

|| 2 Simplicius beschließt seinen Exkurs über die Hexerei mit einer dezidiert relativierenden Einlassung, die Wahrscheinlichkeiten (Existenz von Zauberei vs. Plausibilität des Reisens) gegeneinander ausspielt und so die ontologische Ambivalenz der Episode noch einmal hervorhebt: „Solches alles melde ich nur darumb / damit man eigentlich darvor halte / daß die Zauberinnen und Hexenmeister zu Zeiten leibhafftig auff ihre Versamlungen fahren / und nicht deßwegen / daß man mir eben glauben müsse / ich sey wie gemeldt hab / auch so dahin gefahren / dann es gilt mir gleich / es mags einer glauben oder nicht / und wers nicht glauben will / der mag einen andern Weg ersinnen / auff welchem ich auß dem Stifft Hirschfeld oder Fulda (dann ich weiß selbst nicht / wo ich in den Wäldern herumb geschwaifft hatte) in so kurtzer Zeit ins Ertz-Stifft Magdeburg marchirt seye“ (ST II 18, S. 181). Zum kommunikativen Status der Episode vgl. Tobias A. Kemper: „‚Lufftfahrt‘ und ‚Hexentantz‘ – Zauberei und Hexenprozeß in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘“. In: Simpliciana 19 (1997), S. 107–123.

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herzustellen. Diese Versetzung bildet den Auftakt zu einer Weltreise im Staccato-Format: In Astrachan entführen ihn nämlich Tataren, die ihn für chinesische Waren an die Niutschi veräußern. Diese wiederum schenken ihn dem koreanischen König als „sonderbares Præsent“ (ST V 22, S. 541). Die Odyssee führt Simplicius weiter über Japan nach Macao, aus den Händen der Portugiesen in diejenigen von „Mahometanischen Meer-Raubern“ (ebd.) und dann in diejenigen von Kaufleuten aus Alexandria. Er landet in Konstantinopel, wird an den türkischen Kaiser verkauft, um zwei Monate im Krieg gegen Venedig als Galeerensklave zu rudern, wird befreit und nach Venedig gebracht, pilgert von dort schließlich nach Rom, von wo er über den Gotthard zurück in den Schwarzwald zieht. Auf dieser gut drei Jahre währenden Reise will er das seltsame „Schafgewächs Borametz“ gesehen und davon gegessen haben, wurde er vom koreanischen König für eine besondere Rarität gehalten und von Piraten „wol ein gantzes Jahr auff dem Meer bey seltzamen frembden Völckern / so die OstJndianische Jnsulen bewohnen“, herumgeschleppt (ebd.). Das Fazit seiner Reise lässt sich als autopoetischer Kommentar lesen, wenn es heißt: Jch war drey Jahr und etlich Monat auß gewesen / in welcher Zeit ich etliche unterschiedliche Meer überfahren / und vielerley Völcker gesehen / aber bey denenselben gemeiniglich mehr böses als gutes empfangen / von welchem allem ein grosses Buch zu schreiben wäre. (ebd, S. 542)

Präsentiert wird aber keine umfangreiche Reisebeschreibung, sondern eine in der Erstausgabe des Simplicissimus knapp drei Seiten umfassende Kurzdarstellung. Wenigstens teils steht diese Reisebeschreibung in der Tradition des Lügenromans, sodass auch hier die Grenze zwischen dem tatsächlich Stattgefundenden und dem (nur) Erzählten verschwimmt.3 || 3 Vgl. Andreas Bässler: „Wunderbare Reisen zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘ und die Tradition des Lügenromans“. In: Simpliciana 29 (2007), S. 119–130, vor allem S. 124–126. In der Continuatio revidiert Simplicius seine Reisebeschreibung, wenn er im Gespräch mit seinem angetrunkenen Dialogpartner die exotische Aufschneiderei nutzt, um einen Vorteil für sich herauszuschlagen: „[U]nd da er hörete / daß ich ihm von so vielen underschiedlichen Ländern die ich mein Tage durchstrichen / zusagen wuste / welche sonst nicht bald einem jeden zusehen werden / als von der Moscau / Tartarey / Persien / China, Türckey / und unsern Antipotibus, verwundert er sich trefflich und tractirte mich mit lauter Veltiner und Oedtsch-Wein / er hatte selbst Rom / Venedig / Ragusa / Constantinopel und Alexandriam gesehen / als derowegen ich ihm viel Warzeichen und Gebräuch von solchen Oertern zu sagen wuste / glaubte er mir auch was ich ihm von ferneren Ländern und Stätten auffschniede“ (C 11, S. 610). Teils rekurriert Simplicius also auf wirklich Geschehenes, teils erfindet er Dinge hinzu. So korrigiert er seine Borametz-Geschichte, wenn er in einem Selbstkommentar eingesteht: Ich habe „dasselbe mein Tage nicht gesehen“ (C 11, S. 611).

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Charakteristisch für den Simplicissimus ist die breite Vermessung der erzählen Welt mit ihren verschiedenartigen Räumen, die für die Figur mal heimisch sind wie der Hof des Knans, mal wunderbar wie der Hexentanz auf dem Blocksberg oder auch fremd wie Asien. Mit gutem Grund wird der Roman also von Wolfgang Kayser in der Tradition des pikarischen Erzählens als ein „Raumroman“4 bezeichnet, in dem „die Verschiedenheit und Fülle der Räumlichkeiten die strukturtragende Schicht“5 bilden und der so „ein panoramisches Bild der Welt“6 zeichnet. Aufgrund der räumlichen Extension der Handlung und der Spannbreite der gesellschaftlichen Sphären, innerhalb derer Simplicius agiert, wird dem Simplicissimus häufig ein besonderes Interesse an der Darstellung von Welt attestiert.7 Dass Räume unterschiedlich wahrgenommen werden, dass sie je spezifisch semantisiert sind, dass zwischen ihnen Grenzen verlaufen und dass es der Held ist, der diese Grenzen überschreitet, gehört seit den Studien von Jurij M. Lotman zum Standardwissen einer strukturalistisch und kulturwissenschaftlich arbeitenden Literaturwissenschaft.8 Die differierende Semantisierung von Räumen mit ihrer topografischen oder topologischen Dimension lässt im Simplicissimus verschiedene Teilräume entstehen, die sich zu einer Welt fügen oder gar separate Welten hervorbringen. Zwei Fragen werden in diesem Zusammenhang virulent: Unter welchen Bedingungen wird aus dem Raum einer Welt eine eigenständige Welt? Das ist die allgemeinere Frage. Und mit Blick auf den Simplicissimus ist zu fragen, ob und konkret wie eine Vielzahl von Welten erzeugt wird. Es

|| 4 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. 7. Aufl., Bern/München 1961, S. 363 f. Die Klassifizierung des Simplicissimus im Rahmen der Typentrias ‚Geschehnisroman‘, ‚Figurenroman‘ und ‚Raumroman‘ hat Kayser selbst später relativiert und Verbindungslinien zum ‚Figurenroman‘ gezogen, vgl. dazu Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. 12. Aufl., Göttingen 1993, S. 66–69. 5 Wolfgang Kayser: „Die Anfänge des Romans im 18. Jahrhundert und seine heutige Krise“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28 (1954), S. 417– 446, hier S. 436. 6 Jürgen Jacobs: „Bildungsroman und Pícaro-Roman. Versuch einer Abgrenzung“. In: Ders.: Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman. Trier 1998, S. 25–39, hier S. 25. 7 Vgl. Volker Meid: „Utopie und Satire in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘“. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 249–265, vor allem S. 250. 8 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes [Struktura chudožestvennogo teksta, 1970]. Übers. v. Rainer Grübel/Walter Kroll/Hans-Eberhard Seidel. Frankfurt a. M. 1973; Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Literatur [Vnutri mysljaščich mirov, 2000]. Übers. v. Gabriele Leupold/Olga Radetzkaja. Frankfurt a. M. 2010.

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werden, so die These der folgenden Überlegungen, eigenständige Welten im Simplicissimus insofern hervorgebracht, als den erzählten Räumen aufgrund ihrer spezifischen Raumzeit eine je eigene ‚Welthaftigkeit‘ zugeschrieben werden kann. Diesen Räumen – dem Hof des Knans, wo die Handlung des Romans einsetzt, und dem Reich der Sylphen, das Simplicius im Rahmen seiner Reisen besucht9 – gilt im Folgenden meine Aufmerksamkeit.

2 Thesen und methodischer Zugriff Anhand des Simplicissimus lässt sich exemplarisch das Verhältnis von Raum, Zeit und Welt aus systematischer Perspektive diskutieren. Die Thesen sowie die Argumentationsstruktur meiner Überlegungen seien kurz skizziert: In meiner Lektüre rekonstruiere ich jeweils zunächst die geografische Isolation der Räume innerhalb der erzählten Welt, bevor ich ihre spezifische Temporalität (und damit auch ihre Welthaftigkeit) herausarbeite. Dabei kommt den zeitmodellierenden Kategorien ‚Differenz‘ und ‚Ereignis‘ eine grundlegende Bedeutung zu, denn durch die Unterscheidung zwischen Sachverhalten (‚Differenz‘) und die Veränderung zwischen zwei Zuständen (‚Ereignis‘) wird Zeit manifest und erhält eine Richtung: ein Vorher und ein Nachher.10 Der Hof des Knans und das Reich der Sylphen sind in der Geografie der erzählten Welt nicht allein separiert, sondern darüber hinaus spezifisch semantisiert. Ihre Semantisierung geht über den Lotman’schen Standardfall insofern hinaus, als die topografischen || 9 Zur Position dieser Episoden in der Reihe der von Simplicius besuchten Höfe vgl. Jörg Jochen Berns: „Simplicius bei Hofe. Eigenart und Funktion der Hofdarstellung im SimplicissimusRoman“. In: Simpliciana 24 (2004), S. 243–257. Ausgeklammert bleiben hier die allegorischen, utopischen und satirischen Dimensionen beider Episoden, da sie weniger die Verfasstheit der erzählten Welt betreffen, sondern vielmehr ihre Deutung und das Verhältnis zur soziohistorischen Realität. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Meid (Anm. 7); Joël Lefebvre: „Das Utopische in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘. Ein Vortrag“. In: Daphnis 7 (1978), S. 267–285; Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994, vor allem S. 298–303; Peter Heßelmann: Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt a. M. 1988, vor allem S. 211–221. 10 Freilich beleuchten die Kategorien ‚Differenz‘ und ‚Ereignis‘ ähnliche Phänomene mit unterschiedlichem Fokus, denn das ‚Ereignis‘ impliziert die ‚Differenz‘ zwischen zwei Zuständen. Aber nicht jede semantische Differenz kann als Ereignis gewertet werden. Bei der Auseinandersetzung mit Differenz und ihren temporalen Implikationen geht es verstärkt um motivisch-thematische Konstellationen, während die Auseinandersetzung mit Ereignissen auf genuin narrative Phänomene abzielt.

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und topologischen Relationen nicht nur als Träger von nichträumlichen Semantiken wie ‚gut‘ und ‚schlecht‘ fungieren.11 In beiden Räumen wird durch das Zusammenspiel verschiedener erzählerischer und diegetischer Elemente eine eigene ‚Raumzeit‘ entworfen, die sie zu Welten werden lässt.12 Der Hof des Knans ist aufgrund der dort herrschenden Differenzlosigkeit eine gleichsam atemporale Welt (siehe Abschnitt 3.1). Das Reich der Sylphen ist durch seine Position in der Schöpfungsordnung eine Welt der reinen ‚Zeitlichkeit‘; diese spiegelt sich aber (paradoxerweise) nicht in der Ereignisstruktur dieser Welt wider (siehe Abschnitt 3.2). Bei der Erfassung dieser spezifischen raumzeitlichen Konstellationen des Romans kombiniere ich ein basales Verständnis von Welt mit Félix MartínezBonatis Überlegungen zur ‚formalen Ontologie fiktionaler Welten‘13, mit der Lotman’schen Raumsemantik und einem relationalen Konzept von Zeit.14 Geht man von einem Grundverständnis von Welt aus, demzufolge eine Welt „a constellation of spatiotemporally linked elements“15 ist, dann gibt es im Simplicissimus mehrere Welten. Denn die Diegese als raumzeitliches Universum des Romans ist nicht homogen, sondern heterogen: Sie gliedert sich nicht allein in verschiedene Räume, sondern ebenso in unterschiedliche Welten.16 Mithilfe des von Martínez-Bonati vorgelegten Beschreibungsinstrumentariums lässt sich diese Verschiedenartigkeit erzählter Welten genauer – über ihre temporale Dimension hinaus – bestimmen. Erfasst werden die Eigenheiten erzählter Welten

|| 11 Vgl. Lotman (1973, Anm. 8), S. 347. 12 Man könnte in diesem Fall durchaus von ‚Chronotopoi‘ sprechen, aber der Begriff Michail M. Bachtins ist als Terminus zu unbestimmt, als dass er sich für eine mikroskopische Analyse eignen würde. 13 Félix Martínez-Bonati: „Towards a Formal Ontology of Fictional Worlds“. In: Philosophy and Literature 7/2 (1983), S. 182–195. 14 Im Rahmen eines relationalen Konzeptes wird Zeit als Größe verstanden, die sich – über die explizite Thematisierungen hinaus – im Zusammenspiel mit anderen Elementen der erzählten Welt (Ereignis, Raum, Figur) im erzählerischen Akt (Selektion, Organisation, Verbalisierung, Erzählertyp, Perspektivierung etc.) und durch semantische Programme (z. B. Providenz/Kontingenz, Lebens- und Weltaltermodelle) konstituiert. Vgl. dazu die theoretische Skizze: Antonius Weixler/Lukas Werner: „Zeit und Erzählen – eine Skizze“. In: Dies. (Hgg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston 2015, S. 1–22, sowie meine Studie zu Zeitkonzepten in der Frühen Neuzeit, die den heuristischen Wert des Zugriffs vorführt: Lukas Werner: Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit. Berlin/ Boston 2018. 15 Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 199. 16 Die Begriffe ‚Raum‘, ‚Welt‘ und ‚Diegese‘ bezeichnen in einer hierarchisch geordneten Reihe ‚Regionen‘, ‚Systeme‘ und die ‚Gesamtheit‘ des erzählten Universums.

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anhand von vier Kategorien, die sowohl ihre erzählerische Evokation wie ihre ‚innere Logik‘ abdecken: Stabilität, Vermittlungsmodus, Raumstruktur und Realitätstyp.17 Stabil („stable“) im Sinne von Martínez-Bonati ist eine Welt, wenn sie von einem heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung hervorgebracht wird;18 unstabil („unstable“) ist sie hingegen, wenn sie aus der erzähllogisch unterprivilegierten Perspektive einer Figur vermittelt wird.19 Die Welten können – unabhängig vom Erzähler – entweder mit objektivierendem Gestus („pure“) oder mithilfe von Ironie und Verfremdung („contaminated“) erzählt werden. Die so evozierten Welten verfügen über eigene ‚Realitätssysteme‘ („systems of reality“). Martínez-Bonati unterscheidet im Hinblick auf die Raumstruktur zwischen uniregionalen („uniregional“) und pluriregionalen („pluriregional“) Welten. Erstere zeichnen sich durch ein umfassendes Realitätssystem aus, das auf fixen „sets of laws of possibility, probability and necessity“20 beruht. Diese impliziten Gesetze umreißen die ‚Logik‘ der erzählten Welt. Pluriregionale Welten hingegen werden von mehr als einem System des Möglichen, Wahrscheinlichen und Notwendigen bestimmt. Interessant für die Lektüre des Simplicissimus sind jene Fälle von Pluriregionalität, in denen es eine Korrelation zwischen der topografischen Struktur der Diegese und Realitätssystemen mit einer eigenen Temporalität gibt.21 Die Realitätstypen können laut Martínez-Bonati auf einem realistischen („realistic“) oder fantastischen („fantastic“) Paradigma basieren. Im Rahmen eines realistischen Konzeptes weichen die Regeln der erzählten Welt nicht grundsätzlich von der Erfahrungswelt des Lesers ab (die als Folie für

|| 17 Vgl. vor allem die pointierte Zusammenfassung bei Martínez-Bonati (Anm. 13), S. 193. 18 Martínez-Bonati spricht in diesem Zusammenhang vom „conventional (authorial) narrator“, vgl. Martínez-Bonati (Anm. 13), S. 193. 19 Matías Martínez und Michael Scheffel nutzen das Begriffspaar stabil/instabil, um Aussagen über die Kontinuität der „Kriterien der Notwendigkeit und der Möglichkeit“ zu tätigen; stabil in ihrem Sinne ist eine Welt, bei der der Leser im Laufe der Lektüre die Kriterien der Notwenigkeit und Möglichkeit, die er anlegt, nicht ändern muss, im Fall einer instabilen Welt müssen diese Regeln revidiert werden. Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. u. aktual. Aufl., München 2012, S. 138. 20 Martínez-Bonati (Anm. 13), S. 185. 21 Martínez-Bonati bindet die Realitätssysteme nicht explizit an die räumliche Struktur der erzählten Welt. Martínez und Scheffel führen insofern eine Binnendifferenzierung ein, als sie homogene und heterogene Welten mit Martínez-Bonati über die Zahl der Realitätssysteme bestimmen; die Unterscheidung zwischen uni- und pluriregionalen Welten beziehen sie dann aber auf unterschiedliche Realitätssysteme, die mit Erzählebenen (Rahmen- und Binnenerzählung) oder der Topografie der erzählten Welt korrelieren. Vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 19), S. 136– 138.

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die Diegese fungiert); handelt es sich um „worlds of fantasy“22, so gibt es kategoriale Differenzen zwischen realer und erzählter Welt. Vor dem Hintergrund dieses heuristischen Rüstzeugs und eines relationalen Verständnisses von Zeit lese ich zunächst die Hof- und Sylphen-Episode des Simplicissimus, um abschließend (Abschnitt 4) einen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der verwendeten Kategorien zu werfen.

3 Räume und Zeiten: Welten im Simplicissimus 3.1 Der väterliche Hof: Differenzlosigkeit als Zeitlosigkeit Der Hof, von dem Simplicius’ Reise ihren Anfang nimmt, bildet einen in sich geschlossenen Raum, der erst mit dem Reiterüberfall geöffnet wird. Geografisch ist er isoliert, denn er liegt „in den Bergen“ (ST V 8, S. 478). Für Simplicius stellt er den zunächst einzig erfahrenen Raum dar, da ihm „die Wege und der Wald“, die er bei seiner Flucht durchstreift, „so wenig bekant waren / als die Straß durch das gefrorne Meer / hinder Nova Zembla, biß gen China hinein“ (ST I 5, S. 30).23 Auch in seiner Vorstellung gibt es nichts außerhalb dieses Raumes, denn – so gesteht er – „[k]urtz zuvor [scil. vor dem Überfall] konte ich nichts anders wissen noch mir einbilden / als daß mein Knan / Meüder / ich und das übrige Haußgesind / allein auff Erden seye / weil mir sonst kein Mensch / noch einige andere menschliche Wohnung bekant war“ (ST I 4, S. 27). Entsprechend weltumfassend erscheint ihm der Tätigkeitsbereich seines Knans zu sein: Gleichsam „die gantze Weltkugel / so weit er reichen konnte“, bewirtschaftet der Knan „und jagte ihr damit alle Ernd ein reiche Beut ab“ (ST I 1, S. 19). Ausdruck findet die Welthaftigkeit des Hofes in der ihm eigenen Zeit, denn innerhalb des Hofes gilt die temporale Sukzession der Außenwelt nicht. Er ist durch das Fehlen von Differenzen gleichsam zeitlich stillgestellt. Die ‚Perfektion‘ des Simplicius und die ‚Beständigkeit‘ des Hofes – als dominierende Motive – gehen mit einer Differenzlosigkeit zwischen Sachverhalten und Zuständen einher, die jede Progression von Zeit gleichsam verunmöglicht. Denn nur dort, wo es Differenzen gibt, materialisiert sich Zeit. Diese Differenzlosigkeit findet man – teils freilich mit einem ironischen Unterton versehen – auf verschiedenen Ebenen: Sie charakterisiert, erstens, die Beschreibung des Hofes durch eine sprachliche || 22 Martínez-Bonati (Anm. 13), S. 185. 23 In dieser Passage überlagern sich die Wahrnehmung des erlebenden und das Wissen des erzählenden Ichs.

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Verknüpfung von Widersprüchen und Simplicius’ Unfähigkeit, Differenzen zu erkennen, zweitens, den Zustand der Perfektion, den der Held dort paradoxerweise von Beginn an innehat, sowie – drittens – die materielle Beständigkeit des Ortes. Diese drei Aspekte seien im Folgenden ausgeführt. Die Verknüpfung von Widersprüchen charakterisiert die Verfasstheit dieses Raumes, denn in ihm fallen Oppositionen in eins, oder konkret: das Höfische mit dem Bäuerlichen. Mottoartig thematisiert Simplicius zu Beginn seiner Beschreibung des Hofes diese Verschränkung, die allein auf der Grundlage einer Differenznivellierung und des Verschwimmens von Grenzen möglich ist.24 Die Differenz zwischen zwei gegensätzlichen Lebensbereichen wird erzählerisch dadurch überspielt, dass Simplicius zur Bezeichnung alltäglicher bäuerlicher Verrichtungen militärisches und/oder höfisches Vokabular nutzt. Die Perspektive des beschränkt wissenden jungen Simplicius (erlebendes Ich) wird dabei kombiniert mit derjenigen des wissenden Erzählers (erzählendes Ich).25 Zwar steht das Vokabular des Bäuerlichen und des Höfischen kontrastierend nebeneinander, aber in der konkreten Bezeichnung eines Vorganges bzw. einer Sache fallen beide zusammen – dadurch, dass zwei Signifikanten sich letztlich auf ein Signifikat beziehen, verschwindet die Differenz: Die Rüst- oder Harnisch-Kammer war mit Pflügen / Kärsten / Aexten / Hauen / Schaufeln / Mist- und Heugabeln genugsam versehen / mit welchen Waffen er [der Knan, L.W.] sich täglich übet; dann hacken und reuthen war seine disciplina militaris, wie bey den alten Römern zu Friedens-Zeiten / Ochsen anspannen / war sein Hauptmannschafftliches Commando, Mist außführen / sein Fortification-wesen / und Ackern sein Feldzug / Stall-außmisten aber / sein Adeliche Kurtzweil und Turnierspiel […]. (ebd., S. 19)

Die Differenzverwischung betrifft nicht ausschließlich das Erzählen von diesen beiden distinkten Lebensbereichen, sie ist auch ein Charakteristikum seiner Wahrnehmung. Aus der Retrospektive stellt Simplicius fest, dass ihm „damals“ elementare Leitdifferenzen („GOtt“/„Menschen“; „Himmel“/„Höll“; „Gutes“/ „Böses“) unbekannt waren: Aber die Theologiam anbelangend / laß ich mich nicht bereden / daß einer meines Alters damals in der gantzen Christenwelt gewest seye / der mir darinn hätte gleichen mögen / dann ich kennete weder GOtt noch Menschen / weder Himmel noch Höll / weder Engel

|| 24 Vgl. Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001, S. 364–366. 25 Vgl. Walter Müller-Seidel: „Die Allegorie des Paradieses in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘“. In: Hans Robert Jauß/Dieter Schaller (Hgg.): Medium Aevum Vivum. Festschrift für Walther Bulst. Heidelberg 1960, S. 253–278, vor allem S. 258.

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noch Teuffel / und wuste weder Gutes noch Böses zu unterscheiden: Dahero ohnschwer zu gedencken / daß ich vermittelst solcher Theologiæ wie unsere erste Eltern im Paradis gelebt / die in ihrer Unschuld von Kranckheit / Todt und Sterben / weniger von der Aufferstehung nichts gewust […]. (ebd., S. 20)

Gerade aus dem Fehlen des Differenzbewusstseins ergibt sich die Nähe des Ortes zum Paradies. Simplicius lebt auf dem Hof „wie unsere erste Eltern im Paradis“26. Das Paradies als christlicher Topos überlagert – neben dem Bäuerlichen und Höfischen als drittes thematisches Feld – die Darstellung des Hofes.27 Der „Wolff“ (ST I 2, S. 23) – im biblischen Sinne der „böse[ ] feind“ oder der „falsche[ ] prophet“28 – ist die einzige Bedrohung dieses Paradieses, vor welcher der Knan Simplicius warnt. Die für Simplicius’ Wahrnehmung der Dinge und sein Wissen postulierte Differenzlosigkeit gilt gleichermaßen für einen im engeren Sinne temporalen Zusammenhang. Perfektion setzt Zeit und einen teleologisch ausgerichteten Prozess voraus, an dessen Ende der vollkommene Zustand steht, der sich in signifikanter Weise von einem Anfangszustand unterscheidet.29 Mit Blick auf die Verknüpfung von Perfektion, zeitlicher Sukzession und Teleologie ist es jedoch paradoxerweise so, dass Simplicius bereits zu Beginn seines Lebens (und nicht erst am Ende) perfekt ist. Perfektion basiert auf Zeit als ihrer Möglichkeitsbedingung. Simplicius wird im Laufe seines Lebens „zu einem perfecten Rechenmeister“ (ST III 13, S. 295), einem „perfecte[n] Fechter“ (ST V 4, S. 458), als Musiker schlägt er „perfect auff dem Jnstrument“ (ST IV 3, S. 358) – und wie der Pfarrer dem Gouverneur Ramsay gegenüber beteuert, hat Simplicius seine Geschichte „so perfect daher erzehlet / dergleichen man bey älteren / erfahrneren und belesneren Leuten / als er ist / nicht leichtlich finden wird“ (ST II 13, S. 165). „[N]och perfecter zu wer-

|| 26 Auf der Kreuzinsel überschreibt Simplicius seine Höhle mit einem Epigramm, in dessen Metapher vom „Finstern Liecht“ ganz direkt die Verbindung zwischen der coniunctio oppositorum und dem einheitlichen und differenzlosen Göttlichen gezogen wird: „Ach allerhöchstes Gut! du wohnest so im Finstern Liecht! // Daß man vor Klarheit groß / dem grossen Glantz kan sehen nicht“ (C 24, S. 683). Vgl. Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern/München 1978, S. 78 f. 27 Vgl. Müller-Seidel (Anm. 25), S. 254. 28 [Lemma] „Wolf“. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, Bd. 30 (1960), Sp. 1242–1253, hier Sp. 1244. 29 Ähnliches beobachtet Reinhart Koselleck mit Blick auf die Historiografie, vgl. Reinhart Koselleck: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 349– 375, hier S. 362 f.

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den“ (ST III 17, S. 312), ist das angestrebte Ziel, aber dazu bedarf es Zeit. All die Dinge, die wenig Zeit in Anspruch nehmen, werden als qualitativ minderwertig abgewertet. Soll etwas dagegen zur „vollkommen Verfertigung“ gelangen, müssen „Zeit und Arbeit“ investiert werden (ST I 1, S. 18). Der Einsiedler weist Simplicius darauf hin, dass es „Zeit brauchen“ wird (ST I 10, S. 44), um lesen zu lernen. Insofern Zeit als jene Dimension begriffen wird, die „alles ändert“ (ST I 13, S. 51) und die dazu genutzt werden kann, etwas zu schaffen und zu perfektionieren, spricht Hertzbruder, als er Soldaten beim Glücksspiel beobachtet, von der „edlen Zeit“, „die man mit dem Spielen unnütz hinbringet“ (ST II 20, S. 191; vgl. zudem ST III 10, S. 280). Zeit wird nicht nur im weltlichen Kontext zu einem potenziellen Möglichkeitsraum der Perfektion; sie ist es auch in heilsgeschichtlicher Perspektive. In beiden gilt es, sie nicht ‚unnütz‘ zu vergeuden: „[W]er die edle ohnwiederbringliche Zeit vergeblich hinstreichen läst / der verschwendet die jenige Göttliche Gaab ohnnützlich / die uns verliehen wird / unserer Seelen Hail in: und vermittelst derselbigen zuwürcken“ (C 1, S. 563). Immer dann wird Zeit zum Möglichkeitsraum von weltlicher wie heilsgeschichtlicher (perfektionierender) Veränderung, wenn sie mit ‚Erfahrung‘ gefüllt wird. Erfahrung ist, wendet man es mit Reinhart Koselleck ins Zeitlogische, eine „gegenwärtige[ ] Vergangenheit“30. In der möglichen Erfahrung und ihrer Verlängerung über den Erfahrungsmoment hinaus liegt das Potenzial der Zeit. Entsprechend versucht der Pfarrer gegenüber Ramsay das Fehlverhalten des Simplicius durch dessen „Einfalt“ zu rechtfertigen, und er legt seine Hoffnung in die Zeit: Jch habe hiebevor Versicherung gethan / daß er Witz genug gehabt / daß er sich aber in die Welt nicht schicken können / war die Ursach / daß er bey seinem Vatter einem groben Bauren / und bey eurem Schwager in der Wildnus / in aller Einfalt erzogen worden / hätte man sich anfänglich ein wenig mit ihm geduldet / so würde er sich mit der Zeit schon besser angelassen haben […]. (ST II 13, S. 163 f.)

Und so ist auch Ramsay davon überzeugt, dass es mit Simplicius besser werden wird, wenn er „herumb terminirte / etwas sahe / hörte / und von andern geschulet / oder wie man sagt / gehobelt und gerülpt würde“ (ST I 26, S. 97). Programmatisch verbunden werden Aspekte der Zeit, Perfektion, Veränderung und Erfahrung in der tabula rasa-Metapher, wie sie Simplicius in Anlehnung an Aristoteles ins Spiel bringt. In der Vorstellung von der „Seele eines Menschen [als] einer läeren ohnbeschriebenen Tafel“ (ST I 9, S. 41) tritt die Bedeutung von Erfahrung hervor, die sich mit der Zeit in die Tafel einschreibt. Simplicius || 30 Koselleck (Anm. 29), S. 354.

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kommt zu dem Schluss, dass es eine Tafel ist, „darauff man allerhand notiren könne / und daß solches alles darumb von dem höchsten Schöpffer geschehen seye / damit solche glatte Tafel durch fleissige Impression und Ubung gezeichnet / und zur Vollkommenheit und perfection gebracht werde“ (ebd.). Denn die Erfahrung ist es, die als Element der Vergangenheit in einer Gegenwart präsent bleibt. Die Perfektion wiederum ist, solange sie nicht erreicht wurde, eine Projektion ins Zukünftige. Vor dem Hintergrund dieser im Roman explizit hergestellten Verbindungsund Abhängigkeitslinien zwischen Perfektion und Zeit ist es paradox, dass Simplicius seinen Zustand auf dem heimischen Hof als „perfect und vollkommen“ charakterisiert, wenngleich dieses auch unter negativen Vorzeichen und ironisch gebrochen geschieht:31 „Ja ich war so perfect und vollkommen in der Unwissenheit / daß mir unmüglich war zu wissen / daß ich so gar nichts wuste“ (ST I 1, S. 20). Indem Simplicius von Anfang an den Zustand der Perfektion als einen absoluten Endpunkt innehat, kann Zeit nicht in Differenzen zwischen Vergangenem und Folgendem manifest werden. In der impliziten Negation temporaler Kontinuität erhält der Hof einen quasi atemporalen Charakter. Diese temporale Statik des Hofes wird motivisch variiert, denn die Materialien, aus denen der Hof gebaut ist, sind vorgeblich auf Beständigkeit ausgelegt. Freilich entbehrt auch diese Schilderung nicht der ironischen Verfremdung, denn dem Unedleren wird so vor dem eigentlich Wertvolleren der Vorzug gegeben. Die „Mauer umb sein Schloß“ lässt der Knan, so Simplicius, nicht mit Mauersteinen / die man am Weg findet / oder an unfruchtbaren Orten auß der Erden gräbt / viel weniger mit liederlichen gebachenen Steinen / die in geringer Zeit verfertigt und gebrändt werden können / wie andere grosse Herren zu thun pflegen / aufführen; sondern er nam Eichenholtz darzu / welcher nutzliche edle Baum […] biß zu seinem vollständigen Alter über 100. Jahr erfordert […]. (ebd., S. 18)

Mit dem Verweis auf das „Eichenholtz“ wird eine motivische Reihe von alten, eben nicht in „geringer Zeit verfertigt[en]“ sowie beständigen Materialien eingeleitet. Die Wohnräume hat der Knan „vom Rauch gantz erschwartzen lassen“, „dieweil diß die beständigste Farb von der Welt ist“ (ebd.). Und von den Fenstern des Hofes heißt es: Seine Fenster waren keiner anderer Ursachen halber dem Sandt Nitglaß gewidmet / als darumb / dieweil er [der Knan] wuste / daß ein solches vom Hanff oder Flachssamen an zu

|| 31 Vgl. Müller-Seidel (Anm. 25), S. 256.

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rechnen / biß es zu seiner vollkommenen Verfertigung gelangt / weit mehrere Zeit und Arbeit kostet / als das beste und durchsichtigste Glas von Muran […]. (ebd., S. 18 f.)

Insofern Beständigkeit sich gerade dadurch auszeichnet, dass keine Veränderungen eintreten, und Perfektion den Schlusspunkt eines Prozesses anzeigt, erweisen sich beide als Variation der Differenzlosigkeit. Zustandsverändernde Ereignisse, die Zeit indizieren würden, finden in diesem Raum nicht statt: Er ist – unabhängig von der impliziten Ironie32 – in der Beschreibung des Simplicius stillgestellt und befindet sich gleichsam außerhalb einer fortschreitenden Zeit.33 Durchbrochen wird der „unveränderliche“ Raum des Hofes durch die Reiter,34 die „in einem Augenblick“ (ST I 3, S. 25) – also einem Punkt temporaler Verdichtung – in ihn eindringen, seine Ordnung durcheinander bringen und ihn in die Diegese eingliedern, denn, wie Hans Geulen treffend formuliert, im „Nu und ohne jeden Übergang“ wird die „abseits der Welt und in sich geschlossen ruhende ‚Spessarterei‘“ in das „Geschehen[ ] hineingezogen“.35 Mit dieser ‚revolutionären‘ Transgression der Grenze durch die Reiter, die Simplicius aus der Welt des elterlichen Hofes zu fliehen veranlasst, beginnt der Roman. Im Gegensatz zur Welt des Mummelsees aber, die von der Transgression der Weltengrenze unverändert bleibt, scheint sich die atemporale Welt des elterlichen Hofes damit aufzulösen.

3.2 Der Mummelsee: paradoxe Zeitlichkeit Angeregt von „seltzame[n] Historien“ (ST V 10, S. 485) über den Mummelsee, die Simplicius von den örtlichen Bauern hört und die ihm erfunden zu sein scheinen,36 will er sich selbst ein Bild machen und den Geschichten nachgehen.37 Auch wenn der See „in der Nachbarschafft“ zu Simplicius’ ehemaligen

|| 32 Vgl. Hans Geulen: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975, S. 214; Cordie (Anm. 24), S. 367. 33 Zeit realisiert sich, so Cordie, wenn überhaupt, im zyklischen Rhythmus des bäuerlichen Lebens, vgl. Cordie (Anm. 24), S. 368. 34 Vgl. Cordie (Anm. 24), S. 370. 35 Geulen (Anm. 32), S. 219. 36 Gespielt wird auch bei der Schilderung dieser Reise mit dem ambiguen Status des Erzählten, vgl. Bässler (Anm. 3), S. 126–128. 37 Zur Bedeutung der curiositas (ST III 23, S. 340; ST IV 1, S. 351) vgl. Dieter Breuer: „Grimmelshausens Simplicianische Frömmigkeit: Zum Augustinismus des 17. Jahrhunderts“. In: Ders.

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Hof (ebd., S. 484) liegt, ist er nicht einfach zu erreichen. Abgeschieden „auff einem von den höchsten Bergen“ (ebd.) kann man „schwerlich hin reuten“ (ST V 12, S. 489): „Nähe und Ferne verschränken sich hier also eigenartig“38. Die geografische Isolation des „wunderbarlichen See[s]“ (ST V 10, S. 484) markiert die Differenz zwischen ihm und dem ihn umgebenden Raum. Der See wird als ein Raum des Seltsamen sowie Wunderbaren wahrgenommen.39 Man solle keine Steine in ihn werfen, dies wissen die Bauern zu berichten, da sodann Wassermännlein heraufkommen und „ein grausam Ungewitter / mit schröcklichem Regen / Schlossen und Sturmwinden“ aufzieht (ebd., S. 484 f.). In diesen wunderbaren Raum dringt Simplicius mit wissenschaftlichen Messinstrumenten ein.40 Als Simplicius versuchsweise Steine in den See befördert, tritt genau das ein, wovor ihn die Bauern warnten: „Da fieng die Lufft an den Himmel mit schwartzen Wolcken zu bedecken / in welchen ein grausam Donnern gehöret wurde“ (ST V 12, S. 491), „Wasser-Männlein“ tauchen auf und bringen die Steine wieder an ihren Platz (ebd., S. 492). Der „vornehmste aber unter ihnen / dessen Kleidung wie lauter Gold und Silber gläntzte“, der Sylphenprinz, wirft Simplicius einen „leuchtenden Stein“ zu (ebd.). Darauf hat Simplicius das Gefühl, dass ihn „die Lufft […] ersticken oder ersäuffen“ will, und stürzt sich deshalb in den See (ebd.). Begleitet wird sein Absinken von einer körperlichen Transformation, die er auch bei den Wassermännlein beobachtet.41 Simplicius kann plötz|| (Hg.): Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Amsterdam 1984, S. 213–252, vor allem S. 227–229; Gaede (Anm. 26), S. 74 f. 38 Jana Maroszová: „Denn die Zeit ist nahe“. Eschatologie in Grimmelshausens Simplicianischen Schriften: Zeit und Figuren der Offenbarung. Bern u. a. 2012, S. 300; vgl. Cordie (Anm. 24), S. 421. 39 Vgl. ST V 10, S. 485; ST V 12, S. 492 f.; ST V 15, S. 506. Vgl. zudem Alexander Weber: „Über Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘“. In: Daphnis 23 (1994), S. 61–84, vor allem S. 81; vgl. dazu auch Cordie (Anm. 24), S. 427; Alexander Weber: „Allegorie und Erzählstruktur in Gottfrieds ‚Tristan‘, Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘ und Thomas Manns ‚Zauberberg‘“. In: Colloquia Germanica 32 (1999), S. 223–255, vor allem S. 235. 40 Vgl. Heßelmann (Anm. 9), S. 212; Weber (1994, Anm. 39); Jost Eickmeyer: „Grimmelshausen als ‚Erfinder der teutschen Science Fiction‘? Zur Mummelsee-Episode im ‚Simplicissimus‘“. In: Simpliciana 29 (2007), S. 267–284, vor allem S. 273 f. 41 Vom Auftauchen der Sylphen berichtet Simplicius: „[I]ch wurde nichts dergleichen gewahr / sondern sahe sehr weit gegen den abyssum etliche Creaturen im Wasser herum fladern / die mich der Gestalt nach an Frösch ermahnten / und gleichsam wie Schwermerlein auß einer auffgestiegenen Raquet, die im Lufft ihr Würckung der Gebühr nach vollbringt / herumb vagirten; und gleich wie sich dieselbige mir je länger je mehr näherten / also schienen sie auch in meinen Augen je länger je grösser / und an ihrer Gestalt den Menschen desto ähnlicher“ (ST V 12, S. 492).

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lich unter Wasser atmen. Die Phase des Abtauchens, an deren Ende er das Reich der Sylphen im „Centrum Terrae“ erreicht (ebd., S. 489), stellt – wie Alexander Weber betont – den „Übergang zwischen zwei inkommensurablen Welten“ dar, in der Transgression der Grenze zwischen ihnen werden dabei Raum und Zeit relativiert.42 Die grundlegende Differenz zwischen der Oberwelt und dem Erdinnern gilt insbesondere im Hinblick auf die temporale Disposition der Bewohner wie der von ihnen besiedelten Welten. In der explizit postulierten Weltordnung, in die die Sylphenwelt eingebettet wird, und in der Bedeutung von Ereignissen für die Sylphen zeigt sich die raumzeitliche Eigenheit der Sylphenwelt. Der Prinz des Mummelsees entwirft im Gespräch mit Simplicius eine Weltenordnung, die mehrere Ebenen umfasst. Er erläutert die Unterschiede zwischen den Welten, ihren Bewohnern sowie den verschiedenen Zeitsystemen anhand der Schöpfungsordnung und Heilsgeschichte. Die „heilige[n] Engel sind Geister“, die „zu dem Ende erschaffen [wurden] / daß sie in ewiger Freude GOtt loben“ (ST V 13, S. 496). Ihre Existenz ist gleichsam raumlos, denn die Attribute, die den Engeln zugeschrieben werden, enthalten keine räumliche Dimension, aber eine zeitliche: Sie sollen Gott in „ewiger Freude“ verehren. Erst mit ihrem Abfall aus „Hoffart“ wurden die „Welt“ und der Mensch mit seiner „vernünfftigen und unsterblichen Seel“ erschaffen (ebd., S. 497); und dies mit dem Ziel, „daß der irdische Mensch […] die angeregte Zahl der gefallenen Engel“ ersetzt (ebd.). Nach dem Sündenfall jedoch ändert sich die Position des Menschen in der Hierarchie der „Creaturen“ (ebd., S. 496), er wird zum „Mittel […] zwischen den heiligen Engeln und den unvernünfftigen Thieren“ (ebd.), denn gleich wie eine heilige entleibte Seel eines zwar irdischen doch himmlisch-gesinnten Menschen alle gute Eigenschafft eines heiligen Engels an sich hat / also ist der entseelte Leib eines irdischen Menschen (der Verwesung nach) gleich einem andern Aaß eines unvernünfftigen Thiers […]. (ebd.)

Der Mensch ist, wie es der Sylphenprinz später formuliert, „zum ewigen seeligen Leben / und den unendlichen himmlischen Freuden erschaffen“, doch kann er sich von den „zeitliche[n] und irdische[n] Wollüste[n]“ nicht lösen (ST V 14, S. 504). Er steht solchermaßen zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit. Die Sylphen hingegen sind das „Mittel zwischen [den Menschen] und allen andern lebendigen Creaturen der Welt“, denn, wenn sie auch eine „vernünfftige Seele haben / so sterben jedoch dieselbige mit [ihren] Leibern gleich hinweg / gleichsam als wie die lebhaffte Geister der unvernünfftigen Thiere in ihrem Todt verschwinden“ (ST V 13, S. 497). Der Prinz gesteht seine limitierte Position ein: || 42 Weber (1999, Anm. 39), S. 236.

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Aber ich rede und verstehe hier nichts von der Ewigkeit / weil wir deren zu geniessen nicht fähig seyn / sondern allein von dieser Zeitlichkeit / in welcher der Allergütigste Schöpffer uns genugsam beseeligt / als mit einer guten gesunden Vernunfft / mit Erkantnus deß Allerheiligsten Willens Gottes / so viel uns vonnöthen / mit gesunden Leibern / mit langem Leben / mit der edlen Freyheit […] und endlich / so das allermeiste ist / sind wir keiner Sünd / und dannenhero auch keiner Straff / noch dem Zorn Gottes / ja nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen […]. (ebd., S. 498)

Auf drei Ebenen basiert also der Weltentwurf des Sylphenprinzen. Die drei Welten mit ihrer je spezifischen Raumzeit werden von drei verschiedenen „Creaturen GOttes“ (ebd., S. 496) bewohnt. Die Welt der Engel ist quasi unräumlich, da sie vor der als Raum geschaffenen Welt existierte, und zugleich ausschließlich ewig. Die Welt des Menschen, der die Disposition zur Ewigkeit hat, aber in der Zeitlichkeit lebt, ist die Erdoberfläche. Die Sylphen aber, die die Vernunft mit den Menschen teilen und sich somit von den Tieren abheben, leben allein in der Zeitlichkeit. Im Gegensatz zur Weltoberfläche, die von Menschen und Tieren bewohnt wird und als Raum Zeitlichkeit und Ewigkeit nebeneinander stehen lässt, ist das Reich der Sylphen als Raum des Wunderbaren eine Welt der reinen Zeitlichkeit. Diese Zeitlichkeit ist allein konzeptuell, denn sie schlägt sich nicht in der Art nieder, wie die Welt der Sylphen funktioniert. Das Paradoxon des Sylphenreiches besteht darin, dass der reinen Zeitlichkeit der Welt kein ereignisbasiertes Pendant gegenübersteht.43 Ereignisse, die Zeit indizieren könnten, finden im Reich der Sylphen entweder nicht statt oder sie werden rückgängig gemacht. Die Zeit geht spurlos an den Sylphen vorbei; über ihre Körper und ihren Tod weiß der Prinz zu berichten: [U]nd gleich wie ihre Weiber in coitu keine Wollust empfänden / also seyen sie hingegen auch in ihren Geburten keinen Schmertzen unterworffen […] So stürben sie auch nicht mit Schmertzen / oder auß hohem gebrechlichem Alter / weniger auß Kranckheit / sondern gleichsam als ein Liecht verlesche / wenn es seine Zeit geleuchtet habe / also verschwinden auch ihre Leiber sampt den Seelen […]. (ebd., S. 498 f.)

Die Sylphen sind „nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen“ (ebd., S. 498), wodurch die tabula ihres Körpers immer leer bleibt. Es gibt keine Vergangenheit, die zu einem Zeitpunkt an ihren Körpern ablesbar wäre. Der Tod als

|| 43 Ähnliches konstatiert Jana Maroszová (Anm. 38), denn mit dem Erreichen des Mittelpunktes der Erde „befindet sich [Simplicius] an einem Ort, an dem auch die Zeit gleichsam ihre Mitte erreicht hat und zum Stillstand gekommen ist“ (S. 300).

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„Chiffre der Zeitlichkeit“44 markiert bei ihnen kein einschneidendes Ereignis, sondern den Endpunkt einer gleichbleibenden Existenz, die nicht beeinflusst werden kann, denn, so erzählt der Prinz des Mummelsees, „sie [scil. die Sylphen] könten weder von uns [scil. den Sylphen selbst] noch andern Creaturen getödtet / noch zu etwas unbeliebigem genötiget / viel weniger befängnust werden“ (ebd., S. 499). Zustandsverändernde Ereignisse als Indikatoren von Zeit treten innerhalb der Welt der Sylphen nicht auf. Allein die von Menschen in den Mummelsee geworfenen Steine bringen als externe Elemente (und Lotman’sche Ereignisse par excellence45) die statische Ordnung der Bewohner aus dem Gleichgewicht. Sie verursachen eine „schädliche Confusion“ (ST V 14, S. 501) und bedrohen dadurch sowohl die Ordnung der unterirdischen Sylphenwelt als auch diejenige der Menschenwelt, da wenn die Stein von uns [den Sylphen, L.W.] nicht außgetragen […] so müsten endlich zugleich die Gebände / damit das Meer an die Erde gehefftet und bevestiget / zerstöret und die Gänge / dardurch die Quellen auß dem Abgrund deß Meers hin und wieder auff die Erde geleitet / verstopfft werden […]. (ebd.)

Und wenn das System der Wasserversorgung gestört ist, drohe – so fährt der Prinz des Sees fort – der „gantzen Welt Untergang“ (ebd.). Aber dadurch, dass die Sylphen die Steine entfernen und an ihren ursprünglichen Platz bringen, verhindern sie dieses und machen so die eingetretenen Ereignisse wieder rückgängig. Bereits am Ufer des Sees beobachtet Simplicius, dass die Sylphen jene Steine, die er hinunter geworfen hatte, wieder an die Oberfläche bringen und sie an „eben de[n] Ort“ legen, wo sie vorher lagen (ST V 14, S. 500). Die Welt der Sylphen zeichnet sich also sowohl durch die ereignislose Disposition der Sylphen-Körper aus als auch durch eine permanente Restitution aller durch äußere Einflüsse eingeleiteten Ereignisse. Sie befindet sich, wie es Ansgar M. Cordie formuliert, zudem „außerhalb der Geschichte“46. Als Indiz dafür fungiert die Natursprache (lingua adamica), die von den Sylphen gesprochen wird und die mit dem Turmbau von Babel den Menschen verloren ging. Die reine Zeitlichkeit

|| 44 Wilhelm Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967, S. 83. 45 Vor dem Hintergrund der räumlichen Struktur der Diegese wird der in die Sylphenwelt eindringende Stein zum grenzüberschreitenden Phänomen. Die Grenzüberschreitung gelingt, doch ist sie nicht langfristig. Durch die Handlungen der Sylphen wird sie rückgängig gemacht. Als „aufgehobene Überschreitung“ ist sie ‚restitutiv‘, vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 19), S. 140– 144; Lotman (1973, Anm. 8), S. 356 f. 46 Cordie (Anm. 24), S. 435; vgl. ST V 16, S. 506 und 512 (und Breuers Kommentar).

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des Sylphenreiches ist, dies zeigt der Blick auf die Körper der Sylphen sowie die Ereignisse im Sylphenreich, ereignislogisch leer.

4 Statische und dynamische Raumzeiten: Welten im Simplicissimus Die Diegese des Simplicissimus Teutsch erweist sich, wie die Auseinandersetzung mit der Verschränkung von Raum und Zeit in beiden Episoden verdeutlicht, als raumzeitlich heterogen. In Grimmelshausens Roman werden also verschiedene Welten nebeneinander gestellt. Überträgt man die von MartínezBonati vorgeschlagene Klassifizierung von Welten auf den Roman, kommt man zu folgendem Fazit: Die Diegese des Romans ist pluriregional, da sie sich durch die Koexistenz mehrerer Realitätssysteme auszeichnet, die sich in ihrer raumzeitlichen Struktur unterscheiden. Diese erzählten Welten des Simplicissimus sind insofern unstabil, als sie Produkt des autodiegetischen, teils zudem unzuverlässigen Erzählers Simplicius sind. Der väterliche Hof entsteht aus der ironischen Verquickung von Oppositionen, die eine verfremdete Welt evoziert; in ihrer Funktionsweise folgt diese Welt einem realistischen Paradigma. Dadurch, dass Simplicius als autodiegetischer Erzähler durch die Ironisierung und motivische Überlagerung des realistischen Kerns eine hybride, letztlich nur imaginär existente Welt hervorbringt, ist der Hof als Welt in besonderem Maße unstabil. Die Welt des Sylphenreiches hingegen wird mit objektivem Gestus erzählt; durch die Dominanz des Wunderbaren ist sie im Sinne Martínez-Bonatis fantastisch. Der Vergleich zwischen beiden Welten lässt über Martínez-Bonatis Kategorien hinaus einen weiteren differenzierenden Aspekt deutlich werden: Während die Welt des Hofes mit der Plünderung durch die Reiter ihren Status verliert und in der sie umgebenden Welt aufgeht, bleibt die Welt der Sylphen auch über Simplicius’ Besuch hinaus bestehen. Das Eindringen des Helden führt nicht zu einer ‚revolutionären‘ Veränderung der raumzeitlichen Ordnung.47 Die raumzeitliche Architektur der Diegese (als Gesamtheit aller erzählten Welten) ist jedoch nicht durchweg konsistent, denn Räume, die Welt-Qualitäten besitzen, können diese verlieren. Insofern ist das erzählte Universum im Simplicissimus – bezieht man beide Fälle mit ein – dynamisch. Statisch wäre es, wenn sich die innere Logik der verschiedenen Welten nicht ändern würde. Soweit die syste-

|| 47 Vgl. Martínez/Scheffel (Anm. 17), S. 158.

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matischen Überlegungen zum Verhältnis von Raum, Zeit und Welt, deren geschichtlicher Ort nicht zu vergessen ist. Die Heterogenität der erzählten Welten im Simplicissimus gehört einerseits in einen historischen und andererseits in einen generischen Zusammenhang. In vormodernen Erzähltexten wird eher kein homogener Systemraum entworfen, der sich durch eine einheitliche Strukturierung auszeichnet, vielmehr konstituieren sich Räume häufig über ihre Funktion für die Handlung. Insofern müssen die Relationen zwischen ihnen nicht konsistent sein, der Handlungsraum „entsteht und erlischt“ mit der Handlungssequenz.48 Obzwar für die Frühe Neuzeit eine zunehmende Homogenisierung des Raumes attestiert wurde,49 finden sich solche funktional bestimmten Raumkonzepte auch darüber hinaus. Denn Gattungen besitzen je eigene raumzeitliche Konventionen. Bereits die erste anonyme Fortsetzung des Lazarillo de Tormes von 1555 verschiebt die Handlung in das Thunfischreich und auch in der zweiten Fortsetzung von Juan de Luna (Segunda parte del Lazarillo, 1620) sinkt der Held auf den Grund des Meeres ab – beide Episoden sind strukturell analog zur Sylphen-Episode des Simplicissimus.50 Geht man gattungsgeschichtlich einen weiteren Schritt zurück, dann gehört die Mummelsee-Episode ebenso in den Kontext der Unterweltreise der Menippea.51 Wollte man also die hier aus systematischer Perspektive skizzierten Relationen zwischen Raum, Zeit und Welt um eine geschichtliche Dimension erweitern, die aktuell von einer historischen Narratologie eingefordert wird, so hätte man gleichermaßen historische wie generische Aspekte zu berücksichtigen.

|| 48 Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007, S. 76. 49 Vgl. Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikabeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt a. M. 1993, S. 347– 349. 50 Vgl. Michael Waltenberger: „Eskalation. Zur ‚Eigenlogik‘ episodischer Erzählformen am Beispiel der ‚Lazarillo‘-Fortsetzungen“. In: Florian Kragl/Christian Schneider (Hgg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Heidelberg 2013, S. 285–301. 51 Vgl. Maroszová (Anm. 38), S. 302; Trappen (Anm. 9), S. 144 f.

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Autorinnen und Autoren Jan Alber ist Professor für englischsprachige Literatur- und Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kognition an der RWTH Aachen. Zuvor war er Marie-Curie Research Fellow am Aarhus Institute of Advanced Studies (AIAS), wo er über die Verhandlung von indigenen Identitäten in zeitgenössischer australischer Prosa arbeitete. Er ist Autor von Narrating the Prison. Role and Representation in Charles Dickens’s Novels, Twentieth-Century Fiction, and Film. Youngstown 2007, und Unnatural Narrative: Impossible Worlds in Fiction and Drama. Lincoln 2016. Alber erhielt für seine Arbeiten Forschungsstipendien von der Alexander von Humboldt-Stiftung, der British Academy und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der Deutsche Anglistenverband hat ihm für den Zeitraum zwischen März 2011 und März 2013 den Habilitationspreis für die beste Habilitation im Fach Anglistik verliehen. Alber war 2017 Präsident der International Society for the Study of Narrative. Maximilian Alders studierte englische Literatur am Trinity College Dublin (2005–2008) und an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (MA, 2009–2011). Er promovierte als Kollegiat des DFG-Graduiertenkollegs 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“ an der Universität Freiburg (2012–2015). Seine Dissertation untersucht die Darstellung kollektiven Bewusstseins in ausgewählten Romanen und Mentalitätsgeschichten. Zusammen mit Eva von Contzen hat Alders eine Sonderausgabe der Zeitschrift Narrative zum Thema „Social Minds in Factual and Fictional Narration“ herausgegeben. Weitere Aufsätze wurden im Journal of Narrative Theory und in der Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik publiziert. J. Alexander Bareis ist universitetslektor und docent (habilitationsäquivalent) für germanistische Literaturwissenschaft am Sprachen- und Literaturzentrum der Universität Lund. Forschungsschwerpunkte: Fiktions- und Erzähltheorie, deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Publikationen (Auswahl): Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als MakeBelieve. Göteborg 2008; Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin 2010 (zus. mit Frank Thomas Grub); „Ethics, the Diachronization of Narratology, and the Margins of Unreliable Narration“. In: Jakob Lothe/Jeremy Hawthorn (Hgg.): Narrative Ethics. Amsterdam/New York 2013, S. 41–55; How to Make Believe. The Fictional Truths of the Representational Arts. Berlin/Boston 2015. Christoph Bartsch studierte Germanistik, Psychologie und Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). 2010–2015: Tätigkeiten in Forschung und Lehre im Fach Neuere Deutsche Literatur an der BUW sowie am Zentrum für Erzählforschung (ZEF). Forschungsinteressen: Daniel Kehlmanns Erzählwerk, Possible Worlds Theory, Kognitive Narratologie, Psychoanalytische Literaturwissenschaft. Publikationen (Auswahl): „Escape into Alternative Worlds and Time(s) in Jack London’s The Star Rover“. In: Alice Bell/Marie-Laure Ryan (Hgg.): Possible Worlds Theory and Contemporary Narratology. Lincoln 2019, S. 179–200; „Das Unheimliche in Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit – ein Gefühl der Figur oder des Lesers? Narratologische Betrachtungen einer nicht-narratologischen Kategorie“. In: Florian Lehmann (Hg.): Ordnungen des Unheimlichen. Kultur – Literatur – Medien. Würzburg 2016, S. 201–218.

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Frauke Bode studierte Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien an den Universitäten Passau und Barcelona (iberoromanischer Kulturraum). Promotion an der Universität zu Köln zum Thema Barcelona als lyrischer Interferenzraum. Die Poetik der Komplizität in spanischen und katalanischen Gedichten der 1950er und 1960er Jahre. Bielefeld 2012. Premio Julián Sanz del Río 2012 (DAAD und Fundación universidad.es, jetzt: sepie). Von 2012–2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin für spanische und französische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsinteressen: Lyriktheorie, Autobiographie und Autofiktion, Erinnerungstheorien und -praxis in der spanischen und argentinischen Literatur, insb. Fantastik als Erinnerungsmodus. Herausgeberin von 23-F: Mediatizations and memories of Spain’s failed coup d’état. In: Journal of Romance Studies 16/3 (2017). Irene Breuer war von 2012 bis 2017 Lehrbeauftragte im Fach Theoretische Philosophie und Phänomenologie an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). Derzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt, das sich mit der Rezeption der deutschen anthropologischen Philosophie in Argentinien befasst. Diplom in Architektur (1988) und Diplom in Philosophie (2003) an der Universidad de Buenos Aires (UBA). Von 1991 bis 2002 Arbeit als Architektin und als Dozentin für Architektur an der UBA und Universidad de Belgrano. 2012 Promotion zum Dr. phil. an der BUW. Forschungsfelder: Philosophie der Antike, deutsche und französische Phänomenologie, Architekturtheorie und -design und Ästhetik. Matei Chihaia ist Professor für Literaturwissenschaft (Romanistik) an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitherausgeber von DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung. Seinen Forschungsschwerpunkt bilden Immersionsdiskurse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Der Golem-Effekt. Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos. Bielefeld 2011), zu den Erzählungen Julio Cortázars hat er bereits mehrere Aufsätze veröffentlicht, zuletzt „Fantastik und Metafantastik: Julio Cortázars Theorie der figura“. In: Sonja Klimek/Tobias Lambrecht/Tom Kindt (Hgg.): Funktionen der Fantastik. Neue Formen des Weltbezugs von Literatur und Film nach 1945. Heidelberg 2017, S. 43–57. Anna-Felicitas Geßner hat Komparatistik, Neuere Geschichte und Psychologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Ihre Abschlussarbeit behandelt paratextuelle Strategien der zeitgenössischen Populärliteratur. Sie promoviert in Bonn zum Thema „Rahmen-Fantasien – Rahmen-Strategien: Phantastik in Literatur und Film“. Während ihres Studiums und ihrer Promotion arbeitete sie in der Lehre am Bonner Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft. Sie ist in Andreas J. Haller/Bettina Huppertz/Sonja Lenz (Hgg.): Spannungsfelder: Literatur und Mythos. Frankfurt a. M. u. a. 2012 mit dem Beitrag „Mythos Fußnote. Das ‚Graphem der Gelehrsamkeit‘ in den Romanen Walter Moers’ und Jasper Ffordes“ (S. 165–172) vertreten und wirkte an dem Tagungsbericht „Räumliche Darstellungen kultureller Konfrontationen“ mit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Literarische und filmische Phantastik, das Wunderbare, Romantik, künstlerische Avantgarde und Paratextualität. Zuletzt leitete sie in München ein Schulprojekt für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zurzeit ist sie im Bereich Deutsch als Fremdsprache tätig. Maria Kim studierte von 2001 bis 2008 Italienische Philologie, Englische Literaturwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit April 2009: Promotion an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW) zum Thema „Disorienting

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Storyworlds: Types of Interplay Between Narrative and the Mind“. 2009–2018: Wissenschaftliche Angestellte an der BUW am Lehrstuhl von Prof. Dr. Roy Sommer bzw. im von Bund und Ländern geförderten Projekt „Die Studieneingangsphase“. Publikation: „Die Medialisierung des Romans und der Wandel des Literatursystems“. In: Ansgar Nünning/Jan Rupp (Hgg.): Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart. Trier 2011, S. 117– 134 (zus. mit Roy Sommer). Manja Kürschner wurde 2014 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit ihrer Dissertation über den postfaktisch-postkonstruktivistischen britischen Roman im 21. Jahrhundert promoviert. Die Dissertation mit dem Titel Zur Fiktionalisierung von Geschichtsschreibung in postkonstruktivistischer metahistoriografischer Fiktion erschien 2015 in der ELCH-Reihe des Wissenschaftlichen Verlags Trier. Neben ihrem Interesse für geschichtsphilosophische Fragestellungen im Roman hat sie unter anderem zum unzuverlässigen Erzählen, Butlers Gendertheorie und zur Inseltheorie publiziert. Sie ist außerdem Initiatorin eines narratologischen Netzwerkes zwischen der Kieler Anglistik/Amerikanistik und den Universitäten Hamburg, Syddansk und Aarhus. Katharina Lukoschek studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Lissabon Literaturwissenschaft, Alte Geschichte und Politikwissenschaft. In ihrer Magisterarbeit beschäftigte sie sich mit dem Phänomen ‚Tragikomik‘. Von 2013 bis 2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg 1787 „Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung“ an der Georg-August-Universität Göttingen und promovierte zu der Frage, ob bzw. inwiefern sich die Literaturkritik aufgrund des Internets verändert. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Analytischen Literaturwissenschaft, der Rezeptionstheorie, dem Verhältnis von Literatur und Wissen sowie der Literaturvermittlung. Andreas Mahler ist Professor für Englische Philologie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte liegen in der Literatur der frühen und späten Neuzeit, in Fragen zu Komik, Komödie und Satire sowie in der Literaturtheorie. Publikationen (Auswahl): Moderne Satireforschung und elisabethanische Verssatire. Texttheorie, Epistemologie, Gattungspoetik. München 1992; (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie – Mimesis – Imagination. Heidelberg 1999; (Hg.): Shakespeares Subkulturen. Passau 2002; (Mithg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010; (Mithg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin 2015. Jan Rüggemeier hat Evangelische Theologie in Heidelberg, Oxford und Tübingen studiert. Seit 2017 ist er Postdoktorand und Projektmitarbeiter am Institut für Neues Testament der Universität Bern. Von 2011 bis 2016 war er wissenschaftlicher Angestellter an der Evangelischtheologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zu seinen Interessensgebieten zählt die Integration (kognitiv-)narratologischer Analysemöglichkeiten in den neutestamentlichen Methodenkanon. Aktuelle Monografien: Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese. Tübingen 2017 (Dissertation); Methoden der neutestamentlichen Exegese. Tübingen 2016 (zus. mit Sönke Finnern; Lehrbuch mit narratologischem Schwerpunkt). Florian M. Schmid studierte Germanistik, Pädagogische Psychologie und Bewegungswissenschaften in Hamburg sowie London und wurde in Hamburg mit einer Arbeit zur Fassung *C des

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‚Nibelungenlieds‘ und der ‚Klage‘ promoviert. Nach Hamburg, Kiel und Karlsruhe ist er derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Greifswald im Arbeitsbereich Ältere deutsche Sprache und Literatur tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Historische Narratologie, Identitätskonstruktion, Wahrnehmungsprozesse, Materialität und Medialität von Handschriften und Inkunabeln sowie Prozesse der Verschriftlichung und Verbildlichung. Das Habilitationsprojekt behandelt Schreibstile und Argumentationsstrategien sowie das Verhältnis von Literatur und Wissen in Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts. Kai Spanke, geb. 1981, Studium der Neueren Deutschen Literatur, Englischen Philologie und Kunstgeschichte in Bielefeld, Berlin, Cambridge und Berkeley. Doktorand im Fach Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Raum-Zeit-Konfigurationen, Literatur der Romantik. Komik und Gewalt in Film und Literatur. Publikationen (Auswahl): „Fun ist ein Blutbad. Zur Komik von Gewalt und Tod im amerikanischen Verfolgungscartoon“. In: Susanne Kaul/Oliver Kohns (Hgg.): Politik und Ethik der Komik. München 2012, S. 133–149; „Zeitenwende auf Tauris. Zum epistemologischen und temporalen Umbruch in Goethes ‚Iphigenie‘“. In: Goethe-Jahrbuch 131 (2014), S. 21–29; „Keine Frage der Ehre. Über den Verrat im Mafiafilm“. In: Hans Richard Brittnacher (Hg.): Verräter. München 2015, S. 67–85; „Die Unmöglichkeit einer Insel. Über die Fernsehserie ‚Lost‘“. In: Hans Richard Brittnacher (Hg.): Inseln. München 2017, S. 96–115. Romy Steiger studierte Germanistik, angewandte Sprachwissenschaften und Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz. Anschließend begann sie ihr Promotionsvorhaben an der TU Chemnitz zum Thema Erklärungsmuster in Mahrtenehengeschichten. Reihung, Variation und Schemabruch in Der Ritter von Staufenberg, Partonopier und Meliur und in den spätmittelalterlichen Melusinenromanen (Arbeitstitel). Zudem war sie Landesstipendiatin des Freistaates Sachsen und ist Mitglied des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) der Bergischen Universität Wuppertal. Seit 2013 arbeitet sie als freiberufliche Werbetexterin. Lukas Werner studierte Germanistik, Mediävistik sowie Kunst- und Designwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal und University of Cambridge. Forschungsschwerpunkte: Historische Narratologie, Literatur der Frühen Neuzeit, Literatur der Gegenwart, Fiktionalitätstheorie. Publikationen (Auswahl): Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit. Berlin/Bonston 2018 (Dissertation); (Mithg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin/Boston 2015 (zus. mit Antonius Weixler).

Personen- und Werkverzeichnis Abbott, H. Porter 171, 173, 201 Ackroyd, Peter – The Fall of Troy 116 Alazraki, Jaime 219–212 Alber, Jan 178–182, 195, 203, 321, 330 Alighieri, Dante – Divina Commedia 166 Amis, Martin – Time’s Arrow 167 Aristoteles 69, 121, 155, 217, 397 – Poetik 162 Austen, Jane 190 Bachtin, Michail M. 190, 347, 392 Balzac, Honoré de – César Birotteau 305 – Comédie humaine 304f. – Illusions perdues 305–308 Barth, John – Night-Sea Journey 167 Barthes, Roland 11, 14f., 170 Bataille, Georges 59 Baudrillard, Jean 132 Beckett, Samuel – Play 170 – The Unnamable 228 Bell, Alice 9 Bellamy, John G. 125 Beowulf 164 Bioy Casares, Aldolfo 223 Blanqui, Auguste 223 Blumenberg, Hans 290–292, 311 Boccaccio, Giovanni – Decamerone 13 Bonheim, Helmut 159 Borges, Jorge Luis 223 – Tlön, Uqbar, Orbis Tertius 11, 312 Bradbury, Ray – A Sound of Thunder 163 Bremond, Claude 11, 13–15 Bridges, Thomas – The Adventures of a Bank-Note 163 Brinker, Menachem 168 Brittnacher, Hans Richard 270

https://doi.org/10.1515/9783110626117-019

Bromberg, Pamela 187–191, 193 Brontë, Charlotte – Jane Eyre 127 Bruner, Jerome 29 Bühler, Karl 68, 285f. Butler, Robert Olen – Jealous Husband Returns in Form of Parrot 167 Capote, Truman – In Cold Blood 92 – Other Voices, Other Rooms 66, 77–83 Carnap, Rudolf 17 Carpenter, John – Halloween 257, 263–267, 273 Carroll, Lewis – Alice in Wonderland 38 Carver, Raymond – Beginners 103 – What We Talk About When We Talk About Love 103 Certeau, Michel de 346 Cervantes, Miguel de – Don Quijote 100, 103 Chase, David – The Sopranos 271 Chaucer, Geoffrey – The Nun’s Priest’s Tale 163 Chrétien de Troyes – Yvain ou Le Chevalier au lion 294 Churchill, Caryl – Cloud Nine 158 Cohn, Dorrit 33f., 95 Coleridge, Samuel Taylor 1 Coover, Robert – The Babysitter 157, 170 Cortázar, Julio – Axolotl 229 – Bestiario 220 – Carta a una señorita en París 220 – Continuidad de los parques 218, 221 – El otro cielo 229 – Fantomas contra los vampiros multinacionales 220

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– Historias de Cronopios y Famas 227 – La banda 225 – La vuelta al día en ochenta mundos 222, 229–231 – Las babas del diablo 228f. – Lejana 229 – Rayuela 221–224, 230f. – Silvia 220 Couldrette – Mélusine 367–373, 376–385 Coulton, George G. 126 Craven, Wes – A Nightmare on Elm Street 257, 263, 267– 271, 273 Crevel, René 225f. Culler, Jonathan 202 Cunningham, Sean S. – Friday the 13th 257, 272 Currie, Gregory 70, 101 Danielewski, Mark Z. 202, 312 – House of Leaves 166f., 202–214 Danneberg, Lutz 92, 100f., 107 Danto, Arthur C. 22 Derrida, Jacques 117, 128f., 133 Descartes, René 17 Dickens, Charles – The Signal-Man 164 Doležel, Lubomír 9, 21, 34, 98, 108, 125, 127f., 135f., 140, 142, 157, 178f., 183– 186, 188, 190f., 194, 220 Drabble, Margaret – A Natural Curiosity 177 – The Gates of Ivory 177 – The Radiant Way 177, 179–198 – The Red Queen 116 Dürrenmatt, Friedrich – Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman 38 Durst, Uwe 240–242, 244 Eco, Umberto 23, 203, 213, 273, 318 Egenolf von Staufenberg – Der Ritter von Staufenberg 373–378, 384 Eliot, George – Middlemarch 196

Fielding, Henry – Tom Jones 163 Finné, Jacques 241 Flaubert, Gustave – L’Éducation sentimentale 310 – Madame Bovary 308–310 Fludernik, Monika 116, 159, 178, 180f. Fontane, Theodor 1 Foucault, Michel 347 Freytag, Gustav – Die Ahnen 1 Frisch, Max – Mein Name sei Gantenbein 139 Gavins, Joanna 68, 80f., 83f. Genette, Gérard 7, 15f., 22, 24, 35f., 38f., 138, 143 Gernhardt, Robert 258 Gerrig, Richard J. 27f., 73, 84 Glauch, Sonja 107 Goffman, Erving 236–239, 243, 245 Gogol, Nikolai – Die Nase 169 Gómez de la Serna, Ramón – El incongruente 226f. Goodman, Nelson 23, 35, 74, 123, 288 Grass, Günter – Ein weites Feld 108f. – Hundejahre 108 – Im Krebsgang 108 – Katz und Maus 108 Greenwood, David 125 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von – Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi oder der Schluss desselben 387–389 – Simplicissimus Teutsch 387–392, 394–405 Guillou, Jan 93 Hamburger, Käte 11 Handke, Peter – Don Juan (erzählt von ihm selbst) 144–150 Harweg, Roland 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 54 Herman, David 10, 26f., 29, 32, 156, 173, 201 Hidalgo Downing, Laura 83 Hildesheimer, Wolfgang

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– Marbot. Eine Biographie 106 Hitchcock, Alfred – Psycho 257, 264 Holt, James Clark 118f., 121, 132 Hooper, Tobe – The Texas Chain Saw Massacre 257, 272 Huber, Christoph 377 Hühn, Peter 30 Husserl, Edmund 43–55, 60 Hutcheon, Linda 116, 131 Ingarden, Roman 8 Iser, Wolfgang 32, 172f., 236, 240, 242, 254, 323 James, Henry – The Turn of the Screw 164 Johnson-Laird, Philip 162 Johnstone, Charles – Chrysal; or the Adventures of a Guinea 163 Jonson, Ben – Volpone 304 Joyce, James 310, 312 – Ulysses 91 Kafka, Franz – Das Urteil 99 – Die Verwandlung 169 Kane, Sarah – Cleansed 167, 169 Kant, Immanuel 17, 57 Kanyó, Zoltán 18f., 25 Kayser, Wolfgang 390 Keats, John 229, 231 Kehlmann, Daniel – Die Vermessung der Welt 91 Kilner, Dorothy – The Adventures of a Hackney Coach 163 – The Life and Perambulations of a Mouse 173 Klauk, Tobias 110 Kleimann, Bernd 71 Knight, Stephen 125, 127, 132f. Köppe, Tilmann 110 Koselleck, Reinhart 396f. Kripke, Saul A. 17, 32f., 122 Lamarque, Peter 101

Lämmert, Eberhard 11 Läpple, Dieter 346 Larsson, Björn – Drömmar vid havet 104f. Laurin 342–363 Leibniz, Gottfried Wilhelm 17, 222, 292 Lewis, David 21f., 30, 99, 101, 122f., 140 Lewis, Matthew – The Monk 164 Linde, Ulf 160 Lohmeyer, Ernst 321f. Lotman, Jurij M. 8, 13, 15f., 283–285, 288, 291, 301f., 307, 325, 347, 390, 403 Lugowski, Clemens 303, 368f., 372–374, 376–378, 380, 382, 384 Lynch, David 245 Lyotard, Jean-François 165 Magritte, René – Le Blanc Seing 160f. Malory, Thomas – Le Morte Darthur 164 Margolin, Uri 135–138, 140, 142f. Markusevangelium 317–336 Martin, Thomas L. 32 Martínez, Matías 25f., 243–245, 252, 264, 266, 303, 369f., 372, 384, 393 Martínez-Bonati, Félix 25f., 392–394, 404 McHale, Brian 117, 127, 163, 212 McInerney, Jay – Bright Lights, Big City 158 Mill, John Stuart 17 Molière – Dom Juan ou le Festin de pierre 149 Mozart, Wolfgang Amadeus – Don Giovanni 148 Murnau, Friedrich Wilhelm – Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens 257 Musil, Robert – Der Mann ohne Eigenschaften 310f. Nell, Victor 75 Nelles, William 38f. Nieuwland, Mante S. 167f. Novalis – Die Lehrlinge zu Sais 38 Nünning, Ansgar 31

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O’Brien, Flann – The Third Policeman 168 Orwell, George – Animal Farm 72 Palmer, Alan 178f., 185, 189 Paracelsus 375 Paravicini, Werner 346 Pavel, Thomas G. 32, 135, 139 Pettersson, Anders 99–102 Picasso, Pablo 231 Pinter, Harold – Family Voices 166 – The Basement 204 Platon 155 – Politeia 162 Plenzdorf, Ulrich – Die neuen Leiden des jungen W. 128, 142 Polanski, Roman – Rosemary’s Baby 257 Priest, Graham – Sylvan’s Box 157 Propp, Vladimir 12–14, 16, 18, 29 Pynchon, Thomas 312 – Gravity’s Rainbow 117 Reicher, Maria E. 137 Rescher, Nicholas 19, 122f. Rhys, Jean – Wide Sargasso Sea 127 Richardson, Brian 140 Ritchie, Guy – Revolver 235, 244–255 Roeg, Nicolas – Don’t Look Now 257 Ronen, Ruth 8, 23, 98, 117, 122, 157, 217 Rorty, Richard 123 Rosenthal, Rick – Halloween II 273 Roth, Philip – The Breast 156, 169 Rousseau, Jean-Jacques 129 Rowling, Joanne K. – Harry Potter 164, 166 Rubenfeld, Jed – Death Instinct 117 – The Interpretation of Murder 117

Rushdie, Salman – Midnight's Children 158, 169 Ryan, Marie-Laure 9, 11, 20, 33f., 73f., 83f., 117, 122–124, 127, 137, 157, 170, 201, 212, 217–221, 223–225, 228, 233, 324 Sabato, Ernesto – Sobre Héroes y Tumbas 43f., 46, 55–62 Saint-Gelais, Richard 109f. Schädlich, Hans Joachim – Tallhover 108 Schaeffer, Jean-Marie 162, 172f. Scheffel, Michael 370, 393 Schmücker, Reinold 71 Schneider, Ralf 141 Schneider, Robert – Schlafes Bruder 76 Searle, John R. 96, 172 Sebold, Alice – The Lovely Bones 167 Semino, Elena 28 Sewell, Anne – Black Beauty 163, 173 Shakespeare, William 296 – As You Like It 296–298, 300, 302 – Hamlet 301f. – King Lear 293, 298–301 – Macbeth 104 – Twelfth Night 302 Sholder, Jack – A Nightmare on Elm Street Part 2: Freddy’s Revenge 273 Simon, Ralf 377 Sir Gawain and the Green Knight 164 Sir Orfeo 164 Skakespeare, William – King Lear 300 Šklovskij, Viktor 163 Sokrates 162 Souriau, Étienne 15 Spangenberg, Cyriacus – Adels-Spiegel 363 – Mansfeldische Chronica 363 Stanzel, Franz K. 11 Sterne, Laurence – The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman 311

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Stockwell, Peter 81, 84 Stone, Oliver – Natural Born Killers 261 Süskind, Patrick – Das Parfüm 76 Tarantino, Quentin 245 Thomas, D. M. – The White Hotel 167 Thorpe, Adam 116, 120 – Hodd 115–121, 123–128, 130–133 Thüring von Ringoltingen – Melusine 367–371, 373, 376f., 380–384 Tirso de Molina – El burlador de Sevilla y convidado de piedra 144, 149 Todorov, Tzvetan 11–16, 29, 164, 168, 241, 244 Tomaševskij, Boris 169 Traill, Nancy H. 164f. Turner, Mark 166, 173 van Berkum, Jos J. A. 167f. Verne, Jules 232 – Le Tour du monde en quatre-vingt jours 222 Voltaire – Candide ou de l’optimisme 221f.

Walpole, Horace – The Castle of Otranto 164 Walton, Kendall L. 69, 94, 99, 101, 239 Warning, Rainer 294f., 309 Watt, Ian 177 Webster, John – The Duchess of Malfi 304 Wells, H. G. – The Time Machine 163 Werth, Paul 28, 67f., 76f., 83 White, Hayden 89, 121 Whiteley, Sara 84 Wittgenstein, Ludwig 17 Wolf, Christa – Kein Ort. Nirgends 139 Wolf, Werner 171, 237 Wolff, Christian 292 Woolf, Virginia 190 – Mrs. Dalloway 163 Zipfel, Frank 92 Zorn, Friedrich – Wormser Chronik 363 Zunshine, Lisa 172