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German Pages 402 Year 2015
Zeit deuten
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Jörn Rüsen (Hrsg.) Zeit deuten Perspektiven – Epochen – Paradigmen
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Diese Publikation entstand im Rahmen der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Ihre Drucklegung wurde aus Mitteln des KWI gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-149-3
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Inhalt Vorwort 9 Jörn Rüsen Einleitung. Zeit deuten – kulturwissenschaftliche Annäherungen an ein unerschöpfliches Thema 11
I. Grundlagen und Ursprünge Jörn Rüsen Die Kultur der Zeit. Versuch einer Typologie temporaler Sinnbildungen 23 Dirk Rustemeyer Zeit und Zeichen 54 Klaus E. Müller Sein ohne Zeit 82 Justus Cobet Zeit – Geschichte – Sinn. Der Anfang der westlichen Geschichtsschreibung 111
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II. Afrika, Australien, Türkei Ute Ritz-Müller Zwischen Macht und Ohnmacht. Koordinaten einer afrikanischen Dynastiegeschichte 139 Britta Duelke Allochronien? Von kulturellen Praxen im Umgang mit Dauer und Veränderung 168 Hanne Straube Zeitliche Dimensionen sinnvollen Lebens in einem westanatolischen Dorf 195
III. Europa und der Westen Jochen Johannsen Die Zeit der Nation. Nationale Sinnbildungen über die Zeit in Deutschland (1780-1820) 221 Angelika Epple Von der Schicksalsehe zur Liebesehe. Historischer Wandel aus der Mikroperspektive 254 Ulrike Hamann Recht im Zeitprozess. Die Entstehung des Grundrechtssystems der Europäischen Union 277
IV. Repräsentationen Friedrich Jaeger Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung und die Kategorie der Neuzeit 313
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Ulli Seegers Gebannte Zeit. Aby Warburgs »Pathosformel« im Kontext historischer Sinnbildung 355 Heinrich Theodor Grütter Industriekultur als Geschichte. Zu einer visuellen Rhetorik historischer Zeiten 376 Autorinnen und Autoren 395 Abbildungsverzeichnis 400
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JÖRN RÜSEN: VORWORT
Vorwort Dieses Buch ist aus der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« hervorgegangen, die von 1997 bis 2002 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen tätig war. Die Arbeit war durch wechselnde persönliche und thematische Konstellationen geprägt, blieb aber stets auf die grundlegende Frage nach Kultur als Sinnbildung bezogen. Zahlreiche Gespräche, Vorträge, Diskussionen, Workshops und Tagungen haben die Weite und Vielfalt dieser Frage ausgelotet. Sinn wurde als Thema in der Spannweite zwischen grundsätzlichen Theorieproblemen kulturwissenschaftlicher Erkenntnis und konkreten Fallstudien diskutiert. Es war genau diese Spannung zwischen Allgemeinem und Konkretem, zwischen theoretischen Reflexionen und empirischen Befunden, die den Reiz der gemeinsamen Arbeit ausmachte. Zeit als Herausforderung kultureller Sinnbildung und als Ausdruck dieser Sinnbildung selber war natürlich ein Schlüsselthema der Studiengruppe. Die Beiträge dieses Bandes stehen für die Vielfalt der theoretischen, methodischen und empirischen Aspekte, in denen Mitglieder der Studiengruppe die Sinnfrage auf das Zeitphänomen bezogen haben. Es ist äußeren Umständen geschuldet, dass sich die Beiträge überwiegend auf den westlich-europäischen Raum beziehen. Immerhin hat die starke Berücksichtigung ethnologischer Gesichtspunkte für die nötige Erfahrungsbreite zumindest der Fragestellung nach der Deutung von Zeit gesorgt. Es ist mir eine angenehme Pflicht, mich bei all denjenigen zu bedanken, die dieses Buch möglich gemacht haben. Zunächst natürlich bei denen, die die Beiträge verfasst und mit Geduld die lange Zeitspanne und den Zeitdruck ertragen haben, in der und unter dem es schließlich zu diesem Buch gekommen ist. Ich danke Ulrike Hamann und Angelika Wulff für ihre Mühen bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte. Danken möchte ich auch den Mitgliedern der Studiengruppe, die hier nicht zu Wort gekommen sind, wohl aber zur Lebendigkeit und Fruchtbarkeit der Diskussionen beigetragen haben, ohne die dieses Buch nie in Angriff genommen worden wäre. Schließlich sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kulturwissenschaftlichen Instituts herzlich dafür gedankt, dass sie die Studiengruppe mit ihren man9
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nigfaltigen Aktivitäten stets tatkräftig unterstützt haben. Ein letzter Dank gebührt dem Verlag für reibungslose und angenehme Zusammenarbeit. Xingera, im April 2003
J.R.
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JÖRN RÜSEN: EINLEITUNG
Einleitung. Zeit deuten – kulturwissenschaftliche Annäherungen an ein unerschöpfliches Thema Jörn Rüsen
Zeit gehört zu den Urerfahrungen der Menschheit. Sie durchwaltet Natur und Kultur zugleich, schließt beide zusammen und hält sie doch auseinander. Nichts ist natürlicher als das Werden und Vergehen aller Dinge, und zugleich fordert nichts mehr den Menschen dazu heraus, sich kulturell deutend damit auseinanderzusetzen, es nicht einfach als das zu lassen, was es ist. Als Naturwesen ist der Mensch der Zeit unterworfen, und als Kulturwesen fügt er sich dieser Unterwerfung nicht, sondern erhebt sich über sie, versucht sie zu bannen, ja zu beherrschen. Er erfährt sie im Wandel seiner Welt und in den Tiefen seiner Selbst, als herausforderndes Schicksal und als Erstreckung seines eigenen Selbst, als Fluch der Natur und als Leistung seines Geistes. Er kann sie nicht so lassen, wie sie ihm geschieht, und kann sich doch nicht bei dem beruhigen, was er mit ihr macht. Zeit fordert den Menschen heraus – zu Ergebung und Protest, zu Unterwerfung und Herrschaft, zu Distanzierung und Nähe, zu Aneignung und Überwindung. Sie lässt ihn leiden und handeln, verzweifeln und triumphieren – unberührt lässt sie ihn nie. Deshalb ist die Zeit ein uferloses Thema aller Wissenschaften. Sie erzeugt unstillbaren Deutungsbedarf. Sie fordert Interpretationen mit höchster methodischer Stringenz, wie sie nur im Spezialistentum wissenschaftlicher Fachdisziplinen erbracht werden können, und zugleich verlangt sie interdisziplinäre Konstellationen, um der Fülle ihrer Erscheinungen gerecht zu werden. Die breiteste Konstellation umgreift die Natur- und die Kulturwissenschaften. Dann ist die Rede von physikalischer, biologischer, geologischer und physiologischer Zeit und davon, wie diese Zeiten mit den kulturellen Gegebenheiten des menschli-
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ZEIT DEUTEN
chen Lebens verschränkt sind.1 Aber auch wenn man sich wie im vorliegenden Buch auf Zeitdeutungen, die in den Bereich der Kulturwissenschaften fallen, beschränkt, muss eine kaum überschaubare Fülle von Perspektiven, von theoretischen und methodischen Ansätzen in Betracht gezogen werden, von der Uferlosigkeit thematischer Spezifikationen ganz abgesehen. Es muss eine Auswahl von Disziplinen und mit ihnen unterschiedliche Aspekte der Zeiterfahrungen angesprochen werden. Historische Differenzierungen dürfen ebenso wenig außer Acht bleiben wie die Verschiedenheit kultureller Traditionen. Die Beiträge dieses Buches präsentieren das Zeitthema auf dreierlei Weise 1. mit einem Ensemble von Disziplinen, 2. mit einer Mischung von systematisch und historisch angelegten ausgreifenden Überblicken und breit gestreuten Fallstudien und schließlich 3. mit einer Vielfalt thematischer Zuschnitte, die die Mannigfaltigkeit von Zeiterfahrungen andeuten soll.
I. Die interdisziplinäre Konstellation wird von der Kombination von Ethnologie und Geschichte dominiert, zu der sich philosophische Überlegungen, eine rechtsgeschichtliche und eine kunsthistorische Fallstudie und schließlich ein Beitrag über zeitgenössische Industriekultur gesellen. Die Verschwisterung von Ethnologie und Geschichtswissenschaft steht für einen wichtigen und weit verbreiteten Trend kulturwissenschaftlichen Denkens, für den sich im deutschen Sprachgebrauch der Terminus ›historische Anthropologie‹ eingebürgert hat. Damit ist freilich nicht schon ein etabliertes Forschungsparadigma bezeichnet, sondern eher ein heuristisches Interesse. Es richtet sich einmal darauf, den Erfahrungsbezug des historischen und des kulturanthropologischen Denkens zugleich zu erweitern. Die Historie muss die traditionelle Enge des Geschichtsbegriffs aufsprengen, mit der Kulturen als historisch qualifiziert oder als vor- oder un-historisch unterschieden und hierarchisiert wurden. Die Würde der Historizität, veränderungsund damit entwicklungsfähig zu sein, wird universalisiert; freilich wird damit zugleich auch die Bürde einer Zeiterfahrung übernommen, die die Angelegenheiten des Menschen der beruhigenden Stabilität und Dauer beraubt und ihre Unsicherheit und Fragilität der durchgehenden Zeitqualität der menschlichen Selbstdeutung macht. Die Kulturanthropologie verliert damit den traditionellen Reiz ihres Gegenstandsbereichs, gegenüber der herausfordernden Modernitätserfahrung sich
1. So z.B.: Aschoff, Jürgen u.a., Die Zeit. Dauer und Augenblick. Beiträge, 4. Aufl., München 1998. 12
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JÖRN RÜSEN: EINLEITUNG
beschleunigender Veränderungen, eine Gegenwelt des ursprünglichen und quasi-naturhaften zu präsentieren. Ihre Räume der menschlichen Kultur werden an die Dynamik geschichtlicher Bewegungen angeschlossen, der sie fast ins Zeitlose entrückt schien. Es ist eine offene Frage, welchen kategorialen und methodischen Gewinn diese Anthropologisierung des Historischen und Historisierung des Anthropologischen erbracht hat. In jedem Falle wurde die geschichtsträchtige Zeitlichkeit menschlicher Lebensverhältnisse in die Tiefe der Gattung selber verlegt und damit die Qualität des Historischen erweitert und vertieft: Die Sinnhaftigkeit menschlicher Lebensvollzüge wird an die Veränderung der lebensbestimmenden Umstände und Absichten des menschlichen Handelns und Leidens gebunden, und diese Veränderung ist dem menschlichen Leben prinzipiell und wesentlich. Die alte Einsicht des Historismus, dass Geschichte die (kulturelle) Gattungsnatur des Menschen ausmacht, wird über allen Ethnozentrismus hinweg empirisch eingeholt. Mit dieser Anthropologisierung der Historizität stellen sich aber zwei bislang ungelöste Probleme ein. Einmal droht die Differenz menschlicher Zeitlichkeit zu verschwimmen, die die disziplinäre Unterscheidung zwischen Anthropologie und Geschichtswissenschaft mehr vorausgesetzt als schon hinreichend zum Ausdruck gebracht oder gar reflektiert hatte.2 Nicht jede Zeitlichkeit menschlicher Lebensführung hat schon eo ipso die Dynamik, die im Modernisierungsschub »neuzeitlich bewegter Geschichte« ausgemacht und mit der Kategorie ›der‹ Geschichte versehen wurde.3 Es bedarf einer neuen starken Binnendifferenzierung von Zeitlichkeit, um die Verschiedenheit der Zeit im Leben der Menschen und damit auch Modi menschlicher Geschichtlichkeit zur Geltung zu bringen und nicht im Einheitsbrei eines anthropologisierten Zeitbegriffs verschwinden zu lassen. Damit ist aufs engste das zweite Problem verbunden: Geschichte als narrativ verfasste Wissensform menschlicher Zeitlichkeit weist (zumindest im Sinnhorizont modernen Geschichtsdenkens) eine Gerichtetheit der Veränderung auf, die Zukunft als eine vergangenheitsüberhobene und handlungsstimulierende Perspektive eröffnet. Mit ihrer Anthropologisierung droht der Historie die Einsicht in diese Gerichtetheit und der von ihr ausgehenden Konsequenzen für die menschliche Handlungsorientierung verloren zu gehen. Die traditionellen Teleologien großkultureller Meistererzählungen haben der An-
2. Vgl. Fabian, Johannes, Time and the Other – How Anthropology Makes its Object, New York 1983. 3. Koselleck, Reinhart, Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 38-66. 13
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thropologisierung des Historischen nicht standhalten können. Das kann durchaus als Gewinn an interkultureller Kommunizierbarkeit historischer Erfahrungen angesehen werden. Wie aber kann nun statt dessen die Irreversibilität zeitlicher Veränderung als Grunderfahrung der Historisierung mit diesem Gewinn sinnträchtig gedacht werden? Das ist eine ungelöste Frage. Das erste Problem, die Binnendifferenzierung von Zeit in einer anthropologisierten Geschichte, wird auf verschiedene Weise aufgegriffen. Justus Cobets Studie über Herodot kann als historische Ouvertüre der historischen Anthropologie des Westens gelesen werden. Herodots eindrucksvolle Eröffnung eines neuen Zeithorizonts der menschlichen Weltdeutung liegt der disziplinären Unterscheidung noch voraus und zeigt dabei anfänglich, dass ihre Überwindung schon in der Geburt der Historie selber angelegt ist. Die ethnologischen Fallstudien von Ute Ritz-Müller, Britta Duelke und Hanne Straube zeigen eindrucksvoll, wie ganz verschiedene Zeitdimensionen aufeinander stoßen und abgeglichen und kompatibel gemacht werden müssen, wenn in Umbruchsituationen sich die Lebensverhältnisse ändern, verschiedene Kulturen sich ineinanderschieben und dabei ganz verschiedene Zeitkonzepte, z.B. die archaisch-mythische und die moderne historische integriert werden müssen. Klaus E. Müller setzt einen Großtyp kultureller Zeitdeutung in einen höchst aufschlussreichen (impliziten) Gegensatz zur verzeitlichten Lebenswelt der Gegenwart. In den hortikulturellen Gesellschaften wird Zeit zum Verschwinden gebracht oder – wo sich Veränderungen unhintergehbar aufdrängen – so gedeutet, dass sich im Wandel die unveränderte Dauer kosmischer Weltordnung selber darstellt. Müllers eindringliche Analyse kann als Paradigma einer Anthropologie gelesen werden, die die Bewegung der Geschichte in die Zeitlosigkeit elementarer Lebensvollzüge hinein gleichsam unterläuft.4 Die Bewegung der Geschichte holt aber auch dieses zeitlose Sein der archaischen Weltordnung ein. Wie eine tragische Pointe zerbricht sie diese Ordnung. Geschichtsbewusstsein gerät zum verzweifelten Bemühen, diesen Bruch erträglich und lebbar zu machen. Demgegenüber kann Friedrich Jaegers Beitrag wie ein Gegenparadigma geschichtlich bewussten Seins gelesen werden. Er teilt mit Müller den anthropologischen Ausgangspunkt bei elementaren Orientierungsbedürfnissen der menschlichen Lebensführung in der zeitlich bewegten Welt – aber sein Fokus richtet sich auf das Gegenteil einer Stillstellung der Zeit zur innerweltlichen Dauer einer umfassenden
4. Vgl. Rüsen, Jörn; Vom Nutzen und Nachteil der Ethnologie für die Historie. Überlegungen im Anschluß an Klaus E. Müller, in: Sylvia Schomburg-Scherff u.a. (Hrsg.), Die offenen Grenzen der Ethnologie. Schlaglichter auf ein sich wandelndes Fach. Festschrift Klaus E. Müller, Frankfurt am Main 2000, S. 291-309. 14
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JÖRN RÜSEN: EINLEITUNG
Weltordnung; er schlägt eine Epochencharakteristik der Neuzeit vor. In ihr wird das Potential einer fundamentalen Verzeitlichung der kulturellen Handlungsorientierung angesprochen, das zur historischen Voraussetzung moderner Gesellschaften gehört. Dabei geht es nicht um Zeit allgemein, sondern um Geschichte als ein zentraler Deutungsmodus von Zeit. Es geht um die Geschichte, in der und durch die sich die Gegenwart verstehen muss. Mit diesem Schwerpunkt auf der Historisierung der Zeit konkretisiert sie sich zugleich zu einem Netzwerk bestimmender Handlungsfaktoren in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Dirk Rustemeyer schildert die Differenz von Sein und Zeit, wie sie in je paradigmatischer Weise von Müller und Jaeger ganz unterschiedlich angesprochen wird, in einem großen Überblick der abendländischen Philosophie mit den Schwerpunkten Antike, Metaphysik und nachmetaphysische Moderne. Er stellt aber nicht einfach zwei Denkformen gegeneinander, sondern vermittelt sie in die Vorstellung eines umfassenden okzidentalen Denkprozesses, in dessen vorläufigem Ende das heutige Denken, wir selber, stehen. Das ist nicht teleologisch gedacht, wohl aber strikt gegenwartsbezogen – sogar konkret auf übergreifende Kategorien der meisten Beiträge dieses Buches. Denn diese Beiträge fragen nach ›Sinnkonzepten‹ im Umgang mit Zeiterfahrung, und Rustemeyer klärt philosophisch darüber auf, in welchem Verhältnis die Sinnkategorie selber zu der von ihm beschriebenen Denkgeschichte steht. Mein eigener Beitrag kreist die beiden Probleme mit einer Argumentation ein, die eine anthropologische Grundlagenreflexion der menschlichen Sinnbildung über Zeiterfahrung mit einer Typologie verschiedener Modi dieser Sinnbildung und mit dem Ansatz einer Geschichtsphilosophie verbindet, die eine übergreifende Entwicklung der Zeitdeutung in sachlicher Übereinstimmung mit Rustemeyer beschreibt. Keine dieser drei Denkweisen dominiert oder integriert gar die anderen. Das hält das Zeitproblem im Verhältnis von Anthropologie und Geschichte in einer Schwebe, die nach einem eigenen Integrationsmodus verlangt.
II. Die Überblicke von Rüsen, Rustemeyer, Müller und Jaeger verbinden auf unterschiedliche Weise historische und systematisch-theoretische Absichten. In jedem Falle aber machen sie deutlich, dass beides vermittelbar ist, ja vermittelt werden muss, wenn eine Synthese von Anthropologie und Geschichte gelingen soll. Rustemeyers ›Meistererzählung‹ des okzidentalen Denkens präsentiert eine Gerichtetheit der zeitlichen Veränderung im Verhältnis von Sein und Zeit, die keine Rück15
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kehr zur Metaphysik einer überzeitlichen Seinsordnung zulässt. Müllers Großtyp hortikultureller Gesellschaften enthält (zumindest) Elemente einer allgemeinen Anthropologie, wenn sie sie nicht gar selber darstellt. Rüsen versucht eine explizite Vermittlung, die durch eine weitgespannte Typologie offengehalten wird. Jaeger schließlich argumentiert kulturtheoretisch, um Eigenart, Leistung und Grenzen von Epochenkonzepten im Blick auf die Neuzeit zu beschreiben. Das alles ergibt ein Netz von Hinsichten, in das wie Knotenpunkte die Fallstudien dieses Bandes verortet werden können. Eine solche Verortung erfolgt nicht beliebig, sondern ergibt sich aus den expliziten und impliziten historischen und systematischen Prämissen der einzelnen Analysen: Justus Cobet platziert Herodot an den Beginn der europäischen Meistererzählung von Historiographie und zeigt detailliert auf, welche Zeitdimensionen von Herodot auf welche Weise zu einem komplexen, aber kohärenten Gewebe von Zuständen, Abläufen und Entwicklungen, zu einer »ganzen Zeit« (Herodot 9, 27) synthetisiert werden. Das ist ohne eine kategoriale Ausdifferenzierung von Zeiträumen, Zeit-Raum-Relationen, Zeitverlaufsvorstellungen und erst recht nicht ohne eine Vorstellung davon einsichtig zu machen, dass und warum auch das heutige Geschichtsdenken diesem Ursprung verpflichtet bleibt. Ute Ritz-Müller analysiert den Zusammenprall ganz unterschiedlicher Zeitbezüge in den Riten eines afrikanischen Königtums in Burkina-Faso, das seine Herrschaftsansprüche postkolonialen Lebensbedingungen anpassen muss. Mythische und historische Zeit müssen so ineinander gebunden werden, dass die sinnträchtige Vorstellung einer Dauer von Ordnung im krisenhaft erfahrenen tiefgreifenden Wandel der Lebensbedingungen durch den Kolonialismus noch plausibel erscheint. ›Sein‹ überlagert die ›Zeit‹ auch dann noch, wenn es von ihr heftig erschüttert wird. Die rituelle Plausibilisierung dieser Zeitvorstellung vereint politische Herrschaftsansprüche mit Naturzeiterfahrungen landwirtschaftlicher Produktion; zeitgeschichtliche Erfahrungen werden in eine ur-zeitlich mythische Meistererzählung integriert, und schließlich fehlt es auch nicht an der modernen Erinnerungstechnik (durch Planung eines Denkmals). Unser akademisches Problem, wie sich ganz unterschiedliche Zeitkonzepte schlüssig integrieren lassen, kehren auf der Objektebene als Herausforderung an menschliche Gemeinschaften wieder, in verschiedenen Zeiten zugleich leben zu müssen, die ganz unterschiedlichen Logiken der kulturellen Orientierung folgen. Im Beitrag von Britta Duelke sind es die australischen Aborigines, die durch eine neue Gesetzgebung dazu herausgefordert werden, ihre vorkolonialen Traditionen einer post-kolonialen Situation anzupassen. Dass diese Situation durch eine ethnologisch inspirierte Gesetzgebung bestimmt wird, gibt der Sache eine geradezu objektiv-ironische Pointe. Es ist eindrucksvoll 16
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JÖRN RÜSEN: EINLEITUNG
nachzuvollziehen, wie mythische Tradition im Blick auf historische Erfahrung an aktuelle Lebensbedingungen angepasst werden. Anstatt entzaubert zu werden, entfalten sie die Kraft zu einer ›lebendigen‹ Tradition. Die Fallstudie von Hanne Straube analysiert Differenzen und Zusammenhänge ländlich-traditionaler, islamisch-religiöser und säkular-politischer Lebensordnungen in einem westanatolischen Dorf. Drei Zeitordnungen bestimmen das Alltagsleben seiner Menschen. Diese Ordnungen können mühelos entwicklungslogisch aufeinander bezogen und dadurch in ein übergreifendes Verzeitlichungskonzept integriert werden – aber die Betroffenen arrangieren sie anders: Sie folgen einer Pragmatik der Lebensführung, die sie gleich-gültig macht, also die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur kulturellen Bestimmungsgröße selber werden lässt. Demgegenüber thematisiert Jochen Johannsen das Zeitkonzept nationaler Sinnbildung in Deutschland als politisches Schlüsselereignis im Verzeitlichungsprozess moderner Weltdeutung. Sein Beitrag konkretisiert diesen Prozess zu einem politischen Vorgang kollektiver Identitätsbildung. Verzeitlichte und nationalisierte Zeit wird zum Medium historischer Selbstverständigung; sie lädt Zugehörigkeit und Abgrenzung wie eine Dynamik der Veränderung auf, die praktische Folgen für den Umgang mit Anderssein und Differenz hat. Angelika Epple geht in der historischen Konkretisierung noch einen Schritt weiter. Ähnlich wie Johannsen bezieht sie sich auf die epochale Wendung der europäisch-westlichen Kultur zu einer neuen Qualität der Historisierung, greift aber nur einen – allerdings höchst bedeutsamen – Aspekt heraus: die Folge eines dynamisierten Zeitverständnisses für menschliche Subjektivität im bürgerlichen Lebenszusammenhang. An narrativen Texten weiblicher Selbstverständigung legt sie den fragilen Gewinn subjektiver Autonomie von Frauen im Geschlechterverhältnis dar. Die intime Privatheit weiblicher Lebensentwürfe und Lebenserfahrungen versammelt wie in einem Hohlspiegel die Brisanz eines Zeitkonzeptes, das den Menschen zunehmend für den Zeitverlauf seiner eigenen Biographien praktisch verantwortlich macht. Der Epochenwandel kultureller Zeitorientierung, in dem moderne Gesellschaften ihr eigentümliches Zeitverständnis gewinnen, wird mit dem Schicksal dreier Frauen lebendig: Die Makrohistorie kultureller Evolution verdichtet sich zur historischen Mikroperspektive einzelner Schicksale. Den entschiedensten Gegenwartsbezug hat der Beitrag von Ulrike Hamann: Sie schildert den unabgeschlossenen Prozess, in dem das Grundrechtssystem der Europäischen Union entsteht, also ein Stück lebendiger Gegenwart. Es versteht sich von selbst, dass diese Entwicklung im »Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte« (Koselleck) erfolgt, also dem spezifisch modernen Zeitverständnis verpflichtet ist. Was das 17
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aber konkret für ein Rechtssystem bedeutet, lässt sich nur dann im einzelnen zeigen, wenn der Entwicklungsprozess daraufhin durchsichtig gemacht wird, wie in ihn Zeiterfahrungen eingehen und wie zugleich die innere Zeitlichkeit des konzipierten Rechtes verstanden und zur Geltung gebracht wird. Hamanns Untersuchung ist historisch und systematisch zugleich: Ein Stück aktueller Zeitgeschichte europäischer Rechtsbildung und eine Analyse des Verhältnisses von Recht und Zeit, das sich in dieser Rechtsentwicklung austrägt. Die Beiträge von Seegers und Grütter schließlich sind der Ästhetik der Verzeitlichung gewidmet. Ulli Seegers rekonstruiert Aby Warburgs Vorstellung von Pathosformeln der Bildenden Kunst als kultureller Klammer der europäischen Kulturgeschichte: Das Verhältnis von Historizität und anthropologischer Dauer wird als Grundmotiv des Denkens dieses bedeutenden Kulturwissenschaftlers an einer zentralen Kategorie seiner historischen Ästhetik in seiner Vielschichtigkeit und inneren Spannung aufgewiesen. Aby Warburgs Denken wird als eine eigenwillige Lösung des Problems präsentiert, wie sich anthropologische Dauer und zeitlicher Wandel zu einer Vorstellung von Kultur synthetisieren lassen, mit der der weite Bereich der ästhetischen Erfahrung erschlossen und interpretiert werden kann. Heinrich Theodor Grütter schließlich nimmt den aktuellen Fall einer historischen Repräsentation, die Industriekultur des Ruhrgebiets, als Beispiel dafür, wie über historische Erinnerung ein tiefgreifender Strukturwandel in den Lebensverhältnissen moderner Gesellschaften aufgegriffen, thematisiert und im Ansatz auch bewältigt werden kann. Damit wird zunächst nur ein ganz spezifischer historischer Fall ins Blickfeld gerückt. Aber Grütter legt zugleich dar, dass und wie dieser kulturelle Vollzug von Verzeitlichung in der Arbeit am kulturellen Gedächtnis einer Region nur verständlich gemacht werden kann, wenn er mithilfe anthropologisch fundamentaler Gesichtspunkte der Repräsentation von Vergangenheit in der kollektiven Erinnerung aufgeschlüsselt wird.
III. Natürlich decken die Beiträge dieses Bandes den Erfahrungsraum nicht ab, in dem Zeit gedeutet werden muss, damit Menschen leben können. Dennoch geben die einzelnen Themen neben ihrem Stellenwert im begrifflichen Netzwerk von historischem Wandel und anthropologischer Dauer auch eine plastische Vorstellung von den ›Orten‹ der Zeit in der menschlichen Lebenspraxis. Sinn muss überall dort über Zeiterfahrungen gebildet werden, wo sie den Menschen zu kulturellen Tätigkeiten stimulieren. Das ist auf der Ebene von Alltagserfahrungen genauso der Fall wie in den Höhen kulturwissenschaftlicher und philo18
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JÖRN RÜSEN: EINLEITUNG
sophischer Reflexion. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich denn auch die Spielbreite der thematischen Zuschnitte dieses Bandes. Rustemeyer und Rüsen sprechen makrohistorische Entwicklungen an; Müller beschreibt eine epochale Lebensform; Duelke und Straube analysieren die Zeitstrukturen kleinerer Gemeinschaften; Ritz-Müller entwickelt an einem Königsritus in Afrika ein komplexes Herrschaftsverhältnis. Cobet analysiert einen klassischen Fall wirkungsmächtiger Historiographie. Johannsen greift das Beispiel des frühen deutschen Nationalismus als Zeitdeutungsphänomen aus dem Entstehungsprozess moderner Gesellschaften heraus; Epple beschreibt den Strukturwandel von Familiennarrativen an drei Texten, die durch ein intergenerationelles Verhältnis ihrer Autorinnen ausgezeichnet sind; Hamann untersucht einen in der Gegenwart andauernden Vorgang der Rechtsschöpfung, der die Perspektive zukünftiger Rechtsfortentwicklung in sich birgt. Jaeger thematisiert die Meta-Ebene der Bildung eines historischen Epochenbegriffs. Seegers analysiert einen paradigmatischen Fall kulturwissenschaftlicher Zeitdeutung im Bereich der Ästhetik, und Grütter stellt ein Beispiel gegenwärtiger regionaler Geschichtskultur vor. Zeitlich decken die Beiträge die weite Spanne zwischen archaischen Gesellschaften und gegenwärtigen Deutungsproblemen ab. (Leider fehlt das Mittelalter.) Räumlich liegt der Schwerpunkt im Westen; allerdings sind der Großtyp Müllers und die theoretischen Überlegungen Rüsens raumübergreifend angelegt. Hinsichtlich der angesprochenen Sachverhalte geht es um konkrete empirische Gegebenheiten, von Lebensformen im Ganzen, einzelne Gesellschaften und um historische Darstellungen in textlicher und ästhetisch-dinglicher Form und schließlich auch um den Zusammenhang einer durchgehenden Entwicklung sowie um die Meta-Ebene kulturwissenschaftlicher Erkenntnisstrategien. Zeit wird also als Kategorie der Weltdeutung angesprochen, als Ordnungssystem gesellschaftlichen Lebens, als politisches Machtmittel, als Ordnungsgefüge intergenerationeller Standortbestimmung der eigenen Subjektivität, als Eigenzeit in den Deutungsleistungen der Kultur selber (wie im Falle der Warburgschen Pathosformeln) als identitätsbildende und handlungsrelevante historische Repräsentation, als Gestaltungsfaktor von Recht, als Ordnungsgröße mit synthetischer Kraft im Leben von Gemeinschaften, als Gegenstand ritueller Bewältigung von Veränderungserfahrungen. Gesellschaftlich umfassende Symbolwelten werden ebenso thematisiert wie einzelne Dimensionen oder Befunde dieser Welten. Die Auswahl der Beiträge beansprucht keine repräsentative Funktion für den Gesamtbereich kultureller Zeitdeutungen. Das ist auch angesichts der Universalität und Vielfalt von Zeiterfahrungen und Zeitdeutungen im historischen Leben der Menschheit ausgeschlossen. Wohl aber steht die Unterschiedlichkeit der thematischen Ausrichtung 19
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ZEIT DEUTEN
selber für diese Vielfalt – freilich nicht als bloßer Hinweis auf eine nicht zu bewältigende Unübersichtlichkeit, sondern im Gegenteil, als eine Konstellation von Themen und Perspektiven, die eben immer wieder den Blick von anthropologischer Universalität und übergreifender historischer Dynamik der menschlichen Zeitdeutung auf die Fülle der Einzelheiten lenkt, an und in denen aus Zeit Sinn gebildet wird.
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I. Grundlagen und Ursprünge
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JÖRN RÜSEN: DIE KULTUR DER ZEIT
Die Kultur der Zeit. Versuch einer Typologie temporaler Sinnbildungen Jörn Rüsen
»Lebendige Wesen sind […] geformte Zeit, wie Melodien […].« Adolf Portmann, Die Zeit im Leben der Organismen1
1. Allgemeines Zeit ist eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins.2 Sie umgreift Mensch und Welt, Denken und Sein, Innen und Außen, Kultur und Natur. Sie ist daher eine Fundamentalkategorie (nicht nur) der Kulturwissenschaften. Mit ihrem Zeitverständnis bestimmen diese über Zusammenhang und Unterschied von Kultur und Natur, über die Eigenart des Menschen und seinen Umgang mit seiner Welt und mit sich selbst. Zugleich bestimmen sie auch über sich selbst, über eine ihrer wichtigsten Aufgaben: der Zeit als Phänomen in allen Bereichen des menschlichen Lebens nachzuspüren, sie zu verstehen, zu deuten und zu erklären und sich dabei zu ihr kritisch-rational (methodisch argumentierend) zu verhalten. Die Kulturwissenschaften dürfen dabei nicht übersehen, dass
1. In: ders., Biologie und Geist, Freiburg 1963, S. 123-141, Zitat S. 127f. – (Eine ältere Fassung ist in Chinesisch erschienen in: Dangdai [Taipei] 155, 2000, S. 3643.) 2. Der folgende Text stellt eine überarbeitete Fassung meines Artikels »Typen des Zeitbewusstseins – Sinnkonzepte des geschichtlichen Wandels« dar, der demnächst in: Friedrich Jaeger u.a. (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2003, erscheinen wird. Eine erste deutsche Fassung erschien unter dem Titel »Zeitsinn. Einige Ideen zur Typologie des menschlichen Zeitbewusstseins«, in: Stefan Jordan/Peter Th. Walther (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft. Aspekte einer problematischen Beziehung. Wolfgang Küttler zum 65. Geburtstag, Waltrop 2002, S. 168-186. 23
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sie mit diesen ihren Erkenntnisleistungen selber ein Vollzug von Zeit sind, ihr auch in der Abständigkeit rationalen Argumentierens genauso angehören wie die Objekte ihrer Erkenntnis. Insofern können sie sich zu ihr nicht neutral zeitenthoben verhalten, sondern sind selber ein Teil der Kultur, die ihren Gegenstandsbereich ausmacht. Indem sie den Sinn, den die Menschen der Zeit abgewinnen oder geben, erforschen, gehören sie selber zu diesem Sinngeschehen der Kultur. Das ist besonders dann systematisch und methodisch in Rechnung zu stellen, wenn kulturelle Differenz zur Angelegenheit einer interkulturellen Kommunikation wird. Denn in die Prämissen dieser Kommunikation können diese Differenzen selber uneinholbar eingehen, so dass sie festgeschrieben, statt verflüssigt werden. Will man nicht einen grundsätzlichen kulturellen Relativismus in Kauf nehmen (was letztlich die Kulturwissenschaften als Fachdisziplinen zerstören würde), dann sind besondere Reflexionen und Begründungen notwendig, um Verständigungschancen über Wahrheitsansprüche eröffnen und einlösen zu können. Zeit als Fundamentalkategorie der Kulturwissenschaften zu charakterisieren, ist eine fast unlösbare Aufgabe. Sie führt in Bereiche natürlicher Voraussetzungen und Bedingungen der Kultur hinein, die den Kulturwissenschaften nur schwer zugänglich sind. Und da es um nichts Geringeres geht als um eine Rahmenbestimmung kulturwissenschaftlicher Deutung von Zeitphänomenen überhaupt, müsste man eigentlich vor der Fülle der Phänomene und der ihnen gewidmeten Forschungen resignieren. Nur durch hohe Abstraktionen, Schematisierungen und Typologien lässt sich ein Umriss des kulturwissenschaftlichen Umgangs mit Zeit skizzieren – und das auch nur mit dem relativierenden Zugeständnis einer Perspektivierung auf Sinnkonzepte des geschichtlichen Wandels, die andere Perspektiven herausfordert und sich durch sie verändert.
2. Lebenswelt und Erfahrung Wie erschließt sich Zeit den Kulturwissenschaften? Es empfiehlt sich, von elementaren und anthropologisch-universalen Phänomenen des Verhältnisses von Mensch und Zeit auszugehen. Sie bilden die (phänomenologische) Grundlage dafür, dass Kultur sinnbildender Umgang mit Zeit ist, wo und wie immer Menschen leben. Zeit ist eine fundamentale, allgemeine und elementare Dimension des menschlichen Lebens. Sie wird als Werden und Vergehen, Geburt und Tod, Wandel und Dauer erfahren und muss als Erfahrung durch Deutungsleistungen des menschlichen Bewusstseins so bewältigt werden, dass der Mensch sich in ihr orientieren, sein Leben sinnhaft auf sie beziehen kann. Der Mensch kann die Zeit nicht einfach so las24
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sen, wie sie ist (d.h. wie sie ihm unmittelbar begegnet). Denn er erfährt sie als Einbruch unvorhersehbarer Ereignisse in seine gedeutete Welt, kurz: als einen Wandel seiner Welt und seiner Selbst, den er erleiden und zu dem er sich noch einmal deutend verhalten muss, weil er von sich aus noch nicht hinreichend auf sein Handeln sinnhaft bezogen ist. Zeit vollzieht sich aber nicht einfach in ihrem Lebensprozess, in dem das, was geschieht, vergeht und neues Geschehen in Zukunft hinein handelnd in Gang gesetzt oder gehalten wird. Vielmehr müssen die Betreffenden, um diese ihre eigene Zeitlichkeit lebend vollziehen und bewältigen zu können, das zeitliche Geschehen ihrer eigenen Welt und ihrer selbst deuten. Sie müssen ihm einen Sinn geben, mit dem sie sich zu ihm selber verhalten. Das ist so elementar wie die Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sinn ist die vierte Dimension der Zeit, ohne den die drei anderen menschlich nicht gelebt werden können. Er erwächst keiner der drei Dimensionen, sondern stellt eine geistige Leistung dar, durch die und mit der der Lebensbogen des Menschen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allererst eine konkrete kulturelle Form, die Form realen Lebens, gewinnt. Es gibt eine Urerfahrung des Zeitlichen, die besondere Aufmerksamkeit verdient: Kontingenz. Kontingent ist eine Zeiterfahrung insofern, als sie eine Herausforderung an die Deutungsarbeit des Bewusstseins stellt, also nicht ›einfach so‹ vor sich geht, dass sie immer schon – also ohne Vollzug einer eigenen Deutungsleistung – wahrgenommen und ›verstanden‹ werden kann. Kontingente Geschehnisse sind unvermutet, plötzlich, unverhofft, ereignishaft (mit der spezifischen Qualität des Besonderen). Zugleich bedeutet ihr Erfahrungsmodus, dass man sie nicht einfach ignorieren kann. Das ist z.B. dann evident, wenn Handlungen zu Ergebnissen führen, die nicht beabsichtigt waren, ja sogar den handlungsleitenden Absichten zuwiderlaufen. Kontingente Zeiterfahrungen müssen gedeutet werden, weil sie Einfluss auf das Leben der jeweiligen Subjekte nehmen. Die Betroffenen müssen auf sie Rücksicht nehmen, sich auf sie beziehen, mit ihnen umgehen. Es gehört zu der ›Freiheit‹ genannten Ausstattung des Menschen, die Zeitvollzüge seines Lebens nicht ohne sein eigenes Zutun, seine Stellungnahme, ein eigenes Verhalten zu ihnen leben zu können. Sein Zeitverhältnis ist gleichsam systematisch gebrochen; zwischen ihm und den Geschehnissen im Zeitfluss seines Lebens gibt es eine Verwerfung, die durch die Deutungsarbeit des Bewusstseins überwunden werden muss, sich aber immer wieder herstellt und immer wieder neu bearbeitet und lebensdienlich zugerichtet werden muss. Die Zeit hält sich nicht einfach an die kulturell vorgegebenen Deutungsmuster, sondern springt aus ihnen heraus und macht eine dauernde Applikation dieser Deutungsmuster auf das, was im Wechsel der Dinge geschieht, notwendig. Dabei kann das, was geschieht, unterschiedlich 25
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erfahren werden, so dass es im einen Falle reicht, schon vorhandene Deutungsmuster abzurufen und zu applizieren (dann handelt es sich um eine ›normale‹ Zeiterfahrung), in einem andern Fall aber müssen die Deutungsmuster modifiziert werden, um das, was geschieht, begreifend und handelnd bewältigen zu können (in diesem Falle handelt es sich um eine ›kritische‹ Zeiterfahrung). Schließlich gibt es auch zeitliche Widerfahrnisse, die sich der Deutung entziehen, deren überwältigende Wucht die zur Verfügung stehenden Deutungsmuster zerschlägt, so dass der Mensch ihnen kulturell gegenüber ›nackt‹ erscheint und von ihnen in den Möglichkeiten seiner Kultur verletzt wird. Dann handelt es sich um eine traumatische Zeiterfahrung.3 Je nachdem, in welchen kulturellen Deutungsmustern Zeiterfahrungen gemacht werden, kann die zu bewältigende Kontingenz einen höchst unterschiedlichen Charakter annehmen: –
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Im Rahmen eines moralisch strukturierten Kosmos von Zeitdeutungen wäre Kontingenz eine diesen Kosmos störende Verfehlung. So wird zum Beispiel die Geburt eines verkrüppelten Kindes in einer archaischen Gesellschaft als Herausforderung an eine moralische Deutung erfahren, die zur Suche nach einer Verfehlung veranlasst, die dieses Missgeschick verursacht hat und beseitigt werden muss. Als Ausdruck einer Gefährdung der moralischen Weltordnung verstanden, wird diese Kontingenz durch besondere Sühne- und Reinigungsmaßnahmen beseitigt und die gestörte Weltordnung wiederhergestellt.4 Kontingenz kann auch ein Ereignis im Sinne eines historischen Deutungszusammenhangs von Zeit sein. Dann muss sie als Erfahrung in einen narrativen Zusammenhang mit anderen Ereignissen gebracht werden, in dem der kontingente Charakter des in Frage stehenden Geschehnisses verschwindet. Er hebt sich auf in einen sinn- und bedeutungsvollen historischen Lebenszusammenhang. Historisch lässt sich Kontingenz auch als Anachronismus erfahren, als Vorkommen eines Sachverhalts in einem Zeitzusammenhang, in den er nicht passt, weil er typisch für eine andere Zeit ist. Im Rahmen einer evolutionstheoretischen Deutung von Zeit wäre Kontingenz der die Evolution selber steuernde Zufall, beispielsweise einer genetischen Mutation.
Kontingenz geschieht also immer im Rahmen von gedeuteter Zeiter-
3. Vgl. dazu Rüsen, Jörn, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001, S. 145ff. 4. Vgl. Müller, Klaus E., Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae, München 1996. 26
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fahrung. Sie wird erfahren als Kontrast zu einer anderen Erfahrung, die immer schon deutend verarbeitet ist. Sie hebt sich als ein Erfahrungsmodus von anderen Erfahrungsmodi ab, die immer schon in lebensermöglichende Deutungen eingegangen sind. Das wären dann Zeiterfahrungen, die vertraut sind, gewöhnlich, undramatisch, eingelagert und aufgehoben in der immer schon sinnhaft erschlossenen Welt. In dieser Form gibt es die Urerfahrung des Werdens und Vergehens, der Differenz zwischen jung und alt, zwischen Geburt und Tod, die fundamentalen Erfahrungen von Dauer, von rhythmischer Gliederung, von Wiederholung und Wiederkehr, aber auch von Unumkehrbarkeit, von Stillstand, Flüchtigkeit. Es gibt aber auch komplexere Erfahrungen, die mit speziellen Bedeutungskoeffizienten ›gemacht‹ werden: Verbesserung und Verschlechterung, Zeitdruck, die Verkehrung von Entwicklungsrichtungen, Zeitleere, die Knappheit oder die Kostbarkeit von Zeit. In noch komplexeren Deutungszusammenhängen kann Zeit als etwas erfahren werden, von dem man sich distanzieren muss, die man von sich abweist. Zeit kann aber auch als ein Vorgang der Transzendierung in ein anderes ihrer selbst erfahren werden, so etwa im Zusammenhang mit ästhetischer Wahrnehmung: Das Hier und Jetzt des Erfahrungsvorgangs und der Gegebenheit des Erfahrenen transzendiert sich im Akt der Erfahrung in eine andere Zeit hinein, die oft als ›Ewigkeit‹ oder ›Zeitlosigkeit‹ einer Wertsphäre qualifiziert wird; mit dieser Qualifikation soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um eine Erfahrung handelt, die über den Augenblick des Zeitgeschehens hinaus eine Bedeutung besitzt, den Menschen in eine Zeit der Dauer von Sinnhaftigkeit und Bedeutung eintreten lässt. Die radikalste Form dieser Zeiterfahrung als Zeittranszendierungserfahrung dürfte die unio mystica sein, in der sich die Zeit augenblickshaft in NichtZeitliches aufhebt. Im Rahmen eines komplexen historischen Deutungsmusters kann ein zeitliches Vorkommnis als ›ungleichzeitig‹ erfahren werden, als etwas, das eigentlich in eine andere Zeit gehört, aber in der Erfahrungszeit da ist. Zeit wird gleichsam als Differenz in sich selber erfahrbar. Mit der herausfordernden Kontingenzerfahrung und der Notwendigkeit kultureller Zeitdeutung ist der Mensch aus der Natur-Zeit herausgefallen und bringt sich als Kulturwesen im deutenden Umgang mit ihr zur Geltung. Er geht symbolisierend-denkend über die naturalen Grundlagen im Zeitverlauf seines Lebens hinaus und fügt ihnen eine kulturelle Be-Deutung hinzu, ohne die er nicht leben kann. Mit seiner Zeitdeutung bringt er sich, seine geistigen Fähigkeiten, seine Subjektivität, im Umgang mit der Natur, auch mit seiner eigenen Natur, zur Geltung. Die Kultur des Menschen nistet im Zeitbruch seiner Lebensführung, den er deutend schließen muss. Um dies zu leisten, ist sein Bewusstsein selber zeitlich ausgerichtet, durch ein komplexes Wechselspiel zwischen Erinnerung und Erwartung. Er teilt diese Fähigkeit mit 27
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vielen Tieren, aber er unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass beides eine Deutungsleistung, eine symbolisierende Interpretation, enthält, mit der der Mensch in einer nicht genetisch festgelegten Weise grenzenlos über die natürlichen Grundlagen seines eigenen Lebens hinausgeht, auch und gerade über die scheinbar definitiven Zeitpunkte von Geburt und Tod. Mit der ersten Blume, die der Urmensch auf das Grab eines Verstorbenen legte, sprengte er die Grenzen der Natur in der zeitlichen Verfassung seines Lebens. Dieses naturungebundene Zeitbewusstsein des Menschen im Widerspiel von Erinnerung und Erwartung, oder, wie Edmund Husserl es formulierte, von Retention und Protention5 stellt die anthropologische Grundlage für die Vielfalt von Zeitdeutungen dar, mit denen der Mensch sein Leben im Verlauf der Zeit platziert, sich selbst in diesem Verlauf versteht und sein Handeln und Leiden in und an ihm ausrichtet. Zeit ist ein elementarer Faktor der menschlichen Lebenspraxis. Was immer Menschen tun und leiden, es geschieht je gegenwärtig im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Erwartung.6 Menschliches Leben ist ausgespannt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und diese drei Dimensionen sind immer systematisch ineinander verschränkt. Aber diese Verschränkung ist nicht nur faktisch der Fall, sondern muss dazu noch eigens geleistet werden. Die alltägliche Lebenspraxis ist in ihrem Zeitverhältnis bestimmt durch Erfahrungen und Erwartungen. Vergangenheit ist in Erinnerung und Zukunft ist in Erwartung gegenwärtig, und beide sind im je gegenwärtigen Lebensvollzug ineinander verschränkt.
5. Husserl, Edmund, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hrsg. v. Martin Heidegger, 2. Aufl., Tübingen 1980. 6. Der aktuelle Erinnerungsdiskurs tendiert dazu, die Erwartung als konstitutive Komponente des menschlichen Zeitbewusstseins systematisch zu unterschätzen. Das ist im anders gelagerten Diskurs über Geschichtsbewusstsein nicht der Fall. Zum Erinnerungsdiskurs vgl. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, in: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2, 2002, S. 239-247, anschließend Kritik und Replik; Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Winter, Jay, The Generation of Memory: Reflexions on the ›Memory Boom‹ in Contemporary Historical Studies, in: Bulletin of the German Historical Institute 27, 2000, S. 69-92; AHR Forum: History and Memory, in: The American Historical Review 102, 1997, S. 13721412; zum Diskurs über Geschichtsbewusstsein vgl. den knappen Überblick von Becher, Ursula A. J./Fausser, Katja/Rüsen, Jörn, Geschichtsbewusstsein, in: Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Wiesbaden 2002, S. 169-176; vgl. auch Rüsen, Jörn (Hrsg.), Geschichtsbewusstsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 21), Köln 2001. 28
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Für den einzelnen Menschen ist die persönliche Erinnerung eingegrenzt in die Spanne zwischen den ersten Lebensjahren und der jeweiligen Gegenwart. Die aus dieser Erinnerung gespeiste Zukunftsperspektive des eigenen Lebens hat ihre Grenze im Tod. Dieser Zeithorizont der eigenen Lebensspanne wird immer systematisch überschritten: Persönliche Erinnerungen sind durchsetzt und geformt von sozialem Gedächtnis, und entsprechend verlängert sich die Zukunftsperspektive über den eigenen Tod hinaus in die Zukünftigkeit des sozialen Lebenszusammenhangs der eigenen Gruppe. Diese umfassende Zeitdimension wird erfüllt von den alltäglichen Verpflichtungen des praktischen Lebens, von verarbeiteter Erfahrung dessen, was geschehen ist und von einer ihr entsprechenden Voraussicht dessen, was geschehen kann und wird. Im Zentrum dieser zeitlichen Erstreckung der alltäglichen Lebenspraxis stehen ihre Subjekte, die Menschen. Sie sind zeitunterworfen und zeitbestimmt und in dem, was sie sind, eingespannt in den Bogen zwischen Erinnerung und Erwartung. Zeiterfahrungen werden immer unter strukturellen Rahmenbedingungen gemacht. Sie stehen also nicht als eine Sache ›für sich‹, sondern formieren sich in objektiven Zusammenhängen der Lebensbedingungen. So ist zwar die Erfahrung der Dauer im Arbeitsprozess abhängig von der Ökonomie der Arbeit und steht in einem inneren Zusammenhang mit wirtschaftlichen Gegebenheiten. Dennoch lassen sich Modi der Zeiterfahrung idealtypisch unterscheiden. Denn das, was jeweils konkret erfahren wird, ist ein mentaler Vorgang im Bedingungszusammenhang nicht-mentaler Lebensumstände. Die Modi der Zeiterfahrung können sich historisch erheblich ändern: Zeit kann als Qualität des erfahrenen Sachverhalts wahrgenommen werden. Dann hat jedes Ding seine Zeit. Zeit ist hier etwas ontologisch Vorgeordnetes, dem es im menschlichen Lebensvollzug zu entsprechen gilt. Völlig anders wird Zeit erfahren, wenn es darum geht, dass man sie sinnvoll füllen muss, für sie verantwortlich ist, oder dass sie als eine und selbe ganz verschiedene Sachverhalte umgreift, sich von den Dingen verselbständigt hat. Aber nicht nur der zeitliche Wandel der Dinge wird erfahren, sondern auch die an ihm oder über ihn vollzogene Deutungsleistung selber, also der den primären Zeiterfahrungen gegebene Sinn. In festlichen Veranstaltungen, die die Ordnung der Welt repräsentieren, wird Zeit als sinnhaft, als geordnet und lebbar erfahren. Im Fanum, dem Ort des Heiligen z.B., sind die Unruhen des Wandels, die Herausforderungen der Kontingenz und der Schrecken des Todes verschwunden. Eine ähnliche Erfahrung gedeuteter Zeit vermittelt die Kunst. Die Gebilde eines Gestalt gewordenen Zeitsinns lassen sich wie eine zweite Welt verstehen, in die die erste verwandelt wurde. Sie lassen diese im Lichte der Lebensdienlichkeit erscheinen. Beides ist dauernd ineinander verflochten; seine analytische Trennung ist aus methodischen Gründen 29
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erforderlich, wenn man kulturwissenschaftlich der Zeitdeutung als elementarem Lebensvollzug des Menschen auf die Spur kommen will. Nie freilich gelangen beide Erfahrungen vollständig zur Deckung. Die Welt des zeitlichen Wandels wird zwar immer als sinnhaft geordnet und nie als pures Chaos erfahren, doch diese vorgängige kulturelle Orientierung der menschlichen Lebenspraxis stellt sich immer als prekär, als grundsätzlich gefährdet dar. Die sinnhafte Ordnung der Zeit ist stets darauf abgestellt, durch kulturelle Tätigkeit erneuert, bekräftigt und auf Dauer gestellt zu werden. Das pure zeitliche Vergehen selber gilt schon als drohender Sinnverlust – nicht nur in den ›kalten‹ Kulturen, die tunlichst allen Wandel und alle Veränderungen in die Dauer einer mythisch-ursprünglich gestifteten Weltordnung still stellen wollen,7 sondern auch in den ›heißen‹ Kulturen, wo Veränderung als sinnträchtig gilt: Der durch sie mögliche Sinn vollzieht sich nicht einfach im Wandel der Zeit, sondern muss tätig vollbracht und kulturell erarbeitet werden.
3. Sinnbildung Sinn ist Inbegriff der Deutungsleistungen, die die Menschen im Vollzug ihres Lebens erbringen müssen, um ihre Welt und sich selbst im Zusammenhang mit Anderen verstehen und handelnd und leidend bewältigen zu können. Als eine solche Deutungsleistung konstituiert Sinn Kultur als einen eigenen Bereich des menschlichen Lebens neben anderen. Kultur ist Deutung, und Deutung ist immer bezogen auf etwas Anderes, auf Arbeit, auf Herrschaft, auf soziale Lebensumstände etc. Mit der Sinnkategorie gewinnt die Vorstellung von Kultur als Qualität der menschlichen Welt eine analytische Trennschärfe. ›Kultur‹ deckt nicht alles und jedes ab, was in und mit den Menschen geschieht, sondern ist eine Weise, eine Dimension dieses Geschehens, untrennbar und aufs engste verflochten mit anderen Weisen oder Dimensionen, mit Arbeit, Gesellschaft, Politik und mit der Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen. Die Frage nach der Zeit ist keine exklusiv kulturelle Frage. Zeit bestimmt auch Arbeit, zum Beispiel durch den Wechsel der Jahreszeiten, die die Möglichkeiten von Ernten festlegen, oder auch die Form politischer Herrschaft, die durch Geburt und Tod von Herrschern beeinflusst wird und natürlich durch Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen des menschlichen Daseins. Kultur besteht in der Deutung dieser Zeit. Sie muss gedeutet werden, damit die Menschen
7. Vgl. Müller, Klaus E., Die fünfte Dimension. Soziale Raum-, Zeit- und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999. 30
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mit dem, was mit ihnen durch diese Zeit geschieht, umgehen können. Zeit muss lebensermöglichenden Sinn gewinnen. Sinnbildung lässt sich begrifflich explizieren als ein komplexer Zusammenhang von vier mentalen Aktivitäten: Erfahren, Deuten, Orientieren und Motivieren. Zeit wird erfahren als Wechsel der Dinge und des Menschen; sie wird gedeutet in den Perspektiven von Erinnerung und Erwartung; mit und in diesen Perspektiven wird menschliches Leben durch Orientierung vollzogen; und diese Orientierung reicht in die Willensbestimmung des Handelns als Kraft der Motivation hinein. Bei der Orientierung kann (künstlich) zwischen zwei Dimensionen unterschieden werden, einer inneren, in der es um die menschliche Subjektivität, um ihre zeitliche Kohärenz zwischen Zukunft und Vergangenheit geht, und in eine äußere, in der die Umstände und Angelegenheiten des praktischen Lebens zeitbestimmt wirken und vor sich gehen. Die innere Dimension von Zeitorientierung wird zumeist mit der Kategorie der Identität bezeichnet und erschlossen. Identität meint in Bezug auf Zeit genau das Ausmaß von Kohärenz im zeitlichen Wandel des menschlichen Selbstverhältnisses, das die Menschen brauchen, um sinnbestimmt oder kulturell orientiert handeln zu können. Identität hält Selbsterfahrung und Selbstentwurf als Dauer des eigenen Ich oder Wir so zusammen, dass die Leidenserfahrung des Ausgeliefertseins, dass Kontingenz und Tod ausgehalten und zu einem Handeln überwunden werden können, das zugleich normativ motiviert und erfahrungsgestützt erfolgt. Mit dieser Identität werden Subjekte sozial situierbar. Sie grenzen sich mit ihren Kohärenzvorstellungen von anderen ab und gewinnen durch Zugehörigkeit soziale Signifikanz. Die mentalen Aktivitäten der Sinnbildung über Zeiterfahrung folgen einer Logik, die drei Elemente vorgängig synthetisiert: Erklären von Zusammenhängen, normative Ausrichtung des menschlichen Lebens auf Ziele, und Rückbeziehung von beidem auf Selbstverständigung der Subjekte über ihre Identität. Alle drei sind grundsätzlich durch Zeitbezüge bestimmt: Erfahrung vergangenen zeitlichen Wandels durch Erinnerung, Entwürfe von Zukunftsperspektiven durch Erwartung und Dauer des eigenen Selbst im Schnittfeld beider als lebendiger Gegenwart. Zeitsinn kann grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen konzipiert werden: Mimetisch durch Erhebung von Zeitordnung aus den erfahrenen Wandlungsprozessen der Welt oder konstruktiv als Leistung des menschlichen Bewusstseins im Umgang mit der Welt. Welt kann als kosmische Ordnung auf Bewusstsein abgebildet werden; dann ist der Sinn von Zeit für die Menschen immer schon objektiv gestiftet, und sie verhalten sich zu ihm hermeneutisch-vernehmend. Bewusstsein kann sich aber auch mit seinem Ordnungsvermögen auf die Welt abbilden; dann wird der Sinn der Zeit durch die Menschen immer wieder gestiftet, und sie verhalten sich zu ihm konstruktiv-bestimmend. 31
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Beides tritt häufig in Überschneidungen und Vermischungen auf, und es lässt sich eine universalhistorisch-übergreifende Veränderung des Zeitsinns vom Objektiven zum Subjektiven plausibel machen. Im Fokus von Sinnbildung als Kontingenzbewältigung gibt es ebenfalls zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten: Kontingenz kann in Vorstellungen wandlungsenthobener überzeitlicher, ewiger oder auch nur abstrakter Ordnungen zum Verschwinden gebracht werden. Das geschieht alltäglich durch Generierung von Erfahrungsregeln, deren sachverständiger (technisch instrumenteller) Gebrauch den Menschen zum Herren von Zeitverläufen macht. Jeder Versuch, diese Herrschaft zum dominierenden Sinnprinzip im Umgang mit Zeiterfahrungen zu machen, generiert freilich neue Kontingenzprobleme in der Form unbeabsichtigter Handlungsnebenfolgen, die sich grundsätzlich nicht beherrschen lassen. Das wirkungsmächtigste Paradigma dieser Kontingenzbeseitigung in einer universellen Zeitordnung der Welt ist die Newtonsche Physik. Kontingenz verschwindet in einer durchgängigen nomologischen Ordnung der Welt. Ihrer Erklärungsstärke steht eine normative Reduktion auf mathematisierende Rationalität gegenüber, und das menschliche Selbst verallgemeinert sich zur Vernunftnatur eines puren (unterschiedslosen) Ego cogito im Vollzug dieser Rationalität. Die andere Möglichkeit besteht darin, Kontingenz selber zum Sinnträger zu machen, sie als Ereignis mit Bedeutung zu versehen. Dann lässt sie sich nicht beherrschen, wohl aber lebensdienlich interpretieren. Dies geschieht zumeist durch Erzählen einer Geschichte. Hier wird Zeit als Ordnung von Ereignisketten entworfen, vergangenes Geschehen wird durch diese Ordnung erklärt. Sie hat stark normative Züge, die keine Prognosefähigkeit zielbestimmt entworfener Zukunft erlaubt. Zugleich konkretisiert sich das menschliche Subjekt zu einer Zeitgestalt, die andere als unterschiedene neben sich hat und kommunikativ auf sie bezogen ist. Auch diese beiden Möglichkeiten treten in vielfältigen Überschneidungen und Verflechtungen auf. Und auch hier gibt es eine universalhistorische Veränderungstendenz zugunsten zunehmender Kontingenz und Narrativität (auch im Umgang mit der Natur durch deren Historisierung; deren prägnantestes Beispiel ist die biologische Evolutionstheorie).
4. Typen von Zeitsinn Typen von Zeitsinn charakterisieren unterschiedliche Logiken der Sinnbildung über Zeiterfahrung, die sich klar voneinander unterscheiden lassen. In dieser Klarheit treten sie selten empirisch auf. Und eben
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darum sind sie geeignet, empirische Befunde analytisch-begrifflich zu entschlüsseln. Im Folgenden werden einige Typen besonders wirkungsmächtiger Zeitdeutungen aufgelistet. Einer der ältesten und verbreitetsten Typen der Sinnbildung über Zeiterfahrung stellt der Mythos dar. Zeit gewinnt ihren Sinn vom ›Anfang‹ her, vom Ursprung aller Dinge (Arché). Das, was im Zeitverlauf der Welt gegenwärtig geschieht, lässt sich von seinem Ur-Anfang her deuten und verstehen. Hier wird klar zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterschieden: Die ›Vergangenheit‹ des Ursprungs ist in ihrer Sinnträchtigkeit der Gegenwart und der lebenspraktisch erinnerten Vergangenheit und der pragmatisch aus dieser Erinnerung entworfenen Zukunft schlechthin übergeordnet, ihnen normativ verbindlich vorgeordnet. Eigentlich ist die Vergangenheit des Ursprungs überhaupt nicht vergangen, sondern ständig als Sinnquelle gegenwärtig und wirksam. Die Menschen versichern sich dieser Wirksamkeit, indem sie diesen Anfang rituell wiederholen und damit ihre gegenwärtige Wirklichkeit mit Sinn aufladen. Damit machen sie ihre gegenwärtigen Lebensverhältnisse zukunftsfähig. Zukunft ist gegenüber dieser sinnträchtigen Vergangenheit keine eigene abgehobene Kategorie; sie liegt im Ursprung bereits vollständig beschlossen. Eine Verbindung zwischen dieser sinnträchtigen Ur-Zeit und der pragmatischen Lebenszeit stellt die Genealogie dar. Herrschaftsansprüche werden durch Verlängerung der eigenen Geschlechterfolge in die mythische Zeit hinein legitimiert. Ähnliches gilt für die Konzeption von Zugehörigkeit durch Abstammung von Ur-Ahnen oder legendären Gründerfiguren. Vom mythischen Zeitsinn lässt sich der mystische unterscheiden. Hier geht es nicht um Ursprung, sondern um eine Sinndimension des zeitenthobenen Augenblicks, in den hinein die drei Zeitdimensionen zusammenfallen. Zeit wird gleichsam vom Augenblick verzehrt, der sich in eine schlechthin überwältigende, alles umgreifende Gegenwart ausdehnt. In formaler Hinsicht hat der mystische Zeitsinn mit der traumatischen Zerstörung lebenspraktisch wirksamer Sinnkriterien der kulturellen Daseinsorientierung viel gemeinsam: Sinn wird als Überwältigung und radikale Überbietung bzw. Zerstörung der im praktischen Lebensvollzug wirksamen und reflektierten Sinnformationen erfahren und ausgelegt. Daher stellt die Vermittlung dieses Sinns mit der Lebenspraxis ein Dauerproblem dar: Die Welt verliert sich in der unio mystica, wird in ihr wesenlos und damit zur permanenten Aufgabe einer erneuten Be-Sinnung. Eng mit dem mystischen Zeitsinn ist der kontemplative verwandt. Er spielt eine zentrale Rolle in zahlreichen religiösen Praktiken, die darauf zielen, sich über die Zwänge der Zeit des Alltags zu erheben. Es geht darum, sich so vom Alltag zu lösen, dass sich das eigene Selbst
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in einer relativen Unabhängigkeit von ihm als eine Instanz der WeltBetrachtung gewinnen kann, von der her sich allererst ein tragfähiger Lebenssinn gewinnen lässt. Historischer Sinn hat seine Eigenart darin, dass sich das ereignishafte Geschehen in der Welt selber – im Zeithorizont der Erinnerung und aktuellen Wahrnehmung – als sinnträchtig erweist oder so angesehen wird. Sinn wird zur Angelegenheit einer Deutung innerweltlicher Ereignisketten. Diese Deutung kann ihrerseits in höchst unterschiedlichen, typologisch aufschlüsselbaren Formen erfolgen. Hierhin gehören die verschiedenen Typen der Geschichtsschreibung: Hayden Whites Unterscheidung der rhetorischen Tropen Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie,8 Nietzsches Unterscheidung von antiquarischem, monumentalischem und kritischem Umgang mit der Vergangenheit9 und Rüsens Typologie der traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Sinnbildung.10 Chun-Chieh Huang hat zur Aufschlüsselung der Zeitdimensionierung des historischen Denkens folgende einleuchtende Kategorisierung vorgeschlagen: (a) die Zeit eines konkreten Ereignisses (chronologisch), (b) der Zeitkörper des historischen Zusammenhangs, in dem ein Ereignis seine historische Bedeutung gewinnt, (c) und die ›Überzeit‹ des Sinnes, der in Verbindung mit der Ereigniszeit Geschichtszeit konstituiert.11 Zum historischen Sinn gehört aber mehr: die ganze Fülle verschiedener Sinnbezüge, die innerweltliches Geschehen in seinen zeitlichen Zusammenhängen aufweist. Ich liste davon im Folgenden die wichtigsten auf: epochaler Zeitsinn, Kairos und verschiedene heilsgeschichtliche Sinntypen (typologischer, eschatologischer, apokalyptischer) und ihre säkularen Modifikationen. Innerhalb der historischen Sinnhaftigkeit von Zeit lassen sich untergeordnete Sinnqualitäten ausmachen und beschreiben, so zum Beispiel ein epochaler Zeitsinn. Er ergibt sich aus der Einteilung des Geschichtsverlaufs in einzelne Abschnitte und die Zuordnung der ei-
8. White, Hayden, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore 1973, Introduction (deutsch: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1992). 9. Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen, zweites Stück), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 1, München 1988, S. 243-334. 10. Rüsen, Jörn, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt am Main 1990, S. 153-230. 11. ›Time‹ and ›Supertime‹ in Chinese Historical Thinking, demnächst in: Chun-chieh Huang/John B. Henderson (Hrsg.), Notions of Time in Chinese Historical Thinking, Taipei (National Taiwan University) 34
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genen Zeit in einen solchen Abschnitt. In älteren Formen des historischen Denkens wird z.B. die jeweilige Gegenwart zumeist als letzte Epoche eines langfristigen Zusammenhangs verstanden und gedeutet, so etwa bei Hesiod, Augustinus, Tabari. Es gibt eine sinnträchtige Rückvermittlung innerweltlicher Ereignishaftigkeit mit einer metahistorischen Dimension von Sinn, in der sich Vergangenheit und Zukunft auf eigentümliche Weise in die Gegenwart hinein verschränken: die Vorstellung des Kairos als sinnträchtigen besonderen Augenblicks, des Augenblicks, in dem sich ›die Zeit erfüllt‹. Im Kairos lädt sich gegenwärtiges innerweltliches Geschehen mit einem Sinn auf, der als Erfüllung von Vergangenheit und vorweggenommene Zukunft erfahren, gedeutet und auch durch die jeweiligen Akteure bewusst so vollzogen wird. Im Kairos verwirklichen sich die Erwartungen der Menschen in der Vergangenheit so, dass sie zugleich auch die Verwirklichung zukünftiger Erwartungen darstellen. In ihm schließen sich die Generationsketten der Vergangenheit und der Zukunft so zusammen, dass die projektiven, werthaft aufgeladenen Handlungsentwürfe in beiden Dimensionen sich im Hier und Jetzt dieser Gegenwart immer schon erfüllt haben. (Jahrhundertelang haben die Menschen gehofft, jetzt aber ist es geschehen, und auch in aller Zukunft wird dieses Geschehen die Hoffnungen beflügeln.) Revolutionäres Handeln lädt sich oft mit dem Sinnpotenzial einer solchen Gegenwartsdeutung als Kairos auf: Was hier und jetzt geschieht, das geschieht im Namen der vergangenen Geschlechter und stellvertretend auch für die zukünftigen. Das Paradigma eines Kairos ist in der abendländischen Kultur die Urgeschichte des Christentums: »Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist genaht …« (Markus 1, 15) Aber auch in anderen Kulturen gibt es das Sinnkonzept des Kairos. Es dürfte beispielsweise im »großen Anfang« 104 v. Chr., als ein neuer Kalender eingeführt und grundlegende Reformen in der rituellen Sinnvergewisserung vorgenommen wurden, wirksam gewesen sein. Solche ›großen Augenblicke‹ spielen dann in der historischen Erinnerung eine hervorragende Rolle als Vergewisserung der Zukunftsfähigkeit traditional vorgegebener Lebensformen, als Quelle der Erneuerung und Wiedergewinnung von Zeitordnungen, durch die und in denen eingerissene Missstände beseitigt werden können.12
12. Zum Kairos sei generell auf die Arbeiten von Paul Tillich verwiesen: Tillich, Paul, Writings in the Philosophy of Religion, Religionsphilosophische Schriften, hrsg. v. John Clayton, Darmstadt 1987, S. 53-73, 171-182, 327-342. Zum chinesischen Beispiel vgl. Loewe, Michael, Crisis and Conflict in Han China (104 BC to AD 9), London 1974, S. 17-36 (»The Grand Beginning-104 BC«). (Ich danke Achim Mittag für die Hinweise auf chinesische Beispiele.) 35
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Die bisher beschriebenen Typen sind positive Sinnbildungen: Sie laden Vorstellungen von Zeitordnungen mit einer Synthese von empirischer Triftigkeit und normativer Geltung auf. Deutender Umgang mit Zeit kann aber immer auch als kritische Distanzierung, Abweisung und Verwerfung vollzogen werden. Dann wird kulturell vorgegebener Sinn als Bürde und Last angesehen, die abgeworfen werden oder in lebensdienlichere Ordnungsvorstellungen hinein verändert werden müssen und können. Diese Kritik ist ein Lebenselement jeder Zeitdeutung. Mit ihr wird der Wandel der Zeit im Medium der Sinnbildung über ihn mit vollzogen und daher zur Angelegenheit seiner geistigen Bewältigung. Einen eigenen Großtyp stellen heilsgeschichtliche Sinnkonzepte dar. Im Unterschied zu mythischen, mystischen und kontemplativen Sinnkonzepten werden hier historische Ereignisse (also innerweltliche Geschehnisse) in Bezug auf religiöses Heil gedeutet, und dieses Heil gewinnt dabei selber den Charakter eines innerweltlichen Geschehens. Heil kann dabei entweder die Bewahrung der Weltordnung oder die Erlösung von ihr bedeuten (die erstere ist älter als die andere). Zur bewahrenden Zeitordnung heilsgeschichtlicher Art gehört die Vorstellung, dass die Welt grundsätzlich (also auch in ihren Zeitverläufen) wohlgeordnet ist, solange der Herrscher legitim regiert. Mit dem Tod des Herrschers ist diese Weltordnung gefährdet, und daher werden z.B. im alten Ägypten Rituale des Weltuntergangs und der Welterneuerung vollzogen, wenn ein Pharao stirbt und ein neuer Pharao die Regierung antritt. In Shakespeares Macbeth wird drastisch vorgeführt, dass und wie die Welt in Unordnung gerät, wenn der für ihre Ordnung stehende ›good old king‹ ermordet wird. Eine innere Spannung kommt in die Vorstellung der heilsgeschichtlichen Zeitordnung dadurch hinein, dass verschiedene Zeiten unterschieden und mit unterschiedlichen Graden der Heilsträchtigkeit aufeinander bezogen werden. Dafür steht die ›typologische‹ Zeitdeutung des europäischen Mittelalters:13 Zeitliche Ereignisse haben hier eine Bedeutung, die über die eigene Zeit hinaus in eine andere verweist. Dafür steht die ältere christliche Hermeneutik: Alle Geschehnisse des Alten Testamentes haben den Sinn des Vorausweisens auf die Heilsgeschichte des Neuen. Das Mittelalter hat es bei dieser Doppelheit des Sinns nicht gelassen, sondern ihn in eine vierfache Bedeutung überschritten: Die historischen Ereignisse haben zunächst ihre Bedeutung im Geschehenszusammenhang ihrer eigenen Zeit. Dort sind sie
13. Auerbach, Erich, Figura, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967, S. 55-92; Kölmel, Wilhelm, Typik und Atypik. Zum Geschichtsbild der kirchenpolitischen Publizistik (11.-14. Jahrhundert), in: Speculum Historiale. Festschrift Johannes Spörl, München 1965, S. 277-302. 36
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gleichsam ›säkular-historisch‹ geordnet. Diese Ordnung aber verweist über sich hinaus auf eine heilsgeschichtliche Ordnung, auf einen höheren Sinn. Er besagt, dass das, was geschah, sich eigentlich erst in anderen (späteren) Geschehnissen der Heilsgeschichte erfüllt. Die eine Zeit verhält sich zur anderen wie die Erfüllung zu einem Versprechen. Zugleich stehen die historischen Geschehnisse als Exempla für allgemeine Handlungsregeln, sie haben eine exemplarisch-moralische Bedeutung. Schließlich verweisen sie über alle Zeit hinaus auf die Endzeit jenseits des historischen Geschehens überhaupt. Dieser Sinn wäre dann eschatologisch. Der eschatologische Sinn bildet einen eigenen Typ. Hier ergibt sich der Sinn der Zeit vom Ende der Welt her. Der Zeitsinn des Endes der Zeit wird auf das innerweltliche Geschehen so bezogen, dass dieses von ihm her einen eigenen Sinn erhält, zumeist einen positiven, so dass sich in dem Geschehen vor dem Ende der Zeit dessen Sinn vollzieht. Dieser Vollzug kann unterschiedlich bestimmt werden als Erfüllung, Fortsetzung, Steigerung. Im Typ des positiven eschatologischen Zeitsinns nähert sich die Zeit dem Ende als Erfüllung. Hierhin gehört der Chiliasmus und die Vorstellungen des kommenden Welterlösers (der Buddha Maitreya, der Mahdi, der Messias). Es gibt aber auch einen negativen eschatologischen Zeitsinn. In diesem Falle bedeutet fortschreitende Zeit fortschreitenden Sinnverlust. Diese Eschatologie ist mit der mythischen Prämiierung des Anfangs als Ursprung verbunden. Zu diesem Typ negativen eschatologischen Zeitsinns gehört Hesiods Weltalterlehre, aber auch die buddhistische Zeitvorstellung im mittelalterlichen Ostasien, in säkularer Weise auch der katastrophische Sinn der Geschichte in der Geschichtsphilosophie von Walter Benjamin, wo der Weltverlauf als wachsender Trümmerhaufen metaphorisch gedeutet wird.14 Schließlich gibt es noch einen rekursiven eschatologischen Zeitsinn. In ihm wird das sinnträchtige Ende zum Anfang einer neuen Zeit. Der apokalyptische Zeitsinn besteht darin, dass das Eschaton von der vorhergehenden ›historischen Zeit‹ radikal getrennt wird. Das Ende der Welt wird dem vorherigen Geschehen entgegengesetzt, so dass die reale innerweltliche Geschehniszeit der Geschichte gegenüber dem erwarteten Ende bedeutungslos wird. Konstitutiv für diese Sinnvorstellung ist der Bruch zwischen zwei Zeitverläufen. Zwischen ihnen gibt es einen ›Nullpunkt‹ oder ein Vakuum, in das hinein dann die göttlichen Mächte handeln. Menschliche Geschichte und göttliche Geschichte können auch zeitlich gegeneinander gesetzt werden (wobei
14. Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1991, S. 691-704, bes. S. 697. 37
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dann die Frage nach einer übergreifenden sinnträchtigen Zeitvorstellung offen bleibt). Die Auserwählten gehen dann von der einen in die andere Zeit; diese letztere transzendiert die erstere. Solche apokalyptischen Sinnkonzepte dienen dazu, die irdische Zeit zu deuten. Dabei herrscht eine hermeneutische Dialektik von Verbergen und Offenbaren vor; denn eigentlich ist der Sinn der Zeit nur indirekt erschließbar. Er steht als Widersinn der innerweltlichen ›empirischen‹ Geschichte entgegen und muss aus dieser herausgeheimnist werden. In diesen Zusammenhang gehört die Vorstellung, dass man bewusst die gegenwärtigen Lebensverhältnisse umstürzen und zerstören muss, damit das Neue eintreten kann. Dafür stehen beispielsweise die Figur des Sabbatai Zwi15 oder die Offenbarung der Nunqawuse in Südafrika mit ihrer erschütternden Folge der Selbstzerstörung der Xhosa16. Vom historischen Zeitsinn lässt sich der utopische unterscheiden. Mit ihm wird Zeit zu einer Differenzbestimmung, die einen wünschbaren (oder im Falle von Dystopieen einen befürchteten) Zustand scharf gegen den gegenwärtigen abhebt. Im Unterschied zur historisch gedeuteten Zeit geht es nicht um eine sinnträchtige Verbindung verschiedener Zeiten, sondern um ihre Entgegensetzung. Aus ihr lassen sich scharfe Konturen der Kritik gegenwärtiger Verhältnisse gewinnen. Ein ganz anderer Zeitsinn liegt den Versuchen und Praktiken zugrunde, Zeitverläufe zu beherrschen. Hier handelt es sich um einen instrumentellen oder strategischen Zeitsinn. Er bestimmt die Vorstellungen der Gesetzmäßigkeit historischer Verläufe, deren Kenntnis zur ideologischen Anleitung und vor allem zur Rechtfertigung politischen Handelns verwendet wird. Dabei kommen katastrophische Ergebnisse heraus. Beherrschbarkeit der Zeit ist aber keine neuzeitliche Erfindung, sondern so alt wie die Menschheit selber: Immer wieder ist versucht worden, zeitliche Geschehnisse so zu deuten, dass die Zukunft vorausgesagt und entsprechend gehandelt werden kann. Dazu gehört auch der Typ eines zahlenspekulativen Zeitsinns: Hier dient die Chronologie im Deutungsmuster sinnträchtiger Zahlenrelationen dazu, Zeitverläufe auf durchgängige Gesetzmäßigkeiten hin durchsichtig zu machen und zu entschlüsseln. Das Wissen um diese Gesetzmäßigkeiten dient dann zur Bewältigung von Alltagsproblemen, aber auch von Problemen der politischen Strategie. Die Astrologie ist ein anderes verbreitetes Beispiel. Einen eigenen Bereich von Zeitdeutung mit eigenen Typen stellt
15. Vgl. Scholem, Gershom, Sabbatai Sevi: The Mystical Messiah, Princeton 1973. 16. Peires, J. B., The Dead Will Arise. Nonqawuse and the Great Xhosa CattleKilling Movement of 1856-57, Johannesburg 1989. 38
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die Kunst dar.17 Sie löst sich vom Erfahrungsbezug des Historischen und bildet Sinn durch ein Spiel der Einbildungskraft, das den Zwängen praktischer Lebensführung ebenso enthoben ist wie den Regeln ihrer theoretischen Orientierung (Fiktionalisierung). Die Kunst hebt erfahrene Zeit in den Schein einer anderen auf, um in ihm Sinnpotenziale als Chancen freier Subjektivität im Umgang mit realen Zeitverläufen hermeneutisch, kritisch oder utopisch erscheinen zu lassen. Ästhetischer Sinn kann funktional zu anderen Sinnbildungstypen gebildet werden; dann dient er der Veranschaulichung, der Beschwörung, der Illustration, der Verdichtung, der Hervorhebung ihm vorgegebener Sinndimensionen und Gestaltungen. Freilich tendiert er immer über seinen bloß funktionalen Stellenwert im kulturellen Orientierungsgefüge des menschlichen Lebens hinaus. Er kann autonom werden und entfaltet sich in der Fülle von Kunstwerken mit exklusiv ästhetischem Sinn und seiner spezifischen Rezeption und Kommunikation. Im Modus der ästhetischen Erfahrung werden die Zeitverhältnisse der Lebenspraxis aufgehoben in eine andere Zeit: in den Augenblick einer Erfahrung von Sinnhaftigkeit. Diese Erfahrung kann nur durch eine solche Unterscheidung gewonnen und als Stimulans der Lebensführung wirksam werden. Insbesondere dann, wenn die religiösen Sinnpotenziale entzaubert werden, übernimmt die Kunst eine Platzhalter- oder Stellvertreterfunktion der Imprägnierung von Zeiterfahrung mit Freiheitsspielräumen menschlicher Selbstentfaltung. In ihrer modernen Form verweist die Kunst über den Bereich der sinnlichen Anschauung hinaus auf eine meta-ästhetische Orientierung menschlicher Subjektivität, in der einzig noch Sinn vermutet werden kann. Im Gegenzug zu dieser negativen Sinnbildung versucht die Postmoderne, in Enttäuschung über den ausgebliebenen Sinn der Modernisierung, politische und soziale Wirklichkeit fundamental zu ästhetisieren, um sie erträglich zu machen. Der Preis dieser Ästhetisierung ist hoch: ein erheblicher Zeiterfahrungsverlust und eine Entpolitisierung und Enthistorisierung kultureller Zeitorientierungen. Eine neue und geschichtstheoretisch noch wenig analysierte Kategorie des Zeitsinns ist die der Nachhaltigkeit. Hier werden Elemente der Dauer im beschleunigten Wandel der Neuzeit als Bedingung der Möglichkeit dafür gedeutet, dass in diesem beschleunigten Wandel der Mensch im Verhältnis zu den natürlichen Ressourcen seiner Welt lebensfähig bleibt. Der Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit kann freilich auch auf andere Faktoren der menschlichen Lebensführung als die des Gebrauchs natürlicher Ressourcen zur Geltung gebracht werden: Dann ginge es um ein neues Verständnis traditionaler Zeitorientierung im
17. Vgl. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1, Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1977. 39
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Blick auf die Wandlungsprozesse der Gegenwart, die durch Traditionen nicht stillgestellt, sondern erträglich und lebbar gemacht werden sollen.18
5. Modi des Zeitsinns Zeitsinn ist nicht nur eine Angelegenheit aktiver Deutungsleistungen des menschlichen Bewusstseins. Er ist immer schon als Handlungsvorgabe in die Gegebenheiten und Umstände der menschlichen Lebenspraxis eingelagert und dort wirksam. Allerdings sind die objektiven Sinnvorgaben der menschlichen Lebenspraxis nicht so geartet, dass ihnen einfach gefolgt werden könnte. Sicher verlaufen viele menschliche Handlungen und kommunikative Akte in Deutungsmustern der Akteure ab, deren sie sich nicht bewusst sind. Sie folgen ihnen einfach, weil sie als selbstverständlich gelten und mit dieser Selbstverständlichkeit auch höchst wirksam sind. Grundsätzlich aber ist Sinn prekär, vor allem deshalb, weil er durch stetige Kontigenzerfahrungen herausgefordert wird. Dem Menschen strömen eben permanent Erfahrungen zu, die er durch Deutungsleistungen verarbeiten muss (sei es bewusst und reflexiv, sei es unbewusst). In idealtypischer Zuspitzung lassen sich also zwei Gegebenheiten oder praktische Vollzugsweisen der sinnhaften Orientierung der menschlichen Lebenspraxis unterscheiden: die fungierende und die reflexive. In der fungierenden folgt das Leiden und Handeln der Menschen kulturellen Sinnvorgaben, die ihm gar nicht bewusst zu sein brauchen und mit denen er sich auch nicht in der Form expliziter Deutungsleistungen beschäftigen muss, um mit ihnen zurecht zu kommen. Sitten und Gebräuche sind dafür die besten Beispiele. Man tut eben dies und lässt jenes, und solche Verhaltensnormen wirken oft mit der puren Kraft ihrer schlichten Gegebenheit und Selbstverständlichkeit. Sie werden daher auch intergenerationell nicht immer und regelmäßig durch eigene Erziehungspraktiken auf Dauer gestellt, sondern schlicht mimetisch angeeignet. Reflexiv wird die Deutungsleistung des menschlichen Bewusstseins immer dann, wenn solche Vorgaben in Frage gestellt werden. Das kann durch Erfahrungen geschehen, die nicht unmittelbar mit ihnen kompatibel erscheinen, sondern erst durch eine explizite Deutungsleistung kompatibel gemacht werden müssen; es kann aber auch durch veränderte Einstellungen der Subjekte erfolgen, denen das, was lange Zeit plausibel war, nicht mehr einleuchten will.
18. Vgl. Assmann, Aleida, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 15), Köln 1999. 40
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Zwischen diesen beiden Vollzugs- und Wirkungsmodi kultureller Deutungen vermittelt eine dritte Weise ihres Vollzuges: die operative. Mit ihm wird reflektierter Sinn in Lebenspraxis umgesetzt und mit den dort als selbstverständlich wirksamen Deutungen vermittelt.19 Es ist üblich geworden, kulturelle Deutungsmuster der menschlichen Lebenspraxis als ›Erfindung‹ oder ›Konstruktion‹ anzusehen. In dieser Sichtweise engt sich der Blick auf die reflexive Ebene der Kultur ein. Vor aller ›Erfindung‹ oder ›Konstruktion‹ sind die Menschen aber immer schon ›erfunden‹ oder ›konstruiert‹. Sie werden in kulturelle Umstände hineingeboren und eignen sie sich an, noch bevor sie zur eigenen Deutungsarbeit fähig sind. Vieles wird ihnen dabei so selbstverständlich, dass es ihrer Aufmerksamkeit entgeht oder als nicht weiter thematisierbar angesehen und in Kraft gehalten wird. In der zeitlichen Organisation des menschlichen Lebens sind solche ›objektiven‹ Vorgaben in Tiefenschichten der anthropologischen Verfassung der menschlichen Zeitlichkeit verankert. Geburt und Tod, Wachen und Schlafen, die körperlichen Reifungsprozesse und die naturalen Zeitverläufe von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, des Sternenlaufs und vieles andere werden als immer schon sinnhaft erfahren, und diese Sinnhaftigkeit wird auch lebenspraktisch dauernd vollzogen. Hinzu kommen Deutungsmuster, die tief in die Lebensumstände eingelagert sind, so dass sie für die Betroffenen als zweite Natur erscheinen und wirken: z.B. die mentale Verlängerung der eigenen Lebensspanne über die Grenzen von Geburt und Tod hinaus. Die hierfür maßgeblichen Geschichten sind Teil sozialer Realität.20 Kulturelle Regulative der zeitlichen Organisation des menschlichen Lebens können einen solchen Zwangscharakter annehmen, dass die Betroffenen es sich nicht vorstellen können, sie zu ändern. Sie zweifeln dann eher an sich selbst, an ihrer eigenen Subjektivität, als an diesen objektiven Vorgaben. Demgegenüber wird der Sinn der Zeit auf der reflexiven Ebene den kulturellen Praktiken der menschlichen Subjektivität überantwortet: Zeitsinn wird verhandelbar, kritisiert, verändert, umgedeutet. Um ihn wird gestritten und gekämpft. Es gibt Spezialisten, deren Deu-
19. Ich folge der Unterscheidung von drei Ebenen der Mimesis bei Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 1, Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 90ff. 20. Das hat David Carr in zahlreichen Arbeiten betont. Carr, David, Narrative and the Real World: An Argument for Continuity, in: History and Theory 25, 1986, S. 117-131; ders., Phenomenology and historical knowledge, in: Ernst Wolfgang Orth/ Chan-Fai Cheung (Hrsg.), Phenomenology of interculturality and life-world (Phänomenologische Forschungen, Sonderband), Freiburg 1998, S. 112-130; ders., Time, narrative and history. Studies in phenomenology and existential philosophy, Bloomington 1986, 2. Aufl. 1991. 41
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tungskompetenz nachgefragt wird und damit zum ökonomischen Faktor des Haushalts einer Gesellschaft wird, so z.B. Astrologen zur Festlegung günstiger Zeiten für bestimmte Handlungen, Historiker für nationalpolitische Aufgaben kollektiver Identitätsbildung etc. Dieser reflexive Modus folgt zwingend daraus, dass die fungierenden Sinnvorgaben der menschlichen Lebenspraxis grundsätzlich zur Orientierung nicht hinreichen, sondern immer wieder als prekär erscheinen, strittig und dem Machtkampf um Herrschaftspositionen und sozialer Anerkennung ausgesetzt sind. Sie fordern von sich aus zu reflexiven Deutungsleistungen auf. Der prekäre Status ihrer objektiven Vorgabe fordert die mentalen Kräfte kultureller Praktiken der Welt- und Selbstdeutung im Umgang mit Zeit heraus. Im operativen Modus der Zeitdeutung werden solche reflexiven Praktiken in die deutungsbedürftigen Lebensvollzüge hinein vermittelt. Ein faszinierendes Paradigma solcher Vermittlung ist die Rolle des Hofhistorikers im chinesischen Kaiserreich. Von ihm wird gesagt, er sitze neben dem Kaiser und liefere ihm die historischen Muster des aktuellen politischen Handelns. Noch in jüngster Zeit ließ sich beobachten, dass chinesische Staatsaffären nach alten historiographischen Mustern ablaufen.21 Im Erfahrungshorizont westlicher Berufshistoriker sieht es normalerweise bescheidener aus. Da wirken sie in Kommissionen mit, die über Denkmalspflege, die Gestaltung von Gedenkstätten, die Ausarbeitung von Richtlinien des Geschichtsunterrichts und Ähnliches entscheiden. Aber es kommt auch vor, dass Historiker um Rat gefragt werden, wenn es darum geht, eine überraschend neue politische Situation von weitreichender Bedeutung einzuschätzen. So hat die deutsche Wiedervereinigung bei vielen Regierungen zu erheblichem Deutungsbedarf geführt, der ohne die Fachleute für deutsche Geschichte nicht abzudecken war. (Bekannt ist das Beispiel der damaligen britischen Premierministerin Margret Thatcher, die eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Historikern zu sich eingeladen hatte, um sich darüber informieren zu lassen, was von den Deutschen zu halten sei.) Auf der operativen Ebene der Zeitdeutung gewinnen die Konstrukte reflexiver Deutungspraktiken praktische Geltung. Die theoretische Geltung expliziter Sinnkonzepte der menschlichen Zeitlichkeit wird praktisch, und damit gewinnen die Deutungsmuster einen ande-
21. Weigelin-Schwiedrzik, Susanne, Der erste Kaiser von China und das Problem des Rezitivs in der Historiographie der VR China, in: Heidelberger Jahrbücher 40, 1996, S. 120-146; dies., Der Erste Kaiser und Mao Zedong. Bemerkungen zu Politik und Geschichtsschreibung in der Volksrepublik am Beispiel der siebziger Jahre, in: L. Ledderose/A. Schlombs (Hrsg.), Jenseits der Großen Mauer. Der Erste Kaiser von China und seine Terrakotta-Armee [Ausstellungskatalog], Gütersloh, München 1990, S. 98-106. 42
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ren Status als im Diskurs ihrer Reflexion. (Natürlich gehen die beiden Modi immer ineinander über, und die objektive oder empirische Geltung kulturell wirksamer Zeitdeutungen spielt ebenfalls immer mit.) Betrachtet man das Verhältnis dieser drei Ebenen zueinander, dann wird eine eigentümliche innere Zeitlichkeit der Zeitdeutung selber sichtbar, die durch keine Deutungsleistung eingeholt oder überholt werden kann. Die objektiven Deutungsvorgaben treiben zur subjektiven Konstruktion von Zeitsinn, der dann seinerseits wieder in den lebenspraktischen Vollzug operativ vermittelt wird. In ihm verändern sich die reflexiv vollzogenen Deutungen in einer Weise, die reflexiv nicht vorherbestimmt und systematisch in Rechnung gestellt werden kann. Weder entscheiden die Vorgaben über die Reflexion, noch diese über die praktische Wirkung der verhandelten Deutungsmuster. Zeitdeutung geschieht also in einer eigenen inneren Zeitlichkeit, in einer Dynamik, die sie in sich selbst, in der Logik ihres Vollzuges, zeitlich macht, also einem historischen Prozess überantwortet, der aller Sinnbildung voraus- und über alle Sinnbildung hinausgeht. Bezogen auf das historische Denken kann man von einer unvordenklichen Geschichtszeit sprechen, in der dieses Denken sich selber vollzieht und deren es sinnbildend nicht mächtig ist. Geschichte ist erzählte Zeit, Zeit des Erzählens und sich selbst erzählende Zeit als innere Einheit im menschlichen Lebensprozess.
6. Ansätze einer historischen Theorie der Zeit Das heißt nun freilich nicht, dass diese geschichtliche Erstreckung der Zeitdeutung nicht selber gedeutet werden müsste. Im Gegenteil: Ihr eigenes Werden und Vergehen stellt eine Herausforderung an den Menschen dar, auch diese Zeit im Sinn der Zeit zu deuten. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen: anthropologisch, historisch und theoretisch. Eine anthropologische Deutung expliziert die im vorigen Abschnitt dargelegte Geschichtlichkeit im inneren Zusammenhang der drei Modi der Sinnbildung über Zeit. Die Zeitlichkeit der Zeitdeutung kann als allgemeines, kultur- und zeitübergreifendes Grundmuster menschlicher Weltbewältigung und Selbstverständigung dargelegt und an der Fülle unterschiedlicher Phänomenbestände kulturanthropologisch aufgewiesen und ausgelegt werden. Historisch wird eine solche Deutung dann, wenn einzelne Veränderungen in den Blick genommen und als Sinngeschehen gedeutet werden. Eine solche einzelne historische Entwicklung stellt z.B. die Veränderung heilsgeschichtlichen Denkens dar, in dem das Heil des Menschen nicht mehr von der Bewahrung einer den irdischen Angelegenheiten eingelagerten kosmischen Zeitordnung abhängig gemacht 43
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wird. Vielmehr richtet sie sich gegen die weltlichen Ordnungen auf ein Jenseits und gewinnt von ihm her ein ganz anderes Verhältnis zu den innerweltlichen Geschehnissen und aktuellen Lebensumständen. Ist einmal eine solche Jenseitsdimension von Zeitsinn (eschatologisch, utopisch, apokalyptisch, aber auch mystisch) erschlossen, dann lässt sich der Sinn der Zeit nicht mehr ausschließlich in der Welt halten. Anders ausgedrückt: Die Weltzeit erhält ein neues Unruhepotenzial, eine dynamische Bewegung, deren vorläufiges Ende die Beschleunigungsprozesse sich modernisierender Gesellschaften darstellen.22 Solche historischen Veränderungen sind zeit- und kulturspezifisch. Auch sie lassen sich typisieren. Als Beispiele solcher Typen lassen sich aufzählen: Erfahrungszuwachs, Komplexitätserhöhung bzw. -reduktion, Reflexivwerden von Deutungsmustern, Universalisierung konstitutiver Normen, Repartikularisierung, Säkularisierung, Verwissenschaftlichung, Verzeitlichung, Transformation von Sinnbildungstypen etc. Zu einer theoretischen Zeitdeutung führt die Frage, ob es zeitund kulturdifferenzübergreifende Veränderungen der Zeitdeutung gibt. Die Zeit für solche universalistischen, zugleich anthropologisch universell und historisch spezifischen theoretischen Deutungen zeitlicher Veränderungen im menschlichen Umgang mit der Zeit ist schlecht.23 Es hat sie in den großen Meistererzählungen immer gegeben, in denen sich die Autoren und Adressaten solcher Deutungen ihres einzigartigen Status im historischen Geschehen der Welt versichert und ihre Sinnkonzepte der Zeit als Vollendung von deren geschichtlicher Entwicklung angesehen haben. Der ideologische Status solcher Deutungsstrategien und der in ihnen vorherrschenden Denkmuster sind offensichtlich geworden. Diese Deutungsmuster universalistischer Meistererzählungen können nur um den Preis eines Erfahrungsverzichts im Blick auf die Fülle kultureller Divergenzen aufrechterhalten werden. An seine Stelle ist ein Kulturalismus von Deutungen gerückt, der die Fülle historischer Unterschiede für die einzige Bestimmung anthropologischer Universalität sich verändernder menschlicher Zeitdeutungen hält. Das aber wird der Erfahrungsfülle nur um den Preis gerecht, die Geltungsfrage nicht mehr stellen zu können. Sie muss aber insofern immer gestellt werden und ist unumgänglich, weil die infragestehende historische Deutung von Zeitdeutungen zu diesen selber gehört, von ihnen also gar nicht mit welchem ethnologischen Blick auch immer ab-
22. Vgl. hierzu die klassisch gewordene Darstellung von Löwith, Karl, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Heilsgeschichte, Stuttgart 1953. 23. Vgl. aber Dux, Günter, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik von Mythos zur Weltzeit, Frankfurt am Main 1989. 44
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gekoppelt werden kann. Im diskursiven Zusammenhang der kulturellen Vielfalt lassen sich Geltungsansprüche weder eliminieren noch mit einer abstrakten Gleichwertigkeitsfloskel verabschieden. Dies ist natürlich kein Plädoyer für die Wiederkehr der alten kulturgeschichtlichen Meistererzählungen. Wohl aber sollten empirische Befunde aufgelistet und kulturübergreifend gedeutet werden, in denen sich Richtungsbestimmungen in den zeitlichen Veränderungen von Zeitdeutungen ausmachen lassen. Und dazu gibt es genügend Hinweise. Schon die Reflexion der eigenen Deutungsarbeit im Umgang mit kultureller Sinnbildung kann einen übergreifenden Gesichtspunkt ergeben: Der teleologische Bezug, der die älteren Meistererzählungen kultureller Selbstbestimmung auszeichnete, ist obsolet geworden. Und damit ist eine erste, zwar abstrakte, aber durchaus erfahrungserschließende Zeitdimension eröffnet, in der der historische Wandel der Zeitdeutung verortet werden kann: die Verwandlung teleologischer in rekonstruktive Deutungen. Die Unterscheidung von Teleologie und Rekonstruktion hat den großen Vorteil, zugleich systematisch und genetisch zu sein. Sie stellt einen entscheidenden Schritt zu einer dezidiert historischen Theorie der Zeit dar.24 Der universalhistorische Schritt von der Teleologie zur Rekonstruktion ist ein aktueller modernisierungstheoretischer Versuch einer universalistischen Deutung. Er nimmt den Differenzierungsschritt in den Blick, der von einem Zeitverständnis, das sich an der Bewegung im Raum orientiert, zu einem Zeitverständnis führt, das die innere Zeitlichkeit der menschlichen Subjektivität betont. Er erschließt damit den reichen Phänomenbestand historischer Veränderungen in den Deutungspraktiken von Zeiterfahrungen, in denen sich die menschliche Subjektivität zunehmend zur Geltung bringt. In frühen Stadien der kulturellen Entwicklung wurde Zeit durchgängig als objektive Qualität angesehen, die an den Erfahrungsbeständen der menschlichen Welt hängt: Jedes Ding hat seine eigene Zeit. In späteren Stadien und in besonderem Maße in modernen Gesellschaften gilt die Zeit als eine Konstruktion des menschlichen Geistes. Die menschliche Zeit wurde zunehmend von der natürlichen unterschieden, und die letztere wird (erkenntnistheoretisch) als konstruktiv verstanden und nicht mehr als naturale Vorgabe. (Dies muss nicht notwendig und sollte auch nicht zu einer rein konstruktivistischen Auffassung führen, in der es dann keinerlei Realität und ihr geschuldete Erfahrungskontrolle mehr gibt.) Die objektive Naturzeit wird zu einem Sachverhalt rationalisiert, den man mathematisch interpretieren, den man zählen und messen kann. Die Zeit verliert ihre inhärente Bedeu-
24. Dazu hat Dux Entscheidendes ausgeführt, ebd. 45
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tung und wird zur Angelegenheit einer bewusst subjektiv vollzogenen Deutungspraxis.25 Immer mehr wird Zeit zur Angelegenheit menschlicher Subjektivität, zum Inhalt handlungsleitender Absichten (Zeitersparnis, Zeitgebrauch für wertvolle Dinge etc.) Die Webersche Vorstellung einer universalgeschichtlichen Rationalisierung und Entzauberung findet ihr empirisches Pendant in den historischen Befunden der Veränderungen von Zeitdeutungen.26 Die gleiche Bewegung lässt sich auch als Verzeitlichung der Zeit deuten: Jeder Vergangenheit wächst als gewesene Gegenwart eine eigene Vergangenheit und Zukunft zu, die von der je gegenwärtigen unterschieden ist, und das gleiche gilt für das Denken über die Zukunft. Damit öffnet sich ein qualitativ neuer Möglichkeitsraum und ein erheblicher Kontingenzgewinn im deutenden Umgang mit Zeiterfahrung. Innerhalb dieser umgreifenden und – wie es scheint – irreversiblen Subjektivierung und Verzeitlichung der Zeit gibt es noch eine jüngere Tendenz der Auflösung von Unilinearität und Homogenität zugunsten einer heterogenen Vielfalt von Zeitlinien und -entwicklungen. Das gilt nicht nur für die elaborierten Gebilde der reflexiven Selbstverständigung über kulturelle Orientierungen in Kunst, Literatur und Philosophie seit der Wende zum 20. Jahrhundert, sondern auch und erst Recht für das naturwissenschaftliche Zeitverständnis, das seit Einstein seine strenge Uniformität verloren hat. Zeit wird nunmehr als »komplexes Netzwerk«, als »transversale Verflechtung und horizontale Relationierung pluraler Eigenzeiten« verstanden.27 Freilich verschwinden die älteren Denkmuster in den neueren, die objektiven in den subjektiven nie ganz. Sie führen ihr aufklärungsbedürftiges Leben auch unter der Dominanz entzaubernder Rationalität und säkularer Subjektivität. Schon die Widerständigkeit, die alltägliche Zeiterfahrungen (z.B. der Tod, aber auch das schlichte Entstehen und Vergehen) der Deutung und Konstruktion entgegensetzen, bleibt
25. Vgl. dazu grundlegend: Rustemeyer, Dirk, Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001. Ein Beispiel: »Die Zeit, in allen Modi und unter allen Rubriken, unter denen die Historie sie begreift, ist ein Deutungsphänomen, eine Tatsache der Auslegung und der (kulturellen und sozialen) Konstruktion«. Raulff, Ulrich, Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte, 2. Aufl., Göttingen 2000, S. 9. 26. Dirk Rustemeyer hat das für die Philosophie zusammenfassend als »schrittweise Lösung von der Realität der Zeit hin zu einer Zeit des Bewusstseins bis zu einer Zeitlichkeit des Daseins« beschrieben. Zeit und Zeichen, in diesem Band. 27. Sandbothe, Mike, Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie, in: Antje Gimmler/Mike Sandbothe/Walther C.H. Zimmerli (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt 1997, S. 41-62, zit. n. S. 56. 46
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ein Stachel konstruktivistischer Zeittheorien.28 So wie die Geschichte in den objektiven Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart uns immer schon konstruiert hat, bevor wir sie deutend ›konstruieren‹, so hat uns die Zeit immer schon bestimmt, bevor wir sie – uneinholbar! – als subjektives Konstrukt erkennen und bestimmen. Dieses – wie ich finde: unvermeidliche – Zugeständnis ›objektiver‹ Zeitvorgaben unseres subjektiven Zeitsinns bedeutet keine umstandslose Rehabilitation älterer ontologischer Zeitkonzepte. Im Gegenteil: Die wachsende Bedeutung reflexiver Sinnbildung in der Zeitdeutung stellt eine universalhistorische Größe ersten Ranges dar. Wer wollte bestreiten, dass im gegenwärtigen Globalisierungsprozess die Verantwortung für das, was zeitlich geschieht, bei uns liegt, obwohl oder geradezu: weil wir wissen, dass wir seiner nicht Herr sind. Diese Subjektivierung wirft unübersehbar einen Sinnschatten: Genau in dem Maße, in dem die subjektiven Kompetenzen im Umgang mit Zeiterfahrungen wachsen, wird die menschliche Subjektivität durch Zeiterfahrungen in sehr viel höherem Maße verletzlich, als dies bislang der Fall war. Solange die zeitlichen Geschehnisse, denen die Menschen ausgesetzt waren und zu denen sie sich deutend verhalten mussten, so gedeutet werden konnten, dass in ihnen selbst ein Sinn waltet, dem sich der Mensch fügen konnte (weil er musste), steckte in jeder Veränderung eine Sinnchance. Sinn konnte gar nicht zerstört werden, weil die zerstörenden Kräfte der zeitlichen Veränderung selber immer schon als sinnträchtig angenommen (›geglaubt‹) wurden. In dem Augenblick aber, in dem die Sinnträchtigkeit des Umgangs mit Zeiterfahrung zur Angelegenheit der menschlichen Subjektivität wird, kann diese durch Zeiterfahrungen in der ihr zugewachsenen Sinnkompetenz aufs äußerste herausgefordert und grundsätzlich negiert werden. Zeiterfahrung kann traumatisch werden, und im Trauma historischer Katastrophenerfahrungen findet der Zeitsinn menschlicher Subjektivität sein unübersteigbares Ende.29 Freilich kann er sich dazu noch einmal verhalten und sehnsuchtsvoll auf die Dimension von Sinnvorgaben blicken, die ihr im Prozess ihrer eigenen Hervorbringung verloren gegangen sind.
28. Natürlich ist der Tod, um Raulff zu zitieren, »eine Tatsache der Auslegung und der (kulturellen und sozialen) Konstruktion« (Raulff, Der Unsichtbare Augenblick, S. 9), aber doch wohl nicht in seiner Tatsächlichkeit. Er hat für die Menschen Bedeutung gerade wegen seiner unverfügbaren Tatsächlichkeit; nicht die Deutung gibt ihm unverfügbare Tatsächlichkeit, sondern seine Unverfügbarkeit konstituiert den Deutungsbedarf. 29. Vgl. Rüsen, Zerbrechende Zeit; ders., Kann Gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003. 47
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7. Medien Die vielfältige und unterschiedliche Ausprägung von Zeitsinn und sein historischer Wandel hängen wesentlich von den Medien ab, in denen Zeiterfahrung und -deutung vermittelt werden. Durchgängig ist die Sprache bestimmend, wenn es auch Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung im Bereich des Imaginativen, in Bild und Ton, in Bauwerken und im Tanz gibt. Maßgebend für die Ausprägung des Zeitbewusstseins sind die Modi, in denen Sprache die menschliche Kommunikation regelt. Ursprünglich und nach wie vor wirksam – zumindest im privaten Lebensbereich – vollzieht sich die Kommunikation des Zeitsinns in mündlicher Rede. Er ist politisch zumeist konservativ ausgerichtet: Die traditionell vorgegebene Weltordnung wird verpflichtend gemacht; neue Zeiterfahrungen werden so in sie integriert, dass ihr wesentlicher Normenbestand und das darauf gründende Selbstverständnis des Sozialverbandes bestätigt werden. Die Zeit wird sinnlich-konkret dargestellt; sie geschieht in einer face-to-face-Kommunikation und entfaltet eine entsprechend unmittelbare Wirkung. Kognitiv enthält sie die akkumulierte Erfahrung vieler Generationen; ereignisgeschichtlich reicht sie über die jüngeren Generationen, deren Erinnerungen innerweltliche Tatsachen festhalten, zurück in eine mythische Zeit, die die Gegenwart genealogisch mit dem alles bestimmenden Ursprung der Welt verbindet. Ihre Sinnkriterien sind mythischer Art; d.h. reale, im engeren Sinne ›historische‹ Ereignisse sind keine Träger handlungsleitender Normativität. Ihre Geltungsansprüche werden rituell-repetitiv erhoben und plausibel gemacht. Das Medium der Schrift dominiert seit mehreren tausend Jahren bis heute die hegemoniale Kultur der Zeitdeutung (in der allerdings orale Elemente immer wichtig und wirksam, ja – zumindest in der Erziehung – sogar konstitutiv bleiben). Sie entlastet von der Unmittelbarkeit einer kommunikativen Situation und schafft eine Distanz zwischen Zeiterfahrung als Inhalt und Zeitdeutung als Kommunikationsform.30 Diese Distanz erweitert den Erfahrungshorizont des Zeitbewusstseins ganz erheblich und ermöglicht neue methodische Verfahren der Erfahrungsakkumulation und -kontrolle. Schriftlichkeit entlastet das Gedächtnis, fixiert Tatsachen, schafft neue Kommunikationsformen, koppelt den Kosmos zeitlichen Sinns aus unmittelbaren Handlungszusammenhängen ab und lässt ihn zu einem Phänomen sui generis werden. Zugleich mit der neuen Objektivierungschance im Umgang mit der Zeiterfahrung öffnen sich auch neue Subjektivierungschancen der Interpretation; Erzähler werden zu Autoren, und die Rezipienten der
30. Ong, Walter J., Orality and Literacy, London 1982. 48
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Zeitdeutungen erhalten einen erweiterten Spielraum kritischer Lektüre. Geltungsansprüche werden entweder durch Kanonisierung fixiert oder zur Angelegenheit diskursiver Begründung. In beiden Fällen wird Interpretation zu einer eigenen geistigen Praxis der historischen Sinnbildung (mit entsprechendem Spezialistentum und den Folgeproblemen der Übersetzung und Popularisierung). Das ursprüngliche Verhältnis von Poesie und Wahrheit löst sich auf; Mythen werden einer fundamentalen Kritik unterzogen. Begrifflichkeit wird zum wesentlichen kognitiven Element der historischen Deutung, so dass – langfristig – die Zeitdeutungen durch Geschichten sogar wissenschafts- und theoriefähig werden können. In jüngster Zeit verändern neue Medien den Modus der Sinnbildung. Klare Entwicklungslinien und feste Strukturen lassen sich noch nicht angeben, wohl aber Neuerungen, von denen Veränderungen grundlegender Art vermutet werden können. In der öffentlichen Kultur überwältigt eine ungeheure Bilderflut das kollektive Gedächtnis. Die aus der Schriftlichkeit resultierenden Bewusstseinsformen – vor allem die der distanzierenden Rationalität – können schnell an Bedeutung und besonders an politischer Wirksamkeit verlieren. Die Grammatik der Zeitdeutung wird zur Imagologie von Präsentationen, in der alle Zeiten zugleich erscheinen und die fundierende Vorstellung eines durchgehenden Zeitsinns in eine zusammenhanglose Kette von ästhetischen Augenblicken sich verflüchtigt. Die konstitutive Differenz von Zeit kann sich in eine universale Gleichzeitigkeit aufheben, die sich nicht mehr narrativ ordnen lässt. Ob es dann noch eine spezifische ›Ordnung des Historischen‹ im handlungsleitenden Zeitzusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geben wird, ist zumindest fraglich geworden. Der Terminus ›Posthistoire‹ und die mit ihm geführte Diskussion über eine Lebensform ohne genuin historische Orientierung indiziert diese offene Frage.31 Hinzu kommt eine ungeheuere Erweiterung des empirischen Zugriffs auf Zeitphänomene und -deutungen. Die neuen Speichermedien erlauben neue Modi der Zeiterfahrung und stellen radikal die Frage nach Sinnkriterien, die über Wesentliches entscheiden lassen. Zugleich lassen die neuen Kommunikationsmedien (Internet) darüber keine politisch sanktionierte Entscheidung zu. Die Fülle der Möglichkeiten und die Vielfalt der Stimmen verlangen nach neuen Strategien, Formen und Inhalten historisch begründeter Zugehörigkeit und Abgrenzung. In jedem Fall werden fixe Vorstellungen von der dauernden Wesenheit und Substanz des Eigenen durch die Vielfalt globaler Kommunikation zugunsten dynamischer und offener Differenzierungen überschritten. Dagegen rich-
31. Niethammer, Lutz, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989. 49
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ten sich dann Reaktionen, die in und durch diese Kommunikation selber starrsinnig auf ethnozentrischen Unterscheidungen bestehen.
8. Interkulturalität Kulturelle Differenz spielt im Zeitalter der Globalisierung eine besondere heuristische Rolle. Politische und soziale Konflikte laden sich mit kulturellen Kräften des Kampfes um Anerkennung auf und gewinnen dadurch besondere Schärfe. Die Kulturwissenschaften sind gesellschaftliche Institutionen, in denen maßgebende kulturelle Orientierungen und Selbstverständigungen verhandelt werden. Die Erfahrung fremder und anderer Kulturen wird systematisch aufgearbeitet und gedeutet und interkulturelle Kommunikation wird praktisch vollzogen.32 Diese Kommunikation findet immer auch naturwüchsig statt. Kulturen durchdringen sich, grenzen sich voneinander ab, bekämpfen sich, lernen voneinander, und im Umgang miteinander verändern sie sich. Aus den naturwüchsigen Vorgängen dieser ›Verhandlungen‹ wachsen den Kulturwissenschaften zwei problematische, aufs engste miteinander zusammenhängende Prämissen zu: ein kultureller Monismus und die Logik ethnozentrischer Sinnbildung. Kultureller Monismus – ihre prominentesten Vertreter sind Oswald Spengler und Arnold Toynbee – lässt Kulturen als semantische Universen erscheinen, die einem eigenen Code folgen und sich zueinander nur äußerlich verhalten. Ihre universelle geschlossene Eigenart lässt sich hermeneutisch aufschlüsseln, und die verschiedenen Kulturen lassen sich in einer allgemeinen Typologie miteinander vergleichen.33 Ethnozentrismus lädt die kulturelle Differenz mit asymmetrischen Wertungen auf, die das Eigene auf Kosten des Anderen (z.B. Zivilisation versus Barbarei) zur Geltung bringen. Er tendiert zu einer teleologischen Deutung von Entwicklungen und folgt einer zentralistischen Raumordnung (Das Eigene ist die Mitte der Welt, das Andere liegt am Rande). Beide Prämissen sind auch in akademischen Diskursen mächtig. Diese Macht kann nur reflexiv zugunsten eines wechselseitigen Aner-
32. Z.B. Rüsen, Jörn (Hrsg.), Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte, Göttingen 1999. 33. Galtung, Johan, Die ›Sinne‹ der Geschichte, in: Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, S. 118-141. Wie ein solcher Vergleich bei vorausgesetzter semantischer Geschlossenheit kultureller Sinnsysteme ohne Annahme eines meta-kulturellen Außenstandpunktes epistemologisch möglich sein soll, bleibt offen. 50
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kennungsverhältnisses, einer rekonstruktiven statt einer teleologischen Zeit und einer polyzentrischen statt einer zentralistischen Raumordnung gebrochen werden. Kulturvergleiche können den Fehler vermeiden, das eigene kulturelle Paradigma als Parameter zu unterstellen, wenn sie auf anthropologische Universalien rekurrieren und kulturelle Differenz als spezifische Konstellation von Elementen und Faktoren begriffen werden, die alle Kulturen gemeinsam haben. Diese Denkweise begünstigt idealtypologisierende methodische Verfahren. Der Vergleich selber ist nur ein Faktor in einem Kommunikationsprozess, in dem alle Beteiligten diskursiv ihre Interpretationskonzepte verhandeln. Wenn sie dabei gemeinsam der Regel begrifflichen und erfahrungsbezogenen Argumentierens folgen und ihre Verhandlungen am Ziele wechselseitiger Anerkennung orientieren, kann das kulturwissenschaftliche Denken seine ideologischen Funktionen im Kampf der Kulturen zivilisieren, d.h. sein zerstörerisches Aggressionspotenzial kritisieren und zur Triebkraft von Verständigung führen.34
9. Grenzen Zeit sinnhaft zu denken, teilt mit jedem Sinnkonzept dessen Grenzen. Im Sinn der Zeit sind immer schon Sinnwidrigkeit und Sinnlosigkeit mitgedacht – wenn auch oft nur implizit und nicht eigens erhoben und expliziert. Drohender Sinnverlust durch zeitlichen Wandel gedeuteter Zeit ist eine dauernde Quelle dafür, Zeit neu zu denken und zu deuten. Sinn als Deutungsresultat ist immer umfassend. Nur von ihm her bestimmt sich, was sinnlos oder -widrig ist. Seine Grenze liegt dort, wo neue Zeiterfahrungen neu gedeutet werden müssen. Das kann durch Applikation schon entwickelter Zeit-Sinnkonzepte auf neue Erfahrungen geschehen oder – bei entsprechender Widerständigkeit der in Frage stehenden Erfahrungen – durch Modifikation der Deutungsmuster und -strategien. Immer wieder aber kann es geschehen, dass Erfahrungen Sinn zerstören. Dann sind sie katastrophisch oder traumatisch und wirken im Unbegriffenen mit signifikanter Nachträglichkeit. Dafür steht in der westlichen Kultur paradigmatisch (aber nicht allein) der
34. Vgl. dazu Wimmer, Andreas, Die Pragmatik der kulturellen Produktion. Anmerkungen zur Ethnozentrismusproblematik aus ethnologischer Sicht, in: Manfred Brocker/Heino-Heinrich Nau (Hrsg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997, S. 120-140; Renn, Joachim/Straub, Jürgen/ Shimada, Shingo (Hrsg.), Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt am Main 2002; Straub, Jürgen, Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften (Essener kulturwissenschaftliche Vorträge, Bd. 4), Göttingen 1999. 51
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Holocaust. Als Verwerfungen in gedeuteter Zeit lassen sie deren Brüchigkeit erkennen. Als Spur führen sie an den Rand, an die Grenze zeitbezogener Sinnbildung. Der Überlebenswille der Betroffenen zwingt sie zur Enttraumatisierung sinnverzehrender Zeiterfahrungen in deren eigener Nachträglichkeit. Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis kann (und muss) mit ihren Mitteln der Deutung durch rationales Argumentieren diese Enttraumatisierung mitvollziehen – jede Erkenntnis macht Sinn, auch dann, wenn sie auf Traumata gerichtet ist. Soll sie aber den spezifischen Erfahrungscharakter des Traumatischen nicht zum Verschwinden, sondern zum Vorschein bringen (und seine Einebnung in eine scheinhafte Normalität kritisieren können), dann bedarf es eigener neuer Deutungsmodi und Repräsentationen. Das erkennende Denken würde methodisch in die Pflicht negativer Sinnbildung genommen.
10. Ausblick Für die gegenwärtige Kultur moderner Gesellschaften ist die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur grundlegend. Sie liegt verschiedenen Wissensbereichen und den dafür maßgebenden kognitiven Strategien des Umgangs mit der Zeit zugrunde, wenn sich auch eine strikte Trennung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften nicht durchführen lässt. Unterscheidungskriterium kann die Annahme einer Sinnqualität im Objektbereich sein. Wenn die Sinnbestimmtheit (Deutungsleistungen und ihre kulturellen Objektivationen) maßgebend für die menschliche Welt ist, dann wäre ›Natur‹ Gegenstandsbereich eines Denkens, das seine eigene Subjektivität als Sinnquelle methodisch von der Gegebenheit seiner Objekte ausklammert. Zwar macht dieses Denken auch Sinn, aber die von ihm geleisteten Deutungen von Zeit bleiben dem Subjekt äußerlich. Traditionell war diese Äußerlichkeit selber noch geistbestimmend; sie hatte göttliche Qualität und war als solche dem Menschen übergeordnet. Seine Lebenszeit, die Zeit seiner Verrichtungen der Lebensfristung, empfing ihren Sinn daher. ›Natur‹ im modernen Sinne wurde sie durch ›Entzauberung und Rationalisierung‹ zu einem Faktengefüge mit Bedingungszusammenhang, dessen entscheidende Form in der Physik eine durchgängige Mathematisierung erfuhr. In ihr löste sich die qualitative Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft, die menschliches Leben im gegenwärtigen Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Erwartung auszeichnet, restlos auf. Im Schritt von der Newton’schen zur modernen Physik brachte sich die menschliche Subjektivität als Abhängigkeit von Zeitbestimmungen vom Standpunkt des Beobachters wieder zur Geltung; die absolute Zeit Newtons wurde in eine unhintergehbare Vielheit von heterogenen Zeitdimensionen zurückgenommen. 52
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Die Kulturwissenschaften können solche Zeitdeutungen und ihren Wandel konstatieren. Würden sie selber als kulturelle Leistungen im Wandel der Zeit interpretiert, dann kämen spezifische Zeitvorstellungen – vor allem historischer, gelegentlich auch ästhetischer und in Ausnahmefällen sogar religiöser Art – ins Spiel, die sich von den mit ihnen thematisierten freilich logisch streng unterscheiden. Dieser Unterschied ist ein Problem. Kultur und Natur sind begriffliche Unterscheidungen, die im Blick auf Erkenntnisverfahren Sinn machen. Die menschliche Welt aber ist beides; es gibt z.B. keine historische Zeit ohne die physikalische (chronometrische). Der Zusammenhang von menschlicher und nicht-menschlicher Zeit ist eine Tatsache, die wissenschaftlich deshalb nicht hinreichend eingelöst werden kann, weil es keine übergreifende Kategorie ihrer Deutung gibt, die die Sinnbestimmtheit der Kultur mit der anderen ontologischen Qualität der Natur vermittelte. Die Natur hat freilich im Licht einschlägiger physikalischer, astronomischer, chemischer, geologischer und biologischer Erkenntnisse eine ›Geschichte‹, die von einem absoluten Anfang bis zur Gegenwart reicht und ihrem zukünftigen Geschehen nicht vorausgesagt werden kann. In formaler Hinsicht teilt sie damit den geschichtlichen Charakter der menschlichen Kultur. Diese ist ein Teil von ihr, und umgekehrt ist die Natur ein Teil der menschlichen Geschichte. Für das Ganze, für den inneren zeitlichen Zusammenhang von Natur und Kultur, fehlt ein übergreifendes narratives Sinnkriterium, in dem sich die Differenz beider aufhebt. Die zugleich komplementären und inkompatiblem Reduktionen eines Naturalismus oder Kulturalismus überzeugen nicht. Sie können die beiden Dimensionen Natur und Kultur jeweils nur auf Kosten der einen oder anderen integrieren. Und erkenntnistheoretisch folgen sie jeweils Paradigmen der Erkenntnis, die sich wechselseitig jeweils (zumindest teilweise) ausschließen. In beidem, Natur und Kultur, waltet die Zeit und hält sie zu einem Sinnganzen zusammen. Was dieses Sinnganze ist und wie die Zeit in ihm wirkt, wissen wir nicht, obwohl wir doch in ihm und aus ihm leben.
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GRUNDLAGEN UND URSPRÜNGE
Zeit und Zeichen Dirk Rustemeyer
I. Die Frage nach der Zeit führt ins Zentrum des Erkenntnisprogramms von Philosophie und Wissenschaften. Sie evoziert zwei Probleme: ob Zeit »ist« und ob Sein zeitlich ist. Beide Optionen münden in ein Paradox. Ein zeitlich verstandenes Sein rechnet mit einem zugleich – nämlich je gegenwärtig – seienden als auch nichtseienden – vergangenen oder zukünftigen – Sein. Eine als Sein verstandene Zeit droht jede Einheit und alles Bleibende, auf das die Frage nach dem Sein zielt und an dessen Zustandswechsel Zeit allererst erfahrbar wird, im Strudel des Kommens und Vergehens aufzulösen. Die Begriffe von Sein und Zeit verweisen aufeinander, denn Zeitlichkeit wird offenbar an etwas erfahren, das »ist«, und jedes etwas ist nur unter der Bedingung der Zeit erfahrbar. Insofern verwundert es nicht, dass das Verhältnis von Sein und Zeit auch nach den neuzeitlichen Versuchen, dem Paradigma metaphysischen Denkens zu entrinnen, ihren Platz im Zentrum philosophischer Reflexion behauptet hat. Die Radikalisierung des Zeitproblems führt sowohl die Philosophie als auch die Einzelwissenschaften zu einer Dynamisierung ihrer begrifflichen Bestimmungen, in deren Zuge sich die Fokussierung des Erkenntnisinteresses auf das Dauernde oder Ewige allmählich zu einer Beschreibung von kontingenten Prozessen der Ordnungsbildung verschiebt. Philosophische Reflexionen auf die Zeit placieren sich dabei innerhalb eines interdisziplinären Forschungsfeldes, das von der Geschichte über die Psychologie, Physik und Biologie bis zur Soziologie reicht. Theoriegeschichtlich haben sich die Akzente verschoben, unter denen Phänomene der Zeit philosophische Aufmerksamkeit beanspruchen. Diese Verschiebung in der axialen Struktur der Zeitproblematik lässt sich in heuristischer Vereinfachung als Umkehr der Dominanz in der begrifflichen Relation von Sein und Zeit beschreiben: Einer frühen Fokussierung auf das Sein gegenüber der Zeit folgt eine Fokussierung auf die Zeit gegenüber dem Sein (II.). Im Zuge dieser Umakzentuierung gewinnt der Begriff des Sinns eine theoriestrategisch zentrale 54
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DIRK RUSTEMEYER: ZEIT UND ZEICHEN
Funktion. Sinn beschreibt eine Struktur von Differenzbildungen, mit deren Hilfe sich die Fokussierung der neuzeitlichen Zeittheorie auf Bewusstseinsphänomene zugunsten der Einbeziehung sozialer Formen der Sinnbildung öffnen lässt (III.). Sinn bildet eine Differenzform, in der sich alles Seiende als mehrfach kontingent präsentiert. Zeitliche Kontingenzen interferieren mit sozialen, räumlichen und symbolischen Differenzen. In der Form von Sinn werden Differenzen als Differenzen – unter anderem als zeitliche Unterscheidungen – repräsentierbar und für die gesellschaftliche Kommunikation verfügbar. Auf diese Weise eröffnet sich historisch eine neue Chance beschleunigter Evolution, deren Eigenzeit Kultur ermöglicht. Derartige Repräsentationen setzen die Fixierung von Differenzen mit Hilfe von Zeichen voraus. Unter dem Aspekt einer symbolischen Formierung von Zeit kann Zeit als operative Einheit von – bewusstseinsförmigen oder kommunikativen – Differenzen beschrieben werden, die sich semiotischer Formen bedienen und zu Semantiken ausdifferenzieren. Sinnhafte Bestimmungen von etwas als etwas sind demnach das Resultat einer Operation der Bezeichnung. Zeit präsentiert sich dabei als eine Dimension sinnhafter Kontingenzen, die durch Operationen wiederholter Bezeichnung auch Identität in der sachlichen Dimension des Seienden ermöglicht. Die Spezifität temporaler Differenzen für die Wahrnehmung wie für die gesellschaftliche Kommunikation ist unter anderem von der Struktur der semiotischen Systeme und der symbolischen Ordnungen abhängig, in Relation auf die sich etwas als etwas sinnhaft bestimmt. Die Interferenz von Sinn und Zeit verlangt daher die Integration einer Theorie symbolischer Ordnungen und einer Theorie der Gesellschaft (IV.). Ein solcher semiotischer Blick auf die Zeitlichkeit von Sein als Sinn erschließt kulturwissenschaftliche Fragehorizonte, die geschichtsphilosophische Topoi reformulieren und der Differenz von Zeiten empirisch und narrationstheoretisch Rechnung tragen (V.).
II. Als Reflexion auf das Bleibende im Wandel des Erscheinenden etabliert Philosophie seit ihren Ursprüngen ein begriffliches Feld, dessen Unterscheidungen logische, ontologische und temporale Bestimmungen in eine Konstellation stellen, die paradoxale Zuspitzungen nahelegt. Diskussionen über das Sein der Zeit bleiben lange von antiken Begriffsdispositionen geprägt. Deren Figuration lässt sich an Aristoteles und Augustinus studieren (II.1). Neuzeitliche Konzeptionen der Zeit transformieren diese Begriffsfiguration zu einer Theorie des Bewusstseins und des Daseins, die einerseits auf Phänomene des Unbewussten und andererseits auf Gesellschaft rekurriert, wobei die Frage nach dem Sein in die Frage nach der Konstitution von Sinn umgeformt wird (II.2). 55
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GRUNDLAGEN UND URSPRÜNGE
II.1 Die Frage nach dem Sein entfaltet die Differenz zum Nichtsein über die Unterscheidung zwischen Ewigem und Wandelbarem. Ontologie konstituiert sich mit dieser begrifflichen Distinktion zeittheoretisch. Während die vorsokratische Naturphilosophie den Kosmos aus einem bleibenden Prinzip zu erklären versucht, verlagert die klassische griechische Philosophie die Frage auf die Möglichkeit des Wissens, das mit der sprachlichen Struktur des Denkens zusammenhängt.1 Metaphysik richtet ihr Interesse auf eine durch innerweltliche Wahrnehmungen unzugängliche Struktur, die lediglich im Denken fassbar wird. Aisthesis und Logos treten in ein zugunsten des Logos akzentuiertes Spannungsverhältnis. Nichtsein steht in einer Relation zur Zeitlichkeit, die sich als Kommen und Vergehen manifestiert. Als sterbliches Wesen fällt auch der Philosoph, der die Frage nach dem Unwandelbaren formuliert, unter die Bedingung des Wandels. Nur der Logos erfasst in seiner Bewegung von Begriff und Rede eine Struktur von Intelligibilität, die die Differenz von Sein und Zeit sprachlich repräsentiert und so das Ewige im Wandelbaren einholt. Der Erfahrung von Werden und Endlichkeit korrespondiert die Erfahrung eines Denkens, das mit seiner begrifflichen Unterscheidung von Endlichkeit und Unendlichkeit über das Endliche hinausweist. Logische und temporale Unterscheidungen fusionieren, wenn das Werden auf eine selbst nicht gewordene Ursache kausal zurückgeführt und dadurch ontologisch abgewertet wird.2 Wirkliches Wissen richtet sich darauf, was Seiendem als Seiendem überhaupt und nicht als dem aisthetisch zugänglichen Wandelbaren zukommt. Wahrheit verlangt diesem Theoriekonzept zufolge binäre Unterscheidungen, die dem Denken bejahende oder verneinende Urteile ermöglichen. Weil es zwischen Wahrheit und Falschheit ein Drittes nicht geben soll, bleiben Phänomene des Übergangs und des Werdens aus dem Bereich des wahren Wissens ausgeschlossen.3 Die Ursache des Bewegten kann demnach nicht selbst bewegt werden. Zeit figuriert als dasjenige, worin Bewegung stattfindet.4 Eine dem Sein entzogene Zeit präsentiert sich dem Denken als Maß der Bewegung des Davor und Danach in Bezug auf das Werden.5 Jedes solche Messen der Zeit aber setzt ein Bewusstsein voraus, das von einem jeweiligen Jetzt aus ein Davor und Danach zählend zu unterscheiden vermag. Dieses Jetzt, als operatives Zentrum der Zeit, bestimmt Aristoteles als – paradoxe – Form von
1. 2. 3. 4. 5.
Geyer, C.-F., Philosophie der Antike, 4. Aufl., Darmstadt 1996, S. 5ff. Aristoteles, Metaphysik, 2 Bde., 3. Aufl., Hamburg 1989, 1991, B III, 999 b. Ebd., B IV, 1011f. Ebd., XI, 1067 b. Aristoteles, Physik, Hamburg 1987, B IV, 219 a, b. 56
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DIRK RUSTEMEYER: ZEIT UND ZEICHEN
Grenze und Einheit der Zeitmodi. Indem das Jetzt die Zeitmodi zusammenhält, die es als Unterschiedene wie als aufeinander Verweisende trennt, bleibt es stets dasselbe und damit der Zeit entzogen; indem es je neu ein Davor und Danach unterscheidet, ist es ein Veränderliches und fällt damit in die Zeit, die es messend erzeugt.6 Als innerweltliche Form und Maß des Wandels ist die Zeit zugleich ein Bild des Ewigen, das sich seinerseits in der Differenz zum Werden im Denken profiliert. Mit dieser Figur einer Einheit der Differenzen der Zeit in Bezug auf ein Jetzt hat Aristoteles der philosophischen Zeittheorie eine Begriffsdisposition angeboten, deren Implikationen bis in die neuzeitliche Zeitdiskussion fortwirken. Aristoteles verleiht mit seiner Begriffsfassung der Platonischen Bestimmung der Zeit als Abbild des Ewigen einen neuen Akzent. In Gestalt mythologischer Rede hatte Platon im Timaios das Werden als einer proportionalen Ordnung gehorchend beschrieben, die in ihrer mathematischen Struktur eine Einheit und Vollkommenheit über die Differenzverhältnisse der Glieder erzeugt und eine zyklische Naturzeit mit Zahl- und Zeitvorstellungen verbindet.7 Diese Ordnung des Kosmos spiegelt sich in der Struktur einer Weltseele, in der sich das proportional Unterschiedene in der Sphäre des Werdens mit der gedachten Ordnung eines ewigen Seins verschränkt. Zeit ist Ordnung der Bewegung, nicht Bewegung selbst. Sie ist Bild des Seins im Bereich des Nichtseins – und damit weder Sein noch Nichtsein. Aristoteles’ paradoxe Formel von der Ewigkeit und Veränderlichkeit des »Jetzt« als der »Grenze« der Zeit verleiht dieser platonischen Denkfigur eine neue Kontur und bezieht sie zugleich auf einen innerweltlichen, Messoperationen vollziehenden Geist, der die platonische Weltseele gleichsam bewusstseinstheoretisch akzentuiert, ohne jedoch schon an der Realität der Zeit zu zweifeln.8 Zeit ist für Aristoteles zugleich real und relativ bezogen auf eine Seele. Zugang zum wahren Sein erlangt das Denken
6. Ebd., 222 a. 7. Platon, Timaios, in: Werke in acht Bänden, Bd. VII, Darmstadt 1972, S. 1-210, hier 27 c-47 e. Allerdings findet sich bei Platon auch die Vorstellung von Zeit als der fortschreitenden Veränderung des Eins: Platon, Parmenides, in: Werke in acht Bänden, Bd. V, Darmstadt 1983, S. 195-319, hier 155 d-157 a. – Platons Zeitbegriff abstrahiert von der älteren Zeitvorstellung Anaximanders, die das temporale Vergehen des Entstandenen mit einer Vergeltung für Unrecht zusammenbringt. Vgl. Kirk, G. S./Raven, J. E./Schofield, M., Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart, Weimar 1994, S. 128. – Daran allerdings knüpft Heideggers Zeitbegriff mit einer eigenwilligen Interpretation Anaximanders an: Heidegger, M., Der Spruch des Anaximander, in: M. Heidegger, Holzwege, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1980, S. 317-368. 8. Gadamer, H.-G., Die Zeitanschauung des Abendlandes, in: H.-G. Gadamer, Neuere Philosophie II, Tübingen 1987, S. 119-136. 57
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aber gerade nicht durch die messende Bestimmung des Werdens als Zeit, sondern mit Hilfe der urteilsförmigen Struktur der Sprache, deren Relation von Subjekt und Prädikat der zweiwertigen Logik korrespondiert und eindeutige Zuordnungsverhältnisse erlaubt, in denen sich Substanz und Akzidens, Bleibendes und Veränderliches trennen lassen. Die Form der Sprache steht der Form der Zeit gegenüber und bindet urteilsförmige Erkenntnis an eine atemporale, onto-logische Struktur. Logik, Grammatik und Ontologie schließen sich im Theorieprogramm der aristotelischen Metaphysik zusammen. Aristoteles koppelt das Denken über Sein und Zeit mit der symbolischen Ordnung der Sprache. Augustinus hat das aristotelische Argument der seelischen Konstitution der Zeit und die Paradoxalität der Einheit der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weiter forciert. Das »Jetzt« versteht Augustinus als eine unteilbare Gegenwart, die sogleich in Vergangenheit und Zukunft zerfällt und damit keine Dauer kennt.9 Vergangenem und Zukünftigem kommt Sein nur in der Form der Erinnerung und Erwartung einer jeweiligen, wahrnehmungsgebundenen Gegenwart zu, die sich dazu der Zeichen – der Bilder und Worte – bedient.10 Erinnertes und Erwartetes werden in wahrnehmungsinduzierten Bildern und Worten repräsentiert und erzählend in der Gegenwart synthetisiert, um die Seele vor dem Sichzerstreuen in die Zeiten zu bewahren. Zeit ist damit ein innerseelisches Phänomen und kein Bild des Ewigen Seins. Die Einheit der Zeit, die durch die Kraft des »animus« gestiftet wird, konstituiert sich als Vorgang des Ineinandergreifens von aktueller Wahrnehmungsintentionalität, Erinnerung und Erwartung.11 Solches Wechselspiel setzt die Verfügung der Seele über Zeichen voraus, mit deren Hilfe Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung aufeinander bezogen werden. Augustinus denkt Zeit symbolisch, vor allem sprachlich, vermittelt. Das Problem der Zeit stellt sich ihm überhaupt erst im Ausgang von der sprachlichen Schwierigkeit, zu erklären, was sie ist. Weder die Zeit noch das philosophische Problem der Zeit existieren außerhalb symbolischer Ordnungen von Sprache und Bildern. Diese kontrapunktieren die Zeit weniger als dass sie sie ermöglichen. Schärfer als Aristoteles begreift Augustinus Zeit als hervorgebracht durch die einzelne Seele. Wie Aristoteles fundiert er sie gleichwohl in einem außerseelischen Sein. Unentschieden bleibt deshalb der Zu-
9. Augustinus, Confessiones, Buch XI, zitiert in der Übersetzung von K. Flasch, in: ders., Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt am Main 1993, XV. 20. 10. Ebd., XVIII. 24, XX. 26. 11. Ebd., XXVIII. 37. 58
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sammenhang individuell-seelischer Zeit, Naturzeit und Geschichtszeit. Zwar ist Zeit an die Schöpfung gebunden,12 aber die Seele strebt nach der Aufhebung ihrer zeitlichen Zersplitterung in Gott. Einerseits konstituiert in der Einzelseele, andererseits fundiert in einem nichtseelischen Sein und überdies einem Ideal der zeitlosen Erlösung untergeordnet, bleibt der ontologische Status der Zeit ebenso ambivalent wie die Frage nach der innerweltlichen Gemeinsamkeit der Zeit als geteilter Geschichte ungelöst.13
II.2 Gehen Aristoteles und Augustinus trotz ihrer Betonung der operativen Struktur der Zeitbildung in einer Seele von der Realität der Zeit aus, ohne diese Ambivalenz wirklich aufzuklären, so löst sich diese Prämisse in der neuzeitlichen Zeittheorie auf. Anstatt Zeit vom Sein her zu denken, wird das Sein verzeitlicht. Erhalten bleibt die Form der Zeit als Einheit der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ort dieser Differenz ist nicht länger eine Seele, sondern das Bewusstsein, das sich jedoch im Zuge der Radikalisierung der Zeitlichkeit zur Welt hin öffnet. Ein tendenziell solipsistischer Zeitbegriff erweitert sich sozialtheoretisch. Diese Öffnung zur Welt unterläuft einerseits die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, wie die sich als Zeittheorie konstituierende Bewusstseinstheorie sie zunächst vornimmt; andererseits wird die Theorie der Zeit dadurch für eine Theorie der Gegenwart anschlussfähig, die nicht zuletzt kulturkritische Züge ausprägt. Am Beispiel von Kant, Husserl, Bergson und Heidegger tritt die Typik dieser Argumentation in ihren Grundzügen vor Augen. Kants transzendentalphilosophische Kritik der Metaphysik begreift Zeit als apriorische Form der sinnlichen Anschauung.14 Sie fungiert als Bedingung aller – der inneren wie der äußeren – Erscheinungen überhaupt, ohne dass ihr ein bewusstseinsunabhängiges Sein zukäme. In ihrer transzendentalen Idealität ermöglicht sie empirische Wirklichkeit, gerade indem sie ihren ontologischen Status einbüßt. Der zeitliche Strom der Erscheinungen wird von der kategorialen Struktur des Verstandes mit Hilfe von Schematismen geordnet, die ihrerseits Formen der Zeit repräsentieren.15 Gegenstandskonstitution erfolgt auf dem Wege einer zeitlichen Schematisierung zeitlicher Erscheinungen,
12. Ebd., XXX. 40. 13. Augustinus arbeitet mit der Hypothese einer Weltseele, die weder mit der Einzelseele noch mit Gott zusammenfällt, ohne sie doch theoretisch stark zu machen. Vgl. ebd., XXX. 41 und den Kommentar von Flasch, bes. S. 407f. 14. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt 1983, A 31. 15. Ebd., A 137ff. 59
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die durch die operative Einheit einer spontanen Bewusstseinstätigkeit – der reinen Apperzeption – synthetisiert werden. Durch diese Annahme will Kant verhindern, dass die Serie zeitlicher Bestimmungsleistungen, die das Wechselspiel von Kategorien und Anschauung zustande bringt, zur Diffusion des Bewusstseins in der Zeitlichkeit seiner Operationen führt.16 Diese Reflexivität des prozessualen Selbst hat die Form der Einheit seiner temporalen Operationen und konstituiert sich im Akt einer einheitsstiftenden Selbstreferierung, die, als Form, nicht mit einer einzelnen Synthesisleistung koinzidiert, welche sie als Leistung seiner selbst erst ermöglicht.17 Solche Einheit ist zugleich – als Operation – zeitlich und – als Form der Operationen – nichtzeitlich. Sie bildet sich als Form des Bewusstseins erst durch den relationalen Bezug des im inneren Sinn Bewussten auf ein Identisches – analog zur Relation der Prädikate auf ein Subjekt. Als »X« konstituiert es sich als Referenzpol urteilsförmiger Bewusstseinsoperationen, der selbst keiner gegenstandsanalogen Bewusstseinspräsenz fähig ist.18 Die zeitlos-zeitliche Form des »Ich« verdankt sich einer Kombination logischer und grammatischer – urteilsförmiger – Relationenbildungen über Erscheinungen, die Bestimmungen von etwas als etwas – also Seiendes – über zeitliche Operationen erzeugen, die doch rekursive Operationen eines Operators sein müssen, um nicht alle Bestimmungen in der Linearität sukzessiver Operationen verhallen zu lassen. Der Akt rekursiver Referenz auf ein Ich entsteht in der philosophischen Reflexion selbst und expliziert die Identität des Selbst als Form des zeitlichen Beharrens im Wechsel seiner operativen Zustände.19 Bei der Formierung der veränderlichen Bewusstseinsinhalte zur dauernden Einheit des Ichs müssen aktuelle Wahrnehmungsinhalte mit vergangenen und erwarteten in Beziehung gesetzt werden. Dazu bringt Kant ein »Bezeichnungsvermögen« in Anschlag, dessen signifikativer Leistung es zu verdanken ist, dass ein Gegenwartsbewusstsein auf vergangene Inhalte zurück- und auf erwartete vorausgreifen kann.20 Mittels dieser signifikativen Bestimmungen von Bewusstseinsinhalten dreier Zeitmodi vermag das Denken seine Selbstreferenzialität als »Rede mit sich selbst« zu formieren und sich als Philosophie zu etablieren.21 Auch Husserl nähert sich dem Problem der Zeit auf dem Wege
16. Ebd., B 132ff. 17. Ebd., B 135ff. 18. Ebd., B 405. 19. Ebd., B 409. 20. Kant, I., Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: I. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983, S. 395690, hier S. 497ff. 21. Ebd., BA 109. 60
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einer Bewusstseinsanalyse, die der Struktur fungierender Intentionalität beschreibend nachgeht, ohne Aussagen über ein bewusstseinsunabhängiges Sein der Zeit zu treffen. Anders als Kant sucht seine Phänomenologie aber Bewusstseinsleistungen auf einer Ebene zu analysieren, die der Form des Urteils vorausliegt. Zeit erscheint so nicht als Schematismus einer Objektkonstitution, sondern als Oszillation einer lebendigen, kontinuierlichen Gegenwartsintentionalität zwischen retentionalen und protentionalen Gehalten, die sich wechselseitig modifizieren und jede digitale Separierung der Zeitmodi durch ein messendes Jetzt unterlaufen.22 Mit der Wiederholung des Vergangenen als dem Erinnerten einer Gegenwart, die auf Erwartungen der Zukunft bezogen ist, bleibt das Erinnerte nicht Dasselbe, sondern erweist sich gerade in seiner Kontinuität als ein je Verschiedenes. Das Gegenwartsbewusstsein gewinnt eine Dauer in der zeitlichen Differenz seiner präsenten Inhalte als erinnerter, aktualer und antizipierter, die keiner urteilsförmigen oder zeichenhaften Synthesen bedürfen. Einer intentionalen Gegenstandsidentität im Bewusstsein entspricht ein Kontinuum von Empfindungsabschattungen, die, bei aller Modifikation durch folgende Wahrnehmungen, als vergangene je gegenwärtig bleiben. Husserls Aufmerksamkeit richtet sich nun statt auf die Gegenstandskontinuität im Bewusstseinsfluss auf die zeitliche Struktur der Wahrnehmungseinheit des Gegenstandes. Zeit, als Form gegebener Objektivität, bildet sich auf der Grundlage des kontinuierlichen Bewusstseinsstroms durch Synthetisierung der Dauer eines Etwas. Der Fluss selbst konstituiert sich als Kontinuum von Abschattungen, die an immer neuen Jetzteindrücken haften und sich zu vielfältigen retentionalen und protentionalen Verweisungen verzweigen. Die Einheit des Flusses entsteht in der Reflexion des ihn ausmachenden Wandels selbst als Form der Dauer über dem Wechsel der Inhalte. Einheit setzt dabei die lückenlose Kontinuität der Wahrnehmungsinhalte voraus, die dank retentionaler Verweisungen eine Selbigkeit der Gegenstände und damit des sie wahrnehmenden Bewusstseins ermöglicht. Dieses Bewusstsein ist dann selbst die zeitliche Form seiner – nur in seiner Wahrnehmung gegebenen – zeitlichen Inhalte. Deshalb kann Husserl sagen, dass der Bewusstseinsfluss dank dieser »Längsintentionalität« seine eigene Einheit konstituiert.23 Dessen Identität ist die Kontinuität des in der Wahrnehmung Gegebenen, die weder auf eine synthetisierende Referenz noch auf zeichenhafte Verweisung angewiesen ist.24 Husserls
22. Husserl, E., Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (18931917), Hamburg 1985. 23. Ebd., S. 244f. 24. Daraus hat Bieri unter Bezug auf McTaggart den Einwand entwickelt, eine transzendentale Zeittheorie müsse letztlich eine reale Zeit unterstellen, von der die sub61
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Phänomenologie folgt dem Paradigma einer Dingwahrnehmung, die sich einer reinen Deskription erschließt, ohne auf symbolische Vermittlungen des Wahrgenommenen als eines kulturell spezifischen Etwas reflektieren zu müssen. Als Form jedoch gelangt die Zeitlichkeit des Bewusstseins nur zum Bewusstsein, wenn sie selbst Gegenstand einer bewussten Aufmerksamkeit wird, die ihrerseits der Form der Zeit unterliegt. Die Form der Zeit zeigt sich nur in der Zeit. Sie bleibt, in der Form, in der Husserl sie denkt, paradox: ein unbewusstes Bewusstsein.25 Die Figur eines unbewussten Bewusstseins, dessen Zeitlichkeit sich jeder Darstellung in Messoperationen oder begrifflichen Fixierungen entzieht, hat Bergson zu einer kulturkritischen Theorie der Zeit ausgemünzt.26 Einer homogenen Zeit, die sich in Zahl und Maß symbolisiert, stellt er eine heterogene »wahre Dauer« des »inneren« Ichs gegenüber, in der sich Bewusstseinszustände durchdringen und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf eine Weise verschmelzen, die weder in Zahl noch Wort symbolisierbar ist.27 Ist die Dauer des inneren Ichs das Reich einer nie ganz ins Bewusstsein zu hebenden gefühlshaften Bedeutungsbildung, so sorgt die symbolisierte Zeit des Oberflächen-Ichs für die Anpassung an eine äußere Ding- und Sozialwelt. Weil das Bewusstsein Bedeutungen nur in der Form von Unterscheidungen erzeugt, substituiert es auf folgenreiche Weise seiner qualitativen inneren Zeit eine quantitative äußere Zeit. Solche Symbolisierungen schlagen aber auf die qualitative Zeit so zurück, dass diese sich in der Ordnung des Symbolischen dissoziiert. Das »fundamentale« Ich täuscht sich deshalb über sich selbst, weil es seine verworrene innere Dynamik nicht symbolisch zu objektivieren vermag. Durch die Brutalität der symbolischen Ordnungen einer äußerlichen Zeit werden unpersönliche und abstrakte Bedeutungen in die präsymbolische Sphäre einer ursprünglich-verworrenen Sinnbildung eingeschleust.28 Im Traum parodiert die »lebendige« Intelligenz des inneren Ichs die gewaltsamen
jektiv konstituierte Zeit lediglich eine Darstellungsform sei. Vgl. Bieri, P., Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt am Main 1972; zur Unterscheidung einer A und B-Reihe der Zeit vgl. McTaggart, J./McTaggart, E., Die Irrealität der Zeit, in: W. Ch. Zimmerli/M. Sandbothe (Hrsg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, S. 67-86. – Aus der Perspektive einer Theorie operativer und semiotischer Zeitkonstitution erscheint hingegen die Supposition realer Zeit lediglich als Möglichkeit einer Zuschreibung durch Beobachter. Vgl. zur Kritik an Bieri auch Nassehi, A., Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Opladen 1993, S. 239ff. 25. Husserl, E., Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, S. 248. 26. Bergson, H., Zeit und Freiheit, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989. 27. Ebd., S. 92ff. 28. Ebd., S. 97ff. 62
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Bedeutungen der äußeren Zeit durch Verschiebungen und Überlagerungen, die jede Trennung zwischen Zeichen und Zeiten sabotieren. Im Wachzustand hingegen formiert die symbolische Ordnung von Zeit und Zeichen eine Realität der sozialen Welt, die dem inneren Ich als Ordnung entfremdeter Sachverhalte entgegentritt.29 Deren Auswirkungen reichen bis in das aktuelle Wahrnehmungsbewusstsein hinein, insofern Bergson jede Wahrnehmung in eine Hülle aus Erinnerungen und zeichenhaften Verweisungen eingesponnen sieht. Diese Verweisungen werden durch Wahrnehmungen aufgerufen, die ein etwas als etwas durch die Selektivität ihrer Referenzen hervorbringen.30 Bedeutungsstiftende Erinnerungsspuren schlagen sich in leiblichen, nicht nur bewusstseinsförmigen Dispositionen nieder. Bergson denkt daher nicht eine abstrakte Gegenwart, sondern die lebendige Bewegung des Leibes als bewegliche und in sich dauernde Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft.31 Die Form der Zeit erweist sich als Resultat einer zeichenvermittelten Entfremdung einer ursprünglichen, nicht repräsentierbaren und akausalen Dynamis des leibvermittelten Bewusstseins. Demgegenüber muss eine Kantische Konzeption der Zeit geradezu als Symbol des Vergessens des Unbewussten zugunsten eines zwanghaft rationalisierten Ichs erscheinen. Mit dieser Betonung einer spezifischen Dauer und der auf ein reines Bewusstsein irreduziblen Form der Zeit hat Bergson ebenso wie mit der kulturkritischen Ausmünzung einer Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Zeit Motive der Heideggerschen Zeitanalyse vorweggenommen. Seine Theorie des »fundamentalen« Ichs trifft sich zudem in ihrer antikantianischen Stoßrichtung mit der fundamental-ontologischen Daseinshermeneutik Heideggers. Auch dieser sieht die abendländische Tradition von einer vulgären Zeiterfahrung beherrscht, deren »Weltzeit« er gegen eine ursprüngliche Zeitlichkeit des Daseins ausspielt. Die objektivierte Weltzeit verstellt in seinen Augen eine begründende Zeit und wird ihrerseits zeitkritisch als Symptom einer Zeitvergessenheit der Gegenwart gedeutet. Jedes reale Jetzt nämlich ist ein intentional konkretes und zeitlich erstrecktes, das sich auf Zukunft hin entwirft. Noch Husserls inneres Zeitbewusstsein erweist sich gegenüber dieser ursprünglichen Zeitlichkeit eines sorgend auf Welt bezogenen Daseins als abstrakt. Dessen In-der-Welt-sein organisiert sich um ein Worumwillen, das jede Erschlossenheit von Seiendem in die zeitliche Struktur von zeitlichen Möglichkeiten einbettet. Dasein ist Möglichsein, und Möglichsein ist gebunden an eine Zeitlichkeit, die als solche erst im vorlaufenden Sein-zum-Tode in radikaler Endlichkeit zum
29. Ebd., S. 103f. 30. Bergson, H., Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 18ff., 54f. 31. Ebd., S. 66f. 63
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Vorschein kommt.32 Solche Möglichkeiten profilieren sich – als verständliche – in der Form von Sinn, der seinerseits in der Konkretheit seiner Verweisungen zeitlich ist. Geworfen in eine präexistente Welt, die schon von anderen bewohnt und sinnhaft vorerschlossen ist, überliefert sich das Dasein zunächst an das »Man«, für das Zeit eine innerweltliche Struktur darstellt, die sich in ihrer Linearität von Jetztpunkten im Modell der Uhr symbolisiert. Die Zeit des Man ist, wie bei Bergson, stetig und homogen.33 Im Modus dieser Zeit bleibt das Dasein an die Welt und das zweckgerichtete Handeln in ihr ausgeliefert, ohne sich über seine eigene Zeitlichkeit Rechenschaft abzulegen. Heidegger deutet dieses Verstricktsein in Welt als Verfallenheit und Todesflucht.34 Erst im bewussten Vorlauf auf seine Endlichkeit im Tode als realer Möglichkeit vermag das Dasein diese bewusstlose Signatur einer Verstrickung in Weltzeit zu durchbrechen und zur Eigentlichkeit seiner Existenz vorzustoßen.35 Es bezieht sich dann in seiner Gegenwart so auf gewesene Möglichkeiten, dass es sich in ihrer bewussten Übernahme zu ihnen situiert, ohne sie doch als solche erneuern oder im Blick auf Fortschritt überwinden zu wollen. Erst die Annahme der Endlichkeit seiner Zeitlichkeit im bewussten Vorlauf zum Tode verbindet den Entwurf auf Zukunft hin mit der Übernahme eines Gewesenen als Schicksal.36 Ein gegenwärtiges Sein in der Welt gründet mithin in der doppelten Bezugnahme auf ein sorgendes Vorwegsein in Zukunft wie auf einer Übernahme des Gewesenen. Das Sein der Gegenwart erhält seinen Sinn aus der dominanten Bedeutung der Zukunft, die eine Überlieferung an das Gewesene ermöglicht und die im Bewusstsein des Todes zur reflexiven Transparenz gelangt. Zeitlichkeit des Daseins heißt Endlichkeit; Zeit erschließt sich als Zeitigung des Daseins selbst.37 Dieses Dasein ist nicht innerzeitlich, sondern die Zeit selbst als Zeitlichkeit. Es ist Einheit der Zeitmodi, indem es seine Gegenwart von einer Zukunft aus versteht, die wiederum seine Vergangenheit ist, auf die es in der Realisierung konkreter Möglichkeiten zurückkommt.38 Bei Bergson und Heidegger lädt sich die Form der Zeit als Einheit der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit der sinnhaften Struktur einer geschichtlichen Welt auf. Diese Erweiterung eines bewusstseinstheoretischen Zeitbegriffs wird jedoch nicht sozialtheoretisch entfaltet, sondern die jeweilige Gegenwart wird zugunsten
32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.
Heidegger, M., Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen 1979, S. 142ff. Ebd., S. 420ff. Ebd., S. 424. Ebd., S. 382ff. Ebd., S. 385f. Ebd., S. 328ff. Heidegger, M., Der Begriff der Zeit, Tübingen 1989, S. 25f. 64
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einer ursprünglichen Zeit – des fundamentalen Ichs oder des Daseins – abgewertet. Die Reflexion auf Zeit lässt sich nicht mehr von einer Ewigkeit faszinieren, sondern sucht die eigentliche Zeitlichkeit in der Gegenwart kulturkritisch als Durchbrechung sozial konstituierter Zeitstrukturen zu gewinnen, um symbolisch wie gesellschaftlich unverstellte Möglichkeiten freizulegen. Die wirkliche Zeit einer gesellschaftlichen Ordnung erscheint nun als unwirklich. Eine fundamentale Zeitlichkeit rebelliert gegen die symbolische Ausformung mundaner Zeitordnungen. In der symbolischen Formierung der Zeit der Gesellschaft realisiert sich eine uneigentliche Ordnung des Seienden. Weltzeit wird als soziale Zeit mit kulturkritischer Akzentuierung als eigentlich unwirkliche Zeit denunziert, während die wirkliche Zeit keine reale Zeit des Kosmos mehr darstellt, sondern als eine weder messbare noch symbolisch repräsentierbare ursprüngliche Quelle von Bedeutungsbildung verstanden wird. Bergson und Heidegger liefern zugleich Argumente für eine inhaltliche, nicht formal gedachte Zeit, die den Paradoxien der Zeit, wie sie die Bewusstseinstheorien von Kant und Husserl prägen, eine neue Richtung geben. Im Spiegel ihrer kulturkritischen Perspektive zeigt sich zudem ein Zusammenhang zwischen Bewusstseinszeit und sozial konstituierter Zeit, obwohl der Akzent auf der subjektiven Zeit als fundamentaler Ebene der Zeitkonstitution liegt.
III. An der Verschiebung der begrifflichen Form des Zeitproblems von Aristoteles bis Heidegger fällt die schrittweise Lösung von der Realität der Zeit hin zu einer Zeit des Bewusstseins und zu einer Zeitlichkeit des Daseins ins Auge, das nicht nur qua Bewusstsein, sondern leiblich mit anderen in Welt verstrickt ist. Damit verbunden ist ein wachsendes Interesse an der Qualität der Zeiterfahrung, wenngleich dieses Interesse sich zunächst kulturkritisch präsentiert. Die Zeichenhaftigkeit der Zeiterfahrung, die bereits Augustin registriert, verwandelt sich bei Bergson und Heidegger zu einer Kritik der Zeichen als entfremdeter Form von Erfahrung. Darin melden sich Spätausläufer einer Auffassung zu Wort, die Zeichen und Zeit einer lebendigen Präsenz des Bewusstseins und einem idealen Sein unterordnet. Wenn Sein – Bestimmtsein – sich aber nur als Zeit fassen lässt, und wenn Zeit eine Ordnung übernommener und antizipierter Möglichkeiten voraussetzt, die sie operativ umformt und die in ihrer Konkretion bis in die aktuale Wahrnehmung lebendiger Intentionalität hinein von sozialen und symbolischen Strukturen imprägniert ist, erscheint Seiendes in der Form von Verweisungen, die auf je andere – simultane und diachrone – Möglichkeiten hinweisen. Die relationale Bestimmung von etwas als etwas im Netz temporaler wie signifikativer Differenzen entzieht auch der Un65
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terscheidung von Eigentlichem und Uneigentlichem den Boden. Wirkliches verliert den Status eines festen zeitlosen Seins zugunsten eines nur rekursiv zu stabilisierenden Möglichen, dessen Dauer in zeitlichen Operationen der Signifikation gründet. Seiendes und Zeit unterliegen der Form der Differenz. Deshalb gewinnt in der phänomenologischen Tradition von Husserl und Heidegger der Begriff des Sinns eine zentrale Bedeutung. Selbst wenn der Begriff des Seins durch Sprache substituiert wird, bleibt nun Zeit tragender Grund allen Sinns.39 Dieser Sinn aber ist weder ein formaler, der in der Struktur der Urteilsbildung aufginge, noch eine reine Intention transzendentaler Subjektivität, die auf eine nicht zeichenhafte Dingwelt bezogen ist, sondern ein immer schon symbolisch vermittelter. Im Übergang von Sein zu Sinn rücken Probleme der Zeichenhaftigkeit von Bedeutung und Erfahrung in das Zentrum der Zeitreflexion. Eine Akzentuierung des semiotischen Aspektes der Zeitkonstitution eröffnet die Möglichkeit, auch die soziale und räumliche Dimension als simultane Aspekte der Zeitlichkeit einzubeziehen. Weil der subjektive Aspekt erfahrener Zeit in der Differenz zur sozial konstituierten Weltzeit im Zuge der historischen Transformation der Zeittheorie immer fundamentaler wird, erscheint ein selbst zeitlich begriffener Sinn als Form des Erscheinens von »Sein«. »Sein« behält Sinn nun in der Form einer Referenz, die selbst zeitlich ist und in ihrer designativen Funktion auf kontingenten Verweisungen beruht. Denken und Sein stehen in keiner semiotisch ungetrübten Korrelation mehr, die eine zuverlässige und zeitenthobene Erkenntnis, sei es des Seins, sei es des erkennenden Denkens, gestatten würde. Realität ist nicht länger ideal und ewig, sondern Funktion von Unterscheidungsprozessen, die in der Kombination von Wiederholung und Differenz Räume des Möglichen konstituieren.40 Solche Unterscheidungen finden ihren Ort sowohl im Wahrnehmungsbewusstsein und im Denken als auch in Prozessen sozialer Kommunikation oder in kulturellen Artefakten. Anders als der Begriff des Seins zielt der Begriff des Sinns nicht auf ein Unwandelbares, sondern auf die Differenz von Bestimmtem und – relativ dazu – Unbestimmtem. Bestimmtes und relativ Unbestimmtes kristallisieren sich zu Formen, die als Formen zeichenhaft repräsentierbar sind und als dynamische, also zeitliche Verweisungsfelder Wirklichkeit im Sinne von Bestimmtheit konstituieren. Die Unterscheidung von Bestimmtem und Unbestimmtem löst die klassische Unterscheidung von Form und Materie ab, weil sie keine Intelligibilität und Ewigkeit der Form gegen eine als bloße Möglichkeit gedachte Materie ausspielt, sondern die Fra-
39. Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 281. 40. Dieser Gedanke lässt sich bis zu einer Metaphysik der Wiederholung steigern: vgl. Deleuze, G., Differenz und Wiederholung, München 1992. 66
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ge nach dem Sein durch die Frage nach Formbildungen innerhalb von sinnhaften Referenzräumen ersetzt, die als Formen mehrfache simultane Kontingenzen fokussieren und deshalb selbst nur als zeitliche eine operativ reproduzierte Stabilität besitzen. Sinn konstituiert Verweisungshorizonte, die selbst zeitlich dynamisch sind und Spektren möglicher Bestimmungen von etwas als etwas, also von Seiendem, definieren. Je gegenwärtig bestimmte Kontingenzen möglichen Seins repräsentieren einen simultanen Raum konkreter Bestimmbarkeit, der sich, weil symbolisch vermittelt, als Kultur bezeichnen lässt. Bestimmungen von etwas als etwas erfolgen nicht unabhängig von zeichenhaften Markierungen, auf die rekursiv verwiesen wird, um im zeitlichen Wandel relativ Bleibendes zu bestimmen. Als Effekt rekursiver Bestimmungen haftet jeder Bestimmung eine Nachträglichkeit an, die sich als temporale Verschiebung sinnhafter Verweisungen im kulturellen Raum manifestiert. In der Form von Sinn oszillieren Sein, als Bestimmtsein, Zeit und Symbolordnungen ineinander. Da die Form von Sinn eine Differenz darstellt, die Bestimmung nur in immer neuen, mithin zeitlichen Operationen der Unterscheidung erzeugt, in denen rekursive Verweisungen mit antizipierten Erwartungen in Verbindung treten, ist Sinn nur möglich, wenn ein Operator Unterscheidungen generiert, die als Form einer Einheit von Ein- und Ausgeschlossenem Bestimmtheit konstituieren – sei es in der Gestalt eines Bewusstseins, sei es in Gestalt von Kommunikation. Dieser Operator fungiert als je gegenwärtiger Prozess der Differenzbildung und als soziale Adresse von Sinnzuschreibungen, ohne sich substanziell fixieren oder als »Subjekt« hypostasieren zu lassen.41 Sinn ist ein Schema mehrfacher simultaner Kontingenzen, die sich im Wechselspiel miteinander – zeitlich, räumlich, symbolisch und sozial – bestimmen.42 Wenn Sein nur in Form von Sinn erscheint, dynamisiert sich das Verständnis von Wirklichkeit. Bestimmungen entstehen in der Zeit durch zeitliche Operationen zeichenvermittelter Verweisungen, die sich zu Ordnungen ausdifferenzieren, die selbst dynamisch und im Verhältnis zueinander nicht hierarchisch sind. Dieser Beobachtung am Beispiel der erfahrenen subjektiven und sozialen Zeit korrespondiert ein modernes naturwissenschaftliches Zeitkonzept, das statt auf Bleibendes auf irreversible Ordnungsbildungen zielt, die Wahrscheinlichkeitsspektren möglicher Ereignisse definieren. Zyklische Wiederholungen rekursiver Prozesse und ereignishafte Abweichungen greifen so ineinander, dass Evolution und Strukturbildung ebenso wie Struktur-
41. Vgl. zum Problem des Verhältnisses von Einheit und operativer Differenz auch Fuchs, P., Die Metapher des Systems, Weilerswist 2001. 42. Vgl. dazu Rustemeyer, D., Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001. 67
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zusammenbrüche entstehen.43 Was für das »Sein« gilt, gilt aber ebenso für die operative Instanz der Unterscheidung, durch deren Tätigkeit Bestimmung hervortritt. Die Position der Seele, des Subjekts, des Bewusstseins oder des Daseins erscheint ihrerseits als eine kontingente, die sich in der Interferenz zeitlicher Vor- und Rückgriffe, symbolischer Verkettungen von Bestimmungen und eines Raumes möglicher Referenzen bestimmt. Weil sie selbst jeweils sinnhaft bestimmt ist, ist sie als Form der Differenzbildung qualitativ innerweltlich bestimmt.44 Gerade die Universalisierung der Zeit für jedwede sinnhafte Bestimmung nimmt der Zeit ihre fundamentale Position und relativiert sie auf einen Aspekt sinnkonstitutiver Differenzbildungen in der simultanen Interferenz zu anderen. Weder Sein noch Zeit sind fundamental oder homogen. Als Form der Sinnbildung ermöglicht Zeit vielmehr eine Pluralisierung in Eigenzeiten, die differente Prozesse der Ordnungsbildung mit eigenen Rhythmen von Zyklizität und Variation freigibt. Natürliche – physikalische oder biologische –, subjektiv-erfahrene und soziale Zeit interferieren und differieren zugleich. Keine von ihnen kann per se als fundamental angesetzt werden. Ohne physikalische Strukturbildungen wären keine biologischen, ohne biologische keine bewusstseinsförmigen und ohne Bewusstsein keine sozialen Zeit-Ordnungen möglich, ohne dass deren Eigenzeiten aufeinander reduziert werden könnten. Nur Bewusstsein und Kommunikation hingegen operieren mit der Form des Sinns und sind als Zeitordnungen auf Zeichenordnungen angewiesen, in denen die Referenz auf Bestimmtes, unter anderem auf Natur, möglich wird. Zeichenordnungen gehen in Sprache nicht auf, wenngleich diese die evolutionär erfolgreichsten Möglichkeiten freisetzt, eine universelle Repräsentation von Gedanken, Gefühlen, Verhältnissen und Sachen ermöglicht und durch ihre grammatische Struktur logische wie ontologische Dispositionen nahelegt.45 Nicht zuletzt die Theorie von Sein und Zeit, wie sie seit Aristoteles für das abendländische Denken prägend ist, weist eine enge Beziehung zwischen Weltkonzeption und Sprachkonzeption auf. Grundsätzlich ist jede zeichenvermittelte Bestimmung wiederum ein mögliches Zeichen für weitere Verweisungen, das in Wahrnehmungen ebenso wie in Gesten und Sprechakten oder Tönen, in Schrift, Bildern und anderen Artefakten Ausdruck finden kann. Unterschiedliche Zeichensysteme konstituieren gemeinsam den
43. Cramer, F., Der Zeitbaum – Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie, Frankfurt am Main, Leipzig 1996. 44. Hingegen radikalisiert Derrida seine semiologische Umschrift der Metaphysik zu einer ursprungslosen Theorie der Differenzbildung. Vgl. Derrida, J., Grammatologie, Frankfurt am Main 1983. 45. Vgl. dazu Goodman, N., Sprachen der Kunst, Frankfurt am Main 1995. 68
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sinnhaften Raum einer Kultur. Sie weisen je eigene Zeitlichkeiten auf, die sich evolutionär ausprägen und rekursiv zu Ordnungen höherer Unwahrscheinlichkeit steigern, wie sie am Beispiel der Künste oder der Wissenschaften vor Augen treten. Innerhalb dieses kulturellen Raumes existieren sinnhafte Verweisungen zwischen Symbolordnungen, die jedoch nicht im Verhältnis gegenseitiger Übersetzbarkeit oder genealogischer Fundierung stehen müssen. Sprache, Musik, Bilder, Gesten, Gegenstandsformen oder Darstellungsmöglichkeiten, wie die Mode sie zur Verfügung stellt, repräsentieren ebenso wie Künste und Wissenschaften Varianten signifikativer Systeme, die korrelative Dynamiken unendlicher Semiosen freisetzen.46 Die Form des Sinns realisiert sich semiotisch in Medien der Signifikation, in denen Differenzbildungen markiert, tradiert und variiert werden. Medien der Sinnbildung stellen für die soziale Kommunikation und das wahrnehmende Bewusstsein unterschiedliche Möglichkeiten des Differenzaufbaus bereit, die ihrerseits wesentlich durch zeitliche Unterschiede geprägt sind. Sprache und Musik, Film und gestisch vermittelte Kommunikation oder Bilder operieren als Unterscheidungsordnungen mit anderen Rhythmen der Zeitlichkeit.47 Vor diesem Hintergrund transformiert die Frage nach dem Zusammenhang von Sein und Zeit sich zu der Frage nach den historischen, sozialen, symbolischen und kulturellen Möglichkeiten sinnhafter Ordnungsbildungen, die stets interpretativen Charakter aufweisen. Eine Universalität zeichengestützter Bestimmungen tritt an die Stelle universaler Strukturen des Seins oder der Vernunft.48
IV. Für eine kulturwissenschaftliche Theoriebildung gewinnt das Zusammenspiel von Semiosen, Wahrnehmungsformen und sozialen Ordnungsbildungen ein grundlegendes Interesse. Im Kern handelt es sich dabei um die sinntheoretische Verschränkung einer Theorie der Zeit, der Zeichen und der Gesellschaft. Argumente für eine Begriffsstrategie, die Zeit und Sinn als Effekte von Symbolordnungen beschreibt,
46. Eco, U., Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt am Main 1977; Barthes, R., Elemente der Semiologie, Frankfurt am Main 1983. 47. Vgl. dazu Lampson, E., Bildlichkeit im musikalischen Prozeß, in: D. Rustemeyer (Hrsg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung, Würzburg 2003; Rustemeyer, D., Medialität des Sinns, in: Ebd., S. 171-194 48. In diesem Sinne spricht G. Abel von »Interpretations-Welten«. Vgl. Abel, G., Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, 1989, S. 1-19; Abel, G., Interpretatorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Djuric, M., (Hrsg.), Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg 1990, S. 100-130. 69
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lassen sich im Rückgriff auf die Überlegungen von Peirce und Wittgenstein finden (IV.1). Um das Zusammenspiel von Sinn und Zeit für eine Theorie der Gesellschaft anschlussfähig zu machen, lässt sich auf Begriffsdispositionen von Luhmann und Bourdieu zurückgreifen (IV.2).
IV.1 Die Semiotik von Peirce liefert ein Modell dafür, jegliche Sinnbildung und alles Denken als zeichenvermittelt zu begreifen, ohne den Begriff des Zeichens auf die symbolische Ordnung der Sprache zu reduzieren.49 Jedwede Bestimmung ist demnach in semiotische Verweisungsprozesse eingebunden, die ihrerseits in konkreten Erfahrungen mit der Welt gründen und ein Wissen repräsentieren, dessen Validität sich aus seiner Bewährung in zukünftigen Handlungen erklärt. Bedeutung gewinnt ein Zeichen beziehungsweise ein als etwas repräsentiertes »Seiendes« durch seine mögliche Übersetzung in andere Zeichen, die ihrerseits Erwartungen und Verhalten disponieren, weil sie auf weitere Zeichen referieren. Zukunft, in Form von Erwartung und Vorhersage, ist der dominante Modus signifikativer Sinnbildung.50 Zeit erscheint als reale Struktur der Erfahrung, die Vergangenes in Erwartetes umformt, wobei Peirce die Gegenwart als »Entwicklungszustand zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem«, mithin als Form des Sinns in statu nascendi, beschreibt.51 Damit verwandelt sich das »Jetzt« zu einer dynamischen, zur Zukunft hin asymmetrischen, semiotisch geführten und als Prozess selbst zeitlichen Verweisungsstruktur. Diese haftet zwar an Wahrnehmungen und Denken, ist aber keine operative Leistung eines animus oder transzendentalen Ichs. Gegenwart ist »Kampf« um das Kommende, das sich in Begehren und Wahrnehmung als ein konkretes Etwas gegen Anderes profiliert.52 Als Transformation zeichenhafter Bestimmungen in Prozessen des Aufbaus von Erfahrungsordnungen trägt Zeit Züge des Lernens, weil sie die semiotische Struktur eines Argumentes besitzt, das Schlüsse von Vergangenem auf Künftiges erlaubt und so der Erweiterung von Erfahrung dient.53 Zeit ist die Form einer semiotischen Kontinuität, die ihrerseits auf einer irreversiblen Struktur praktischer Erfahrung aufruht und eine Ordnung der Verknüpfung
49. Peirce, Ch. S., Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt am Main 1983, S. 42ff. 50. Peirce, Ch. S., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt am Main 1976, S. 442. 51. Ebd., S. 475. 52. Ebd., S. 477. 53. Peirce, Ch. S., Collected Papers, Cambridge/Mass., London 1958, Bd. VII, 536; Bd. IV, 523. 70
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möglicher Realitäten repräsentiert.54 Im Unterschied zu Husserls »Längsintentionalität« bleibt eine solche semiotische Kontinuität von sozialen Praktiken der Bedeutungsbildung durchzogen und reicht in der Komplexität ihrer Verweisungsketten in eine Anonymität von Sinn hinein, die jedes Einzelbewusstsein in seiner Oszillation zwischen Retentionen und Protentionen übersteigt. In dieser Verschränkung von Zeit und Erfahrung, wie die Semiotik von Peirce sie vornimmt, zeigt sich eine Nähe zu phänomenologischen Beschreibungen der Zeitlichkeit, die Heideggers Kategorie des »Daseins« nicht nur kulturkritisch ausmünzen, sondern sozialtheoretisch weiterentwickeln.55 Eine in Symbolordnungen inkorporierte Zeit der Referenz ist eine soziale Zeit. Wittgensteins Sprachspielanalysen führen vor Augen, dass Semiosen, wie Peirce sie rekonstruiert, auf sozialen Praktiken der Bedeutungszuschreibung beruhen, die sich in Gewohnheiten und Regeln verdichten. Zeichen »leben« im »Gebrauch«.56 »Zeit« wird unter dieser Perspektive als Form des Sprechens verständlich, deren Leistung in der pragmatischen Koordination von Aussagen innerhalb grammatisch vorstrukturierter Möglichkeitsräume besteht. Sprache als semiotischer Prozess ist selbst zeitlich. Wenn Bedeutungen in dynamischen Semiosen entstehen, kann eine Suche nach einer kontextfreien Definition von »Zeit« nur in ein ontologisches Missverständnis führen, bei dem relationale und prinzipiell offene semiotische Verweisungsfelder mit Was-Fragen mehr verstellt als erschlossen werden.57 Sprache und Sein korrelieren allenfalls über eine grammatische Vorstrukturierung möglicher Aussagen-Signifikate, insofern eine Sprache Klassen möglicher Relationen und Gegenstände erzeugt. Peirce und Wittgenstein liefern Argumente dafür, die Aristotelische Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Sein umzukehren. Während Aristoteles Wahrheit an richtige Urteile und Begriffe, also an eine Praxis des richtigen Unterscheidens knüpft, in der eine Taxonomie des Seienden etabliert wird,58 die auf eine Konstellation zeitloser Formen verweist, begreift eine semiotisch ansetzende Theorie die Ordnung des Seins als Produkt symbolischer Unterscheidungsprozesse, die in sozialen Praktiken und Zeichensystemen wurzeln, die selbst dem historischem Wandel unterworfenen sind. Das Sein dyna-
54. Ebd., Bd. I, 433, 494. 55. Merleau-Ponty, M., Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 466ff. 56. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1977, S. 432. 57. Wittgenstein, L., Das Blaue Buch, Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1989, S. 49ff. 58. Aristoteles, Metaphysik, Buch VII, 12, 15. 71
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misiert und pluralisiert sich zu kontingenten Sinnbezügen. Die Frage nach dem Sein der Zeit verschiebt sich zur Konstitution zeitlicher Relationen in semiotischen Prozessen. Sein und Zeit sind Effekte signifikativ vermittelter Relationen. Die Aristotelische Ontologie beruht dagegen auf einer Theorie der Zeichen, die auf eine feste Korrelation zwischen Signifikaten und Signifikanten vertraut. Werden aber Zeichensysteme als unendliche Verkettungen semiotischer Relationen verstanden, erscheint nicht nur das Sein, sondern auch die Zeit als Funktion sinnhaft-semiotischer Bestimmungen, die unter anderem die – innersymbolische und sprachspielrelative – Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen erlaubt. Eine Theorie semiotischer Zeitkonstitution unter Rekurs auf Peirce und Wittgenstein hebt zudem die soziale Dimension aller Sinnbildung hervor, deren Verwobenheit mit Praktiken eine Dialogizität sprachvermittelten Denkens übersteigt. Die operative Bestimmung von etwas als etwas verweist auf soziale Akteure, die in ihrer intersubjektiven Praxis signifikative Referenzketten etablieren, Erfahrungen mit Erwartungen verknüpfen und auf metaphorischem oder abduktivem Wege neue signifikative Relationen erzeugen, die praktisches Handeln initiieren. Der sinnhafte Raum einer Kultur als simultane Struktur je gegenwärtiger Bestimmungsmöglichkeiten strukturiert sich dabei über das Zusammenspiel unterschiedlicher symbolischer Ordnungen mit je eigenen Formprinzipien, die jedoch in ihrer differenziellen Entwicklung an die Zirkulation der Zeichen in sozialen Praktiken gebunden sind. Die Philosophie symbolischer Formen erweitert sich zu einer Soziologie semiotischer Welterzeugung, die der differenziellen Funktion von Zeichen in Erfahrungen unterschiedlicher sozialer Akteure Rechnung trägt.59 Spezifische Sichtweisen der Welt, wie sie sich im symbolischen Raum einer Kultur profilieren, lassen sich dann nicht kulturkritisch gegen eine Eigentlichkeit des Daseins, die sinngenerative Kraft eines fundamentalen Ichs oder eine asymbolische Tiefenstruktur gesellschaftlichen Seins ausspielen, weil sie dem Dasein wie dem Ich als Möglichkeiten im Rücken liegen.60 Gerade eine semiotische Theorie von Zeit und Sinn zersetzt den Eigentlichkeitsgestus einer kulturkriti-
59. Vgl. als neuere Beispiele für semiotische Kulturanalysen Stegmaier, W. (Hrsg.), Kultur der Zeichen, Frankfurt am Main 2000; Wirth, U. (Hrsg.), Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce, Frankfurt am Main 2000. 60. Vgl. dazu Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, 10. Aufl., Darmstadt 1994, S. 190. Auch Cassirer möchte, bei aller Nähe zu Reflexionen auf eine soziale Fundierung der Sinnbildung, Philosophie noch in der Position einer Beobachterin der Totalität der Formen des Geistes behaupten. 72
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schen Perspektive ebenso wie den Totalitätsanspruch einer Teleologie des Geistes in der relativen Kontingenz zeitlich, symbolisch, sozial und räumlich dimensionierter Sinnbildungen im Rahmen zwar irreversibler, aber doch ateleologischer Ordnungsbildungen. Das Ganze des Sinns oder der Kultur erschließt sich weder einer jeweiligen Gegenwart als Totalität objektiver Möglichkeiten noch im rekonstruktiven Blick der Genealogie eines objektiven Geistes, der reflexiv seiner selbst in der Differenz seiner Formen ansichtig wird. Eine semiotische Theorie der Zeit placiert sich insofern jenseits einer Geschichtsphilosophie, die Gesamtdeutungen der Geschichte im Sinne einer Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwirft und nach Hegelschem Vorbild die Differenz der Zeitmodi in der simultanen Schau des absoluten Geistes aufsaugt. Vielmehr bleibt sie in der Realisierung einer selektiven Verweisungsspur von Sinn prinzipiell perspektivisch gebrochen. Zwar ist diese Spur des Sinns stets von einer Anonymität der möglichen Referenzen umgeben, die seine Dynamik und seine komplexe Verweisungsstruktur allererst ermöglichen, doch verdankt sich diese Anonymität der zeichenhaften Bestimmungen keiner semiotischen Eigendynamik, wie Derrida sie mit der Figur der différance beschreibt.61 Auch Derrida konzipiert jede Bestimmung als Produkt einer differenziellen Verweisungsstruktur, die in ihrer Gebundenheit an die materielle Struktur der Zeichen die Transparenz eines Bewusstseins unterläuft und jede Identität als Form einer Differenz enthüllt, die sich in der Zeit verstreut. Dennoch lädt er sie als generatives Prinzip mit einer produktiven Macht auf, die die Dimension sozialer Praktiken und leiblicher Inkorporierung signifikativer Prozesse abblendet. Statt auf eine kulturwissenschaftliche Analyse semiotischer Prozesse, die dem gleichzeitigen Ineinanderspielen symbolischer, sozialer, räumlicher und zeitlicher Kontingenzen Rechnung trägt, um sie als je bestimmte Kontingenzen in ihrer Nichtbeliebigkeit verständlich zu machen, setzt Derrida auf das Verfahren einer Dekonstruktion, das die Immanenz des Sinns zum Entgleisen bringt, aber ihn nicht auf seine Verwurzelung in Erfahrungen, Praktiken und Institutionen hin beobachtet. Darin bleibt die Grammatologie Philosophie des Sinns und ihrerseits in der Spur einer Metaphysik der Sprache,62 die ihre Operationalisierung zu einer Theo-
61. Derrida, J., Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt am Main 1979; Derrida, J., Grammatologie, Frankfurt am Main 1983; Derrida, J., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1985. 62. Derridas Zeichenbegriff orientiert sich nicht von ungefähr an der Sprache und der Schrift. Er vermeidet es, die Vielfalt symbolischer Ordnungen als simultane Ausdrucksformen eines kulturellen Raumes in die dekonstruktiven Verfahren einzubeziehen. Ein erweiterter Zeichenbegriff, wie etwa Goodman ihn vorschlägt, mündet eher in Analy73
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rie gesellschaftlicher Sinnproduktion erschwert, wie sie etwa eine Diskursanalyse im Anschluss an Foucault ins Auge fasst.63
IV.2 Die Transformation der zeittheoretischen Begriffsform, wie sie sich von Aristoteles über Augustinus, Kant, Bergson und Husserl bis Heidegger darstellt und in einer Semiotik der Zeit von Peirce bis Wittgenstein weitergeführt wird, erweitert den bewusstseinsanalytischen Fokus der Zeitthematik hin zu einer Theorie sozialer und symbolischer Zeitordnungen. Gerade die moderne Gesellschaft ist seit dem späten 18. Jahrhundert von Zeiterfahrungen geprägt, deren Charakter offensichtlich nicht durch Leistungen einer Subjektivität allein zu erklären ist. Industrialisierung, Massenmedien, Kommunikationstechnologien und Mobilität erzeugen neue Zeiterfahrungen. Differenzen zwischen Beschleunigung und Beharren werden in vielen Lebensbereichen spürbar.64 Soziale Organisationen wie die Fabrik oder das Bildungssystem konstituieren neuartige Rhythmisierungen von Zeit.65 Die gesellschaftliche Produktion von Zeitstrukturen wird in der Erfahrung des Wandels der Gesellschaft selbst erfahrbar. Zukunft erscheint nicht länger als Schicksal, sondern als Horizont rationaler Kontrolle und planender Kontingenzbewältigung. Zeit erweist sich als kulturelle Form, die in vielfältiger Weise ausgestaltet werden kann.66 Neben der Linearität einer zukunftsoffenen Zeit, wie sie die neuzeitliche Geschichtstheorie formuliert, zeigen soziale Zeitstrukturen ein hohes Maß an Zyklizität.67 Mehrere Zeitregime koexistieren in einer Gesellschaft und verlangen den Akteuren flexible Synchronisationsleistungen im Rahmen einer abstrakten Weltzeit ab.68 Prozesse der Innovation, der Wiederholung
sen konkreter Sinndifferenzen als in subversive Techniken der Dekonstruktion. – Vgl. auch Mahrenholz, S./Goodman, Nelson/Derrida, Jacques, Zum Verhältnis von (post-)analytischer und (post-)strukturalistischer Zeichentheorie, in: J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Rationalität, Realismus, Revision, Berlin, New York 2000, S. 254-264. 63. Vgl. dazu Rustemeyer, Sinnformen, Kap. 5. 64. R. Koselleck unterscheidet deshalb für die historische Forschung mehrere Zeitschichten mit unterschiedlichem Veränderungstempo. Vgl. Koselleck, R., Zeitschichten, Frankfurt am Main 2000. 65. Vgl. als Überblick Adam, B., Time and Social Theory, Cambridge 1990. 66. Bender, J./Wellbery, D. E. (Hrsg.), Chronotypes. The Construction of Time, Stanford 1991. 67. Young, M., The Metronomic Society. Natural Rhythms and Human Timetables, Cambridge/Mass. 1988. 68. Young, M./Schuller, T. (Hrsg.), The Rhythms of Society, London, New York 1988; Lauer, R. H., Temporal Man. The Meaning and Use of Social Time, New York 1981. 74
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und der Obliteration verlaufen gleichzeitig.69 Gesellschaftliche Ordnungen sind in sich dynamisch und in der Logik ihrer Veränderung auf Bewusstseinsprozesse irreduzibel. Ihre Erklärung motiviert die Soziologie zur Unterscheidung verschiedener Zeitstrukturen – von Organisationen über Zeichensysteme und stereotype Verhaltensformen bis hin zu kollektiven Handlungsmustern oder Rollensystemen. Zeit wird auf diese Weise zum Schlüsselbegriff der Gesellschaftstheorie.70 Durkheim sucht die Ursprünge einer kategorialen Struktur der Erfahrung, zu der auch die Zeit gehört, nicht im Bewusstsein, sondern in der sozialen Koordination sinnhafter Erfahrungen, die sich zunächst in der symbolischen Form der Religion objektivieren.71 Ihre soziale Realität gewinnt die Zeit als Instrument der praktischen Welterschließung, das durch den Akt seiner symbolischen Formung allererst entsteht.72 Der Begriff des Sinns beweist seine theorietechnische Leistungsfähigkeit in diesem Zusammenhang durch die Möglichkeit, Bewusstseinsstrukturen und Strukturen sozialer Kommunikation aufeinander zu beziehen, ohne sie ineinander zu fundieren. Keine Kommunikation wäre ohne Bewusstsein möglich, aber Bewusstsein und Kommunikation prozessieren nach eigenen Regeln der Sinnkonstitution. Wahrnehmungen, Interaktionen, Organisationen und ganze Funktionssysteme wie die Wirtschaft oder die Politik werden mit Hilfe eines temporalisierten Sinnbegriffs in ihren Strukturen vergleichbar. Greift man den Theorievorschlag Luhmanns auf, Sinn als zeitliche Operation zu fassen, in der Ereignisse Struktur gewinnen, wird Zeit zum zentralen Begriff sozialer Sinnbildung.73 Bewusstsein und Kommunikation, in denen etwas als etwas bestimmt wird, finden jeweils nur in einer Gegenwart statt. Diese Gegenwart selegiert etwas vor einem Hintergrund anderer Möglichkeiten. Um als Gegenwart Dauer zu gewinnen und sich als Ort einer Operation der Bestimmung zu reproduzieren, bedarf es der Unterscheidung eines Vorher und Nachher, mit deren Hilfe Gegenwart sich als Form der Differenz der Zeitmodi konstituiert. Vergangenheit erscheint als nicht zu Veränderndes, Zukunft als bestimmt durch Erwartungen, die ihrerseits nur vor dem Hintergrund von Vergangenheit – also als Differenz zu Bestimmtem – Bestimmtheit ge-
69. Nowotny, H., Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt am Main 1989. 70. Vgl. programmatisch Gurvitch, G., The Spectrum of Social Time, Dordrecht 1964. 71. Durkheim, E., Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1984. 72. Vgl. auch Elias, N., Über die Zeit, Frankfurt am Main 1988. 73. Vgl. vor allem Luhmann, N., Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 2000, S. 152ff. 75
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winnen. Vergangenheit determiniert jedoch Gegenwart nicht – es sei denn aus der Sicht eines Beobachters –, sondern ermöglicht eine Entscheidung zwischen antizipierten zukünftigen Möglichkeiten, die ihrerseits Erwartungen bestätigen oder durch Abweichung Überraschungen enthalten, die Strukturbildungen in Form von Erwartungsmodifikationen auslösen. Gegenwart ist Unsicherheit, die in Form von Entscheidungen zu Strukturen gestaltet wird, durch die sich Vergangenheit und Zukunft je gegenwärtig als konkrete Bestimmtheitsdifferenzen auseinanderziehen und rekursiv verknüpfen. Identität entsteht durch Prozesse der rekursiven Bezeichnung von Ereignissen, die ohne sinnhafte Markierungen, also ohne Zeichen, nicht zustände kämen. Die Konstitution von Identischem durch verweisende Wiederholung reproduziert jedoch kein zeitloses Selbes, das von den Operationen signifikativer Rekursionen unberührt bliebe. Etwas bleibt nur als ein Wiederholtes etwas und reichert sich durch die Operation seiner Wiederholung mit neuen signifikativen Differenzen an, die es zugleich konfirmieren und variieren. Erst Bezeichnungen fixieren und unterscheiden dabei Vergangenes von Künftigem, Eigenes von Fremdem, etwas von anderem.74 Gegenwart, als Aktualität der Operation von Unterscheidung, ist die Einheit von Unterscheidung und Bezeichnung. Ob in Gestalt von Bewusstsein oder Kommunikation – solche Operationen der Unterscheidung und Bezeichnung verwenden Sinn in der Form von zeichenhaft markierten Bestimmungen. Vergangenheit stellt sich unter diesen Theorieprämissen nicht als wachsende Menge des zuverlässig erinnerten Gewesenen dar, sondern als Spur gewesener Möglichkeiten in Form der gegenwärtigen Alternative zum zukünftigen Möglichen. Wie Heidegger, Peirce und Wittgenstein akzentuiert eine systemtheoretische Konzeption der Zeit die Dimension der Zukunft. Zukunft ist Überraschung, die sowohl zum Zusammenbruch systemischer Ordnungen als auch zur lernenden Weiterentwicklung führen kann; sie ist Ort der Bestimmung von Kontingenzen als Entscheidung, mithin als anderer Möglichkeiten, nicht Ort der Reflexion eines Geschicks, das zu übernehmen wäre. Eine so verstandene Gegenwart bezieht ihre operative Identität aus der Unbestimmtheit einer Zukunft, die nicht als determiniert von Vergangenheit behandelt wird, weil Gewesenes als Entscheidung nicht wiederholt werden kann. Gegenwart reproduziert Vergangenheit als Spur erinnerter Ereignisse, die sich mit jeder Operation in ihrer Verweisungsstruktur ändert, weil sie mit immer neuen Zukünften verknüpft ist. Vergessen geht mit Erinnern einher, und Erinnern ist eine Form der Rekursion, die, weil sie in wiederholender Bezeichnung
74. Luhmanns Begriff des Sinns ist sprachtheoretisch angelegt. – Vgl. zu den daraus resultierenden Problemen Rustemeyer, D., Ohne Adresse. Die Gesellschaft der Gesellschaft der Systemtheorie, in: Philosophische Rundschau 46, 1999, S. 150-163. 76
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Identitäten konstituiert, Differenzen als bestimmte, also entscheidungsgenerierte Abweichungen ermöglicht. Vergangenheit bleibt gegenwärtig in Gestalt einer Folie für die je gegenwärtige Suche nach Alternativen, die, da sie unter unsicheren Zukunftserwartungen in Entscheidungen, also in Vergangenheit umgeformt werden müssen, stets mit dem Horizont ihrer anderen Möglichkeiten Ungewissheit und damit Zukunft reproduzieren. Realität gewinnt die Zeit durch die operative Form der Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung.75 Diese operativ erzeugte Einheit findet ihr symbolisches Korrelat in Semantiken, mit denen Unterscheidungen fixiert und für Anschlussoperationen verfügbar gehalten werden. Gleichwohl behält eine Phänomenologie der Zeiterfahrung, wie sie sich im Anschluss an Hussserl und Heidegger formulieren lässt, Relevanz auch für eine Soziologie der Zeit. Denn die lebendige Zeiterfahrung eines leiblich situierten Bewusstseins entwirft in Abhängigkeit von differenziellen Erfahrungen unterschiedliche Zukünfte, die als kommunizierte Erwartungen die Gesellschaft mitkonstituieren. Zeiterfahrungen sozialer Akteure integrieren materielle Lebensbedingungen gesellschaftlicher Felder und Milieus mit kulturellen Deutungsmustern und artikulierten Präferenzen. In leiblich habitualisierten Erfahrungen konstituiert sich Zeit als je gegenwärtige Bewegung bewussten Lebens auf eine Zukunft hin, die Engagement in einer sozial vorstrukturierten und kulturell imprägnierten Welt ist, deren sinnhafte Struktur an symbolischen Formen haftet, für die kein Einzelbewusstsein aufkommt.76 Solche Zeiterfahrungen gruppieren sich unter einem soziologischen Analysefokus zu einem simultanen Raum von Perspektiven, der sich unter anderem aus differenziellen Zeiterfahrungen aufbaut. Dieser soziale Raum ist zugleich ein symbolischer Raum, weil er differenzielle Erfahrungen mit symbolischen Ausdrucksformen verbindet, die Profile der Welt erschließen und der Deutung von Erfahrungen dienen. Symbolische Ausdrucksformen solcher Art gehen nicht in Sprache auf, sondern können, wie Bourdieus Untersuchungen sozialer Distinktionslogiken zeigen, Beliebiges – Mode, Essen, Körperpflege, kulturelle Vorlieben – signifikativ aufladen.77 Der simultane Raum, den die soziologische Analyse konstruiert, entzeitlicht jedoch die lebendige, in leiblichen Dispositionen und Erfahrungen fundierte Zeit der Praxis, die sie beschreibt. In der symbolischen Form der Theorie erscheint als gleichzeitige Möglichkeit, was für Akteure innerhalb sozialer Felder entweder unerreichbare und gegeneinander abgeschlossene Sphären oder
75. Vgl. auch Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. 76. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 442ff., 466ff. 77. Bourdieu, P., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982. 77
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allenfalls sukzessiv zugängliche Perspektiven sind. Lebendige Zeiterfahrung innerhalb der Praxis gleitet auf einem eingespielten Sinn dahin, dessen Tempo, Rhythmen und Richtung zunächst reflexiv unbefragt bleiben, um gerade durch diese Selbstverständlichkeit ein Engagement der Akteure in der Zukunft zu fundieren. Zukunft erscheint diesen Akteuren als Spektrum von Möglichkeiten, deren Qualität und Struktur von Erfahrungen geprägt ist, die Spektren des Wahrscheinlichen markieren und auf diese Weise der Entscheidung für eine je bestimmte Zukunft in der Gegenwart eine Führung verleihen.78 In diesem Blick auf die Zukunft konstituierende, weil Erfahrungen über das gesamte leibliche Verhalten transformierende Struktur der Gegenwart, die selbst eine Disposition zur Zukunft ist, kommen die Zeitanalysen Bourdieus mit denen von Peirce überein. Derartige Zeitmuster sind zugleich Sinnmuster, weil sie mögliche und füreinander nur partiell zugängliche Welten innerhalb eines theoretisch konstruierbaren sozialen Raumes konstituieren, die das antizipieren, was für verschiedene Akteure mögliche Wirklichkeit ist. Bei aller Unterschiedlichkeit bleiben diese Sinnwelten durch die Zirkulation gemeinsamer symbolischer Ordnungen innerhalb des gesamten sozialen Raumes aufeinander verwiesen, innerhalb dessen sie die Artikulation von Differenzen ermöglichen und differenzielle signifikative Verweisungen derselben Zeichen gestatten. Erst die entzeitlichende Zeit der wissenschaftlichen Beschreibung macht die Simultaneität differenzieller Zeiten der Praxis innerhalb eines symbolisch repräsentierten sozialen Raumes sichtbar, der als Raum dynamisch, also zeitlich, und als symbolisierte Zeit räumlich, weil Simultaneisierung erlebter Zeit ist.
V. Die Vorstellung einer Einheit der Zeit zerbricht unter den Argumenten einer Semiotik und Soziologie der Zeit, wie sie exemplarisch am Beispiel von Peirce und Wittgenstein einerseits sowie von Luhmann und Bourdieu andererseits ins Auge gefasst wurde.79 Davon ist auch die Reflexion auf »Geschichte« betroffen, insofern diese den Zusammenhang zwischen gewesenen und erzählten Ereignissen als nichtkontingenten beschreibt. An die Stelle der Geschichtsphilosophie tritt deshalb die Reflexion auf die Semantiken von Zeit, deren symbolische
78. Bourdieu, P., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 148ff. 79. Vgl. dazu auch Blumenberg, H., Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 1986. 78
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DIRK RUSTEMEYER: ZEIT UND ZEICHEN
Form die operative Einheit der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft repräsentiert und für ein Bewusstsein ebenso wie für Kommunikation zugänglich macht. In der Tradition einer Philosophie der Geschichte wird diese Einheit als erkennbare Struktur der Dauer innerhalb des Werdens gefasst und mit dem Topos einer verzeitlichten Vernunft zusammengebracht, der sowohl fortschrittsoptimistische als auch zukunftspessimistische Ausformulierungen erlaubt.80 Geschichte, als verstehbare Einheit des Wandels, arbeitet mit den Prämissen einer homogenen, linearen und logifizierten Zeit, die sich dem Zugriff des Begriffs erschließt. Geschichtsphilosophie trifft damit auf das analoge Problem einer Bewusstseinsphilosophie der Zeit, Zeit nur als unzeitliche Form fassen zu können und doch Zeit als fundamentale Struktur alles Seienden anzusetzen, unter das sie selbst als Reflexion fällt. Semantiken der Zeit, also auch Theorien der Geschichte, bleiben in den kulturellen Raum symbolischer Deutungen eingeschlossen, den sie als zeitliche Einheit symbolisieren. Nur als zeichenhaft erschlossene sind Zeit und Geschichte verstehbar. Das hermeneutische Paradigma einer temporalisierten Vernunft öffnet sich damit kulturwissenschaftlichen Analysen einer Semiotik von zeitlich fundierten Sinnbildungsprozessen. Solche Analysen können der Pluralisierung von Zeiterfahrungen Rechnung tragen, ohne die geschichtsphilosophische Hypothek einer Einheit historischer Zeit übernehmen zu müssen. Reflexionen symbolischer Formen im Horizont differenzieller Erfahrungen innerhalb sozialer Räume akzentuieren gerade die Verschiedenheit von Zeiterfahrungen und Weltkonzepten. Deren Kohärenz folgt eher einem Regelzusammenhang symbolischer Ordnungen als einer realen Struktur der Geschichte. An die Stelle substanzialistischer Ambitionen treten kontingente Konstellationen sinnhafter Verweisungen, die ihre eigene Zeitlichkeit im Sinne einer Konstruktion symbolisch vermittelter Zusammenhänge über zeitliche Kontingenzen darstellen. Reflexionen auf die Differenzialität von Zeit-Sinn-Komplexen können sich die Struktur von Erzählungen zunutze machen. Erzählungen stellen eine symbolische Form der Zeit- und Weltorganisation dar, die mit dem grammatischen Gerüst der Sprache temporale, soziale, symbolische und kulturelle Relationen von Bestimmungsmöglichkeiten in Verbindung setzt. Sie entwerfen aus einer Gegenwart sozialer Akteure heraus selektive Muster des Wirklichen und Möglichen, in denen sich Erfahrungen und Erwartungen niederschlagen, ohne in der Einheit einer abschließenden Deutung zu terminieren und sich als ein Wissen zu gerieren, das seine eigene Perspektivität und Temporalität
80. Vgl. zu den Topoi der Geschichtsphilosophie im Diskurs der Moderne: Rustemeyer, Sinnformen, Kap. 3. 79
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unterschlägt.81 Auch eine Philosophie der Zeit, die ihre simultanen zeitlichen, kulturellen, sozialen und symbolischen Theorieentscheidungen entfaltet und in ihrer jeweiligen Kontingenz reflektiert, würde die Form einer Erzählung annehmen.82 Als in sich zeitliche Struktur, die ihre Elemente zu einer zeitlichen Transformation arrangiert, erzeugt die Form der Erzählung eine Kohärenz des Sinns, die auf ihre eigene Kontingenz verweist, indem sie auf andere Möglichkeiten der Relationierung und Perspektivierung aufmerksam macht. Die symbolisch konstituierte Einheit von Raum und Zeit im Sinne der Darstellung von Wandel innerhalb des kulturellen Horizontes einer möglichen Welt von Bestimmungen bleibt als zeitliche Operation an symbolische Ordnungen gebunden, innerhalb derer soziale Akteure Unterscheidungen und Bezeichnungen vornehmen. Bewusstsein und Kommunikation werden in Operationen narrativer Sinnbildung aufeinander bezogen, indem Erzählungen kommunikative Operationen mit sozialen Adressen darstellen und einem Bewusstsein sowohl symbolische Deutungen von Wahrnehmungen anbieten als auch interpretierte Wahrnehmungen sozial artikulieren. Zugleich fungieren narrative Muster als Form eines kulturellen Gedächtnisses, auf das zurückgegriffen werden kann und das in jeder Rekursion zugleich in seiner selektiven Sinnstruktur wie in seiner symbolischen Form selbst Prozessen der Veränderung unterliegt. Das qualitativ unterschiedliche Zeiterleben, wie es sich einer historischen Rekonstruktion der symbolischen Organisation von Zeit erschließt, findet seine Form nicht zuletzt in Erzählungen, die Kontinuitäten wie Differenzen zu artikulieren erlauben. Narrationen sind soziale, symbolische, zeitliche und kulturelle Formen von Semiosen, die als Formen eine reflexive Symbolisierung ermöglichen und so eine kulturelle Variation zweiter Stufe in Gang setzen.83 Die narrativ konstituierte Ordnung sinnhafter Bestimmungen gestattet Variationen von Relationen und Elementen, die gegenüber der lebendigen Zeiterfahrung sozialer Akteure und gegenüber den Zeitroutinen sozialer Organisationen eine eigene Logik und Konsistenz entfalten und damit die Synchronisation von Eigenzeiten – sei es des Bewusstseins, sei es sozialer Organisationen – ermöglichen. Eigenlogiken symbolischer Formen wie die der Erzählung ermöglichen unwahrscheinliche, weil die Register empirischer Wahrnehmung, Erfahrung und Kommunikation potenziell über-
81. Vgl. auch Schnädelbach, H., »Sinn« in der Geschichte?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, 2000, S. 51-66. 82. Demgegenüber konzentrieren sich diese Überlegungen auf eine Rekonstruktion des symbolischen Aspektes der Zeit innerhalb des zeitlichen und kulturellen Raumes der abendländischen Philosophie. 83. Hier knüpft eine Theorie des historischen Erzählens an. Vgl. Rüsen, J., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt am Main 1990. 80
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DIRK RUSTEMEYER: ZEIT UND ZEICHEN
schreitende Semiosen, die alles in einer Gegenwart Wirkliche in das Licht des Möglichen tauchen. Weder willkürliche Fiktion noch bloßer Ausdruck präsymbolischer Strukturen, deren entfremdete Gestalt oder eigentliche Wahrheit, erlauben sie vielmehr eine unendliche Semiotisierung, die auch zu neuen Interpunktionen von Zeiterfahrungen und -deutungen führen kann, indem sie bestimmte Ereignisse, gleichsam kontrafaktisch, als Symbol für Mögliches im Wirklichen und Gewesenen – als »Geschichtszeichen« – bezeichnen und auf diese Weise andere Möglichkeiten der Zukunft für die Gegenwart akzentuieren.84 Die Zeitlichkeit des Sinns konstituiert sich als symbolische Form, die als operative Leistung in einer Gegenwart Register von Kompossibilitäten aufbaut, die als Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung die Reichweite phänomenologischer oder hermeneutischer Zugriffsweisen überschreiten. Ihre Reflexion erfordert eine Analyse semiotischer Prozesse im Wechselspiel von Diskursen und Praktiken. Sie öffnet eine Theorie der Zeitlichkeit des Sinns für eine Theorie der Zeichen und der Gesellschaft.
84. Kant, I., Der Streit der Fakultäten, in: I. Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. VI, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983, S. 263-393, A 141. 81
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Sein ohne Zeit Klaus E. Müller
»Strategie ist die Wissenschaft des Gebrauchs von Zeit und Raum. Ich bin weniger geizig auf diesen als auf jene. Raum mögen wir wiedergewinnen; verlorene Zeit nie wieder.« August Neithardt von Gneisenau
1. Tag und Nacht In prämodernen ländlich-traditionellen Gesellschaften waren Strategie und Wissenschaft unbekannt; niemand hätte weder im einen noch im andern einen Sinn sehen können. Wohl aber war der Raum von grundlegender Bedeutung. Nicht jedoch als umweltliche Wahrnehmungskategorie, sondern als topographisches Ordnungs- und Orientierungssystem. Die Zeit dagegen spielte eher eine untergeordnete Rolle zur Bemessung der Bewegung in Raum und Gesellschaft. »Verlorene« Zeit konnte hier wiedergewonnen werden, verlorener Raum – in Dorf, Territorium oder Gesellschaft – dagegen nie. Büßte man ihn ein, verlor man das Leben.1 Gesellschaft und Raum imprägnierten und prägten einander wechselweise, elastisch verbunden durch die distanzen- und dynamikbestimmende Zeit. Gemeinsam bildeten sie das System, in dem sich das Leben der Gruppe tagein, tagaus vollzog.
1. Müller, Klaus E., Die fünfte Dimension: soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999, S. 126f. Vgl. Carmichael, David L. u.a., Introduction, in: David L. Carmichael u.a. (Hrsg.), Sacred Sites, Sacred Places, London 1994, S. 1-8, hier S. 5; Ovsyannikov, O. V./Terebikhin, N. M., Sacred Space in the Culture of the Arctic Regions, in: David L. Carmichael u.a. (Hrsg.), Sacred Sites, Sacred Places, London 1994, S. 44-81, hier S. 59; Fox, James J.,»Standing« in Time and Place. The Structure of Rotinese Historical Narratives, in: Anthony Reid/D. Marr (Hrsg.), Perceptions of the Past in Southeast Asia, Singapore 1979, S. 10-25, hier S. 18; Deloria, Vine, Jr., Gott ist rot: eine indianische Provokation, München 1984, S. 16. 82
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KLAUS E. MÜLLER: SEIN OHNE ZEIT
Ein Mann begab sich frühmorgens aufs Feld, verweilte dort, um einer Tätigkeit nachzugehen, wie sie die Jahreszeit gebot, kehrte dann, wenn die Sonne einen bestimmten Stand erreicht hatte, nach Hause zurück und machte sich vielleicht noch daran, ein Gerät auszubessern oder die Herstellung eines neuen in Angriff zu nehmen. Eine Frau holte Wasser oder sammelte Feuerholz ein, arbeitete im Garten am Haus, beaufsichtigte nebenbei noch die Kinder und traf ihre Vorbereitungen für die gemeinschaftliche Abendmahlzeit. Alle Bewegungen vollzogen sich Tag für Tag immer wieder auf etwa die gleiche und reversible Weise: Sie begannen in der Familie im Haus und fanden dort am Abend ihr Ende. Allerdings wechselten sie periodisch nach der Art der Arbeit. Das Roden wurde von der Aussaat und später der Ernte abgelöst, Nahrungsmittel und Felle mussten bearbeitet und haltbar gemacht, Gefäße getöpfert, Kranke und Alte versorgt werden; mal stand der Bau eines neuen Bootes oder Hauses an, mal war ein Opfer darzubringen, ein Fest zu feiern oder eine Versammlung abzuhalten. Alle teilten sich in die Arbeit. Jedem waren nach Alter, Geschlecht, Erfahrung, Kraft, Status und Kompetenz bestimmte, in der Regel gleichbleibende Aufgaben zugewiesen, die unterschiedliche Wege, Fristen und Anstrengungen erforderten. Die gewissen Ungleichgewichte, die dadurch entstanden, wurden ständig durch die Verpflichtung zur Reziprozität wiederausgeglichen: Gaben mussten durch wertadäquate Gegengaben, Leistungen durch entsprechende Gegenleistungen, Zuwendung durch Zuwendung erwidert werden. Kinder arbeiteten den Erwachsenen zu, die sie ernährten, beschützten und großzogen, Gatten wirtschafteten komplementär, Junge betreuten Alte und profitierten dafür von ihrer Erfahrung. Erkrankte jemand, übernahmen andere – Verwandte oder Nachbarn – seine Arbeit mit und sorgten für ihn. Die Aufgaben aller waren erkennbar sinnvoll aufeinander bezogen; niemand kam sich isoliert oder gar überflüssig vor. Das Ganze besaß ehernen Halt und bot eine entsprechend verlässliche Orientierung, weil alles sich scheinbar gleich blieb und immerfort wiederholte: das Streckenmaß zwischen Haus, Pflanzung und Versammlungsplatz, der Tagesablauf, die Arbeitsprozesse. Das lateinische Substantiv iteratio, »Wiederholung«, leitet sich von iterare, »etwas zum zweiten Mal machen«, »wiederholen«, ab, das wiederum auf iter, »Gang«, »Weg«, zurückgeht, meint also gewissermaßen »hingehen, wenden und auf demselben Weg zurückkehren«. Wer das Haus verließ und sich aufs Feld begab, tat dies mit dem Ziel, nach getaner Arbeit wieder zu seinem häuslichen Ausgangspunkt heimzukehren. Das Leben war gleichförmig rhythmisiert. Aussaat und Ernte, Gabe und Gegengabe, Ahnenopfer und Segen folgten einander vorhersehbar, in kalkulierbaren Abständen. Geraden krümmten sich zu Bogensegmenten, die sich insgesamt zu kreisenden Zyklen schlossen. 83
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Zeit wurde weder abstrakt noch absolut verstanden. Sie blieb hintergründig an Raum und Gesellschaft gebunden, das heißt sie stellte lediglich eine mittelbare Bezugsgröße dar, das Maß einer Strecke, die jemand durchschritt, für einen Abschnitt oder das Ganze eines Fertigungsprozesses.2 Insofern erlosch sie gleichsam, wenn die Arbeit ruhte. Sie ließ sich weder »nutzen« noch »vergeuden« wie ein Feld, das man ergiebiger bebauen beziehungsweise vernachlässigen, oder Kraft, die man erfolgreich einsetzen, aber auch unbedacht, bis zur Erschöpfung »verbrauchen« konnte. Raum und Kraft, die Koordinaten der Werktätigkeit, füllten den Vordergrund der Erfahrung und des Interesses aus, so dass die Zeit, die den Rhythmus ihres Zusammenspiels wiedergab, nur eher schattenhaft nachempfunden wurde, »als Konzept«, wie William Edward H. Stanner auch für die australischen Aborigines bestätigt, »nur vage im Bewußtsein präsent«.3 Arbeit, verstanden als kraftgetriebene und zielorientierte Bewegung im kulturell strukturierten Raum, verbürgte den Bestand von Gesellschaft und Leben. Sie bildete daher einen zentralen Begriff des Seins- und Weltverständnisses, ein Kernkonzept agrarisch-traditioneller Sinnsysteme. In Polynesien setzte man sie, auch sprachlich, mit »Ritual« gleich. Arbeit verwandelte Rohstoff in Kultur, ließ die Menschen am Schöpfungswerk der Götter partizipieren.4 Zeit als Begleitaspekt der Arbeit war, wie es die afrikanischen Historiker Boubou Hama und Joseph Ki-Zerbo mit Blick auf das Empfinden ihrer Landsleute ausdrücken, »the rhythm of the breathing of the social group«.5 Störte oder durchbrach etwas den Arbeitsprozess massiv, indem sich jemand ein Bein brach, eine ungewöhnliche Erscheinung hatte, die Erde erbebte oder gar eine Sonnenfinsternis eintrat, blieb diese kontingente Erfahrung, das »Ereignis«, in der Erinnerung haften. Man erzählte noch lange davon; der Vorfall ging in die Biographie des Betroffenen ein,6 robustere Begebenheiten setzten sich im »kollektiven
2. Bourdieu, Pierre, The Attitude of the Algerian Peasant Toward Time, in: Julian Pitt-Rivers (Hrsg.), Mediterranean Countrymen: Essays in the Social Anthropology of the Mediterranean, Paris 1963, S. 55-72, hier S. 60: »Duration and space are described by reference to the performance of a concrete task; e.g. the unit of duration is the time one needs to do a job, to work a piece of land with a pair of oxen.« 3. Stanner, W. E. H., The Dreaming, an Australian World View, in: Peter B. Hammond (Hrsg.), Cultural and Social Anthropology: Selected Readings, 5. Aufl., New York 1966, S. 288-298, hier S. 295 a. 4. Sahlins, Marshall, Inseln der Geschichte, Hamburg 1992, S. 12. 5. Hama, Boubou/Ki-Zerbo, Joseph, The Place of History in African Society, in: Joseph Ki-Zerbo (Hrsg.), General History of Africa, Bd. 1, Methodology and African Prehistory, Berkeley 1981, S. 43-53, hier S. 44. 6. Müller, Klaus E., Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen, in: Klaus E. Mül84
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KLAUS E. MÜLLER: SEIN OHNE ZEIT
Gedächtnis« ab. Der iterierende Tätigkeitsablauf hatte einen Bruch erfahren, den die Routine freilich alsbald wieder schloss. Immerhin lieferten mehrere derartiger Vorkommnisse ein vages Gerüst zur linearen Datierung.7
2. Leben und Tod Auch wenn man jahrein, jahraus dieselben Wege ging, man blieb nicht der gleiche. Kinder reiften zu Erwachsenen heran, diese zu Alten. Das Leben wurde vielfach als »Weg« begriffen,8 der seine Einschnitte, ja Umkehrpunkte besaß, die den »Lebensweg« in einzelne Abschnitte zerlegten – nur scheinbar indes, denn jeder stellte eine eigenständige Größe dar. Durch die Namengebung fand der Säugling Aufnahme in die Gesellschaft, die Pubertätsriten (Initiationen) verwandelten die Jugendlichen in zeugungs- und konzeptionsfähige Erwachsene, die wenig später die Heirat in den Gatten-, die Geburt des ersten Kindes in den Mutter- beziehungsweise Vaterstatus erhob – vermöge der Rites de Passage, in deren Rahmen sich das in den meisten Fällen vollzog. Dazu hatten sich die Betroffenen – Jugendliche, Brautleute, Wöchnerinnen und Wöchner, Amtsanwärter – in Seklusion zu begeben. Sie wurden aus den gesellschaftlichen Bewegungszyklen gelöst und gleichsam »zur Ruhe gesetzt«, das heißt sie starben dem Leben ab und traten in Berührung zur Unterwelt. Dort dematerialisierten sie sich Schritt für Schritt – durch Fasten und andere Kasteiungen, äußerliche Verwahrlosung und Sprachenthaltung, wie bei den Pubertätsriten, einer besonders elaborierten Form der Rites de Passage – und bildeten sich so gleichsam zu Seelen vor der Geburt zurück. Die Ahnen – maskierte Alte – wandelten sie für ihren bevorstehenden Lebensabschnitt entsprechend um (z.B. durch Beschneidung und andere körperliche Eingriffe) und unterwiesen sie in allem, was sie dazu bedurften. Anschließend erhielten sie einen neuen Namen und kehrten als »Wiedergeborene« in die Gesellschaft zurück, die sie mit einem Fest empfing, bei dem sie sich anfangs noch wie unwissende Kinder zu geben hatten. Fortan tru-
ler/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, S. 221-239, hier S. 223. Vgl. z.B. Hutton, Jon H., The Sema Nagas, London 1921, S. 260, Anm. 1; FürerHaimendorf, Christoph von, The Chenchus: Jungle Folk of the Deccan, London 1943, S. 127. 7. Peires, Jeffrey B., The Dead Will Arise: Nongqawuse and the Great Xhosa Cattle Killing Movement of 1856-57, Johannesburg 1989, S. 131. 8. Müller, Die fünfte Dimension, S. 85. Vgl. Michel, Paul (Hrsg.), Symbolik von Weg und Reise, Bern 1992. 85
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gen sie die ihrem neuerworbenen Status gemäße Tracht und sprachen und verhielten sich entsprechend. Den ursprünglichen Säugling, Jugendlichen oder Ledigen gab es nicht mehr; an ihre Stelle waren ein Kind mit Namen, ein Erwachsener, ein Vater getreten mit den entsprechenden je spezifischen Aufgaben, Verhaltensvorschriften, Tabus, Privilegien und Verpflichtungen. Der neue Status hatte neue Menschen aus ihnen gemacht. Der scheinbar zeitpfeilgerichtete, lineare irreversible »Lebensweg« war gebrochen und aufgelöst in eigengewichtige Einzelabschnitte, so dass der Eindruck eines geschlossenen Ablaufs wiederum eher vage blieb, jedenfalls nur kaum von Bedeutung war. Man schritt nicht unaufhaltsam in der Zeit voran, sondern durchlief eine Reihe von Metamorphosen, die den vorangegangenen Abschnitt jeweils abschlossen und einen neuen ins Leben riefen, Phase für Phase blockartig aufeinandergeschichtet. Man »alterte« also nicht kontinuierlich, sondern wurde, an den Wendepunkten durch die Rites de Passage gleichsam in kreisende Bewegung versetzt, auf die nächsthöhere Statusebene gehoben. Im Deutschen entstammt das Adjektiv »alt« dem 2. Partizip eines ausgestorbenen Verbs mit der Bedeutung »wachsen«, »aufziehen«, »ernähren«; bezeichnete ursprünglich also das »Erwachsensein«. Analog leitet sich lateinisch altus, »hoch«, vom 2. Partizip des Verbums alere, »nähren«, »großziehen«, ab. Altus bedeutete daher einstmals ebenfalls »erwachsen« (bzw. »aufgewachsen«). Beide Stämme gingen auf die gemeinindogermanische Wurzel *al-, »nähren«, »wachsen«, zurück. Weniger der zeitliche Ablauf als vielmehr der konkrete physische Reifeprozess, eingebunden in den Kreislauf von Werden, Vergehen und Werden, bestimmten das Lebensverständnis. Der Prozess setzte sich weitläufiger nach dem Ableben fort. Der Verstorbene schied aus der »oberseitigen« Dorfgemeinschaft aus. Er wurde ins Grab gelegt (Seklusion), seine – leibunabhängige – »Freiseele« durch die Bestattungsriten, deren eigentliche Aufgabe das war, in die Totenwelt überführt. Dort ging sie in die »unterseitige« Ahnengemeinschaft ein und bildete sich langsam vom »Alten« wieder zum »Kind« zurück, um sich schließlich, meist etwa nach drei bis fünf Generationen, erneut unter den Ihren im »oberseitigen« Dorf zu reinkarnieren. Damit war ein weiterer Bogenabschnitt des Lebenskreislaufs durchmessen. »Jung« und »Alt« lösten einander in stetiger Wiederkehr ab. Das Streckenmaß bildeten hier die Generationen. Aber wiederum nicht im Sinne eines geradlinigen Verlaufs mit offenem Ende, sondern nach Altersklassen gestaffelt, »which are arranged into named and recurring cycles«.9 Man konnte ein Übriges tun. Die Abelam in Papua
9. Stanner, The Dreaming, S. 295 a. 86
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KLAUS E. MÜLLER: SEIN OHNE ZEIT
Neuguinea (Ost-Sepik-Provinz) brechen den zeitlichen Linearverlauf zum Beispiel durch zyklische Namensvergaben. Jeder Klan besitzt einen festen Satz an Männernamen. Stirbt ein erwachsener Mann, erhält ein Knabe, gewöhnlich während der Initiation, seinen Namen übertragen – womit die Erinnerung an den Verstorbenen alsbald erlischt: »Das Dorf ›vergißt‹ ihn, weil er letztlich über keinen Namen verankert ist.« Einem analogen Prinzip folgt die Verwandtschaftsnomenklatur. Großvater und Enkel reden einander mit der gleichen Bezeichnung (nggwal) an. Deszendenz und Aszendenz werden gegeneinander aufgewogen; ihre potenzielle Linearität erlischt.10 Margaret Mead empfand ähnlich. In ihrer Autobiographie kommentiert sie ihr Verhältnis zu ihrer Enkelin mit der Betrachtung: »Mein Verständnis rundete sich für etwas ab, für das ich mich mein Leben lang eingesetzt habe – daß jeder den Zugang zu seinen Großeltern und zu seinen Enkelkindern braucht […]. Im Kontakt zwischen Großeltern und Enkelkind fallen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zusammen.«11 In den Enkeln kehren die Großeltern gleichsam wieder. Die Reziprozität unter den Angehörigen der Kinder- und Elterngeneration streckte sich zur Redistribution, die einen längerfristigen Gaben-, Leistungs- und Zuwendungsaustausch umfasst – bis hin zu den Ahnenopfern, für die man auf den Segen der Abgeschiedenen hoffte. Menschen legen im Leben mannigfaltige Wege zurück. Sie durchmessen dabei gewöhnlich immer gleich mehrere Felder ihrer lokalen Raumordnung mit entsprechend divergierenden Bedeutungszuschreibungen. Das setzt sie ephemeren Statuswechseln aus: Ein Mann verlässt als Vater und Haushaltsvorstand das Haus, durchschreitet als erwachsenes Mitglied der Gruppe das Dorf und wird auf dem Feld als Landmann tätig. Geht er auf die Jagd, nimmt er unter Umständen ein anderes, »angangspezifisches« Verhalten an und bedient sich zur Täuschung der Tiere einer besonderen Sprache. Nach getaner Arbeit kehrt er nach Hause zurück und ist wieder ganz Gatte, Vater und Familienoberhaupt. Dem läuft sein Lebensweg parallel. Mit jedem Abschnitt erreicht er einen anderen Status, erhält oft einen neuen Namen, legt die standesgemäße Kleidung an, verhält sich und spricht entsprechend. Gleichzeitig wechseln seine Aufgaben und die Wege, die er zu gehen hat. Die »Abszissen« der werktäglichen Lokomotion bilden mit der
10. Hauser-Schäublin, Brigitta, Die Vergangenheit in der Gegenwart. Zeitkonzeptionen und ihre Handlungskontexte bei den Abelam in Papua-Neuguinea, in: Baessler-Archiv 70, 1997, S. 409-429, hier S. 417. 11. Mead, Margaret, Brombeerblüten im Winter: ein befreites Leben, Reinbek 1978, S. 229. 87
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»Ordinate« der Biographie die komplementären Richtgrößen des sozialen Koordinatensystems der Kultur. Wiederum mit jedem Stufenabschnitt auf der Ordinate ändern sich auch Geschwindigkeit und Struktur der Bewegungen. Kinder lassen sich treiben, folgen spontanen Einfällen, spielen mal hier, mal da. Jugendliche erhalten – oft sogar institutionell vorgegeben in eigenen Jugendhäusern oder »Buschcamps« – eine befristet geradezu exzessive Freizügigkeit zugestanden,12 Erwachsene bewegen sich bereits diszipliniert, das Ziel ihrer Bewegung möglichst immer im Auge, während Alte zunehmend ein »gemessenes«, würdevolles Verhalten an den Tag legen, lokomotorisch allmählich ersterben, den Blick bereits auf die Toten gerichtet, wo sie als Ahnen, wie die Arbeit am Abend, für eine Weile zur Ruhe kommen. Jede Bewegung durch Raum und Zeit verwandelte die Menschen proportional zur Entfernung, die sie von Haus und Familie aus zurückgelegt hatten, in extremis auf ihrem Weg ins Totenreich und wieder zurück. Alle Wege, auch die Wechsel, besaßen seit alters ihre Begründung im System, lagen fest und lieferten eine verlässliche Orientierung für Bewegung, Gangart und Ziel. Jeder wusste an jeder Stelle, an der er sich gerade befand, wo er stand, was und wohin er wollte. Das verlieh dem Leben ein Höchstmaß an Sinnhaftigkeit. Zeit spielte lediglich als Schattenkategorie von Strecken, Lebensphasen und Statusbesitz eine Rolle. Wäre sie stärker hervorgetreten, hätte Gefahr für die Balance und Statik des Koordinatensystems von Arbeit, Leben, Raum und Gesellschaft bestanden. Das Leben schien sinnvoll, solange die Zeit dem Bewusstsein entrückt blieb. Es erreichte seine Höhepunkte, wenn sie vollends erlosch: in den geselligen Runden am Abend; wenn jemand mit fortgeschrittenen Jahren Ansehen genoss, was ihn zu Besonnenheit und Gelassenheit verpflichtete; im Alter generell und schließlich im Ahnenreich. Der täglich wie im Leben jeweils zuletzt erreichte Wendepunkt entsprach stets einem zeittilgenden, wenn auch befristeten Ruhezustand. Die dahin kamen, konnten auf einen geglückten, höchstmäßig sinnerfüllten Abschnitt zurückblicken. Aber nicht alle schritten unbehelligt dahin. Manche waren schwächer und erlagen den Einflüsterungen bösartiger Geistmächte oder anderer ihrer Gesellschaft, die jenen bereits ins Netz gegangen waren. Sie ließen sich zu Norm- und Tabubrüchen, unter Umständen bis zu Gewalttaten und Schadenszauber mit Todesfolge verleiten. Ihr Fehltritt warf sie aus der Bahn, ihr Weg nahm einen »schiefen« Verlauf, der sie aus der endosphärischen Ordnungswelt hinaustrug ins »Abseits«. Viele Verfehlungen fanden indes im Verborgenen statt. Oft
12. Müller, Klaus E., Das magische Universum der Identität: Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt am Main 1987, S. 112. 88
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reichten schon ungute Empfindungen wie Neid, Missgunst und Hass aus, andere krank, unfruchtbar und erfolglos zu machen, ja zu töten. Im Grund verstieß jede Normwidrigkeit gegen das Reziprozitätsgebot, sprengte Tätigkeitszyklen und riss Lücken in Lebensphasen. Geschah das, stand immer aller Existenz auf dem Spiel. Es galt dann, die entstandenen Risse zu schließen, Verbogenes zu begradigen, Zerbrochenes wiederherzustellen und Zerstörtes zu ersetzen. Man durfte nicht zulassen, dass es zu »abwegigen« Entwicklungen kam, das heißt die Zeit sich von Raum, Gesellschaft und Regel löste und verselbständigte. Sie geriet dann, wie die Kaguru in Tansania sagen, »out of joint«.13 Man setzte daher alles daran, die Fehltritte rückgängig, das Geschehene gleichsam ungeschehen zu machen. Je nach der Art und Schwere der Vergehen hatten die Schuldigen sich etwa zu reinigen, um sich ihrer »Befleckung« – durch Waschungen, Bäder, Abreiben mit purifizierenden Essenzen, Kauterisieren und Räucherungen – zu entäußern, oder »entschlackten« sich durch Fasten, künstlich induziertes Erbrechen, Aderlässe, Schwitzkuren und Beichten. Zwistigkeiten glich man durch Aussöhnungsmaßnahmen aus: den Widerruf von Injurien, Bußgeld und Opfergaben. Härtere Übergriffe wurden durch die »Spiegelstrafe« (das ius talionis), also gewissermaßen die Umkehrung der verletzten Reziprozitätsregel, geahndet, nach dem bekannten mosaischen Grundsatz: »Auge um Auge, Zahn um Zahn …« usw. (2. Mose 21: 23ff.). Vollends extreme Vergehen ließen sich allein durch totale Inversion, das heißt durch rituelle Neugeburt, Tötung oder Exkommunikation »aus der Welt schaffen«. Immer galt die Maxime, Beschädigtes und Zerbrochenes zu restituieren oder, um es mit den Worten der Kayapó im Nordosten Brasiliens zu sagen, die »gestörte Ordnung genauso wiederherzustellen, wie sie verletzt wurde«.14 So entstand der Eindruck, als verändere sich langfristig nichts, als stünde die Zeit tatsächlich stille15 – beziehungsweise richtiger: existiere eigentlich nicht, wie denn auch ethnische und selbst europäische, mediterrane und mittelund südamerikanische Bauerngesellschaften bis vor kurzem der festen Überzeugung waren.16
13. Beidelman, Thomas O., Kaguru Omens. An East African People’s Concepts of the Unusual, Unnatural and Supernormal, in: Anthropological Quarterly 36, 1963, S. 43-59, hier S. 52. 14. Lukesch, Anton, Mythos und Leben der Kayapo, Wien 1969, S. 195. 15. Vgl. Leeuw, Gerardus van der, Urzeit und Endzeit, in: Eranos-Jahrbuch 18, 1950, S. 11-51, hier S. 32. 16. Vgl. Müller, Klaus E., »Prähistorisches« Geschichtsbewusstsein. Versuch einer ethnologischen Strukturbestimmung, in: Jörn Rüsen u.a. (Hrsg.), Die Vielfalt der Kulturen: Erinnerung, Geschichte, Identität 4, Frankfurt am Main 1998, S. 269-295, hier S. 274ff. 89
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Doch unter Umständen blieb eine Spur. Das de facto getilgte Ereignis lebte in der Erinnerung fort. Man erzählte bei Gelegenheit davon; der Vorfall ging abermals in die Biographie der Schuldigen ein, lagerte sich im kollektiven Gedächtnis ab. Zeit wurde bedrohlich spürbar. Die Erinnerung besaß mahnende Bedeutung – wie in corpore jene wenigen Unbelehrbaren, die sich nicht auf den Pfad der Tugend zurückbiegen ließen, deren Vergehen aber nicht schwer genug waren, um sie auszustoßen oder zu töten, so dass sie ihren Platz im Übergangsbereich am Rand des Dorfes und der Gesellschaft zugewiesen erhielten, um dort, zur Untätigkeit verdammt, ein Unleben in »toter« Ruhe zu führen, in bedeutungsvollem Kontrast zur lebendigen Muße der Alten und Ahnen.
3. Sommer und Winter Prämoderne ländliche Gesellschaften lebten nicht nur unmittelbarer in und von, sondern auch mit der Natur. Das setzte eine fließende wechselseitige Beziehung und den gebundenen Zusammenhalt beider voraus. Entsprechende Vorstellungen – Abstammungsverwandtschaft zwischen Menschen, Wildtieren und Kulturpflanzen, analoge Verhältnisse in Sozialordnung, Verhalten und Lebenslauf – lieferten die Begründung dafür, Rituale festigten die Bindungen immer wieder aufs neue. Vor allem aber kam es auf die Abstimmung im Einzelnen, die möglichst nahtlose Korrelierung der Streckenmaße und Phasenabfolgen an. Bei Rinderhirten wie den Nkole in Uganda begann der Tag mit der Melkzeit (6 Uhr). Weitere wichtige Einschnitte bildeten die Ruhezeit für Mensch und Vieh (12 Uhr), das Wasserholen (13 Uhr), die Zeit, wenn die Tiere die Tränke verließen und erneut zu weiden begannen (15 Uhr) – usw. mehr.17 Die Mongolen, überwiegend Pferdehirtennomaden, teilten den Tag entsprechend nach dem üblicherweise sechsmaligen Melken der Stuten ein.18 Zur genaueren Präzisierung korrelierte man die ökonomische mit der solaren »Uhr« und schied nach den Zeitpunkten, an denen die Sonnenstrahlen am Morgen bestimmte Landschaftsmarken im Westen, am Abend im Osten und am Mittag die Siedlung selbst trafen.19 Darüber hinaus folgte die Tätigkeits- und Lebens-
17. Mbiti, John S., Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin 1974, S. 25f. 18. Shukowskaja, N. L., Kategorien und Symbolik in der traditionellen Kultur der Mongolen, Berlin 1996, S. 35. 19. Shukowskaja, Kategorien und Symbolik in der traditionellen Kultur der Mongolen, S. 34f. Vgl. Müller, Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen, S. 221f. und die dort angegebenen weiteren Belege. 90
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einteilung dem Wechsel von Tag und Nacht, den periodischen Fischund Wildzügen, dem Blühen und Fruchten von Sträuchern und Bäumen, dem Keimen und Reifen der Kulturpflanzen und dem Wechsel von Warm- und Kalt-, beziehungsweise Trocken- und Regenzeiten. Es kam auf den Gleichtakt an von Wachen, Arbeiten, Ruhen und Schlafen auf der einen, Tag und Nacht auf der anderen Seite, von Geborenwerden, Heranwachsen und Tod sowie Keimen, Grünen, Reifen und Absterben. Die ewige Wiederkehr allen Geschehens vollzog sich auf vielfältigen konzentrischen Kreisen, von der Tagesroutine im Haus über die jahreszeitlichen Rhythmen von Fischfang, Jagd, Aussaat und Ernte bis hin zu den Umläufen der Himmelsgestirne. Alle Beziehungen unterlagen, wie etwa auch die Navajo im Südwesten der USA es sahen, einer streng regelgeleiteten Wechselaffizienz.20 Die zyklisch verschraubte Kohärenz der Gesellschaft setzte sich fort und fand zusätzlich Halt und Bestätigung in der Natur. Mensch, Arbeit, Arbeitsprodukte und Umwelt waren gleichzügig miteinander verschachtelt zu einem einzigen, mehrdimensionalen kreisenden Ganzen. Nur strikte Traditionstreue garantierte mithin auch den Erhalt der Welt.21 Zeit hatte nur bedingt damit zu tun. Die Abfolge von Tag und Nacht, Trockenund Feuchtphase oder Aussaat und Ernte wurde nicht als linearer, sondern zyklischer Prozess begriffen: Wie die Sonne allabendlich »untergeht« und das Totenreich durchwandert, um am Morgen wiederaufzuerstehen, markiert jeder Tag, den sie ins Leben ruft, jeder Anbruch einer Jagd- oder Feldbausaison, eines Jahres- und Lebensabschnitts einen Neubeginn, den die Folgephasen immer wieder zum Erlöschen bringen und aufzehren, gleichsam »töten«. Doch konnte die Sonne unter Umständen in der Unterwelt feindlichen Mächten zum Opfer fallen und nicht mehr aufgehen, die Saat im Frühjahr nicht keimen. Man tat daher alles Menschenmögliche, um dieser potenziell zumindest drohenden Katastrophe zu begegnen. Wenn dichte Wolken Zweifel weckten, umwanden Einwohner der Banks-Inseln (Vanuatu) einen flachen runden Stein mit einer Borte, in die sie strahlenförmig Eulenfedern steckten, und hingen die Sonnenscheibe unter dem Rezitieren entsprechender Zauberformeln an geweihter Stätte in einen hohen Baum.22 Indianer Floridas befestigten
20. Kluckhohn, Clyde, The Philosophy of the Navaho Indians, in: F. S. C. Northrop (Hrsg.), Ideological Differences and World Order: Studies in the Philosophy and Science of the World’s Cultures, New Haven 1949, S. 356-384, hier S. 358. 21. Vgl. ebd., S. 356. 22. Codrington, Robert H., Religious Beliefs and Practices in Melanesia, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 10, 1881, S. 261-316, hier S. 278; Codrington, Robert H., The Melanesians: Studies in their An91
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Gerten und Blattwerk am Ende einer Bambusstange, die sie über ein Feuer hielten, bebliesen und beschworen und anschließend wieder in einem Baumwipfel anbrachten.23 Prophylaktisch pflegten Babylonier und alte Israeliten zu den Solstitien Posaunen zu blasen,24 Völker in weiten Teilen Europas und Asiens rituell zu schaukeln, um der Sonne gleichsam »aufzuhelfen«.25 Die Gefahr schien eben zu den großen kosmischen Wendezeiten besonders akut. Ebenso aber war sie auch gegeben, wenn es zu unvorhergesehenen Rupturen kam, das heißt etwa schwere Vergehen (z.B. Inzest) begangen wurden, die zu Missernten und Naturkatastrophen führten, oder bei Nachbarn Epidemien ausbrachen und auf die eigene Gruppe überzugreifen drohten. Im letzteren Fall suchte man sich zu schützen, indem man die Ortschaften mit einem magischen Kreis umwehrte. In Loango, im südlichen Kongoraum, umspannte man die Siedlung mit einer Schnur, an der eine Ziege entlanggeführt, dann geopfert und gemeinsam verzehrt wurde;26 in Europa und Teilen Süd- und Südostasiens pflegte man in derartigen Gefahrenfällen die Siedlungen rituell mit einem Pflug zu umfurchen27 – die Gesellschaft begab sich geschlossen in Seklusion. Den tiefsten Einschnitt in den konzentrischen Zyklen von Arbeit, Leben und Natur stellte der Jahreszeitenwechsel (»Neujahr«) zwischen Winter und Sommer, das heißt Trocken- und Regen-, Aussaatund Erntezeit dar. Die Bögen beider Phasen traten dann kurzfristig auseinander, so dass eine Offenstelle sich auftat, die Konturen des Regelwerks zurücktraten und die Verhältnisse instabil wurden, gleichsam ein Vakuum entstand. Diesseits und Jenseits strömten ineinander über; die Ahnen stiegen an die Oberwelt, Geister gewannen Zugang zum Dorf. Wunderbares geschah. Bäche und Flüsse standen minutenlang still. Tiere und Bäume, ja Steine und Berge setzten sich in Bewegung, besuchten einander und tauschten in menschlicher Sprache ihr Wissen über die Zukunft aus. Es herrschten »verkehrte Verhältnisse«, ein quasi
thropology and Folklore, Oxford 1891, S. 184. Vgl. Frazer, James George, The Magic Art and the Evolution of Kings, Bd. 1, London 1963, S. 314. 23. Grigorenko, Andrej J., Raznolikaja magija, Moskva 1987, S. 16. 24. Schur, Israel, Versöhnungstag und Sündenbock, in: Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Litterarum 6/3, 1935, S. 1-90, hier S. 67. 25. Frazer, James George, The Dying God, London 1963, S. 280. Vgl. Wiesinger, R./Haekel, Josef, Contributions to the Swinging Festival in Western Central India, Wien 1968. 26. Scheftelowitz, Isidor, Das Schlingen- und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker, Gießen 1912, S. 42. 27. Müller, Das magische Universum der Identität, S. 36. 92
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chaotischer Zustand, der die Gefahr barg, dass der Gang der Dinge einen unvorhergesehenen, »abwegigen« Verlauf nahm. Die Situation war, schon ihrer kosmischen Dimensionen wegen, viel zu riskant, als dass man es erst auf eine Probe hätte ankommen lassen können. Man begegnete der Gefahr alljährlich präventiv mit den großen Neujahrs- oder Erntefesten, deren Kerngerüst kollektive Rites de Passage bildeten. Was ins Wanken geraten schien und den gewohnten Halt zu erschüttern drohte, wurde durch theatralische Objektivierung »dingfest« gemacht, um es so besser »in den Griff« bekommen zu können. Der Zustand entsprach der Urzeit. Das primordiale Chaos gewann Ausdruck in »gespielter« Inversion. Die Feuer wurden gelöscht. Die Ordnung erstarb. Es herrschten für eine Weile anarchische Zustände. Tabus und Verhaltensregeln waren ihrer bindenden Kraft enthoben. Alle Arbeit ruhte. Kinder durften ihre Eltern, Frauen öffentlich ihre Männer beschimpfen, ja selbst verprügeln. Es kam zu Diebstahl, orgiastischen Umtrieben, selbst Inzest. Masken, die Ahnen verkörpernd, zogen durch die Straßen, prangerten verdeckte Vergehen an und hielten Gericht über die Schuldigen. Die Feste »inszenierten eine andere Wirklichkeit«28 – doch nur während des prekären Interimsabschnitts. Gegen Ende wurden die Feuer rituell aufs neue entzündet, Land, Vieh und Ortschaften auf das gründlichste von aller angelagerten Schlacke befreit, die Menschen reinigten sich, äußerlich wie im Innern durch Beichten, richteten ihre Häuser neu her und legten frisch gewaschene oder neue Kleider an. Feierlich sicherte man einander den Fortbestand getroffener Vereinbarungen und Abkommen zu; die dörflichen Würdenträger wurden in ihren Ämtern bestätigt oder durch neugewählte ersetzt. Zum krönenden Abschluss nahmen die Ältesten im Beisein der Ahnen ein Sakralmahl aus Speisen und Getränken aus den Erstlingen der neuen Ernte ein. Danach kehrte man zum gewohnten Alltag zurück. Die Gesellschaft war, verjüngt und gestärkt durch den Rückbezug auf den Ursprung, rein wie am Morgen der Schöpfung ins Leben zurückgekehrt. Feste zum Jahreszeitenwechsel wurden daher allgemein als »Welterneuerungsrituale« begriffen.29 Sie hoben das Ahnenerbe immer wieder erneut ins Bewusstsein, trieben es an gleich einem
28. Assmann, Jan, Stein und Zeit. Das »monumentale« Gedächtnis der altägyptischen Kultur, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 87-114, hier S. 95. 29. Vgl. Müller, Klaus E., Das Geschehen im Netz der Zeit, in: Moritz Csáky/ Peter Stachel (Hrsg.), Speicher des Gedächtnisses: Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs; Systematisierung der Zeit, Wien 2001, S. 177-195, hier S. 186f. 93
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großen Rad, das, gleichförmig kreisend wie Sonne und Mond, periodisch ins Jenseits ein- und im Diesseits wiederauftaucht.30 Jeweils während der Wendezeiten, wenn das Auf und Ab den kritischen Grenzbereich durchstieß, schien es, als halte die Welt für einen oder einige wenige Tage gleichsam den Atem an und ziehe die Zeit ein. Insuläre Undichtezonen einer »vollkommen anderen Zeitlichkeit beziehungsweise Zeitenthobenheit«31 entstanden. Urzeit und Gegenwart fielen in eins; mit der Distanz schmolz alle Zeit dahin,32 wurde rituell zertilgt und zunichte gemacht.33 Man fühlte sich, mehr noch als sonst, »entirely outside all linear and continuous development«.34 Die Rituale zogen ein festes Band, einen kräftigenden Gurt um die Gruppe, umwanden sie schützend – so ein Bild der Atoni auf Timor dafür – »wie eine Liane den Baum«.35 Der Kult löste die Zeitlichkeit auf, indem er die angelagerte Schuld der Vorjahreszeit, mit der Temporalität erfahrbar zu strecken begann, auslöschte, alle lebenswichtigen, »starken« Prozesse, die Summe von Schöpfung und Dasein, fest zyklisiert in sich selbst zurückführte und mögliche Aberrationen rigoros unterband. Er stärkte so immer wieder aufs Neue Identität und Überlebensvermögen der Gruppe,36 gleichermaßen durch Tilgung der Zeit wie »Revitalisierung der Ver-
30. Fortes, Meyer, Bewußtsein, in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, Frankfurt am Main 1967, S. 93-106, hier S. 97f.; Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, S. 21, 27; Peel, J. D. Y., Making History. The Past in the Ijesha Present, in: Man 19, 1984, S. 111-132, hier S. 124. 31. Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 919, hier S. 12. 32. Schuster, Meinhard, Zur Konstruktion von Geschichte in Kulturen ohne Schrift, in: Jürgen von Ungern-Sternberg/Hansjörg Reinau (Hrsg.), Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, Stuttgart 1988, S. 57-71, hier S. 68. 33. Leeuw, Urzeit und Endzeit, S. 32. 34. Zonabend, Françoise, The Enduring Memory: Time and History in a French Village, Manchester 1984, S. 200. 35. Cunningham, Clark E., Order in the Atoni House, in: Rodney Needham (Hrsg.), Right and Left: Essays on Dual Symbolic Classification, Chicago 1973, S. 204238, hier 226. 36. Preuß, Konrad Th., Religion, in: Richard Thurnwald (Hrsg.), Lehrbuch der Völkerkunde, 2. Aufl., Stuttgart 1939, S. 57-123, hier S. 98. Pina-Cabral, Joao de, The Valuation of Time Among the Peasant Population of the Alto Minho, Northwestern Portugal, in: Robert Layton (Hrsg.), Who Needs the Past? Indigenous Values and Archaeology, London 1989, S. 59-69, hier S. 66. Vgl. Mowinckel, Sigmund, Religion und Kultus, Göttingen 1953, S. 61f. 94
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gangenheit«.37 Man setzte auf ahistorische Kontinuität.38 Traditionelle Gesellschaften waren nicht eigentlich »Völker ohne Geschichte«; sie hatten es in gewisser Weise vermocht, »to ›defeat‹ history, to become ahistorical in mood, outlook, and life«.39 Über Generationen hin musste sich so der Eindruck vermitteln, als gebe es, wie der Prediger Salomo sagt (1: 9), »nichts Neues unter der Sonne«. Ja es konnte »nichts existieren, das nicht bereits bekannt war, da alles Seiende«, wie die Barasana in Kolumbien zur Begründung anführen, »zu Beginn der Zeiten entstand; Neuheiten können nur Trug sein«.40 Was immer geschah, versicherten die Navajo im Südwesten der USA Gladys Reichard, wird »wieder geschehen. Begibt sich etwas […] in derselben Konstellation, ist mit denselben Resultaten zu rechnen«.41 Der jährliche Zyklus der Himmelsgestirne in Verbindung mit dem Wechsel der Jahreszeiten und dem Rhythmus der Feldbauarbeiten hatte die Xhosa in Südafrika in der Gewissheit bestärkt, »daß jedes Jahr die Wiederkehr des Geschehens der vorangegangenen bringe«.42 Man baute, wie die Lugbara in Uganda noch zur Kolonialzeit, darauf, dass die eigene Gesellschaft »keinem Wandel unterliege und von Veränderungen in der Außenwelt unabhängig sei«.43 Dies Dasein bezog seinen Sinn aus dem Vertrauen in die Wiederkehr des Immergleichen. Das schuf die Gewähr für die stete Präsenz des Altüberlieferten und Bewährten, für Konstanz und Erhalt, sicherte Orientierung und verbürgte Kontrolle, bot die Basis für verlässliche, auch die Zukunft mit einbindende Vorhersagen. Für Geschichte im neuzeitlichen Sinne bestand unter diesen Voraussetzungen kein Bedarf. Traditionelle Gesellschaften lebten wie in einer zweischaligen Hohlkörperwelt: Die eigenterritoriale Binnensphäre im Herzen des Kosmos, in der allein das Dasein ideal verwirklicht erschien, war rings
37. Hoskins, Janet, The Play of Time: Kodi Perspectives on Calendars, History, and Exchange, Berkeley 1993, S. 142. 38. Baumann, Gerd, National Integration and Local Integrity: the Miri of the Nuba Mountains in the Sudan, Oxford 1987, S. 142. 39. Stanner, The Dreaming; S. 297 a. 40. Hugh-Jones, Stephen, Waribi and the White Men: History and Myth in Northwest Amazonia, in: Elizabeth Tonkin u.a. (Hrsg.), History and Ethnicity, London 1989, S. 53-70, hier S. 65. Vgl. D’Azevedo, W. L., Uses of the Past in Gola Discourse, in: The Journal of African History 3, 1962, S. 11-34, hier S. 33. 41. Reichard, Gladys A., Prayer: the Compulsive Word, New York 1944, S. 28. 42. Peires, The Dead Will Arise, S. 131. 43. Middleton, John, Lugbara Religion: Ritual and Authority Among an East African People, London 1960, S. 26, 123f., 250f. Vgl. Müller, »Prähistorisches« Geschichtsbewußtsein, S. 274ff. und die dortigen zusätzlichen Belege. 95
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von einem fremdweltlichen Umraum umschlossen, der mit wachsender Distanz zunehmend mehr ihr kontrastives Gegenbild darstellte, entsprechend durchwaltet von feindlichen, zerstörerischen Kräften. Allein draußen konnte daher Veränderung herrschen, trat Zeit in Erscheinung. Wo beide Sphären einander berührten, musste es in der Innenwelt zu Versehrung, in weicheren Fällen zu Verunreinigung, in härteren zu »Verhaltensstörungen« kommen, die unter Umständen zu Krankheit, Katastrophen, ja Massenvernichtung führten. Eigentlich bildete die Binnensphäre ein »Oval«: Nach unten zu wölbte sie sich zum Ahnenreich, nach obenhin zur Götterwelt aus. Beide »Kuppen« ragten jedoch ins Jenseits und unterlagen damit der – hier konsequentermaßen positiv gewendeten – »andersweltlichen« Inversion. Beim Übergang mussten indes die exosphärischen Außenbereiche, in denen bösartige Geister hausten und Gefahren aller Art den Passierenden drohten, durchquert werden. Tote hatten wahre, von fortschreitender Verzerrung gezeichnete Schreckenslandschaften zu durchwandern, bis sie endlich den Rand der Erdscheibe erreichten und über den »Grenzfluss« setzen konnten, der sie umkreist, um »drüben« in der Unterwelt, folgerichtiger Weise seitenverkehrt und antipodisch, ihren Weg wieder zurück bis zum Sitz ihrer Ahnen unter dem heimischen Dorf zu nehmen. Dort herrschten an sich keine anderen Verhältnisse als auf Erden – nur geschah eben fast alles »umgekehrt«: Die Sonne ging im Westen auf und im Osten unter. Wenn oben der Tag oder Sommer begann, setzten unten Nacht und Winter ein. Entsprechend wachten und arbeiteten die Toten, wenn die Lebenden ruhten und schliefen. Sie bewegten sich »auf dem Kopf«, betraten ihre Häuser, die – aus der Optik der Obigen – verkehrt herum mit dem Boden zur Erdunterfläche standen, von hinten usw. mehr.44 Nach oben zu in die erdferneren himmlischen Bereiche hin brachte sich die Inversion durch zunehmende Desubstanzialisierung und Auflösung aller Formen zur Geltung. Insofern konnte es dort keine Veränderung geben; mit dem Raum verflüchtigte sich auch die Zeit: Die Götter erkranken und altern nicht; sie sind unkörperliche, rein spirituelle Wesen, weder räumlich lokalisierbar noch zeitlich gebunden – das heißt allgegenwärtig und demgemäß auch allwissend, in Ewigkeit existierend. Den Überlieferungen vieler Völker zufolge wandelten sie zu Anbeginn noch unter den Menschen. Erst als diese eine schwere Verfehlung begingen, zogen sie sich, zutiefst verstimmt, für immer in die Oberwelt zurück. Anders als die Ahnen, die, noch erdnah in der Unterwelt, einem Wandel unterliegen und wieder zurückkehren, bleiben die Götter, wo sie sind: fernhin ins All entrückt, erscheinungs- und zeitlos,
44. Müller, Das Geschehen im Netz der Zeit, S. 188. 96
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»unfassbar«. Erdgebunden wären sie der Veränderung und Zeit unterworfen, mithin keine Götter mehr. Schilderungen von Jenseitsreisen machen das Inversionsverhältnis besonders deutlich. Um dorthin gelangen zu können, bedurfte es entweder einer angeborenen Gabe oder langer Übung, beziehungsweise einer entsprechenden Ausbildung (Initiation), wie bei Schamanen. Zunächst waren Vorbereitungen – Fasten, Meditationen, rhythmische Bewegung – nötig, um die leibunabhängige »Freiseele«, das spirituelle, also geist- oder gottartige Agens im Menschen, in den Stand zu setzen, sich vom Körper zu lösen. Der Mensch durchlief eine Transformation, er dematerialisierte sich, bis seine Seele schließlich in der Ekstase (dem »Austritt«), auf dem Höhepunkt des Umwandlungsprozesses, »abheben« und durch die dünnstofflichen Passagestellen zum Jenseits – Quellen, Höhlen, heilige Stätten und Wendezeiten – nach unten ab- oder nach oben aufsteigen konnte. Im erdnahen unterweltlichen Bereich machte sie dabei dieselben Erfahrungen wie die Verstorbenen auf dem Weg ins Ahnenreich. Beim Aufstieg in die Oberwelt verloren sich jedoch die Bilder mehr und mehr, die Formen lösten sich auf, die Zeit stand nahezu still, die Bewegung der Seele verlangsamte sich scheinbar, bis sie fast zu ruhen schien. In Märchen und Berichten von Schamanen und Mystikern ist immer wieder die Rede davon, dass Jenseitsreisende bei ihrer Rückkehr zur Erde feststellen müssen, dass dort inzwischen Monate, oft Jahre, ja bisweilen Jahrhunderte vergangen sind, während sie doch meinten, sich in der »Anderswelt« nur kurz, vielleicht einige wenige Stunden oder Tage aufgehalten zu haben: De facto hatten sie mit dem Übertritt in die form- und »masselose«, rein spirituelle Welt eine Dilatationserfahrung durchlaufen, der gemäß sich ihr Zeitempfinden zunehmend gleichsam »zerdehnte«, so dass entsprechend auch ihr Alterungsprozess retardierte. Hätten sie wie die Götter den absoluten Ruhezustand erreicht, wären sie ewig gleichen Alters geblieben.45 Doch boten die Regelzyklen des Geschehens auf Erden immerhin die Gewähr für Wiederkehr und Erhalt, auch über Tod und Winter hinaus, und verbürgten damit den Bestand des Ethnos und seiner Identität, ja verliehen ihm den Anschein der Außerzeitlichkeit im Abglanz der allewigen Götter.
45. Müller, Klaus E., Jenseitskontakte, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 39/1-2, 1997, S. 1-19, hier S. 23; Müller, Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen, S. 231ff. 97
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4. Die apokalyptischen Reiter Doch wie die Ahnen waren auch die Götter, wenngleich in majestätischer Hoheit, den Menschen, ihren Gläubigen, in komplementärer, »schicksalhafter« Weise verbunden. Bei schweren Vergehen hoben sie die strafende Hand und schlugen vermöge ihrer Übermacht unter Umständen um so erbarmungsloser zu. Da Verfehlungen die Folge exogener Einflussnahmen waren, kam es zu derartigen Erschütterungen erst bei massiven, gewaltsamen Übergriffen. Diese verhängnisvolle Entwicklung setzte mit der Entstehung der archaischen Hochkulturen gegen Ende des 5. Jahrtausends v. Chr. ein. Die intensivere Landwirtschaft, die wachsenden Bevölkerungszahlen, der steigende Bedarf in den Städten sowie die exorbitante Prachtentfaltung in den Palästen führten, wechselweise einander bedingend, rasch zur Erschöpfung der Ressourcen und in der Folge davon zur imperialistischen Expansion. Die Eroberungskriege, anfangs noch räumlich auf das engere Umfeld der Fürstensitze und Stadtstaaten begrenzt, griffen schon bald darüber hinaus, um schließlich in einer Art Kettenreaktion während der Bronzezeit (ca. 2000 bis 700 v. Chr.) ihren ersten verheerenden Höhepunkt zu erreichen. Die alten Dorfkulturen im unmittelbaren Einflussbereich der neuen Machtzentren fielen dem Prozess weitgehend zum Opfer. In den ferneren Randzonen jedoch verlor die Bewegung an Dynamik und flachte zuletzt zu Stammeskriegen ab. In ihrer Folge kam es immer wieder zu Überlagerungsprozessen, die zur Entstehung ethnisch oft mehrheitlich differenzierter und hierarchisch gestufter Systeme führten. Den neuen Herren und ihrem Geschlecht erwuchs daraus ein verstärkter Legitimationsdruck: Sie bedurften einsichtiger, das heißt aus den Überlieferungsvorgaben der Unterworfenen selbst schöpfender Gründe sowohl für die eigene Vorrangstellung als auch die notwendige Einheit aller, verbunden zu einem überzeugenden Sinnkonzept für Gesellschaft und »Reich«. Da in traditionellen Kulturen Vorrang Priorität zur Voraussetzung hat, musste die Begründung des Herrschaftsanspruchs möglichst noch hinter den Ursprung der ältest ansässigen Bevölkerung zurückgreifen. Dafür standen gewöhnlich vier (teils kombinierte) »Optionen« bereit: a) Die herrschende Dynastie leitete sich von einem vormenschlichen Heroen oder Gott ab; entsprechend gedehnte, bis tief in die Urzeit zurückreichende Genealogien lieferten den »Beweis« dafür. b) Man führte einen komplementären Ursprungsmythos ein: Da die Häupter der ältest ansässigen, der so genannten »Gründersippe«, die »Erdherren«, gewöhnlich die Verantwortung für die Fruchtbarkeit des Bodens trugen (weil sie ihn am längsten bearbeitet und somit die engste Beziehung zu ihm hatten und zudem ihre Ahnen seit Siedlungsbeginn in seinem Schoß ruhten), die Eroberer also auf 98
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sie angewiesen waren, wurde der Mythos dahin ergänzt, dass ihr Urahn der Erde entstiegen oder aus ihr erschaffen worden war, der Ahnherr der Führungsgruppe dagegen dem Himmel entstammte, das heißt ein Sohn des »Allerhöchsten« war. Und daraus wurde dann der Anspruch abgeleitet, dass allein die fürstlichen oder königlichen Oberhäupter verantwortlich für den »befruchtenden« Regen waren. Alteinheimische und neue Herren erschienen demnach zwingend aufeinander angewiesen, um überleben zu können. c) Man berief sich auf die »Königslegende«: Ihr nach entstammt der Begründer der herrschenden Dynastie einem autochthonen Herrengeschlecht. Er besaß den Erstanspruch auf die Thronfolge, war aber von rivalisierenden Gruppen, die ihn aus dem Weg haben wollten, als Kind in der Wildnis ausgesetzt worden. Dort ging er wider Erwarten nicht zugrunde, sondern wurde auf wunderbare Weise errettet. Tiere (Geistmächte in Tiergestalt) nahmen sich seiner an und zogen ihn auf. Er wuchs zum Recken von übermächtiger Wirkkraft und Klugheit heran, kehrte zurück, schlug seine Rivalen und bestieg den Thron. d) Man brachte die Legende in Umlauf, der Eroberer sei von den Ahnen oder einer Gottheit der Einheimischen selbst »entsandt« und beauftragt worden, sie vor einem drohenden Unheil zu bewahren oder auch von ihrer traditionsvergessenen korrupten Führungsclique zu »erlösen«. Dazu hatten die Jenseitsmächte ihn mit übergewöhnlichen Gaben, einer untadeligen Tugend und Heldenmut gesegnet. Lieder, Sagen, Gründungslegenden und Epen erzählten im einzelnen von dem beschwerlichen Weg, den Opfern, Helden- und Wundertaten, bis endlich der Sieg errungen war. Mit ihm hob dann entsprechend eine neue Heilsära an. In allen Fällen war der Wechsel gottgewollt und hatte den Segen der einheimischen Ahnen. Sein Paradigma bildete die Urzeit, in der Gott einst die Welt aus dem uranfänglichen Chaos erschaffen und die Kulturheroen die Menschen in der rechten, zivilisierten Lebensweise unterwiesen hatten. An ihre Stelle waren nunmehr die neuen Herren getreten – sie stellten die erschütterte Schöpfungsordnung lediglich wieder her. Gedenkfeiern, Thronjubiläen und große höfische Rituale zirkelten das Geschehene den Umläufen der alten Zyklen ein, enthoben es also durch die stete Repetition der Zeitlichkeit und enthistorisierten es damit wieder, um den Prozess zur Ruhe zu bringen und der neuen Ordnung nun ihrerseits überzeitlichen Bestand zu verleihen.46
46. Vgl. Röhrich, Lutz, Das Kontinuitätsproblem bei der Erforschung der Volksprosa, in: Hermann Bausinger/Wolfgang Brückner (Hrsg.), Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem, Berlin 1969, S. 117-133, hier S. 126f. 99
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Dennoch war etwas anders geworden. Die Legitimation griff zwar auf den Mythos zurück, bedurfte aber auch des Durchgangs durch die spätere sagenzeitliche Vergangenheit, um den veränderten, ethnisch differenzierteren und ungleichen Machtverhältnissen Rechnung zu tragen.47 Ebendiesen quasi historischen Prozess galt es sichtbar zu machen, das heißt die Ereignisse, die ihn markierten, räumlich und zeitlich, im Territorium wie der Abfolge nach, fest zu fixieren48 – indem man den Weg beschrieb, den das Geschehen genommen hatte.49 Davon berichteten entsprechende Überlieferungen, wie vor allem Sagen und Heldenepen. Man rezitierte keinen unantastbaren mythischen Text, man musste – »fließend« – erzählen, der Ereignisfolge eine Art »Absicht«, einen Sinn verleihen. Zeit wurde mit einem Mal als Ausdruck einer zielgeleiteten Kette besonderer, irreversibler Begebenheiten erfahrbar. Individuelle sprang um in ethnische »Biographie«. Zumindest im Ansatz entstand so erstmals Geschichtsbewusstsein50 – wenn auch nur bei den legitimationsbedürftigen Oberschichten. Der Überlagerungsprozess hatte in die traditionellen Sinnsysteme der Unterlegenen Lücken gerissen. Die Sieger dehnten und füllten sie aus mit ihrer »Geschichte«. Das Dunkel über der Ahnenzeit hellte sich auf; phasenweise traten Konturen ans Licht. Die einzelnen Strecken der Eroberungszüge, interpunktiert von entscheidenden Schlachten, Heldentaten, wundersamen Begebenheiten und Siedlungsgründungen, verliehen den Kernlanden Struktur und Gestalt;51 die Reihung der Ereignisse linearisierte das Geschehen und streckte es über die für bedeutsam erklärten Phasen hin zur – dynastischen – Chronologie, die durch Versetzung mit herausragenden Vorkommnissen teilweise auch bereits annalistische Züge annahm. Jede entscheidende Wende ließ sich, Schritt für Schritt oder Stufe um Stufe, als Neubeginn begreifen. »Und die lange Liste dieser Anfänge«, so der Religionsphänomenologe Gerardus van der Leeuw (1890-1950), »nennen wir Zeit«.52 Sie dehnte sich entsprechend mit der Anzahl der verbuchten Ereignisse.
47. Brown, Donald E., Hierarchy, History, and Human Nature: the Social Origins of Historical Consciousness, Tucson 1988, S. 305ff. 48. Simmel, Georg, Brücke und Tür: Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart 1957, S. 48f. 49. Vgl. Kaufmann, Christian, Geschichte Ozeaniens als Spiegel von Identitäten. Dominanz von Ethnos und Nation, oder Allianz der Klane als Ferment für Staats- und Regionalbewußtsein, in: Brigitta Hauser-Schäublin (Hrsg.), Geschichte und mündliche Überlieferung in Ozeanien, Basel 1994, S. 91-103, hier S. 98. 50. Rüsen, Jörn, Historische Vernunft: Grundzüge einer Historik, Bd.1: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 50ff. 51. Müller, »Prähistorisches« Geschichtsbewußtsein, S. 287. 52. Leeuw, Urzeit und Endzeit, S. 12. 100
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Da die nunmehr vom Zeitpfeil getriebene und bestimmte Entwicklung geradewegs auf das Herrscherhaus zulief, ließ sich ihr unschwer teleologische Gerichtetheit unterstellen, die sich freilich mit der Machtübernahme der Eroberer erfüllte, also nicht »nach vorn« in die Zukunft wies. Der anschließenden Rezyklisierungsbemühungen wegen blieb die bewusste Zeiterfahrung begrenzt, noch »schwach«. Doch bildete sie erstmals eine wichtige, ja unverzichtbare Begründungskategorie der offiziellen, herrscherlichen Sinnkonzepte. Die Autochthonen dagegen sahen sich zurückversetzt in die »Vorgeschichte«,53 in der sich freilich, teils offen, teils halbverdeckt oder apokryph, noch Inseln älterer Sinnsysteme erhielten. Totale Integration war in komplexen Gesellschaften dieses Typs weder angestrebt noch operabel: Sie vertrug sich nicht mit der kastenförmigen Rangklassenordnung.
5. Das Ende der Welt Hatten sich die Unterdrückten aber ihr kulturelles Erbe und Identitätsbewusstsein einigermaßen zu bewahren vermocht, besaßen sie immerhin noch die Kraft, eine eigene Zukunftsperspektive zu entwickeln. Die konnte nur überzeugend und tragfähig sein, wenn ihr Los eine sinnvolle Deutung im Rahmen der altüberkommenen Überlieferungsordnung erfuhr. Danach waren die Gründe für die Misere allein in eigenem Verschulden zu suchen. Die Verfehlungen hatten offenbar ein derartiges Ausmaß angenommen, dass die Gesellschaft und ihre Hauptverantwortungsträger nicht mehr imstande gewesen waren, die heraufziehende Katastrophe rückgängig zu machen. Die Eroberer hatten ihnen »die Zeit gestohlen«. Hilfe konnte jetzt nur mehr von Ahnen und Göttern erwartet werden. Deren mahnende Zeichen – vor allem die Bedrohung durch die »Barbaren« – waren unbeachtet geblieben. Ihre Geduld hatte nunmehr ein Ende. Sie ließen dem Unheil seinen Lauf, um den Verblendeten die verdiente Züchtigung zu erteilen und ein letztes Mal vor Augen zu rücken, dass eben jetzt das Maß des Hinnehmbaren überschritten sei und der Untergang drohe, falls es tatsächlich nicht mehr gelänge, die lodernd aus den Zyklen gesprungene Zeit gleichsam wieder einzufangen und das Feuer längs ihrer Leuchtspur zu löschen, das Unheil also zu wenden durch Umkehr zu den Traditionen der Väter. Je nach Situation boten sich dabei zwei Möglichkeiten:
53. Vgl. Bergmann, Werner, Die Zeitstrukturen sozialer Systeme: eine systemtheoretische Analyse, Berlin 1981, S. 237. Pearce, Roy H., Savagism and Civilization: a Study of the Indian and the American Mind, 2. Aufl., Baltimore 1967, S. 49. 101
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a) Die letzten noch Ungebeugten verstärkten ihre Buß- und Sühnebemühungen und setzten nur um so mehr auf eine strikt traditionskonforme, »reine« Lebensführung, in der Hoffnung, dadurch Vergebung für die Ihren finden und die Gunst der Ahnen und Götter zurückgewinnen zu können. Dann nämlich bestand die Aussicht, dass diese ihnen einen »Erretter« sandten -konsequentermaßen aus den eigenen Reihen. Ein verbreiteter Märchentyp ließe sich als Parabel dafür verstehen. Gemeint sind jene Erzählungen, in denen sich ein »verwunschener« (entmachteter) Prinz oder ein junger Mann aus dem Volk auf die Reise begeben, hautnah das Elend der Bevölkerung erleben, helfen wollen und dazu bestimmte Aufgaben lösen müssen, die immer mit gefährlichen »Proben« verbunden sind, die sie schließlich – meist mit Hilfe gutwilliger Tiere und Geistmächte – glücklich bestehen, um zuletzt ein »Ungeheuer«, böse Zauberer, das feindliche Heer oder den tyrannischen König, die das Volk terrorisieren, zu bezwingen, die Ihren zu »erlösen« und den Thron zu besteigen. Die alte Ordnung kehrt wieder ein; alles »ist gut«. b) Propheten stehen auf, mahnen zu Buße und Umkehr, also zur Aufgabe aller traditionsfremden Neuerungen, und verheißen den Ihren, falls sie entsprechend bußfertig sind, eine alsbaldige Wiederumwälzung des Geschehenen. Die Ahnen, lautet die frohe Botschaft dieser nativistischen oder chiliastischen so genannten »Heilserwartungsbewegungen«, würden dann nämlich zurückkehren und die Erniedrigten zu Herren im eigenen Lande, die fremden Bedrücker zu Sklaven machen. Die ursprüngliche Ordnung werde erneut wiederhergestellt und eine nunmehr immerwährende Heilszeit anbrechen. Sittenlosigkeit und Verheerungen wären, wie vormals alle größeren Vergehen auch, kollektiv reversiert. Die Geschichte erlösche. Alles ginge wieder seinen gewohnten althergebrachten Gang. Doch man wartete vergebens. Und mit jedem Tag, der verstrich, brannte die Hoffnung mehr und mehr ab. Wer den Herrschenden nicht nachgab, versank in Abseitigkeit und Obsoleszenz. Das Leben schien ihm gestohlen; es verlor seinen Sinn. Vollends übermächtigt aber sahen sich die Menschen durch den Einfall der Weißen in ihre Welt, zumal in Gebieten wie Ozeanien und Amerika, in denen sie noch niemals zuvor von ihnen gehört hatten. Alles veränderte sich, teils auf jähe dramatische Weise. Die Kraft der Ältesten reichte nicht mehr, der Vielzahl der abwegigen Entwicklungen Einhalt zu gebieten, geschweige denn, sie rückgängig zu machen.
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Selbst Zauber erwies sich als wirkungslos.54 Die Weißen »verdarben«, so die Auffassung der Lovedu in Transvaal, das Land. Man betrachtete sie als »Teil einer unbegreiflichen Gegenwelt mit ebenso zerstörerischen […] lebensbedrohlichen wie unberechenbaren Kräften, denen daher mit keiner bekannten magischen Technik beizukommen war […] So vervielfältigten sich die Fälle von Fehlverhalten, der Respekt vor Eltern und Ältesten schwand dahin, das Reziprozitätsgebot verlor seine Geltung«.55 Die Tugen in Kenia klagten die Europäer an, »den Ablauf der Ereignisse durcheinandergebracht« zu haben. Keine Prophezeiung erfülle sich mehr, die Entwicklung überschlage sich förmlich, ständig wachse die Zahl der Lügner und Diebe.56 Über die Köpfe der Menschen hinweg markierten und reihten die übermächtigen Fremden Ereignis an Ereignis. Die Zeit wurde täglich stärker. Sie sog Kraft aus den zerrissenen Zyklen und ließ die Kulturen entseelt zurück. Ihr Mahlstrom, linear begradigt, riss, was sich nicht mehr zu halten vermochte, unaufhaltsam und scheinbar in steter Beschleunigung57 irreversibel mit sich fort, auf einen fernen verheißenen »Fortschritt« zu, der jenseits der traditionellen Sinnhorizonte lag. Die Welt war aus den Fugen geraten, die Zukunft dunkel und undurchsichtig geworden. Die Zeit raubte den Menschen den Atem; viele glaubten ihr Ende gekommen.58 Lähmender Schock war oftmals die Folge. Die Menschen mussten zur Arbeit gezwungen werden, damit sie zu essen hatten und nicht Hungers starben. Sie litten dumpf vor sich hin, »stumm wie das Vieh«.59 Der Lebenswille erlosch. Das Dasein war sinnlos geworden. Manche sahen keinen Anlass mehr, sich weiterhin fortzupflanzen. Einwohner Oaxacas in Mexiko kamen nach der spanischen Eroberung überein, fortan sexuelle Enthaltsamkeit zu üben und die noch ungeborenen Kinder abzutreiben.60 Anderwärts tat man desgleichen oder verwandte Verhütungsmittel. Überall sank die Geburtenrate drastisch ab.61 Und
54. White, J. E. Manchip, Anthropology, London 1954, S. 181; Speiser, Felix, Decadence and Preservation in the New Hebrides, in: William H. R. Rivers (Hrsg.), Essays on the Depopulation of Melanesia, Cambridge 1922, S. 25-61, hier S. 38f. 55. Krige, Eileen J./Krige, J. D., The Realm of a Rain-Queen: a Study of the Patterns of Lovedu Society, 3. Aufl., London 1947, S. 293f. 56. Behrend, Heike, Die Zeit geht krumme Wege: Raum, Zeit und Ritual bei den Tugen in Kenia, Frankfurt am Main 1987, S. 63. 57. Vgl. Bergmann, Die Zeitstrukturen sozialer Systeme, S. 237. 58. Vgl. Lévy-Bruhl, Lucien, Das Denken der Naturvölker, Wien 1921, S. 314. 59. Parry, Nevill E., The Lakhers, London 1932, S. 17; White, Anthropology, S. 180f. 60. Peschel, Oscar, Über den Einfluß der Ortsbeschaffenheit auf einige Arten der Bewaffnung, in: Das Ausland 43, 1879, S. 433-439, hier S. 438. 61. Vgl. Peschel, Über den Einfluß der Ortsbeschaffenheit, S. 438; Rivers, Wil103
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wenn schon kein neues Leben mehr, wozu dann noch das alte erhalten? Nicht wenige gaben einfach auf; sie erloschen wie Kerzen, deren Docht keine Nahrung mehr findet. Andere mochten nicht erst auf das Ende warten. Auf den Antillen brach kurz nach der Ankunft der Spanier eine wahre Selbstmordepidemie aus, die fast zum Untergang der gesamten indigenen Bevölkerung führte. Die Menschen, heißt es, »tödteten sich auf Verabredung gemeindeweise theils durch Gift, theils durch den Strick«.62 In Teilen Queenslands in Australien, in denen man die Aborigines gewaltsam von ihrem Land vertrieben hatte, erreichte die Suizidrate binnen kurzem den höchsten Stand in der Welt.63 Selbstmord galt immer als schweres Vergehen. Er zerstörte vorzeitig das Leben und führte zum »Schlimmen Tod«, der den Seelen den Weg heim zu den Ahnen verlegte. Begingen ihn alle, zeigte das an, dass man die Welt für verloren hielt. Man griff der Entwicklung nur vor. Denn alten Überlieferungen nach stand, wenn die Verfehlungen drastisch überhand nahmen, so dass alle Ordnung zerbrach und wie auf den Kopf gestellt war, das Ende unmittelbar bevor. Tabus fanden keine Beachtung mehr, die Sitten, altehrwürdige Institutionen, die Kultur, einst von den Urheroen gestiftet, lösten sich auf. Die Frauen bemächtigten sich der Kulte und zwangen die Männer, ihre Arbeit zu tun.64 Brüder erschlugen einander, Inzest griff um sich, jeder nahm sich, was ihm beliebte, fremde Herren trieben das Volk in Gottlosigkeit und Untergang. Am Himmel erschienen fliegende Pferde oder Affen mit Feuerpfeilen; Tiger, Jaguare und Bären brachen in die Siedlungen ein und zerrissen die Menschen, Ungeheuer verschlangen Sonne und Mond.
liam H. R., The Psychological Factor, in: William H. R. Rivers (Hrsg.), Essays on the Depopulation of Melanesia, Cambridge 1922, S. 84-113, hier S. 88, 104; Karsten, Rafael, The Head-Hunters of Western Amazonas: the Life and Culture of the Jibaro Indians of Eastern Ecuador and Peru, Helsingfors 1935, S. 232; Lindig, Wolfgang, Wanderungen der Tupí-Guaraní und Eschatologie der Apapocúva-Guaraní, in: Wilhelm E. Mühlmann (Hrsg.), Chiliasmus und Nativismus: Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 1961, S. 19-40, hier S. 28. 62. Peschel, Über den Einfluß der Ortsbeschaffenheit, S. 438. Vgl. Bey, Horst von der, P. OFM (Hrsg.), »Auch wir sind Menschen so wie ihr!« Franziskanische Dokumente des 16. Jahrhunderts zur Eroberung Mexikos, Paderborn 1995, S. 61; Gerstenberger, Erhard S., Warum hast du mich verlassen? Die Klage um die Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament, in: Michael Nüchtern (Hrsg.), Warum läßt Gott das zu? Kritik der Allmacht Gottes in Religion und Philosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 12-32, hier S. 29, Anm. 6. 63. Cowan, James G., The Aborigine Tradition, Shaftesbury 1992, S. 80. 64. Vgl. Petri, Helmut, Das Weltende im Glauben australischer Eingeborener, in: Ad. E. Jensen (Hrsg.), Mythe, Mensch und Umwelt: Beiträge zur Religion, Mythologie und Kulturgeschichte, Bamberg 1950, S. 349-362, hier S. 353f. 104
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Finsternis breitete sich aus, bis zuletzt eine verheerende Feuersbrunst oder gewaltige Flut allen Unrat hinwegtilgte und die Erde wüst und leer wurde oder in einem einzigen schlammigen Urmeer versank.65 Der uranfängliche Schöpfungsprozess hatte sich umgekehrt; die Götter vernichteten, was sie vorzeiten erschufen, machten, wozu die Menschen nicht mehr imstande gewesen waren, die hoffnungslos fehlgeschlagene Entwicklung wieder rückgängig. Die Zeit, die, aus den Bahnen geraten, die Ereignisse mit sich fortgerissen und wie der Wind das Laub durcheinandergewirbelt hatte, bis kein Sinn mehr im Leben zu sehen und alle Orientierung dahin war, schoss nun im rasenden Rücklauf des Endzeitgeschehens zurück und erstarb für immer. Die Götter hatten sie »totgeschlagen«. Die Welt erstarrte erneut im unbewegten, gestaltlosen Chaos.66
6. Wie es gewesen In prämodernen ländlichen Gesellschaften lief die Zeit unter der Hand mit. Sie spannte die Tätigkeitsbögen, wuchs und erlosch mit dem Leben und kreiste mit der Natur. Erfahrbar am ehesten noch als Maß der Einzelabschnitte, löste sie sich im Ganzen auf: im Räderwerk der verschiedenen ineinandergreifenden Zyklen, das niemals stille zu stehen schien und dem Dasein der Gruppe Bestand und über Tod und Winter hinaus zeitlose Ewigkeit verlieh. Solange jedenfalls kein störender Eingriff erfolgte und das Getriebe in Takt blieb. Jede Phase besaß ihr Ziel, dem ein bestimmtes Handeln, ein Auftrag entsprachen. Und über allen Einzelaufgaben erfüllte sich immer nur wieder die eine: das Leben zu erhalten. Zeit wurde lediglich fristmäßig begriffen; sie bemaß den Rhythmus der Arbeit, die Reifephasen und Regelzyklen der belebten wie der »unbelebten« Natur. Solange sie nicht aus dem Räderwerk sprang, behielt das Dasein seinen Sinn. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fielen in eins – oder vielmehr: bildeten gleichsam konzentrische Zonen der gewölbten Erdoberfläche. Hell im Licht lag die unmittelbar und lebendig erfahrbare Gegenwart im Mittelbereich, gegründet auf die Vergangenheit, abgesunken ins Dunkel unter dem Horizont, die ihr Geschehen traditionsgemäß vorgab.67 Stellung und Status des einzelnen folgten aus seiner
65. Vgl. z.B. Mills, James P., The Ao Nagas, London 1926, S. 100; Parry, The Lakhers, S. 488f.; Eliade, Mircea, Die Sehnsucht nach dem Ursprung: von den Quellen der Humanität, Frankfurt am Main 1981, S. 146. 66. Müller, Das magische Universum der Identität, S. 161. 67. Vgl. Balandier, Georges, Anthropo-Logiques, Paris 1974, S. 214; Berndt, 105
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Abstammung zwei bis drei Generationen zurück. Ältere Gegenstände, Orte, mit denen sich Erinnerungen verbanden, Erlebnisse oder Aussprüche verstorbener Angehöriger hielten Vergangenes ständig präsent,68 es war Teil der Gegenwart, lebte in ihr.69 Selbst weiter zurückliegende Begebenheiten wurden gelegentlich so wiedergegeben, als habe man sie persönlich miterlebt.70 Man bewegte sich wie auf einer Kugeloberfläche. Der Tod führte in die Vergangenheit, dann über die Zukunft in die Gegenwart zurück, in ständiger Wiederkehr. Allein insofern war es möglich, »Zeitreisen« in die Vergangenheit wie in die Zukunft zu unternehmen – beides nur menschliche Zuschreibungen der allgegenwärtigen »traumzeitlichen« Transzendenz. »In der Grammatik der Hopi-Sprache kann man nicht sagen, daß ›morgen ein anderer Tag ist‹: Es ist nur der älter gewordene gleiche Tag, der wiedergekehrt ist.«71 Die Zukunft, »the forthcoming concrete horizon of the present«,72 lag daher ebenso vor wie hinter den Menschen. So erklärt sich wohl auch, dass im Sumerischen wie im Akkadischen das Wort für »Zukunft« eigentlich »Rücken«, »Rückwärtiges«, »Hinteres« bedeutet und aus den Wortstämmen dieser Begriffe auch die Adverbialbestimmungen für »später« gebildet sind.73 Neues konnte (und wollte) man nicht von der Zukunft erwarten. »Was noch nicht geschehen ist«, charakterisiert der afrikanische Religionswissenschaftler John S. Mbiti die Einstellung seiner – noch traditionell leben-
Ronald M., Law and Order in Aboriginal Australia, in: Ronald M. Berndt/Catherine H. Berndt (Hrsg.), Aboriginal Man in Australia: Essays in Honour of Emeritus Professor A. P. Elkin, London 1965, S. 167-206, hier S. 174; Beidelman, Thomas O., Moral Imagination in Kaguru Modes of Thought, Bloomington 1986, S. 67; Baumann, National Integration and Local Integrity, S. 141f. 68. Lowenthal, David, The Past is a Foreign Country, Cambridge 1985, S. 185. 69. Vgl. Berndt, Law and Order in Aboriginal Australia, S. 174; Stanner, The Dreaming, S. 289 a; Baumann, National Integration and Local Integrity, S. 139. 70. Vgl. z.B. Zonabend, The Enduring Memory, S.2f.; Collard, Anna, Investigating »Social Memory« in a Greek Context, in: Elizabeth Tonkin u.a. (Hrsg.), History and Ethnicity, London 1989, S. 89-103, hier S. 95. 71. Sahlins, Inseln der Geschichte, S. 149 (Hervorhebungen vom Autor des Beitrags); Zonabend, The Enduring Memory, S. 138. 72. Bourdieu, The Attitude of the Algerian Peasant Toward Time, S. 62, 61, 67; Peel, Making History, S. 129; Schuster, Meinhard, Aspects of the Aibom Concept of History, in: Nancy Lutkehaus u.a. (Hrsg.), Sepik Heritage: Tradition and Change in Papua New Guinea, Durham 1990, S. 7-19, S. 18f.; D’Azevedo, Uses of the Past in Gola Discourse, S. 33; Dammann, Ernst, Grundriß der Religionsgeschichte, Stuttgart 1972, S. 12. 73. Wilcke, Claus, Zum Geschichtsbewußtsein im Alten Mesopotamien, in: Hermann Müller-Karpe (Hrsg.), Archäologie und Geschichtsbewußtsein, München 1982, S. 31-52, hier S. 31f. 106
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den – Landsleute dazu, »fällt unter die Kategorie ›Nichtzeit‹ […] Der lineare Zeitbegriff im westlichen Denken mit unbegrenzter Vergangenheit, flüchtiger Gegenwart und unendlicher Zukunft ist der afrikanischen Mentalität völlig fremd.«74 Zöge man Zeit, abstrahierend und traditioneller Anschauung unangemessen, ab von dem, was sie bemisst, ließe sie sich quasi-linear in die folgenden Epochen unterteilen: a) Die Urzeit, in der die Welt erschaffen wurde und ihre endgültige, irreversible Gestalt gewann. Davon berichten die Mythen. Sie wäre im einzelnen noch weiter zu scheiden in drei kürzerfristige Phasen, in denen sich die wichtigsten binnenweltlichen Differenzierungsund Entwicklungsschritte vollzogen, nämlich: aa) Das primordiale Chaos, in dem die breiartige Urmasse, noch ungeschieden, formlos und unbewegt ruhend, in Dunkel gehüllt den Grund der Welt bedeckte. bb) Die Schöpfungszeit, in der die Götter den Kosmos, die Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen erschufen. cc) Das Heroenzeitalter gegen Ende der Urzeit, in dem mythische Urwesen, Halbgötter und Kulturheroen die Menschen in den wichtigsten Fertigkeiten zur Bestreitung des Lebensunterhalts, den Normen und Regeln des sozialen Zusammenlebens – kurz: in der Kultur unterwiesen. b) Die Vergangenheit, genauer: die Epoche zwischen Urzeit und Gegenwart, in der die Ahnen streng nach den Vorgaben der Kulturheroen lebten und Abweichungen, falls es sie gab, erfolgreich korrigierten. Davon berichten keine Erzählungen, weil keinerlei Anlass dazu bestand: Die Vergangenheit lebt unverändert in der Gegenwart fort; beide bilden eine Erfahrungswelt. Die stete, verbürgte Präsenz des »Vergangenen« wird, wenn man so will, durch Enthistorisierung sichergestellt.75 c) Die Gegenwart, die immer auch sowohl die Lebenszeit der jüngst Verstorbenen, an die man sich noch gut erinnert, als auch die nahe, absehbare Zukunft umspannt76 und sich insofern wiederum in die drei kürzerfristigen Phasen unterteilen ließe:
74. Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, S. 21 und 30. 75. Schott, Rüdiger, Die Macht des Überlieferungswissens in schriftlosen Gesellschaften, in: Saeculum 41/3-4, 1990, S. 273-316, hier S. 298; Röhrich, Das Kontinuitätsproblem bei der Erforschung der Volksprosa, S. 126f. Vgl. Dresch, Paul, Tribes, Government, and History in Yemen, Oxford 1989, S. 179. 76. Vgl. Reiter, Jörg A., Unsichtbare Grenzen: Distinktion und Demarkation bei einer bäuerlichen Gemeinschaft in Nord-Luzon: Maligcong, Mountain-Province, Berlin 1992, S. 105; Michel, Thomas, Geschichtsüberlieferung bei den Nalumin (Star Mountains, 107
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GRUNDLAGEN UND URSPRÜNGE
aa) Das Gestern, von der Gegenwart höchstens bis zur Lebenszeit der Großeltern reichend. bb) Das Heute, die Gegenwart der Erwachsenen von der Reife (Heiratsfähigkeit) bis zum Tod. cc) Das Morgen, die unmittelbar bevorstehende, den Regeln der Tradition gemäß kalkulierbare Lebenszeit der heranwachsenden Kinder und Enkel. Die – scheinbar – lineare Abfolge des Schemas bedarf insofern der Relativierung, als eben Urzeit und Vergangenheit stets in der Gegenwart (und Zukunft) mitenthalten sind und sich daher die epochale in der präsentischen Phasengliederung wiederholt: –
–
Der Vergangenheit entspricht die Gegenwart (und Zukunft) mit ihren routinegebundenen Abläufen, der steten Wiederkehr von Tätigkeitszyklen, Lebensphasen und Jahreszeiten. Der Urzeit entsprechen die Wende- und Übergangszeiten zwischen den Bogenabschnitten der Gegenwartszyklen: Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod; Eröffnung von Aussaat- und Erntezeit, die Jahreszeitenwechsel (»Neujahr«). Ihre Ritualisierung nach dem Modell der Rites de Passage markiert jeweils den Absturz ins Chaos (»Ableben«), die Wiedererschaffung (Rückkehr aus der Ahnenwelt und »Neugeburt«) sowie die Restituierung und Bestätigung der alten Ordnung (Reintegrations-, Reinigungs- und Erneuerungsriten während der biographischen und kalendarischen Wendezeitenfeste).
Die Raumzeitzäsuren zwischen den Bogenabschnitten bildeten einen raschen Wechsel von »tödlicher« Stille, dynamischer Kreativität und Wiederberuhigung in der neugewonnenen Ordnung. Sie lösten die Zeit aus der Umlaufbewegung und »trieben« sie gleichsam »um« – ihre Bewegung war kurzfristig unbestimmt, das Geschehen noch einmal mehr, mit rituell verstärkter Nachhaltigkeit enthistorisiert. Gleichwohl stellte sich, wie beim Abschreiten heiliger Stätten, über die Bindeglieder der Rites de Passage während der Interimsphasen gesicherte, gleichsam »verschweißte« Kontinuität her. Und wie man die einzelnen Phasen oder Situationen des Lebens unterschiedlich erlebte, kam auch der Zeit, die begleitend mitstrich, jeweils eine andere Qualität zu: Sie glitt, nahezu unbemerkt und insofern ohne Bedeutung, während der Routinetätigkeiten des Alltags da-
Papua-Neuguinea), in: Brigitta Hauser-Schäublin (Hrsg.), Geschichte und mündliche Überlieferung in Ozeanien, Basel 1994, S. 129-159, hier S. 143; Jones, G. I., Time and Oral Tradition with Special Reference to Eastern Nigeria, in: Journal of African History 6/2, 1965, S. 153-160, hier S. 154. Schott, Die Macht des Überlieferungswissens, S. 298. 108
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KLAUS E. MÜLLER: SEIN OHNE ZEIT
hin, wurde »aufregend« (löste Angst, Trauer, Hoffnung usw. aus) bei Anbruch der Wendeprozesse (Initiation, Hochzeit, Reiseantritt, Rechtsbruch, Tod, Ernte usw.), um am Abend, nach getaner Arbeit, oder gegen Ende der Übergangssituation, wenn das Chaos gebändigt und die Ordnung aufs Neue restituiert war, die Menschen in Ruhe atmende, bedeutungsvolle Hochgestimmtheit zu versetzen. Gesellig feiern hieß, so Kant, »die Zeit vertreiben«.77 In diesen Augenblicken wusste man sich nahe der Ewigkeit, aufgehoben in der Gewissheit der kontinuierlichen Wiederkehr des Vertrauten. Doch immerzu vermochten mögliche störende Impulse, verursacht durch schwere Vergehen – die sich indes wieder umkehren ließen – oder gewaltsame Übergriffe von außen, die eherne Ringwehr der Traditionen zu sprengen. Die Gefahr brach auf, dass sich ihr Schichtenverbund, der das Leben verbürgte, löste und die Zeit, frei und erstmals unmittelbar erfahrbar geworden, im Sog des Siegeszugs der Eroberer abströmte. In die zersprengten Zyklenfragmente zogen sich Filamente gradstrichiger Ereignisfolgen ein. Das Geschehen begann sich zu linearisieren, anfangs noch längs der dynastischen Historiographie, dann breitflächig ausgreifend möglichst vieles nach obenhin konisch bündelnd. Der Anschein wurde erweckt, als bestünde zwischen den Einzelgliedern der Reihung ein kausal vernetzter Zusammenhang, der mit Notwendigkeit und unumkehrbar auf den teleologischen Endpunkt der Ereignisgeraden hindrängte – die Repräsentanten der Macht an der Spitze, zu deren, wenn auch allgemein proklamiertem Heil, aber zum Unheil der andern im Untergrund. Krisen führten zur Emanzipation der Zeit. Schnitten sie tief in die reversiblen Systeme traditioneller Kulturen ein, entstand eine neue Epochenschwelle von unheilvoller Bedeutung: Man sprach nun von den Verhältnissen vor und nach der Islamisierung, der Ankunft der Weißen, dem Kautschuk-Boom (am oberen Amazonas Ende des 19. Jh.s),78 dem Zweiten Weltkrieg, der Arbeitsemigration usw. mehr.79 Zeit war
77. Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, 2: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1968, S. 399-690, hier S. 443 (Hervorhebung im Original). 78. Reeve, Mary-Elizabeth, Cauchu Uras. Lowland Quichua of the Amazon Rubber Boom, in: Jonathan D. Hill (Hrsg.), Rethinking History and Myth: Indigenous South American Perspectives on the Past, Urbana 1988, S. 19-34, hier S. 19, 25f. 79. Vgl. Baumann, National Integration and Local Integrity, S. 141f.; Collard, Investigating »Social Memory« in a Greek Context, S. 90, 95; Zonabend, The Enduring Memory, S. 2; Dengel, Holk H., Indonesier schreiben ihre Geschichte. Tendenzen der Historiographie in Bahasa Indonesia, in: Periplus 1, 1991, S. 84-88, hier S. 84f.; White, Geoffrey M., Identity Through History: Living Stories in a Solomon Islands Society, Cam109
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GRUNDLAGEN UND URSPRÜNGE
nunmehr verfügbar, zur Ressource geworden; man konnte sie »verlieren« wie »gewinnen«, »vergeuden«, ja »verschleudern«. Kontingenz schlug meteoritengleich aus der Unruhesphäre der Außenwelt, in der das Geschehen ohne Regel und unkalkulierbar verlief, in die Eigenwelt ein. Sie kam aus der Zukunft,80 die vom Erfahrungs- zum Erwartungshorizont gerann, ein offenes Feld voller Zeit, das nach jeder Wende neu, als eigener »Kontinent«, in den Blick trat und die einen erobernd zu besetzen lockte, andere verängstigt zurückließ.
bridge 1991, S. 3, 5, 7, 30, 129; Anawak, Jack, Inuit Perceptions of the Past, in: Robert Layton (Hrsg.), Who Needs the Past? Indigenous Values and Archaeology, London 1989, S. 45-50, hier S. 47; Peel, Making History, S. 122; Tonkin, Elizabeth, Narrating Our Pasts: the Social Construction of Oral History, Cambridge 1992, S. 26; Pina-Cabral, The Valuation of Time, S. 62ff. 80. Atmanspacher, Harald, Sinnlehre gegen Sinnleere? Die Frage nach dem Sinn im Spannungsfeld zwischen Reflexion und Existenz, in: Josef Robrecht u.a. (Hrsg.), Der Mensch als Zeuge des Unendlichen: Karlfried Graf Dürckheim zum 100. Geburtstag, Schaffhausen 1996, S. 23-52, hier S. 26. 110
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JUSTUS COBET: ZEIT – GESCHICHTE – SINN
Zeit – Geschichte – Sinn. Der Anfang der westlichen Geschichtsschreibung Justus Cobet
1. Einleitung Die Untersuchung der Organisation von Zeit in der anfänglichen griechischen Geschichtsschreibung verstehe ich als den Teil einer Rekonstruktion der spezifischen ›westlichen Erzählung‹, für die jüdische Geschichtserzählung und griechisch-römische Historiographie konstitutiv sind.1 Den Anfang der griechischen Geschichtsschreibung repräsentiert Herodot aus Halikarnassos, pater historiae.2 Als Rahmen beziehe ich auf der einen Seite Homer und Hesiod, auf der anderen Thukydides ein. Uns stehen damit vier verschiedene Modelle von Geschichtskonstruktion vor Augen, erzählende Texte, die mit Zeit Sinn machen und Zeit einen bestimmten Sinn geben. Es handelt sich freilich nicht bloß um vier verschiedene Modelle, diese sind vielmehr historische verknüpft und traditionsgeschichtlich aufeinander bezogen. Mein Argument wird in diesem Zusammenhang sein, dass Herodot mit seinem Modell der Organisation von Zeit zum Stifter einer spezifischen historiographischen Tradition wurde, der die Zukunft gehörte. Er schuf eine idealtypisch lesbare Kohärenz der Zeiten und der Dinge in der Zeit. Diese Kohärenz, der durch den Erzähler konstruierte Raum ›geschichtlicher Zeit‹, bildet allerdings zugleich die kontingenten Sachverhalte seiner traditionsgeschichtlichen Entstehungsbedingungen ab. Zu den Kontingenzen der Entstehung einer historiographischen Tradition bei den Griechen gehören nicht nur die notorischen ereignisgeschichtlichen Daten wie die Erfahrung der Perserkriege und der Er-
1. Cobet, J., Die Ordnung der Zeiten, in: J. Cobet/D. Lau/C. F. Gethmann (Hrsg.), Europa. Die Gegenwärtigkeit der antiken Überlieferung (Essener Beiträge zur Kulturgeschichte 2), Aachen 2000, S. 9-31. 2. Cicero, De legibus 1, 1, 5. 111
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folge des athenischen Seebundes, sondern auch die Perspektive Herodots als Halikarnassier, des Griechen mit karischer Verwandtschaft und persischer Nachbarschaft, ein Beobachtungspunkt zwischen griechischer und altorientalischer Überlieferung. Das Referenzsubjekt seiner Geschichtserzählung sind Griechen und Barbaren, also alle Bewohner der Oikumene,3 eine Perspektive, die Zeit und Raum als historisches Kontinuum erst vorstellbar macht. Ein solches Kontinuum verarbeitet die kontingenten Versatzstücke verschiedener Traditionen zu einem kohärenten Bild vom Verlauf geschichtlicher Zeiten, das ich hier rekonstruieren möchte. Die kontingenten Bedingungen, denen Herodot dabei ereignis- wie traditionsgeschichtlich unterliegt, bilden sich in seinem Konstrukt ganz konkret ab. Gleichwohl steht es jedem frei, das Gewonnene typologisch auszuwerten und in einer historischen Anthropologie zu verorten. Dabei bliebe dann abzuwägen, in welchem Verhältnis die durch eine solche Prozedur dem Material abgerungene Bedeutung zu den Einsichten in Konstitutionsbedingungen einer spezifisch ›westlichen Erzählung‹ steht.
2. Der Rahmen Homers Epen und Hesiods Lehrgedichte stellen zwei Gründungsurkunden des griechischen Kanons dar. Sie gehören zur Vorgeschichte der Geschichtsschreibung und ordnen Zeit auf zwei distinkte Weisen, indem sie vergangene Zeit zur eigenen in ein Verhältnis setzen. Die dichterische Fiktion der epischen Erzählung Homers antizipiert die Gegenwart der Hörergesellschaft in einer unbestimmten Zukunft: Wir, die wir jetzt leben, sagte Helena zu Hektor in der Ilias, werden mit dem, was uns bevorsteht, den zukünftigen Menschen zum Gesang werden (6, 357f.). Hektor hob beim Durchbrechen der Achäermauer mit leichter Hand einen Stein, wie ihn zwei der besten Männer nicht heben könnten, »so wie jetzt die Sterblichen sind« (Ilias 12, 447-449).4 So sprach der Erzähler seine Hörer unmittelbar an. Aus der angriffsbereiten Schlachtreihe der Achäer forderte Hektor einen Gegner zum Zweikampf; Aias wird später hervortreten. Hektor versprach für den Fall des Sieges über seinen Gegner, »dass jenen bestatten mögen die Achä-
3. Meier, Chr., Prozeß und Ereignis in der griechischen Historiographie des 5. Jahrhunderts v. Chr. und vorher, in: K.-G. Faber/Chr. Meier (Hrsg.), Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 2. Historische Prozesse, München 1978, S. 79. 4. »[…] a heroic age long since passed. The favourite illustration of this is […]« sagt über diese Zeilen Snodgrass; siehe Snodgrass, A. M., The Dark Age of Greece. An Archaeological Survey of the Eleventh to the Eighth Centuries BC, Edinburgh 1971, S. 2. 112
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er und ihm ein Grabmal errichten am breiten Hellespont. Und einst wird einer sprechen noch von den spätgeborenen Menschen fahrend im Schiff über das Meer: ›Das ist das Mal (sêma/Zeichen) eines Mannes, der vor Zeiten gestorben, den einst erschlug der strahlende Hektor.‹ So wird einst einer sprechen, und dieser mein Ruhm wird nie vergehen« (Ilias 7, 67-91). Der Dichter trennt die erzählte Zeit der Heroen von der eigenen und der Zeit der Hörergesellschaft durch eine Distanz, die nicht bemessen wird. Das Alter und die Qualität der ganz und gar vergangenen ›alten Geschichte‹ ist freilich gegenwärtig durch die sichtbaren Zeichen der Vergangenheit, die Gräber der Helden und die Ruinen von Troias Mauern, um die die ganze Geschichte spielt.5 Homer stellt uns nicht ein Kontinuum von Zeit vor, sondern erzählt aus der sich wechselweise bespiegelnden Perspektive zweier voneinander getrennten Zeitschichten: Heroenzeit und Gegenwart. Die Fähigkeit, aus der einen Zeit auch über die andere zu verfügen, verleiht dem Dichter die Muse: »ihr wisst alles, seid überall« (Ilias 2, 484f.).6 Im Unterschied dazu bewegt sich der unter Seinesgleichen und deren Erinnerung forschende Erzähler im Kontinuum der empirischen Welt: Herodots historíê (Proömium). Hesiod setzten die Musen ein, die zu singen wissen die Gegenwart, die Zukunft und die Vergangenheit, tá t‘ eónta tá t‘ essómena pró t‘ eónta (Theogonie 38). So weiß er von fünf verschiedenen Zeiten, genauer: Geschlechtern, génea, in einer abfallenden Folge von Gold über Silber und Bronze, an deren Ende die epische Heroenzeit und schließlich die Gegenwart, das eiserne Zeitalter, stehen (Werke und Tage 106-201). Die fünf Zeiten folgen nahezu unvermittelt aufeinander, so dass auch hier kein Kontinuum entsteht. Das ›Geschlecht‹ der Heroen ist in den Mythos der aufeinander folgenden Metallzeiten eingeschoben, so dass wir das homerische Bild der zwei Zeitschichten in Hesiods Konstruktion aufgehoben finden. Sie repräsentieren die zwei Zeiten, die später als spatium mythicum und als spatium historicum voneinander abgehoben werden. Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Kriegs entstand eine knappe Generation nach Herodots Werk und schließt implizit an
5. Hölscher, U., Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988, S. 159f; Patzek, B., Der Mythos vom Schicksalstag Troias, in: J. Cobet/B. Patzek (Hrsg.), Archäologie und historische Erinnerung. Nach 100 Jahren Heinrich Schliemann, Essen 1992, S. 157-169; Bakker, E. J., Storytelling in the Future, in: E. J. Bakker/A. Kahane (Hrsg.), Written Voices, Spoken Signs, Harvard 1997, S. 11-36, hier S. 12. 6. Darbo-Peschanski, C., Le discours du particulier. Essai sur l’inquête hérodotéenne, Paris 1987, S. 23f; Boedeker, D., Epic Heritage and Mythical Patterns in Herodotus, in: E. J. Bakker/I. J. F. de Jong/H. van Wees (Hrsg.), Brill’s Companion to Herodotus, Leiden, Boston, Köln, 2002, S. 97-116, hier S. 100. 113
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dieses an. In der sog. Archäologie bringt Thukydides einleitend die ganze ›alte Geschichte‹ als Vorgeschichte seines Themas in einen strikten Zusammenhang (1, 2-19). Homer, Troia und die Heroenzeit werden vorausgesetzt und in diese Geschichte integriert. Ein zeitliches Kontinuum führt von den ersten Anfängen menschlicher Vergesellschaftung geradezu zielgerichtet auf seinen Gegenstand hin; der Ausbruch des Krieges im Jahre 431, der Zeitpunkt, zu dem er gleichsam mitzuschreiben begonnen haben will (1, 1), ist sein großes Epochendatum. Die Gegenwart konstituiert er, durch Erzählung analysierend, als Geschichte, alle Zeit davor ist ihre Vorgeschichte. Das Kontinuum dieser Vorgeschichte und ihr Zusammenhang mit der Geschichte des Peloponnesischen Krieges werden nicht einfach in chronologischer Folge der Ereignisse erzählt, sondern als durchgehendes Argument konstruiert. Dieses Argument reflektiert die Dialektik von Macht und Ressourcen, von Ökonomie und Politik. In diesem Bewegungsprinzip der Geschichte gibt er der Machtpolitik die Priorität. Auf diese Weise erscheint die Kohärenz geschichtlicher Zeit immanent sinngesättigt. Die Erzählung gewinnt diese Perspektive aus seiner Sicht der athenischen Seebundpolitik. Er schließt von der Entfaltung von Machtpotenzialen und Machtwillen im Vorfeld des Krieges auf ein Maximum an ›Geschichte‹, die ihm dergestalt seinen Gegenstand schenkt. Seine Entfaltung der geschichtlichen Zeit liest sich als Fortschrittsgeschichte, doch eignet ihr keine Zukunftserwartung.7 Diese ist vielmehr quasi anthropologisch ausgesprochen: Auf dem Höhepunkt geschichtlicher Kräfte erkennt, wer die Gegenwart genau fasst, was auch das Zukünftige sein kann, insofern es dergestalt oder doch ähnlich sein wird gemäß dem, was den Menschen ausmacht, katà tò anthrôpinon (1, 22). Insofern beansprucht er dauernde Gültigkeit seines Werkes, ktêma es aieí (ebd.). Thukydides’ Gegenstand ist helleno-, ja athenozentrisch vorgestellt. Auch seine ›alte Geschichte‹ unterliegt ganz und gar dieser Perspektive. Dennoch beansprucht seine Konstruktion universale Geltung; wie beiläufig werden doch mehrfach die Barbaren einbezogen.8 Das zeitliche Kontinuum der ›alten Geschichte‹ verbindet also alle geschichtliche Zeit vor der Gegenwart der lebenden Generation des Thukydides, dabei spatium mythicum und spatium historicum durchschreitend und nivellierend.9 Die Möglichkeit einer dichten Befragung der Zeitgenossen trennt die Gegenwartsgeschichte von der Vergangenheit,
7. Meier, Chr., Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das ›Könnens-Bewußtsein‹ des 5. Jahrhunderts v. Chr., in: Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980, S. 435-499. 8. Auffällig bereits 1, 1. 9. Hunter, V., Past and Process in Herodotus and Thucydides, Princeton 1982, S. 93-115. 114
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die dem generellen Verdikt der unzuverlässigen Überlieferung unterliegt. Dies gilt bereits für die jüngste Vergangenheit.10 Als Stoff setzt Thukydides Homer und Hesiod voraus. Insbesondere das Epos wertet er als geschichtliche Überlieferung nach den Kriterien seines Argumentes und insofern spekulativ aus. Der qualitative Sprung zu einem zeitlichen Kontinuum der ganzen Geschichte liegt zwischen Homer und Hesiod auf der einen und den Werken von Herodot und Thukydides auf der anderen Seite. Der offensichtliche Unterschied zwischen Herodot und Thukydides in der Weise, ein solches geschichtliches Kontinuum zu zeichnen, ist nicht nur quantitativ zu bestimmen. Er liegt vielmehr vor allem darin, dass Herodot im Unterschied zu Thukydides’ athenozentrischer Konstruktion mehrere historische Subjekte in eine kohärente Erzählung integriert. Darauf beziehe ich mich vor allem, wenn ich davon spreche, dass Herodots nicht nur das interessantere, sondern auch das zukunftsweisende Modell ›darstellt‹ (historíes ›apódexis‹ im Proömium).
3. Herodot Herodot stellt seine Darstellung der Perserkriege vom Ionischen Aufstand bis zu den wunderbaren Siegen der Griechen und insbesondere Athens von Marathon, Salamis und Platää in ein weites Panorama fremder Kulturen. Die Barbaren sind zum einen das mächtige Perserreich, Babylonien und das bewunderte Ägypten, die altorientalischen Hochkulturen, zum andern die wenig sesshaften, kaum herrschaftlich organisierten ›primitiven‹ Völker wie die Thraker, Skythen oder Libyer. Auf welche Weise konstituiert Herodots anfängliche Geschichtsschreibung diesen Raum der Geschichte als ein zeitliches Kontinuum? Die Art, wie Herodot durch Erzählung seinen Gegenstand stiftet, reflektiert in auffälliger Weise die qualitativ unterschiedenen geschichtlichen Zeiten, die für die verschiedenen kulturellen Räume charakteristisch sind. Mit hohem Aufwand lässt er seinen Gegenstand als ein Kontinuum in Raum und Zeit entstehen. Die hier zu untersuchende Struktur von Zeit verrät verschiedene Schichten, sie integriert verschiedene Systeme und Konstruktionsprinzipien der Zeitrechnung und Epochenbildung zu einem neuen Ganzen. Was die Organisation von Zeit angeht, schlägt Herodot im fünften vorchristlichen Jahrhundert den Weg ein, den in der Spätantike Eusebios und Hieronymus zu Ende gingen. Mosshammers grundlegende Untersuchung der Chronik des Eusebius lässt das Interesse der Griechen an historischer Chronologie mit Herodot beginnen. Er stellt ihn zwischen die Genealogie als einer ein-
10. Thukydides 1, 20 zu den Tyrannenmördern Harmodios und Aristogeiton. 115
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fachen Art der relativen Chronologie (z.B. Hekataios, Pherekydes) und die Chronographie, die Ereignisse in einem System absoluter Chronologie verankert (Hellanikos).11 Er will ihn aber nicht einfach als das Zwischenglied im traditionellen Bild einer Entwicklung von der Genealogie zur Chronographie verstanden wissen. »Instead, we shall find proof that Greek chronological tradition rests on a wonderful mixture of ingredients no one of which can be distilled out without destroying the rest.«12 Am Anfang der Forschungsgeschichte steht Eduard Meyers Studie »Herodots Chronologie der Sagengeschicht« von 1892, die Herodot für das spatium mythicum, wie später auch für das spatium historicum, nicht das geringste Interesse an der Chronologie zubilligte.13 Viele folgten seinem negativen Urteil, so W. den Boer oder noch in jüngerer Zeit Catherine Darbo-Peschanski und Donald Lateiner.14 »For study of the non-chronological nature of Herodotus’ organization one need not look beyond the classic John L. Myres, Herodotus father of history, 1953, ch. V«, so zuletzt Ernst Badian.15 Damit urteilt er gegen Herrmann Strasburger, der in seiner nüchternen und eingehend begründenden Studie »Herodots Zeitrechnung« von 1956 zu einem entschieden positiven Urteil gelangte.16 Die Debatte ist dem Bild vom Glas ver-
11. »In the broadest sense, chronography is any record of historical events precisely dated by reference to an absolute chronological system. Thus the Chronicle of Eusebius represents the highest development of Greek chronographic tradition«: Mosshammer, A. A., The Chronicle of Eusebius and Greek Chronographic Tradition, Lewisburg, London 1979, S. 85. 12. Ebd., S. 105. 13. Meyer, Ed., Herodots Chronologie der griechischen Sagengeschichte. Mit Excursen zur Geschichte der griechischen Chronograpie und Historiographie, in: Forschungen zur Alten Geschichte 1, Halle 1892, S. 151-209, hier bes. S. 185; Meyer, Ed., Geschichte des Altertums, 3. Bd., 2. Aufl., Stuttgart, Berlin 1937, S. 210. 14. den Boer, W., Herodot und die Systeme der Chronologie, in: Mnemosyne 20, 1967, S. 30-60; Darbo-Peschanski, Le discours du particulier, S. 30-32; Lateiner, D., The Historical Method of Herodotus, Toronto 1989, S. 114. 15. Badian, E., Phrynichus and Athens, in: Scripta Classica Israelica 15, 1996, S. 55-60, hier S. 58 Anm. 7. Allerdings behandelt Myres das Thema gar nicht. 16. Strasburger, H., Herodots Zeitrechung, in: Historia 5, 1956, S. 129-161 [›berichtigt und erweitert‹ in: W. Marg (Hrsg.), Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung, Darmstadt 1962, S. 677-725; und in: Kleine Schriften 2, Hildesheim 1982, S. 627-675]. Er nennt als Wegbereiter seines positiven Urteils Jacoby, F., Atthis, Oxford 1949, S. 382 Anm. 10 (anders als F. Jacoby, Herodotos, in: Pauly-Wissowas Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Suppl. 2, 1913, Sp. 205-520, hier Sp. 484) und Pohlenz, M., Herodot. Der erste Geschichtsschreiber des Abendlandes, Leipzig 1937, S. 30f., 198f. 116
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gleichbar, das die einen noch halb leer, die anderen aber bereits halb gefüllt sehen. Es erscheint geradezu als eine Frage des Geschmacks, ob man eher bewundern möchte, in welchem Maße Herodots Zeitraster sich mit moderner Rekonstruktion in Übereinstimmung befindet (Strasburger), oder eher dessen Widersprüchlichkeit herausarbeitet (den Boer). Ich gehe mit Strasburger von der plausiblen These aus, dass Herodot wusste, was er tat. Wir finden in seinem Text eine Fülle zeitlicher Bestimmungen: absolute Zahlen, die Zählung oder auch Aufzählung von Generationen und Synchronismen. Ich glaube, dass es halbwegs gelingen kann, daraus ein stimmiges Raster zu abstrahieren.17 Jedenfalls lassen sich bei einem solchen Versuch Beobachtungen machen, die zu erkennen geben, auf welche Weise die anfängliche Geschichtsschreibung den Raum der Geschichte als ein zeitliches Kontinuum zu konstruieren vermochte. Diese Frage impliziert, anders als Strasburger, der sich auf das spatium historicum konzentriert hatte, ›die ganze Zeit‹ in den Blick zu nehmen.
3.1 Die ganze Zeit In seinem viel diskutierten ersten Satz kündet Herodot ein spezifisches Thema an, die Perserkriege aus der Zeit seiner Elterngeneration. Dieses Thema ist aber unspezifisch eingebettet in einen weit offenen Raum von Zeit, jene »ganze Zeit«,18 in der, wie er einmal formuliert, »alles geschehen kann.«19 Sein Referenzsubjekt sind ebenso allgemein alle Bewohner der Oikumene, Griechen wie Barbaren. Sein spezifisches Thema beginnt er mit einer Konstruktion, die aus traditionellen griechischen Sagen ein Argument zur Kriegsschuldfrage abstrahiert (1, 1-5). Dieses Argument organisiert modellhaft verschiedene Sagen zu einem zeitlichen Ablauf innerhalb des spatium mythicum. Der Troische Krieg bildet den Wendepunkt der Ereigniskette, interpretiert als eine Überreaktion der Griechen auf Frauenraub der Barbaren. Herodot zitiert eine solche Vorgeschichte der Perserkriege aber nur, um sie sogleich zur Seite zu legen zugunsten eines Anfangs mit dem Lyderkönig Kroisos, dessen Geschichte in der Niederlage ge-
17. Ich stütze mich hier einmal mehr auf meinen Beitrag zu »Brill’s Companion to Herodotus«: Cobet, J., The Organization of Time in the Histories, in: E. J. Bakker/I. J. F. de Jong/H. van Wees, Brill’s Companion to Herodotus, Leiden, Boston, Köln 2002, S. 387-412; dort S. 394 auch der Versuch einer graphischen Darstellung von Herodots Zeitraster. 18. »Was jeder, Athener und Tegeaten, Besonderes, Altes wie Neues, in der ganzen Zeit vollbracht hat« (en tô pantì chrónô 9, 27). 19. Die Sigynner wollten ausgewanderte Meder sein: »In der langen Zeit kann alles geschehen« (génoito d‘ an pân en tô makrô chrónô 5, 9). 117
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gen den Perserkönig Kyros endet (1, 6-94). Von diesem Anfangspunkt aus knüpft er alle Fäden seiner Erzählung. Die Abfolge der Ereignisse führt durch einen bedeutungsvollen historischen Prozess bis zu dem einen Ankerdatum, gewissermaßen absoluten Bezugspunkt für die Organisation von Zeit, den er mit einem Wendepunkt dieses Prozesses verbindet, der Zerstörung Athens »drei Monate nachdem Xerxes den Hellespont überschritten hatte«; die Überschreitung des Hellespont hatte Herodot zum Symbol persischer Hybris ausgestaltet, der Grenzüberschreitung von Asien nach Europa. Das Ankerdatum formuliert Herodot so: »Kalliades war Archon in Athen« (8, 51).20 »Jeder Grieche konnte dieses Datum ohne weiteres in seine Zeitrechnung umsetzen.«21 Thukydides verfuhr später ebenso. Allerdings datierte er anders als Herodot gleich den Beginn der Ereigniskette, so wie er nicht wie dieser vom Ende, sondern vom Anfang her fragt (Thuk. 1, 1). Auch datierte er den Anfang auf breiterer Grundlage, indem er dem athenischen Archonten die Herapriesterin in Argos und den spartanischen Ephoren an die Seite stellt (Thuk. 2, 2). Die Expansion des Kroisos, dann der Perserkönige liefert als kohärenter historischer Prozess den Ereignisrahmen, durch den sich ›historische Zeit‹ herstellt. Gleichzeitig fügt Herodot in diesen insofern dann abstrakten Rahmen auf dem Wege der Kontingenz eine Fülle heterogener Geschichten und Nachrichten,22 die eine je eigene Zeitökonomie erfüllen können. Im Ganzen entsteht aber wiederum der Eindruck, Herodot habe »den weit offenen Raum der Zeit« systematisch vermessen. Seine Dimensionen reichen weit über jene 345 Generationen seit dem ersten ägyptischen König (2, 143) und die 17000 Jahre hinaus, als der Kreis der ägyptischen Götter, zu denen ihr, der Ägypter, Herakles zählte, als Herrscher über die Menschen in Ägypten entstand
20. Die erste Archontenliste, die wir aus Athen kennen, stammt aus den 420er Jahren (Meiggs, Russell/Lewis, David (Hrsg.), A selection of Greek historical inscriptions to the end of the fifth century B.C., Oxford 1969, Nr. 6) als auch Herodots Werk publiziert wurde. »The publication of such a list made historical chronology possible, while the scene of history that Herodotus had brought to the Greek world made such work desirable«: Mosshammer, The Chronicle of Eusebius and Greek Chronographic Tradition, S. 91f. 21. Strasburger, Herodots Zeitrechnung, S. 136 bzw. 688. »Das Invasionsjahr wurde in der mündlichen Tradition als ›das Jahr des Kalliades‹ bezeichnet«: den Boer, Herodot und die Systeme der Chronologie, S. 32. Strasburger zustimmend zuletzt Vannicelli, P., Erodoto e la storia dell’ alto e medio archaismo (Sparta – Tessaglia – Cirene), Roma 1993, S. 10-13. Die ›athenische Zeitrechnung‹ unterstreicht Hdt. 9, 3: »zehn Monate später« verwüsteten die Perser zum zweiten Mal die Stadt. 22. Cobet, J., Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes (Historia Einzelschr. 17), Wiesbaden 1971. 118
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(2, 43. 144 f.). Der Rhythmus der Natur ist dabei ein anderer als der Rhythmus der Geschichte: In den 11340 Jahren zwischen den Königen Min und Sethos habe die Sonne viermal ihre Richtung geändert, aber nichts in Ägypten habe sich in dieser Zeit geändert, weder, was von der Erde noch was vom Fluss ausgeht, weder was Krankheiten, noch was die Arten des Todes angeht (2, 142). Unbefangen weiß er freilich an anderer Stelle sehr wohl von Naturgeschichte. Mit Beobachtungen erhärtet er die Vorstellung, der Nil habe das Delta »erst jüngst«, neostí, angeschwemmt, und die Ägypter seien mit ihren Siedlungen dem zuwachsenden Land gefolgt (2, 15). Über den Ursprung der Menschen spekuliert Herodot nicht, obwohl er beiläufig ausspricht, sie seien irgendwann entstanden.23 Es herrscht der Eindruck vor, sie seien im Prinzip schon immer da. Sein Kontinuum von Zeit schließt auch die Götter ein.24
3.2 Zeithorizonte Thukydides schrieb über ein Ereignis der eigenen Zeit. Dabei schritt er nach seiner Skizze der ›alten Geschichte‹ und einem konzentrierten Rückblick über fünfzig Jahre von einem festen Anfangspunkt aus in der Zeit voran – als Zeitzeuge und mit Hilfe von Zeitzeugenbefragung (1, 1. 22). Herodot erzählte über ein Ereignis der Zeit seiner Elterngeneration und ging ausführlich in der Zeit weit zurück (53 Prozent vs. 47 Prozent) – seine Quellen sind über die Zeitzeugen seiner Elterngeneration hinaus die verschiedensten Objektivationen von Erinnerung, Gedächtnis und Strategien der Vergangenheitsbewahrung. Mehr als 50 Belege sprechen davon, dass ein Sachverhalt es emé, »bis auf die eigene Zeit« gelte.25 Die eigene Generation, nicht aber ein festes Datum ist damit als der Bezugspunkt für die Zeitrelationen, die Herodot für sein unmittelbares Publikum herstellt, geschaffen.26 Bemerkenswert ist, dass auch die Distanz der eigenen Zeit zum Ereignis der Perserkriege und zu jenem Ankerdatum nicht bemessen wird, Herodot also mit dem gleichsam natürlichen Zeitgefühl der Zeitgenossen rechnet. Herodot spielt auf die Anfangsjahre des Peloponnesischen Krieges an, nicht aber genauer auf das Datum von dessen Ausbruch. Er
23. Seit es Menschen gebe, gebe es auch die Ägypter (2, 15). 24. Gegen Darbo-Peschanski, Le discours du particulier,S. 25-38, aber mit Harrison, T., Divinity and History. The Religion of Herodotus, Oxford 2000, S. 198-207. Vgl. unten zu Anm. 59. 25. Cobet, Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes, S. 53f., 59f. 26. Die antike Chronographie stellte Herodots Akmê, Lebensmitte, auf das Jahr 444 (Gründung von Thurioi, an der er teilgenommen habe): Jacoby, Herodotos, Sp. 230. 119
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erzählt 7, 137f., dass die Söhne von Sperthias und Bulis eine Tat büßten, deren Abgeltung durch die Eltern misslungen war.27 »Das geschah sehr viel später, zur Zeit des Krieges zwischen den Peloponnesiern und den Athenern.« Nur dank Thukydides (2, 67) können wir sagen: Dies geschah i. J. 430 v. Chr. Über das kommunikative Gedächtnis, das Herodot mit seiner Elterngeneration verband, war es offenbar möglich, mit Bezug auf das gleichsam absolute Datum 480 (8, 51) die Ereignisse der zwanzig Jahre zwischen dem Ausbruch des Ionischen Aufstandes (500/499) und der Schlacht von Plataiai (479) lückenlos zeitlich zu ordnen (Hdt. 5, 23ff.) Er berichtet Jahr für Jahr, schließlich Monate, ja Tage zählend.28 Ionischer Aufstand, Marathon und Xerxes’ Zug gegen Griechenland führen orientalische und griechische Geschichte zusammen; die Handlung selbst synchronisiert die beiden »Referenzsubjekte«. Synchronismen müssen nur in wenigen Fällen ausdrücklich hervorgehoben werden, wie etwa der Bezug zu den westlichen Griechen (7, 166). Als Spuren der unmittelbaren Verständigung zwischen beiden Seiten lese ich die Frauenraubgeschichten, die die Schuldfrage an den Perserkriegen reflektieren (1, 1-5), und das Gastmal des Attaginos in Theben im Vorfeld der Schlacht von Plataiai, das Griechen und Perser miteinander im Gespräch vorführt (9, 15f.). Bis zu drei Generationen, die Großelternspanne von knapp hundert Jahren (Hdt. 2, 142), reicht der engere Erinnerungshorizont zurück, die Reichweite des kommunikativen Gedächtnisses, für das Zeitzeugen noch unmittelbar berichten,29 Herodots »Erzählzeit« von Kroisos bis Xerxes,30 »il suo campo storico«,31 in der Sprache der Ethnologen »the recent past«.32 Archias, Sohn des Samios, Enkel des Archias, hat Herodot selbst gesprochen über einige Einzelheiten »des ersten Feldzugs von Spartanern gegen Asien« (3, 56); Herodot ordnet das Ereignis in die Zeit von Kambyses’ Ägyptenfeldzug ein (3, 44), nicht lange vor Polykrates’ Tod (3, 120-125), wir können jetzt sagen
27. Gemeint ist die Sühne für das Töten persischer Gesandter i. J. 490 (Hdt. 6, 48). 28. Strasburger, Herodots Zeitrechung, S. 151-156 bzw. 710-717. 29. Thomas, R., Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge 1989, S. 108-123, 186. Ruschenbusch, E., Zur Genese der Überlieferung über die archaische Zeit Griechenlands und das 5. und 4. Jh. v. Chr., in: Historia 41, 1992, S. 385-394. 30. Bichler, R./Rollinger, R., Herodot (Olms Studienbücher Antike), Hildesheim, Zürich, New York 2000, 31f. 31. Vannicelli, Erodoto e la storia dell’ alto e medio archaismo, S. 14f. 32. Vansina, J., Oral Tradition as History, London 1985, S. 23f., 168f. 120
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ca. 525 v. Chr. Nicht oft nennt Herodot Gewährsleute namentlich, die er selbst gesprochen habe.33 Der Perser Zopyros, Sohn des Megabysos, Enkel des Zopyros, lief zu den Athenern über, und Herodot könnte ihn dort getroffen haben (3, 160).34 Das Ereignis, für das er Gewährsmann war, Dareios’ Wiedereroberung des abtrünnigen Babylon, gehört in den Anfang von Dareios’ Regierungszeit.35 Die Zeitangaben jenseits des Jahres 500 sind nicht mehr auf das Jahr genau zu interpretieren, auch wenn sie mit der Geschichte der Perserkönige korrelieren.36 Die Pluralität der Subjekte der griechischen mündlichen Überlieferung, die Vielzahl der aristokratischen Familien und die Vielzahl der Poleis bieten auch innerhalb des Drei-Generationen-Horizontes jenseits des Ionischen Aufstandes keine verbindenden zeitlichen Anhaltspunkte.37 Das gilt trotz seiner unmittelbaren Folgen für die ionischen Städte auch für das obere Grenzdatum des engeren Erinnerungshorizontes, die Eroberung von Sardes durch Kyros ca. 547 v. Chr. Das Ende des Lyderkönigs Kroisos bildet einen zentralen auch chronologischen Orientierungspunkt in Herodots Erzählung (Hdt. 1, 6-92), es lässt sich aber innerhalb der Regierungszeit des Kyros nicht genau fixieren; 547 stellt eine plausible Extrapolation aus Herodots Angaben dar.38 Immerhin scheint dieses Datum gerade auch aus griechischer Perspektive eine feste Größe gewesen zu sein: »Beim Feuer ziemt solch Gespräch zur Winterzeit, wenn man auf weichem Lager gesättigt daliegt und süßen Wein trinkt und Kichern dazu knuspert: ›Wer und von wem bist du unter den Männern? Wieviel Jahre zählst du, mein Bester? Wie alt warst
33. Hdt. 2, 55. 4, 76. 9, 16. 34. Im Jahr 440: How, W. W./Wells, J. A Commentary on Herodotus, 2 Bde., 2. Aufl., Oxford 1928 z. St. 35. Abzuleiten aus dem Regress von Hdt. 3, 150 über 140, 133, 127, 126, zu 120. 36. Strasburger, Herodots Zeitrechung, S. 134f., 151, 686 bzw. 710f. 37. Raaflaub, K., Athenische Geschichte und mündliche Überlieferung, in: J. von Ungern-Sternberg/H. Reinau (Hrsg.), Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, (Colloquium Rauricum 1), Stuttgart 1988, S. 197-225. – Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, S. 108-123, 155-195. Osborne, R., Archaic Greek History, in: E. J. Bakker/I. J. F. de Jong/H. van Wees, Brill’s Companion to Herodotus, Leiden, Boston, Köln 2002, S. 497-520, hier S. 501 nimmt diesen Befund neuerdings wieder als Beleg dafür, »that Herodotus made no attempt to provide an integrated chronology of the past«. 38. Strasburger, Herodots Zeitrechung (1962), S. 684 Anm. 27, 693. Umstritten bleibt die Konjektur der Nabonidchronik z. J. 547, die dieses Datum von außen sicherte: Rollinger, R., Herodots babylonischer Logos (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 84), Innsbruck 1993, Exkurs 1. 121
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du, als der Meder ankam?‹«39 Wenn also Kroisos und Kyros aus griechischer Perspektive dergestalt fest im engeren Erinnerungshorizont verankert sind, so liegt Kroisos’ Verbindung mit den Weisen Solon (1,29-33), Thales (1,75), Pittakos (1,27) und Bias (ebd.) bereits jenseits; sie gehört zur Legendenbildung, aus der die Sieben Weisen werden. Kroisos’ Sturz durch Kyros bildet für Herodot den Ausgangspunkt des als kohärenter historischer Prozess erzählten Zusammenhangs. Jenseits der Drei-Generationen-Schwelle erkennen wir einen weiteren Horizont, der bis in die Zeit um 700 v. Chr. zurück reicht. Er bildet offenbar eine zusammenhängende Tradition, die nicht mehr von individueller Erinnerung abhängt, sondern schriftliche Quellen irgendeiner Art repräsentiert, die die Dynastien verschiedener orientalischer Reiche zusammenführten. In Herodots Erzählung ist es die persische Expansion, die nicht nur diese mit den Griechen verbindet, sondern zugleich einen Zusammenhang herstellt mit Lydern, Medern, Assyrern, Babyloniern und Ägypten. »Das chronologische Rückgrat« bildet die Abfolge der medischen und persischen Könige; dies führt uns lückenlos zurück bis zu Deiokes’ ›Machtergreifung‹ (1, 96-101) i. J. 708 v. Chr. (zur Verdeutlichung: mit Herodot zurückgerechnet und in unsere Zeitrechnung übersetzt).40 Die »kompositionell vorgelagerte« Reihe der Lyderkönige läuft parallel zu den Medern; sie beginnt mit Gyges’ Ermordung des Kandaules etwa i. J. 717 v. Chr. (1, 7-14) und wird bis zum Perser Kyros weitergeführt. Die Einnahme von Sardes ist, wie gesagt, mit Herodots Angaben nur annähernd in Kyros’ Regierungszeit einzuhängen. Dasselbe gilt von der Reihe der ägyptischen Könige seit Psammetichos, der Saïtischen, Manethons 26. Dynastie ca. 670 v. Chr. ff. (2, 147-157), die bis zu Kambyses’ Eroberung Ägyptens ca. 525 v. Chr. geführt wird (3, 1-16).41 Keine dynastische Reihe und keine Chronologie liefert Herodot für Assur und Babylon. Das Epochenereignis der Zerstörung Assurs und Ninives 612 v. Chr. liegt jenseits der Drei-Generationen-Schwelle. Wir finden es zweimal erwähnt und der Zeit des Kyaxares zugeordnet (1, 103. 106). Herodot verspricht eine ausführlichere Behandlung, die aber nicht erfolgt (1, 106. 184). Einen knappen Reflex finden wir in einem Fragment des Phokylides, ein gro-
39. Xenophanes fr. 18 Diehl = 22 Diels/Kranz. Drews, R., The Greek Accounts of Eastern History, Cambridge Mass. 1973, hier S. 7. 40. Strasburger, Herodots Zeitrechung, S. 150 bzw. 710f.; Vgl. Drews, R., The Fall of Astyages and Herodotus’ Chronology of the Early Kingdoms, in: Historia 18, 1969, S. 1-11; Burkert, W., Lydia between East and West or How to Date the Trojan War: A Study in Herodotus’, in: J. B. Carter/S. P. Morris (Hrsg.), The Ages of Homer in Honour of E. T. Vermeule, Austin 1995, S. 139-148, hier S. 140f. 41. Strasburger, Herodots Zeitrechung, S. 138 bzw. 690f. 122
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ßes Thema ist Ninives Untergang dagegen im Alten Testament beim Propheten Nahum.42 Der Horizont der orientalischen Königsreihen reicht zurück bis in die Zeit Homers und Hesiods. Das wussten Herodot und die Griechen aber nicht: »Homer und Hesiod lebten, wie ich meine, etwa vierhundert Jahre vor mir, nicht mehr« (Hdt. 2, 53). Damit sind die Dichter jenseits des Horizontes der orientalischen Dynastien eingeordnet. Die griechischen Daten diesseits dieser Schwelle, in unseren Begriffen also der älteren archaischen Zeit oder auch orientalisierenden Phase, sind bei Herodot vage und widersprüchlich. Die Griechen besaßen also kaum verlässlich überlieferte Synchronismen zwischen ihrer und der orientalischen Geschichte, obwohl der Bruder des Alkaios um 600 in Babylonien43 und griechische Söldner unter Psammetichos in Ägypten fochten.44 Handlungszusammenhänge gelten für diesen Zeithorizont höchst partiell, Kohärenz wird recht abstrakt durch Synchronismen hergestellt, einen durchgehenden Bezugsrahmen bieten allein die dynastischen Reihen der Ägypter, Lyder, Meder und Perser. Jenseits der Zeitschwelle um 700 v. Chr. finden wir genealogische Konstruktionen, für Ägypten dazu eine weitere, etwas lückenhafte Königsreihe zurück bis Moiris (2, 101-142) und Spekulationen mit phantastischen Zahlen (2, 43. 100. 142), die in mehreren Stufen bis zu einem nicht definierten Anfang zurückführen – Zeitdimensionen, wie sie sich Hekataios (2, 143) und die Griechen kaum vorgestellt haben bzw. nur in Verbindung mit Ägypten vorstellten.45 Die Pönizier bilden, was diese Dimensionen angeht, mit den 2300 Jahren bis zur Gründung von Tyros eine Mittlerstellung (2, 44). Zu den ägyptischen Dimensionen gehört die Formulierung, das Delta habe sich »sozusagen erst jüngst«, neostí os lógo eipeîn gebildet (2, 15), was Herodot sich mit zwanzig-, dann eher mit zehntausend Jahren übersetzt (2, 11). Festliche Umzüge feierten die Ägypter »seit langer Zeit«, die Griechen führten sie erst »jüngst«, neostí, ein (2, 58). In griechischen Dimensionen spricht er für die Zeit des Kadmos, dem Anfangspunkt seiner griechischen genealogischen Konstruktionen, von »jüngst«, neostí (2, 49), und
42. Beide Texte werden in die Zeit des Ereignisses datiert. Phokylides fr. 4 Diehl: Besser sei die winzige Stadt auf ragendem Fels, doch geordnet, als das verdorbene Ninos. »Ninive ist wie ein voller Teich, dessen Wasser davonfließt« (Nahum 2, 9). 43. Alkaios fr. 50 Diehl = 350 L.-P. 44. Hdt. 2, 147. 154; Meiggs/Lewis, A selection of Greek Historical Inscriptions, Nr. 7. 45. Lloyd, A. B., Herodotus Book II. Introduction, Leiden 1975, S. 171-194, hier S. 185-194; Brown, T., The Greek Sense of Time in History as Suggested by Their Acconts of Egypt, in: Historia 2, 1962, S. 257-270, hier S. 260-263. 123
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Homer und Hesiod hätten überhaupt »sozusagen erst vorgestern oder gestern«, prôen te kaì chthès os eipeîn lógo gewirkt, was er in eine Spanne von vierhundert Jahren übersetzt (2, 53). An den Ägyptern konnte sich Herodot über eine Konzeption von Zeit und Geschichte klar werden.46 Mit Geschichte umzugehen, ist nach der Religion das erste, was er ihrer Lebensweise als besonderes Merkmal zuschreibt: »Die Ägypter, die das Fruchtland bewohnen, pflegen die Erinnerung mehr als alle anderen Menschen und wissen weitaus am meisten zu berichten von allen, bei denen ich es erproben konnte«, mnêmen anthrôpon pánton epaskéontes málista logiôtatoí eisi makrô tôn egô es diápeiran apikómen (2, 77). Fehlte Herodot noch ein Gattungsbegriff für seinen Text, vermittelt er doch in der Anlage des Ägyptenbuchs für seine Sache auch formal eine klare Vorstellung. Kalender (2, 4) und Monumente (Buch 2 passim) bezeugen eine alte Kultur, die sich der verschiedenen Maße von Zeit versichert (2, 143). Als die Konstituenten seines Gegenstandes werden also Narrativität, Kultur, Gedächtnis und Zeit vorgestellt. Die Form der ganzen Geschichte verdankt sich nicht Erinnerung, sondern ist Konstruktion. Diese will ausdrücklich Zeit ausmessen als den umfassenden Raum der Geschichte. Die einzelnen Zeithorizonte und ihre Abfolge spiegeln Unterschiede im Charakter der verschiedenen Bauelemente, wie sie irgendwo auf dem Weg zwischen Informanten, die Herodot ägyptische Priester nennt (2, 142), und nachfragenden Ioniern (2, 147. 154) geronnen sind: Eine aus allen Epochen des alten Ägypten geklitterte Königsliste zwischen Sethos und Sesostris mit einzelnen, häufig Denkmalsgeschichten; die fast gänzlich abstrakte Distanzbemessung zwischen Moiris und Min (2, 99-101), der am Anfang der 341 Menschengenerationen, andtrôpon geneás, bis Sethos steht (2, 142), der erste Mensch, der über Ägypten König war (2, 4). Davor waren dort Götter Könige (2, 15), und Herodot gibt auch für sie noch einen Rahmen und einen Rhythmus von Zeit an (2, 144f.). Er forschte über Anfänge bei den Priestern in Heliopolis, angeblich »den Erfahrensten im Erzählen von Dingen«, logiôtatoi (2, 3). Doch was göttliche Gegenstände anginge, wolle er nicht wiedergeben, was er hörte, »denn alle Menschen sind gleich darin, über Derartiges [sc. tà theîa] nichts zu wissen.«47 Den so gegebenen nahezu abstrakten Rahmen eines ›Speichergedächtnisses‹ zu konstruieren war Herodot und den Griechen nur möglich dank des Alten Orient und dessen Speicherkultur.48 Die be-
46. Cobet, Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes, S. 127-137. Hunter, Past and Process in Herodotus and Thucydides, S. 50-92. 47. Harrison, Divinity and History, S. 190-192. 48. Zum Verhältnis von Griechenland und Vorderasien in diesem Zusammen124
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sondere Qualität des herodoteischen Rahmens ist die Weite, in der er zwischen verschiedenen Kulturen vermittelt. Gleichzeitig verweist dessen Nacktheit darauf, welch schwachen Abglanz jener Speicherkultur er lediglich gibt. Die Traditionen des dritten und zweiten Jahrtausends, die wir Bronzezeit nennen, erreicht er nicht.49
3.3 Ethnê und historische Zeit Für Ethnê, Stämme und Völker, die Herodot beiläufig oder weil sie in die Handlung einbezogen werden, beschreibt, gilt ein anderer Status von ›historischer Zeit‹ als für Reiche, Dynastien oder griechische Städte. Die Skythen werden als das jüngste aller Völker eingeführt (4, 5); am anderen Ende der Skala stehen die Ägypter (2, 2). Wie die Ägypter in die Zeit, erstrecken sich die Skythen in den Raum (4, 46f.). Zeit ist keine Dimension ihrer Kultur und Lebensweise. Dies lässt sich auch über die Massageten sagen (2, 201-204. 215f.), die Äthioper (3, 17-24), die Inder (3, 98-105), auch über die Libyer, die durch eine ausführliche Völkertafel ausgezeichnet werden (4, 168-199); die Psylloi sind darin einbezogen, obwohl ihre Zeit vorbei ist und sie in diesem Sinne Geschichte geworden sind (4, 173). Wenn éthne eine eigene Geschichte erhalten, handelt sie von ihren Anfängen. Zwei Stereoptype erklären, wie ein Stamm zu seinem Raum fand: Seine Leute waren schon immer dort, autochthone ›Ureinwohner‹, oder sie wanderten vor Zeiten ein. Beide Möglichkeiten werden z.B. für Karer, Kauner und Lykier erwogen (1, 171-173). In Afrika sind Griechen und Phönizier Zuwanderer, Libyer und Äthiopen ›Ureinwohner‹ (4, 197). In drei Versionen erörtert Herodot die Anfänge der Skythen: a) Am Anfang stehen drei Söhne des Targitaos von Zeus und einer Tochter des Flusses Borysthenes: Autochthonie im wörtlichen Sinne (4, 5-7); b) Drei Söhne entstehen aus der Verbindung von Herakles mit einer Schlangenfrau: Autochthonie wird mit einer griechischen Wandersage verknüpft (4, 8-10); c) Die Skythen wanderten aus Asien ein und verdrängten die Kimmerier, die dort »ursprünglich/ von alters«, tò palaión, wohnten (4, 11f.). Die erste Version spielt vor tausend Jahren, die zweite ist durch Herakles 900 Jahre zurück datiert (2, 145); Herodot hält die dritte für glaubwürdig, sie gehört in seinem Raster in den Horizont der orientalischen Dynastien, in die Zeit des
hang Patzek, B., Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Geschichtswerk Herodots, in: Klio 84, 2002, S. 7-26, hier S. 16-24. 49. Sieht man von der Konstruktion Min = erster König ab und den Denkmälernovellen zu den Pyramidenbauern. 125
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Lyders Ardys (1, 6. 15), des Meders Kyaxares (1, 103. 4,1) und des Ägypters Psammetichos (1, 105).50 Für die Zeit zwischen den Anfangsgeschichten und Herodots Ereigniszusammenhang finden wir in dem einen oder anderen Fall Splitter von Geschichte, so von den Libyern, wenn es um die griechischen Städtegründungen geht (4, 178f.). Sehr viel mehr Anlass dazu gaben die thrakischen Stämme, weil ihre geographische Lage sie häufiger mit Ereignissen, die von anderen ausgingen, in Berührung brachte,51 z.B. erreichte sie Sesostris’ Feldzug zwei Generationen vor Troia (2, 103). Die Päonier besiegten die Perinthier einige Zeit vor Dareios’ Skythenfeldzug (5, 1f.), nach diesem deportierte Megabyzos einige Päonier nach Asien (5, 12-15. 23. 98). Schließlich wurden die Söhne von Sperthias und Bulis Anfang des Peloponnesischen Krieges in Thrakien aufgegriffen (7, 137). Auf diese Weise erhält die Ethnologie der Thraker eine größere Zahl historischer Splitter, ohne dass sie selbst ihren ›ethnischen Charakter‹ – Raum, nicht Zeit ist die konstitutive Dimension – verlören (5, 3-10. 16). Historische Zeit berührt sie nur ›am Rande‹, ist akzidentiell und verbindet sie nur punktuell durch Synchronismen mit dem erzählten Raum der Geschichte. Herodots ›historisches‹ Thema schließt an den räumlich bestimmten Status der Ethnê insofern unmittelbar an, als die kulturelle Unschuld des einfachen Lebens der Päonier (5, 16) und der Satrer (7, 110f.) die Erklärung dafür abgibt, dass die Perser nicht mit ihnen fertig werden. Die ›historische Zeit‹ der einen ist nicht die der anderen Seite. Die drei Dimensionen von Geschichte, Raum, Zeit und Sinn, gehen im Fall der hier angesprochenen ›Völker‹ eine spezifische Verbindung ein. Häufig ist ihre Verknüpfung mit dem Ereignisstrang auf seinem Weg durch Zeit und Raum kontingent, und alterité52 wird beiläufig verhandelt. Den Ereignisstrang bildet die Expansion der Reiche von Lydern, Medern und Persern. Ethnê, Stämme, ›primitiv‹ in dem Sinne, dass sie näher zur Natur und eher nicht in Städten lebten und gewiss als herrschaftliche Ordnung kein Reich bildeten, diese konstituieren in Herodots Erzählung eine Antithese zu imperialer Macht. Otherness erzeugt in Herodots Text einen besonderen Sinn in Verbindung mit der persischen Expansion. Der Perserkönig ist kein ›gerechter Mann‹, sonst
50. Harmatta, J., Herodotus, Historian of the Cimmerians and the Scythians, in: Hérodote et les peuples non grecs (Entretiens Fondation Hardt 35), Genève 1990, S. 115-130. 51. Asheri, D., Herodotus on Thracian Society and History, in: Hérodote et les peuples non grecs (Entretiens Fondation Hardt 35), Genève 1990, S. 131-169. 52. Hartog, F., Le miroir d’Hérodote. Essai sur la représentation de l’autre, Paris 1980. 126
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würde er nicht Land begehren, das anderen gehört, lässt ihn der König der Äthiopen wissen (3, 21). Persischen Fehlschlägen wird so – wie zunächst im Fall des Scheiterns des Lyders Kroisos an den Persern – ein spezifisches Profil verliehen im Gegenüber mit den Massageten (Kyros), Äthiopern (Kambyses), Skythen (Dareios), schließlich den Griechen (Xerxes), den Griechen, die ihrer Freiheit froh sind, auch wenn sie in einem armen Land leben (7, 102).53 Nehmen wir die Griechen, aber nur auf gewisse Weise, aus der Weiterung aus: Zwei verschiedene Modi von ›historischer Zeit‹ treffen aufeinander: die ›primitiven‹ Ethnê erfüllen eher Raum als Zeit. Diese Gegenüberstellung erinnert an Homers kyklopische Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Landwirtschaft und ohne Städte (Odyssee 9, 105-115). Sie repräsentiert ein Exempel der Konfiguration ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹,54 – offenbar eine inhaltliche Kategorie in Herodots Vorstellung von ›historischer Zeit‹.
3.4 Spatium historicum, spatium mythicum und »the floating gap« Strasburgers Untersuchung von 1956 bewegte sich innerhalb des Horizontes der orientalischen Dynastien als des spatium historicum55 und schloss ausdrücklich »die Sagenchronologie« als das spatium mythicum aus, wie dies im Grunde auch Herodot getan habe mit seiner »Abschiedsgeste an den Mythos«, mit der er gleich zu Beginn jene Frauenraubgeschichten abgetan habe (1,5f.).56 Die Begriffe stammen aus der antiken historiographischen Reflexion über die ganze Geschichte, die Werke wie Herodot voraussetzt; dort wird freilich eine dritte Zeitspanne vorangestellt: »Wenn der Ursprung der Welt den Menschen zur Kenntnis gelangt wäre, würden wir mit diesem beginnen. Aber jetzt will ich jene Zeitspanne (intervallum temporis) behandeln, die Varro die historische nannte (historikón). Er berichtet nämlich von drei Zeitab-
53. Cobet, Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes, S. 101ff., 107120. 54. Kracauer, S., Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt am Main 1973, S. 166ff; Koselleck, R., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 222f., 321ff. Locus classicus ist Thukydides 1, 6: die Barbaren lebten heute wie einst die Griechen. 55. von Leyden, W., Spatium historicum. The Historical Past as Viewed by Hecataeus, Herodotus, and Thucydides, in: Durham University Journal NS 11, 1950, S. 89104. 56. Strasburger, Herodots Zeitrechung, S. 134 bzw. 685 f.; Strasburger, H., Herodot als Geschichtsforscher, in: Kleine Schriften 2, Hildesheim 1982, S. 835-919, hier S. 841f., 871f., 913. 127
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schnitten (tria discrimina temporum): 1) vom ersten Menschen bis zur Sintflut (ad cataclysmum priorem), welcher auf Grund unserer Unkenntnis ádelon, unsichtbar genannt wird; 2) von der Sintflut bis zur ersten Olympiade, welcher, weil aus dieser Zeit viel Sagenhaftes berichtet wird (quia multa in eo fabulosa referuntur), die mythische Zeit (mythikón) heißt; 3) von der ersten Olympiade bis auf unsere Zeit (ad nos), welcher historisch (historikón) heißt, weil in ihm Ereignisse und Taten in wahren Geschichten überliefert sind (quia res in eo gestae veris historiis continentur).«57 Kriterium dieser Periodisierung ist die Bewertung der Überlieferungslage, wie es auch bei Herodot zu sein scheint.58 Seine ägyptische Geschichte gliedert er jedenfalls ausdrücklich nach der Quellenlage (2, 99. 142. 147). Beginnend mit Psammetichos, der Karer und Ioner nach Ägypten gerufen hatte, so dass diese für die reisenden Griechen zu Dolmetschern werden konnten, »wissen wir alles genau« (2, 154). Wie weit die Gegenüberstellung von spatium mythicum und spatium historicum Herodots Organisation der Zeit insgesamt gerecht wird, müssen wir noch sehen. Eben an derselben Nahtstelle der Überlieferung schiebt Herodot die Spekulationen über Zeitdimensionen ein (2, 142146). Er rechnet auch mit der Zeit der Götter, sie sind in das historische Kontinuum einbezogen,59 über sie zieme es sich aber zu schweigen, da Menschen darüber nichts wissen könnten (2, 3): intervallum temporis ádelon. Bemerkung über diese »die Götter betreffenden Dinge«, tà theîa, schließt Herodot unmittelbar den materiellen Teil über die Menschenwelt der Ägypter an, die mit König Min vor 11.340 Jahren (2, 142) beginnt (ósa dè anthropêia prêgmata […] 2, 4). An anderer Stelle, dem klassischen Beleg für eine Unterscheidung Herodots zwischen einem spatium mythicum und einem spatium historicum, spricht er von Seeherrschaft und unterscheidet dabei von Polykrates von Samos die Thalassokratie des Kreterkönigs Minos.60 Polykrates sei der erste gewesen, von dem wir es wüssten, nehme man den Minos aus, doch »Polykrates war der erste aus dem sog. Menschengeschlecht« (tês anthropeíes legoménes geneês Polykrátes prôtos 3, 122). Minos erscheint danach als Teil der epischen Heroenwelt in ein gänzlich anderes Zeitalter gestellt, so wie die Ilias erzählte Zeit und Zeit der Hörergesellschaft voneinander trennt. In anderen Fällen allerdings behandelt Herodot, sofern der Stoff dafür ausreicht, jene Heroenzeit durchaus mit demselben kriti-
57. Censorinus, De die natali 21, 1 (hrsg. v. Nicolaus Sallmann, 1. Aufl., Leipzig 1983). 58. von Leyden, Spatium historicum, S. 94-96. 59. Vgl. oben Anm. 24. 60. Hunter, Past and Process in Herodotus and Thucydides, S. 104 Anm. 9; Darbo-Peschansky, Le discours du particulier, S. 25-38. 128
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schen Raisonnement wie er es mit jüngeren Überlieferungen tut.61 Bestes Beispiel ist seine mit Plausibilitäten argumentierende Rekonstruktion dessen, was in Troia wirklich geschehen sei (2, 120).62 Die zeitlichen Distanzen bemisst er im Rahmen eines geschichtlichen Kontinuums.63 In Thukydides’ Archäologie hat Troia für die Organisation von Zeit ausdrücklich die Funktion einer Epochengeneration. Ein Epochendatum ist Troia der Sache nach auch für Herodot (7, 20 als Datierung »vor dem Troischen Krieg«, tòn prò tôn Troikôn genómenon),64 die Verrechnung zwischen Generationenzählung und absoluten Zeitspannen gelingt aber nur über die Synchronismen um Herakles.65 Jedenfalls aber spiegelt Herodot um die Generationen Herakles und Troia herum66 die verzeitlichende Organisation der griechischen Sagenwelt als einer komplexen Form von Anfangsgeschichten für »die Griechen« im Sinne der für verschiedene Éthnê konstatierten Erzählform. Natürlich ist nicht Herodot für diese Form griechischer Anfangsgeschichten verantwortlich. Es scheint die Entstehungszeit der Ilias zu sein, die den Sagen der Griechen eine bestimmte inhaltliche
61. von Leyden, Spatium historicum, S. 95f.; Osborne, Archaic Greek History, S. 497f. 62. »Er behandelt die menschlichen Figuren des Mythos weiter als historische« (Strasburger, Herodot als Geschichtsforscher, S. 871): Minos ist durchaus Teil der ›Menschengeschichte‹ (1, 171): »einst«, tò palaión, waren die Karer, unter dem Namen Leleger noch auf den Inseln wohnend, dem Minos untertan; Minos als Herrscher auf Kreta 1, 173 (dazu die ›mythischen‹ Figuren Europa, Sarpedon, Pandion, Aigeus).- Kodros und Neileus als Gründer Milets 5, 65, 76, 9, 97. – Halbgötter werden wie Menschen behandelt: Herakles von Alkmene geboren 2, 44. »Und doch zieht Herodot zwischen entgöttertem, rationalisiertem Mythos und der Geschichte eine deutliche Trennungslinie, wiewohl er es nirgends scharf und prinzipiell ausspricht.« – »Er empfindet also den Mythos im allgemeinen als zwar nicht a priori unwahr, aber doch zu ungewiß, qualitativ andersartig als den geschichtlichen Stoff, der wißbar ist« (Strasburger ebd.). Vgl. Hunter, Past and Process in Herodotus and Thucydides, S. 93-115. Entschieden im Sinne eines Kontinuums jetzt Harrison, Divinity and History, S. 198-207. 63. Homer habe höchstens 400 Jahre vor ihm gelebt (2, 53), seit dem Troische Krieg seien eine Generation mehr als 800 Jahre verstrichen (2, 145). 64. Vandiver, E., Heroes in Herodotus. The Interaction of Myth and History, Frankfurt am Main, Bern, New York 1991, Kap. 5. 65. Drews, The Fall of Astyages and Herodotus’ Chronology of the Early Kingdoms, S. 6 f. Burkert, Lydia between East and West. 66. Prakken, D. W., Studies in Greek Genealogical Chronology, Lancester 1943, S. 19 und passim; Lloyd, Herodotus Book II, S. 182; Burkert, Lydia between East and West, S. 142-145; Giovannini, A., La guerre de Troie entre mythe et histoire, in: Ktema 20, 1995, S. 139-176, hier S. 140-149. 129
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und zeitliche Struktur verlieh,67 Spiegel ihrer Ethnogenese im kulturund traditionsgeschichtlichen Sinne.68 Eine gemeinschaftsstiftende Anfangserzählung verknüpft verschiedene ›einfache Geschichten‹ und lokale Traditionen zu panhellenischen Unternehmen, der »Sammlung der Männer aus vielen Städten« (Ilias 9, 544): die Jagd nach dem kalydonischen Eber, der Argonautenzug, die Sieben gegen Theben, der Zug gegen Troia, die Heimkehrergeschichten. Anders als im Falle der skythischen Anfangsgeschichten werden diese Sagen nicht als Varianten überliefert, sondern bleiben nebeneinander gültig. Es entsteht dabei »eine mythische Chronologie, die im Epos streng bewahrt wird«, »ein genealogisches System von ganz wenigen Generationen«,69 das jene komplexe Form einer Anfangsgeschichte ausmacht. Herodot und Thukydides entnehmen wir, dass Troia aus dieser Reihe, gewiss dank der Ilias, als Epochendatum herausragt. Von dem spatium historicum sind die Anfangsgeschichten bei Herodot deutlich getrennt durch eine nahezu erzählfreie, lediglich durch abstrakte Zahlen und genealogische Namensreihen überbrückte Lücke. Sogar das überlieferungsreiche Ägypten spiegelt diese Struktur: deutlich ist diese Lücke zwischen den springenden Anfangsgeschichten der Götterkönige und Min einerseits und Moiris andererseits. Dasselbe Phänomen spiegelt sich noch einmal abgemildert in der geklitterten Königsreihe zwischen Sesostris und Sethos. In der Sprache des Ethnologen Vansina: Gegenwart und ›recent past‹ werden in einer fernen Vergangenheit verankert, obwohl wenig über die Zeit dazwischen gewusst wird, für die Ethnologen eine fließende Größe: »the floating gap«.70 Eine Formulierung aus dem Kontext der klassischen Studien: »There is a far-off island of knowledge, or apparent knowledge; then darkness; then the beginnings of continuous history.«71 Wir begegnen in einer solchen Struktur von Herodots konkreter Zeitorganisation, die
67. Hölscher, Die Odyssee, S. 162-185. 68. Hall, J. M., Ethnic Identity in Greek Antiquity, Cambridge 1997. 69. Hölscher, Die Odyssee, S. 167 f. Die Spanne besteht bei Herodot aus neun Generationen und reicht von Kadmos (2, 145) bis Orest (1, 67) und Iphigenie (4, 103), der Generation der Söhne und Töchter der Helden vor Troia. 70. Vansina, Oral Tradition as History, S. 23f., 168f.; Bichler, R., Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin 2000, S. 35-42. 71. Murray, G., The Rise of the Greek Epic, Oxford 1907, S. 29 zitiert als Eröffnungssatz von Snodgrass, The Dark Age of Greece, S. 1; Vgl. Morris, I., Periodization and the Heroes: Inventing a Dark Age, in: M. Golden/P. Toohey (Hrsg.), Inventing Ancient Culture. Historicism, Periodization, and the Ancient World, London, New York 1997, S. 96-131. 130
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in diesem Punkt noch deutlicher in Thukydides’ Archäologie vorliegt, offensichtlich einem Anknüpfungspunkt für unsere moderne Periodisierung der frühen griechischen Geschichte.72 Nun ist die Lücke bei Herodot freilich mit Fleiß verdeckt, so dass ein zeitlich bemessenes Kontinuum entsteht. Die durch dieses Kontinuum erreichte Historisierung verdankt sich offensichtlich antiquarischer Konstruktionen mit dem einfachen Mittel der Genealogie. Nicht nur Prototyp dessen, sondern einzige durchgehende Reihe sind die spartanischen Könige, die auf Herakles zurückgeführt werden (7, 204. 8, 131). Diese Konstruktionen werden durch die tentative Annahme von absoluten Zeitdistanzen weitergetrieben,73 was dem Kontinuum eine verbindliche Form verleiht, die zu Fortschreibungen einlädt. Allerdings lassen sich die 22 Generationen zwischen der Generation des Herodot und des Spartanerkönigs Archidamos (6, 71) und der des Herakles nicht nach der für die ägyptische Überschlagsrechnung gegebene Faustregel ›drei Generationen ein Jahrhundert‹ (2, 142) auf die neunhundert Jahre von Herodot bis Herakles umrechnen.74 Burkert weist darauf hin, dass folglich die genealogischen Reihen, nimmt man Herodots ›drei Generationen ein Jahrhundert‹ – Regel ernst, auf deutlich jüngere Daten für das griechische spatium mythicum jenseits des ›floating gap‹ führen als Herodots absolute Distanzen. In unsere Zeit-
72. So können wir auf das Konzept eines griechischen Dark Age anwenden, was Burkert zu Ed. Meyers negativem Urteil über Herodots Zeitrechnung sagte: »The question is not about historical fact, but about traditions« (Burkert, Lydia between East and West, S. 144). Meyer, Herodots Chronologie der griechischen Sagengeschichte, S. 185: »Zwischen der historischen Zeit und der Sagengeschichte liegen die dunklen Jahrhunderte (nach Herodots Chronologie rund 500 Jahre), aus denen es gar nichts zu erzählen gibt.« 73. Hdt. 2, 13 (900 Jahre bis Moiris). 44 (2300 bis zur Gründung von Tyros). 53 (400 bis Homer). 145 (800 bis Pan, Sohn der Penelope, 900 bis Herakles, 1000 bis Dionysos, Sohn der Semele). Eintausend Jahre für den griechischen Dionysos als Konjektur für 1600 in den Handschriften erscheint im Kontext der übrigen Zahlen zwingend und ist eine Konjektur von Wilamowitz. Dagegen halten den Boer, Herodot und die Systeme der Chronologie, und Darbo-Peschanski, Le discours du particulier, S. 31; zustimmend Burkert, Lydia between East and West, S. 141, Anm. 22. 74. Ed. Meyer (1892) hatte aus der spartanischen Reihe auf ein mit der ›drei Generationen ein Jahrhundert‹-Regel konkurrierendes Berechnungssystem ›eine Generation vierzig Jahre‹ geschlossen. Seinen Kritikern muss schon deshalb Recht gegeben werden, weil wir, wo wir gegenrechnen, immer wieder andere Werte für eine Generation erhalten. Vgl. Mosshammer, The Chronicle of Eusebius and Greek Chronographic Tradition, S. 105-110; Burkert, Lydia between East and West, S. 143f. 131
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rechnung übersetzt gehörte der Troianische Krieg danach in die Zeit um 910 v. Chr.75 Noch einmal zurück zur Ausgangsfrage, inwiefern Herodot ein spatium mythicum und ein spatium historicum konsequent unterscheide. Auf dem Schlachtfeld von Plataiai geraten Tegeaten und Athener in einen Wettstreit um historische Anciennitäten (9, 26f.). Dabei führten sie, wie der Erzähler sagt, alte (palaiá) und neue (kainá) Taten auf. Die ›ganze Zeit‹ setzt sich aus ›Altem‹ und ›Neuem‹ zusammen. Als Taten aus alter Zeit führten die Tegeaten an: die Abwehr der Rückkehr der Herakliden unter Hyllos. Die Athener hielten dagegen: Sie hätten damals die Herakliden gegen Eurystheus geschützt; sie hätten die Sieben gegen Theben bestattet, die Amazonen abgewehrt, schließlich auch in Troia nicht schlecht gekämpft.76 Dies alles aber sei ›Geschichte‹ (palaià érga), daran zu erinnern stehe nicht an, einschlägig seien vielmehr aktuelle Leistungen (tà kainá), also Athens Sieg bei Marathon. Das, was hier an ›Geschichte‹ aufgeboten wird, gehört alles zu den griechischen Sagengeschichten vor der großen Lücke, dem floating gap, zum Kern des spatium mythicum in diesem modifizierten Sinn, und wird von den Athenern als nicht aktuell abgetan, ganz vergleichbar Herodots Argument gegen die Frauenraubgeschichten (1, 5f.). Kroisos wie Marathon sind für den aktuellen Zusammenhang unmittelbar erklärende Vorgeschichte und in diesem prägnanten Sinn spatium historicum. In einem solchen relativen Sinne können aber durchaus alte Zeiten noch aktuell sein: Seit alters (ek palaitérou) seien die Griechen klüger als die Barbaren (1, 60); schon in alter Zeit (tò palaión) hätten die Athener dem Polemarchen Stimmrecht gegeben (6, 109). Oder jüngere Zeiten können bereits vergangene ›Geschichte‹ enthalten: Früher (tò palaión), zur Zeit des Polykrates von Samos waren alle Schiffe noch rot angestrichen (3, 58). Der Sprachgebrauch von tò pálai, tò palaión gehorcht offensichtlich keiner abstrakt fixierten Zeitstruktur. Die in Homers Erzählung nicht bemessene Distanz zwischen der eigenen bzw. der Zeit der Hörergesellschaft und der erzählten Zeit ist bei Herodot (und Thukydides) zu jenem »floating gap« geworden, dessen magere spekulative Füllung gleichwohl die Funktion erfüllt, die Zeit als ein historisches Kontinuum zu begreifen. Was wir dabei formal leicht unterscheiden können jenseits der gänzlich unbekannten Anfänge, des spatium ádelon, ist nicht eine Zweigliederung in spatium mythicum und spatium historicum, sondern eine Abfolge von drei Perioden:
75. Burkert, Lydia between East and West, S. 141; Giovannini, La guerre de Troie entre mythe et histoire, S. 140-148. 76. ›In der alten Zeit‹ (tò pálai) fielen die Tyndariden auf der Suche nach Helena in Attika ein. Dekeleia zog bei dieser Gelegenheit durch sein Verhalten »für alle Zeit« (es tòn pánta chrónon) Nutzen (9, 73). 132
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a) die komplexen Anfangsgeschichten, die Zeit der Götter und Heroen der griechischen Dichter, also in diesem Sinn die Zeit des Mythos; b) das »floating gap«, dessen zwar mager gefüllte, aber zeitlich bemessene Distanz es zum »Dark Age« gerinnen lässt; c) der Zeithorizont, den die orientalischen Dynastien strukturieren, insofern das spatium historicum. Bei diesem nimmt »the recent past«, die Zeitgeschichte, die sich zu Lebzeiten der Erlebensgeneration zu einer bestimmten Erzählung verfestigt, noch einmal einen deutlich eigenen Charakter an. Diese letzte Differenz verliert sich später in dem Maße, in dem jede Generation von neuem solche Erzählungen in einer wachsenden historischen Bibliothek hinterlässt,77 dem noch uns zugänglichen Speichergedächtnis der griechisch-römischen Antike.
3.5 Kyklos, Prozess und Kontingenz Herodots Satz vom »Kreislauf der menschlichen Angelegenheiten«, ky´klos anthropeíon pregmáton (1,207 Kroisos gegenüber Kyros) und seine programmatische Erklärung über den Wechsel des Glücks zwischen großen und kleinen Städten (1,5) werden gerne zitiert, um eine zyklische Auffassung von Geschichte zu belegen.78 Topoi wie der weise Ratgeber oder dass das Überschreiten natürlicher Grenzen (Halys, Araxes, Donau, Hellespont) von den Göttern bestraft wird, vermitteln den Eindruck sich wiederholender Muster, so dass Zeit zu einer sekundären Dimension im Zusammenhalt der geschichtlichen Welt würde.79 Dies ließe sich sogar insgesamt von der Abfolge der orientalischen Könige von Kroisos bis Xerxes sagen, doch über die typischen, sich wie-
77. »Il ›ciclo‹ degli storici«: Canfora, L./Corcella, A., La letteratura politica e la storiografia, in: G. Cambiano/L. Canfora/D. Lanza (Hrsg.), Lo spazio letterario della grecia antica. I: La produzione e la circolazione del testo I: La polis, Roma 1992, S. 433-471, hier S. 433-435. 78. Strasburger, H., Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides, in: Saeculum 5, 1954, S. 395-428 [›berichtigt und mit Zusätzen‹ in: H. Herter (Hrsg.), Thukydides, Darmstadt 1968, S. 412-476; und in: Strasburger, H., Kleine Schriften 2, Hildesheim 1982, S. 527-591], hier S. 400f., 422-424. »In seiner Auffassung der Geschichte hat die Zeitzählung keine grundlegende Wichtigkeit« (ebd., S. 401); nachvollzogen von Cobet, Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes, S. 179. Gegen die These einer generell zyklischen Orientierung der antiken Geschichtsschreibung, die auf Augustinus’ Verdikt gegen Platons Konzept der Zeit zurückgeht, Momigliano, A., Time in Ancient Historiography, in: History and Theory, Suppl. 6, 1966, S. 1-23 [auch in: Momigliano, A., Quarto contributo alla storia degli studi classici, Roma 1969, S. 13-41]; Cobet, Die Ordnung der Zeiten. 79. ›General causes‹ in der Terminologie des Ethnologen Vansina, Oral Tradition as History, S. 132ff. 133
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derholenden Motive dieser Erzähleinheiten hinaus erkennen wir eine ansteigende Linie vom Kroisos-Logos als der Ouvertüre zur Sequenz der Perserkönige, wie die Sequenz von Kyros bis Dareios wiederum die Klimax des Xerxeszugs vorbereitet.80 Natürlich hat das Ereignis der Perserkriege provoziert, Erklärungen in einer solchen längeren zeitlichen Perspektive zu suchen und erzählend zu komponieren.81 Dabei musste die Linearität den Eindruck des Zyklischen überlagern. Für die Zeitgenossen eröffnete die wachsende Expansion des Perserreiches eine universale Perspektive; »Handlungszeit« wird zu »Weltzeit«.82 Eine solche Betrachtung wiederum fokussiert das kohärent Prozesshafte der Ereigniskette. Andererseits sind jenseits des Hauptstranges Kontingenzen, zufälliges Aufeinandertreffen in Raum und Zeit, ein Charakteristikum von Herodots Werk.83 Seine Vorstellung von altérité und von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vermögen dies zu illustrieren. Aus jenen Kontingenzen erst erwächst das Motiv, Raum und Zeit auch systematisch auszumessen, soweit Empirie und empirisch angeleitete Spekulation das zuließen. Eine Vielzahl von Traditionen und partikularen Chronologien integrierte Herodot zu einem Kontinuum historischer Zeit, die erste, verschiedene kulturelle Traditionen transzendierende Chronologie.84 Als abstrakter Rahmen tritt sie hinter Herodots Geschichtserzählung zurück und wird doch mit dieser erst entwickelt. Insofern erhält der weite Raum der Geschichte, »in dem alles geschehen kann« (5, 9), doch ein spezifisches Gesicht, ganz anders als Thukydides’ strikte Konstruktion offen für Kontingenzen und doch unverwechselbar und von Unumkehrbarkeit bestimmt.
80. Cobet, Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes, S. 158ff. 81. Momigliano, Time in Ancient Historiography; Drews, The Greek Accounts of Eastern History. 82. Dux, G., Die geschichtliche Zeit Herodots, in: G. Dux., Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt am Main 1989, S. 273-285, hier S. 278. 83. Cobet, Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes. Meier, Prozeß und Ereignis in der griechischen Historiographie des 5. Jahrhunderts v. Chr. und vorher. 84. »Er verglich grundverschiedene Zeitbegriffe und Geschichtsbilder miteinander […]. Die Sterblichen auf der vielgestaltigen Welt hatten nur eines gemeinsam: Zeitgenossenschaft. Wo sie handelnd und reagierend aufeinandertrafen, vollzog sich Geschichte, und durch ihre relative Gleichzeitigkeit datierte sie Herodot.« Borst, A., Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990, S. 11. 134
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JUSTUS COBET: ZEIT – GESCHICHTE – SINN
4. Die westliche Tradition Herodot steht am Anfang unserer historischen Bibliothek. Sein Werk wurde von Thukydides, dieser von Xenophon fortgeschrieben und so fort. Aus der von Thukydides konstatierten Abfolge Troischer Krieg – Perserkriege – Peloponnesischer Krieg entsteht der uns vertraute Anfang einer historia perpetua. Traditionswirksamer noch sollte die Abfolge großer Reiche werden; bei Herodot finden wir so herausgestellt die Assyrer, Meder und Perser.85 Alexander und der Erfolg der römischen Expansion verschaffen diesem Bild einer historia perpetua als gerichteter Prozess ein Gewicht, das bis über die Schwelle der Neuzeit trägt.86 Herodots Perspektive einer Universalgeschichte wurde im Hellenismus87 und durch das Imperium Romanum erweitert. Eine spätantike Summe dieses historiographiegeschichtlichen Prozesses stellen Eusebius’ Chronik und Orosius erste christliche Weltgeschichte dar, die Form, in der ›alte Geschichte‹ an das europäische Mittelalter und die Frühe Neuzeit überliefert wurde. Die synchronoptische, besser, die verschiedene historiographische Traditionen übergreifende und deshalb offene Form von Eusebius’ Chronik finden wir auch inhaltlich vorgebildet in Herodots Organisation historischer Zeit. Mit wachsendem Abstand in der Zeit erscheint das Maß an Offenheit für Kontingenzen zu schrumpfen zugunsten der Perspektive einer kohärenten Anfangsgeschichte Europas.
85. Hdt. 1, 95. 102ff. 130; Vgl. Alonso Núñez, J. M., Herodotus’ Ideas about World Empires, in: Ancient Society 19, 1988, S. 125-133. 86. Cobet, Die Ordnung der Zeiten. 87. Murray, O., Herodotus and Hellenistic Culture, in: Classical Quarterly 66, 1972, S. 200-213. 135
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II. Afrika, Australien, Türkei
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) T02_00 resp afrika, australien, türkei.p 279
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) vakat 138.p 27966147066
UTE RITZ-MÜLLER: ZWISCHEN MACHT UND OHNMACHT
Zwischen Macht und Ohnmacht. Koordinaten einer afrikanischen Dynastiegeschichte Ute Ritz-Müller
»Zodo gnoghda me, ti nigui na pa wouk’ye.«1 Yamba Tiendrébéogo, Contes du Larhallé
1. Das Ahnengrab September 1999: Im Busch bei Komtoéga, einem kleinen Ort im Südosten Burkina Fasos, circa 14 Kilometer entfernt von der nächst größeren Stadt Garango, fährt eine Autokolonne vor. Eine Delegation aus der Hauptstadt Ouagadougou reist an. Ihr Ziel, ein knorriger, urtümlicher Baobab, beschattet das Grab Naba Zungranas2, des »Stammvaters« der Mosi, der stärksten Bevölkerungsgruppe im Land.3 Verglichen mit seiner zentralen Bedeutung als Gründerfigur, ist Zungranas Ruhestätte
1. »Es ist allemal besser Freundschaft mit den Mächtigen zu schließen, als dass ein Plünderer sich an der (Rinder-)Herde vergreift.« Tiendrébéogo, Yamba, Contes du Larhallé. Suivis d’un recueil de proverbes et de devises du pays mossi. Redigés et presentées par Robert Pageard, Ouagadougou 1963, S. 172. 2. Zungrana (Zungraana, Zoungrana) ist wahrscheinlich keine Person, sondern ein Titel (von zugu = Kopf und rana, dana = Herr, Besitzer im Mamprulle, der Sprache der Mamprusi). Vgl. Kawada, Junzo, Genèse et évolution du système politique des Mosi Meridionaux. (Haute Volta), Tokyo 1979, S. 78ff.; Stössel, Arnulf, Riisyam. Geschichte und Gesellschaft eines Moose-Staates in Burkina Faso, Wiesbaden 1989, S. 25; Balima, Albert Salfo, Légendes et histoires des peuples du Burkina Faso, Paris 1996, S. 77. 3. Heute bezeichnet sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung Burkina Fasos (insgesamt ca. 10 Millionen) als Mosi, Mossi oder Moose. Vgl. Englebert, Pierre, Burkina Faso. Unsteady statehood in West Africa, Boulder 1996, S. 10. 139
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AFRIKA, AUSTRALIEN, TÜRKEI
(noch) marginal, bislang lediglich markiert von einem, im Alltag durch ein konisches Strohgeflecht verdeckten Stein (Abbildung 1). Das soll sich ändern. Eine diffuse Idee wird aus der historischen Dynamik herausgenommen und in Denkmalform verstetigt: Die Kommission hat den Auftrag, den Grundstein für ein Monument zu legen – Anlass für die Redner, eine lange, scheinbar ungebrochene Geschichte in Erinnerung zu rufen und für künftige Generationen festzuschreiben. An die Vergangenheit geknüpft sind Zukunftsvisionen: Die Planung umfasst nicht nur ein Denkmal, sondern auch ein Touristencamp. Vorausschauend wird auf der Homepage Burkinas für einen Besuch der Zentralregion geworben, als »Sehenswürdigkeiten« unter anderem auf die Gräber der ersten Mosi-Könige in Komtoéga verwiesen. Abbildung 1
März 2000: Naba Tigré, König (rima) im circa 35 Kilometer entfernten Tenkodogo, einem der neunzehn Mosi-Reiche des Landes, bekundet Unzufriedenheit darüber, dass die Arbeiten am Denkmal frühzeitig wieder zum Stillstand gekommen sind. Er überlegt, wie er das öffentliche Interesse neu beleben kann und beschließt, persönlich nach Komtoéga aufzubrechen, um am Grab Zungranas, als dessen direkten Nachfahren und dynastischen Erben er sich betrachtet, ein Opfer (mando) darzubringen. Ist das der wahre Grund für seine anachronistische Reise? Seit der willkürlichen Einsetzung eines umstrittenen Chefs im sechs Kilometer entfernten Loanga sieht sich Naba Tigré einer wach-
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senden Opposition aus den eigenen Reihen gegenüber. Das tabaski4 steht bevor, ein zeitnahes Fest, mit dem er alljährlich sein Königtum revitalisiert und stabilisiert. Um machtvoll auftreten zu können, ist er dabei auf die Mitwirkung seines Hofstaates, und vornehmlich verschiedener Gefolgsleute (nayirdamba), angewiesen. Zu letzteren gehört als offizieller Vertreter der in das Tenkodogo-Reich integrierten Bisa5 der samand-naba6. Er allerdings wird dieses Jahr durch Abwesenheit glänzen; im Zuge der Streitigkeiten um die »Chefferie« von Loanga hat Naba Tigré ihn vor wenigen Monaten seines Amtes enthoben. Gerüchte kursieren, dass seine Parteigänger das Fest nutzen, um Solidarität zu bekunden und gegen die elitäre Politik des Königs zu protestieren. Bei Hof fürchtet man bestenfalls einen Boykott, schlimmstenfalls offene Provokation. Auf jeden Fall stehen Naba Tigré Schwierigkeiten ins Haus. Sinn der in dieser Krisenzeit zum Grab des »Stammvaters« anberaumten Reise ist daher gewiss auch, die mehr oder weniger offen angefochtene Legitimität und Autorität des Herrschers, und damit der »Mosi«, durch Rückbezug zu konsolidieren. Die Vergangenheit, in der die Sozialbeziehungen etabliert und die grundlegenden sozialen Institutionen festgelegt wurden, besitzt überall in Afrika normative Bedeutung. Zur Lösung gegenwärtiger Probleme bewegt sich der Tenkodogo-naba rückwärts in der Zeit – bis hin zu den Wurzeln des Königtums. Dieses begann nach offizieller Lesart mit der Ankunft von Reiterkriegern, die aus dem Norden des heutigen Ghana ins »Mosi-Plateau« vorstießen. Vor ihrer Ankunft kannten die im Raum Tenkodogo »altansässigen« Bisa kein zentralisiertes politisches System. Gleichwohl leisteten sie dem Feind entschlossen Widerstand. Einer Legende nach fand die Schlacht, die über künftige Machtverhältnisse entschied, vor 1.000 Jahren (!) in der zwischen einem Hügel und einer Quelle gelegenen Ebene von Komtoéga statt. Nach hartem Kampf erlagen die Bisa. Doch auch Zungrana soll, von einem gegnerischen Pfeil in die Brust getroffen, in Komtoéga den Tod gefunden haben.7
4. Das tabaski entspricht dem ‘Id al kabir, das an das Opfer Abrahams erinnert und am 10. des Monats der Pilgerfahrt stattfindet. In Tenkodogo nennt man das tabaski auch kibsa (arab. »Fest«) oder mos-raaga (»Markt der Mosi«). 5. Um Verwirrung zu vermeiden, verwende ich durchgängig den Singular Bisa (Plural Bissano). Eine andere Bezeichnung ist Bussanga (Plural Bussansi). 6. Der samand-naba starb am 12. Januar 2001, das Amt ist seither unbesetzt. 7. Balima, Légendes et histoires, S. 77f.; die Version ist jedoch umstritten, sie wird in dieser Form weder bei Hof noch in Komtoéga anerkannt. 141
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2. Geschichtspolitik In der Vergangenheit wurde der Erinnerung an Schlachtfeld und Grab wenig Beachtung geschenkt, Naba Tigré ist der erste Tenkodogo-naba, der die »im Herzen« des Bisa-Gebietes gelegene Stätte aufsucht.8 Das mag mit seinen Grund darin haben, dass Komtoéga bis zur Kolonialzeit zum Einflussbereich des mogho-naba gehörte: Der Herrscher über das zentrale Ouagadougou-Reich ließ hier einem seiner Ahnen Opfer darbringen.9 In der Kolonialzeit wechselte der Ort zum »Cercle de Garango«, und irgendwann blieben die Opfer aus. Später soll Naba Tigré einen Wächter eingesetzt haben, der in seinem Namen und in regelmäßigen Abständen Zungranas gedachte. Erst seit kurzem, so scheint es jedenfalls, legt der Tenkodogo-naba gesteigerten Wert auf die Fixierung einer bislang eher vagen historischen Verbindung, wiewohl sich über sie doch Ursprung und Anciennität seines Geschlechts und damit sein Vorranganspruch als (genealogisch) »ältester« Mosi-Herrscher begründen und legitimieren ließ.10 Unter diesem Aspekt ist der Aufbruch nach Komtoéga zu verstehen. Der Tenkodogo-naba und weitere Vertreter der Hofaristokratie, deren Vorfahren an der Ausbildung gegenwärtiger Strukturen mitwirkten, reisen gemeinsam an den sinnträchtigen Ort, an dem die Herrschaftsgeschichte ihren Anfang genommen haben soll (Abbildung 2).
8. Vgl. Kawada, Genèse et évolution, S. 76f. 9. Dabei soll es sich um den fünften mogho-naba Yingnemdo (»ich und mein Blut« oder »ich und mein Fleisch«) handeln, der einer inzestuösen Verbindung entstammte. Der gegen Widerstand nominierte Yingnemdo erlangte Bedeutung als Vater von Kumdumye, der das Wagadugu-Reich (Ouagadougou) neu organisierte. Tiendrébéogo, Yamba, Histoire et coutumes royales des Mossi de Ouagadougou. Rédaction et annotations de Robert Pageard, Ouagadougou 1964, S. 16; vgl. Kawada, Genèse et évolution, S. 82f.; Tiendrébéogo, Yamba, Histoire traditionelle des Mossi de Ouagadougou, in: Journal de la Société des Africanistes 33/1, 1963, S. 7-46, hier S. 14; Prost, R. André, Note sur l’origine des Mossi, in: Bulletin de l’Institut Française d’Afrique Noire 15/3, 1953, S. 1333-1338, hier S. 1337. Das Opfer in Komtoéga wurde, wie andere als »überholt« geltende Zeremonien, vom »modern« eingestellten mogho-naba Kougri (inthronisiert am 28. Februar 1957) abgeschafft. Balima, Légendes et histoires, S. 280. 10. Vgl. Balima, Légendes et histoires, S. 98; allgemein Cunnison, Ian, History on the Luapula: an essay on the historical notions of a Central African tribe, Cape Town 1951, S. VI; Westermann, Diedrich, Geschichte Afrikas: Staatenbildungen südlich der Sahara, Köln 1952, S. 16f, S. 406; Vansina, Jan, Oral tradition: a study in historical methodology, London 1965, S. 48, S. 153; Sturtevant, William C., Anthropology, history and ethnohistory, in: Ethnohistory 13, 1966, S. 1-51, hier S. 29; Müller, Klaus E., Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen (Essener kulturwissenschaftliche Vorträge, Bd. 3), Göttingen 1999, S. 60. 142
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Die Vertreter des Hofes repräsentieren dabei nicht nur unterschiedliche Sozialverbände, sondern auch verschiedene »historische Epochen«. Innerhalb miteinander verwobener Zeitebenen identifiziert sich der König sinnfällig mit der »Urzeit«, weshalb ihn ein fünfjähriges Mädchen, seine jüngste Tochter (Adéle) Yennenga, nach Komtoéga begleitet: Die Mutter, eine Tochter des Herrschers von Gambaga, hatte Naba Tigré 1990 geheiratet, nachdem er eine, gezielt auch vom Staatsfernsehen landesweit ausgestrahlte Pilgerfahrt nach Nordghana unternommen hatte – an eben den Ort, von dem Yennenga, die mythische Ahnherrin der Mosi (und Zungranas »Mutter« beziehungsweise »Großmutter«) vor mehr als 1000 Jahren aufgebrochen sein soll. Die Präsenz der »kleinen« Yennenga bekräftigt das Band zwischen dem Tenkodogo-naba und dem Altahnen der Mosi; das Mädchen knüpft den Faden zur mythischen Zeit und unterstreicht deutlicher als Worte und Erklärungen Naba Tigrés Bindung an die erste »Mosi«-Generation. Mit Yennenga lebt die Erinnerung an die legendären Vorfahren wieder auf, wirkt die »Urzeit« hinein in die Gegenwart. Abbildung 2
Ein zweiter wichtiger Reisebegleiter ist der silmi-naba. Im Gegensatz zur – real wie metaphorisch – »gehätschelten« Yennenga scheinen die Bande zwischen dem Chef der im Raum Tenkodogo lebenden Fulbe und dem Königtum eher lose, hält er sich, wie bei vielen Zeremonien, auch am Grab bewusst im Hintergrund. Trotz dieser reservierten Haltung repräsentiert er Macht. Die viehzüchterischen, bereits früh islamisierten Fulbe leben nur scheinbar am Rand der Gesellschaft: Ein Pullo (Singular von Fulbe) ist auch bei anderen, die Vergangenheit memo143
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rierenden Darstellungen bedeckt präsent. Auch dafür gibt es eine griffige, doch meist zurückgehaltene11 Erklärung: Ein Pullo war an der Stadt- und Marktgründung mitbeteiligt12 und zeichnete, gemeinsam mit Naba Sigri, für verschiedene Neuerungen verantwortlich. Dazu gehörte unter anderem13, dass die üblichen Strohhütten durch aus Lehm gestampfte Häuser ersetzt wurden. Letztere erwiesen sich nicht nur als beständiger gegen Witterungseinflüsse, auch gegnerische Feuerpfeile vermochten sie nicht so leicht in Brand zu setzen, kurz: Sie boten einen wirksamen Schutz gegen feindliche Angriffe, weshalb, wie ihr Initiator es formulierte, Tenkodogo die Zeit überdauern, »das Haus« alt werden konnte.14 An die Person des silmi-naba knüpft sich diese Erinnerung, er steht, wenngleich nicht isoliert, für militärische Überlegenheit. Repräsentiert Yennenga die mythische Anfangs- oder Urzeit, ruft der silmi-naba eine Episode der rezenten Geschichte ins Gedächtnis. Er und andere Vertreter der Hofaristokratie stehen für differenziertere Erinnerungen, die Naba Tigré am Grab Zungranas mit der mythischen Geschichte in Einklang zu bringen sucht. Mit diesem Schachzug bezweckt er, das von einer heterogenen Bevölkerung getragene und aus einer turbulenten Geschichte hervorgegangene Tenkodogo unausweichlich und eindeutig als Mosi-Reich festzulegen.15 Indem er sich als legitimer Nachfahre der ersten Mosi-Generation und Statthalter Zungranas darstellt, akzentuiert er einen auf Anciennität gegründeten Vorrangan-
11. In Tenkodogo bleibt vieles, von dem man fürchtet, dass es Unfrieden stiften könnte, unausgesprochen, denn: »Worte sind wie Wasser, einmal vergossen, lässt es sich nicht mehr einsammeln.« Kaboré, Oger, Les oiseaux s’ébattent. Chansons enfantines au Burkina Faso, Paris 1993, S. 49. 12. Der Markt war nicht nur Warenumschlagplatz, sondern ein geschütztes Terrain mit eigenen »Gesetzen«, auch das menschliche Leben wird oft mit dem Marktgeschehen verglichen. Vgl. Davidson, Basil, Die Afrikaner. Eine Bestandsaufnahme im Zeichen des Umbruchs, Bergisch-Gladbach 1970, S. 219. 13. Die wohl wichtigste Innovation war, dass er das Thronrecht des männlichen Erstgeborenen, die Primogenitur, einführte. 14. Tenkodogo, korrekt transkribiert Tankudgo, bedeutet nicht, wie meist behauptet, »altes Land« (von tenga = Land, kudugu = alt), sondern »alte Bauweise« (tando = Adobe und kudugu = alt), ein Name, in den ein früher Yelleyan genannter Ort umgetauft wurde. Kawada, Genèse et évolution, S. 66, S. 140. 15. Ein Faktum, das außerhalb Tenkodogos weitgehend akzeptiert scheint. Vgl. Englebert, Burkina Faso, S. 10 und S. 12. Auch Krings, Thomas, Artikel ›Burkina Faso‹, in: Jacob E. Mabe (Hrsg.), Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1.000 Stichwörtern, Stuttgart 2000, S. 111-112, hier S. 111, führt Wagadugu (= Ouagadougou), Yatenga, Tenkodogo und Gurma als »die vier Mossi-Königtümer« an, »die aufgrund ihrer hierarchisch-straffen Organisation und militärischen Schlagkraft seit dem 14./15. Jahrhundert die Herrschaft über die autochthonen Völker etablieren konnten.« 144
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spruch gegenüber etwaigen Konkurrenten. In Afrika bilden Anciennität, Priorität und Seniorität noch immer Kriterien zur Hierarchisierung sozialer Rangfolgen. Obgleich konkrete Ereignisse und die exakte Bestimmung zeitlicher Distanzen für die höfische Chronologie zunehmend an Relevanz gewannen, orientiert sich der vielschichtig zusammengesetzte Hofstaat noch immer an diesen Vorgaben. Divergenzen, Brüche und daraus resultierende Ungereimtheiten werden zu Ausnahmeerscheinungen deklariert und mit sinnstiftenden Zusatzerklärungen versehen, die allgemein gültige Prämissen bestätigen, nicht aber in Frage stellen.
3. Die Schatten der Vergangenheit Das Tenkodogo-Reich ist nicht nur ein Beispiel für eine stratifizierte, durch eine Serie von Überschichtungsprozessen entstandene, sondern mehr noch für eine durch die koloniale Erfahrung geprägte Gesellschaft. Probleme, die die Dynastie mit der Legitimierung ihrer Vorrangstellung hat, sucht sie zu lösen, indem sie sich als altes »Mosi-Geschlecht« ausgibt. Die Mosi (genauer die Adelsschicht, die nakombse16) kamen, so wird vermutet, im Verlauf des 15. Jahrhunderts als Eroberer aus dem Süden.17 Aufgrund ihrer militärischen Schlagkraft gelang es kleinen nakombse-Gruppen der aufeinanderfolgenden Generationen, weite Landstriche zu erobern und mehr oder weniger dauerhafte Staatsgebilde zu errichten. Als eine frühe »Mosi-Bastion« gilt das Tenkodogo-Reich, das in einem Gebiet liegt, in dem im vorletzten Jahrhundert Fulbe und andere »Fremde« ökonomisch und politisch zunehmend einflußreich wurden. Ein zwischen Savanne und Waldland florierender Handel hatte Hausa, Yoruba und verschiedene YarseGruppen in die Region gelockt. Als Sklavenjäger, Salz- und Kolanusshändler unterwegs, besuchten und begründeten sie vielerorts Märkte, in deren Umgebung sie sich häufig auch niederließen. Vor allem unter
16. Alle nakombse führen sich auf Wedraogo (=Ouidraogo) bzw. Zungrana zurück. Diese Abstammung gilt als Voraussetzung für den Machtanspruch eines jeden Mosi-Chefs, vom mogho-naba bis zum »einfachen« Dorfoberhaupt. Das allein aber reicht noch nicht aus, die Betreffenden müssen auch naam besitzen, »die Kraft, die einen Mann dazu befähigt, andere zu beherrschen«, ein Konzept, das dem »göttlichen« oder »natürlichen« Charisma von Monarchen in westlichen Gesellschaften nahe kommt. 17. Vgl. Izard, Michel, La lance et les guenilles, in: L’Homme 13/3, 1973, S. 139-149, hier S. 39; Izard, Michel, Gens du pouvoir, gens de la terre. Les institutions politiques de l’ancien royaume de Yatenga (Bassin de la Volta Blanche), Cambridge 1985; Izard, Michel, L’odysée du pouvoir. Un royaume africain: état, société, destin individuel, Paris 1992. 145
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den Yarse befanden sich jedoch nicht nur (Kolanuss-)Händler, Weber und Färber, sondern auch wertgeschätzte islamische Religionsgelehrte, so genannte Marabuts. Da ihre Gebete immer Gehör bei Allah fanden, suchten von Konkurrenten bedrohte und von verschiedenen Seiten angegriffene Chefs häufig ihre Unterstützung. Eine dieser »alten« YarseFamilien spielt noch heute eine wesentliche Rolle bei den Inthronisationsriten des Tenkodogo-naba. Fulbe wie Yarse, die aufgrund ihrer Beweglichkeit mehr als andere hörten und sahen, dienten den Machthabenden oft als Spione, wodurch sie in bestehende Rangkämpfe mitverwickelt wurden. Die »Autochthonen«18, bei denen es sich im Raum Tenkodogo mehrheitlich um die noch heute numerisch überlegenen Bisa handelte19, zogen bei diesem Kräfteaustausch letztlich den kürzeren. Nur den Bisa von Garango gelang es, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, die Bisa im Raum Tenkodogo wurden unterworfen und mit beratenden Funktionen in den Hofstaat integriert.20 Nun sind ethnische Zuordnungen in Westafrika wohlweislich immer mit Skepsis zu betrachten. Aufgrund einer großen Mobilität der Bevölkerung handelt es sich dabei häufig um zeitabhängige, historisch bedingte »Momentaufnahmen«, die sich situationskonform ändern konnten. So war es jedenfalls bis zum Einbruch der Kolonialzeit, die sich langfristig zugunsten der Mosi auswirkte.21 In Tenkodogo erinnern sich rezente »Mosi«-Lineages und -Klane gleichwohl älterer Zugehörigkeiten. Entsprechend unterscheiden sich »reine« (purs) von »bisafizierten« Mosi sowie »ursprüngliche« (originaires) von »mosifizierten« Bisa. Als Mosi betrachten sich vielfach auch die aus dem Grenzgebiet zwischen Tenkodogo und Gourma stammenden Zaose und Yanse, was für die den Mosi nachgesagte assimilatorische Kraft spricht. Die Yarse, die ebenfalls Sprache und Kultur des »Herrenvolkes« übernahmen, heben sich, wenn überhaupt, nur durch ihre Religion von ihrem sozialen Umfeld ab. Trotz vieler grundlegender Gemeinsamkeiten stehen die Herrscher an der Spitze dieser heterogenen Gesellschaft unter großem Le-
18. Verstanden im Sinn von »früher eingewanderten Gruppen«. 19. 1909 zählte das Tenkodogo-Reichs 40.000 Bisa, 20.000 Mosi, 5.000 Fulbe und 2.000 Yarse. Balima, Légendes et histoires, S. 93. Zu Daten für 1924 siehe Tauxier, Louis, Nouvelles notes sur le Mossi et le Gourounsi, Paris 1924, S. 170. 20. Wie das Beispiel der umstrittenen Einsetzung des Chefs von Loanga gezeigt hat, befragt der König die von ihm ernannten Berater, aber nichts zwingt ihn, ihrem Rat zu folgen. 21. »The assimilationist feature of Mossi culture remains of paramount importance in understandig current ethnic relations.« Englebert, Burkina Faso, S. 11; vgl. Marc, Lucien, Le pays mossi, Paris 1909, S. 12; Balima, Légendes et histoires, S. 92. 146
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gitimierungszwang. Um der Bevölkerung glaubhaft zu machen, dass die amtierende Dynastie rechtens Herr über das Land ist, muss der Nachweis dafür geführt, beziehungsweise muss vorgetäuscht werden, dass sie dies schon seit Anbeginn war. Die herrschaftliche »Geschichtsschreibung« reagiert auf diese Herausforderung und sucht sich entsprechend darzustellen. Gezielt setzt sie Strategien ein, die es der Mehrheit erlauben, die in der Kolonialzeit etablierten Verhältnisse nicht nur zu tolerieren, sondern auch mit Sinn auszufüllen. Damit selbst Vertreter der im Kampf um die Macht unterlegenen Gruppen die Vorherrschaft des aktuellen Amtsträgers akzeptieren, werden dynastische Brüche verschwiegen, ummäntelt und im Ritual überspielt. Gleichwohl ist die Vergangenheit allgegenwärtig. Dass sie schwer auf der Gegenwart lastet, zeigen notorische, die geltende Ordnung immer wieder auf die Probe stellende Konflikte bei Hof. Politische Wechselfälle, die einen Wandel der Hierarchien bewirkten, kannte man in der Region bereits vor der Kolonialzeit, doch keine Krise verunsicherte die Bevölkerung mehr als die Machtergreifung der Franzosen. Sie bildet den einschneidenden Bruch, der eine Revision des Geschichtsbildes und eine gezielte Neuorientierung auslöste. Die Kolonialzeit schuf tiefgreifende Veränderungen, denn sie ging einher mit der Stabilisierung von vormals eher fließenden Strukturen. Grenzen wurden definitiv, ehemals segmentäre Gesellschaften erhielten einen »Chef«, aus Allianzen auf der Grundlage von Familienverbänden wurden »Ethnien«. Ein nachhaltiger Wendepunkt war schließlich auch 1960 die Inkorporation in den neugeschaffenen Nationalstaat. Wieder wurde in »angestammte« Machtbefugnisse von außen eingegriffen. Extremen Repressalien sahen sich die »traditionellen« Herrscher unter dem sozialistischen Präsidenten Thomas Sankara (1983-1987) ausgesetzt, während sein Nachfolger, der amtierende Staatschef Blaise Compaoré, es klug versteht, sie für seine Ziele zu manipulieren.
4. Die koloniale Wende Die Geschichte der Bevölkerung im Raum Tenkodogo vor 1890 ist nur aus oralen Traditionen bekannt. Wie häufig in Afrika – und ein Rechtfertigungsargument kolonialer Politik – vermittelt die zeitgenössische Literatur den Eindruck, dass der Vorstoß der Kolonialmächte durch interne Konflikte begünstigt wurde. Wahrscheinlich herrschten am Vorabend der Kolonisation tatsächlich Wirren im Mosi-Land.22 So hat-
22. Vgl. Binger, Louis-Gustave, Du Niger au Golfe du Guinée par le pays de Kong et le Mossi (1887-89), Paris 1892, S. 459-468 und S. 498-502; Skinner, Elliot P., The Mossi of the Upper Volta. The political development of a Sudanese people, Stanford 147
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te sich in Ouagadougou der letzte unabhängige mogho-naba, Naba Wobgo, seit Jahren als unfähig erwiesen, den Vasallenherrscher des Kantons Lallé in seine Schranken zu weisen. Ein Versuch, seine Autorität zu retten, resultierte in einem Pakt mit Fremden: Der bedrängte Herrscher gestand den Djerma23 das Recht zu, jenseits der Grenzen seiner Hauptstadt beliebig zu plündern und zu töten. Unruhe herrschte auch im nördlichen Mosi-Reich Yatenga; »Brüderkämpfe« erschütterten die Region, so dass Naba Bulli am 18. Mai 1895 willig einen ihm von den französischen Invasoren angetragenen Protektoratsvertrag unterzeichnete. Damit war Ouagadougou rundum von Protektoraten umgeben und die Kapitulation des mogho-naba nur noch eine Frage der Zeit. Doch bevor die Kolonne Voulet-Chanoine Ouagadougou erreichte, setzte sich Naba Wobgo in Richtung Bisa-Gebiet ab. Hier im Süden, so wird erzählt, lagen derweil zwei Konkurrenten um die Herrschaft im Dauerzwist. Der angeblich 1887 rechtmäßig eingesetzte Naba Karongo und »Prinz« Yellissida24, »Sohn« eines abgesetzten und nach Komtoéga vertriebenen Vorgängers, erhoben gleichermaßen Ansprüche auf den Thron. Um seinem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, überzog Yellissida das Land mit Krieg, in dessen Verlauf er Tenkodogo niederbrannte und Karongo von einem zum nächsten Ort jagte. Seine aus den Nachbarreichen Koupéla und Fada N’Gourma angeworbenen Söldnertruppen verwüsteten Dörfer und Felder, Anarchie regierte, und jeder Beliebige konnte sich »naba« nennen.25 Die lokale Bevölkerung war in zwei Lager gespalten; diejenigen, die Karongos Partei ergriffen hatten, wurden nach »Kriegsende« entsprechend honoriert. Zuvor sollte es jedoch inmitten dieser Wirren noch zu einem Ereignis von historischer Tragweite kommen: Aus dem Mamprusi-Gebiet26
1964, S. 127. Andererseits wird aber immer wieder die Stabilität der Mosi-Reiche betont, die es der Bevölkerung erlaubte, ein sicheres und »glückliches Leben« zu führen. Monteil, zitiert in Balima, Légendes et histoires, S. 116-17; Rapport von Chanoine vom 5.11.1896, ebd., S. 117-18 und S. 121ff. Die Mythe vom »vollkommenen« Königtum hat in Afrika jedoch nicht mehr Substanz als die Vorstellung im alten England, die angelsächsischen Könige hätten über ein goldenes Zeitalter geherrscht und Tyrannei sei erst nach der normannischen Eroberung aufgetreten. Davidson, Die Afrikaner, S. 213. 23. Bevölkerungsgruppe im heutigen Niger. 24. Alias Bagandé alias Lébrébundu (Lebgebundu) alias Elias, wie ihn Araber, bei denen er sich zwei Monate lang versteckt gehalten haben soll, nannten. Seine genealogische Abstammung bleibt unklar, in der oralen Tradition gilt er als ein Sohn Naba Yamweogos, in einem Brief von Voulet an Stewart vom 5.2.1897 (abgedruckt in Balima, Légendes et histoires, S. CXLIII) wird er als Sohn von Naba Sanemgare (= Sanema) bezeichnet. 25. Balima, Légendes et histoires, S. 124. 26. Gelegen im späteren Nordghana. 148
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stießen die Briten unter Sir Donald Stewart27 nach Norden, was den französischen Leutnant Paul Lucien Gustave Voulet zum vorzeitigen Aufbruch aus Ouagadougou bewog, wo er kurz zuvor massiv in die Herrschaftspolitik eingegriffen und einen neuen mogho-naba eingesetzt hatte.28 Die Kolonialagenten, bestrebt die Einflusssphäre ihrer jeweiligen Länder zu vergrößern, trafen am 7. Februar 1897 im Raum Tenkodogo zusammen. Dabei gelang es dem unermüdlichen Voulet, Stewart zum Rückzug zu bewegen. Briten und Franzosen verließen gleichzeitig die umstrittene Region, die Franzosen jedoch nur, um alsbald wieder zurückzukehren. Zielstrebig beendete der tatkräftige Voulet den »Bürgerkrieg«. Im Gegensatz zu dem selbstbewussten Yellissida, der es abgelehnt hatte, die »unerwartet aus dem Wasser aufgetauchten weißen Fische« zu empfangen, war der bedrängte Karongo in seiner Not bereit, selbst »die Hilfe des Teufels« zu akzeptieren. Damit war das Schicksal Yellissidas in nur wenigen Stunden besiegelt: Voulets Truppen überraschten ihn 15 Kilometer nordöstlich von Tenkodogo im felsigen Busch von Zabindella, setzten ihn gefangen und verschleppten ihn, nackt und in Fesseln, nach Ouagadougou, wo er in Gefangenschaft starb.29 Nachdem die Franzosen »ihre Gewehre in den Dienst des legitimen Herrschers gestellt hatten«, kehrte für kurze Zeit und vordergründig Ruhe in der Region ein. Die Kolonialmacht setzte Karongo an die Spitze einer neuen Hierarchie, die auch bis dato unabhängige Nachbargebiete umschloss.30 1897 befand sich das Prestige der Franzosen und ihrer wirkmächtigen Waffengewalt auf seinem Höhepunkt, ein Faktum, an das man sich heute in Tenkodogo nur mehr ungern erinnert. Das höfische Geschichtsbild verdrängt die Beteiligung der Franzosen an der Festigung königlicher Macht und beruft sich auf eine Entscheidungsschlacht, in der Karongo Yellissida erdolcht und ihm an-
27. Von 1897-1904 britischer Resident in Kumasi, der Hauptstadt von Asante. 28. Der rechtmäßige Herrscher Naba Wobgo befand sich noch immer auf der Flucht und hoffte weiterhin, mit Unterstützung der Briten seinen Thron zurückzugewinnen. Balima, Albert Salfo, Genése de la Haute Volta. Ouagadougou 1970, S. 45ff. und Balima, Légendes et histoires, S. 155ff. 29. An dieser Geschichte ist manches merkwürdig. So ist bis heute ungeklärt, ob Voulet Yellisida hinrichten ließ, ob jener Selbstmord beging, indem er sich einen vergifteten Pfeil in die Wade stieß oder ob er, wie Mangin behauptet, gar nicht nach Ouagadougou gebracht, sondern an Ort und Stelle von Voulet getötet wurde. Kawada, Genèse et évolution, S. 94ff.; Balima, Légendes et histoires, S. 147; Mangin, R.P. Eugène, Les Mossi. Essai sur les us et coutumes du peuple mossi au Soudan Occidental, in: Anthropos, 1914-1916, Nr. 9, S. 98-124, S. 477-493, S. 705-736; Nr. 10-11, S. 187217, S. 323-331, hier S. 110. 30. Vgl. Kawada, Genèse et évolution, S. 7. 149
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schließend den Kopf abgeschlagen haben soll.31 Auch in der Bevölkerung wirkt die Erinnerung an die Franzosen verblasst. Nur noch wenige Alte wissen von dem »weißen Leutnant«, den sie abfällig geotuko (»breite Stirn« bzw. »verrückte Büchse«) nennen und als grausamen Zyniker schildern, der, wo immer er hinkam, verbrannte Erde hinterließ und die Bevölkerung terrorisierte. Wer nicht gewillt war zu kollaborieren, wurde umgebracht und durch ein gefügigeres »Sujet« ersetzt.32 In der Folgezeit oktroyierte die Kolonialmacht auch bislang segmentären Gruppen nach Mosi-Vorbild einen »Chef« auf.33 Die neue Elite bewies ihre »Bündnistreue«, indem sie zufriedenstellende Steuern eintrieb und eine möglichst große Zahl an Zwangsarbeitern und Soldaten rekrutierte.34 Diesbezüglich zeigten sich »die Weißen« letztlich auch von Karongo enttäuscht. Der 1904 (beziehungsweise 1908) als Nachfolger eingesetzte Koom erschien williger, immerhin schickte er 1914 seine »Mosi-Reiter« nach Deutsch-Togo und damit gegen den Kriegsgegner Frankreichs ins Feld. Dass jedoch auch mit ihm kaum »Staat zu machen war«, bewies das zunehmend »launische« Verhalten des Potentaten, von dem es heißt, dass er sich immer häufiger weigerte, die Kolonialbeamten zu empfangen und der seine Zeit sinnlos beim waréSpiel vertat. Jedenfalls erntete auch er Kritik und wurde desavouiert als »unbedeutende Persönlichkeit, der nur das eigene Wohl am Herzen liegt.«35 In jener Zeit, in der die politische Dimension des Königtums zerschlagen und die Könige zu Verwaltern degradiert wurden, schuf die koloniale Administration eine neue Klasse von Chefs, die zwar ältere Machtträger kopierten, aber, da ihnen die notwendige historische Legitimation fehlte, in der Bevölkerung oft unbeliebt waren. Die durch die Kolonialzeit aus den Fugen geratenen (Macht-)Verhältnisse führten zu einer generellen Verunsicherung, einer Identitätskrise, in der alte und neue Amtsträger in den zu administrativen Zwecken geeinten »Reichen« ihre Beziehungen zueinander überdenken und eventuell neu
31. Sein Leichnam soll im Eingangsbereich Tenkodogos (in der Nähe der Brücke Kulpanbili) verscharrt worden sein, ein unheimlicher Ort, um den man noch heute einen möglichst weiten Bogen macht. 32. Daher Voulets Spitzname kugraloudi (»wenn er einen Prinzen nicht ästimiert, fängt er sich einen Chef«). 33. In der Region wurden mehrere Personen zu Chefs ernannt, die sich zuvor als Steuereintreiber und Marktaufseher bewährt hatten. 34. Vgl. Englebert, Burkina Faso, S. 21f. 35. »Personnage insignificant qui ne songe qu’á sa personne.« Auszug aus einem Bericht von 1910. Archive Nationale de la Côte d’Ivoire SE 555. Ich danke Andrea Reikat für die freundliche Überlassung einer Kopie des entsprechenden Dokuments. 150
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regeln mussten. Wichtig wurde ein übergeordnetes Sinnkonzept, auf das sich alle beziehen konnten. Die Kolonialherren, die die Krise ausgelöst hatten, lieferten, nachdem ihre Politik von einer zunächst intendierten Zerschlagung zur Konservierung des Mosi-Systems umgeschwenkt war, die entscheidenden Vorgaben zu ihrer Bewältigung. Damit, dass sie ihr Regime auf die Mosi, ein »Geschlecht von Kaisern und Königen«36 stützten und die Verwaltung der Kolonie ins Mosi-Kernland verlegten, verhalfen sie den Mosi-Herrschern zu einem wachsenden Prestige, förderten den Einheitsgedanken innerhalb ehemals loser Verbände und lieferten die Rahmenbedingungen für die künftige höfische Zeitrechnung. Um die Briten aus dem Gebiet der südlichen »Mosi« zu vertreiben und Tenkodogos Zugehörigkeit zur französischen Einflusssphäre festzulegen, hatten sie es zu einem, wenn auch von Ouagadougou unabhängigen, »ursprünglichen« Mosi-Reich erklärt, was dazu führte, dass die frühen Ahnen des ins Zentrum gerückten mogho-naba in die Herrschergenealogie Tenkodogos integriert wurden.37 Aus ideologischen Erwägungen zeigte sich auch Ouagadougou einer Verbindung mit Tenkodogo nicht abgeneigt.38 Die eigene Geschichte von einem nur vage bestimmten »alten Land«, aus dem der erste mogho-naba Wubri (Oubri), Zungranas Sohn, stammte, erfuhr durch die Verknüpfung beider Dynastien eine feste Verortung im Raum und gewann damit an Faktizität, galt es doch, zunächst den Kolonialherren und später der gesamten westlichen Welt, zu beweisen, dass Afrika »glorreiche Staatengründungen« hervorgebracht und damit »einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Zivilisation geleistet hatte.«39 Im Rahmen dieser höheren Bestimmung avancierte der Tenkodogo-naba zum »Senior« unter den Mosi-Herrschern, was ihm unter anderem das Vorrecht eintrug, in Gegenwart des mogho-naba seinen Hut aufbehalten zu dürfen.
36. Frobenius, Leo, Und Afrika sprach…, Bd. 2: An der Schwelle des verehrungswürdigen Byzanz, Berlin 1912, S. 152. 37. Wedraogo und andere Herrscher der Frühzeit finden zwar Erwähnung in der Genealogie, spielen aber sonst kaum eine Rolle. Vgl. Prost, Note sur l’origine des Mossi. Am Hof von Tenkodogo wird Wedraogo gezielt nur in der Rezitation des toog-naba gewürdigt, der zwar zu den fünf »Alten« (kasemdamba) gehört, dessen Vorfahren aber aus Ouagadougou stammen. 38. Zwar standen alle Chefs im Kreuzfeuer der Kritik, die meiste Autorität aber verlor der mogho-naba, der ohne Autorisation des Gouverneurs keinerlei Entscheidung treffen durfte. 39. Tauxier, Nouvelles notes, S. 584; Balima, Légendes et histoires, S. 100; Lentz, Carola, Der Jäger, die Ziege und der Erdschrein. Politik mit oralen Traditionen zur Siedlungsgeschichte in Nordghana, in: Zeitschrift für Ethnologie 125, 2000, S. 283. 151
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Ein alle Mosi-Reiche umfassendes, die jeweils eigenen Zeit- und Erfahrungshorizonte überschreitendes Geschichtsbewusstsein wurde erst durch die koloniale Erfahrung geweckt. Laut Rüsen: »[…] gäbe [es] gar kein Geschichtsbewusstsein, wenn es keine Krisen gäbe.« Ohne Krise oder »Zeiterfahrung der Kontingenz«, von Rüsen definiert als »Zeitqualität, die quer zur Perspektive der Erwartungen liegt«, »würden keine langen mentalen Prozeduren der Deutung und Interpretation in Bewegung gesetzt.«40 Trotz massiver interner Auseinandersetzungen bildet die Kolonialzeit den springenden Punkt in der Geschichte Tenkodogos und die wirkmächtigste Zäsur, die ein nach europäischem Verständnis (makro-)historisches Bewusstsein erst entstehen ließ. Fortan rechtfertigte die Kolonialzeit jede Art von Wandel. Die gängige Redewendung »au temps colonial« (nasardamba wakato oder kodum wendé) ist heute gleichbedeutend mit Veränderung und steht im Gegensatz zur Tradition (roge-n-mikki41 oder kudemde42), die alles Feststehende und nicht weiter zu Hinterfragende begründet.
5. Jahreszeiten Vor Einbruch der Kolonialzeit kannte die weitgehend ländliche Bevölkerung keinen temporalen Bezugsrahmen außerhalb des sich immer wiederholenden Jahresverlaufs. Die übliche Zeitrechnung basierte zuallererst auf der Folge natürlicher Phänomene – der Jahreszeiten, Zuund Abnahme des Mondes, Sonnenbewegung – und den an sie geknüpften sozialen Aktivitäten. Die Zeit im Jahresrhythmus kreiste um die Anbauphasen der wichtigsten Nahrungspflanzen (verschiedener Hirsearten, Bohnen und Okra). Eckpunkte des Systems bildeten Aussaat und Ernte, die in der westafrikanischen Savanne durch das periodische Ein- und Aussetzen der Niederschläge, durch Regen- und Trockenzeit, scharf voneinander geschieden sind. An diesen Zäsuren orientierten sich auch die in Umbruchszeiten eingesetzten Machthaber, wenn es um die Wahl ihrer Kriegs- oder Herrschernamen (zab-yuure, Plural zabyuya) ging.43 Sie mieden negative, mit Hunger und Elend
40. Rüsen, Jörn, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2000, S. 148. 41. »Was man bei der Geburt vorgefunden hat«. Vgl. Kaboré, Les oiseaux, S. 66-69. 42. »Vorstellung von dem, was zur Vergangenheit gehört, was alt ist«. Ebd., S. 69. 43. Generell zur Namengebung siehe Houis, Maurice, Les noms individuels chez les Mosi, Dakar 1963. 152
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verbundene Naturzeiten und bezogen sich bewusst auf solche segensreicher Art.44 Ein treffender Name für Könige, die in einer Wendezeit ihre Herrschaft antraten, ist Sigri, »Beginn der Regenzeit«.45 Regenzeit wie Regentschaft erwecken rundum positive Erwartungen, von beiden wird erhofft, dass sich ihr Segen heilbringend über Land und Leute ergießt. In Anlehnung an die traditionelle Bildersprache lassen sich die Könige mit Naturgewalten in eins setzen, weil sie es gleichermaßen vermögen, gute wie schlechte Zeiten zu verursachen.46 In Tenkodogo wie allgemein in bodenbautreibenden Gesellschaften gehörte die Kontrolle der Zeit zu den wesentlichen Merkmalen politischer Macht.47 So waren (und sind) an die Vorgänge in der Natur nicht nur Herrschernamen und tagtägliche Arbeitsverrichtungen geknüpft, nach ihnen richten sich auch die Feste im Jahreszyklus, die, in der Bilderwelt von Saat und Ernte angesiedelt, in ihrer Dynamik den natürlichen Wachstumsprozess nachvollziehen. Wenngleich hintergründig ältere Vorrechte gewahrt bleiben48, werden Agrariten öffent-
44. Herrschernamen sind auf ein Wort verkürzte Devisen, deren eigentliche Bedeutung sich erst aus dem Zusammenhang erschließt. So herrschten in Ouagadougou zwei Könige mit Namen Saaga (Regen). Bei einem lautet der vollständige Name »Saag nid lagem koanga kôn pek wobgo«(selbst 100 vereinte Regen können einem Elefanten nichts anhaben), beim anderen »Saag nid, begdo na ma zôese la waôba« (der Regen fällt, und der fruchtbare Schlamm stimmt die Blinden und Leprakranken fröhlich). Die Bedeutung des ersten Namens ist negativ, da er als Bild für die Gegner des Königs steht, die sich letztlich als unfähig erweisen, dem legitimen Machthaber zu schaden, beim zweiten hingegen ist sie positiv, da hier der König als Wohltäter der Schwachen auftritt. Kawada, Junzo, Le panégyrique royal tambouriné mosi: un instrument de contrôle idéologique, in: Revue Française d’Histoire d’Outre-Mer, 68/250-53, 1981, S. 131-151, hier S. 140f.. Dazu kommt, dass die Niederschläge (saaga niibu = erster Regen, saaga tibo = zweiter Regen usw.) unterschiedlich bewertet werden, alles hängt davon ab, ob sie zur richtigen Zeit niedergehen. 45. Diesen Namen trägt sowohl der Gründer der Stadt Tenkodogo als auch der erste, von den Franzosen in Ouagadougou eingesetzte Herrscher. Vgl. Balima, Légendes et histoires, S. 200. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei beiden um ein- und dieselbe Person handeln könnte. 46. Vgl. Kantorowicz, Ernst H., Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart 1992, S. 494. 47. Vgl. Feest, Christian F., Wintererzählung. Chroniken der Lakota, in: Christian F. Feest und Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Hrsg.), Sitting Bull – »der letzte Indianer«, Darmstadt 1999, S. 26-29, hier S. 28. 48. Bei allen Festen vollziehen Vertreter älterer Linien im Hintergrund Riten, die notwendig sind, um dem König gleichsam den Weg freizumachen. So ermächtigt sein Vorrecht als »Älterer« zum Beispiel den Ténoaguen-naba, einen »einfachen« Dorfchef, 153
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lich vom Tenkodogo-naba eingeleitet, der zu diesem Anlass den Königsahnen Opfer darbringt, bevor er, und nach ihm in hierarchischer Folge alle anderen, aussät beziehungsweise die neue Frucht genießt. Der Festkalender setzt verschiedene Zeitebenen miteinander in Verbindung und führt performativ vor, dass sich die Herrscherzeit über die lebenswichtigen Einschnitte von Aussaat und Ernte stülpt, die königliche sich über die natürliche Zeit erhebt. Indem der Tenkodogo-naba den Festen vorsteht, die zeitlich den saisonalen Zyklus begleiten, bestimmt er über den Anfang der Zeit. Mit Segenskräften ausgestattet, hält er »das Heil« in seiner Hand und entscheidet über einen erfolgreichen Zeitverlauf mit. Erst in zweiter Linie wird die Zeit von Ereignissen bestimmt, die im individuellen oder gesamtgesellschaftlichen Leben eine Rolle spielen. Auch diesbezüglich dominieren die Könige die Zeit: Die »Untertanen« binden ihre Lebenszeit (Biographie) an die höfische Zeit an und setzen die Regierungszeit der Herrscher als Zeitmaß ein. Man sagt »m doga naba kiiba« oder »naab kiib wakato« (»ich wurde geboren zur Zeit Naba Kiibas«), gilt es, Geburtsdatum oder andere biographische Daten zeitlich zu determinieren. Die Bevölkerung, die zu wiederholten Gelegenheiten die öffentlich zitierten Namen der königlichen Ahnen hört, nimmt, selbst wenn ihr Verständnis des Vorgetragenen eingeschränkt ist, die Namen rezenter Herrscher als Bezugspunkt oder Referenzrahmen für Stationen der eigenen Lebensgeschichte. Inthronisation und anschließende Regierungszeit eines Königs markieren die Brüche im wende, im chaotischen Zustand der Zeit und des Raumes in einer letztlich zeitlosen Welt.49 Des ungeachtet werden Lebens- und königliche Zeit in Abschnitte unterteilt, deren Anfang und Ende durch Feste markiert sind. Wie der einzelne nacheinander Kindheit, Jugend-, Erwachsenen- und Greisenalter passiert50, durchlief auch das Königtum unterschiedliche Phasen. Ereignisse, mit denen eine neue Zeit einsetzt, markiert der höfische Festkalender. Das Festgeschehen, das den König als Herr über Land, Leute und Zeit ausweist, zelebriert den Wandel und bestätigt ihn in seiner zeitlosen Gültigkeit. In der Reflexion wird der Zusammenhang zwischen gewesenen und erzählten, teils auch dargestellten Er-
sein Erntefest (basga) sieben Tage vor dem Tenkodogo-naba zu feiern. Naba Tigré lässt anschließend die Hefe zur Herstellung des Hirsebiers für seine Ahnenopfer aus Ténoaghin herbeiholen. Vgl. Kawada, Genèse et evolution, S. 68ff. 49. Zeitlos im Sinne von »kein Ende nehmend«. Vgl. Kawada, Junzo, Textes historiques oraux des Mosi Meridionaux (Burkina Faso), Tokyo 1985, S. 18. 50. Zu Riten im Lebensverlauf siehe Badini, Amadé, Naître et grandir chez les Moosé traditionnels, Paris 1994, S. 39ff. 154
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eignissen als nicht kontingent wiedergegeben51, erscheint Zeit kondensiert, wird Gegenwärtiges durch Vergangenes vorweggenommen.
6. Der Mythos In Tenkodogo – wie in anderen Königskulturen – bricht mit dem Königtum eine neue Zeit an. Das Königtum ist höhere Bestimmung und wesentliche Voraussetzung für jedwede zivilisatorische Errungenschaft. Vorher kannte man keine Kultur: Die Bevölkerung ging nackt, verzehrte ihre Nahrung roh, verwendete kein Salz und heiratete untereinander. Für die zielgerichtete Entwicklung relevant sind drei aufeinanderfolgende Generationen: Großeltern, Eltern und Kinder, in denen die Großeltern gleichsam wiederkehren. Diesen in segmentären Gesellschaften üblichen Zeithorizont repräsentieren im Gründungsmythos Nédéga, Yennenga/Riâle und Wedraogo/Zungrana52. Wenngleich nahezu jeder Klan im Raum Tenkodogo seine Version der Ursprungsgeschichte tradiert und sich darüber sinngebend in die Herrschergeschichte einzuklinken versucht, ist mehr und mehr die Tendenz zu einer Vereinheitlichung in Form einer kanonisierenden Reduktion zu beobachten. Die Ursprungsmythe, von vielen Alten noch mit mehr oder minder gravierenden Abweichungen erzählt, hat wesentlich folgenden Inhalt: Der König von Gambaga (Nédéga), Herr über Dagomba, Mamprusi und Nankana, hat eine amazonenhafte Tochter. Yennenga, auch Poko (»Frau«) genannt, tritt auf als unerschrockene Kämpfernatur. Triumphierend über jeglichen Gegner, will Nédéga sie ungern durch Heirat verlieren. Darüber »entfremden« sich Vater und Tochter – bis die Distanz zwischen beiden so groß ist, dass Yennenga im nördlich von Gambaga gelegenen »Busch«53 den Sohn eines Malinké-Chefs54, den Elefantenjäger Riâlé (oder Riaré), erhört. Aus beider Verbindung geht ein Sohn hervor, den Yennenga Wedraogo nennt, in Erinnerung an den
51. Vgl. Rustemeyer, Dirk, Zeit und Zeichen, in diesem Band. 52. In einigen Mythen ist von einem älteren (d.h. »rechtmäßigeren«) Sohn die Rede, der jedoch, bevor seine Zeit gekommen war, verstarb oder aufgrund vorhandener körperlichen Mängel auf den Thron verzichten musste, so dass Wedraogo der Titel »zungrana« zufiel. Vgl. Balima, Légendes et histoires, S. 76f. 53. Genannt wird die Region zwischen Bitou und Zambalga. »Busch« nennen die Mosi jedoch nicht nur unbebautes Land, sondern alle Gebiete, die nicht zum Reich gehören. 54. Die meisten Autoren betrachten Rîaré als »Sohn eines Malinké-Chefs«, andere (darunter Moulins 1909, zitiert in Tauxier, Nouvelles notes, S. 454-457) bezeichnen ihn eindeutig als Bisa. 155
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Hengst, der sie ihrem Gatten zuführte. Sobald das Kind älter geworden ist, präsentieren die Eltern es dem Großvater.55 Nédéga verzeiht der Tochter, lehnt es aber ab, den Enkel bei der Thronfolge zu berücksichtigen.56 Zum Ausgleich beschenkt er ihn reichlich. Mit wertvollen Gütern versehen und in Begleitung zahlreicher anderer Dagomba, verlässt Yennenga mit ihrer Familie erneut – und diesmal definitiv – die Heimat. In der Fremde gründet ihr Sohn Wedraogo, der den Titel zungrana erhält, Tankourou, die Keimzelle des späteren Tenkodogo-Reiches. In der Folgezeit erobern seine Söhne weite Gebiete und schaffen sich eigene Reiche, so dass heute alle Mosi-Herrscher ihre Abstammung patrilinear in letzter Instanz auf Wedraogo zurückführen. 57 Der Mythos schöpft seinen Sinn aus seiner Beschreibung von Wandel in Form eines Prozesses, der zielgerichtet Ordnung in einen heillosen Zustand bringt und als sakrosankte Institution das Königtum einführt. Alle Herrscherdynastien berufen sich auf diesen Ursprung ihres ersten Königs und Gründungsvaters. Die in Kern und Dynamik gleichförmige Mythe lässt dennoch Nuancen zu, die auch anderen Klanen die Möglichkeit bietet, ihre Wurzeln gleichfalls in die Gründerzeit zu verlegen und die eigene Herkunft – sowie daran geknüpfte Vorrechte – durch Rückbezug auf die Urzeit zu begründen. So beziehen sich manche der deplazierten Bisa heute dezidiert auf Rîale58 und vermerken mit spöttischem Unterton, dass die Mosi ihre Nachfolgeregelung sonderbarerweise, und in Abweichung zur geltenden Norm, über die Mutterseite (Yennenga) definieren. Wesentlicher jedoch ist, dass sie die in der Mythe sichtlich verkehrten Verhältnisse gezielt dazu einsetzen, um die Verbindung der beiden großen, heute durch Zwischenheiraten stark durchmischten Bevölkerungsgruppen des Tenkodogo-Reiches in die Anfangszeit zu verlegen und somit Mosi und Bisa gemeinsam an die Basis des König-
55. Bei diesem Anlass soll Nédéga den Enkel scherzhaft mooné-naa (»Chef des dichten Busches«) genannt haben, wovon sich sowohl der Titel môg-naaba als auch die Bezeichnung »Mosi« ableiten soll. Balima, Légendes et histoires, S. 73. 56. In anderen Versionen ist es Riâlé, der es ablehnt in Gambaga zu bleiben und lieber in seine Heimat, »den Busch«, zurückkehrt. 57. Zu den verschiedenen Versionen der Legende siehe u.a. Ruelle, Dr., Notes anthropologiques, ethnographiques et sociologiques sur quelques populations noires du 2e territoire de l’Afrique Occidentale Française, in: Anthropologie 15, 1904, S. 519-687, hier S. 675f.; Marc, Le pays mosi, S. 130f.; Mangin, Les Mossi, S. 102; Prost, Note sur l’origine des Mossi, S. 1.336; Tiendébéogo, Contes du Larhallé, S. 8ff.; Skinner, The Mossi, S. 205f. 58. Mit diesem Namen verbinden sich unterschiedliche Assoziationen: Die Mosi behaupten der Name bedeute »Allesfresser«, weil Rîale sich im Busch »unkultiviert« ernährte, indes die Bisa ihn mit »der Mutige« oder, analog zu Poko, mit »Mann« übersetzen. 156
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tums stellen.59 Nicht nur Bisa und Yanse, die ihre Abstammung in männlicher Linie von Nédéga herleiten, auch die ehemals als Handel treibenden Yarse verorten ihren Ursprung im Mythos, indem sie ihre Vorfahren jenem Personenkreis zuordnen, der Gambaga zusammen mit Wedraogo verließ. Folgerichtig stammt heute ein Großteil der Bevölkerung von den verschiedenen Protagonisten der Urzeit ab und verteidigt darüber seine legitime Position in der Ursprungsgeschichte, dem tankudgo singre. Sinn der Königslegende ist es, die Begründung für den zeitlos gültigen Thronanspruch der »Mosi« und die damit anbrechende »Heilsära« zu liefern.
7. Genealogie Die Herrschergeschichte dominiert nicht nur die oralen Traditionen, sie wird zusätzlich von einer speziellen Gruppe von Musikern detailliert festgehalten und zu Höhepunktszeiten einem größeren Publikum vorgetragen.60 Die – wie weltweit in Königskulturen – hochentwickelte und streng institutionalisierte Genealogie regiert eine andere Zeitlichkeitsform, die ihr strukturell den Anschein einer chronologischen Repräsentation gibt. Diese für den Historiker auf den ersten Blick verführerischen Quellen wurden indes häufig erst nachträglich zur Legitimierung rezenter politischer Ansprüche konstruiert und/oder manipuliert: Die ausführliche Genealogie schafft den Rahmen für aktuelle Beziehungen. Ereignisse der Vergangenheit werden als Begründung herangezogen und liefern den »historischen« Rückbezug, aus dem sich die gegenwärtige Situation ableitet. Scheinbar erbringt die Genealogie den Nachweis dafür, dass die Könige von den in der Mythe genannten Personen abstammen und rechtens Herren des Landes sind, weil sie dies seit Anbeginn waren. Wert gelegt wird jedoch nicht nur auf eine lange, vornehmlich in der Anfangszeit mit einer Vielzahl von Namen angereicherte, sondern auch eine lückenlose Genealogie. Am Hof des Tenkodogo-naba wird sie am heiligen Tag der Woche, am Freitag, an dem das große Gebet (salat al djuma) in Gemeinschaft abgehalten wird, durch einen Trommler, und an jedem dritten, dem so genannten »großen«, weil mit einem Markttag zusammenfallenden Freitag (arzuma kasenga) von den Hofmusikern (yuumma oder benda) mehr oder weniger detail-
59. Aus einer Verbindung zwischen einem Landesfremden (Zungrana) und einer Einheimischen (aus der Gruppe der Ninsi) ging auch Wubri, der Gründer des Ouagadougou-Reiches, hervor. 60. Vgl. u.a. Daaku, Kwame Y., History in the oral traditions of the Akan, in: R. M. Dorson (Hrsg.), Folklore and traditional History, Den Haag 1973, S. 42-54, hier S. 48ff. 157
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liert getrommelt und zu Höhepunktszeiten durch Hofchronisten zusätzlich mündlich vorgetragen. Es heißt, die Griots oder Barden erzählen aus dem Leben, von den heroischen Taten und Kriegen früherer Herrscher, eben ihre »Geschichte« (naaba x kibaré61). Deren Inhalt bezieht sich auf Ereignisse einer in Raum und Zeit distanzierten Vergangenheit, verbindet moralische Maximen mit historischen Fakten und schwankt zwischen Fiktion und Realität. Einer ähnlichen Verdichtung begegnet man im Alltag, wo sich Sichtbares und Unsichtbares, Reales und Unfassbares ebenfalls gegenseitig durchdringen.62 Die in der Herrschergenealogie (kabsgo, narooto, singre, sondgo oder rògè-n-mikki63) zusammengefasste Geschichte umfasst etwa 27 Herrscher, die durch Nennung ihrer Namen nacheinander aus der Vergangenheit in die Gegenwart treten. In Afrika überdauert die Macht der Ahnen die Zeit, reicht ihr Einfluss weit über den Tod hinaus. Jeder Herrscher partizipiert an der Kraft seiner Vorgänger, sieht sich ihnen durch die Tradition essenziell verbunden, was der kondensierte Text deutlich zum Ausdruck bringt. Nach Kawada entspricht das kabsgo mit seinen vor Nennung eines jeden Herrschers eingeschobenen Entschuldigungsformeln häufig einer Lobrede, in der die Kriegsnamen einzelner Machthaber, die Vornamen ihrer Mütter, bisweilen auch Waffentaten und charakteristische Züge derjenigen, die sich durch moralische Qualitäten auszeichneten, miteinander verschmelzen.64 Das kabsgo vermag es kaum, Aufschluss über Verwandtschaftsverhältnisse oder anderweitige Beziehungen zu liefern, in denen die aufgelisteten Personen zueinander standen. Vielmehr folgt eine »Herrscherzeit« auf die andere, die Nachfolge oder Abstammung der erwähnten »Machthaber« erscheint unvermittelt, verbunden mit dem jeweiligen Vorgänger durch
61. Dem aus dem Arabischen entlehnten kibaré entspricht der wahrscheinlich ältere und vieldeutigere Begriff yellé (naaba x yellé), der sowohl Fehler, kritische Situation als auch Geschichte im Sinn von Konflikt (ähnlich dem Deutschen »mach keine Geschichten«) beinhaltet. Kaboré, Les oiseaux, S. 74. 62. Ebd. S. 73. 63. Kabsgo = jemanden um Verzeihung bitten; nà-ròogo (Pl. nà-ròodó) = Radikal von na = naaba und roogo = Haus im Sinne von Lineage, zugleich auch »Haus des Königs«, da früher jeder Herrscher eine neue Residenz gründete; singre = Anfang der Dynastie; rògé-n-mikki = von rogem = geboren worden sein; mikki = gefunden haben, also »das was man bei der Geburt vorgefunden hat«, die Tradition. Vgl. Izard, L’odysée, S. 125; Kaboré, Les oiseaux, S. 66; Badini, Naître et grandir, S. 108. 64. Da die bewusst apokryph gehaltene, mit Metaphern, Allegorien, Allusionen und wohl auch Anagrammen durchsetzte Textur es selbst erfahrenen Exegeten verwehrt, alle im kabsgo enthaltenen Botschaften zu dekodieren, muss vieles Spekulation bleiben. 158
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Formeln wie X hat Y gezeugt (X doga Y); Z hat das Kind Y erhalten (Z paama Y); Y stammt ab von W (Y sigda W) oder »euer Ahn ist W (y yaab la W); euer Vater ist X (y saamb la X)«.65 Häufiger als der Name des Vaters wird der Name der Mutter erwähnt: die Frau X hat geboren Y (paga X doga Y) oder einfach: das Kind der Frau X (paga X, Y). Weitere Phrasen sind biiga (Kind) und yagenga (Enkel bzw. Nachkomme), jede darunter zu ungenau, um chronologische Abfolgen oder genealogische Linien erkennen zu lassen.66 Vielmehr werden Namen wie Perlen auf einer Schnur bruchlos aneinandergereiht, Machthaber und ihre Geschichte(n) miteinander verflochten, so dass alle Herrscher zu ein und derselben zeitlosen königlichen »Kette« verschmelzen. Für die Zielsetzung ist es unwesentlich, ob einzelne Abschnitte einem oder mehreren »Chefs« gewidmet sind, ob diese zeitgleich, aber räumlich getrennt voneinander oder sukzessive im gleichen Gebiet regierten. Vornehmlich für die Zeit vor der »Konsolidierungsphase« werden synchrone in diachrone Verhältnisse umgemünzt, an deren zeitlichem Ende die aktuelle Dynastie gleichsam als Höhepunkt der Entwicklung erscheint. Der amtierende König reiht sich ein in eine Serie von Vorgängern, mit denen ihn, außer vielleicht dem Machtanspruch, kaum etwas verbindet. Die Genealogie als Charta der Kontinuität und der uneingeschränkten Herrschergewalt bezieht ihren Sinn aus der Verräumlichung der Zeit: Das kabsgo ist ein Meisterwerk der Verstrickung, ein Kunstwerk der Vernetzung des Zeitlichen mit dem Räumlichen.67 Dabei wird den »jüngsten« Regenten ein unverhältnismäßig großes Gewicht beigemessen: Die ihnen gewidmeten Passagen besitzen, im Vergleich zu denen der frühen Herrscher, »Überlänge«. Das liegt zum einen an ihrer historischen Nähe, zum anderen aber auch an ihrer Vorrangstellung, die sie in erster Linie den Franzosen verdanken. Das gilt vor allem für Karongo, Koom und Kiiba, den »Urgroßvater«, Großvater und Vater Naba Tigrés, deren Präponderanz sich auch darin äußert, dass ab einer bestimmten Textstelle alle Musiker in den Lobpreis des Cheftrommlers (bind-naba) einfallen. Sie – wie einige der vor ihnen Gerühmten – werden besonders gewürdigt, indem der Tenkodogo-naba und vier seiner engsten Vertrauten nach Abschluss ihrer Zitation Hirsebier aus ein und derselben Kalebasse trinken. Dieses so genannte pang yuda (»die Kraft trinkt«) vermittelt zwischen Lebenden und Toten,
65. Ähnliche genealogische Formeln enthält das Patriarchenregister im Alten Testament. 66. Kawada, Textes historiques, S. 19. Handelt es sich jedoch um Anagramme, entstünden völlig andere Sinnzusammenhänge (roga =zeugen könnte u.a. soba = Herr, Besitzer bedeuten usw.). 67. Ebd. 159
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bekräftigt eine zwischen König und bestimmten Gefolgsleuten bestehende, den gegenwärtigen Verhältnissen vorgeordnete Beziehung.68 Trotz der symptomatischen Zeitenverschränkung liefert das kabsgo durchaus auch pragmatische Informationen, indem es Ereignisse hervorhebt, denen »epochemachende« Wirkung zukommt. Bei Poaaga69, dem an 13. Stelle genannten König, heißt es so zum Beispiel »alle Leute lesen den Koran, die Fulbe lesen alle«70, was darauf hinweist, dass die Fulbe zu seiner Zeit nicht nur in der Region präsent, sondern auch machtpolitisch bedeutungsvoll waren. Hingegen geht aus dem Naba Sanema gewidmeten Text hervor, dass er zur Zeit der Franzosen herrschte.71 Vieldeutig ist auch die, in die relativ kurz gehaltene Eloge Naba Bugums eingeschobene Sequenz »Pocken bemalen den MosiMann und vergrößern seine Schönheit«72, offensichtlich eine Anspielung auf die Skarifikation, die im Nachhinein zum charakteristischen Identifikationsmerkmal der Mosi erhoben wurde. Sie bildete eine Art Körperpass, über den man einen Moaga (Singular von Mosi) eindeutig identifizieren und seiner Abstammung, seinem Geschlecht und gesellschaftlichen Rang entsprechend zuordnen konnte. Die Tatauierung vertiefte die geforderte Solidarität und stiftete Identität unter einander sonst Fremden. Um Kohärenz zu betonen, macht es Sinn, die Einführung der Skarifikation bereits in die Anfangsphase der Mosi-Geschichte zu legen. So soll im Ouagadougou-Reich der erste mogho-naba (Naba Wubri) die Skarifikation um das Jahr 1200 eingeführt haben73, in Tenkodogo gilt offiziell, trotz der erwähnten Passage bei Naba Bugum, der »Staatsgründer« Zungrana als ihr Initiator.74 Hier – wie bei
68. Getrunken wird bei insgesamt zehn »Herrschern«, die zwar nicht chronologisch aufeinander folgen, aber alle nach Naba Malka (von arab. maleka = Engel) genannt werden, der mit Naba Bugum zu den enigmatischsten Persönlichkeiten der Dynastiegeschichte gehört. Von Malka heißt es, dass er als junger, glattrasierter Mann ins Land kam (worin er Voulet ähnelt, von dem ein ähnliches Bild gezeichnet wird) und dem seitdem »ein langer Bart gewachsen ist«. 69. Von Kawada als »Hernie«, von anderen als »dicke Knolle« übersetzt, bezeichnet poaaga alles, was rund und groß ist (Mamadou Kéré). 70. »Yabredamb karem karem, silmisramb karem zanga«. Kawada, Textes historiques, S. 68, S. 190. Im Text heißt es weiterhin »Poaaga liebt es zu wachsen«, was bedeutet, dass seine Macht ständig zunahm. 71. Ein anderer Name für Naba Sanema lautet »pampambile naab la a abga«, wobei pampam eine Verballhornung des französischen Wortes campement ist. 72. »Bakarb gula moaaga n paas moag rasande«. Ebd. S. 74, S. 192; zu verschiedenen Formen der Tatauierung siehe Conombo, Joseph Issouffou, M’Ba Tinga. Traditions des Mossé dans l’Empire du Moogho Naba, Paris 1989, S. 63ff. 73. Tiendrébéogo, Histoire et coutumes royales, S. 9. 74. Balima, Légendes et histoires, S. 81, S. 83. 160
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vielem – werden Ereignisse »gegen den Strich gebürstet«, ummänteln rezente Interpretationen der (Mosi-)Geschichte ein mühsam rekonstruiertes chronologisches Gerüst. Weniger Rückblick als Weitsicht, eher »Anti-Geschichte« als Geschichte, stellt die Genealogie Ereignisse, denen sie tiefere Bedeutung beimisst, bewusst an den Anfang und assoziiert sie mit Herrschern, die eine neue Zeit einleiten. Wichtiger als wechselnde Ereignisse in Zeit und Raum sind immer »ahistorische« Stabilität und Kontinuität.
8. Das Ritual Rituale zeichnen sich aus durch Ambivalenz: Indem sie Wandel nachvollziehen, ihn zugleich aber negieren, überführen sie Kontingenz in Regel. Von ihnen gehen transformative Kräfte aus, sie verändern, wie Übergangsriten generell, sowohl das Bewusstsein als auch den sozialen Status ihrer Akteure. Die rituelle Darstellung lebt durch einen vielschichtigen Diskurs, ist Inszenierung einer polyphonen Geschichte, intoniert mit einer Vielzahl von Stimmen und einem, nach Regie der Führungsschicht, geschickt inszenierten Wechsel von Perspektiven. Vergangene Konflikte brechen kurz auf, werden wie spielerisch ausagiert und alsbald wieder begraben. Die höfischen Feste verfestigen Wendeprozesse; ihre stete Repetition enthebt Ereignisse der Zeitlichkeit und »enthistorisiert« sie. Eingebunden in den saisonalen Zyklus und jährlich zwischen Ende und Anfang des landwirtschaftlichen Jahres wiederholt, intensivieren sie die Identifikation mit Vergangenem, verstärken die Illusion von Permanenz, die den Zeitverlauf mit einem Gefühl von Regelhaftigkeit und Dauer ausfüllt.75 Einher mit der jährlichen »Wiederholung von Gleichem« geht eine Reise durch Zeit und Raum: Das episodische Gedächtnis greift konkret zwei Ereignisse auf, die es regelmäßig nachzuvollziehen und in ihrer zeitlosen Gültigkeit zu bestätigen gilt. Das im Jahresverlauf vorgeordnete bugum-yaoghe (»am Grab von Naba Bugum«76) erinnert an die Zeit des »Vaters« des Stadt- und Marktgründers, der, nachdem ihn eine Frau nackt unter der Dusche erblickt hatte, ins circa sieben Kilometer von Tenkodogo entfernte Gondéré floh, um dort vor lauter Scham im Erdboden zu versinken. Vor
75. Drewal, Margret Thompson, Yoruba ritual: performers, play, agency. African Systems of thought, Bloomington und Indianapolis, 1992, S. 2. 76. Bugum heißt »Feuer« und ist möglicherweise gar kein Herrschername, sondern ein Titel, den heute sowohl Tenkodogo-naba als auch samand-naba tragen. Zugleich ist das Feuer ein Bild für die Gewehre der Franzosen, die »zerstörten und erneuerten«. 161
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seinem Abgang soll er jedoch den Wunsch geäußert haben, die Nachfahren mögen seiner einmal im Jahr gedenken. Dafür versprach er Segen und Wohlergehen.77 Zweck dieser Reise des Tenkodogo-naba zurück in vergangene Zeiten ist es zum einen an Bugums »Grab«, zum anderen an einem in der Frühzeit vom Himmel gefallenen (Meteor)Stein (luire) und einem mit diesem in Verbindung stehenden zweiten Grab Opfergaben darzubringen. Damit werden ältere Rechte gleichzeitig sowohl anerkannt als auch abgegolten. Das Fest verstetigt die dunkle Gewissheit, dass Fremde ins Land und an die Macht kamen. Der zwischen Ernte- und Dreschfest angesiedelte Ausritt des Tenkodogo-naba memoriert schwarze Tage der Reichsgeschichte, führt Niederlage und Verfall vor Augen und schließt den Hiat zwischen Gestern und Heute. Dass aus allem Bruch etwas Bleibendes hervorgeht, zeigt das drei oder sechs Wochen später gefeierte kurg-tanga, das den Tenkodogo-naba zu einem in entgegengesetzter Richtung gelegenen Hügel und zwei darin verborgenen Höhlen führt, die zugleich Erdheiligtümer (tengama) sind. Obwohl der Ablauf dieses und des vorangegangenen Festes strukturell einem recht ähnlichen Muster folgt, liegen die darüber vermittelten Erinnerungen nicht nur örtlich, sondern auch zeit- und sinngemäß auseinander. Memoriert das bugum-yaoghe eine von konfliktreichen Auseinandersetzungen und Erniedrigung geprägte Zeit, steht das kurg-tanga für Erneuerung, indem es die zwischen einem älteren und einem jüngeren Machthaber geschlossene Allianz vergegenwärtigt. Diese gilt es, jährlich nachzuvollziehen und an den Beginn eines, wie man erhofft, erfolgreichen Jahresverlaufs zu stellen. Das bugum-yaoghe bricht mit früheren Verhältnissen, das kurg-tanga erneuert sie, indem es eine Brücke zur Vergangenheit schlägt. Mit der Kombination dieser beiden Feste schuf sich der Hof seinen eigenen Kalender, der Kontingenzen in Beziehung zu den saisonalen Abläufen setzte und sie durch Wiederholung ebenfalls in den Zyklus mit einband. Dabei war es früher üblich, den Nachfahren der im Machtkampf Unterlegenen, deren Teilnahme an den Erinnerungsfesten als unabdinglich vorausgesetzt wurde, eine mit Knoten durchwirkte Schnur zu übersenden. Die Zahl der Knoten entsprach der Zahl der bis zum Fest verbleibenden Tage, so dass die zu Vasallen Degradierten, wenn sie jeden Tag einen Knoten lösten, im Datum nicht fehlgehen konnten78: Sie hatten zu erscheinen, berührte die Erinnerung an eine ihren Vorfahren zugefügte Schmach sie auch noch so schmerzlich!
77. Vgl. Ritz-Müller, Ute, Am Grab von Naaba Bugum. Die Auferstehung von Geschichte, in: Berichte des Sonderforschungsbereichs 268, »Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westafrikanische Savanne« 5, S. 269-278. 78. Vgl. Kaboré, Les oiseaux, S. 74, Fußnote 11. 162
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Außerhalb des mit dem kurg-tanga abgeschlossenen Jahreszyklus feiert der Hofstaat zwei weitere Feste, für die abweichende Regeln gelten. Abgetrennt von der saisonalen Zeit begeht man das »Feuer«(zambende) und das eigentliche Neujahrsfest (tabaski). Beide orientieren sich an der Zu- und Abnahme des Mondes, mit dem zusammen sie gleichsam die Zeit durchwandern. Integriert in den Ablauf dieser offenkundig islamisch überformten Erinnerungsfeste wurden entscheidende Passagen der Reichsgeschichte. Wirkungsvoll zusammengerafft und in rascher Abfolge vorgeführt, rühren sie an den Kern eines scheinbar gefestigten, aber überaus empfindlichen Machtgefüges. Im Festgeschehen werden Ereignisse offengelegt, die in der mit metaphorischen Anspielungen durchsetzten Genealogie eher verdeckt bleiben, verschiedene Zeithorizonte (oder »Kalender«) zu einer fiktionalen »Reichszeit« verklinkt und durch Zyklisierung rituell verstetigt. Mythische und in der Genealogie vor Bugum zitierte Ahnen bleiben außerhalb der höfischen Zeit, weshalb – oder weil – sie im regelhaften Jahresverlauf keine Opfergaben erhalten. Die höfische Zeit beginnt mit Naba Bugum, dem in der Genealogie an 14. Stelle genannten Herrscher. Seine Erinnerung wird gepflegt im bugum-yaoghe, an ihn richtet sich das erste (Ahnen-)Opfer beim Erntefest (basga). Da sein »Grab« außerhalb Tenkodogos liegt, bringt man es auf dem Weg, der von der königlichen Residenz in Richtung Gondéré weist. Seine raum- und zeitübergreifende Bedeutung rührt daher, dass die Herrscher von Tenkodogo ihre Macht (naam) auf ihn gründen. Nach Bugum, der an der Schwelle zur höfischen Zeit steht, erhalten (fast) alle ihm in der Genealogie folgenden Königsahnen an ihren im Stadtgebiet verstreut liegenden Gräbern Opfer. Zwar sind wahrscheinlich die wenigsten dort tatsächlich begraben, die Gräber sind jedoch notwendige Voraussetzung für ihre kultische Repräsentation. Jedes dieser Erinnerungsmonumente im öffentlichen Raum besitzt seinen »Wächter«, der mit dem Opfervollzug dezidiert um den Segen dieses früheren Machthabers bittet. Mit ihren Gaben für die »Königsahnen« durchlaufen die Opferer Schritt für Schritt den Weg durch die Zeit: von Bugum zum Marktgründer Sigri – und zügig weiter von Grab zu Grab. Jedes ist ein Denkmal, und alle werden im Ritual in scheinbar chronologischer Ordnung miteinander verbunden. Mit ihrer Bewegung von Grabstätte zu Grabstätte nähern sich die Opferer etappenweise der Gegenwart: Der Ritus festigt und verstetigt den »historischen« Abfolgeprozess. Räumliche, zeitliche und soziale Unterschiede verflüchtigen sich. Die Szene wechselt, sobald die drei letzten, unter französischem Mandat regierenden Könige ins Zentrum des Geschehens rücken. Ihre Gräber liegen nicht nur direkt bei (Karongo) und im hinteren Hof der Residenz (Koom und Kiiba), ihnen sind, zumindest beim Erntefest, auch die wertvollsten Opfer gewidmet. Mit ihrem Gedenken treten 163
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auch der König und sein Hofstaat sichtbar in das Kontinuum der höfischen Zeit ein. Gleichwohl existiert zwischen den drei letzten und den vorangegangenen Herrschern eine Kluft, zu erkennen daran, dass für die Opfer an ihren Gräbern Opfermesser (mansuya) und Opferkalebasse (malewande) ausgetauscht werden. Ein »kleiner« Bruch trennt selbst die letzten Herrscher, weshalb Naba Tigré am tabaski allein den Opfern an den Gräbern seines Vaters und Großvaters (Kiiba und Koom) beiwohnt und nur an deren Opfermahl partizipiert. Alle hofnahen Feste haben ihren Höhepunkt am Nachmittag, sobald sich König und Gefolgsleute, darunter auch die Nachfahren verschiedener älterer Linien, im Außenhof der Residenz unter einer aus 333 (!) hölzernen Säulen errichteten Halle (zaande) versammeln. Mit dem zaande, der den historisch gewachsenen Reichsaufbau architektonisch abbildet, setzte sich das Königtum ein zeit- und gruppenübergreifendes Monument, dessen Historizität in seiner Symbolik besteht.79 Berücksichtigt der reguläre Festkalender nur die Königsahnen ab Bugum, erfolgt ein Rückgriff auf die »primordialen Mosi« doch zu außergewöhnlichen Anlässen. 1990, nachdem er 33 Jahre an der Macht gewesen war, unternahm Naba Tigré eine Pilgerfahrt nach Gambaga zu den (vermeintlichen) Gräbern seiner (angeblichen) Urahnen.80 Wiederum werden räumliche und zeitliche Perspektiven miteinander verwoben: Bevor Naba Tigré zum Ausgangspunkt des Königtums zurückkehrt, wendet er sich jenen Ahnen zu, die ihm räumlich, zeitlich – und höchstwahrscheinlich auch blutsmäßig – näher stehen. So besucht er vor seinem Aufbruch nach Gambaga zwei heilige Stätten in den etwa 20 Kilometer östlich von Tenkodogo gelegenen Orten Tirugu und Ténoaguen, um dort Riten zu vollziehen, die den Segen seiner direkten Ahnen auf ihn lenken. In Afrika führt Abwanderung nicht zur vollständigen Trennung der Migranten von ihrer Herkunftsgemeinschaft, ältere rituelle und politische Beziehungen werden weiterhin aufrecht erhalten81 und besitzen über die Zeiten hinweg bindende Geltung.
79. Vgl. Ritz-Müller, Ute, Afrikanisches Geschichtsdenken. Zur rituellen Nachstellung höfischer Geschichte, in: Jörn Rüsen u.a. (Hrsg.), Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung, Geschichte, Identität 4, Frankfurt am Main 1998, S. 217-246; Ritz-Müller, Ute, Die Einkreisung der Geschichte. Ihre Inszenierungen bei Hof in Tenkodogo (Burkina Faso), in: Jahrbuch Kulturwissenschaftliches Institut Essen 2000/2001, S. 423-440. 80. Gräber in Gambaga waren schon früher Gegenstand großer Verehrung und in vorkolonialer Zeit Pilgerziel der Mosi-Herrscher von Ouagadougou. Beim Tod eines mogho-naba wurde eines seiner Pferde und eine seiner Frauen nach Gambaga geschickt, um sie Yennengas Ahnen zum Opfer darzubringen. Kawada, Genèse et évolution, S. 315. 81. Lentz, Carola, Siedlungsgeschichten: Die Konstruktion von Identität und Gemeinschaft. Eine Einleitung, in: Zeitschrift für Ethnologie 125, 2000, S. 177-188, hier S. 179. 164
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Rituale blieben konturlos ohne Requisiten, in denen sich königliche Hoheit und Macht sowie die zeitliche Dauer des Reiches objektivieren. Regalia sind Erinnerungsstücke und Verdinglichung historischer Ereignisse zugleich, sie bezeugen die ungebrochene Präsenz der Ahnen, die über ihren Tod hinaus am Geschick der Lebenden teilhaben. Von daher sollten sie authentisch sein, aus der Ur- oder Frühzeit, am besten aus dem persönlichen Besitz von Yennenga oder Zungrana stammen. Dingen, die vermeintlich noch aus der Urzeit herrühren, misst man die höchste Bedeutung zu. Das gilt vor allem für Waffen, denen, zumal wenn sich an sie Erinnerungen an die Eroberungszeit knüpfen, gleichsam sakrale Bedeutung zukommt. Gemischte Gefühle regen sich, wenn der König umrahmt von zwei Lanzen erscheint, die seinen Allmachtanspruch demonstrieren, indem sie ihn als Erben zweier Vorgänger(reiche) ausweisen. Die den Reichsinsignien inhärente Kraft rührt daher, dass sie wie das Königtum zeitlos sind. Noch aus »vorhistorischer« Gründerzeit stammend, stehen sie für ewigwährende Kontinuität. Dabei ist unwesentlich, dass viele der königlichen Machtsymbole offensichtlich jüngeren Ursprungs sind. Das Kissen etwa, das dem König am bugum-yaoghe und tabaski auf einem Esel vorausgetragen wird und auf dem er in Übergangsphasen sitzt, weist eindeutig auf islamisches Ordensbrauchtum hin. Überhaupt ist so manches Stück aus königlichem Besitz augenscheinlich fremder Provenienz – wie vieles bei Hof. Aus der Kolonialzeit stammt zumindest einer der beiden Säbel des Königs. Man wahrt auch zu diesen, angeblich aus dem Besitz Yennengas stammenden Kleinoden angemessene Distanz. Betrachtet man sie jedoch – wie der neugierige Ethnologe – genauer, »entdeckt« man auf einem Säbel eine Inschrift, die ihn als Geschenk des französischen Überseeministers Coste Floret, datiert vom Februar 1945, ausweist.
9. Unendliche Geschichte Das Königtum schöpft seine zeitüberdauernde Kraft daraus, dass es seinen Vertretern gelang, selbst radikale Veränderungen ephemer erscheinen zu lassen. Ihre Einbindung in ein als ewig begriffenes Sinnkonzept fingiert Kontinuität. Um gegenwärtige aus vergangenen Verhältnissen ableiten zu können, werden sinnträchtige Orte, Ereignisse, Institutionen, Personen und Objekte zeitenversetzt präsentiert, wird das Königtum als zeitlos, yumkoabega82, über jeden Wandel und jegliche Kritik erhaben dargestellt. »Naam tenkodogo-nanamse kutadare«83,
82. Yumde = Jahr, koabega = ohne. 83. Naam = Macht; tenkodogo-nanamse = Herrscher von Tenkodogo, kuta bzw. kata = unaufhörlich, rastlos; dare = Tag. 165
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»die Macht der Herrscher von Tenkodogo ist ohne Ende«, gleichwohl – oder gerade weil – sie soziale Konstruktion und Resultat eines permanenten Aushandlungsprozesses ist.84 Noch einmal zurück zum Grab Naba Zungranas und damit an den Ausgangspunkt der Mosi-Geschichte. An sinnträchtigem Ort, in der Ebene zwischen Hügel und Quelle, in der Wedraogo als erster »zungrana« die Bisa, und damit die angeblichen Ahnen des samand-naba und Widersachers des heutigen »zungrana«, besiegt hat, verdichtet sich die Erinnerung: Eine den Bisa vom ersten Mosi-Herrscher zugefügte Niederlage wird vom Tenkodogo-naba in die Gegenwart projiziert und damit für gleichbleibend gültig erklärt. Dabei hören wir aus autorisiertem Mund zum wiederholten Mal die Geschichte der Mosi. Setzte Naba Tigré jedoch bislang stets das Jahr 1000 als ihre Anfangszeit fest, verlängerte er sie im September 1999 und führte seine Dynastie auf die ägyptischen Könige Ramses I. und II. zurück. An prädestiniertem Ort85 (Abbildung 3) und mit zunehmender Anerkennung seines Anciennitätsanspruchs wächst auch die Erinnerungskraft, so dass Reales und Imaginiertes immer schwerer voneinander zu scheiden sind. Abbildung 3
März 2001: Die Arbeiten am Denkmal sind vorangeschritten, doch immer noch nicht abgeschlossen (Abbildung 4). Wieder liegt die Stätte verlassen, der mit dem Bau beauftragte Unternehmer hat sich mit den
84. Vgl. Lentz, Siedlungsgeschichten, S. 177. 85. »Tanta vis admonitionis inest in locis!« 166
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Lohngeldern in die Elfenbeinküste abgesetzt: Finanziellen Verlockungen stehen selbst Könige machtlos gegenüber, weshalb das Monument, das Zungrana dem Mythos entreißen und als einmalige geschichtliche Person ausweisen soll, weiterhin seiner Vollendung harrt. Naba Tigré indes wird diesen Triumph nicht mehr erleben, seine Zeit war am 8. September 2001 abgelaufen.86 Die Verherrlichung kann man hinausschieben, das Sterben nicht. Abbildung 4
86. In unserer Erinnerung wird er zweifellos weiterleben. Ihm wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt mein Dank für vielfache Unterstützung. 167
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Allochronien? Von kulturellen Praxen im Umgang mit Dauer und Veränderung Britta Duelke
1. Aboriginale Vergangenheit? Die Klärung von Traditionsbegriffen und ihrer Bedeutung für die Konstruktion von gesellschaftlichem Sinn gehören zu den grundlegenden Voraussetzungen der Ethnologie, weil Wandel zu den alltäglichen Wirklichkeiten jeder Gesellschaft gehört. Ethnologen konzentrieren sich seit langem auf das Studium von Umbruchsituationen bei den so genannten »traditionellen Gesellschaften«, was auch Konsequenzen für die Identitäts- und Geschichtsforschung hatte.1 Erst in jüngerer Zeit jedoch richtete sich ein konkret analytisches Interesse auf den zentralen Schlüsselbegriff »Tradition« und das mit ihm einhergehende Postulat der Kontinuität von Traditionen.2 Als besonders aufschluss-
1. Siehe z.B. Habermas, Rebekka/Minkmar, Nils, Einleitung, in: Rebekka Habermas/Nils Minkmar (Hrsg.), Das Schwein des Häuptlings. Beiträge zur Historischen Anthropologie, Berlin 1992, S. 7-19; Dülmen, Richard van, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln u.a. 2000; Medick, Hans, Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisse als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, S. 295-319. 2. Siehe dazu Assmann, Aleida, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Beiträge zur Geschichtskultur 15, Köln u.a. 1999; Duelke, Britta, »… same but different …«: Vom Umgang mit Vergangenheit. Tradition und Geschichte im Alltag einer nordaustralischen Aborigines-Kommune, Studien zur Kulturkunde 108, Köln 1998; Müller, Klaus E., »Prähistorisches« Geschichtsbewußtsein. Versuch einer ethnologischen Strukturbestimmung, in: Zentrum für interdisziplinäre Forschung-Mitt. 3, 1995, S. 3-17; Müller, Klaus E., Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen (Essener kulturwissenschaftliche Vorträge, Bd. 3), Göttingen 1999; Müller, Klaus E., Ethnicity, Ethnozentrismus und Essentialismus, in: Wolfgang Eß168
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reich erwiesen sich dabei Untersuchungen von australischen Aborigines-Gesellschaften, die im europäischen Denken schon immer als Prototypus einer seit Urzeiten statisch im »mythischen Denken« verharrenden, »kalten«, ja quasi zeitlosen Gesellschaft galten.3 Die Vorstellungen von der unveränderten Urtümlichkeit dieser Gesellschaften manifestierten sich maßgeblich in der Stabilität der Denkmodelle, in
bach (Hrsg.), Wir/Ihr/Sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Identitäten und Alteritäten 2, Würzburg 2001, S. 317-343; vgl. Shils, Edward, Tradition, Chicago 1981; Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 3. Diese Einschätzung hatte ihren Grund: Bis in die 1970er Jahre stand die Rekonstruktion der ab originalen Gesellschaft im Zentrum der ethnologischen Forschungsinteressen, historische Studien wurden kaum durchgeführt. Man blendete Wandelphänomene systematisch aus, und die Ergebnisse der Forschungen bestätigten erwartungsgemäß den Glauben der Experten, dass Gesellschaften, die ihre Welt in einer mythischen »Traumzeit« verankerten und darin die Zustände der Gegenwart und Zukunft begründet sahen, weder Geschichte noch Geschichtsbewusstsein haben könnten bzw. traditionell eines differenzierten Zeitbewusstseins ermangelten (z.B. Strehlow, T. G. H., Aranda Traditions, Melbourne 1947, S. 6; Sharp, R. Lauriston, Steel Axes for Stone-Age Australians, in: Human Organization 11/2, 1952, S. 17-22, hier S. 17ff.; Stanner, W. E. H., On Aboriginal Religion [1. Aufl., 1959-1963], Oceania Monograph 36, Sydney 1989, S. 139f.); in neueren Arbeiten Swain, Tony, A Place for Strangers. Towards a History of Australian Aboriginal Being, Cambridge 1993; Kolig, Erich, A Sense of History and the Reconstitution of Cosmology in Australian Aboriginal Society. The Case of Myth Versus History, in: Anthropos 90/1-3, 1995, S. 49-67; vgl. dazu Duelke, »… same but different …«, S. 165ff.; Beckett, Jeremy, Walter Newton’s History of the World 1 – or Australia, in: American Ethnologist 20/4, 1993, S. 675-695; Beckett, Jeremy, Aboriginal Histories, Aboriginal Myths. An Introduction, in: Oceania 65/2, 1994, S. 97-115; Barber, Kim, A History of Creation. A Discussion of the Art Gallery of New South Wales Collection of Port Keats Paintings, unveröff. Manuskript, 1992, S. 10f.; Keen, Ian, Ubiquitous Ubiety of Dubious Uniformity, in: The Australian Journal of Anthropology 4/2, 1993, S. 96-110; Lattas, Andrew, Colonialism, Aborigines and the Politics of Time and Space. The Placing of Strangers and the Placing of Oneself, in: Social Analysis 40, 1996, S. 20-42; Morton, John, A Place for Strangers and a Stranger Out of Place. Towards a History of Tony Swain’s Aboriginal Being, in: Social Analysis 40, 1996, S. 43-50. – Zu der im Laufe der Jahre mehrfach modifizierten »heiß/kalt-Metapher«, s. Lévi-Strauss, Claude, »Primitive« und »Zivilisierte«. Nach Gesprächen aufgezeichnet von Georges Charbonnier, Zürich 1972 (1. Aufl., Paris 1959), S. 33-40; Lévi-Strauss, Claude, Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1969 (1. Aufl., Paris 1958), S. 116, 133f.; Lévi-Strauss, Claude, Stillstand und Geschichte. Plädoyer für eine Ethnologie der Turbulenzen (1. Aufl., Paris 1983), in: Ulrich Raulff (Hrsg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986, S. 68-87, hier S. 69; Lévi-Strauss, Claude, Das wilde Denken, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1994, (1. Aufl., Paris 1962), S. 271f. 169
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denen australische Aborigines von alters her und gleichsam traditionell eine besondere Rolle gespielt haben.4 Diesen Studien zufolge wirken »Australier« wie eine bewusstseinsmäßig einzigartige Spezies, bei der Rekurse auf »Traditionen« (die implizite Negation von Wandel) nicht gleichzeitig mit Rekursen auf »Geschichtlichkeit« (dem Bewusstsein von Veränderungen in der Zeit) zusammenfallen können und bei der eine Perspektivierung der Zukunft gänzlich fehlt.5 Australische Aborigines erscheinen so als zwar rezente, wohl aber versteinerte Form dessen, was Christian Meier6 in einem anderen Kontext »epochenspezifische Persönlichkeitstypen« nennt, mehr noch, ihre scheinbar originäre Verhaftetheit im »mythischen Bewusstsein« weisen sie in modernen Evolutionskonzepten als persistent archaischen Gegenpol zur rationalen Moderne aus.7
4. Eine genauere Analyse der Denkmodelle über australische Aborigines würde gewisse Ähnlichkeiten des »Aboriginalismus« mit Saids »Orientalismus« verdeutlichen (siehe Said, Edward W., Orientalismus, Frankfurt am Main, Berlin 1981 [1. Aufl., New York 1978]). Selbst in sehr differenzierten kulturwissenschaftlichen Arbeiten neueren Datums ist noch zu lesen, dass »Australier« – anders als Gesellschaften »einer entwickelteren Kulturstufe« – keinen Alltag kennten, weil heilige und profane Ordnungen nicht unterschieden würden (Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 58), dort regierte die »absolute [d.h. die mythische] Vergangenheit« und nicht die »historische« (ebd., S. 78, dazu ausführlich Duelke, »… same but different …«, S. 168). 5. Auch heute machen (noch oder wieder?) implizit psychologische Ansätze, bei denen auch die alten Ontogenese-Phylogenese-Debatten wiederbelebt werden, den theoretischen Kern der Argumentationen aus (Dux, Günter, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt am Main 1992, S. 106ff.) und greifen dabei auf althergebrachte und scheinbar unveränderliche wissenschaftliche Traditionen zurück (dazu Certeau, Michel de, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt am Main, New York 1991 [1. Aufl., Paris 1975], S. 139; vgl. Freud, Sigmund, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, 16. Aufl., Frankfurt am Main 1977 [1. Aufl., Wien 1913], Kap. 4, vgl. jedoch auch ebd., S. 163f. sowie Lévi-Strauss, Claude, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1984 [1. Aufl., Paris 1949], S. 153ff.). So belebt auch Jan Assmann (Assmann, J., Das kulturelle Gedächtnis, S. 58) einen alten Kulturstufengedanken, in welchem die Kulturen rezenter Gesellschaften für Spekulationen über phylogenetische Bewusstseinsentwicklung verwandt werden. 6. Christian Meier in Raulff, Ulrich, Anthropologie im Kulturvergleich. Programm eines wissenschaftlichen Grenzgängertums, ein Gespräch mit Christian Meier, in: Ulrich Raulff (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 163-182, hier S. 163. 7. Siehe Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., 4. Aufl., Frankfurt am Main 1988 (1. Aufl., Frankfurt am Main 1981), Bd. 1, S. 72-113, 170
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In Australien sind neuerlich Fragen nach der Stabilität und Historizität indigener Traditionen – oder genauer: Fragen nach der Repräsentation der Vergangenheit in Beziehung zu den Verhältnissen und Deutungsmustern der Gegenwart – neu ins nationale Bewusstsein gerückt und nicht mehr allein von rein akademischem Interesse. Die Verabschiedung diverser australischer Landrechtsgesetzgebungen,8 die indigene Landrechte gemeinhin auf der Grundlage traditioneller Eigentumsansprüche regeln sollen, zeitigte weitreichende politische, juristische, soziale und ökonomische Konsequenzen. Seitdem entfachen sich am Thema »traditionelle indigene Landrechte« lebhafte öffentliche Diskussionen über den Unterschied zwischen Tradition und Geschichte, über die Bedeutung wandelbarer Vergangenheitskonzeptionen, über indigene Identität und die Authentizität indigener Traditionen, nicht zuletzt aber stellt das Thema auch eine Arena für konkurrierende Aborigines-Gruppen dar. Die nationalen Diskurse spiegeln sich facettenreich auf lokaler Ebene wieder, so auch in der nordaustralischen Aborigines-Kommune, die Gegenstand der hier zu behandelnden Fallstudie ist.9 Wie in vie-
dazu ausführlich Linkenbach, Antje, Opake Gestalten des Denkens. Jürgen Habermas und die Rationalität fremder Lebensformen, München 1986. 8. Einzelne australische Bundesstaaten setzten während der 1970er und 1980er Jahre eigenständige und in ihren Konsequenzen höchst unterschiedliche Landrechtsgesetzgebungen (legislations) in Kraft. Einen besonderen und international beachteten Rang nahm dabei der Aboriginal Land Rights (Northern Territory) Act, 1976, ein, der vom Commonwealth für das ihm direkt unterstehende Northern Territory verabschiedet wurde. – Anders als bei seinen eher progressiven legislations hinkte Australien bei den so genannten Native Title-Gesetzgebungen – etwa im Vergleich zu Kanada und den USA – lange hinterher. Das änderte sich erst, als 1992 bestimmte Vorgaben des australischen Common Law revidiert und – als Folge davon – der bundesweit geltenden Native Title (Cth) Act, 1993, in Kraft trat. 9. Der Beitrag basiert auf einer zwischen 1989 und 1998 intermittierend durchgeführten Langzeitstudie, deren Ziel es war, den Einfluss des Northern TerritoryLandrechtsgesetzes in einer spezifischen Region zu untersuchen (Duelke, »… same but different …«). Die verstehensorientierte Analyse war an der Bedeutung menschlicher Erfahrung und der historisch wie kulturell kontextualisierten Organisation von Identität, Wissen und Handlung orientiert, was einen permanenten Wechsel bei der Bestimmung und Anwendung so genannter »subjektiver« und »objektiver« Analysekriterien verlangte: Zum einen hieß das, sich auf die allgemeinen Kräfte zu konzentrieren, die die Handlungsvoraussetzungen bestimmter sozialer Gruppen bilden und bestimmen – und es hieß zum anderen, den Blickwinkel auf das subjektive Verstehen und die Deutungsmuster der betroffenen Menschen zu lenken. Der Wechsel zwischen diesen beiden analytischen Ansätzen erwies sich besonders dort als sinnvoll, wo es um Strukturen innerhalb sozialer Kontexte ging, das heißt dort, wo sowohl rein hermeneutischen als auch so genannten 171
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len anderen Aborigines-Kommunen setzte auch in dieser Kommune die Verabschiedung des Northern Territory-Landrechtsgesetzes von 1976 eine Gegenwartsanalyse in Gang, in deren Zentrum kommunikative Rekonstruktionen der Vergangenheit standen. Man versuchte, die verschiedenen Zeithorizonte der Vergangenheit mit den verschiedenen Sinnhorizonten der Gegenwart in Einklang zu bringen, und griff dabei auf etablierte Praxen zurück, die Einblicke in einen mehr oder minder kulturspezifischen Umgang mit Traditionen und Geschichte in der Gegenwart gestatteten.
2. Vom Umgang mit Vergangenheit in legalen Kontexten 1976 trat ein von der australischen Bundesregierung verabschiedetes Landrechtsgesetz10 für das Northern Territory11 in Kraft, wonach Aborigines Land aufgrund traditioneller Eigentumsrechte zurückfordern können. Hierbei unterschied man insgesamt drei Kategorien von rückforderbarem Land, wobei hier nur die zwei wichtigsten12 genannt wer-
»objektiven« Ansätzen Grenzen gesetzt sind (dazu auch Sturmer, John R. von, Interpretations and Directions, in: Australian Institute of Aboriginal Studies [Hrsg.], Aborigines and Uranium. Consolidated Report on the Social Impact of Uranium Mining on the Aborigines of the Northern Territory, Canberra 1984, S. 261-291, hier S. 263; Kögler, HansHerbert, Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart 1992, S. 183f.). 10. Aboriginal Land Rights (Northern Territory) Act, 1976, im Folgenden A.L.R.A. 1976. 11. Trotz jahrelanger, bislang aber erfolgloser Bestrebungen, ein autonomer Bundesstaat zu werden, untersteht das Northern Territory als »Territorium« noch immer den Weisungen der Bundesregierung (Commonwealth), was sich besonders bei speziellen Gesetzgebungen, maßgeblich den so genannten »Aborigines-Gesetzgebungen« auswirkt(e). – Mit seinen 1.346.200 km2 ist das Northern Territory fünfmal größer als das Territorium von Westdeutschland vor der Vereinigung (247.960 km2). Bei der letzten großen Volkszählung von 1986 lebten im Northern Territory insgesamt etwa 154.400 Personen. Mit 34.739 Personen stellten Aborigines etwa 22,4 % der Gesamtbevölkerung (inzwischen [2001] schätzt man die Zahl an Aborigines auf etwa 56.364 Personen, was heute etwa 28 % der Gesamtbevölkerung entspräche). Zwei Drittel der Aborigines-Bevölkerung im Northern Territory bewohnen ländliche Regionen, während über 80 % der Nicht-Aborigines-Bevölkerung in den urbanen Zentren, Alice Springs und Darwin, niedergelassen sind. 12. Dazu ausführlich Duelke, »… same but different …«, S. 86f.; Duelke, Britta, Institutionen, Land- und Landrechtskonflikte im australischen Northern Territory. Bemerkungen zum Aboriginal Land Rights (N.T.) Act, 1976, in: Erdmute Alber/Julia Ecker 172
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den: Einmal das so genannte Schedule 1 Land, dazu gehören im Wesentlichen die ehemaligen Reservate, die 1976 quasi automatisch (d.h. ohne ein Gerichtsverfahren) übergeben wurden. Die zweite Kategorie Land ist das unalienated Crown Land, das unveräußerte Kronland. Dabei handelt es sich um Gebiete, die nicht an Dritte veräußert oder verpachtet sind und nicht auf städtischen oder anderen öffentlichen Gebieten liegen. Kurz: Land, das niemand sonst nutzt oder an dem niemand sonst ein Interesse hat. Dieses Land kann in einem sehr zeitund kostenintensiven Anspruchsverfahren, einem Land Claim, zurückgefordert werden. In einem solchen Verfahren müssen Aborigines überzeugende Nachweise erbringen, die »traditionellen Landeigentümer«13 zu sein, d.h. zu einer so genannten »lokalen Deszendenzgruppe« zu gehören, die die »primäre spirituelle Verantwortung« für das betreffende Gebiet hat.14 Solche, in Land Claim-Verfahren notwendigen Nachweise erfolgen im Wesentlichen in Form einer Demonstration von traditionellem Wissen, Riten und indigenen Abstammungsregeln und sollen sowohl die spirituellen Beziehungen als auch die Nutzungsrechte am betreffenden Land unter Beweis stellen. Inzwischen, nachdem das Schedule 1 Land übergeben und eine große Zahl der Land Claims erfolgreich abgeschlossen wurden, sind etwa 46 % der Gesamtfläche des Northern Territory Aboriginal Land nach dem Gesetz. Die ursprüngliche und eigentliche Intention bei der Durchsetzung des Landrechtsgesetzes von 1976 war, den so genannten traditionell orientierten Aborigines einen ihnen gemäßen Lebensstil und relative Unabhängigkeit auf ihrem eigenen Land zu ermöglichen. Bedingt durch die legalen Vorgaben und ihre praktische Umsetzung stellten sich neben den erhofften Effekten auch Schwierigkeiten ein, die den eigentlichen Intentionen des Gesetzgebers zuwiderliefen: Zum einen zeichnete sich bei den vielgestaltigen und vermeintlich unwandelbaren Traditionen selbst ein höchst innovatives Potenzial ab, zum anderen
(Hrsg.), Settling of Land Conflicts by Mediation/Schlichtung von Landkonflikten, Berlin u.a.1999, S. 78-94. 13. »[…] ›traditional Aboriginal owners‹ in relation to land, means a local descent group of Aboriginals who (a) have common spiritual affiliations to a site on the land, being affiliations that place the group under a primary spiritual responsibility for that site and for that land; and (b) are entitled by Aboriginal tradition to forage as of right over that land« (A.L.R.A. 1976, § 3 [1]). 14. Die Betonung auf die Zugehörigkeit zu einer »lokalen Deszendenzgruppe« (und damit auf Genealogie) dient wiederum, wie Aleida Assmann (Assmann, A., Zeit und Tradition, S. 91-115) in anderem Zusammenhang deutlich macht, einer Konstruktion von Kontinuität. Für die konkrete Umsetzung des Gesetzes bedeutet die Emphase auf eine Deszendenzgruppe, dass Eigentumsansprüche einzelner Individuen (etwa des oder der letzten Überlebenden einer landeignenden Gruppe) ausgeschlossen sind. 173
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waren die Traditionen in Prozesse extremer Dynamik eingebunden. Traditionen, so verdeutlichte auch der praktische Landrechtsalltag im Northern Territory, sind weniger kontinuitätstragende, entzeitlichte gesellschaftliche Re-Produktionen, sondern vielmehr das Vehikel, Medium und Substrat der jeweils aktuellen Realitäten. In der ethnologischen Forschung Australiens standen die religiösen, rituellen und landbezogenen Traditionen seit jeher im Zentrum der Aufmerksamkeit.15 Als Grundlage für diese Traditionen gilt das traditionelle Wissen, dessen Bedeutung für Identität und Weltanschauung gleichermaßen seit langem bekannt war.16 Die Vorstellungen, die sich Beobachter von und über solche quasi ewigkeitsbewährten Traditionen machten, und die den indigenen Ideologien von der Unwandelbarkeit der Traditionen durchaus entsprechen, schufen letztendlich die ethnologische, juristische und politische Grundlage für das Landrechtsgesetz. Das Gesetz thematisiert das Traditionskonzept auf ganz besondere Weise. In Landanspruchsverfahren ebenso wie bei der Registrierung der Eigentümern von Schedule 1 Land (dem ehemaligen Reservatsland) erfolgt die Identifizierung von Landeigentümern nach zwei Kriterien: nach traditionellem Wissen und nach traditionellen Beziehungen zum Land, die auch Nutzungsrechte einschließen.17 Diese Be-
15. Zentral waren und sind hier die Begriffe »Traumzeit« bzw. das Englische dreamtime oder dreaming, auch wenn diese Bezeichnungen auf alte Fehlübersetzungen aus dem zentralaustralischen Arrernte (Aranda) zurückgehen (s. Strehlow, T. G. H., Songs of Central Australia, Sydney 1971, S. 614f.). Die inzwischen auch im Aboriginal English standardisiert verwendeten Termini dreamtime und dreaming umschreiben in reduzierter Form nur Aspekte von regional jeweils variierenden Vorstellungskomplexen. Was die dahinterstehenden und bislang keineswegs zur Gänze geklärten Zeitkonzeptionen angeht, so bezieht sich die so genannte dreamtime u.a. auf eine Schöpfungsperiode, in der mythische Heroen bei ihren Wanderungen die Welt, Landschaften und Stätten schufen und durch ihre Taten auch die Traditionen sowie die sozialen und kulturellen Regeln etablierten, die einen idealen »Gesetzescharakter« haben und im Aboriginal English häufig mit Law umschrieben werden. Dreamtime charakterisiert jedoch nicht allein einen »Vergangenheitsaspekt«, ihr weiterhin gültiger Einfluss auf die Gegenwart räumt kreative Akte durchaus ein, lässt »Schöpfungsaspekte« offen und markiert zugleich auch einen dynamischen Zukunftsentwurf (vgl. Stanner, W. E. H., White Man Got No Dreaming. Essays 1938-1973, Canberra 1979, S. 29). 16. Siehe z.B. Berndt, Ronald M., Traditional Concepts of Aboriginal Land, in: Ronald M. Berndt (Hrsg.), Aboriginal Sites, Rights and Resource Development. Proc. of the 5th Academy of the Social Sciences in Australia Symposium, Perth 1982, S. 1-11, hier S. 7; Elkin, A. P., The Australian Aborigines, 4. Aufl., Sydney 1981 (1. Aufl., Sydney 1938), S. 43. 17. Dazu auch Smith, Diane, »That Register Business«. The Role of the Land 174
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tonung auf Tradition bewirkt vor Ort zweierlei: Einmal werden natürlich die immanente Richtigkeit und zeitliche Bewährung bzw. Unwandelbarkeit indigener Traditionen allein dadurch bestätigt, dass sie von einem »weißen« Gericht als Beweis von Eigentum anerkannt werden, zum anderen schließt der dogmatische Traditionsaspekt zu einem gewissen Grade die Möglichkeit von historischem Wandel sowohl auf formaler, d.h. auf juristischer, als auch auf konzeptioneller Ebene aus.18 Die Traditionskonzepte, die hier juristisch umgesetzt wurden, spiegelten das indigene Dogma von der Unwandelbarkeit der Traditionen ebenso wie die traditionellen ethnologischen Paradigmen von Aborigines-Gesellschaften, als dem Prototyp einer »kalten«, »wandelfreien« und damit gewissermaßen ahistorischen Gesellschaft.19 In den Gebieten, die sich bereits in der so genannten »NachLandrechtsära« befinden, und dazu gehört auch die hier behandelte Region, wirken diese Traditionskonzepte mit all ihren Implikationen und Tendenzen zur Verselbständigung weiter. Zugleich aber begründeten sie eine politische Arena, in der Vorstellungen von Tradition und traditionellem Wissen permanent neu interpretiert und neu verhandelt werden müssen – dies nicht nur allgemein in Bezug auf das Landrechtsgesetz und den damit verbundenen Institutionen, sondern auf lokaler Ebene vor allem hinsichtlich der Machtstrukturen, der Ökonomie, der Handhabung von Wissen und nicht zuletzt den Beziehungen zum Land selbst. Als Resultat einer formalen »europäischen« Gesetzgebung müs-
Councils in Determining Traditional Aboriginal Owners, in: L. R. Hiatt (Hrsg.), Aboriginal Landowners. Contemporary Issues in the Determination of Traditional Aboriginal Land Ownership, Oceania Monograph 27, Sydney 1984, S. 84-103. 18. Siehe Morton, John, Reply to Alain Testart, in: Current Anthropology 29/ 1, 1988, S. 18-20, S. 20; Merlan, Francesca, Entitlement and Need. Concepts Underlying and in Land Rights and Native Title Acts, in: M. Edmunds (Hrsg.), Claims to Knowledge, Claims to Country. Native Title, Native Title Claims and the Role of the Anthropologist, Canberra 1994, S. 12-26, S. 20. 19. Dass die Legislative hier den Akzent auf traditionelles Landeigentum legte, hatte sowohl juristische als auch politische Gründe. Bis 1992 besaß eine Common Law-Doktrin (übrigens wider besseres historisches Wissen) rechtliche Gültigkeit, wonach Australien zum Zeitpunkt der Landnahme durch die Engländer »terra nullius«, ein Land ohne Eigentümer, gewesen sei. Die zu verabschiedenden Gesetze (legislations) mussten also entsprechende Formulierungen finden, um nicht im Widerspruch zum Common Law zu stehen. Ferner sollte der nationale Frieden gewahrt bleiben: Einer gesellschaftlichen Gruppe in einem multi-kulturellen Gesamtgefüge besondere Rechte qua Gesetz zu gewähren, musste nicht nur legalisiert, sondern eben auch vor einer keineswegs nur positiv eingestellten Öffentlichkeit (d.h. einer vorrangig »weißen« Majorität) legitimiert werden. Dieser Legitimation sollte u.a. das Traditionskriterium in der Gesetzgebung dienen. 175
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sen die Landrückgaben auch in Zusammenhang mit den Konsequenzen von vorherigen und gleichermaßen von außen kommenden politischen Strategien und Direktiven wie Kolonisation, »Separation« und »Assimilation« betrachtet werden. Solche exogenen Faktoren gingen Hand in Hand mit endogenen Wandelerscheinungen, sie beeinflussten sich gegenseitig, modifizierten die lokalen »Wissensvorräte«20 und nahmen damit auch maßgeblichen Einfluss auf die Repräsentationen der Traditionen. Die Erfahrungen von Migration, Zwangsumsiedlung, Leben in Regierungslagern, Missionen und den Lagern am Rande der Städte führten zu Veränderungen in den sozialen, territorialen und kulturellen Beziehungen, die Adaptionen verlangten und verlangen. Diese betreffen neben den Inhalten und Bewertungen von Wissen und Traditionen, auch die Rolle, die Zusammensetzung und Rekrutierung der Wissensträger.21 So schufen die mit den Landrückgaben einhergehenden Verhandlungen mit Land Councils22 und anderen Regierungsstellen über Landentwicklungsprogramme, Verteilung von Förderabgaben aus dem Abbau von Rohstoffen, Subventionen u.v.a.m. eine politische Bühne, in der neue Akteure in neuen Handlungsrahmen auf der Basis von »Traditionalität« agieren können und müssen. Die Rolle und wachsende Bedeutung dieser Mittelsmänner und Interpreten zwischen Landrechtsbürokratie, Öffentlichkeit und Kommunen gründen sich zwangsläufig und im Wesentlichen auf deren interpretativer Gabe, externe Erwartungen von einer wie immer definierten Traditionalität mit Tradition und deren Historizität zu verbinden.23 Die Landrückgaben wirkten sich auf den unterschiedlichsten Ebenen aus. Allein die simple Tatsache, dass nun einige Deszendenzgruppen über statuiertes und rechtlich abgesichertes Landeigentum verfügen und andere nicht, nimmt maßgeblichen Einfluss auf die Dynamik der lokalen intra- und interethnischen Beziehungen. Die häufig
20. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt am Main 1979 und 1984, Bd. 1, Teil III und IV; Bd. 2, S. 44-50. 21. Gerritsen, Rolf, Thoughts on Camelot. From Herodians and Zealots to the Contemporary Politics of Remote Aboriginal Settlement in the Northern Territory, Paper Presented to The Australasian Political Studies Association 23rd Annual Conference, Canberra, unveröff. Manuskript, 1981; vgl. auch Hendricks, Janet Wall, Power and Knowledge. Discourse and Ideological Transformations among the Shuar, in: American Ethnologist 15/2, 1988, S. 216-238, hier S. 235; Sahlins, Marshall, Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreiches Hawaii, Berlin 1986 (1. Aufl., Ann Arbor 1981), S. 113. 22. Die Land Councils haben eine gesetzlich festgelegte, institutionalisierte Funktion bei Landanspruchsverfahren, u.a. obliegt ihnen auch die Administration von Aboriginal Land, s. A.L.R.A. 1976, §§ 21-38. 23. Duelke, »… same but different …«, S. 207-219. 176
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notwendigen Neu-Verhandlungen und Re-Interpretationen von Traditionen sowie die sich oft problematisch gestaltenden Identifikationen von traditionellen Landeigentümern sind Auslöser für viele Konflikte und rapide Umwandlungsprozesse in den betroffenen Kommunen. – Dass aber diese quasi ahistorischen und vermeintlich unwandelbaren Traditionen auch unter den »traditionellen Gesellschaften Australiens« verhandelt, modifiziert und zu »neuen Traditionen« deklariert werden, zeigt nur, um hier mit Luckmann24 zu sprechen, dass jede Rekonstruktion von Realität Realität konstruiert bzw. konstruieren soll.
3. Mit Vergangenheiten leben Die folgende Fallstudie konzentriert sich auf den Umgang mit Vergangenheit und Landeigentum auf einer ehemaligen Missionsstation25 im so genannten Top End, dem nördlichen, tropischen Teil des Northern Territory. Auf der Mission stellte das Aufkommen der Landrechte im Jahr 1976 ein bedeutendes historisches und politisches Ereignis dar, dessen Einfluss eine Revision der Vergangenheit einleitete und Entscheidungen für die Zukunft forderte: Auch hier sollte die Wirklichkeit der gelebten Gegenwart mit den Bedeutungsrahmen der Vergangenheit verbunden und in eine antizipierte Zukunft projiziert werden. Den Schwerpunkt auf die Verhandlungsprozesse von Vergangenheit und Landeigentum gerade in dieser Kommune zu legen, scheint auf den ersten Blick paradox. Die Missionsbevölkerung setzt sich sehr heterogen aus Migranten zusammen – und zwar aus Migranten solcher Gebiete, die als Schedule 1 Land bereits 1976 zu Aboriginal Land erklärt wurden. Die auf der Mission lebenden Migranten trafen jedoch die Entscheidung, nicht auf ihrem eigenen Land zu leben, sondern zogen es vor, auf einem Stück Land zu verbleiben, das der Kirche gehört und damit vom Landanspruch einer anderen Gruppe ausgespart wurde. Auf der katholischen Mission – also nicht in ihrer Heimat, sondern in »Fremdgebieten« – wollten die Missionsbewohner ein neues
24. Luckmann, Thomas, Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens. Kommunikative Gattungen, in: F. Neidhardt/M. R. Lepsius/J. Weiß (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 27, Opladen 1986, S. 191-211, hier S. 200. 25. Der Ort wurde 1955 als katholische Missionsstation gegründet, im Zuge nationalstaatlicher Reformen wurde seit den 1970er Jahren eine graduelle Selbstverwaltung eingeleitet, die zu einer gewissen Säkularisierung der lokalen Administration führte. Nominell ist der Ort heute eine autonome, von einem siebenköpfigen Ortsrat (Aboriginal Council) geleitete Kommune, obgleich die Bezeichnung »Mission« aus verschiedenen Gründen ihre Gültigkeit behielt und im Folgenden beibehalten wird. 177
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und gleichsam an den Traditionen orientiertes Leben beginnen, ohne ihre Bindungen an die eigenen Heimatgebiete aufzugeben.26 Die Beziehungen der Migranten an das heutige Missionsareal haben Geschichte. Die noch heute lebhaft erinnerten Migrationswellen der Mitglieder von zehn verschiedenen Sprachgruppen fanden während der ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts statt. Damals hatte sich die Nachricht von exotischen hellhäutigen Neuankömmlingen im Busch wie ein Lauffeuer verbreitet, großes Interesse geweckt und eine folgenschwere Entscheidung ausgelöst: Man machte sich auf, verließ das eigene Land, um selbst einen Blick auf die europäischen und chinesischen Goldsucher, Farmer und Krokodiljäger zu werfen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mehr oder minder sporadisch in dem Flussgebiet auftauchten, das heute ihr Lebensareal darstellt. Für die meisten, so sagen die Migranten selbst, wurde das Bedürfnis nach einigen Gütern der Weißen, hauptsächlich Tee, Zucker und Tabak, so stark, dass sie länger in der Region verblieben. Als die Wanderbewegungen seinerzeit ihren Höhepunkt erreichten, hatte die ursprüngliche Bevölkerung, der das Land am Mittellauf des Flusses gehörte, bereits 50 Jahre Kolonisationserfahrung, mehrere Massaker und eine 13-jährige Episode mit einer jesuitischen Mission (1886-1899) hinter sich; – und sie war auch gezwungen, zu akzeptieren, dass ihr Land das Migrationsziel anderer Aborigines-Gruppen geworden war. Die noch heute erzählten Geschichten aus dieser Zeit sind voll von Berichten über Kämpfe und Streitereien zwischen ansässigen und neuankommenden Aborigines. Dessen ungeachtet verblieben die Migranten im Dienst, der Fron und dem Schutz der Weißen auf dem Gebiet der ursprünglichen Bevölkerung am Fluss und kehrten nur mehr sporadisch in ihre eigenen Gebiete zurück.27 1955 siedelten die Migranten schließlich permanent auf das Gelände der heutigen Mission über, als die katholischen »Herz-Jesu-
26. Zur Bedeutung rezenter Entscheidungsprozesse und ihrer historischen Vorläufer siehe Rüsen, Jörn, Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln u.a. 1994, S. 114f.; Duelke, »… same but different …«, S. 176ff. 27. Der Kontakt zum eigenen Land wurde trotzdem, wenn auch sporadisch, aufrechterhalten. Viele Migranten fanden auf den Viehfarmen der Umgebung eine (damals üblicherweise kaum entlohnte) Arbeit. Die ausgedehnten Viehtriebe während der Trockenzeit (April bis Oktober) ermöglichten Besuche in den Heimatgebieten. Die Überflutungen während der Regenzeit (November bis März) unterbanden den Verkehr mit Fahrzeugen und schnitten die Region oft wochenlang von der Außenwelt ab. Dadurch entstanden Versorgungsengpässe an Nahrungsmitteln und anderen »europäischen« Gütern, was zeitlich befristete Rückwanderungen in die Heimat förderte bzw. notwendig machte. 178
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Missionare« dort ihre Dependance eröffneten. Die ursprüngliche Bevölkerung verblieb auf ihrer, wenige Kilometer von der Mission entfernt liegenden Ansiedlung oder wanderte zeitweilig in andere Regionen ab; bis heute lebt nur eine geringe Zahl von ihnen auf der Mission, selten mehr als drei oder vier Erwachsene. Nach Verabschiedung des Landrechtsgesetzes und durchaus konform mit einer landesweiten Entwicklung begann ab 1976 der eher langsame Auszug der Missionsbevölkerung in Richtung ihrer alten Heimatgebiete, die sich jetzt auch nach »westlichem« Recht wieder in ihrem Eigentum befanden. Unter der Führung eines örtlichen power broker gründeten einige Missionsbewohner eine neue Kommune auf Aboriginal Land, die schnell zu einer beachtlichen Größe heranwachsen sollte. Diese neue, knapp 100 km von der Mission entfernt liegende Kommune entwickelte sich in kürzester Zeit – und obgleich die meisten Bewohner aus sehr unterschiedlichen Gebieten stammten – zu einer Art subsumtiven Heimatkommune, weshalb sie im Folgenden auch so genannt wird. Kaum jemand auf der Mission konnte sich der Anziehungskraft dieses arkadischen Ortes entziehen, wo streng nach den traditionellen Gesetzen gelebt werden sollte. Hier konnte man sich dem Einfluss der Weißen, maßgeblich aber der Mission effektiv entziehen, hier wurden die Traditionen und Zeremonien re-installiert, und der Ort avancierte in kürzester Zeit zu einem regional bedeutenden, wenn auch höchst umstrittenen Ritualort. Nicht allein das traditionelle Zeremonialleben gelangte zu neuen Größen, man etablierte dort auch ein so genanntes traditional punishment camp.28 Ab der Mitte der 1980er Jah-
28. Das »Straflager« der Heimatkommune stellte in den 1980er Jahren eine einmalige Institution im Northern Territory dar, weil hier sowohl traditionelle als auch strafrechtliche Verstöße (ausgenommen waren Kapitalverbrechen) geahndet wurden. Die auf dem Bauch liegenden Delinquenten wurden öffentlich mit stahlspänengefüllten Gartenschläuchen verprügelt. Die klassifikatorischen Muttersbrüder waren für die Prügel männlicher Delinquenten verantwortlich, bei Frauen waren es die klassifikatorischen Vatersschwestern. Die Ortspolizei von der Mission war in der Funktion einer bi-kulturellen Exekutive in diese Prozeduren involviert, etwa, indem sie Straftäter von der Mission zur Heimatkommune transportierte. Trotz der vielen kritischen Stimmen wurde das »Lager« von der örtlichen Bevölkerung mehr oder minder akzeptiert, weil es u.a. Gefängnisstrafen ersparte. Manchen galt es als Ausdruck autonomer Handlungskompetenz, andere betrachteten es als ein kulturell adäquates Mittel, mit notorischen Unruhestiftern umzugehen. Vor Ort betrachtete niemand die öffentlichen Prügeleien oder die Instrumentarien als etwas spezifisch »Traditionelles«, hingegen sah man in den formalen Prozeduren sowie in der Rekrutierung und Involvierung der von alters her bedeutungsvollen Verwandten einen quasi traditionellen Rahmen gegeben, der in gewisser Weise auch durch das traditionelle Recht gestützt wurde (s. Law Reform Commission, Aboriginal Customary Law. Northern Territory, Top End, Field Report No. 3, Prepared by Bryan Keon-Cohen, 179
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re gelangte die Heimatkommune zunehmend ins negative Zentrum der regionalen Politik: Grenzstreitigkeiten und Ritualkonflikte häuften sich, es kam zu Brüchen mit den traditionellen Gesetzen und viele wanderten – scheinbar ganz im Einklang mit traditionellen Konfliktlösungsstrategien – einfach wieder ab. Die Missionsbewohner verblieben nicht lange in der Heimatkommune, wenige sahen eine Verpflichtung, sich mit den oft als despotisch empfundenen Verhältnissen dort abzufinden, man wanderte zurück, diesmal in umgekehrter Richtung: von der Heimatkommune zur Mission. Die Missionsbevölkerung hegte ambivalente Bindungen sowohl zur Heimatkommune als auch zur Mission. Die Heimatkommune repräsentierte aufgrund ihrer Lage und des dort gepflegten Lebensstils die traditionellen Heimatgebiete, die man zwar keinesfalls aufgeben, wo man aber weder leben konnte noch wollte.29 Man war sich durchaus bewusst, dass mit den Landrechten die Frage des Wohnortes ebenso wie die Frage nach den Bindungen zum Wohnort zu einer Frage der Identität und neuerlich auch Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden war: Traditionelle Bindungen an die traditionellen Heimatgebiete stehen für »Authentizität« und »Rechtmäßigkeit« und konnotieren für Europäer wie Aborigines gleichermaßen Stabilität, Glaubhaftigkeit, Denkwürdigkeit und Ursprünglichkeit. Umgekehrt galten die Gebiete um die Mission als eine Art »neuer« oder, wenn man so will, nicht-traditioneller Heimat, wo man zwar leben konnte, aber eigentlich nicht leben sollte, weil dies den Traditionen zu widersprechen schien und gewissermaßen den Beigeschmack des »inauthentisch Unrechtmäßigen« trug, eben weil historische Bindungen »Wandel« und »Zeit« implizieren, Kategorien also, die einer vorherrschenden oder orthodoxen Konzeption von Tradition fremd sind. – Tatsache war jedoch, die Migranten hatten Bindungen an das Missionsland und nicht zuletzt an die
unveröff. Bericht, Sydney 1978; für die juristischen Hintergründe s. Law Reform Commission, The Recognition of Aboriginal Customary Laws, The Law Reform Commission Report 31, 3 Bde., Canberra 1986). 29. Ein wesentlicher Aspekt für die anfängliche Attraktivität der Heimatkommune war, dass sie in relativer Nähe zu den jeweiligen traditionellen Gebieten lag. Dank diverser, auch staatlicher Förderungen entwickelte sich dort recht schnell eine akzeptable Infrastruktur, der Ort wuchs, verfügte bald über eine eigene Schule, einen kleinen Einkaufsladen und wurde regelmäßig medizinisch versorgt. – Viele der damaligen Bewohner träumten davon, von hier aus in die eigenen Gebiete zurückzukehren und dort eigene kleine Kommunen, die so genannten outstations, zu gründen. Bis Anfang der 1990er Jahre wurde der Plan – bis auf zwei Ausnahmen – nicht umgesetzt. Man begründete dies u.a. damit, dass aufgrund der geringen Personenzahlen die medizinische und edukative Versorgung nicht ausreichend hätte gewährleistet werden können (dazu Duelke, »… same but different …«, S. 161ff.). 180
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BRITTA DUELKE: ALLOCHRONIEN?
Menschen entwickelt, mit denen sie seit Jahrzehnten zusammenlebten, man konstituierte, wie man vor Ort sagt, den Mission mob. Hier hatte man über die Zeit und trotz der heterogenen Herkunft einen gemeinsamen Lebens-, ja Kulturstil entwickelt, der sich sowohl aus hergebrachten wie innovativen Komponenten zusammensetzte und manifester Ausdruck einer stabilen und distinktiven Gruppenidentität war. Nicht die Heimatkommune, auch nicht die traditionellen Heimatgebiete, sondern das Land um die Mission war der »gelebte Erfahrungsraum«30 für seine Bewohner. Im Laufe der Jahre waren die Beziehungen zum Missionsland nicht nur emotional eng, sondern auch unter traditionellen Gesichtspunkten bedeutungsvoll geworden. Bestimmte Plätze auf dem Missionsland und in der näheren Umgebung waren Denkmäler, die Monumente relevanter Vorkommnisse. Dazu gehörten die so genannten »Konzeptions«-,31 Geburts- und Todesstätten32 von
30. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1992 (1. Aufl., Frankfurt am Main 1979), S. 349-375. 31. Die so genannten »Konzeptionsstätten« sind räumlicher Ausdruck für die so genannte conception affiliation, d.h. der Bindungen und Interessen einer Person an den Ort, an dem eine werdende Mutter ihre Schwangerschaft erstmals konkret wahrnahm (etwa durch Übelkeit oder ein erstes Bewegen des Ungeborenen, s. dazu Merlan, Francesca, Australian Aboriginal Conception Beliefs Revisited, in: Man 21/3, 1986, S. 474493.). Solche Konzeptionsbeziehungen schaffen allgemein anerkannte Bindungen zwischen einer Person und einer spezifischen Stätte. Idealerweise handelt es sich dabei um einen Ort, der sich in einem Gebiet befindet, auf das die Person bereits Anrechte hat, vorzugsweise genealogisch hergeleitete Rechte. Befindet sich die »Konzeptionsstätte« aber nicht (wie so häufig) auf Gebieten mit bereits etablierten Rechten, so können conception affiliations eine Möglichkeit darstellen, zum Teil sehr umfassende Anrechte auf solche »Fremdgebiete« zu entwickeln. – »Konzeptionsstätten« (ähnlich verhält es sich mit Geburts- und Todesstätten von Verwandten) werden immer memoriert (vgl. Falkenberg, Johannes, Kin and Totem. Group Relations of Australian Aborigines in the Port Keats District, Oslo 1962, S. 250f.; Myers, Fred, Pintupi Country, Pintupi Self. Sentiment, Place and Politics among Western Desert Aborigines, Washington, Canberra 1986, S. 131). Gespräche mit älteren Leuten ergaben durchgängig, dass »kontingente« Begebenheiten (ungewöhnliche Jagdereignisse, Verletzungen, besondere Wolkenformationen etc.) in Zusammenhang mit der »Konzeption« eines Kindes gesehen werden. Solche, zunächst »individualhistorisch« relevanten Beziehungen lassen sich in bestimmten Kontexten erweitern und dienen gelegentlich der Herleitung von Ansprüchen auf rituelles Wissen, die dann sukzessive auch Eigentumsrechte am Land begründen können. Sterben etwa landeignende Klangruppen aus, kann auf solche, qua »Konzeption« affiliierte Personen zurückgegriffen werden, um das rituelle Erbe und damit auch das Landeigentum weiterzuführen. – Nach dem Landrechtsgesetz reicht die Tatsache, dass eine Person an einer bestimmten Stätte »empfangen« wurde, für gewöhnlich nicht aus, um sie in die gesetzlich definierte »lokale Deszendenzgruppe« zu integrieren (Neate, Graeme, Abori181
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Verwandten, Stätten also, die sich durch einen »nicht-mythischen« Ereignischarakter auszeichneten, die in der historischen Erinnerung fixiert waren und denen von jeher raumgebundener Sinn beigemessen wurde. Auch die von alters her überbrachte, regional weitverbreitete und auf der Mission gepflegte Praxis, den Namen einer Initiationsstätte als persönlichen Namen des jeweiligen Initianden zu verwenden, schuf und schafft bedeutungsvolle Bindungen an den Raum.33 Praxen dieser Art stützen nicht allein die individuelle und kollektive Memorierung besonderer Ereignisse, sie begründen Identität, weil in ihnen die Konzeptionen von Körper, Ereignis, Zeit und Raum miteinander verschmelzen. In den Augen der Migranten waren die Dauer ihrer Residenz auf und die Stärke ihrer über solche Stätten hergeleiteten Bindungen an das Missionsland Grund genug, sich wie selbstverständlich und rechtmäßig »zu Hause« zu fühlen. Dieser, zumindest für die Missionsleute fraglos gegebene Zustand sollte sich abrupt ändern, als 1990 dem Land Claim-Verfahren der ursprünglichen Bevölkerung stattgegeben wurde. Nach 12 Jahren Bearbeitungszeit erhielt diese, auf deren traditionellen Gebieten sich
ginal Land Rights Law in the Northern Territory, Chippendale, N.S.W. 1989, S. 62). Auch in der hier behandelten Region werden Ansprüche auf Landeigentum selten ausschließlich durch »Konzeption« hergeleitet (s. auch Povinelli, Elizabeth A., Labor’s Lot. The Power, History, and Culture of Aboriginal Action, Chicago, London 1993, S. 139-167; Falkenberg, Kin and Totem, S. 238ff.; Stanner, W. E. H., The Daly River Tribes. A Report of Field Work in North Australia, Part 2, in: Oceania 4/1, 1933, S. 10-29, hier S. 27f.; Stanner, W. E. H., Murinbata Kinship and Totemism, in: Oceania 7/2, 1936, S. 186-216, hier S. 193ff.). Allerdings zeichnet sich hier (ähnlich wie in anderen Regionen) eine verstärkte Tendenz ab, solche Möglichkeiten zu akzeptieren und zu integrieren, sofern sie von einer »Allgemeinheit« gestützt werden. Solche Ansprüche gewinnen an Gewicht, wenn sie zudem mit langjährigen Residenzrechten gekoppelt sind (dazu ausführlich Peterson, Nicolas, Rights, Residence and Process in Australian Territorial Organisation, in: Nicolas Peterson/Marcia Langton [Hrsg.], Aborigines, Land and Land Rights, Canberra 1983, S. 134-145, hier S. 137 ff.; Duelke, Institutionen, Land- und Landrechtskonflikte im australischen Northern Territory, S. 85f.). 32. Bei den Geburts- und Todesstätten konnten die Missionsleute auf das missionseigene Hospital und den missionseigenen Friedhof verweisen. Beide, das Hospital und der Friedhof, zeichneten sich aufgrund der Frequenz ihrer Nutzung durch eine regelrechte Kondensation an Bedeutung aus – auch ein Resultat der Sesshaftwerdung. 33. In der Region ist es üblich, Individuen nach den Stätten zu benennen, an denen ein für die Person wichtiges Ereignis stattfand, etwa nach dem Ort, wo ein junger Mann initiiert wurde, einem Unfallort etc. Die vielfältigen Möglichkeiten, einen persönlichen Namen zu erhalten, indizieren nicht zwangsläufig Landeigentum. Die Benennungspraxen verweisen jedoch auf die besonderen Beziehungen einzelner Personen zu bestimmten Stätten und dienen als persönliche und gesellschaftliche Erinnerungshilfe. 182
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auch die Mission befand, den Teil ihres Territoriums zurück, der zum Zeitpunkt des Landanspruches nicht anderweitig veräußert war. Rein rechtlich war das knapp über vier Hektar umfassende Missionsareal vom Landanspruch der ursprünglichen Bevölkerung nicht betroffen,34 da die Römisch-Katholische Kirche legale Eigentümerin des Missionslandes war, das heißt, das Land war veräußert und stand damit nicht für den Land Claim zur Verfügung. Kurz nachdem das Land Claim-Verfahren der ursprünglichen Eigentümer offiziell zum Abschluß gekommen war und man die zur Verfügung stehenden Gebiete an sie übergeben hatte, eröffnete der zuständige Bischof den Missionsbewohnern sein Angebot, den Eigentumstitel auf das Missionsland an einen Land Trust von MissionsAborigines zu übertragen. Der Zeitpunkt für dieses Angebot war wohl gewählt, da nun ausgeschlossen war, dass das Missionsland unter den Landanspruch der ursprünglichen Bevölkerung fallen konnte. Die Kirche wollte, obschon sie jahrelang und zumindest offiziell indigene (!) Landrechte unterstützt hatte, ihren Titel auf das Missionsland nicht den traditionellen Eigentümern, sondern einem Land Trust bestehend aus Missionsbewohnern übertragen.35 Auf der Mission stand man dieser Landübernahme durchaus positiv gegenüber und in kürzester Zeit entbrannten Debatten darüber, wer und auf welcher Grundlage als Trustee für das Missionsland benannt werden sollte. Die Erklärungen dazu variierten: Einige griffen auf das Landrechtsgesetz zurück und legten es spezifisch aus,36 die
34. Das Claim-Gebiet der ursprünglichen Bevölkerung umfasste etwa 544 km2. 35. Der generöse Akt der Kirche – Zeichen klerikalen Wohlwollens gegenüber lokaler Selbstbestimmung – war weniger von Altruismus und Verzicht geleitet. Schon seit Jahren werden die staatlichen Subventionen für Aborigines-Kommunen, die nicht auf Aboriginal Land liegen, erheblich gekürzt. Missionen auf Kirchenland stellen somit ein zunehmend teurer werdendes Unternehmen für die Kirche dar. Zudem hätte die Eigentumsübertragung des Landes auch keinen Prestige- oder Machtverlust für die Kirche bedeutet, da es eine der Bedingungen des Angebots war, dass das Hospital und die Schule, also die beiden zentralen kommunalen Einrichtungen, weiterhin unter Kontrolle der Kirche blieben. 36. So griff eine Fraktion beispielsweise das Thema »lokale Deszendenzgruppe« aus dem Landrechtsgesetz auf und unterschied zwischen Individuen mit primären und sekundären Rechten am Land. Die Wortwahl dieser Unterscheidung zeigte eine kaum zu übersehende Ähnlichkeit mit den publizierten Kommentaren zu Anhörungen von zentralaustralischen (später dann auch nordaustralischen) Land Claims, bei denen es um primäre und sekundäre spirituelle (!) Rechte am Land ging (Hiatt, L. R. [Hrsg.], Aboriginal Landowners. Contemporary Issues in the Determination of Traditional Aboriginal Land Ownership, Oceania Monograph 27, Sydney 1984; Gumbert, Marc, Neither Justice Nor Reason. A Legal and Anthropological Analysis of Aboriginal Land Rights, St. Lucia 183
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Mehrheit jedoch bezog sich weder auf das Landrechtsgesetz noch auf »ewige Traditionen«, sondern verwies zunächst (und noch etwas unspezifisch) auf die Dauer der Residenz, die lange Nutzung des Missionslandes und die dadurch entstandenen Bindungen – eben auf Rechte, die man aus der Vergangenheit herleiten konnte, und die nicht-traditionelle Eigentumsansprüche in einem traditionellen Rahmen zu gestatten schienen. Allen Deutungsoptionen zum Trotz – und wohl auch, weil inzwischen mehr oder minder leise Kritik der ursprünglichen Bevölkerung sowie der Traditionalisten aus der Heimatkommune geäußert wurde – zeichnete sich ein zunehmend deutlich werdender Legitimationszwang ab, und die Versuche der Missionsbevölkerung, ihre Position zu klären, erreichten ein neues Stadium. Die offizielle Anerkennung der ursprünglichen Eigentümer als traditionelle Landeigentümer der Region einerseits und das dubiose Angebot der Kirche andererseits verlangte von der Missionsbevölkerung, ihre eigene Traditionalität unter Beweis zu stellen und dabei auch den Nachweis zu erbringen, selbst nicht nur »traditionelle«, sondern auch »wirkliche« und damit »authentische« Aborigines zu sein.37 Die plötzliche Notwendigkeit, sich als wirkliche und authentische Aborigines zu repräsentieren, (was, der »öffentlichen Meinung« nach, nur über zeremonielle, ursprüngliche und traditionelle Beziehungen zum Land möglich war), schuf vor Ort gewisse Probleme,
1984.). Hier aber waren mit primären und sekundären Rechten nicht die komplexen, komplementären rituellen Beziehungen zwischen uterinen und agnatischen Verwandten bzw. die matri- oder patrilinearen Affiliationen zum Land gemeint, sondern man nutzte diese Bezeichnungen, um zwischen Personen zu unterscheiden, die entweder zur Gruppe der Gründungsmitglieder der Mission im Jahr 1955 gehörten (primäre Rechte) oder zu den Familien, die nachweislich später dazu kamen (sekundäre Rechte). 37. Die strategische Ineinssetzung von »traditionellen« und »echten« bzw. »wirklichen« Aborigines ist seit dem Ende der 1960er Jahre Bestandteil der nationalen politischen Rhetorik und sollte seinerzeit dazu dienen, die damals lauter werdenden Proteste der so genannten »urbanen Aborigines«, die meist gemischter Abstammung waren und vorrangig in den Städten an der Ostküste lebten, mundtot zu machen. Deren Identifikation als Aborigines sollte unglaubwürdig bzw. lächerlich gemacht werden. »Echte« Aborigines konnten danach nur solche Aborigines sein, die möglichst dunkelhäutig waren, möglichst »primitiv«, unverändert und somit authentisch auf ihrem eigenen Land lebten, die eine wie immer geartete traditionelle und spirituelle Beziehung zu diesem Land hatten, die Rituale und religiöse Zeremonien durchführten, traditionell Jagen und Sammeln gingen sowie möglichst gute Bumerang- und Speerwerfer waren. Die Muster und Inhalte dieser diskriminierenden, ehemals von außen kommenden und rein rhetorischen Authentizitätskriterien haben sich inzwischen (und politisch höchst wirkungsvoll) auch unter den Bevölkerungsgruppen verbreitet, die bislang als »echt«, »authentisch« und »traditionell« galten. 184
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als man sich nun gezwungen sah, Vorstellungen eines orthodoxen Traditionalismus mit den eigenen Erfahrungen von Wandel in Einklang zu bringen. Rationalisierung und Rechtfertigung an allen Fronten waren gefordert: gegenüber den ursprünglichen Eigentümern, gegenüber anderen Aborigines-Gruppen, gegenüber der Kirche, gegenüber dem Staat – vor allem aber gegenüber dem bislang gänzlich unzweifelhaften Selbstverständnis, traditionelle und damit authentische Aborigines zu sein. Die Umstände verlangten, dass die Missionsbevölkerung ihre Beziehungen zu ihren eigenen alten wie auch den neuen Gebieten abklärte, und sich dabei in ein Verhältnis zu den Traditionen zu setzen. Was nun begann, waren kommunikative Rekonstruktionen polychroner Vergangenheitsbezüge, die als Erklärungsmodell, als Festlegung und nicht zuletzt als Legitimation der Gegenwart sowie einer antizipierten Zukunft dienen sollten, und die zugleich auch Einblicke in den praktischen Umgang mit Veränderungen und Traditionen im gelebten Alltag gewährten. Grundsätzlich bestand für die Missionsbevölkerung keine Notwendigkeit, die Beziehungen zu ihren eigenen Heimatgebieten zu rechtfertigen. Diese Bindungen waren Teil der gelebten Erinnerungen und wurden gerade in jüngerer Zeit durch häufige Besuche bestätigt und aufrechterhalten,38 sie waren genealogisch begründet, in einer stabilen zeitlichen Tiefe verankert, durch Mythen und nicht zuletzt durch traditionelles Landeigentum gesichert. Umgekehrt wiesen auch die Beziehungen zum Missionsraum gelebte Erfahrung auf, sie zeigten beachtliche zeitliche Tiefe und waren Bestandteil der lebendigen Erinnerung. Allerdings schien diese Bindung nicht »vergangen« genug, um als traditionell zu gelten, und sie war nicht auf direktem Wege mythisch begründbar. Entsprechend war die eine Bindung erklärungsbedürftig, die andere nicht.39 Die Missionsbevölkerung musste sich konkret mit der Unterscheidung verschiedener Zeitebenen – gewissermaßen dem Unterschied zwischen Geschichte und Tradition – auseinandersetzen und konnte dabei auf eigene und bewährte Praxen zurückgreifen.40
38. Die inzwischen größere Verfügbarkeit von Kraftfahrzeugen sorgte für eine gesteigerte Mobilität. Entsprechend besuchte man die Heimatgebiete an Wochenenden, während der Schulferien oder wann immer möglich (über den Effekt von Autos auf andere Traditionen s. auch Peterson, Nicolas, An Expanding Aboriginal Domain. Mobility and the Initiation Journey, in: Oceania 70/3, 2000, S. 205-218). 39. Vgl. Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Sonderausgabe der 5. Aufl., Frankfurt am Main 1996 (1. Aufl., Frankfurt am Main 1979), S. 165-191. 40. Diese eigenen Praxen standen bezeichnenderweise in konkretem Gegensatz zu Versuchen, mit dem Unterschied von Tradition und Geschichte über chronologische Festlegung umzugehen. So sehen etwa die 1990 verfassten Richtlinien des U.S. De185
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Vor Ort schuf die Auseinandersetzung mit solchen antagonistischen Zeitdimensionen eine »kritische Tension«, die, wie Nancy Munn41 es in einem anderen Kontext nannte, eine »Doppelbewegung« (double-movement) oder »Doppelstruktur« (bi-directional structure) im deutenden Handeln erforderlich machte. Hier bedeutete die »Doppelbewegung«, die Symbole unterschiedlicher Bezugsrahmen – zeitliche, räumliche, diskursive, erklärende und rhetorische – zu sinnstiftenden Vermittlungszwecken zu nutzen. Um die geplante Übernahme des Missionslandes akzeptabel zu begründen, akzentuierte die Missionsbevölkerung nicht die engen Bindungen an das Missionsland, sondern an die eigenen traditionellen Gebiete. Diese Bindungen machte man deutlich, indem man die Rechte, bestimmte landbezogene Mythen zu erzählen oder zu malen, neu und streng nach traditionellen Kriterien verhandelte, Erzählungen von mystischen Reisen (die so genannten dream travels) in die eigenen Gebiete häuften sich, das Zeremonialleben auf der Mission gelangte zu neuen Größen, Erzählungen und Erinnerungen an »die alten Zeiten« – »als die Alten noch auf ihrem eigenen Land waren« – wurden aufgefrischt, man legte verstärkt Wert darauf, sich als aner-
partment of the Interior bei der Anerkennung von »properties of traditional [!] cultural significance« für eine Registrierung im National Register of Historic (!) Places vor, dass Traditionen ein gewisses, festgelegtes Alter aufweisen müssen, um als Traditionen zu gelten. So heißt es dort: »A significance ascribed to a property only in the last 50 years cannot be considered traditional« (zit. n. Haley, Brian D./Wilcoxon, Larry R., Anthropology and the Making of Cumash Tradition, in: Current Anthropology 38/5, 1997, S. 761794, hier S. 765; zur allgemeinen Thematik s. auch Burke, Peter, Historiker, Anthropologen und Symbole [1. Aufl., Stanford 1990], in: Rebekka Habermas/Nils Minkmar (Hrsg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie, Berlin 1992, S. 21-41, hier S. 37). – Gäbe es vergleichbare Richtlinien im Northern Territory, hieße das für den vorliegenden Fall: Die Mission wurde im Mai 1955 gegründet, wäre es zu diesem Zeitpunkt zu einer historisch fassbaren Modifikation landgebundener Traditionen gekommen, würden diese in knapp vier Jahren, konkret also ab Mai 2005, rechtsgültig als Tradition anerkannt werden können. Vergleichbare Fälle aus der Rechtspraxis im Northern Territory zeigen jedoch, dass gerade die Fixierung über Jahreszahlen (auch wenn eine fragliche Tradition älter als 50 Jahre wäre) für die Anerkennung und Bewertung einer Tradition als Tradition eher irrelevant scheint, maßgebend ist hier noch immer die Einbindung in den Alltag bzw. das Kriterium der gelebten Tradition (vgl. dazu Duelke, Institutionen, Land- und Landrechtskonflikte im australischen Northern Territory; Merlan, Francesca, The Regimentation of Customary Practice. From Northern Territory Land Claims to Mabo, in: The Australian Journal of Anthropology 6/1 u. 2, 1995, S. 64-82.). 41. Munn, Nancy, The Transformation of Subjects into Objects in Warlpiri and Pitjantjatjara Myth, in: R. M. Berndt (Hrsg.), Australian Aboriginal Anthropology, Nedlands 1970, S. 141-163, hier S. 144. 186
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kannter und traditioneller Landeigentümer nach dem Landrechtsgesetz zu präsentieren, nicht zuletzt aber artikulierte man deutlich seine Sehnsucht, auf das eigene Land zurückzukehren und dort eigene Kommunen zu gründen.42 Indem man auf diese allgemein anerkannte Weise auf seine engen Beziehungen zu den eigenen Heimatgebieten verwies, stellte man sich in einen komplexen und undisputierbaren Traditionszusammenhang, der zugleich als Garant für die eigene Authentizität diente. Nur die Aufrechterhaltung der eigenen landgebundenen Traditionen gewährleistete, dass »neue« Bindungen an Land in einem traditionellen Kontext legitimiert und sanktioniert werden konnten: Auch hier galt, dass das Ganze mehr war als die Summe seiner Teile, dass das Ganze kongruent und stabil blieb, selbst wenn Variationen innerhalb einzelner Teile vorkamen. Diese Vorgehensweise und ihre Deutung entsprechen, wenn man so will, der hermeneutischen Regel, das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen.43 Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und auf die aus dem Zirkel resultierende hermeneutische Konsequenz verweisen, die Gadamer44 als den »Vorgriff der Vollkommenheit« bezeichnet. Bei Gadamer setzt der »Vorgriff« eine immanente Sinneinheit voraus und wird ständig von einer transzendenten Sinnerwartung geleitet.45 Im vorliegenden Fall ließe sich – mit einiger interpretatorischer Freiheit und zirkelgebunden – sowohl ein »Vorgriff« als auch ein »Rückgriff auf Vollkommenheit« konstatieren. Die aus einem Traditionskomplex heraus begründ- und legitimierbaren »Sonderfälle« können mittels eines »Rückgriffs auf bestehengebliebene Traditionen« neue traditionelle Vollkommenheiten erstellen.46 Die eigene Einbindung in solche, quasi ganzheitlichen Traditionskomplexe gewährleistete auch vor Ort, »neue« Eigentumsansprüche plausibel zu machen. Um die aus verschiedenen Vergangenheiten hergeleiteten Rechte der Gegenwart zu fundieren, eliminierten die Leute von der Mission nicht die historische Erinnerung an die Migrationen,47 im Gegenteil,
42. Vgl. oben Fußnote 29. 43. Vgl. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke 1, 5. Aufl., Tübingen 1986 (1. Aufl., Tübingen 1960), S. 296ff. 44. Vgl. ebd., S. 296, 299. 45. Ebd., S. 299. 46. Siehe dazu auch Habermas, Jürgen, Dialektik der Rationalisierung, in: Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 167-208, hier S. 168. 47. Die Erinnerungen an die Migration aus den »eigentlichen Heimatgebieten« werden im Alltag der Mission nicht ausgeblendet, sondern aufrechterhalten. Um traditionelle Eigentumsrechte am Missionsland geltend zu machen, und das belegen 187
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daran erinnerte man sich genau: Sie hatten die Mission aufgebaut und ihr ganzes Leben hier gearbeitet, oder, wie man vor Ort sagen würde: »We bin build’im up from dust […] nothing there before«. Sie waren es, die eine neue, relevante, mit einer konkreten Bedeutung und einer Geschichte ausgestattete Stätte geschaffen hatten und auf die sich gewissermaßen »Urheberrechte« geltend machen ließen.48 Auf dem Missionsareal, so die Missionsbewohner, habe es nie eine heilige oder mythische Stätte der ursprünglichen Eigentümer gegeben, stattdessen aber sei das ganze Areal regelrecht übersät mit Stätten, die von der eigenen Präsenz, der eigenen lokalen Geschichte und den eigenen Verwandten zeugten. Bemerkenswert und grundlegend war hier, dass sich die Missionsbevölkerung nicht als traditionelle Eigentümer des Missionslandes ausgab (was »den Traditionen« widersprochen hätte), sondern auf den traditionellen Rahmen und die Praxen verwies, nach denen Menschen »schon immer« neue Rechte an Land geltend machen konnten. Die ursprünglichen Eigentümer des Missionslandes erkannten die über »Konzeptions«-, Geburts- und Todesstätten, die über die Dauer der Residenz und »Urheberrechte« hergeleiteten, »neuen«, aber durch die Traditionen und Traditionszusammenhänge abgesicherten Bindungen der Missionsbevölkerung an ihr Land gewissermaßen notgedrungen an, auch wenn sie der ganzen Angelegenheit extrem kritisch gegenüber standen.49
viele Landkonflikte, müsste diese Erinnerung der Vergessenheit anheim gegeben werden. Solche »Naturalisierungsprozesse«- sollten sie gewollt sein- benötigten Zeit, um vom quasi »individualhistorischen Ereignis« (dokumentiert in lebensgeschichtlicher Erinnerung und in den »Konzeptions«-, Geburts- und Todesstätten konkret erinnerter Personen) zur »mythischen Transformation« (die allgemeines und vollständiges Landeigentum begründet) zu gelangen. Erst im Lauf der Zeit könnten Erinnerung und Vergessen die Kongruenz zwischen der Gegenwart und der abweichenden Vergangenheit herstellen (s. Sansom, Basil, Aborigines, Anthropologists and Leviathan, in: Noel Dyck [Hrsg.], Indigenous Peoples and the Nation-State. »Fourth World« Politics in Canada, Australia and Norway, St. John’s 1985, S. 67-94, hier S. 81; Duelke, »… same but different …«, S. 219-236; vgl. auch Aboriginal Land Commissioner, Finniss River Land Claim. Report by the Aboriginal Land Commissioner, Mr. Justice Toohey, to the Minister for Aboriginal Affairs and to the Administrator of the Northern Territory, Canberra 1981, S. 22; Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985 [1. Aufl., Paris 1925], S. 368). 48. Konzepte, die dem westlichen »Urheberrecht« ähneln, sind durchaus etabliert und finden ihren schöpferischen Ausdruck z.B. im »Finden« von Zeremonien, Liedern, Geschichten, Bildmotiven in der Malerei, Fertigkeiten und Techniken etc. Diese Rechte können vererbbar oder Gegenstand des Ritualhandels sein. 49. Im Oktober 1996 wurde der Rechtstitel des Missionslandes an einen Land Trust bestehend aus 27 Trustees übergeben. Zwei dieser 27 Trustees stammten aus der 188
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Für die Missionsbevölkerung basierte die so begründete und sehr wohl von veränderten Beziehungen zum Land kündende Landübernahme auf keiner ad hoc-Konstruktion50 von Traditionalität. Die evidenten Traditionszusammenhänge manifestierten sich für sie nicht allein im Rekurs auf die Heimatgebiete, sondern in der Kontinuität des eigenen Alltags und den Alltagspraxen. Der Mission mob sah sich als Gruppe mit einer lokal gebundenen Identität, pflegte einen distinktiven Lebensstil, bewahrte die Traditionen und hielt – ungeachtet der Missionare und gelegentlicher Unterbrechungen – von jeher an den eigenen religiösen Ritualen fest. Maßgebend und bestimmend für den Alltag auf der Mission aber waren nicht die sonst als so bedeutend erachteten rituellen Beziehungen zum Land, sondern die stillschweigende, wenngleich strikte Einhaltung sozialer Regeln, wie der Verwandtschafts- und Heiratsregeln bzw. der sozialen Etikette. Diese Regeln gewährleisteten und repräsentierten zugleich ein stabiles soziales Universum und stellten den Rahmen für kulturelle Kontinuität und traditionelle Orientierung. Auf der Mission folgten alle sozialen und kommunikativen Interaktionen (z.B. die geschlechtsspezifischen Sitzarrangements in Autos oder Räumen, der Austausch von Geschenken und Nahrungsmitteln, das Zeremonialleben, selbst Trinkgelage) diesen lange etablierten Regeln. Die Verwandtschaftsordnung51 systematisierte die soziale Welt, die normativen und sinnstiftenden »Funktionen« von Verwandtschaft gewährleisteten eine Stabilität, die den Orientierungsrahmen des Alltags sowohl konzeptionell als auch handlungsweisend vorgab. Dauernd wurde auf die traditionelle Verwandtschaftsordnung
Gruppe der ursprünglichen Eigentümer. Mit dieser Entscheidung wollte die Missionsbevölkerung zu erkennen geben, dass man das traditionelle Landeigentum dieser Gruppe anerkannte. Das Zahlenverhältnis machte jedoch auch deutlich, dass man den Sonderstatus der Missionsenklave besonders hervorheben wollte. Nach intensiven Diskussionen untereinander und mit den ursprünglichen Eigentümern, die bis zum Tage der geplanten Übergabe andauerten, gelangte die Missionsbevölkerung zu dem Schluss, dass sie vorerst nur eine zwölfjährige Pacht akzeptieren wollten - und nicht, wie ehedem geplant, einen freehold title (der die höchste Form des australischen Landeigentums darstellt). Die Verschiebung der endgültigen Entscheidung, so hofften die Missionsbewohner und die ursprünglichen Eigentümer, würde Zeit für die Suche nach adäquateren Lösungen geben. 50. Siehe auch Merlan, Francesca, The Limits of Cultural Constructionism. The Case of Coronation Hill, in: Oceania 61/4, 1991, S. 341-352. 51. Es handelt sich um ein Verwandtschaftssystem vom so genannten »Kariera-Typus«. Dieser steht für bilaterale Kreuzcousinenheirat, für die Klassifikation aller Verwandten jeder Generation in vier Gruppen (2 männliche und 2 weibliche) sowie für den Gebrauch reziproker Termini zwischen Großeltern und Enkeln. In der hier besprochenen Region fehlen jedoch die sonst für diesen Typus gängigen »Sektions- oder VierKlassensysteme« (Duelke, »… same but different …«, S. 116-126). 189
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verwiesen, auf die Regeln und Gebräuche, die in mythischer Zeit »gesetzt« worden waren: Man bestand darauf, dass »die Jungen« verwandtschaftlich korrekt heirateten, man hielt die rigiden Meidungsgebote und die Formen der korrekten Anrede ein, pflegte Scherzbeziehungen u.v.a.m. Verwandtschaft stand hier repräsentativ für die Kontinuität der Traditionen – unabhängig von Ort und Zeit. Sie stand für eine »konnektive Struktur«,52 die soziale und temporale Dimensionen miteinander verknüpfte, indem sie eine institutionale Ordnung über Generationen hinweg beschrieb, sie war Ausdruck einer symbolischen Sinnwelt,53 die stabil und dauerhaft schien, selbst wenn politische, historische und territoriale Innovationen Integrationen verlangten.54 Die zentrale, dominantgesetzte, normative und identitätsstiftende Bedeutung von Verwandtschaft und ihre im Alltag gelebte und von alters her stabile Regelhaftigkeit stand nicht nur für die real umgesetzte Authentizität und Wahrhaftigkeit der Traditionen, sie ließ zugleich auch jede Veränderung anderer Art minimal, minder relevant oder minder »deformiert« erscheinen.55 Als Legitimation ersten Ranges wurde ihr ob-
52. Assmann, J., Das kulturelle Gedächtnis, S. 16. 53. Berger, Peter/Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1984, 1. Aufl., Garden City, New York 1966, S. 100ff. 54. Im Beispiel über das »Straflager« (s.o. Fußnote 28) wurden die Rollen von klassifikatorischen Muttersbrüdern und Vatersschwestern erwähnt. Weder das Straflager noch die strafenden Rollen der Muttersbrüder bzw. Vatersschwestern galten als traditionell. Man erinnerte sich an die Zeit, als das Straflager gegründet wurde und an die Diskussionen darüber, dass eine nur begrenzte Auswahl unter den einzelnen Verwandtschaftskategorien zur Verfügung stand. Auf die klassifikatorischen »Großeltern« oder »Eltern« konnte nicht zurückgegriffen werden, da sie als »zu nah« verwandt und emotional als »zu involviert« galten. »In der alten Zeit«, so die Missionsbevölkerung, hatten »Onkel« und »Tanten« keine besonderen disziplinatorischen Funktionen, allerdings sah man in ihnen Personen, die eine gewisse soziale Distanz repräsentierten, die Respekt einflößten und zu Zeiten »rauh« agieren konnten, etwa bei Initiationen. Die Rückgriffe auf das traditionelle Verwandtschaftssystem, das heißt, auf die Rollen und Funktionen von spezifischen Verwandten, die aus anderen Kontexten hergeleitet wurden, dienten hier dazu, das »Lager« und die Rolle der Bestrafer zu institutionalisieren und zu legitimieren. 55. Siehe Assmann, Aleida, Fluchten aus der Geschichte. Die Wiedererfindung von Tradition vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Report Nr. 3/94 der Forschungsgruppe »Historische Sinnbildung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Struktur, Logik und Funktion des Geschichtsbewußtseins im interkulturellen Vergleich«, Bielefeld 1994, S. 18. Assmann folgend, werden »Deformationen« als Ergebnis der Wahrnehmungsbedingungen und Dominantsetzungen der jeweiligen Gegenwart begriffen. Da es keinen 190
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jektiver Sinn und kognitive Gültigkeit zugeschrieben.56 Ausgehend von dieser primären, bereits institutionalisierten Objektivation von Sinn konnten sekundäre Objektivationen legitimiert und in Sinnhaftigkeit transformiert werden, indem man Bedeutungen ungleichartiger oder divergierender Institutionen in bereits etablierte Sinnrahmen integrierte.57 Zusammen mit den Verweisen auf die stabilen und beständigen Bindungen zu den eigenen traditionellen Heimatgebieten reflektierte der Alltag auf der Mission mit seiner konsistenten und »ewigkeitsbewährten« Verwandtschaftsordnung wahre Kontinuität und diente als primärer Referent für Tradition, Traditionalität und Authentizität, ungeachtet der massiven historischen und territorialen Veränderungen, die man zur Kenntnis nahm, auch nehmen musste, und mit denen man zu leben verstand.
4. Vergangenheiten und Zeithorizonte Auf der Mission wusste man Tradition und Geschichte sowohl zu differenzieren als auch zu verbinden, auch wenn die Deutung der Übergänge mit gewissen Schwierigkeiten verbunden waren. Die Begründungsstrukturen für die Landübernahme zeigte, dass es kein »EntwederOder« gab, dass man sich auf »Vergangenheit« beziehen konnte, und das heißt, sowohl auf erinnerte Geschichte als auch auf erinnerte Traditionen. Das ließ Raum und Bezugspunkte für die Konzeption einer polychronen Vergangenheit, aus der je spezifische, kommunizierbare und transmittierbare Erfahrungen in die Gegenwart eingebracht werden konnten.58 Rechte und Praxen wurden aus unterschiedlichen Vergangenheiten hergeleitet, ohne diese selbst chronologisch festzulegen. Dabei negierte man nicht die Entwicklung der Gegenwart, sondern erklärte und legitimierte die entstandene Gegenwart mit Begrifflichkeiten der Vergangenheit, das heißt, mit dem Bestehen bleiben der Tradition und der Erinnerung an historische Ereignisse.59 Der Bezug auf eine
Standard überhistorisch verbindlicher Normen gibt, trägt der Begriff keine pejorativen Konnotationen. 56. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 100. 57. Ebd., S. 98f. 58. Vgl. auch Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, S. 25ff. 59. Dazu auch Toren, Christina, Making the Present, Revealing the Past. The Mutability and Continuity of Tradition as a Process, in: Man 23, 1988, S. 696-717, hier S. 712ff. 191
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solche polychrone Vergangenheit gewährt beides: Er gewährt den notwendigen Rahmen für Orientierung und Legitimation durch eine Konnotierung von Stabilität und er stellt ein Medium, Wandel konzeptionell zu inkorporieren und damit gelebte soziale Wirklichkeiten sinnvoll zu deuten. Für die Missionsbevölkerung war die Mission Erfahrungsort, der Raum sozialer Identität, diese galt es zu sichern. Die neuen rechtlichen Möglichkeiten, die sich durch das Übertragungsangebot der Kirche auftaten, konnten für diesen Zweck genutzt werden, auch sicherten sie formaljuristisch das ab, was möglicherweise (!) im Rahmen »traditioneller Naturalisierungsprozesse« Jahrzehnte länger gedauert hätte.60 Für die Missionsbevölkerung diente der Missions-Land Trust einer Zukunftsprojektion, über die man soziale wie raumgebundene Kontinuität erstellen und sichern wollte. Man wollte die Leben der (hier verstorbenen) Vorfahren und der (hier geborenen) Nachkommen an die eigene, hier verbrachte Vergangenheit und die Gegenwart binden.61 Der dahinterstehende Wunsch, die Vergangenheit mit der Zukunft zu vereinen und gewissermaßen Orientierung in der Zeit zu transzendieren, lässt sich, wie Koselleck62 es am Beispiel des frühneuzeitlichen politischen Zeitbewusstseins in Europa darstellt, durchaus mit dem Konzept einer »statischen Zeit« (»statischen Bewegtheit«) oder dem der erfahrbaren Tradition verbinden. Wenige Ethnologen würden widersprechen: Genau in einem solchen Transzendieren von Zeit liegt der begründende und stabilisierende Wert von Traditionen und traditionellen Zeitauffassungen: »Die Prognose impliziert eine Diagnose, die die Vergangenheit in die Zukunft einbringt«.63 Wandel, auch zukünftiger (unkalkulierbarer) Wandel, wird bei solchen Prognosen ausgeschlossen. Die Vergangenheit und die Zukunft werden in ihren Erscheinungsformen als gleichartig gedacht.64
60. Dazu Duelke, »… same but different …«, S. 224ff. 61. Siehe Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 32. 62. Ebd., S. 33f. 63. Ebd., S. 33. 64. Dazu Müller, Klaus E., Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens; ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt am Main, New York 1987, S. 142ff; vgl. Prigogine, Ilya, Die Gesetze des Chaos, Frankfurt am Main, New York 1995 (1. Aufl., Rom 1993), S. 7ff. Vermutlich sehr viel zögerlicher aber würden einige Ethnologen (im Einvernehmen mit orthodoxen Traditionalisten) diese Auffassung von »erfahrbarer Tradition« in Zusammenhang mit dem geplanten Land Trust der Missionsbevölkerung gelten lassen, auch wenn hier die Zielsetzung – die erinnerte Vergangenheit und die antizipierte Zukunft gleichartig erscheinen zu lassen – sehr ähnliche Formen annimmt. Anders als beim Konzept von (authentischen) »erfahrbaren Traditionen« würden hier wohl die Beurteilungen vielmehr auf »erfahrene Geschichte« und »historischen 192
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Ein solches Konzept der »statischen Zeit« bedeutet nicht zwangsläufig das Fehlen eines historischen Bewusstseins, oder dass Geschichte ausgeblendet wird, um sie zu »traditionalisieren«. Das Beispiel von der Mission sollte vielmehr Hinweise darauf geben, dass man durchaus bewusste Versuche unternimmt, erinnerte Geschichte – die eigenen Lebensgeschichten und die der Vorfahren – mit Traditionskomplexen in Einklang zu bringen, um einen sinnhaften Gegenwartskontext zu erstellen. Dabei wird auch die Kapazität von Traditionen als Handlungsmittel deutlich, mit Veränderungen, Wandel – und das heißt Geschichte – umzugehen. Die Vorstellungen von der »unwandelbaren, ahistorischen, traditionellen Aborigines-Gesellschaft« lassen sich, wie auch viele andere Auseinandersetzungen im Kontext der Landrechte zeigten, nicht aufrechterhalten. Die Einsichten, die man aus dem hier demonstrierten Umgang mit Landeigentum gewinnen kann, verdeutlichen eine notwendige Verschiebung der Perspektiven und die ebenso notwendige Präzisierung und Differenzierung des Traditionsbegriffs. Eine veränderte Sichtweise hieße auch für »den Fall Australien«, den fälschlicherweise unterstellten »Traditionalismus« zugunsten einer Vorstellung von »lebendigen Traditionen« aufzugeben. Die unpräzise theoretische Konzeptualisierung und daraus folgend die unpräzise Nutzung des Traditionsbegriffs, in welchem »Tradition«, um es in den Worten Aleida Assmanns auszudrücken, »ein noch weitgehend ideologisch belasteter oder wissenschaftlich unterbelichteter Begriff ist«,65 basiert auf der gängigen Gleichsetzung von Traditionen bzw. Traditionalität mit Traditionalismus. Die Fokussierung auf Traditionalismus (»Traditionen« genannt) ging Hand in Hand mit den Thesen über die vermeintliche »Geschichtslosigkeit«. Traditionen erstellen instrumentalisierbare und – trotz der ihnen zugeschriebenen Stabilität und Unveränderlichkeit – modifizierbare Vergangenheitsbezüge. In Traditionskontexten wird mit Veränderungen und Erneuerungen umgegangen, indem die innere Ökonomie umgebaut wird, indem kontinuierliche Aneignungen, Perspektivierungen, Umschreibungen von einem jeweiligen historischen Standpunkt aus vorgenommen werden.66 Der Umbau der inneren Ökonomie ist systemimmanent bereits angelegt: Einzelnen, je relevanten Systemelementen wird ein Vorrang eingeräumt, dadurch können Modifikationen und Veränderungen anderer Elemente als sekundär erachtet werden. Im Unterschied dazu ist es der rigide Traditionalismus (oder Fundamentalismus), der ein »total recall« und ein
Wandel« hinzielen und den »authentischen« Traditionsgehalt in Zweifel ziehen. Genau darin lag auch das Problem für die Missionsbevölkerung. 65. Assmann, A., Zeit und Tradition, S. 88. 66. Assmann, A., Fluchten aus der Geschichte, S. 17. 193
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»Alles in Allem« beschwört,67 der sich durch die Absolutsetzung aller Traditionen gleichzeitig auszeichnet und sie als unabdingbare Voraussetzung der eigenen Kultur bzw. Zivilisation definiert. Dass sich in Krisensituationen und unter Legitimationsdruck »warm-heiße« Traditionen in »kalten« Traditionalismus umwandeln können,68 zeigen – gerade in letzter Zeit – keineswegs nur die Beispiele aus der »zweiten«, »dritten« oder »vierten Welt«, wenn die Vergangenheit als absolut und dominant gesetzt, kanonisiert und in einen quasi allumfassenden »traditionalistischen Gefrierzustand« überführt wird. Nach Friedman69 ist die Konstruktion von Vergangenheit ein Unternehmen, in dem Ereignisse selektiv geordnet und in eine Kontinuitätsbeziehung zu einem gegenwärtigen Thema gesetzt werden. Dabei soll gleichzeitig der Eindruck erweckt werden, dass es sich um eine in die Gegenwart und in die Zukunft führende Entwicklung handelt. Die selektive Ordnung dieses Unternehmens lässt sich mit Ricœur70 vor dem Hintergrund einer weitergefassten Dialektik des historischen Bewusstseins so verstehen, dass das Epitheton »historisch« keine spezielle Wissenschaft (namentlich die Geschichtswissenschaft), auch nicht notwendig Chronologie, sondern the human condition meint. In diesem Sinne, so Ricœur71 (und dabei wahrscheinlich ganz im Einvernehmen mit der Missionsbevölkerung), bezieht sich der Umgang mit einer polychronen Vergangenheit auf eine Vergangenheit, die ihren doppelten Sinn »von einmal gewesen« und »nicht länger sein« nur in Beziehung zur Zukunft erhält.
67. Ebd., S. 18. 68. Vgl. dazu Lévi-Strauss, »Primitive« und »Zivilisierte«, S. 33-40. 69. Friedman, Jonathan, The Past in the Future. History and the Politics of Identity, in: American Anthropologist 94/4, 1992, S. 837-859, hier S. 837. 70. Ricœur, Paul, Memory – Forgetfulness – History, in: Zentrum für interdisziplinäre Forschung-Mitt. 2, 1995, S. 3-12, hier S. 3. 71. Ebd. 194
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HANNE STRAUBE: ZEITLICHE DIMENSIONEN SINNVOLLEN LEBENS
Zeitliche Dimensionen sinnvollen Lebens in einem westanatolischen Dorf Hanne Straube
»Deine von der Vorsehung bestimmte Todesstunde (ecel) steht, seitdem dich deine Mutter geboren hat, auf deiner Stirn. Alles, was passieren wird, ist dort von Gott festgehalten. Im Leben stellt sich heraus, was vorbestimmt ist. Irgendwann ist dann die Frist verstrichen. Speise und Trank zur Neige gegangen, die Zeit gekommen.«1 Hasibe B., persönl. Mitt.
1. Das Konzept Während meiner Feldforschungen zum Thema »Reifung und Reife«, die sich mit den lebenslangen Prozessen der »Einverleibung von Strukturen«2 befassten, wurde ich häufig mit dem Glauben an ein von Gott vorherbestimmtes Schicksal (kader) konfrontiert. In Bölcek, 3 dem
1. Als eine der Grundlagen im Islam sieht auch die Orientalistin Annemarie Schimmel (Schimmel, Annemarie, Stern und Blume. Die Bilderwelt der persischen Poesie, Wiesbaden 1984, S. 188) die Vorherbestimmung: »Alles ist schon in Urewigkeit auf die Wohlverwahrte Tafel geschrieben.« 2. Eine Bezeichnung, die ich von Bourdieu (Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1979, S. 189) übernehme. 3. Ich hielt mich verschiedene Male dort auf: von November 1987 bis Oktober 1988, im April und Mai 1995 für sechs Wochen und zu kurzen Besuchen im April 1993 und im Juli 1997. Bölcek mit etwa 2500 Einwohnern wird von der Größenordnung her bereits als belediye, Stadtgemeinde, eingestuft. Da die Dorfbewohner jedoch weiterhin von »unserem Dorf« sprechen, schließe ich mich dem an. Während meiner Feldforschung ging ich nach einem multimethodischen Ansatz vor: Neben der teilnehmenden Beobachtung führte ich Tagebuch, erstellte Gedächtnisprotokolle und Tonbandinterviews, filmte und photographierte. In meiner Befragung konzentriere ich mich auf die Bewohner der 195
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Dorf, in dem ich arbeitete, bieten der Koran und die Sunna4 Zuversicht auf ein jenseitiges Leben, wirken zeit- wie sinnkonstituierend. Infolgedessen kam ich immer wieder mit Zeiterfahrung, Sinn- und Identitätsbildung in Berührung. Zeit wird als eine fundamentale, allgemeine und elementare Dimension des menschlichen Lebens gesehen und erlebt. »Sie wird als Werden und Vergehen, Geburt und Tod, Wandel und Dauer erfahren und muss als Erfahrung durch Deutungsleistungen des menschlichen Bewusstseins so bewältigt werden, dass der Mensch sich in ihr orientieren, sein Handeln und auch sein Leiden sinnhaft auf sie beziehen kann.«5 Leben bedeutet, sich unaufhörlich zu trennen und wieder zu vereinigen, Schwellen zu überschreiten, Veränderungen in Form und Zustand zu erfahren. Es stellt sich die Frage, wie sich die Menschen im Dorf selber deutend positionieren. Die gesellschaftlichen, kulturspezifischen Ordnungssysteme sind besonders während der sozialen, räumlichen und zeitlichen Übergänge, die instabil und riskant erscheinen, durch Gefahren bedroht. Tabus gelten als Mittel zum Ordnungserhalt und wehren »Störfaktoren« ab. Zeit wird dabei als kollektives Ordnungsprinzip sinnbildend eingesetzt. Neben den kollektiven existieren im Dorf individuelle, biographisch beeinflusste Zeitkonzepte. Seit 1923 ist die Türkei ein laizistischer Staat. Durch einschneidende Maßnahmen wurde versucht, religiöse Betätigungen einzuschränken.6 In Bölcek ist der Islam weiterhin zeit-, sinn-, identitätsund gemeinschaftsbildend präsent. Diesseitiges wird durch Jenseitiges begründet. Denken und Handeln sind transzendenzbezogen. Die Reli-
Straße, in der ich selbst lebte. Auch wenn es sich bei den von mir Befragten um eine eingeschränkte Gruppe handelte, glaube ich, dass sie und ihre Ansichten und Verhaltensweisen relativ typisch für die der Dorfbewohner im Landkreis Bergama sind. 4. Von den Muslimen in der Türkei sind die meisten Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Kurz nach dem Tod von Muhammad kam es bereits zur Spaltung der Muslime. Die Sunniten, deren Namen sich von Sunna, d.h. den Traditionen um den Propheten, ableitet, fordern, der Kalif müsse aus dem Stamm des Propheten gewählt werden. – Auch unter sunnitischen Dörfern gibt es aufgrund ihrer Geschichte, ihrer regionalen Lage und ihrer ethnischen Zusammensetzung erhebliche Unterschiede. 5. Rüsen, Jörn, Die Kultur der Zeit-Versuch einer Typologie temporaler Sinnbildungen, in diesem Band. 6. Von Staatsseite wollte man durch das Gesetz Nr. 677 von 1341/1925, das die Aufhebung der Orden und religiösen Titel verfügte, durch die Schließung der Klöster und Türben, später auch die Zerstörung vieler Stätten in den Jahren 1939/40, die alle die Grundlage für den Heiligenkult bildeten, die Gelübdefrömmigkeit in der Türkei beseitigen (vgl. Schimmel, Annemarie, Das Gelübde im türkischen Volksglauben, in: Welt des Islam, NS 6, 1959, S. 71-90, hier S. 72). 196
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HANNE STRAUBE: ZEITLICHE DIMENSIONEN SINNVOLLEN LEBENS
gion hilft den Menschen, die Welt zu erklären, ein richtiges, gutes und sinnvolles Leben zu führen. Neben der islamischen Ordnung bestimmen Sitten und Gebräuche das Leben. Sitte (âdet) und Fügsamkeit (uymak) stehen im Kern ihrer Weltanschauung.7 Sie bilden mit dem Islam eine Ordnung symbolischer Orientierungen, die ihrerseits Effizienz verbürgen und magischen Zeitkriterien gehorchen,8 und es scheinbar ermöglichen, bereits Geschehenes ungültig zu machen, Zukünftiges vorauszusehen, d.h. Zeit aufzuheben.9 Die Ordnung wird begründet mit Entstehungstheorien, die sich auf die Geschichte der Schöpfung, die Zeugung des Menschen, die Soziogenese der Gruppe, die Topogenese des besiedelten Raumes etc. beziehen. Wird es kritisch, kommt es häufig zu Mythenbildung. Initialriten dienen als Quasi-Schöpfungsakte dazu, versehrte Ordnung immer wieder zu restituieren. Hier wird deutlich, dass sich die »Erfahrung von Zeit nicht von ihrer Deutung trennen lässt, sondern von ihr abhängt, durch sie bestimmt wird, wie natürlich auch umgekehrt die Deutung von dem bestimmt wird, was jeweils geschieht und wahrgenommen wird«.10 Zusätzlich zu den bereits erwähnten religiösen, magischen, biologischen, sozialen und biographischen Qualitäten der Zeit werden aus »Naturzeit« und durch kalendarische Ereignisdatierung Sinn gebildet, der sich auf äußere und innere Zeiten bezieht und diese differenziert. Menschen leben in wechselnden – sozialen, zeitlichen und räumlichen – Erfahrungswelten mit direkten und indirekten Bezügen. »Natürliche – physikalische und biologische –, subjektiv-erfahrene und soziale Zeit
7. Siehe Sürür, Ayten, Ege Bölgesi Kadın Kıyafetleri, Istanbul 1983, S. 16. 8. Nach der von Müller (Müller, Klaus E., Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt am Main, New York 1987, S. 376) entwickelten Theorie ist »magisches« Verhalten nur ein weiteres Ausdrucksmittel menschlicher Identität, der Wunsch, Einfluss zu nehmen auf den Verlauf des Lebens, das durch absehbare Einschnitte, aber auch durch unvorhergesehene Brüche oder Schicksalsschläge bestimmt ist. Magische Denk- und Verhaltensweisen haben eine identitätsstiftende und -stabilisierende Funktion. Sie entlasten den Menschen, stärken sein Gefühl und seine Hoffnung. Magie ist jedoch nicht nur in kritischen Situationen relevant, sondern durchdringt mit unterschiedlicher Intensität alle Verhaltensbereiche, auch die ganz »selbstverständlichen«. 9. Siehe Jeggle, Utz, Ordnungsvorstellungen im Aberglauben, in: Ethnopsychoanalyse, Glaube, Magie, Religion, Bd. 1, Frankfurt am Main 1990, S. 88-107, hier S. 88f. 10. Rüsen, Jörn, Die Kultur der Zeit-Versuch einer Typologie temporaler Sinnbildungen, in diesem Band. 197
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interferieren und differieren zugleich.«11 Man bezieht sich auf mythische und mystische Zeit, auf den historischen Sinn von Zeit, d.h. auf Geschichte, auf die Verzeitlichung im Raum bzw. die Verräumlichung von Zeit, also auf Vollzüge von Zeitsinn im Raum.
2. Die Erfahrungsräume Zeit wird sinnbildend gedeutet, um soziale Ordnungen zwischen Geschlechtern und Generationen, Erstankömmlingen und Nachzüglern zu begründen. Sie hat vereinende bzw. scheidende Funktionen. Dies geschieht durch das Prioritäts- bzw. Senioritätsprinzip. Die Religion bedient sich ihrer, um die Überlegenheit des Mannes zu manifestieren. Die Koransure 39:6 besagt, dass Gott zunächst ein einziges Wesen (Adam) erschaffen habe; »dann machte Er aus diesem seine Gattin«.12 Da der zuerst geborene Mann der ältere Erdenbürger ist, ist der Status des Älteren höher als der des Jüngeren. Im Türkischen bezeichnet das Wort adam »Mensch« und »Mann« zugleich. Männer als Ersterschaffene gelten als vollkommener und stärker, Frauen als Zweiterschaffene als schwach, inferior, defizitär, als »Mängelwesen«. Der Koran legitimiert die Vorherrschaft des Mannes.13 Die höherwertigeren Männer müssen die untergeordneteren Frauen schützen. Jüngere müssen Älteren Achtung (saygı) entgegenbringen. Ältere genießen Vorrang, sie werden zuerst begrüßt und bedient. Im Beisein von Älteren dürfen Jüngere nicht »herumlümmeln«, rauchen oder alkoholische Getränke einnehmen. Sie haben aufzustehen, ihnen die Plätze zu überlassen, ihnen die Hände zu küssen, nur zu sprechen, wenn sie dazu aufgefordert werden. Frauen erlangen als Ältere mehr Rechte, nähern sich an Männer an, können alleine weggehen, mitreden, Zigaretten rauchen etc. Das Alter drückt sich auch im Körper und seiner Schulung aus. Stimme und Gang sollten gemessen und nicht überhastet sein. Ältere sollen
11. Rustemeyer, Dirk, Zeit und Zeichen, in diesem Band. 12. Yücelen, Yüksel, Was sagt der Koran dazu? München 1986, S. 61. Siehe auch Paret, Rudi, Der Koran, Übersetzung, Bd. 1, Stuttgart 1989, S. 322: »Er hat euch aus einem einzigen Wesen (d.h. aus dem ersten Menschen [Adam]) geschaffen und hieraus aus ihm das ihm entsprechende andere Wesen (als seine Gattin) gemacht […].« 13. In Sure 4:34 heißt es: »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen (als Morgengabe für die Frauen?) gemacht haben« (Paret, Der Koran, S. 64). Männer sind deshalb die Vermittler zur sakralen Welt. Sie verwalten Moscheen und Medresen; Kulte und Rituale liegen in ihrer Hand. 198
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HANNE STRAUBE: ZEITLICHE DIMENSIONEN SINNVOLLEN LEBENS
insgesamt oturaklı, gesetzt bzw. besonnen sein.14 Doch eine Spruchweisheit lautet: Der Verstand liegt nicht im Alter, sondern im Kopf. Das Alter bestimmt die Heiratsfolge. Erst wenn die ältesten verheiratet sind, sollten die nächst jüngeren Geschwister heiraten. Verwandtschaft wird über Zeit definiert. Als miteinander verwandt gelten Personen über »sieben Generationen« (yedi kus¸ak). Zeit und Raum beziehen sich aufeinander, stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander. Die Welt wird durch beide wahrgenommen und erfahren. Die Zeit formt den Raum durch Bewegungsund Entwicklungsprozesse. Raumperzeption, Raumgefühl, Raumsinn, die Handhabung des Raumes wird durch Zeit bestimmt. Orte und Gegenstände im Raum tragen Kulturgeschichte in sich oder verweisen auf sie. Der Raum ist also niemals nur eine »Bühne der Gegenwart«,15 sondern ist bestimmt durch Zeitlichkeit und ist durchtränkt durch die damit einhergehende menschliche Erfahrung. Hinzu kommt der faktische Raum, der, betreten Menschen die Bühne, geordnet wird durch ihre Gedanken, die sich an individuellen und kollektiven Zeitkategorien orientieren. Alles menschliche Handeln, selbst nur Gedachtes und Geplantes, spielt sich in einem konkreten oder vorgestellten Raum ab. »Es ist immer ein bestimmter Raum, den der Mensch mit Werten besetzt, und auch seine utopischen Phantasien zielen noch auf einen konkreten Raum, in dem sich sein Wünschen erfüllen kann«.16 Letztendlich kann niemand still im Raum sitzen, ohne dass die Zeit vergeht.17 Im untrennbaren Zusammenhang von Zeit und Raum, im Chronotopos (»Raumzeit«), drückt sich die Zeit »als vierte Dimension des Raumes« aus.18 Da alles soziomorph perspektiviert wird, erweitert sie sich »um eine fünfte: die soziale Dimension«.19 Das interdependente Verhältnis zwischen Zeit und Raum zeigt sich auch in der türkischen Sprache. Das Adjektiv uzun, »lang«, bezieht
14. Siehe Straube, Hanne, Reifung und Reife. Eine ethnologische Studie in einem sunnitischen Dorf der Westtürkei, Berlin 2002, S. 55. 15. Burckhardt, Martin, Metamorphosen von Raum. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt am Main, New York 1994, S. 9. 16. Greverus, Ina-Maria, Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt am Main 1972, S. 51. 17. Siehe Elias, Norbert, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1989, S. 75. 18. Bachtin, Michail M., Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt am Main 1989, S. 7. 19. Müller, Klaus E., Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen, Göttingen 1999, S. 99. 199
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sich z.B. sowohl auf das Zeitliche wie auf das Räumliche, das Substantiv müddet bezeichnet den Zeitraum und das Substantiv aralık sowohl den Zeit- wie den Raumabstand. Aralık ist auch die Bezeichnung für den Monat Dezember. Die Raumnutzungsordnung ist so immer auch durch Zeit bestimmt. Als Differenzierungsmittel dienen horizontale und vertikale Orientierungen. In der Moschee sitzen die älteren Männer vorne, die jüngeren hinten. Frauen sind dort nur am Freitagmittagsgebet anwesend, wenn, wie zur Beschneidung, zum Gedenken der Toten, zum Aufbruch zur Pilgerfahrt und zum Militär, mevlut20 gebetet wird. Sie sitzen dann auf der hinten gelegenen Galerie im ersten Stock. Es nehmen jedoch nur ältere Frauen teil. Im häuslichen Bereich haben Ältere höherwertigere Plätze inne, die Jüngeren inferiore; sie sitzen z.B. zu deren Füßen. Die Grenze im Raum muss innerhalb der Generationen und Geschlechter, so etwa beim Kommen eines jeden Gastes, neu gezogen werden. »Ehrenplätze« gebühren auch den Ahnen, die eine zeitliche Kontinuität gewährleisten. Die Fotos der Verstorbenen hängen an der vom Eingang aus am besten einsehbaren Wand. Räume legitimiert man zeitlich: Topographie und Topogenese gehören zusammen. Nur wer sich sicher ist, dass ihm niemand sein Dorf, sein Grundstück und sein Haus streitig machen kann, fühlt sich geborgen. Für die Bewohner ist deshalb der Nachweis wichtig, dass ihnen alles seit langer Zeit gehört.21 Je älter die Genealogie, desto stärker die Legitimation. »Unsere Vergangenheit reicht circa 450 Jahre zurück. Die Urväter der heutigen Familien Yakup agˇalar und Hasan agˇalar haben das Dorf gegründet« (Ismail Hakkı B., persönl. Mitt.). Einer Quelle aus dem Jahre 1945 zufolge gehört der Brunnen nach islamischer Zeitrechnung aus dem Jahre 1077 (1699) und die Moschee aus dem Jahre 1085 (1707) zu den ältesten Bauwerken.22 Die Entstehung der Nachbarorte Göçbeyli und Alibey schreibt man den ersten osmanischen Stämmen zu.23 Der Gründer des Nachbarorts Poyracık soll Timur Lenk gewesen sein.24
20. Mevlut ist ein Gedicht, das sich auf die Geburt des Propheten Muhammad bezieht und das zu seinem Geburtstag und zu anderen wichtigen Anlässen verlesen wird. 21. Nach Sürür (Sürür, Ege Bölgesi Kadın Kıyafetleri, S. 16) sind die Bewohner die Nachfahren der ersten sesshaften anatolisch-türkisch-islamischen Gemeinde dieser Gegend, gewissermaßen die ersten Türken, die sich in Anatolien ansiedelten. 22. Siehe Bayatlı, Osman, Bölcek Köy – Bergama’da köyler, Bergama 1945, S. 6. 23. Den Stämmen der Osman-, Mente¸se- und Aydınogˇulları (Kadri B., persönl. Mitt.). 24. Timur Lenk = Tamerlan, der zwischen 1370 und 1405 zum Herrscher von ganz Mittelasien wurde. Ismail Hakkı B. (persönl. Mitt.): »Timur Lenk kam mit seinem 200
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Die Erstsiedler haben mehr Rechte. Höher im Ansehen steht, wer altansässig (eski yerli) ist. Er gilt als verwurzelt (köklü). In echten Dorfgemeinden (muhtarlık) unter 2000 Einwohnern darf ohne Genehmigung des Ältestenrates, so Kadri B. (persönl. Mitt.), niemand zuziehen. Nach fast 100 Jahren werden Zugewanderte, wie etwa die aus Thrakien, noch immer als solche bezeichnet. Die 70-jährige Hasibe B., die mit Fünfzehn einheiratete, gilt heute noch immer in problematischen Situationen für Altansässige als Fremde (yabancı).25 In jüngster Zeit hat sich das Alterskriterium merklich relativiert. Einfluss darauf hat die höhere Bildung der Jüngeren durch den längeren Schulbesuch. Huriye D. (persönl. Mitt.): »Die Jugend heute braucht uns Ältere nicht mehr. Sie sagen, sie erführen es genauer aus den Büchern. Es bleibt nicht mehr viel, was sie von den Älteren lernen können.« Häufig bleibt der Achtungserweis deshalb rein formal. »Unabhängig davon, ob man die Älteren liebt, man achtet sie, auch wenn man innerlich keine Achtung empfindet« (Seçkin B., persönl. Mitt.). Jüngere reklamieren im Dorf, dass sie, als Vertreter der Gegenwart, die fortschrittlichere Zeit präsentieren, und weisen den Älteren die Vergangenheit als die rückschrittlichere Zeit zu. So kritisiert z.B. Kadriye Ç. (persönl. Mitt.) den höheren Status lediglich aufgrund des biologischen Alters. Ältere seien rückständig (geri kafalı), sie selber schätzt sich als moderner ein. Ältere, wie der 70-jährige Kadrı B., sehen, dass ihr Stellenwert schwindet. »Alle Jüngeren sind heute in Wirklichkeit klüger als wir. Die meisten Älteren haben das akzeptiert. Es gibt mehr, die jünger sind als wir. Du siehst die Arbeit, die ein Jüngerer macht, du vergleichst sie damit, wie du sie machst, und siehst, dass es so, wie er sie macht, besser ist. Dann muss man sich geschlagen geben.«
3. Die kalendarische Zeitregulierung Namentlich auf dem Land dienen den Menschen immer auch natürliche Geschehensabläufe zur Abstimmung ihrer Aktivitäten, wie die Bewegungen von Sonne und Mond. Dies geschieht im religiös-islamischen, im traditionell-bäuerlichen und im weltlich-staatlichen Kalender, wobei sich der erstere nach dem Mond, die beiden letzteren nach der Sonne richten.26 Zusätzlich prägen Geschichte und Traditio-
Heer bis dorthin und sagte ›diese kleine Stelle hier‹ (burası, buracık) und drehte sich herum, daraus wurde dann Poyracık.« 25. Das Wort yaban wird auch für Wildnis verwandt, wodurch fremd und feindlich nahe beieinander liegen. 26. Siehe dazu Straube, Hanne, »Dreimal fünfzig und der Sommer ist da.« Jahresabläufe im türkischen Dorf Bölcek Landkreis Bergama Westtürkei, in: Max Matter 201
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nen die Kalender. In ihnen lassen sich Spuren älterer Kalender in Form von Synthesen oder Überlagerungen erkennen.27 In Kalendern zeigt sich Sinnbildung als kulturelle, im weltlichstaatlichen und im religiös-islamischen Kalender auch als politische Praxis. Hier regeln Zeitordnungen die gemeinsamen Aktivitäten der Menschen und sind zugleich Herrschaftsmittel. Kalender ermöglichen Zugehörigkeit und Abgrenzung. So exkludiert der religiös-islamische (sunnitische) Kalender die im Dorf und in der Gegend lebenden alevitischen Gruppen,28 wie z.B. die Çepni,29 Yöruken (Yörükler)30 und »Zigeuner« (Çingeneler)31. Man verweist darauf, dass sie sich nicht rituell reinigen und nimmt deshalb auch an den Festtagen keine Nahrungsgaben von ihnen entgegen. Der weltlich-staatliche Kalender mit seinen nationalen Daten grenzt wiederum die Angehörigen anderer ethnischer
(Hrsg.), Fremde Nachbarn. Aspekte türkischer Kultur in der Türkei und in der BRD, Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Bd. 29, Marburg 1992, S. 37-62. 27. Siehe Straube, Reifung und Reife, S. 362f. 28. Die Aleviten verehren den Heiligen Ali, den Schwiegersohn des Propheten Muhammad, von dessen Namen sie den ihren ableiten. Die Schiiten, deren Name von Schia, Partei, kommt, behaupten, dass der Kalif von der Familie Alis abstammen müsse. – Die Angaben über die Anzahl der Aleviten in der Türkei variieren. Sie reichen von 10 Prozent der Gesamtbevölkerung bis hin zu 30-40 Prozent (Siehe Andrews, Peter Alford [Hrsg.], Ethnic Groups in the Republic of Turkey, Wiesbaden 1989, S. 57). Kehl-Bodrogi geht von 20 Prozent aus (Siehe Kehl-Bodrogi, Krisztina, Das Alevitentum in der Türkei: Zur Genese und gegenwärtigen Lage einer Glaubensgemeinschaft, in: Peter Alford Andrews [Hrsg.], Ethnic Groups in the Republic of Turkey, Wiesbaden 1989, S. 503-510, hier S. 503). – In der Lebensführung von gläubigen Sunniten und Aleviten bestehen erhebliche Unterschiede. Sunniten halten die Aleviten oft für Ungläubige, da sie, statt nach den Regeln des Koran zu leben, lockeren Traditionen und dem eigenen Gewissen folgen. Sie verrichten weder das rituelle Gebet, noch pilgern sie nach Mekka, sie fasten nicht im Fastenmonat Ramazan, sondern führen das zwölftägige Muharrem-Fasten durch. In alevitischen Dörfern gab es keine Moscheen, bis diese durch Zwangsmaßnahmen des Staates erbaut wurden. 29. Çepni sind gegen Mitte des 18. Jahrhunderts mit anderen TurkmenenStämmen nach Westanatolien eingewandert (s. Kehl-Bodrogi, Krisztina, Die Kızılba¸s/ Aleviten. Untersuchungen über eine esoterische Glaubensgemeinschaft in Anatolien. Islamkundliche Untersuchungen, Bd. 126, Berlin 1988, S. 86f.), wobei Çepni-Gruppen auch innerhalb der sunnitischen Bevölkerung auftreten. 30. Yöruken, früher Nomaden, leben vielfach heute noch als Viehzüchter. Es gibt sowohl alevitische wie sunnitische Yörüken (vgl. Andrews, Ethnic Groups in the Republic of Turkey, S. 58). 31. Es gibt verschiedene Eigen- und Fremdbezeichnungen. Sie sind religiös unterschiedlich orientiert, sowohl sunnitisch, alevitisch wie auch christlich (s. Andrews, Ethnic Groups in the Republic of Turkey, S. 140). 202
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Gruppen aus, wie z.B. Armenier und Kurden.32 Kurden, die in Bölcek als Saisonarbeiter tätig sind, werden auch dort als Bergtürken (DagˇTürkleri) oder aus Menschen aus dem Osten (dogˇlu) bezeichnet. Sie haben aufgrund ihrer Geschichte und ihrer spezifischen Erfahrung mit dem türkischen Nationalstaat beim Feiern der Gedenktage Schwierigkeiten. Auch heute noch darf in der Türkei das Kurdische nicht an Schulen und Universitäten gelehrt werden.33 Kalender strukturieren Wahrnehmung und normatives Verhalten, sie besitzen ihre eigenen Funktionen und Wendezeiten (auf letztere werde ich später eingehen). Der staatliche Jahreskalender basiert zwar auf dem durch die Republik eingeführten »europäischen« Zeitsystem, doch im dörflichen Leben hat – wie bereits eingangs erwähnt – der religiös-islamische größere Bedeutung. Demgegenüber hat das traditionell-bäuerliche Zeitsystem bei der jüngeren Bevölkerung immer weniger Gültigkeit. Unterschiedliche Zeitregime koexistieren also und erfordern entsprechend flexible Synchronisationen. Mehrere zeitliche Dimensionen kommen zum Tragen. Die Gegenwart findet als erfahrene Lebenswelt das größte Interesse; sie folgt den bewährten Zeitorientierungssystemen. Die Vergangenheit – als Natur- oder nationale Zeit – prägt als vorgängiger Erfahrungsraum die Gegenwart, während die Zukunft den Erwartungshorizont bildet, sei es im religiös-islamischen oder traditionell-bäuerlichen Kalender: Wer nach den islamischen Vorschriften handelt, erlange Verdienste fürs Jenseits, wer zur richtigen Zeit aussäe, bekäme eine gute Ernte, das Wetter der Gegenwart verweise auf das in der Zukunft.34 Die Kalender
32. Im Osmanischen Reich wurden Muslime von Nichtmuslimen unterschieden; die Ordnung war nicht ethnisch, sondern religiös begründet. Osmane konnte jeder werden, unabhängig von der ethnischen Herkunft. Die Annahme des islamischen Glaubens war Voraussetzung. Seit dem 9. April 1928, als die Türkei laizistisch wurde, wurden die Angehörigen aller nichtislamischen Religionen zu ebenbürtigen Staatsbürgern mit denselben Rechten und denselben Pflichten. Die türkische Verfassung kennt jedoch keine ethnischen Minderheiten. Nur der Vertrag von Lausanne von 1923 schützt drei nichtmuslimische Gruppen ausdrücklich: Juden, Griechen und Armenier. 33. Die circa 15 Mio. Kurden der Türkei bilden die größte ethnische Minderheit, werden jedoch nicht als solche anerkannt. »Die kurdische Frage« ist so alt wie der Nationalstaat. Die Kurden wurden zu »Türken« deklariert. Amtssprache wurde Türkisch, Kurdisch war bis vor kurzem in der Öffentlichkeit verboten. Bereits nach dem Kurdenaufstand des ¸Seyh Sait von 1925, der sich gegen den türkischen Nationalismus richtete, und den der Staat brutal niederschlug, wurden circa 1 Mio. Kurden in westliche Provinzen der Türkei umgesiedelt. 34. Eine Wetterprognose heißt, wenn es um den 15. August schon kühl ist, würde der Winter plötzlich und früh kommen. 203
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ordnen sinnträchtige Ereignisse im zyklischen Rund des Jahreslaufs. Sie erfüllen die Zeit mit Sinn, wie sie Sinn aus ihr schöpfen. Pragmatisch macht der traditionell-bäuerliche Kalender Sinn, indem er dem Bauern konkrete Handlungsanleitungen gibt, um die Naturzeit möglichst ökonomisch zu nutzen, etwa wann die Bäume gesetzt, die Schafe geschoren, wann gesät und geerntet werden soll. Das bäuerliche Jahr umfasst zwei Hauptphasen:35 das Winterhalbjahr (kasım) mit 179 Tagen (vom 8. November bis zum 5. Mai), und das Sommerhalbjahr (hızır) mit 187 Tagen (vom 6. Mai bis zum 7. November).36 Das erste dient handwerklichen Tätigkeiten, das zweite der Landwirtschaft. Der Kalender markiert die schrittweise Wiederbelebung der Natur im Frühling, die sich in drei Phasen (cemre) vollziehe: dem Wärmeanstieg in der Luft (ab 20. Februar), in den Gewässern (ab 27. Februar) und in der Erde (ab 5. März). Mit der Zeit verändert sich die Natur.37 Alles hat seine Zeit. Eine Bauernregel heißt: Wenn es im April regnet und im Mai die Sonne scheint, gibt es eine gute (Getreide-)Ernte (Nisan yagˇar sap olur, mayıs cagˇar çeç olur). »Der Aprilregen ist sehr wertvoll, der Mairegen für den Bauern nicht gut. Im Mai ist alles erblüht, die Blüten können vernichtet werden« (Kadri B.). Man wünscht, im April möge es ohne Unterlass regnen, im Mai möglichst nicht (Nisanda dinmezsin, Mayısda inmezsin). Gefeiert wird nicht die Zeitenwende vom Sommer- zum Winter-
35. Die Zweiteilung des Jahres richtet sich nach der alten, bei vielen Kulturen – darunter auch bei den mongolisch-türkischen Völkern – verbreiteten Jahresteilung nach der Konstellation der Plejaden. 36. Siehe Gökalp, Altan, Hızır, Ilyas, Hıdrellez: Les Maitres du temps, les temps des hommes, in: Michèle Nicholas (Hrsg.), Quand le crible était dans la paille, Paris 1978, S. 212-231, hier S. 215. 37. Als Erfahrungswerte werden folgende Daten angegeben: der Zeitpunkt, ab dem sich die Lebewesen vereinen (3. Februar), die Bäume gesetzt werden (16. Februar), das Wasser in die Bäume einschießt (2. März), die Vögel zurückkehren (zunächst die Ankunft der Störche ab dem 6. März, dann die der Schwalben ab dem 15. März) und die Käfer sich wiederbeleben (25. März). Ab dem 8. März beginnt man die Bäume zu veredeln. Ab dem 26. März kämen die Schwarzen Milane. Das Grünwerden der Bäume finge ab dem 30. März an, die Nachtigallen würden ab dem 4. April singen. Ab dem 24. April sollen die Weinfelder gehackt werden. Ab dem 26. Mai nähme bereits das Grundwasser ab, ab dem 28. Mai finge die Wärmeperiode an, ab dem 29. Mai werden die Schafe geschoren. Ab dem 31. Mai würde es ganz heiß, und ein leichter, vom Meer kommender Wind namens Meltem würde wehen. Ab dem 3. Juni wehe ein Wind namens Spross (filiz), der die Sprösslinge abreiße. Ab dem 4. Juni ziehe sich das Wasser aus dem Boden zurück. Ab dem 7. Juni sei Erntezeit, und das Getreide würde gemäht, ab dem 8. Juni würde Reis angepflanzt, ab dem 18. Juli nähme die Hitze zu; die heißesten Tage lägen zwischen dem 1. August (eyyam–i bahur) und dem 7. August (eyyam–i bahup) etc. 204
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halbjahr (vom 7. auf den 8. November), sondern die vom Winter- zum Sommerhalbjahr, die Nacht »zwischen den Zeiten« vom 5. auf den 6. Mai und der erste Tag des Sommerhalbjahres, der 6. Mai, der hıdrellez38 genannt wird. Der Übergang dient zur Rekonstituierung bzw. der symbolischen Neuschöpfung des Lebens. Er verleitet den Menschen zu versuchen, magisch Einfluss auf die nächste Zeitphase zu nehmen: das Wiederergrünen der Natur, die Reifung der Früchte und das eigene Wohlergehen. Am Vorabend zündet man nach Einbruch der Dunkelheit ein Feuer an, dem man eine apotropäische und kathartische Eigenschaft zuschreibt. Man überspringt es und befreit sich damit von allem Unreinen und Unheilvollen, auch von Krankheit. Häuser und Backöfen werden neu gekalkt, ein gründlicher Hausputz vorgenommen und die Öfen abgebaut. Am 6. Mai zieht man mit Körben voller Speisen in ein nahegelegenes Wäldchen, wo geschaukelt und musiziert wird.39
38. Es gibt verschiedene Auffassungen über die Etymologie von hıdrellez. Der Turkologe Bazin (Bazin, Louis, Les calendriers turcs anciens et médiévaux, Lille 1974, S. 721) sieht u.a., dass in dem Namen Ilyas das gleichlautende türkische Wort »il(k)yaz«, im Sinne von »erster Frühling« bzw. Anfang der »schönen Jahreszeit«, enthalten ist. Nach dem türkischen Volkskundler Acıpayamlı (Acıpayamlı, Orhan, Türkiye’de bahar bayramı hıdrellez, in: Antropoloji 1973-1974, Nr. 8, Ankara 1978, S. 21-26, hier S. 21f.) stehen dahinter zwei Legenden. Einerseits handelt es sich um zwei Propheten – wobei Hızır über das Land, Ilyas über das Meer herrscht –, die sich an diesem Tag treffen, woraufhin alles ergrünt, die Gewässer zunehmen und die Natur sich verschönt. Andererseits soll es sich um einen Jungen namens Hıdır und ein Mädchen namens Ellez handeln, zwei Liebende, die nach langem, vergeblichem Sehnen endlich an diesem Tag zusammenkommen und dabei den Tod finden. Der mythische unsterbliche Hızır (El Khidr, El Khizr), der im Koran nicht namentlich genannt wird, wird darüber hinaus mit verschiedenen Personen identifiziert, u.a. auch mit Al-Khadir (»der Grüne«), der von der Wirksamkeit her sein Zwillingsbruder ist, außerdem mit dem unsterblichen Henoch-Idris. Da er auch als Schutzpatron gilt, wird er mit dem Heiligen Georg in Verbindung gesetzt (vgl. Houtsma/Wensinck/Heffening [Hrsg.], Enzyklopaedie des Islam, 4 Bde., Leiden, Leipzig 1913-1938, hier Bd. 2, S. 501f.). Hinter Ilyas verbirgt sich aber auch der biblische Prophet Elias (türk. Ilyas), der im Koran u.a. als Regenbringer genannt wird. Hızır und Ilyas sind wohl identisch. Beide, der biblische Prophet und Khidr, sind unsterbliche Wesen und »verborgene« Heilige (vgl. Neumann, Wolfgang, in: Bernd Michael Linke [Hrsg.], Die Welt nach der Welt: Jenseitsmodelle in den Religionen, Frankfurt am Main 1999, S. 117-136, hier S. 129). Hasluck (Hasluck, Frederick William, Christianity and Islam under the Sultans, New York 1973 [Reprint, Oxford 1929], S. 319f.) führt die Ursprünge bis auf Alexander den Großen (»Die Alexandersage«) zurück. Für Schimmel (Schimmel, Stern und Blume, S. 63) ist »die Gestalt Khidrs (Khizir) […] mit Moses verbunden«, die aber letztlich aus einer alten Vegetationsgottheit hervorgegangen ist. 39. Nicht in Bölcek, aber in der Region Bergama wird nach Köksal (Köksal, Hasan, Izmir ve Çevresindeki Yatırlar, in: III. Milletlerarası Türk Folklor Kongresi Bildirile205
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Sinn des religiös-islamischen Kalenders ist es, das religiöse Leben der Gruppe zu regeln, ihr vorzugeben, wie und wann Zeit zu beten, zu fasten, zu opfern, sich rituell zu reinigen, wohltätige Gaben (hayır) zu verteilen, zu sühnen und der Toten zu gedenken ist.40 Der religiösislamische Jahreslauf diente im Osmanischen Reich bis zur Einführung des Gregorianischen Sonnenkalenders als einzige allgemein verbindliche Zeitordnung.41 Nach einer Zeit der Synthese zwischen beiden wurde nach Gründung der türkischen Republik am 1. Januar 1926 der weltliche Kalender der maßgebliche. In dörflichen Gegenden besitzt die islamische Zeitordnung jedoch weiterhin große Bedeutung.42 Ein
ri, Bd. 4, Ankara 1987, S. 227-237, hier S. 235) in den Dörfern der Çepni (Alevi) und der Türkmenen am 7. Mai das Fest »dede hayırı« begangen, indem zunächst die Pilgerstätte besucht wird, und dann, ähnlich wie beim Gebet um eine gute Ernte, geopfert, gebetet, gespeist und gefeiert wird. 40. All dies zählt als »Gutes Werk« (sevap). Ein Gutes Werk ist dabei, wie Schiffauer (Schiffauer, Werner, Die Bauern von Subay. Das Leben in einem türkischen Dorf, Stuttgart 1987, S. 253) aufzeigt, immer eines, das die Ideale der islamischen Gemeinschaft zum Ausdruck bringt bzw. ihr förderlich ist, wie z.B. Frieden zu stiften, Arme zu erfreuen, Nachbarn Gutes zu tun, Tote zu begraben, für sie zu beten, in das Haus eines Verstorbenen oder einer Gebärenden Speisen zu schicken, fremde Knaben zusammen mit dem eigenen Kind beschneiden zu lassen, statt in der eigenen, in einer fremden Gemeinschaft zu beten etc. – Die Werke des Menschen werden von zwei Engeln aufgezeichnet, die dem Menschen über die Schultern schauen. Taten, die ins Paradies führen, werden von ihnen rechts, solche, die in die Hölle führen, links notiert. Am Jüngsten Tag werden die Engel vor Gottes Richterstuhl im »Buch der Taten« die genau notierten Guten und Schlechten Werke jedes Gläubigen offen legen, gewichten und gegeneinander aufrechnen. Dem Menschen, dessen Schlechte Werke überwiegen, ist für alle Ewigkeit die Hölle sicher (s. Hançerliogˇlu, Orhan, Islâm Inançları Sözlügˇü. Islâm Deyim, Terim ve Akımlarını da Kapsar, Istanbul 1984, S. 501). 41. Da das Jahr im Julianischen Kalender um 0,0078 Tage zu lang war, summierte sich dies im Laufe der Zeit und war am Ende des 16. Jhs. auf 10 Tage angewachsen. Die Verbesserungen durch den Gregorianischen Kalender gingen zunächst weder in den griechisch-orthodoxen, noch in den islamischen Kalender ein. In der Türkei wurde die Umstellung vom Julianischen auf den Gregorianischen erst im 20. Jahrhundert vollzogen. 42. Der islamische Kalender führt gleich mehrere ältere Orientierungen auf. Da wird u.a. das »Julianische Jahr« (rumî yılı) angegeben, das anhand des Sonnenjahres nach dem Julianischen Kalender berechnet wird, der Beginn dieses Zeitsystems richtet sich jedoch nach dem Jahr der Hedschra (hicrî yılı), der Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina (622 n. Chr.). Gebetszeiten werden sowohl nach der von Mitternacht an gerechneten Stundenzählung (vasatî saatı), als auch nach einer früher gültigen, mit dem Ruf zum Abendgebet einsetzenden Zeit (ezanî saatı), aufgeführt. Letztere existierte schon in vorislamischer Zeit und begann mit dem Sonnenuntergang 206
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Jahr umfasst 12 Monate ohne Schaltmonat, die jeweils mit dem Neumond beginnen.43 Der erste Monat ist der Muharrem.44 Das islamische Jahr kennt drei bedeutende Monate: Recep, S¸aban und Ramazan, die man auch die »gesegneten Monate« (hayırlı aylar) oder die »Monate der reumütigen Sinnesänderung« (tövbe aylar) nennt, da sie die besondere Möglichkeit bieten, erfolgreicher als sonst Gutes zu tun. Man lässt Gebete für Tote lesen, holt Fastenschulden nach und verteilt milde Gaben. Der Ramazan gilt als »Sultan« des Jahres. Er erinnert intensiv daran, dass der Mensch von Gott erschaffen und sein Leben auf Erden zeitlich begrenzt ist, auf einen gläubigen Muslim danach jedoch die Ewigkeit wartet. In diesem Monat sollte jeder von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang weder essen, trinken noch rauchen45 und sich möglichst viel Verdienst erwerben. Der Sinn des weltlich-staatlichen Kalenders besteht darin, das »europäische« Zeitsystem zu verankern, die nationalstaatliche Identität zu stärken und der Staatsgründung sinnstiftende Qualitäten abzuge-
(vgl. Çagˇatay, Ne¸set, Eski çagˇdan bu yana zaman ölçümü ve takvim, in: Ne¸set Çagˇatay [Hrsg.], Makaleler ve incemeler, Konya 1983, S. 41-71, hier S. 52), da nach dem Mondkalender der neue Tag jeweils dann beginnt. 43. Die Einführung des reinen Mondjahres im Islam erfolgte auf Grund einer Offenbarung im zweiten Jahr nach der Auswanderung von Mekka. »Damit war jegliche Bindung an vorislamische Zeiten aufgehoben; denn das vorislamische Jahr in Arabien war ein Mond-Sonnenjahr mit einer Reihe von Schaltmonaten, die alle paar Jahre eingefügt wurden, um das Mondjahr dem Sonnenjahr einigermaßen anzugleichen. Diese Schaltmonate nun wurden abgeschafft. Dadurch löste sich der Rhythmus der im Laufe des Jahres gefeierten Feste vollkommen von den Jahreszeiten, so dass alle etwa noch vorhandenen Erinnerungen an vorislamische Sitten und Gebräuche ausgelöscht wurden« (Schimmel, Annemarie, Das islamische Jahr. Zeiten und Feste, München 2001, S. 11). 44. Der Muharrem umfasst 30 Tage und wird auch der a¸sure-Monat genannt; Safer ist der 2. Monat mit 29 Tagen; Rebiyülevvel ist der 3. Monat mit 30 Tagen; Rebiyülâhır ist der 4. Monat mit 29 Tagen; Cemaziyelevvel ist der 5. Monat mit 30 Tagen; Cemaziyelâhır ist der 6. Monat mit 29 Tagen; Recep ist der 7. Monat mit 30 Tagen; ¸Saban ist der 8. Monat mit 29 Tagen; Ramazan ist der 9. Monat mit 30 Tagen und heißt auch Fastenmonat; ¸Sevval ist der 10. Monat mit 29 Tagen; Zilkâde ist der 11. Monat, der – weil er zwischen den Feiertagen liegt – auch »Zwischenmonat« (Aralık ayı) genannt wird und schließlich Zilhicce, der 12. Monat, auch Opfermonat (Kurban ayı) genannt, weil in ihm das Opferfest liegt. 45. Es heißt: »Beginnt mit dem Fasten sobald ihr die Mondsichel seht! Und fastet, bis ihr sie wieder seht« (Ferchl, Dieter [Hrsg.], Al-Buharı, Sahıh: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, Stuttgart 1991, S. 232). Sure 2:187 lautet: »Und eßt und trinkt, bis ihr in der Morgendämmerung einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden könnt. Hierauf haltet das Fasten durch bis zur Nacht« (Paret, Der Koran, S. 29). 207
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winnen. Seine endgültige Einführung wurde am 26. Dezember 1925 im Gesetz 698 festgelegt, das den 31. Dezember 1341 zum 1. Januar 1926 bestimmte.46 Am 29. Oktober 1923 rief man nach drei Jahren »Befreiungskrieg« (Kurtulus¸ Savas¸ı), wie Türken ihn bezeichnen, in Ankara die türkische Republik aus. Mustafa Kemal Pas¸a, genannt Atatürk,47 »Vater der Türken«, wurde der erste Präsident. Im Zuge seines »Zivilisationsprojektes«48 veranlasste er unter anderem die Trennung von Staat und Kirche, die Abschaffung des Kalifats, die Einführung der Einehe und des Zivilrechts nach westeuropäischem Muster sowie des lateinischen Alphabets. Zu seinem Modernisierungsprojekt gehörten die Bekleidungsvorschriften, die durch die Abschaffung des Fes und des Schleiers ein zeitgemäßes »europäisches Äußeres« aller erzwingen sollten.49 Mit einem Leben »alafranga« sollte die Vergangenheit »alaturka« beseitigt werden. Die junge Staatsmacht, die sich behaupten musste, nahm mit der Einführung der »europäischen« Zeitrechnung50 eine zeitliche Neuordnung vor. »Es ist, als beginne mit ihr die Zeit«.51
46. Siehe Çagˇatay, Makaleler ve incemeler, S. 70. 47. Atatürk, Kemal, bis 1934 Mustafa Kemal Pascha genannt, türkischer Staatspräsident und Feldherr, geb. 1880, gestorben 1938, war in der jungtürkischen Bewegung aktiv. 48. Göle, Nilüfer, Republik und Schleier. Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Berlin 1993, S. 73. 49. Mustafa Kemal hatte im Zuge seiner Reformen 1925 den Männern den Fes, 1926 den Frauen den Schleier verboten. Der Verzicht auf die Kopfbedeckung sollte symbolhaft die westliche Orientierung der Türkei widerspiegeln. Der Hut löste den Fes ab, der erst einige Zeit zuvor unter dem Reform-Sultan Mahmut II. als Symbol des Fortschritts gegenüber dem Turban eingeführt worden war, nachdem der den Männern 1826 verboten wurde. 50. Die schrittweise Übernahme des westlichen Kalendersystems hatte bereits 1791 begonnen. Danach wurden häufig beide Zeitrechnungen – der islamische Mondkalender und der Julianische Sonnenkalender – beispielsweise bei der Ausstellung der Personalausweise ab 1839 parallel verwandt, was zu Konfusionen führte. Um 1913/14 wurde die Zeitrechnung »nach europäischer Art«, türkisch »alafranga«, zwar im Osmanischen Reich verwandt, da es aber wenige offizielle Behörden wie Poststellen, Gerichte, Banken etc. gab, war die neue Zeitrechnung für die Mehrheit der Menschen irrelevant. Sie richteten sich weiterhin nach der mit dem Sonnenuntergang einsetzenden islamischen Stundenzählung (ezanî saatı). Erst am 8. Februar 1916, dem islamischen Jahr 1332, wurde die Umstellung vom Julianischen auf den Gregorianischen Kalender beschlossen. Der 16. Februar 1916 julianischer Zeitrechnung, nach islamischen Zeitrechnung 1332, wurde zum 1. März gregorianischer Zeitrechnung im islamischen Jahr 1333 erklärt. 51. Canetti, Elias, Masse und Macht, 2 Bde., München 1976, hier Bd. 2, S. 137. 208
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Dass dies nicht vollends gelang, zeigt u.a. das Weiterleben der beiden älteren Kalender. Der heutige, offizielle Kalender hält den Wandel vom Osmanischen Reich über den »Befreiungskrieg« bis zur Gründung des neuen Nationalstaats fest. In diesem wird speziell die »zukunftstragende Jugend« angesprochen. Der 19. Mai, der Tag, an dem Atatürk 1919 in Samsun an Land ging, um von dort die Befreiungsarmee aufzubauen, wird als »Atatürk-Gedenktag und Tag der Jugend und des Sports« gefeiert. Der 23. April 1923, Tag der Gründung des türkischen Parlaments, wurde zum »Tag der nationalen Souveränität und der Kinder« ernannt. Der 29. Oktober 1923, an dem die türkische Republik und Atatürk zum Präsidenten ausgerufen wurde, ist heute »Republiksfeiertag«. Nationaler Trauertag ist der 10. November, der Todestag Atatürks. In seinem letzten Domizil, dem Dolmabahçe-Palast in Istanbul, hält die Wanduhr den Zeitpunkt seines Todes um 9 Uhr und 5 Minuten fest. Die Verankerung nationaler Daten im Kalender machte Sinn, da ein Nationalbewusstsein kaum ausgeprägt war. Im Osmanischen Reich waren die Türken zwar das herrschende Volk, doch es war ein Vielvölkerstaat. Die Bezeichnung »Türke« hatte den Beigeschmack des bäurischen Hinterwäldlers oder Nomaden. »Noch bis zur kemalistischen Revolution besaßen die Türken keine einheitliche Bezeichnung für sich selbst, weder eine einheitliche Sprache noch Familiennamen […] Die Entscheidung für den türkischen Nationalstaat war von nicht geringerer Tragweite als die Durchsetzung des Laizismus.«52 Der nationale Gedanke war vor dem Hintergrund einer langen islamischen Geschichte und einer Bevölkerung, die in islamischen Wurzeln verankert war, schwer zu vermitteln. Auch Anatolien, dessen Geschichte von vielen Kulturen geprägt war, stieß als türkische Nationalheimat auf Zweifel.53 »Aus Zeit Sinn machen«, war daher das Gebot der Stunde, um dem jungen Staat eine stabile Identität und staatstragende Ideologie zu verschaffen. Durch die Verankerung tief in der Geschichte sollte der Anspruch auf Alter und Kontinuität gewährleistet werden. Alles kam auf Authenzität an. Die Folge war die »türkische Geschichtstheorie«, »die von Atatürk in den Jahren 1928 bis 1930 persönlich verkündet«54 und ab 1932 von der Gesellschaft zum Studium der Türkischen Geschichte (Türk Tarihi Tetkik Cemiyeti, später Türk Tarih Kurumu) propagiert wurde, und die den genuinen Anspruch der Türken auf Anatolien begründen sollte: Danach waren sie in Kleinasien Autochthone. Die he-
52. Steinbach, Udo, Die Türkei im 20. Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas, Bergisch Gladbach 1996, S. 69. 53. Ebd., S. 70. 54. Berktay, Halil, Der Aufstieg und die gegenwärtige Krise der nationalistischen Geschichtsschreibung in der Türkei, in: Periplus 1, 1991, S. 102-125, S. 107. 209
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thitische und die sumerische, ja sogar die ägyptische, die griechische, etruskische und keltische Kultur wurden als türkische Kolonialgründungen ausgegeben. Durch Klimawandel sei man dann jedoch zur Auswanderung gedrängt worden. Es ging dabei nicht nur um »den Nachweis des eigenen hohen Alters und der bruchlosen Kontinuität der Entwicklung, sondern auch um die Einbindung in die ›Weltgeschichte‹«.55 Heute noch erinnern die Gebäude der Eti Bankası (Hethiter Bank) und der Sümer Bankası (Sumerer Bank) daran.56 Ankara, damals ein kleiner Ort inmitten der anatolischen Steppe, doch nahe der hethitischen Kapitale Hattuscha gelegen, wurde zur neuen Hauptstadt bestimmt.57 – Laut Volksetymologie leitet sich selbst die Bezeichnung für Anatolien von der Atatürk-Ära ab. Aufbauend auf dem Mythos, die türkischen Mütter hätten am Befreiungskrieg 1923 teilgenommen, heißt es, »der Name für Anatolien, ›Anadolu‹, bedeute ›voll mit Müttern‹ (ana = Mutter; dolu = voll), also Land der Mütter«.58 Zusätzlich wurde das Türkische nach 1935 durch die von der Türkischen Sprachkommission (Türk Dil Kurumu) verkündete »Theorie der Sonnensprache« (Günes¸ Dil Teorisi) überhöht. Danach sollten alle Sprachen von einer einzigen in Zentralasien gesprochenen Ursprache abgeleitet sein. Dieser Sprache sei das Türkische am nächsten, und alle Sprachen hätten sich aus der Ursprache heraus durch das Türkische hindurch gebildet.59 Die türkische Sprache wurde in den folgenden Jahren durch die Sprachkommission systematisch von allen persischen und arabischen Entlehnungen »gesäubert« und re-türkisiert.
4. Die Zeit im Raum Zeitsysteme lassen sich räumlich durch bauliche Fixpunkte, Denkmäler, Straßen- und Ortsnamen in der Topographie sowie deren Bedeutung im Kalender verankern. Die formale Erziehung sorgt dann für ihren Erhalt im kulturellen Gedächtnis. Vergangenheit trägt die Gegen-
55. Müller, Klaus E., ›Prähistorisches‹ Geschichtsbewußtsein. Versuch einer ethnologischen Strukturbestimmung, in: ZiF Mitteilungen 3, 1995, S. 3-17, hier S. 17. 56. Siehe Lewis, Geoffrey, Modern Turkey, New York 1974, S. 112. 57. Siehe Möwe, Ilona, Nationalstaat und Ethnizität in der Türkei, in: H.-P. Müller (Hrsg.), Ethnische Dynamik in der außereuropäischen Welt, Zürich 1994, S. 2769, hier S. 44. 58. Fritsche, Michael/Ege, Müzeyyen/Tekin, Meryem, »Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter«. Mutterbilder in der Türkei, in: Max Matter (Hrsg.), Fremde Nachbarn. Aspekte türkischer Kultur in der Türkei und in der BRD, Bd. 29, Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Marburg 1992, S. 83-94, hier S. 91. 59. Siehe Steinbach, Die Türkei im 20. Jahrhundert, S. 73. 210
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wart, um damit wirksam Einfluss auf die Zukunft der Gesellschaft zu nehmen. Auch in Bölcek, dessen Entstehung ungewiss ist, greift man auf die türkische Besiedlung Anatoliens zurück: Die Dorfviertel Ogˇuzlar mahallesi und Selçuklar mahallesi erinnern an die türkischen Stämme der Oghusen und der Seldschuken. In der Straßenbezeichnung Barbaros60 caddesi gedenkt man der ruhmreichen Vergangenheit des Osmanischen Reiches. Der Ursprung des jetzigen Staates, die Ära der Republikgründung, lebt sichtbar in allen türkischen Ortschaften fort: den zentralen Platz der Republik (Cumhuriyet meydanı) ziert ein Denkmal des Staatsgründers Atatürk; weitere Büsten stehen in öffentlichen Gebäuden und Schulen,61 Aussprüche Atatürks, die den Denkmalsockel und die umgebenden Hauswände in Bölcek schmücken, tragen zur Festigung des türkischen Solidarbewusstseins bei. Da heißt es z.B.: »Dieses Vaterland verdient es, dass wir es für unsere Kinder und Enkel zu einem Paradies machen« (Bu vatan çocuklarımız ve torunlarımız için cennet yapılmaya lâyıktır). Die Zukunft ist also immer präsent. – Zentrale Gebäude und Straßen tragen die Namen verdienstvoller Heroen aus der Geschichte. So heißt in Bölcek die Grundschule »Mustafa Kemal ilkokulu«, die Mittelschule »Midhat Pas¸a62 ortaokulu«. An Staatsfeiertagen sind alle Orte mit Atatürk-Porträts und Nationalfahnen geschmückt. Am 19. Mai, dem »Atatürk-Gedenktag und
60. Vgl. Steuerwald, Karl, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, Wiesbaden 1972, S. 90: »Rotbart«, Beiname des türkischen Seehelden und Siegers in der Schlacht von Preveze (Prevesa) (1538). 61. Auf dem Schulhof, der Eingangshalle, im Flur und in allen Klassenräumen stehen große und kleine Atatürkbüsten, hängen Bilder von ihm und befinden sich nationale Embleme und Symbole. Die Anordnung der Landkarte der Türkei, der türkischen Nationalhymne, der Flagge, des Bildnisses von Atatürk, des schulischen Eides und der »Botschaft Atatürks an die Jugend« (Atatürk’ün Gençligˇe Hitabesi) im Klassenraum ist nicht zufällig. Alles ist zentral an der Stirnseite angebracht. Über der Tafel stehen Sätze über die Liebe zu Atatürk, seine Errungenschaften und über die Bedeutung, ein Türke zu sein. In jeder Klasse ist eine Gedenkecke für Atatürk eingerichtet, jeweils ausgeschmückt mit Fotos von ihm aus verschiedenen Epochen und mit der Darlegung seiner Reformen. In der Mittelschule hängen im Flur darüber hinaus Bilder der ehemaligen Schuldirektoren, außerdem Plakate mit Ereignissen aus der Zeit des Osmanischen Reiches, z.B. ein Bild von Fatih Sultan Mehmet, der bei der Eroberung Istanbuls 1453 den Befehl erteilte, das Goldene Horn einzunehmen. 62. Midhat Pascha, Großwesir, Anhänger der »Jung-Osmanen«, der eine Verfassung ausgearbeitet hatte, die 1876 proklamiert wurde. Die »Jung-Osmanen« wollten damit den Verfall des Osmanischen Reiches aufhalten. Sultan Abdülhamid II., der »blutige Sultan«, verbannte Midhat Pascha in die Wüste, wo er ihn ermorden ließ. 211
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Tag der Jugend und des Sports«, bieten ältere Schüler nationale Gedichte und sportliche Leistungen dar. Der 23. April, »Tag der nationalen Souveränität und der Kinder«, wird am Atatürk-Denkmal gefeiert. Die Gedenkzeit wird am Gedenkort veranstaltet. Analoge Veranstaltungen finden zeitgleich in der Hauptstadt Ankara und in jedem anderen Ort der Türkei statt. Die Rituale wirken sinnbestätigend. Die Teilnahme aller wird erwartet. Geschichte wird kommunal zelebriert, über das Beispiel Atatürks in die Zukunft verweisend. Neu ernannte Minister suchen nach ihrer Vereidigung das Mausoleum Atatürks (Anıtkabır) in Ankara auf, um dem »Vater der Türken« ihre Reverenz zu erweisen.63 Während die Republikgründung, die sich als »Stunde Null« versteht, glorreich gefeiert wird, werden andere Taten der »Jungtürken«,64 wie die Vernichtung der Armenier, bei der nach osmanischen Statistiken 800.000 Menschen umkamen, in Curricula und Schulbüchern tabuisiert.65 Nirgendwo in der Türkei erinnert ein Denkmal oder ein Straßenname an diese Zeit.
5. Die alternativen Qualitäten der Zeit Zeit ist gegeben und zugleich manipulierbar. In Bölcek nehmen die Menschen scheinbar alles aus Gottes Hand an und riskieren keine Pro-
63. Siehe Milliyet (Tageszeitung) vom 23.12.1987: »Yeni bakanlar Anıtkabır’de« (Die neuen Minister im Mausoleum). 64. Die Gruppe mit dem Namen »Komitee für Einheit und Fortschritt«, die gegen die autoritäre Herrschaft des letzten Sultans agierte, war die am Schluss bestimmende Kraft, die die Politik des Reiches im letzten Jahrzehnt seines Bestehens prägte. »Im Ausland waren ihre Anhänger als ›Jungtürken‹ bekannt« (Steinbach, Die Türkei im 20. Jahrhundert, S. 48). 65. Nach einem Beschluss des osmanischen Staates im Mai 1915 waren damals alle Armenier aus den Ostgebieten nach Syrien zu deportieren. Man hatte Angst vor Gründung eines armenischen Nationalstaates. Dahinter steckte auch die Absicht, eine wirtschaftlich wichtige Gruppe zu beseitigen, um eine ethnisch reine Nation herzustellen. Dies war von langer Hand vorbereitet, um die Aufteilung des Staates zu verhindern. Obwohl eine Resolution des Europäischen Parlamentes 1987 den Völkermord an den Armeniern als eine unbezweifelbare historische Tatsache bekräftigt hat, wird er von türkischer Seite weiterhin geleugnet. Versuche, die neue Identität zu hinterfragen, werden nicht zugelassen: Der Völkermord würde den Mythos der Staatsgründung in Frage stellen. Das Tabu, so der türkische Historiker Taner Akçam, hat mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches zu tun, der als schweres Trauma erlebt wurde. Um dies zu überwinden, wollte man die Erinnerung daran löschen (vgl. Akçam, Taner, Schwierige Themen, in: Türkei verstehen. Sympathie Magazin, Ammerland, Starnberger See 2000: o. S.). 212
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gnosen ohne »Ins¸allah« im Sinne von »so Gott will« hinzuzufügen. Obwohl alles vorausbestimmt scheint, versucht man in glücksverheißenden Zeiten doch die Zukunft positiv zu beeinflussen und durch die Vermeidung von negativen Zeiten Unheil abzuwenden.66 Die Zeit selbst scheint Glück wie Unglück in sich zu tragen. Der Mensch kann also »die Zeit nicht einfach so lassen, wie sie ist, denn er erfährt sie als Kontingenz, als Bruch zwischen Handlungsabsichten und Handlungserfolgen, als Einbruch unvorhersehbarer Ereignisse in seine gedeutete Welt, kurz: als einen Wandel seiner Welt und seiner Selbst, zu dem er sich noch einmal verhalten muss, weil er von sich aus noch nicht hinreichend auf sein Handeln und Leiden sinnhaft bezogen ist.«67 Der rechte Umgang mit Zeit spielt also schon aus Vorsichts- und Schutzgründen eine besondere Rolle. Oftmals hat der Mensch den Wunsch, die Zeit außer Kraft zu setzen, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Dazu dienen entsprechende Rituale. Als positiv manipulierbar erscheinen Initialphasen von Perioden, die eine heilvolle Entwicklung einleiten, da sie offensichtlich eine kontinuierlich zunehmende Kraftentfaltung darstellen. Dies sind z.B. der Tagesbeginn mit der aufsteigenden Sonne und die Phase des zunehmenden Mondes. Der Sichelmond wurde zum Zeichen des Islam. Noch heute begrüßt man ihn beim Wiedererscheinen »wie einstens im Kreis der Neuplatoniker«,68 indem man ein Gebet spricht, um Einfluss auf den Gang des nächsten Monats zu nehmen.69 Als Höhepunkt gilt die Zeit des Mittaggebets am »heiligen« Freitag.70 Dann werden Amulette hergestellt, wird um Regen oder um eine gute Ernte gebetet, finden Beschneidungen und Heilpraktiken statt. Freitags werden Gelüb-
66. Siehe Müller, Das magische Universum der Identität, S. 295f. Die Beachtung dieser Zeiten geschieht auch bei traditionellen Heilpraktiken (siehe dazu Straube, Hanne, Migration und Gesundheit. Über den Umgang mit Krankheit türkischer Arbeitsmigranten in Deutschland und in der Türkei, in: Max Matter [Hrsg.], Fremde Nachbarn. Aspekte türkischer Kultur in der Türkei und in der BRD, Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Bd. 29, Marburg 1992, S. 131-144). 67. Rüsen, Aus Zeit Sinn machen, S. 1. 68. Havers, Wilhelm, Neuere Literatur zum Sprachtabu, in: Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 223, Bd. 5, Wien 1946, S. 80. 69. Siehe Soyyanmaz, I. Hakki, Ay ile ilgili inanmalar, in: Türk Folklor Ara¸stırmaları 14.c. 274, 1972, Nr. 5, S. 6300-6301, hier S. 6001. Vgl. Schimmel, Das islamische Jahr, S. 13. 70. Ursprünglich war dieser Tag nur als Versammlungstag gedacht, da auch Gott »ständig mit etwas beschäftigt« (Sure 55:29) ist. Erst in verhältnismäßig später Zeit haben einige islamische Länder den Freitag als Feiertag entsprechend dem christlichen Sonntag eingeführt (siehe Schimmel, Das islamische Jahr, S. 29). 213
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deorte aufgesucht, Gebete nachgeholt, Pilger verabschiedet. Als positiv gilt auch der Frühlingsbeginn. Deshalb nutzt man auch ihn zur Einflussnahme auf den Folgeverlauf des Jahres. Anlaufphasen von Perioden mit spürbar kraftmindernder Wirksamkeit, wie der Sonnenuntergang und die einbrechende Nacht, gelten als negativ. Sie symbolisieren das Absterben des Tages, zu dem bösartige Kräfte ihre Wirksamkeit zu entfalten beginnen, weshalb alle zur Tageszeit gehörigen Verrichtungen vorher beendet sein sollen, sonst läuft man Gefahr, sein Glück zu gefährden. Es gilt als unheilvoll, dann noch für den Erhalt der Familie lebenswichtige Dinge aus dem Haus zu geben, wie z.B. Salz, Hefe, Milch, Brot, Essig oder sonstiges Saueres. Wer dennoch Hefe, Symbol der Fruchtbarkeit und des Wachstums, weggibt, deckt sie zu. Für außergewöhnlich hält man die Nächte vor herausgehobenen Zeitabschnitten, vor allem vor Festtagen, die in Zusammenhang mit dem Leben des Propheten Muhammad stehen,71 vor koranischen Feiertagen72 und vor dem Freitag. Da der neue Tag nach dem islamischen Mondkalender bei Sonnenuntergang beginnt, handelt es sich hierbei um Schwellenzeiten. Hinzu kommt die Nacht vor der bäuerlichen Wendezeit. Viele Tabus regeln das Verhalten in diesen »sakralen«, immer aber auch kritischen Zeiten.73 Die an diesen Tagen wirksamen »besonderen« Kräfte können sich sowohl heilvoll als auch unheilvoll auswirken. Schwellenphasen sind mit Tabus geschützt. Der Sonne ebenso wie dem Mond, beide von alters her als göttliche Wesen verehrt, schuldet man Respekt.74 Zum Zeitpunkt des Sonnenauf- und -untergangs soll weder gegessen noch gebetet werden. Man isst oder betet davor oder dann, wenn die Sonne mindestens eine Menschenlänge hoch über
71. Sie werden Öllämpchen-Nächte (Kandil geceleri) genannt. Es sind: 1. die Nacht der Geburt des Propheten am 11./12. Rebiyülevvel (Mevlut gecesi); 2. die Nacht der Empfängnis der Mutter Muhammad, Amine Hatun, am 30. Cemaziyelâhır, am Vorabend des 1. Freitag des Monats Recep (Regaip gecesi); 3. die Nacht der Himmelfahrt Muhammad am 26./27. Recep (Miraç gecesi); 4. die Nacht der Berufung Muhammad zum Propheten, (15. Nacht im Monat ¸Saban) (Berat gecesi). Ebenso wird die 27. Nacht im Ramazan-Monat (Kadir gecesi), in der nach der islamischen Mythologie die erste Koran-Offenbarung erfolgt sein soll, als besonders heilig gefeiert. 72. Das Fest des Fastenbrechens (Ramazan bayramı am 1.-3. ¸Sevval) und das Opferfest (Kurban bayramı am 10.-14. Zilhicce). 73. Siehe Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hrsg.), Einleitung, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 1-30, hier S. 3f. 74. Siehe Havers, Neuere Literatur zum Sprachtabu, S. 79. 214
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dem Boden steht oder völlig untergegangen ist.75 Auch der Fastenmonat wird als ein zeitliches »Loch in der Himmeldecke«76 und als eine »Offenstelle« zum Jenseits beschrieben.77 Da neben dem diesseitigen Raum für die Menschen ein jenseitiger existiert, gewähren derartige »Offenstellen« im Raum Zugang zur Transzendenz, sie sind Tore zum Jenseits, Orte, an denen die Zeit gleichsam stillsteht.78 Über divinatorische Praktiken versucht man dann, von dort Maßgaben für richtiges Handeln zu erhalten. Zeichendeutungen, Wahrsagerei und Orakelbefragungen werden vorgenommen. Die Berat-Nacht gilt als die Nacht, »in der die Sünden vergeben werden und das Schicksal festgesetzt wird«.79 In der Kadir-Nacht erfüllten sich Wünsche und Gebete. Der Tag bzw. die Nacht vor dem Fest des »Fastenbrechens«, des Opferfestes und des Freitags heißen in Türkisch arife günü oder arife gecesi. Arife, ein Lehnwort vom Arabischen arefe,80 bezieht sich auf die Ebene von Arafat, 20 km östlich von Mekka, wo der Pilger verweilt – das eigentliche Zentrum der Pilgerfahrt. Das Wort trägt auch die Bedeutung »Schwelle«.81 Man kann also von »Schwellentag« oder »Schwellennacht« sprechen. Es gibt den zeitlichen Aspekt des Überganges wieder: Schwelle zwischen den Zeiten. Der Vortag bzw. Vorabend großer Ereignisse wird als »Schwelle des Feiertags« (bayramın es¸igˇi) bezeichnet, wobei hier das türkische Wort es¸ik für Schwelle benutzt wird. Am »Schwellentag« vor dem Zuckerfest (Kadir gecesi am 27. Ramazan) fasteten, so heißt es, selbst Tiere – Vögel und Gewürm (kus¸ ve kurt).
75. So heißt es auch bei al-Buharı: »Es gibt kein Gebet nach dem Morgengebet, bis die Sonne aufgegangen ist, und nach dem Nachmittagsgebet, bis die Sonne untergegangen ist« (Ferchl, Al-Buharı, Sahıh: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, S. 240). 76. Müller, Klaus E., Epistemologische Grenzfälle: »Höhere« Erkenntnis in traditionellen Gesellschaften, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 32/3 u. 4, 1990, S. 137-151, S. 141. 77. »Abu Huraira (R a) berichtet, der Gesandte Gottes (S) habe gesagt: Wenn der Monat Ramadan beginnt, werden die Tore des Himmels geöffnet und die Tore der Hölle verschlossen. Und die Teufel werden in Ketten gelegt« (Ferchl, Al-Buharı, Sahıh: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, S. 231). 78. Siehe Müller, Klaus E., Sterben und Tod in Naturvolkkulturen, in: Hansjakob Becker/B. Einig/P. O. Ullrich (Hrsg.), Im Angesicht des Todes: ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. 1, St. Ottilien 1987, S. 49-91, hier S. 32. 79. Schimmel, Annemarie, Der Islam. Eine Einführung, Stuttgart 1990, S. 51. 80. Siehe Hançerliogˇlu, Islâm Inançları Sözlügˇü, S. 26. 81. Siehe Steuerwald, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 54. 215
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6. Zeit – Sinn Menschen sind in Bölcek, so zeigte sich, ebenso zeitbestimmt wie überall. Sie sind eingespannt zwischen Erinnerung und Erwartung, während die Gegenwart täglich neue Anforderungen an sie stellt. Zeit gibt ihnen Sinn vor, wie u.a. in den verschiedenen Kalendern ersichtlich wurde. Gleichzeitig ist Zeit auch hier etwas, was sinnvoll gefüllt werden muss. Als sinnvoll wird die gemeinsam verbrachte Zeit eingestuft. Gemeinsames Erleben schafft ein Wir-Gefühl und eine gemeinsame Identität als »Zeitgenossen«. In bäuerlichen Gruppen, in denen die Menschen eng zusammenleben, werden gemeinsam erlebte Ereignisse und geteilte Erfahrungen ständig neu besprochen, miteinander verglichen, gedeutet und »ausgehandelt«. In diesen Prozessen entstehen allseitig geteilte Erinnerungen und »offizielle« Deutungsmuster, die tradiert werden. Abweichende Varianten werden häufig vergessen. Daraus ergibt sich im Lebensprozess eine Gemeinsamkeit des Erinnerns: »Schließlich kann daraus eine Gemeinsamkeit des Erzählens werden«.82 Es bilden sich Erzählgemeinschaften. »Jeder sieht zweifellos die Dinge aus seiner eigenen Sicht, aber in so enger Verbindung und Übereinstimmung mit der der anderen, dass, wenn seine Erinnerungen sich verformen, er nur den Blickwinkel der anderen einzunehmen braucht, um sie zu berichtigen.«83 Individuelles und kollektives Gedächtnis sind miteinander verwoben, individuelles Gedächtnis ist wesentlich durch die Gruppe geprägt.84 Dörfliche Feste und klimatische Einbrüche sind u.a. die Zeiten, die in der Erinnerung aller haften. Ältere sprechen von dem Jahr, in dem geheiratet wurde, Nachbarn sich angesiedelt haben, die Kuh gestorben und die Baumwollernte erfroren ist. Doch soziale Zeit und subjektiv-erfahrene Zeit interferieren nicht nur, sie differieren auch. Viele Faktoren führen dazu, aus Zeit subjektiv verschiedenen Sinn zu bilden, u.a. das Lebensalter. Zentrum der Wahrnehmung ist der Einzelne aufgrund seiner Perspektive, die durch seine Erfahrung und sein Alter geprägt ist. Bedingt durch die Länge des zurückliegenden Lebensabschnittes und durch den körperlichen Alterungsprozess haben Ältere ein anderes Verhältnis zum Leben als Jüngere. Mehr und mehr werden sie aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen bzw. sie fallen heraus. Sie kritisieren die Auflösung ihrer
82. Lehmann, Albrecht, Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1983, S. 24f. 83. Halbwachs, Maurice, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1991, S. 65f. 84. Vgl. Schiffauer, Werner, Die Migranten aus Subay. Türken in Deutschland: eine Ethnographie, Stuttgart 1991, S. 185. 216
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HANNE STRAUBE: ZEITLICHE DIMENSIONEN SINNVOLLEN LEBENS
Welt und distanzieren sich von der »anderen« Zeit der Jüngeren. Ihr Blick wird zunehmend retrospektiv. Sie schauen mit Wehmut auf vergangene Zeiten zurück und reklamieren, dass ihre Verdienste nicht gebührend Anerkennung finden, sie nicht entsprechend geehrt und geachtet werden. Sie fangen an, sich stärker mit einem Leben nach dem Tod zu beschäftigen als mit der Gegenwart und sind bemüht, unterlassene Fastengebote, Gebetsschulden und die Pilgerfahrt nach Mekka nachzuholen, um ihre Chancen auf ein ewiges Leben zu erhöhen. Ihre Lebenszeit erlangt weitgehend dadurch ihren Sinn. Für die Jugend hingegen scheint das Leben noch vor ihr zu liegen. Ihren Sinn richten sie nicht nur auf Gegenwärtiges, sondern wesentlich auch auf Zukünftiges. Das Vorwärtsschauen der Jungen verhält sich also entgegengesetzt zur Retrospektive der Alten. Der gesellschaftliche Wandel, bedingt durch Industrialisierung und Globalisierung, durch die Zunahme der Mobilität aufgrund einer verbesserten Infrastruktur, durch den wachsenden Einfluss der Kommunikationstechnologien und der Massenmedien u.v.a.m. wirkt sich auf Zeiterfahrung und Sinnbildung aus. Wesentliche Veränderungen gegenüber der Situation in den Jahren 1987/88 konnte ich in 1995 und 1997 im Dorf Bölcek beobachten. Die Welt war, nicht zuletzt auch durch das Fernsehen mit internationalen Programmen, für die Menschen größer geworden. Das Fernsehen strukturiert ihre Zeit und wirkt sinnbildend. Es bietet Möglichkeiten, visuell in verschiedenen Zeiten »herumzuspringen« und es vermittelt andere Zeitdimensionen, als die, die den Dorfbewohnern vertraut sind. Die traditionelle Raumnutzungsordnung – Ältere beherrschen die Zentren, Jüngere haben inferiore Plätze inne, Frauen hüten das Haus, Männer erkunden die Welt – hat sich allmählich durch all diese Einflüsse verändert. Während der Bewegungsradius der Älteren sich eher einschränkt, erweitert sich der der Jugend immer schneller. Durch die stärkere Mobilität müssen häufiger Schwellen überschritten werden. Sie gehen hinaus, erkunden die Welt, gewinnen dadurch einen Perspektivenwechsel. Das Fremde wirkt dadurch weniger bedrohlich. Die dörfliche Kontrolle verliert ihre Wirksamkeit. Die Sanktionsmöglichkeiten der Älteren schwinden. Einen verändernden Einfluss darauf, wie aus Zeit Sinn gemacht wird, haben auch steigende Bildungsanforderungen, die zu einem Wissensvorsprung der Jugend gegenüber der Älteren führen. Zum einen wurde vor einigen Jahren die Schulpflicht in der Türkei auf acht Jahre erweitert.85 Zum anderen investieren immer mehr Eltern in eine län-
85. Sie umfasste bis September 1997 die Grundschule (ilkokul) mit der ersten bis fünften Klasse; daran schloss sich die Mittelschule (ortaokul) mit der sechsten bis achten Klasse und der gymnasiale Zweig (lise) mit der neunten bis elften Klasse an, die beide freiwillig waren. Am 17. 8. 1997 wurde die Schulpflicht, wie von den Militärs ver217
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AFRIKA, AUSTRALIEN, TÜRKEI
gere Ausbildung der Kinder, nachdem ein Busservice zu weiterführenden städtischen Schulen eingerichtet wurde. Eine gymnasiale oder universitäre Ausbildung geht mit Entfremdungen einher. Die Erfahrung des Stadtlebens, der Austausch mit dortigen Schülern etc., führt zu größerer Individualisierung und zu einer auch geistigen Entfernung vom Dorf. Die Erweiterung der geistigen Mobilität und des territorialen Raumes macht das Weltbild der Jugend differenzierter. Junge Frauen stellen dadurch die traditionelle Geschlechterhierarchie in Frage. Es führt zu einer Relativierung oder gar Kritisierung des Dorfes. Der Prioritätsanspruch der Älteren wird von der Jugend in Frage gestellt, denn der Erfahrungsvorsprung der Älteren aufgrund des längeren Lebens ist durch radikale gesellschaftliche Veränderungen teilweise nicht mehr gefragt. Höheres Lebensalter allein reicht heutzutage nicht mehr aus, um Anerkennung zu erlangen. Jüngere demonstrieren in der Folge Älteren gegenüber weniger Respekt, da diese ihnen vom Wissen her unterlegen erscheinen. Insgesamt sind die Lebensentwürfe der »studierten« Jugend nicht mehr kompatibel mit den dörflichen. Sie wandern ab. Schlussfolgernd muss gesehen werden, dass die zeitlichen Dimensionen sinnvollen Lebens sich in den letzten Jahren besonders zwischen den Jungen und den Alten auseinander entwickelt haben. Dies liegt wesentlich an der Erweiterung des Erfahrungsraumes der Jugend. Die Beziehung zwischen Raum und Zeit veränderte sich. Die Ausdehnung des Raumes geht mit der Beschleunigung des Lebenstempos der Jungen einher. Zeit wird mit Geld gemessen. Magische Vorstellungen und Praktiken haben im Leben der Jüngeren kaum noch Bedeutung, magische Zeitkriterien wirken für sie nicht mehr sinnbildend. Der Islam mit seinem Verweis auf ein jenseitiges Leben ist für sie nicht mehr maßgeblich zeit-, sinn- und identitätsstiftend. Sie sind eher diesseitsorientiert. Die Ergebenheit der Älteren in ein von Gott vorherbestimmtes Schicksal – kader – teilt die Jugend nicht mehr. Es gilt abzuwarten, wie in Zukunft zeitliche Dimensionen eines sinnvollen Lebens von den verschiedenen Geschlechtern und Generationen in Bölcek bewertet werden.
langt, vom Parlament verlängert. Dies geschah in erster Linie, um der Attraktivität der religiösen Imam-Hatip Schulen entgegenzuwirken, die als Mittelschulen und Gymnasien geführt werden und deren Zulauf an Schülern kontinuierlich gewachsen war. Im Schuljahr 1995/96 waren bereits mehr als ein Zehntel aller Gymnasien Imam-Hatip-Schulen (vgl. Akkaya, Çigˇdem/Özbek, Yasemin/¸Sen, Faruk, Länderbericht Türkei, Darmstadt 1998, S. 161). 218
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III. Europa und der Westen
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
Die Zeit der Nation. Nationale Sinnbildungen über die Zeit in Deutschland (1780-1820) Jochen Johannsen
1. Einleitung Nach der Implementierung der Restaurationspolitik im Deutschen Bund 1819 identifizierte Karl von Clausewitz, der Direktor der preußischen Allgemeinen Kriegsschule, die »Begriffe, welche die in der Welt am meisten missbrauchten sind, die Zeit und das Volk«, als »den Kern«, um welche sich alle anderen Begriffe und Forderungen des demagogischen »Unwesens« seit dem Wiener Kongress »wie Kristallnadeln anlegen«.1 Die folgende Untersuchung ist ein Versuch, diesen Kristallisationspunkt des modernen Nationalismus in Deutschland anhand von Quellen aus der historischen Umbruchsepoche von ca. 1780 bis 1820 näher zu bestimmen. Sie interpretiert zentrale Denkmuster des frühen deutschen Nationalismus als einen Komplex identitätsformierender Sinnbildungen über die Zeit angesichts kontingenter Erfahrungen von Zeit in der durch Modernisierungskrisen geprägten Revolutions- und Kriegsepoche um 1800. Ihr Fluchtpunkt stellt das zeitgenössische Konzept einer ›deutschen Zeit‹ bzw. einer spezifischen Zeitlichkeit der Deutschen (im Sinne eines nationalen ›Temporalcharakters‹) dar. Solche Eigenzeit-Vorstellungen gewannen identitätsträchtige Schärfe in der Absetzung von der ›fremden‹ Zeit der Franzosen, die zunächst in kultureller, nach 1789/92 auch in politisch-militärischer Hinsicht als bedrohliche, ja unterdrückende Zeit erfahren und gedeutet wurde, und zwar auch von prinzipiellen Anhängern der Revolution. Im Zentrum der temporalen Dichotomie stand, so die These, ein Modell widerstrei-
1. Clausewitz, Karl von, Politische Schriften und Briefe, München 1922, S. 179 (Umtriebe, 1819/23). Hervorhebungen in Zitaten stammen im Folgenden stets aus den angegebenen Belegstellen. 221
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EUROPA UND DER WESTEN
tender nationaler Geschwindigkeiten: hier die evolutionär-nachhaltige Langsamkeit – das »Phlegma« – der Deutschen, dort die revolutionäre Schnelligkeit der Franzosen. In einem ersten thematischen Zugriff (Abschnitt 2) wird auf die im 18. Jahrhundert verbreiteten Topoi sowohl der kulturellen Verspätung Deutschlands gegenüber seinen westlichen Nachbarn als auch der inneren Ungleichzeitigkeit des Reiches eingegangen und gezeigt werden, wie diese Denkmuster unter dem Druck der Zeitereignisse in Richtung einer deutschen Nationalzeit umgedeutet und geschichtsphilosophisch aufgeladen wurden. Abschnitt 3 behandelt die Herleitung nationaler Tempi aus dem Volkscharakter und zeigt, dass die temporale Imprägnierung des Nationalcharaktermodells den Zeitgenossen einen Erklärungsansatz für die Revolution und den Wandel in Europa bot. In einem letzten Teil (Abschnitt 4) wird die Perspektive über den bis dahin behandelten Zeitraum hinaus auf die Gegenüberstellung von fremdbestimmter und selbstbestimmter Zeit während der »Franzosenzeit« der napoleonischen Herrschaft erweitert, in der sich die Transformation älterer Stereotype in nationalistische Feindschaftsvorstellungen verstärkte. Im Kontext einer historischen Anthropologie temporaler Ordnungen stellt der Beitrag eine Fallstudie dar zum Zusammenhang von Zeiterfahrung, Zeitdeutung und Identitätsformierung unter den Bedingungen der Moderne. Er knüpft an Ansätzen der historischen Nationalismusforschung und an Arbeiten zur Sattelzeit der Moderne an, die sich mit den geschichtsphilosophischen, nationalhistoriographischen und mythologischen Zeitdimensionierungen im modernen Nationalismus beschäftigen, stellt aber einen bisher weniger beachteten Aspekt – die Konstruktion nationaler Zeitcharaktere um 1800 – in den Mittelpunkt. Christian Geulen hat mit Recht den »hohen Grad an Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und immanenter Wandelbarkeit« als ein Spezifikum des modernen Nationalismus hervorgehoben, das in der Forschung durch die Konzentration auf vermeintliche Kontinuitäten häufig vernachlässigt worden ist.2 Der Beitrag beschränkt sich deshalb bewusst auf einen kurzen, historisch wichtigen Zeitraum – weder soll er den Nationalismus einer Gesamtinterpretation zuführen, noch die behandelten geistes- und vorstellungsgeschichtlichen Traditionen in der Totalität ihrer Bezüge darstellen. Vielmehr versteht er sich als Anregung, den Zusammenhang von Zeit- und Nationsdenken in anderen Kontexten zu überprüfen, um die modernisierungstheoretische Sichtweise auf den Nationalismus durch quellennahe Erkenntnisse mentali-
2. Geulen, Christian, Die Metamorphose der Identität. Zur »Langlebigkeit« des Nationalismus, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten, Frankfurt am Main 1998, S. 346-373, hier S. 358. 222
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
täts-, kultur- und begriffsgeschichtlicher Forschungen in komparatistischer und historisch-anthropologischer Hinsicht zu ergänzen.
2. Ungleichzeitigkeit und nationale Verspätung. Die Letzten werden die Ersten sein In der modernisierungstheoretischen Modellbildung wird die »Ungleichzeitigkeit auf dem Weg in die Moderne […] zum prägenden Prinzip nationaler Identität: Vorreiternationen werden Nachzüglern entgegengestellt, und ihre wechselseitige Wahrnehmung bestimmt nachdrücklich die Ausformung ihrer jeweiligen nationalen Identität«, wobei allerdings, wie Bernhard Giesen betont, »nicht nur die Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften, sondern auch die Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung zwischen verschiedenen Sphären innerhalb der Gesellschaft« zum Tragen kommen.3 Ähnlich hat Reinhard Bendix die Wahrnehmung nationaler und gesellschaftlicher Entwicklungsdifferenzen als »eine archetypische Erfahrung« beschrieben, die den Ausgangspunkt einer zur Entstehung von Nationalismus führenden »geistigen Mobilisierung« darstelle. Dabei greift er auf das von Alexander Gerschenkron skizzierte Modell der »relativen Rückständigkeit« zur Kennzeichnung nationaler Entwicklungsgefälle in der zeitversetzten Durchsetzung der industriellen Revolution zurück, das auch Hans-Ulrich Wehler zum Ausgangspunkt seiner Analyse der deutschen Gesellschaftsgeschichte gemacht hat, wobei der Nationalismus als Reaktion auf die ungleichzeitigen und vielfach krisenhaften strukturellen Wandlungsprozesse in der Herausbildung moderner Gesellschaften seit der frühen Neuzeit gedeutet wird.4 Bezogen auf die Endphase des Alten Reiches lassen sich demnach in mehrfacher Hinsicht Ungleichzeitigkeiten ausmachen, die, von den Zeitgenossen als solche wahrgenommen, auf den Prozess der nationalen Identitätsformierung einwirkten. Dies betraf: a) politische und sozioökonomische Entwicklungsrückstände des Reiches gegenüber Westeuropa, b) seine territoriale, politische und konfessionell-kulturelle Fragmentierung und die unter-
3. Giesen, Bernhard, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main 1993, S. 16f. 4. Bendix, Reinhard, Freiheit und historisches Schicksal. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1981, Frankfurt am Main 1982, S. 130; Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987, S. 55ff., S. 235f., S. 506ff. Zum Folgenden vgl. allgemein Echternkamp, Jörg, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840), Frankfurt, New York 1998. 223
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EUROPA UND DER WESTEN
schiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Territorien, von denen nur Preußen und Österreich im modernen Sinne für sich lebensfähige Staaten waren, während die seit dem Westfälischen Frieden kaum wesentlich veränderte Reichsverfassung anachronistische Zustände konservierte und, wie Hegel formulierte, »nicht vom Leben der jetzigen Zeit getragen« wurde,5 c) innerhalb der Territorien das Neben-, Mitund Gegeneinander traditioneller und moderner Elemente, z.B. die Herausbildung einer neuen Bildungselite, die von der Ständegesellschaft nicht gänzlich absorbiert werden konnte. Zwar ist bezüglich der These von der deutschen Rückständigkeit gegenüber den westlichen Vorreitern argumentiert worden, dass diese »desto diffuser« erscheine, »je mehr […] tatsächliche Vergleiche vorgenommen werden«, doch besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass die vielfachen Modernisierungskrisen und Ungleichzeitigkeiten ein von den Zeitgenossen wahrgenommenes zentrales Strukturproblem der modernen deutschen Geschichte darstellten, auf das der Nationalismus antwortete.6 Folglich vollzog sich der Prozess der nationalen Identitätsformierung nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem temporalen Deutungsmuster der chronologischen Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen – einem Topos, der, wie Reinhart Koselleck in seinen Arbeiten zur Sattelzeit gezeigt hat, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Ausprägung des modernen Geschichtsbegriffs beigetragen hat. Nationale Geschichtsdeutungen haben diesen Topos immer wieder aufgegriffen, der nicht zuletzt in suggestiven Formulierungen wie dem Schlagwort von der »verspäteten Nation« Deutschland (Helmuth Plessner) anhaltend gewirkt hat, wovon auch noch die jüngst erfolgte Konzipierung der neueren deutschen Geschichte entlang eines »langen Wegs nach Westen« zeugt.7 Mag auch der deutsche Sonderweg nunmehr als durchschritten gelten: die historische Interpretation moderner deutscher Geschichte verwendet häufig weiterhin jene temporalen Deutungskategorien der Verspätung, Ungleichzeitigkeit, Beschleuni-
5. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Frühe Schriften. Werke, Bd. 1, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1999, S. 452f. 6. Hardtwig, Wolfgang, Der deutsche Weg in die Moderne. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Grundproblem der deutschen Geschichte 1789-1871, in: Wolfgang Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500-1914. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994, S. 165-190, hier S. 166f. 7. Vgl. Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000; ebd., S. 359ff. zu Plessner, Helmuth, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. Als Problemgeschichte deutscher Verspätungen bei der Errichtung eines demokratischen Nationalstaats nach westlichem Vorbild ist angelegt: Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000. 224
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
gung oder Krise, mit denen schon die Zeitgenossen der Sattelzeitepoche versuchten, ihre Gegenwart zu deuten. Da um 1800 diese Denkmuster Chancen der Orientierung und der Identitätsbildung angesichts tiefgreifender Wandlungsprozesse boten, übernahmen sie eine wichtige Funktion für die Selbst- und Fremdwahrnehmung und damit für die Herausbildung von Nationalbewusstsein, wobei sich ihr Gehalt unter den Einflüssen der kontingenten Zeitereignisse veränderte. Die Topoi der Ungleichzeitigkeit und der Verspätung waren nicht nur geeignet, Defizit- und Differenzerfahrungen zu formulieren, sondern verknüpften diese zugleich mit Zielbestimmungen, die, eingebunden zumeist in einen universalistischen Rahmen, immer mehr den Charakter nationaler Zukunftsverheißungen annahmen. Conrad Wiedemann hat darauf hingewiesen, dass der Topos der verspäteten Nation, also der vermeintlichen deutschen Zurückgebliebenheit gegenüber Nationen wie Frankreich und England, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts »eine völlig neue Bedeutung und Dynamik« gewann, nachdem diese Klage »sich als öder cantus firmus durch das ganze deutsche 17. und 18. Jahrhundert« gezogen hatte.8 Geführt wurde die Verspätungs-Diskussion in der gebildeten Öffentlichkeit vor allem als patriotische Debatte um die oft beklagte französische Kulturdominanz in Deutschland mit einer doppelten Frontstellung: zum einen gegen Frankreich, dem ein arrogantes Hegemonialstreben in politischer und geistiger Hinsicht zugeschrieben wurde, zum anderen gegen die Nachahmungstendenzen in der Hofkultur und Literaturproduktion des deutschen Sprachraums. Mit dem literarischkulturellen Aufschwung in Deutschland nach dem Siebenjährigen Krieg und mit dem – französisch informierten – Nationalgeist-Diskurs ging eine Nationalisierung des temporalen Vergleichsrahmens einher, während regelpoetische Normen an Bedeutung verloren. Dies zeigte sich etwa in der befremdeten Aufnahme der zunächst auf französisch erschienenen und dann in das Deutsche übersetzten Schrift Friedrichs II. De la littérature allemande (1780) in der in ihrem wachsenden Selbstbewusstsein getroffenen literarischen und sich allmählich politisierenden Öffentlichkeit im Reich. Neuere Entwicklungen ablehnend oder ignorierend zeichnete der König von Preußen in traditioneller
8. Wiedemann, Conrad, Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990, Stuttgart, Weimar 1993, S. 541-569, hier S. 544f. Allgemein: Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 109ff., sowie Woesler, Winfried, Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Klaus Garber (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Int. Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 716-733. 225
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EUROPA UND DER WESTEN
Weise ein Bild deutscher Rückständigkeit in Literatur und Sprache, die er auf fortschrittshemmende Momente der deutschen Geschichte wie den Dreißigjährigen Krieg zurückführte. Behindert durch »eine noch halb-barbarische Sprache, in so viele Dialekte verteilt, als Deutschland Provinzen hat«, konnte sich die deutsche Nation nicht »zu gleicher Zeit mit ihren Nachbarn […] erheben«.9 Das Ziel der Deutschen müsse es sein, »mit unermüdeten Arbeiten die Zeit wiederzugewinnen, die wir durch unsre Widerwärtigkeiten verloren haben«.10 Das Mittel dazu könne nur die Sprachbildung nach dem Vorbild der Antike und der Franzosen sein: »Man muß also nur die alten und neuern klassischen Schriftsteller in unsre Sprache übersetzen«.11 Dann könne man auch auf eigene klassische Autoren hoffen: »Indes übertreffen die Spätern zuweilen ihre Vorgänger«.12 Friedrichs durchweg negative Bewertung der deutschen Verspätungen und vor allem das Programm der Schließung der Zeitschere durch Nachahmung zog die Kritik vieler aufgeklärter Literaten auf sich. Wenn bereitwillig zugestanden wurde, dass die »meisten europäischen Nationen […] die literarische Laufbahn früher betreten [haben] als wir; sie sind deshalb schuldig, auch früher an das Ziel zu kommen«, so ging dies einher mit einer Bevorzugung der Jugend gegenüber dem »merklich abnehmende[n] Alter«.13 Deutlich wird die Umwertung des temporalen Bezugsrahmens bei Justus Möser, wenn dieser die größere Nähe der Jüngeren zu den unverfälschten Ursprüngen hervorhebt, während der vermeintliche Fortschritt durch Verfeinerung prekär werde: »Unstreitig hat die französische Buchsprache frühere Reichtümer gehabt als die unsrige. So wie diese Nation früher üppig geworden ist als die unsrige, so hat sie sich auch früher mit feinern Empfindungen und Untersuchungen abgegeben. Wie der Deutsche noch einen starken tapfern und brauchbaren Kerl für tüchtig, oder, nach unserer Buchsprache, für tugendhaft hielt, und dessen Herz nicht weiter untersuchte, als es seine eigne Sicherheit erforderte, fing Montaigne schon an, über den innern Gehalt der Tugenden seines Nächsten zu grübeln, und diese um so viel geringer zu würdigen, als
9. Friedrich II., Über die deutsche Literatur; die Mängel, die man ihr vorwerfen kann; die Ursachen derselben und die Mittel, sie zu verbessern [1780], in: Horst Steinmetz (Hrsg.), Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente, Stuttgart 1985, S. 60-99, hier S. 61f. und S. 64. 10. Ebd., S. 67. 11. Ebd., S. 98. 12. Ebd., S. 99. 13. Ayrenhoff, Cornelius Hermann von, Schreiben an den Herrn Grafen Max von Lamberg über das Werk »De la littérature allemande« von Friedrich II. [1780], in: Horst Steinmetz (Hrsg.), Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente, Stuttgart 1985, S. 100-122, hier S. 121. 226
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
Eitelkeit und Stolz zur feinen Mark genommen waren«.14 Anders als Friedrich II., der einen von allen Nationen einzuschlagenden Weg proklamierte, auf dem verschiedene Völker an den Deutschen vorbeigezogen seien, sah Möser Deutsche und Franzosen eigene Wege beschreiten: »der Franzose mit einem leichten, der Deutsche mit einem gemessenen Schritte. Der erste geht auf dem Wege zur Verschönerung, der andere auf dem zur Richtigkeit über die Grenzen der großen Empfindungen hinaus […]«.15 Hier deutet sich ein Modell verschiedener Nationalgeschwindigkeiten an, in dem Langsamkeit und Verspätung nicht nur negativ verstanden wurden. Bezogen auf die heterogenen Strukturen des Reiches und die verschiedenen Entwicklungstempi seiner Territorien blieb zwar die kritische Funktion des UngleichzeitigkeitsTopos erhalten, wie etwa bei Herder: »Bei einer Reise durch Deutschland findet man oft im Bezirk weniger Meilen alte, mittlere, junge und die jüngste Zeiten bei einander; hier haucht man noch die Luft des zwölften, dort singt man die Weisen des sechzehnten, zehnten, vierten Jahrhunderts; auf einmal steigt man in Cabinette, die unter dem üppigen Herzog-Regenten angeordnet, in Galerien, die unter Ludwig 14. gesammlet, und endet mit Anstalten, die fürs zwanzigste Jahrhundert ersonnen zu sein scheinen. So unterrichtend dies Chaos für einen Reisenden sein mag: so verwirrend und unterdrückend müßte es für den Bewohner sein, wenn sich die menschliche Natur nicht an Alles gewöhnte. ›Herr, er stinket schon,‹ sagte jene traurige Schwester, ›denn er hat schon vier Tage im Grabe gelegen‹. Bei manchen Einrichtungen könnte man vier Jahrhunderte sagen; und noch riechen sie ihren Brüdern und Schwestern nicht übel.«16 Die Kritik war jedoch ambivalent: wurden diese Ungleichzeitigkeiten als Ausdruck kultureller Vielfalt betrachtet, so konnten in den vermeintlich fortschrittshemmenden Faktoren positive Zukunftschancen erkannt werden. Möser etwa machte in der Auseinandersetzung mit Friedrich II. das vermeintlich englischdeutsche Prinzip geltend, »daß der Weg zur Mannigfaltigkeit der wahre Weg zur Größe sei«.17 Gleiches gilt für den Plan einer deutschen Akademie, den Herder 1787 im Zusammenhang mit den Reformplänen des Fürstenbundes im Auftrag des Markgrafen von Baden und des Herzogs von Sachsen-Weimar entwarf. Im Kern stellte dieses Projekt ohne Rea-
14. Möser, Justus, Über die deutsche Sprache und Literatur [1781], in: Horst Steinmetz (Hrsg.), Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente, Stuttgart 1985, S. 122-141, hier S. 137. 15. Ebd., S. 126. 16. Herder, Johann Gottfried, Werke in 10 Bänden, Frankfurt am Main 19852000, Bd. 8, S. 226 (Tithon und Aurora, 1792). Zum »Reich als Erfahrungsraum« vgl. Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 77ff. 17. Möser, Über die deutsche Sprache und Literatur, S. 131. 227
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EUROPA UND DER WESTEN
lisierungschance den Versuch dar, die Schwäche des Reiches zu seiner Stärke zu machen, nämlich seine ungleichzeitige Vielgestaltigkeit in einem föderalen Überbau kulturell produktiv werden zu lassen. Die temporale Perspektive dieses Prinzips der mannigfaltigen Einheit stellte sich für Herder wie folgt dar: »Wir erscheinen später, gegen andre Nationen betrachtet; aber wir kommen desto bereiteter und geprüfter«.18 In ähnlicher Weise hatte er bereits früher das ungleichzeitige Verhältnis zwischen aufklärerischer Erkenntnis und politischer Praxis kritisiert und ihm gleichzeitig eine positive Zukunftsperspektive abgewonnen, versehen freilich mit einem dreifachen vielleicht: »In Deutschland dauret das sechszehnde Jahrhundert noch fort oder soll wenigstens noch fortdauren. Eine Trümmer dieser alten Verfassung nährets Wissenschaften, die mit sich selbst und dieser Verfassung im sonderbarsten Gegensatz sind und sich, ihr ungeachtet, doch fortbreiten, forterben. Vielleicht werden wir ersetzen, was wir im obengenannten Jahrhunderte zu rasch taten. Die letzten darin, Wissenschaft und Regierung auf Einerlei Grundsätze zu bauen und in Ein Werk zu einigen, werden wirs vielleicht desto reifer vollenden – Angrenzende Reiche und Provinzen gehen uns stark vor; wir sind aber vielleicht zu reich, um unsern Reichtum zu übersehen, zu nützen, zu ordnen«.19 Anspielend auf die Verheißung, dass die Letzten die Ersten sein werden, erscheinen hier Reife und Reichtum potenziell als Frucht der Mannigfaltigkeit und als Kompensation der langsameren Entwicklung. In seinen unter dem Eindruck der Revolution geschriebenen Humanitätsbriefen hat Herder diesen neuen Gehalt des Verspätungstopos paradigmatisch in Rede und Gegenrede formuliert: »Wir wachten auf, da es allenthalben schon Mittag war und bei einigen Nationen sich gar schon die Sonne neigte. Kurz, wir kamen zu spät. Und weil wir so spät kamen, ahmten wir nach: denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen. […] So sind wir fortgeschritten; und wer ahmt uns nach? Wenn in Italien die Muse singend konversiert, wenn sie in Frankreich artig erzählt und vernünftelt, wenn sie in Spanien ritterlich imaginiert, in England scharf- oder tiefsinnig denket, was tut sie in Deutschland? Sie ahmt nach. Nachahmung wäre also ihr Charakter, eben weil sie zu spät kam. Die Originalformen waren alle verbraucht und vergeben«.20 Auf diese Negativsicht folgt die optimistische Gegenposition, welche die privilegierten Erkenntnismöglichkeiten des Späterkommenden hervorhebt: »Wahr ists,
18. Herder, Werke, Bd. 9/2, S. 573 (Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands, 1787). 19. Ebd., S. 382 (Vom Einfluss der Regierung auf die Wissenschaften […], 1780). 20. Ebd., Bd. 7, S. 549 (Briefe zu Beförderung der Humanität, 8. T. 1796). 228
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
wir kamen zu spät; desto jünger aber sind wir. Wir haben noch viel zu tun, indes andre ruhn, weil sie das Ihrige geleistet haben. Und waren wir in jenen Zeiten müßig? Nichts weniger; durch andre, vielleicht gewichtigere Geschäfte wurden wir von einer Bahn zurückgehalten, die uns immer noch blieb. […] Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten: so wären wir unter ihnen das, was der Mensch gegen alle die Neben- und Mitgeschöpfe ist, von denen er die Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, sah Jedem seine Art ab, und übertrifft oder regiert sie alle«.21 Die deutsche Verspätung wird hier »zum Indiz einer nationalen Kulturentelechie«,22 sie gerät (im Optativ) in die Nähe des nationaluniversalistischen Sendungsgedankens, wie er wenig später angesichts des sich immer deutlicher abzeichnenden Zerfalls des Reiches in Schillers Gedichtfragment mit dem nachträglich verliehenen Titel Deutsche Größe auftaucht. Niedergeschrieben wurde der Entwurf vermutlich nach dem Frieden von Lunéville vom 9. Februar 1801, in dem sich Frankreich im Vertrag mit Österreich und dem Reich des linken Rheinufers versicherte und dadurch das Säkularisationsprinzip auf die politische Tagesordnung setzte, was die Umgestaltung des Reiches unausweichlich machte. Schillers Ausgangspunkt ist der zeitgeschichtliche »Augenblick«, also die militärisch wie diplomatisch besiegelte Niederlage und der drohende Untergang des Reiches, seine Frage die nach der Möglichkeit eines deutschen Nationalbewusstseins angesichts des äußeren Niedergangs. Gründen könne sich dieses, da »Deutsches Reich und deutsche Nation […] zweierlei Dinge« seien, auf die »deutsche Würde« als einer »sittliche[n] Größe«, die »in der Kultur u: im Character der Nation« ihren Ursprung habe. Mit dem Bild des blühenden Emporwachsens aus »den gothischen Ruinen einer alten barbarischen Verfassung« illustriert Schiller die innere Ungleichzeitigkeit des Reiches, in dessen greiser Hülle ein jugendlicher Geist emporstrebt.23 Damit bahnt sich der Umschlag des momentanen Nachteils in den langfristigen Vorteil »an dem Ziel der Zeit« an. Da das eigentliche, innere deutsche Reich der »Sitte und Vernunft« im Weltplan das entscheidende ist, werden die Deutschen als die vermeintlich Letzten die Ersten sein »und das langsamste Volk wird alle die schnellen flüchtigen einhohlen«. Die »andern Völker waren dann die Blume, die abfällt« und die deutsche Sprache »wird die Welt beherrschen«, da nur sie »das jugendlich griechische und das modern ideelle« verbinden kann. Dem
21. Ebd., S. 550f. 22. Wiedemann, Deutsche Klassik und nationale Identität, S. 545. 23. Schiller, Friedrich, Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2/I: Gedichte, Weimar 1983, S. 431. 229
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Zentralismus Frankreichs und Englands steht die kulturell überlegene Organisationsform des heterogenen Deutschlands gegenüber. Die Mission des Deutschen ist es, »die Menschheit die allgemeine in sich zu vollenden«, er ist »der Kern der Menschheit« und ihr Archiv: »Er ist erwählt von dem Weltgeist, während des Zeitkampfs an dem ewgen Bau der Menschenbildung zu arbeiten, zu bewahren, was die Zeit bringt. Daher hat er bisher fremdes sich angeeignet und es in sich bewahrt, Alles was schätzbares bei andern Zeiten u: Völkern aufkam, mit der Zeit entstand und schwand, hat er aufbewahrt[,] es ist ihm unverloren, die Schätze von Jahrhunderten. Nicht im Augenblick zu glänzen und seine Rolle zu spielen sondern den großen Prozeß der Zeit zu gewinnen. Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Aernte der ganzen Zeit – wenn der Zeiten Kreis sich füllt, und des Deutschen Tag wird scheinen […]«.24 Indem Schiller das biblische Motiv der Fülle der Zeit bemüht, wird der Kairos zur eigentlichen deutschen Zeit. Bleibt das Eintreten der Zeit der Erfüllung hier noch unbestimmt, so erscheint für Novalis bereits die Gegenwart als ihr Beginn. Die Revolution ist für ihn der Höhepunkt der »Geschichte des modernen Unglaubens«, der »das Land zuerst treffen [musste], das am meisten modernisiert war«, und damit der zum Kairos weisende heilsgeschichtliche Wendepunkt: »Daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, […] dieses kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben«.25 Nicht dem modernen Frankreich, sondern dem langsameren Deutschland komme nun die Führung zu: »In Deutschland hingegen kann man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen. Deutschland geht einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Partei-Geist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der
24. Ebd., S. 432 f. Vgl. aus Schillers Horen den anonymen Aufsatz von Woltmann, Karl Ludwig, Beitrag zu einer Geschichte des französischen National-Charakters, in: Die Horen, 1795, 5. Stück, S. 15-49, hier S. 48f.: »Deutschland ist gleichsam das Magazin des erhabenen Genius, welcher die Menschengeschichte leitet, in das er die aus allen Gegenden zusammengeholten Schätze niederlegt. […] Die Deutschen werden erst in der Zukunft, wann alle Nationen sich mehr wie Weltbürger, als wie Individuen betrachten, den verdienten Ruhm davon tragen. Alsdann wird man ihre Verfassung, welche jetzt so oft das Ziel des Spottes und der Verwünschung ist, gern segnen, weil vorzüglich durch sie wir geschickt wurden, so früh Weltbürger zu werden; dann wird man einsehen, daß wir als Nation aufgeopfert wurden, um einer höhern Pflicht desto leichter nachkommen zu können«. 25. Novalis (Hardenberg, Friedrich von), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, Stuttgart 1991, S. 79f. (Die Christenheit oder Europa, 1799, Erstdruck 1826). 230
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Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die andere[n] im Lauf der Zeit geben«.26 Diese Beispiele zeigen, dass Ungleichzeitigkeits- und Defiziterfahrungen am Ende des 18. Jahrhunderts, besonders ab 1789/92, zur Ausprägung eines temporalen Orientierungsmusters beigetragen haben, das in der Folge als religiös aufgeladener Sendungsgedanke die Vorstellungswelt des deutschen Nationalismus prägte und ein zentrales Motiv geschichtsphilosophischer Entwürfe wie z.B. noch Karl Marx’ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) darstellte. Die Umdeutung des Verspätungstopos zu einer zukunftsverbürgenden nationalen Zeitdimensionierung lässt sich mit Reinhard Bendix als »Archetyp der geistigen Mobilisierung unter Bedingungen relativer Rückständigkeit« bezeichnen, als eine »säkulare Prophetie«, die in einer von Ungleichzeitigkeiten und Verspätungen geprägten Situation auf eine nationale Tiefenstruktur der langen Dauer rekurriert, die es ihr erlaubt, die temporalen Vorzeichen gleichsam umzukehren.27 Diese Funktion, so wird im Folgenden argumentiert, kam an der Wende zum 19. Jahrhundert auch dem Nationalcharaktermodell zu.
3. Deutsches Phlegma vs. französische Efferveszenz. Volkscharakter und nationale Geschwindigkeit Die Rezeption der Französischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit wurde entscheidend durch ihren besonderen Ereignischarakter geprägt, durch die Zeiterfahrungen des beschleunigten Wandels und des lähmenden Stillstands, durch das Aufeinanderprallen scheinbar ungleichzeitiger Prinzipien, Strukturen und Institutionen, durch die kontingenten Ereignisse politischer und militärischer Krisen.28 Das rasche Tempo des Umsturzes bestimmte dessen Einschätzung im Reich von Anfang an mit. Zwar brachten die meisten Aufklärer Verständnis dafür auf, »daß der erste Stoß seiner Revolution bloß durch seine Ge-
26. Ebd., S. 81. 27. Bendix, Freiheit und historisches Schicksal, S. 130. 28. Vgl. zu einigen Aspekten Johannsen, Jochen, Vom Zeitigen in der Geschichte. Revolution, Zeiterfahrung und historische Sinnbildung beim späten Herder, in: Herder-Jahrbuch/Herder Yearbook 4, 1998, S. 71-95. Becker, Ernst Wolfgang, Zeit der Revolution! – Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789-1848/49, Göttingen 1999, setzt sich kritisch von den einschlägigen Arbeiten Reinhart Kosellecks ab, bestätigt dessen Ergebnisse aber letztlich doch. Becker geht auf den Zusammenhang von Zeiterfahrung und Nationalismus um 1800 ein (ebd., S. 108ff.), vernachlässigt aber den hier behandelten Aspekt der temporalen Aufladung von Nationalcharakteristika. 231
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schwindigkeit wirksam seyn konte«, doch erwarteten sie danach einen langsamen, vernünftigen Prinzipien folgenden Reformprozess, da das »Geschwind-Regieren« eine Eigenschaft sei, »die nur ein Despot haben kan«, wie Johann Georg Schlosser exemplarisch aus der Geschichte folgerte.29 Drohten schon die Versuche des aufgeklärten Absolutismus, »eine schnellere Betreibung der Geschäfte, eine schnellere Kultur [zu] bewirken«, bei einer Übersteigerung des Veränderungstempos in ihr Gegenteil umzuschlagen, da nun einmal »die beste Kultur eines Volks […] nicht schnell« sei,30 so bestand diese Gefahr erst recht bei einer Revolution. Die anhaltende »Wetterschnelle« der politischen und militärischen Geschehnisse widersprach in manchen Augen dem Ideal der stillen Vollendung der Menschheit, das mit dem anthropologisch universellen Bedürfnis der Kontingenzvermeidung korrespondierte.31 Die verbreitete Problematisierung der Schnelligkeit der Revolution als gefährlich und dem aufgeklärten Reformtempo entgegengesetzt verknüpfte sich in der Folge mit der Frage nach den temporalen Dispositionen des französischen und des deutschen Nationalcharakters. Dies lässt sich an einigen Kommentaren zur konstituierenden Nationalversammlung verdeutlichen. Im August 1789 schilderte der gerade in der französischen Metropole32 eingetroffene Braunschweiger Aufklärer Joachim Heinrich Campe in seinen Briefen aus Paris die berühmte Nachtsitzung der Nationalversammlung vom vierten auf den fünften August, in der die Versailler Konstituante in einer emotionalen Debatte die Abschaffung bzw. Ablösung der Feudalrechte und Privilegien beschloss. In dieser Nacht zelebrierten, so später Niebuhr in Anknüpfung an die Rhetorik der
29. Schlosser, Johann Georg, Vom Geschwind-Regieren. Ueber eine Stelle des Kallimachus, in: Neues Deutsches Museum 1, 1789, 5. Stück, S. 461-473, hier S. 472 bzw. S. 468. Vgl. im folgenden Stück (Dezember 1789) die Vermutung, der »heftige Eindruck«, den die Revolution im Reich gemacht habe, gründe »in dem schnellen, dem glänzenden der Operazion die das Werk weniger Tage war« (Anonymus, Ueber Voltairens Vorhersagung der französischen Revoluzion, in: Neues Deutsches Museum 1, 1789, 6. Stück, S. 627-638, hier S. 637). 30. Herder, Werke, Bd. 7, S. 66 (Briefe zu Beförderung der Humanität, 1. T. 1793: Kritik an Joseph II.). 31. Vgl. Anonymus, Kein Volk ist reif zur Revolution [1799], in: Theo Stammen/Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 423-425, hier S. 424. 32. Vgl. Oesterle, Günter, Urbanität und Mentalität. Paris und das Französische aus der Sicht deutscher Parisreisender, in: Michel Espagne/Michael Werner (Hrsg.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace Franco-Allemand (XVIIIe et XIX siècle), Paris 1988, S. 59-79, zu Paris als dem »Inbegriff geschichtlicher Zeitbeschleunigung« S. 67. 232
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Deputierten, der erste und der zweite Stand mit der Aufgabe von Herrschaftsrechten einen »Holokaust«, ein Brandopfer also, »auf dem Altar des Vaterlandes«.33 Campe, der bei dieser Sitzung freilich nicht anwesend war, berichtete seinen Lesern, die Versammlung sei »wie durch einen elektrischen Funken zum höchsten Enthusiasmus« fortgerissen worden: »Das ganze alte Gebäude des Lehnsystems mit allen seinen glänzenden Vorrechten für die Herrschaften, mit allen seinen drückenden Lasten für die Untertanen ward in einigen Minuten von Grund aus umgestürzt und zernichtet«.34 Auch dem Revolutionsanhänger, dem die historische Bedeutung der Ereignisse bewusst war, erschien dieser Akt als »ein hohes, rührendes, weinerlich-komisches Drama«: »Die sämtlichen Mitglieder der Nationalversammlung schienen von ihrem ehemaligen Nationalcharakter, den sie bis dahin bei allen ihren Beratschlagungen und Beschlüssen nur in seiner neuen Veredlung gezeigt hatten, auf einmal wieder überrascht zu sein und fortgerissen zu werden. Die aufbrausende Lebhaftigkeit (l’effervescence) und das dieser Nation nur allein eigene, höchst sonderbare Gemisch von Vollkraft (Energie) und Leichtsinn, von Erhabenheit und Flachheit, von Ernst und Scherz, von Würde und Spaßhaftigkeit – diese Hauptzüge in dem ehemaligen französischen Nationalcharakter – zeigten sich wohl nie auffallender und in einem stärkeren Lichte, als bei dem Kerzenscheine dieser merkwürdigen nächtlichen Sitzung«. Campe deutete also einen der herausragenden Momente der frühen Revolutionsphase als Rückfall der Standesvertreter in ihren durch die Revolution scheinbar überwundenen alten Nationalcharakter, der die rasche Akklamation der zeitraubenden Erwägung vorzog: »mit wunderbarer Schnelligkeit« folgten weitreichende Vorschläge aufeinander, die nicht eingehend beraten wurden, denn »ein allgemeiner tumultuarischer Zuruf machte sie zu unwiderruflichen Beschlüssen in dem nämlichen Augenblicke, da sie vorgetragen wurden«.35 In dem Freudentaumel und der allgemeinen Verbrüderungsstimmung, deren Zeuge Campe am folgenden Tag in Paris wurde, hätten nur wenige kühlen Kopf bewahrt und »die Schnelligkeit und tumultuarische Art« der Beschlussfassung getadelt sowie den »kindischen Leichtsinn […], der uns«, so zitiert Campe diese
33. Niebuhr, Barthold Georg, Geschichte der französischen Revolution [1829/ 1845], in: Horst Günther (Hrsg.), Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker, Frankfurt am Main 1985, S. 879-1046, hier S. 953. 34. Campe, Joachim Heinrich, Briefe aus Paris, während der Revolution geschrieben [1790], in: Horst Günther (Hrsg.), Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker, Frankfurt am Main 1985, S. 9-102, hier S. 43. 35. Ebd., S. 44. 233
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Franzosen, »bevor wir eine wirkliche Nation waren, charakterisierte«.36 Zehn Tage nach dieser Nacht des vierten August machte Campe seinen ersten Besuch in der Nationalversammlung in Versailles, um an dem »förmlichen Leichenbegräbnis des französischen Despotismus« teilzunehmen, fand sich aber zu seinem Erstaunen in einer »wahren Judenschule« wieder37, in der planlos durcheinander gebrüllt wurde: »Es ist ein wahres Unglück für die gute Sache der Nation, daß diese Versammlung aus eintausendzweihundert Köpfen und zwar, was noch viel mehr sagen will, aus eintausendzweihundert französischen Köpfen besteht. Eine so zahlreiche Versammlung von Menschen, deren jeder nicht nur das Recht, sondern auch eine prickelnde Begierde zu reden hat, würde schon in jedem andern Lande, auch in solchem, wo der Grundstrich des Nationalcharakters Phlegma ist, in der Menge ihrer Mitglieder gar große Hindernisse und Schwierigkeiten finden, wodurch die Ordnung und der regelmäßige Fortgang ihrer Verhandlungen oft würde unterbrochen werden. Nun denke man sich diese zahlreiche Gesellschaft aus lauter Franzosen bestehend, d.i. aus Leuten von der allerlebhaftesten Sinnes- und Handlungsart, aus Leuten, die vermöge ihres Nationalcharakters zum Aufbrausen (Efferveszieren) so sehr geneigt sind, die schlechterdings […] unvermögend sind, eine ihrem Herzen oder Verstande einmal lebhaft gewordene Empfindung oder Idee zurückzuhalten […]: und man wird die übermäßige Lebhaftigkeit ihrer geräuschvollen Versammlung eben so verzeihlich als begreiflich finden«.38 Campes Äußerungen sind beispielhaft für ein verbreitetes Schema der zeitgenössischen deutschen Revolutionsrezeption: der beschleunigte Geschehensablauf der durch die assemblée nationale verkörperten Revolution wurde mit den temporalen Besonderheiten des ›efferveszierenden‹ französischen Nationalcharakters erklärt, wobei Campe seine kurz zuvor geäußerte Idee von dessen »angefangene[r] Umschmelzung und Läuterung«39 durch die Revolution bezeichnen-
36. Ebd., S. 46. 37. Ebd., S. 79f. Eine Untersuchung der in dieser Epoche den Juden zugeschriebenen Temporalstereotypen wäre ein lohnendes Unterfangen, das, so die hier nicht weiter auszuführende These, einige Parallelen in der temporalen Fremdheits- bzw. Feindschaftskonstruktion zu Tage fördern würde. 38. Ebd., S. 82f. 39. Campe, Joachim Heinrich, Briefe aus Paris, während der Revolution geschrieben [1790], in: Ruth Florack (Hrsg.), Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001, S. 740-746, hier S. 741. In einem späteren Reisebericht betont Campe wieder die nationalcharakterliche Kontinuität der Franzosen: Campe, Joachim Heinrich, Reise durch England und Frankreich in Briefen an einen jungen Freund in Deutschland [1803], in: Ruth 234
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derweise schon relativierte. Ein solcher Gedanke fand sich auch bei dem schwäbischen Publizisten Schubart, der die Überzeugung von der Schnelligkeit des französischen Nationalcharakters teilte (»Da der französische Genius nicht langsam, sondern stürmenden Flugs zum Ziele eilt, so ist ihm der Gedanke ganz natürlich: auf einmal durch eine patriotische Aufopferung den Staat in vollem Glanze herzustellen«40), jedoch im Verfassungsgebungsprozess der Konstituante gegenläufige Tendenzen erkannte: »Geduld! eine große Sache bedarf Zeit, und es ist schon von guter Vorbedeutung, daß die Franzosen in dieser wichtigen Angelegenheit nicht mit dem raschen, fluggleichen Gange ihres Nationalcharakters vorgeschritten sind, sondern daß sie alles tief, ernst und lang überlegen«.41 Schubarts Einschätzung war ambivalent, da ihn das Ausbleiben der von ihm baldigst erwarteten Verfassung ein Scheitern der Revolution befürchten ließ: »Das rasche, blitzschnelle Frankreich sollte, seinem Charakter gemäß, schon lange in neuer Schöpfung dastehen […]«.42 Führte das Erscheinungsbild der Nationalversammlung also zu Irritationen der überspannten Erwartungen deutscher Revolutionsanhänger, so konnten Kritiker der Revolution in ihm ihre Klischees von dem unreifen, ja kindischen Nationalcharakter der stets vorschnellen westlichen Nachbarn wiederfinden. Für Friedrich Gentz etwa sprach aus den Verhandlungen der Nationalversammlung der »grenzenlose, so ganz charakteristische Leichtsinn der französischen Nation, die einzige Erklärung, die es für tausend sonst unerklärliche Erscheinungen der letztern Jahre gibt«.43 Hier wird die Schlüsselfunk-
Florack (Hrsg.), Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001, S. 746-755. 40. Schubart, Christian Friedrich Daniel, Deutsche Chronik. Eine Auswahl aus den Jahren 1774-1777 und 1787-1791, Köln 1989, S. 323 (Vaterlandschronik, 76. Stück, 22. September 1789). 41. Ebd., S. 328 (Vaterlandschronik, 101. Stück, 18. Dezember 1789). 42. Ebd., S. 332 (Chronik, 6. Stück, 19. Januar 1790). 43. Gentz, Friedrich, Über die Deklaration der Rechte [1793], in: Hermann Klenner (Hrsg.), Burke, Edmund/Gentz, Friedrich, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991, S. 460-506, hier S. 475. Siehe auch Burkes Kritik an der Raschheit der Konstituante und seine Forderung nach einer langsamen Verfassungsevolution: Burke, Edmund, Betrachtungen über die Französische Revolution. Nach dem Englischen des Herrn Burke neu-bearbeitet […] von Friedrich Gentz [1793], in: Hermann Klenner (Hrsg.), Burke, Edmund/Gentz, Friedrich, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991, S. 47-392, hier S. 304f.; Vgl. auch Anonymus, Die Franzosen sind Kinder, in: Politische Annalen 3, 1793, S. 208219 (die »Uebereilung« der Nationalversammlung als Signum des französischen Nationalcharakters), und Dyck, Johann Gottlieb [anonym], Politische Aufsätze vom einem 235
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tion des Nationalcharaktermodells als Letztbegründung des Revolutionsverlaufs deutlich: es bot eine Möglichkeit, den kontingenten, beschleunigten Charakter der Umbruchsepoche mit einem Element der Dauer zu erklären und zugleich die Zukunftsaussichten zu sondieren.44 Michael Maurer hat den Umstand betont, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das in einer langen Überlieferungstradition stehende Konzept des Nationalcharakters, das an gelehrte Wissensbestände wie Klimatheorie und Temperamentenlehre anknüpfte, trotz aller aufklärerischen Vorurteilskritik in neuer Weise identitätsbildend wirksam wurde.45 Die Wahrnehmung nationaler Ungleichzeitigkeiten hat dazu bereits vor der Revolution beigetragen, doch wurde die Konjunktur von Nationalstereotypen durch den erhöhten Deutungs- und Orientierungsbedarf ab 1789/92 noch verstärkt. Vieles musste beantwortet und erklärt werden: angefangen von der Frage, warum es in Frankreich zur Revolution gekommen war bzw. ob es auch im Reich und seinen Partikularstaaten dazu kommen könnte, über die Frage, wie die Korrumpierung der revolutionären Ideale vor allem seit Beginn der Revolutionskriege zu erklären war, bis hin zur totalen Niederlage der deutschen Mächte in den napoleonischen Kriegen. Das Nationalcharakterkonzept bot Deutungschancen, die plausibel machen, warum die öffentliche Diskussion der epochalen Ereignisse nicht nur vermehrt darauf zurückgriff, sondern auch warum neue Theoretisierungen im Rahmen anthropologisch argumentierender Geschichtsentwürfe und komparatistischer Gegenwartsdeutungen vorgenommen wurden.46 Die
Freund der Wahrheit. Veranlaßt durch die französische Revolution [1795], in: Theo Stammen/Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 17891806, Darmstadt 1988, S. 331-333 (das Parlament als Beleg für Unstetigkeit und Neuerungssucht der Franzosen). 44. Mercy, Josef Alois, Ueber die französische Nation und die Franzosen, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, 1799 (II), Oktober, S. 350-362, hier S. 362: »Allein über dem Uebergange zu einem ganz entgegengesetzten Extreme schwebt noch zu viel Dunkel, und nur der Nationalcharakter eines Volkes kann uns den Schlüssel geben, dieses mühsame Räthsel aufzulösen«. Vgl. auch Friedrich Schlegels Betrachtung der Französischen Revolution »als den Mittelpunkt und den Gipfel des französischen Nationalcharakters, wo alle Paradoxien desselben zusammengedrängt sind«, in: Theo Stammen/Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 403 (Athenäum-Fragment Nr. 424, 1798). 45. Maurer, Michael, »Nationalcharakter« in der Frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Reinhard Blomert/Helmut Kuzmics/Annette Treibel (Hrsg.), Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt am Main 1993, S. 45-81. 46. Vgl. Oesterle, Günter, Kulturelle Identität und Klassizismus. Wilhelm von 236
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
Orientierung an Nationalstereotypen stellt sich, und zwar zunächst unabhängig davon, ob diese als grundsätzlich unveränderlich oder als historisch wandelbar angesehen wurden, als Versuch dar, Elemente der langen Dauer in die krisenhaft sich wandelnden Zeitläufe einzuziehen, Kontingenz also mit Hilfe von Kontinuität zu bewältigen. Solche Strukturen konnten verwendet werden, um den Wandel in seiner Rapidität zu erklären. Dabei stand dem gebildeten Publikum in Deutschland ein ganzer Fundus tradierter Stereotype im Verhältnis zu Frankreich zur Verfügung, der in vielen Elementen unschwer bis zum barocken Sprachpatriotismus, zu den deutschen Humanisten und noch weiter zurück zu verfolgen ist. Dies gilt auch für die Zuschreibung bestimmter temporaler Eigenheiten zu einzelnen Völkern. So wurden im Streit der deutschen und der italienischen Humanisten um 1500 Nationalcharaktere auch über die wechselseitige Behauptung verschiedener Formen des Umgangs mit Wandel konstruiert. Der ursprungsnahen Unwandelbarkeit und Beharrungsfähigkeit auf deutscher Seite stand im italienischen Gegenbild dynamisch-fortschrittliche Beweglichkeit und Modernität gegenüber.47 Im Grunde wurde damit eine Konstruktion differenter nationaler Geschwindigkeiten oder auch Zeitlichkeiten vorgenommen, die über die Jahrhunderte den Rang einer anerkannten anthropologischen Konstante gewann, für deren empirische Gültigkeit Philosophie und Wissenschaft bürgten, wie etwa der Stereotypenkatalog zeigt, den Kant 1798 in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ausbreitete. Zwar waren für ihn, »ihrem angeborenen Charakter nach«, Engländer und Franzosen das paradigmatische Gegensatzpaar, doch auch die ›leichtsinnigen‹ Franzosen und die ›tiefschürfenden‹ Deutschen befinden sich an verschiedenen Enden einer Skala: dort der das Alte oft vorschnell umstürzende Enthusiasmus der Franzosen, hier das jeder »Neuerungssucht« abholde, dauerhafte und vernünftige »Phlegma (im guten Sinn genommen)« der deutschen Kosmopoliten.48
Humboldts Entwurf einer allgemeinen und vergleichenden Literaturerkenntnis als Teil einer vergleichenden Anthropologie, in: Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main 1991, S. 304-349. 47. Reinhardt, Volker, Der Primat der Innerlichkeit und die Probleme des Reiches. Zum deutschen Nationalgefühl der frühen Neuzeit, in: Bernd Martin (Hrsg.), Deutschland in Europa. Ein historischer Rückblick, München 1992, S. 88-104. Vgl. Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 92ff., sowie allgemein als umfangreiche Dokumentation Florack, Ruth (Hrsg.), Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001, die Quellen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert versammelt. 48. Kant, Immanuel, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Po237
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Solche Motive sind in der deutschen Auseinandersetzung mit den Franzosen und ihrer Revolution gehäuft wiederzufinden. Mochten die widerstreitenden Nationaleigenschaften nun, wie bei Campe, als ›Phlegma‹ bzw. ›Efferveszenz‹ oder mit anderen Begriffen bezeichnet werden: die verschiedenen, ja entgegengesetzten Zeiten der Nationen wurden zu einem zentralen Deutungsmuster des Wandels, das unmittelbar an vorrevolutionäre Debatten wie die um die oben erwähnte Literaturabhandlung Friedrichs II. anknüpfte. Nicht zuletzt ihr »Nationalhumor« habe dazu beigetragen, so etwa Johann Kaspar Riesbeck über die deutschen Gelehrten und »Schöngeister«, dass der preußische König »ihnen die Franzosen und Italiener immer vorzog. Ihr Genie ist langsam […]. Sie haben die Lebhaftigkeit nicht, welche die Franzosen und Italiener in den Stand setzt, das Sonderbare eines Dinges augenblicklich zu fassen, und seine schnellen Beobachtungen dreist herauszusagen«.49 Fällt diese Gegenüberstellung der »Deutschen Langsamkeit«50 und der französischen Schnelligkeit noch positiv für die Franzosen aus, so wurde sie von anderen Autoren mit deren vermeintlicher Frivolität, Sittenlosigkeit und Grausamkeit verknüpft. So heißt es beispielsweise vom Titelhelden in Johann Martin Millers Siegwart (1776): »Er entdeckte mit Verwunderung in dem Gemählde der alten Gallier die Grundzüge, die noch jetzt den Charakter der neuern Franzosen ausmachen: den Wankelmut in ihren schnell, oft übereilt, gefaßten Anschlägen; die Begierde immer etwas Neues auszuhecken und zu erfahren; […] die Grausamkeit, die sich noch jetzt in ihren Todesstrafen
litik und Pädagogik, 2. Werkausgabe, Bd. 12, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1980, S. 659 bzw. S. 667. Zum französischen Nationalcharakter vgl. S. 662f., zum deutschen S. 667ff. Kant erläutert seinen Phlegma-Begriff im Zusammenhang seiner Lehre vom personalen Charakter: dem »Hang zur Untätigkeit« steht ein im Abschnitt über den »Charakter des Volks« auf Deutschland gemünzter positiver Begriff gegenüber: »Phlegma, als Stärke, ist dagegen die Eigenschaft: nicht leicht oder rasch, aber, wenngleich langsam doch anhaltend bewegt zu werden« (ebd., S. 631). Kants Ausführungen stehen im traditionellen Kontext der Temperamentenlehre, vgl. dazu auch die etwas anders gewichtenden Auszüge aus Becker, Johann Heinrich, Kurtzer, doch gründlicher Unterricht von den Temperamenten [1739], in: Ruth Florack (Hrsg.), Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar 2001, S. 197-205. 49. Riesbeck, Johann Kaspar, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland [1783], in: Horst Steinmetz (Hrsg.), Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente, Stuttgart 1985, S. 171-181, hier S. 174. 50. Herder, Werke, Bd. 9/2, S. 101 (Journal meiner Reise im Jahr 1769): Herder befürchtet, seine eigene »Deutsche […] Langsamkeit« könne ihm das Verständnis der französischen Kultur verwehren. 238
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äussert«.51 Die stark negativ besetzte und an Leichtsinn und Brutalität gemahnende französische rapidité wird hier in typischer Weise zu einer bis auf die ältesten Vorfahren zurückgehenden Charaktereigenschaft aller Franzosen mythisiert. Das Zerrbild von den Franzosen, das mit der moralischen Verwerflichkeit und Arroganz des Nachbarvolks argumentierte, wurde jedoch ab 1788/89 zunächst einmal fragwürdig, kontrastierte es doch mit der von der deutschen Öffentlichkeit weithin begrüßten und zum Teil enthusiastisch gefeierten Revolution, von der eine Verwirklichung der eigenen aufklärerischen und bürgerlichen Tugenden erhofft wurde. Deutsche Revolutionsfreunde reagierten auf diesen deutungsbedürftigen Umstand mit einer terminologischen Wendung: aus den eben noch abgelehnten Franzosen wurden das historisch verwandte Brudervolk der Franken (auch: West- oder Neufranken). In dem Maße jedoch, in dem sich die Revolution radikalisierte, Unordnung und Gewalt hervorbrachte, vor allem aber mit ihrer kriegerischen Ausweitung in das Rheinland, rückten die vermeintlich alten Untugenden und das Hegemonialstreben der Franzosen in den Vordergrund – »Gens gallica, gens perfida, ist ein altes Sprüchwort: die Franzosen sind und werden bleiben was sie allezeit waren« – und häuften sich Flugschriften, die solche Kontinuität empirisch zu belegen trachteten: »Ich habe Neufranken gesucht und blos Franzosen gefunden. Ein Sendschreiben eines Teutschen aus Frankreich« (1792), »Die alten Franzosen in Deutschland hinter der neufränkischen Maske verschlimmert« (1793) oder »Schreiben eines reisenden Deutschen, daß die Neu-Franken noch die alten Franzosen sind« (1794).52 Schon solche Titel machen deutlich, in welchem Maße die direkte Konfrontation mit den Franzosen ab 1792 eine Intensivierung der Debatte um ihren Nationalcharakter nach sich zog. Dabei wurde wiederholt der temporale Aspekt dieses Charakters, seine quecksilbrige Schnelligkeit, betont.53 Neben der Frage, inwiefern der Nationalcharakter zu den schnellen militärischen Erfolgen der Revolutionsarmee beitrug, wurde auch dis-
51. Miller, Johann Martin, Siegwart, eine Klostergeschichte [1776], zitiert nach Woesler, Die Idee der deutschen Nationalliteratur, S. 729. 52. Dumont, Franz, The Rhineland, in: Otto Dann/John Dinwiddy (Hrsg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, London 1988, S. 156 – 170, hier S. 167 (Zitat aus: Girtanner, Christoph, Die Franzosen am Rheinstrom, 1793). Zum FrankenTopos vgl. Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 141ff., S. 153ff.; zum Folgenden Schneider, Erich, Revolutionserlebnis und Frankreichbild zur Zeit des ersten Koalitionskrieges (1792-1795). Ein Kapitel deutsch-französischer Begegnung im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Francia 8, 1980, S. 277-393, v.a. S. 333ff. 53. Anonymus, Die Franzosen sind Kinder, S. 209 f., führt diesen Zug auf den »jugendlichen Charakter der Nation, für welchen es keine Mittelstraße giebt« zurück und schließt daraus auf ihre besondere Treulosigkeit und Boshaftigkeit. 239
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kutiert, ob er nicht einen baldigen Zusammenbruch der neuen französischen Staatsform wahrscheinlich mache. Wenn nun die Gegner einer solchen Vermutung den Topos der spezifischen Schnelligkeit und wechselfälligen Neuerungssucht der Franzosen nicht infrage stellten, sondern einigen Aufwand darauf verwendeten, zu beweisen, dass diese trotzdem beharrlich an ihrer Revolution festhalten würden,54 so zeigt dies, wie etabliert diese Gemeinplätze in der deutschen Öffentlichkeit über die beginnende politische Lagerbildung hinweg waren. Konservative Gegner der Revolution konnten seit 1790 bei Edmund Burke lesen, dass ein Umsturz wie der französische in England aufgrund des langsameren, der neuerungssüchtigen Eile der Franzosen entgegengesetzten Nationalcharakters der Engländer nicht stattfinden könne.55 In ganz ähnlicher Weise band der Reichsjurist und Journalist Friedrich Carl von Moser Nationalcharakteristika in seine politische Analyse ein. Der Ausbruch der Revolution ergab sich demnach letztlich aus der französischen Neigung zum Extremen: auf den auf die Spitze getriebenen Despotismus des französischen Absolutismus folgte das andere Extrem der »Vermischung aller Stände«, die nur stattfinden konnte, »bey einem Volk […], das so leicht von einem äußersten Ende zum andern überspringt«.56 Dagegen betont Moser, »Daß, bey aller un-
54. Vgl. Anonymus, Einige Bemerkungen über den Nazional-Karakter der Franzosen in Beziehung auf die Revoluzion, in: Deutsches Magazin 3, 1792, S. 510-528, sowie Knesebeck, Karl Friedrich von dem […ck], Etwas über den Nationalcharakter des jetzigen französischen Volks. (In Briefen an einen Freund), in: Deutsche Monatsschrift 1, 1795, S. 298-312. Knesebeck unterscheidet »zwey Hauptseiten des französischen Charakters, nemlich: Das was der Franzose durch die Natur seines Temperaments ist, und das, wozu ihn jetzt der Drang der Umstände gemacht hat« (ebd., S. 301). Schnell zu Extremen neigend ist »der Franzose durch die Natur seines Klimas und die Art seines Nervengebäudes […]. Ausharrung, und jene seltene Festigkeit, die wir jetzt bey ihm in Verfolgung seines Zwecks erblicken, haben die Umstände erst bey ihm hervorgebracht. Dieß ist er nicht von Natur. Und hier in dieser leichtsinnigen Lebhaftigkeit von Natur und der ernsten Beharrlichkeit und Ausdauer, wozu die Macht der Umstände ihn jetzt empor geschroben hat, liegt der Grund seiner verschiedenen Handlungen, die ohne dieß oft einen Widerspruch in sich enthalten würden« (ebd., S. 303). 55. Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 177: »Vierhundert Jahre sind seitdem über unsre Scheitel gegangen: aber wir haben uns, gottlob, nicht wesentlich verändert. Dank sei es unserm verstockten Widerwillen gegen Neuerungen, dank sei es der kaltsinnigen Trägheit unsers Nationalcharakters, das Gepräge unsrer Vorfahren ist noch sichtbar auf uns. Wir haben – ich hoffe es wenigstens – die Würde und den Seelenadel, der uns im 14ten Jahrhundert auszeichnete, nicht verloren: wir haben uns noch nicht bis zur Wildheit verfeinert«. Vgl. auch S. 179 und S. 199. 56. Moser, Friedrich Carl von, Politische Wahrheiten [1796], in: Theo Stam240
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serer Aufklärung und so vielen anderen caeteris paribus, das Deutsche National-Temperament, im Ganzen genommen, unstreitig vieles dazu beytrage, daß keine solche greuliche Scenen unter uns vorfallen, als die Geschichte anderer Reiche von Frankreich, Engelland, Rußland, Italien etc. aufzuweisen hat. […]. Eine ewige Gedult möchte schwer zu verbürgen seyn; die zwo Extremen des Trotzens und Verzagens liegen in der Natur des Menschen. Frankreich stellt uns die neueste und schrecklichste Beweise dar. Welches Volk hat mehr auf sich treten, sich gedultiger mißhandeln und tiefer erniedrigen lassen? Und wie schnell war der Übergang von der fühllosest geschienenen Langmuth zu rasender Wuth, ja zu wahren Unmenschlichkeiten? Und welche greuelvolle Auftritte stehen, indem ich dies schreibe, noch bevor? Uns Deutsche sichert das National-Phlegma vor dergleichen überschnellten Extremen; wenn der Despotismus auch noch so scharf einschneidet, so ist doch patientia jugi in unserm Character«.57 Die Gegenüberstellung von »dem gesetzten Charakter und gesunden Menschenverstande der Nation« in Deutschland und der »Nation, deren feuriger Geist die Zukunft so leicht in Gegenwart zu verwandeln weiß« in Frankreich bemühten auch solche Denker, die eine Diskreditierung aufgeklärter Reformen im Reich durch die fortschreitende Radikalisierung der Revolution befürchteten.58 Typisch für ihre Rechtfertigung des Reformweges ist die Verquickung zweier Elemente: a) des vermeintlich größeren Grades an Aufgeklärtheit im deutschen Reformabsolutismus im Vergleich zum Despotismus des ancien régime sowie b) der entgegengesetzten Zeit- und Nationalcharakteristika der Deutschen und der Franzosen. So sah zwar August Ludwig Schlözer Frankreich in den Revolutionsereignissen »in eine Gränzenlose Ochlokratie, mit allen den Umständen und Folgen versunken, die man sich bei einer leichtsinnigen, äußerst inflammablen, und zwischen allen Arten von Extremitäten beständig herumirrenden Nation, vorstellen kann!«59 Dennoch, so der Göttinger Historiker etwas später in seinen
men/Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 353f., hier S. 353. 57. Ebd., S. 353f. 58. Wieland, Christoph Martin, Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes [1793], in: Horst Günther (Hrsg.), Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen deutscher Schriftsteller und Historiker, Frankfurt am Main 1985, S. 537570, hier S. 550 bzw. S. 554. Zu den Zeitvorstellungen in den verschiedenen, freilich nur schwer mit heutigen Begriffen zu charakterisierenden politischen Strömungen vgl. Becker, Zeit der Revolution (z.B. zum Reformdenken S. 70ff. bzw. S. 80ff.). 59. Schlözer, August Ludwig, Das Neueste aus Frankreich: Am Schluße des für dieses Königreich so schrecklichen Jahres 1789 [1790], in: Theo Stammen/Friedrich 241
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Stats-Anzeigen, habe die Revolution »ser viel Gutes für die gesammte Menschheit gestiftet« und sei »für Frankreich, wo die Regirung keine Oren für MenschenRechte hatte, und sich steif gegen ihr ZeitAlter sperrte, notwendig« gewesen, während in Deutschland, das den zeitgemäßen Weg aufgeklärter Reformen gewählt hatte, eine solche Notwendigkeit nicht bestand: »so kommen wir Deutsche, wenn gleich langsamer, aber desto sichrer, one Mord und Brand, gerade so weit, oder wills Gott! noch weiter, als die große französische Nation«.60 Kommt Schlözer hier ohne einen Rekurs auf das von Moser beschworene deutsche Phlegma aus, so findet sich dieser Bezug in der ähnlichen Argumentation Adolph von Knigges, der darauf hinwies, dass im Jahre 1789 eine falsche Politik die abrupte Revolutionierung der korrumpierten Zustände in Frankreich »unvermeidlich« gemacht habe: »Die Lebhaftigkeit des National-Charakters ließ voraussehn, daß nun schnelle und rasche Schritte folgen müsten, und es würde albern seyn, bey allen diesen Umständen, von Franzosen etwas anders zu erwarten«.61 Anders, so Knigge später, die Situation im Reich: »Es herrscht im Allgemeinen unter dem niedern Volke in Teutschland weniger schädliche Aufklärung, wie in Frankreich, weniger Raisonnier-Sucht, weniger Lebhaftigkeit, Unternehmungs-Wagehals-Abentheuer-Geist, mehr Phlegma und noch mehr vernünftige Religiosität, besonders in protestantischen Ländern«. Das von »ein paar guthmüthige[n] Schriftsteller[n]« beschworene »Phlegma des teutschen Characters« sei zwar keine Garantie gegen eine Revolution, doch trage es neben der größeren Aufklärung, der föderalen Struktur und der Verfassung des Reiches dazu bei, »daß wir in Teutschland, bey sanftem und weisem Betragen der Landes-Regierungen, vorerst vor allen, der französischen Revolution ähnlichen Begebenheiten sicher zu seyn hoffen dürfen«.62 Auch jene Intellektuellen, die als Republikaner der Revolution und ab September 1792 der Republik gegenüber am aufgeschlossens-
Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 58-63, hier S. 58f. 60. Schlözer, August Ludwig, Ein deutscher Schwarzer am Rhein […] denunciirt [1791], in: Theo Stammen/Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 129f. 61. Knigge, Adolph von, Josephs von Wurmbrands […] politisches Glaubensbekenntniß, mit Hinsicht auf die französische Revolution und deren Folgen [1792], in: Theo Stammen/Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 160-169, hier S. 167. 62. Knigge, Adolph von, Über die Ursachen, warum wir vorerst in Teutschland wohl keine gefährliche Haupt-Revolution zu erwarten haben [1793], in: Theo Stammen/ Friedrich Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution 1789-1806, Darmstadt 1988, S. 254-262, hier S. 261 bzw. S. 257. 242
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ten waren, griffen in ihren Deutungen der Zeitereignisse auf den Topos vom schnellen Frankreich und dem langsamen Deutschland zurück. Zu Recht weist eine neuere Arbeit darauf hin, dass die politischen Ansichten dieser kleinen, in regionaler und sozialer Hinsicht heterogenen Gruppe stark von nationalen Stereotypen und Identifikationsmustern und von moralischen Vorurteilen gegenüber den Franzosen geprägt waren, und dass ihre Vertreter als Anhänger der Gironde ihre Enttäuschung über den Verlauf der Revolution – von der sie sich gleichwohl nicht abwandten – gerade in diesen Kategorien ausdrückten, selbst wenn einige unter ihnen Frankreich besucht hatten oder gar dorthin fliehen mussten.63 In durchaus ähnlicher Weise wie die zumeist literarisch und sozial etablierteren und enger an die Fürstenhöfe gebundenen gemäßigten Aufklärer identifizierten einige Republikaner die verschiedenen nationalen Charaktere und Geschwindigkeiten als einen entscheidenden Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, wie am Beispiel des nach Frankreich geflüchteten republikanischen Schriftstellers Georg Friedrich Rebmann gezeigt werden soll. 1797 konstatierte Rebmann, dass die Französische Revolution an ihrer Übereilung und Schnelligkeit gescheitert sei und zehn Jahre später besser vorbereitet gewesen wäre. »Aufklärung ist der langsamste, aber sicherste Weg zur Erneuung«64 laute demnach die Folgerung für die Deutschen angesichts der Tatsache, dass die hitzige französische politische Kultur bereits vor der Revolution auf »Fanatism« gegründet gewesen sei und schon 1572, lange vor den Septembermorden von 1792, die Bartholomäusnacht hervorgebracht habe: »Der kältere Deutsche hat nie eine Ligue und nie eine Bluthochzeit gehabt; er würde auch keinen zweiten September dulden. Unsere deutschen Revolutionärs würden sich zu den französischen verhalten wie Luther zu Robespierre. Unsere neue Konstitution würde langsam gebaut werden, aber dann auch Jahrhunderte fest stehen, unsere Republik würde sich gegen die fränkische ausnehmen wie Erwins Pyramide gegen das Panthéon. […] unser Münster würde noch nach Jahrhunderten Stürmen und Erdbeben trotzen, während das lichte, schöner ins Auge fallende Panthéon schon im dritten Jahre den Einsturz droht«.65 Das Ausbleiben einer Revolution
63. Reinbold, Wolfgang, Mythenbildungen und Nationalismus. »Deutsche Jakobiner« zwischen Revolution und Reaktion (1789-1800), Bern 1999. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 157f., den Kurzabschnitt »Die Entdeckung der Langsamkeit: ein deutscher Trumpf«, der sich mit dem Hamburger Republikaner Heinrich Christoph Albrecht beschäftigt. 64. Rebmann, Georg Friedrich, Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, Berlin 1990, S. 406 (Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris, 1797). 65. Ebd., S. 442. Die Anspielungen betreffen die antihugenottische Liga des 16. Jahrhunderts und das z.T. von Erwin von Steinbach entworfene Straßburger Münster. 243
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im Reich entsprach für Rebmann diesem ›kälteren‹ deutschen Weg der evolutionären Nachhaltigkeit. Unter den Gründen, die er 1796 dafür benannte, stechen zwei für unseren Zusammenhang besonders heraus: »Die natürliche Bedürftigkeit und Langsamkeit der Deutschen. Es liegt in der Natur des kalten Deutschen, daß er jede Neuerung so lange haßt, bis ihn die augenscheinlichste Erfahrung von den Vorzügen derselben vor der alten Einrichtung überzeugt. […] Das durch die Zerstückelung auch so sehr verschiedenartige Interesse der einzelnen Natiönchen, aus welchen unser Vaterland besteht. In Frankreich waren nur zwei Hauptinteressen, das Interesse des Hofs, […] des Adels, der Geistlichen, und das Interesse des Volkes, der Bürger. […] In Deutschland hingegen haben wir dreihundert kleine Höfchen, zweierlei Religionen und statt einer gleich leidenden Nation mehrere ungleichartige, durch Religion, Sitten, Regierungsform getrennte, hie und da ganz leidlich regierte Völker, die nie gleichen Schritt halten können und werden, ehe eine gänzliche, itzt noch nicht zu erwartende Konsolidation erfolgt«.66 Rebmann erkannte also eine Reihe von nationalen Ungleichzeitigkeiten, die ihm, der wiederholt scharf gegen die Reichsverfassung polemisiert und ihren baldigen Zusammenbruch prophezeit hatte, als ein »anscheinendes Paradoxon, welches Erläuterung verdient« erschien: »Wir danken unsrer anarchischen Konstitution in Deutschland die Verbreitung einer allgemein möglichen Aufklärung«, und folgerte aus diesem Umstand, es sei »durchaus unmöglich, daß bei einer Revolution in Deutschland solche Sottisen wie in Frankreich vorfallen können, weil unter unserm Volk tausendmal mehr klare Begriffe verteilt sind und weil unsre Moralität und unsre Neigung zum Recht und zur Billigkeit, unser reiner Republikanismus den französischen weit übertrifft«.67 Ihre anachronistische Verfassung und ihr Charakter prägen die Langsamkeit der Deutschen, der allein Evolution auf dem Wege der Reform angemessen sei: »Laßt uns nicht umwerfen, aber verbessern; […] laßt uns nicht schnell und glänzend, sondern bedächtig und gut uns umzuschaffen trachten! Revolutionen müssen nicht gemacht werden, sondern Folge der Würkung moralischer Gesetze sein«.68 Wird mal stärker die Reichsverfassung betont, so verschiebt sich an anderer Stelle
Der Hinweis auf die Hugenottenverfolgungen zur Illustration des Wesens der Franzosen war verbreitet, vgl. z.B. Woltmann, Beitrag zu einer Geschichte des französischen National-Charakters, S. 32ff. 66. Rebmann, Werke und Briefe, Bd. 2, S. 99 (Vollständige Geschichte meiner Verfolgungen und meiner Leiden, 1796); vgl. auch ebd., Bd. 3, S. 123 (Ein Wort über den nahen Frieden, 1796). 67. Ebd., Bd. 2, S. 371 (Holland und Frankreich, 2. Teil, 1798). 68. Ebd., S. 373. 244
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
die Gewichtung: »Unser Charakter, der uns langsam zur Revolution geführt hat, wird uns abhalten, die Grenzen derselben zu überschreiten, und uns also auch vor bedeutenden Reaktionen bewahren. […] Man braucht den deutschen Charakter nur obenhin zu kennen, um leicht einzusehen, daß wir keine bedeutende Reaktion zu fürchten haben, weil unsere Revolution nie ihre Grenzen so weit überschreiten und nie so gewaltsam werden kann als die fränkische. […] wir sind langsam, minder gewaltsam vorbereitet worden als die fränkische Nation, und bei uns wird man die alten Gebäude langsam und bedächtig, aber eben darum auch gründlich abtragen, statt daß die Franken mit Wut dagegen anrannten und freilich schneller als wir die Oberfläche abwarfen, aber den Grund dennoch stehen lassen. Mirabeau schon sagte von uns Deutschen: daß das Revolutionsfeuer bei uns Kohlenfeuer sein werde, wenn das fränkische nur Strohfeuer ist. Der Deutsche unternimmt schwer, aber hat er einmal unternommen, so geht er auch nicht wieder zurück. […] Wir sind reifer zur Freiheit, als die Franken es noch jetzt nach acht Jahren des Kampf sind. […] Allein jeder, der den Charakter unsrer Nation kennt, wird leicht mehrere Gründe auffinden können, aus welchen sich die besten Resultate für den ruhigen Gang unsrer früher oder später erfolgenden Revolution ergeben«.69 Verfassung und Nationalcharakter ergaben für Rebmann also ein nationalspezifisches Zeitmaß der Veränderung, mit dessen Hilfe die krisenhafte Gegenwart erklärt werden konnte und das es erlaubte, politische und nationale Hoffnungen auf einen späteren Zeitpunkt hin zu orientieren, indem, analog zum geschichtsphilosophisch argumentierenden Verspätungstopos, ein vermeintlicher Nachteil in einen Vorteil auf lange Sicht umgedeutet wurde. Die nationalcharakterliche Disposition der ›phlegmatischen‹ Deutschen zur Nachhaltigkeit wurde, wie gezeigt, von Vertretern verschiedener politischer Richtungen beschworen und der schnellen, ›efferveszierenden‹ Revolution à la française entgegengesetzt. Das Nationalcharaktermodell mit dem Topos der verschiedenen Völkergeschwindigkeiten blieb als Basis dieser Zeitdimensionierung auch im 19. Jahrhundert akzeptiert, wie etwa die Beispiele eines Vormärz-Liberalen70 oder eines Beobachters der Weltausstellung von 1862 zeigen.71
69. Ebd., Bd. 3, S. 361ff. (Fortsetzung der Ideen über Revolutionen in Deutschland, 1798). 70. Pfizer, Paul Achatius, Briefwechsel zweier Deutschen, Stuttgart, Tübingen 1831, S. 183f.: »Ich behaupte geradezu, der französische Liberalismus, in sofern er französischer Liberalismus ist, taugt für uns Deutsche nicht, weil die Verschiedenheit des Nationalcharakters und der Verhältnisse zu groß ist. Wie der Deutsche ernster, frömmer, inniger und innerlicher ist und überhaupt eine geistigere Richtung hat als der Franzose, 245
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EUROPA UND DER WESTEN
Im schlafmützigen deutschen Michel fanden Langsamkeit und Rückständigkeit der Deutschen ihre ironische Nationalfigur, die in dem Maße zum Gegenstand des Spotts wurde, in dem die erhofften Veränderungen ausblieben.72 Als entscheidend für die »Umwandlung alter Völkerstereotype in bipolare Nationalcharakteristika«73 erwies sich die Kriegsepoche seit 1792 und vor allem die Fremdherrschaftserfahrung der napoleonischen Kriege, die in den österreichischen Niederlagen 1805 und 1809 und im Zusammenbruch Preußens 1806/07 gipfelten. In dem xenophoben, antifranzösischen Nationalismus, der sich bald nach der Jahrhundertwende offen zu artikulieren begann, kam es zu einer immer schärferen Dichotomisierung der verschiedenen nationalen Zeiten, gleichsam zu einer temporalen Aufladung von Feindschaftsvorstellungen. Die Idee einer kommenden »deutschen Zeit« rückte mit der anstehenden politischen Neuorganisation Deutschlands, vor allem nach den Feldzügen von 1813/15, aus dem Bereich geschichtsphilosophischer Spekulation immer stärker in die Halbdistanz politischer Zukunftserwartungen.
4. Franzosenzeit vs. deutsche Zeit in der napoleonischen Ära Auf den Schlachtfeldern der Koalitionskriege wurde dem Topos von der französische Schnelligkeit durch die neue Art der Kriegsführung des revolutionären Frankreichs eine ›unmittelbar‹ erfahrbare Dimension hinzugefügt: »Durch diese Geschwindigkeit, ja selbst durch die Gaukelei dieser Geschwindigkeit, worin sie immer Meister waren, haben die Franzosen die größten Heere besiegt und die Tore der stärks-
so fehlt ihm auch der praktische Weltsinn und Schnellblick, die Beweglichkeit und rasche Entschlossenheit, der stets fertige Witz und die Lebhaftigkeit des Letztern. Die Tugend des Franzosen ist Klarheit, Leichtigkeit, Gewandtheit, die des deutschen [sic] Ueberlegung, Beharrlichkeit, Treue«. 71. Vgl. Gerhard, Ute/Link, Jürgen, Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 16-52, hier S. 18 und S. 23. 72. Glaßbrenner, Adolf [anonym], Verbotene Lieder. Von einem norddeutschen Poeten, Bern 1844, S. 145-155: »Immer langsam voran! Immer langsam voran, / Daß der deutsche Michel nachkommen kann!« (Refrain des Liedes »Der deutsche Michel beim Fortschritt«). 73. Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 83. Jeismanns Darstellung ist um den hier behandelten Zusammenhang zu ergänzen. 246
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JOCHEN JOHANNSEN: DIE ZEIT DER NATION
ten Festungen zersprengt«.74 Vor diesem Hintergrund muss ein Text gelesen werden, in dem Karl von Clausewitz 1807 nach der Rückkehr aus seiner mehrmonatigen Kriegsgefangenschaft in Frankreich versuchte, den Sieg der Franzosen über Preußen und ihre Herrschaft in Deutschland aus dem Nationalgeist und -charakter beider Völker abzuleiten, die ihm nicht zuletzt in temporaler Hinsicht entgegengesetzt zu sein schienen. »Das Hauptingrediens in der französischen Natur und aus welchem sich die ganze Erscheinung am besten erklärt, ist ein reizbares, lebhaftes, aber unbeständiges und eben deswegen nicht tiefes Gefühl«, heißt es bei ihm und er konstatiert, dass die Auffassungsgabe der Franzosen zwar »schnell«, aber oberflächlich und ohne »Ausdauer« sei.75 So regsam und gewandt wie die Franzosen seien, so beschränkt und »lenksamer für die Regierung« und »praktischer für das politische Leben« seien sie auch: eben darin sieht Clausewitz ihren »Nationalgeist«, der letztlich ein erweiterter Korpsgeist sei.76 Aus all diesem resultiere die spezifische Brutalität und der »Enthusiasmus« der Franzosen, ihr »aufwallender, ungestümer Mut«: »Die Grausamkeit, deren die Franzosen fähig sind, wie uns die Revolutionsgeschichte in einem bis dahin unerhörten Beispiele zeigt, was ist sie anders als Reizbarkeit des Gefühls und Mangel an Tiefe? Liebe und Anhänglichkeit bedarf der Zeit, um sich im Herzen fest anzusiedeln, auch bei dem lebhaftesten Menschen; aber Haß und Rache lassen sich in einem Augenblick entzünden«.77 Die Deutschen, ohnehin »fast überall das Gegenteil«, besitzen demnach diese den Franzosen fehlende Zeit, denn sie zeichnen sich durch »mehr Phlegma, […] einen weniger lebhaften Verstand und eine langsamere Operation des Denkvermögens« aus. So entwickeln sie ihre Fähigkeiten und Gefühle »später«, aber dafür »tiefer« und nachhaltiger, d.h. mit »mehr Beständigkeit«. Ihre Nationalsphäre sei nicht, wie bei den Franzosen, die des Politischen und des
74. Arndt, Ernst Moritz, Arndts Werke. Auswahl in zwölf Teilen, Bd. 8, Berlin u.a. [1912], S. 119 (Geist der Zeit III, 1813). 75. Clausewitz, Politische Schriften und Briefe, S. 37 (Die Deutschen und die Franzosen, 1807). 76. Ebd., S. 39. Ähnlich Archenholz, Johann Wilhelm, Einige Bemerkungen über die alten und neuen Franzosen. Geschrieben im May 1799, in: Minerva, 1799 (III), August, S. 276-302, hier S. 279f.: »In der That sind die Deutschen, bey allem ihren Phlegma, nicht so leicht zu beherrschen, wie die Franzosen, die alles thun, was man von ihnen verlangt. Bey der ihrer Nation eigenen Flüchtigkeit nehmen sie sich nicht die Mühe, die Natur der Befehle, das Befugniß der Machthaber, den Zweck und den Nutzen der Ausführung erst lange zu untersuchen«. 77. Clausewitz, Politische Schriften und Briefe, S. 40 f. Zum Zusammenhang von ›Schnelligkeit‹ und ›Grausamkeit‹ der Franzosen vgl. das Zitat von Miller (Anm. 51) sowie Knesebeck, Etwas über den Nationalcharakter, S. 306ff. 247
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Nationalgeistes, sondern die der Abstraktion und des Kosmopolitismus, die sich im Föderalismus des Reichsverbandes eine angemessene äußere Form geschaffen hatte.78 Analog zum Verhältnis von Griechen und Römern beschreibt der preußische Offizier die Deutschen als auf lange Sicht den Franzosen in Sittlichkeit und Bildung überlegen sowie als politisch weniger leicht verführbar und lenkbar – gerade deshalb mussten sie ihnen in dem beschleunigten Ereignissturz seit 1792 unterliegen. Derselbe Clausewitz, der, wie eingangs zitiert, nach den Karlsbader Beschlüssen die Begriffe Zeit und Volk als den rhetorischen Kern der nationalistischen Gedankenwelt identifiziert und ihre Amalgamierung als »Gallimathias« kritisiert hatte, nahm noch 1807 in der Auseinandersetzung mit den Zeitereignissen eben diese Verknüpfung in der Konstruktion temporaler Nationalcharaktere vor – und traf sich dabei ironischerweise mit Joseph Görres, den er dann 1819 als »den besten Repräsentanten dieses ganzen Unwesens« in den Mittelpunkt seiner Kritik stellen sollte.79 Die sich bei Clausewitz widerspiegelnden Erfahrungen von Krieg, Gefangenschaft und nationaler Fremdbestimmtheit schlugen sich am Anfang des neuen Jahrhunderts immer stärker in einem neuen Denkmuster der nationalen Sinnbildung über die Zeit nieder, welches das temporale Nationalcharaktermodell ergänzte und modifizierte, nämlich in der Personifizierung des Zeitgeistes durch Napoleon Bonaparte. Beispielhaft hierfür ist eines der zentralen Werke des frühen deutschen Nationalismus. Ernst Moritz Arndts Geist der Zeit stellte einen Versuch dar, die Gegenwarts- und Zukunftschancen der zu schaffenden deutschen Nation angesichts der Zeit-Krise zu eruieren. Die vier zwischen 1806 und 1818 erschienenen Teile sind ein Barometer nationalistischer Zeitdeutung zwischen Fremdherrschaftserfahrung, Befreiungskrieg und Restauration, in deren Mittelpunkt immer wieder Napoleon als Schlüsselfigur der Epoche steht. Bonaparte, so Arndt, »trägt dunkel den Geist der Zeit in sich und wirkt allmächtig durch
78. Clausewitz, Politische Schriften und Briefe, S. 43f. 79. Vgl. ebd., S. 179. Görres, Joseph, Teutschland und die Revolution, 2. Aufl., Teutschland 1819, S. 4, warnte vor einem »Ueberschnellen« der deutschen Nationalbewegung, die »auf der Warte der Zeit« zu stehen kommen müsse, während die restaurative »Gewalt« Angst habe vor einer »Zeit, die sie nicht begreift, noch weniger zu bändigen weiß«. In seiner früheren Schrift (Görres, Joseph, Resultate meiner Sendung nach Paris im Brumaire des achten Jahres, Koblenz 1800, S. 84ff.) hatte Görres, enttäuscht durch Napoleons Coup, eine Dichotomie deutscher und französischer Nationaleigenschaften ausgebreitet und dabei ähnliche Temporalkategorien bemüht wie 1807 Clausewitz. Als linksrheinischer Deputierter versuchte er in Paris der Idee der verschiedenen Nationalgeschwindigkeiten Gehör in der französischen Administration zu verschaffen (ebd., S. 24f.). Vgl. Reinbold, Mythenbildungen und Nationalismus, S. 80ff. 248
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ihn«. Das individuelle Zeitmaß seines Handelns, »Bewegung und Blitzesschnelle«, entspricht der Geschwindigkeit der historischen Zeitereignisse.80 Diese Zeit-Herrschaft Napoleons ist jedoch nach Arndt nur vorübergehend, da sein ruheloses, überschnelltes Zeitmaß bereits den Keim des Untergangs und der Zeitenwende in sich trage: »Angeborene Größe und Geschwindigkeit kann ihm nicht abgeleugnet werden. Dazu hat er eines von den großen Organen der Herrschaft auf der Erde ergriffen; er ist vollkommen böse. […] Ruhig und fromm aber, mäßig und edel kann dieses fürchterliche Gemüt nimmer werden, in rastloser Unruhe, in unersättlicher Herrschsucht wird es hinfahren, Großes tun und Kleines machen wie alle Erobererseelen. […] Er treibt im Strom der Eroberungen hin, so wie Luft und Glück ihn führen. Er wird darin nicht stillstehen. […] Daß er umstürzt und niederreißt, kann uns nicht wundern; die Zeit ist reif dazu, und er tut, wie es am Tage ist, nur ihren Dienst. […] Nein nimmer, Bonaparte, wie groß und gewaltig du sein magst, nimmer wirst du der Zukunft gebieten und dem Riesengeist, der dir unbewusst durch die Zeit dahinfährt, wie deinen Soldaten den Weg weisen, den er gehen soll. […] Du, indem du nach außen hin den schrecklichen Dienst des Zeitalters tust, machst die letzte Reaktion der vergangenen Zeit«.81 Die Argumentation, dass Schnelligkeit in Verfall münde, ist im Wesentlichen dieselbe, die seit Ausbruch der Revolution gegen den temporalen Nationalcharakter der Franzosen ins Feld geführt wurde. Dieser Charakter der Franzosen ist für Arndt der eigentliche Feind, der nach der ersten Vertreibung Napoleons wieder in den Vordergrund rückt. Die Franzosen sind ihm das »verruchte Volk, das nimmer still seyn kann« und die »unruhigsten und hinterlistigsten Feinde«:82 »Nicht Napoleon Bonaparte […] ist unser erster Feind, sondern die treulosen und unruhigen Franzosen sind es […] Er ist nur der Gährungsstoff, der sie in Bewegung gebracht hat; sie sind die eigentlichen Unheilstifter und Ruhestörer. Sie würden auch ohne ihn nicht lange still gesessen haben, sie werden auch nach ihm nicht still sitzen […]. Das wilde Volk hat Europa nun in die zwanzig Jahre athemlos gehetzt und getrieben«.83 Arndt bleibt jedoch nicht bei der deutschfranzösischen Zeitdichotomie stehen, vielmehr erfährt diese bei ihm
80. Arndt, Arndts Werke, Bd. 6, S. 192 (Geist der Zeit I, 1806). Vgl. ebd., S. 194: »Unaufhaltsam stürzt er sich fort mit Blitzesschnelle wie Dschingis und Attila«. Zu Arndt, dem Napoleon-Bild in Deutschland, sowie allgemein zu den Zeitvorstellungen im frühen deutschen Nationalismus vgl. Becker, Zeit der Revolution, S. 89ff. bzw. S. 108ff. 81. Arndt, Arndts Werke, Bd. 7, S. 145f. (Geist der Zeit II, 1809). 82. Arndt, Ernst Moritz, Das Wort von 1815 über die Franzosen [1815], in: Hans-Bernd Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15, Darmstadt 1981, S. 481-427, hier S. 421f. 83. Ebd., S. 425. 249
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eine gesamteuropäisch-biologistische Ausweitung: »Was offenbart der Germane in Deutschland wie in Island, in Siebenbürgen wie in Preußen, auf den südlichen Alpen und auf den nordischen Fjäll als seinen Grundcharakter, den man immer wieder findet? Eine lichtere Geistigkeit und eine kühlere Sinnlichkeit als die meisten andern Europäer. Er ist ein ernstes, denkendes, sinnendes und oft ein tiefsinniges, grüblerisches und träumerisches Wesen, er weilt gern bei der Betrachtung der übersinnlichen Dinge und dringt tief in die Abgründe des Wahns ein. Dieser Vollkommenheit und Glückseligkeit – denn das ist es allerdings – liegt aber auch eine Unvollkommenheit zur Seite: an geschwindem sinnlichem Lebensreiz, an geschwinder sinnlicher Fülle und Lebendigkeit und Schnelligkeit des Begriffs, insofern die äußere Sinnenwelt dadurch erfaßt und behandelt wird, steht der Deutsche vielen Völkern nach, z.B. den Franzosen, Polen, Russen, die sinnlich lebendiger und schneller sind und die schimmernde Oberfläche und den spielenden Schein der Dinge eher fassen als die kühlen Deutschen«.84 Der neue Begriff der »Franzosenzeit«85 erscheint vor diesem Hintergrund als mehrdeutig: vordergründig die Jahre der Besetzung bezeichnend, verweist er auf die vielfältigen semantischen Verbindungen, die zwischen dem französischen Nationalcharakter und dem allgemeinen Zeitcharakter zu Beginn des 19. Jahrhunderts hergestellt wurden. Er signalisiert eine Fremdherrschaft nicht nur in der Zeit, sondern auch über die Zeit und damit den Verlust der eigenen, national selbstbestimmten Zeit. Paradigmatisch formuliert hat diesen Zusammenhang des Sturzes aus der eigenen Zeit Johann Gottlieb Fichte in seiner im Dezember 1807 gehaltenen ersten Rede an die deutsche Nation: »Was seine Selbständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluß, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen; es wird ihm, wenn es in diesem Zustande verharret, seine Zeit, und es selber mit dieser seiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schicksal gebietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche. Es könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbsttätigen Eingreifen entrückt ist, und in dieser ihm
84. Arndt, Arndts Werke, Bd. 9, S. 244 (Geist der Zeit IV, 1818). 85. Vgl. die von dem Berliner Historiker Friedrich Rühs herausgegebene Zeitschrift für die neueste Geschichte, die Staaten- und Völkerkunde 4, 1815/16, S. 171, S. 181, S. 214. Das Editorial der Zeitschrift enthält ein Bekenntnis zum langsamen Weg des Reformismus, der dem französischen Prinzip entgegengestellt wird (Bd. 1, 1814, S. 4). Nach Rühs, der den Franzosenhass seines Freundes Arndt teilte, dessen Antisemitismus aber noch übertraf, war darüber hinaus die Zeit der »französische[n] Unterjochung« auch »für die Juden eine goldene Zeit«: Bd. 4, 1815/16, S. 428. 250
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nur der Ruhm des Gehorchens übrigbleibt, lediglich unter der Bedingung, daß ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eigenen Abschnitt in der Zeit begönne […]«.86 Fichtes Reden sind eine Reaktion auf die massive Kontingenzerfahrung der völligen Niederlage Preußens. Er muss zugestehen, dass die Zeitdeutung der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/05) nach nur wenigen Jahren bereits Makulatur geworden war,87 und konstatiert für die Deutschen: »die Gegenwart ist nicht mehr unser«.88 Sein Programm der nachhaltigen Nationalerziehung ist eminent zeitbezogen: als »Erhaltungs-Mittel einer deutschen Nation überhaupt« geht es »hervor aus der Beschaffenheit der Zeit, so wie der deutschen National-Eigentümlichkeiten, so wie dieses Mittel wiederum eingreifen soll in Zeit und Bildung der National-Eigentümlichkeiten«.89 Die deutsche Nationsbildung wird bei Fichte zur menschheitsgeschichtlichen Mission: das »Sichselbstmachen« als »die eigentliche Bestimmung des Menschengeschlechts auf der Erde« sei die Aufgabe der anbrechenden neuen Zeit und Fichte ist überzeugt, »daß zu allernächst den Deutschen es anzumuten sei, die neue Zeit, vorangehend und vorbildend für die übrigen, zu beginnen«90 – und damit die Fülle der Zeit einzuleiten, »denn in der neuen Zeit bricht die Ewigkeit nicht erst jenseits des Grabes an, sondern sie kommt ihr mitten in ihre Gegenwart hinein«.91 Damit die deutsche Zeit zur Menschheitszeit werden kann, muss sie aber zunächst einmal ergriffen werden: »Ihr sehet im Geiste durch dieses Geschlecht den deutschen Namen zum glorreichsten unter allen Völkern erheben, ihr sehet diese Nation als Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt. Es hängt von euch ab, ob ihr das Ende sein wollt, und die letzten, eines nicht achtungswürdigen, und bei der Nachwelt gewiß sogar über die Gebühr verachteten Geschlechtes, bei dessen Geschichte die Nachkommen, falls es nämlich in der Barbarei, die da beginnen wird, zu einer Geschichte kommen kann, sich freuen werden, wenn es mit ihnen zu Ende ist, und das Schicksal preisen werden, dass es gerecht sei; oder, ob ihr der Anfang sein wollt, und der Entwicklungspunkt einer neuen, über alle eure Vorstellungen herrli-
86. Fichte, Johann Gottlieb, Schriften zur angewandten Philosophie. Werke II, Frankfurt am Main 1997, S. 547 (Reden an die deutsche Nation, 1808). 87. Ebd., S. 546: »Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte. Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnitts verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen«. 88. Ebd., S. 721. 89. Ebd., S. 562f. 90. Ebd., S. 590. 91. Ebd., S. 582. 251
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chen Zeit, und diejenigen, von denen an die Nachkommenschaft die Jahre ihres Heils zähle. Bedenket, dass ihr die letzten seid, in deren Gewalt diese große Veränderung steht«.92 Der eschatologisch aufgeladene Begriff der »eigenen Zeit« bei Fichte, der »deutschen Zeit« bei Arndt (»Eine neue Zeit wird beginnen, eine große und herrliche deutsche Zeit«93), wurde zu einem Signum für die nationalen Zukunftshoffnungen im frühen 19. Jahrhundert. Gerade die Vieldeutigkeit der Pathosformel stellte einen Ansatzpunkt für die in politischer Hinsicht häufig ebenso heterogenen wie diffusen Vorstellungen des frühen Nationalismus dar, dessen Grundfrage Jakob Friedrich Fries 1814 formulierte: »Wir gehen einer neuen Zeit entgegen, die Deutschland sich selber geben soll. Fragt Euern tapfern Sinn: wie soll es werden in dieser?«.94 Über den politischen Gehalt der Zukunft im Unklaren, war man sich weithin wenigstens über deren Zeitcharakter einig: dieser sollte nicht fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt sein, d.h. das vermeintlich französische Zeitmaß des schnellen Wandels in der Moderne sollte durch das evolutionäre deutsche Paradigma ersetzt werden, das Arndt im Zusammenhang mit einer gesamtdeutschen »Grundverfassung« anführte: »Ihr Entwurf und ihre Abfassung geschieht nicht mit französischer Geschwindigkeit, Leichtfertigkeit und Gewissenlosigkeit, sondern mit deutscher Bedächtigkeit, deutschem Ernst und deutscher Gewissenhaftigkeit«.95 Es sei an die Diskussionen um das Zeitmaß der Konstituante zu Beginn der Revolution erinnert: die assemblée nationale ist das Anti-Modell zu Arndts deutschem Weg der organischen Verfassungsentwicklung: »Wir leben in einer neuen Zeit, wir warten einer neuen Zeit, wir warten einer neuen teutschen Herrlichkeit, wie seit Jahrhunderten nicht gewesen ist; aber
92. Ebd., S. 774f. 93. Arndt, Ernst Moritz, An die Preußen [1813], in: Hans-Bernd Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15, Darmstadt 1981, S. 224-228, hier S. 227. Vgl. auch den Aufsatz: Arndt, Ernst Moritz, Ueber alte und neue Zeit, in: Ernst Moritz Arndt, Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien 1814, S. 111-146, hier 118f.: »wir warten einer gewaltigen und glorreichen Zeit des teutschen Volkes, welche die Welt umgestalten wird […]«. 94. Fries, Jakob Friedrich, Zwei politische Flugschriften 1814 und 1817, München 1910, S. 13 (Bekehrt euch!, 1814). Vgl. Arndt, Ueber alte und neue Zeit, S. 124: »[…] auch wir gewahren in der großen Zeit, worin wir leben, und deren eigentliches Seyn und Werden uns eben, weil wir darin leben und wirklich sollen, nicht verliehen ist klar anzuschauen, etwas Gewaltiges und Geheimes, was uns auf eine neue Einigung jeder Tugend und Wahrheit und Frömmigkeit hinzudeuten scheint, welche erhabene Einigung für Europa nach allen Zeichen der Zeit aus keinem anderen Volke als aus den Teutschen hervorgehen kann. Aber wir stehen noch an dem Uebergange […]«. 95. Arndt, Arndts Werke, Bd. 8, S. 145 (Geist der Zeit III, 1813). 252
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wir wollen und können sie nicht durch die wilden Revolutionen der Mirabeau, Danton, Robespierre, und Sieyes gewinnen. Solche Tollheit ist nicht teutsche Art, für solches Unglück ist unsre Schuld zu klein«.96 Dieses Modell der neuen Zeit bringt es mit sich, dass nunmehr die stets übereilenden Franzosen der Unzeitgemäßheit anheim fallen. Am Ende des Topos von der deutschen Verspätung aus Langsamkeit steht der Anachronismus der französischen Zeit: »[…] ergreife die neue Zeit, aber die neue deutsche Zeit und nicht die neue französische Zeit: wahrlich diese kann keine neue Zeit werden, die Franzosen ahnen nichts und wissen nichts von dem Geist und dem Gott, die durch dieses Zeitalter hinwandeln«.97 Es ist diese Aufforderung, die neue Zeit als Eigenzeit der Nation zu begreifen und zu ergreifen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Nationalismus als »mitreißendes Zukunftsprogramm« ausmacht.98
96. Arndt, Ernst Moritz, Das preußische Volk und Heer im Jahr 1813, o. O. 1813, S. 52. 97. Arndt, Arndts Werke, Bd. 8, S. 173 (Geist der Zeit III, 1813). 98. Ortega y Gasset, José, Der Aufstand der Massen [Auszug], in: Michael Jeismann/Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 277-289, hier S. 278. 253
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Von der Schicksalsehe zur Liebesehe. Historischer Wandel aus der Mikroperspektive Angelika Epple
1. Im Wechsel der Zeiten »Mit verdreifachter und vervierfachter Schnelle gehen Leben und Reisen in Eilwägen und auf Dampfschiffen vorwärts, sogar die Stunden galoppieren.«1 So beschreibt Johanna Schopenhauer in ihrer Autobiographie Im Wechsel der Zeiten die radikale Veränderung der Zeiterfahrung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die so genannte Sattelzeit ist uns als eine Zeit der beschleunigten Veränderungen bekannt, die fast alle gesellschaftlichen Bereiche betraf. Der epochale Umbruch führte auch zu einer Neubestimmung der Geschlechterbeziehungen.2 Wie aber funktioniert dieser Wandel? Wie vollziehen sich historische Prozesse? Was ändert sich genau, die Erfahrung oder die Erzählmuster der Erfahrung oder ändern sich die Handlungsmuster? Am Beispiel der Geschlechterbeziehungen lassen sich diese Fragen spezifizieren: Was bedeutet ein verändertes gesellschaftliches Narrativ über die Geschlechterrollen für die konkreten Beziehungen bestimmter Ein-
1. Schopenhauer, Johanna, Im Wechsel der Zeiten, im Gedränge der Welt. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe, Düsseldorf, Zürich 2000, S. 27. Die autobiographischen Schriften Johanna Schopenhauers wurden von Rolf Weber unter dem Titel Im Wechsel der Zeiten – im Gedränge der Welt neu herausgegeben. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus der Autobiographie. 2. Die Forschungsliteratur hierzu ist Legion. Wie die Neubestimmung ausgesehen habe, wird dabei kontrovers diskutiert. Einen Überblick über die Diskussion geben z.B. Trepp, Anne-Charlott, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Weckel, Ulrike, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998; Epple, Angelika, Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln, Weimar, Wien (erscheint 2003). 254
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ANGELIKA EPPLE: VON DER SCHICKSALSEHE ZUR LIEBESEHE
zelpersonen? Öffnet es Raum für ein verändertes Verhalten? Findet die Veränderung individueller Handlungsmuster parallel zur gesellschaftlichen Veränderung statt? Oder weist die Veränderung von Handlungsmustern andere Geschwindigkeiten auf, als die Veränderung der narrativen Muster, die Erfahrungen strukturieren und zum Ausdruck bringen?3 Eine kulturwissenschaftlich orientierte Historiographiegeschichte untersucht die Art und Weise der Vergangenheitsdeutung, um mehr von dem Selbstverständnis und der Weltdeutung einer Gesellschaft zu erfahren. Hier möchte ich mich aber einzelnen Individuen zuwenden. Es stellt sich die Frage, ob – wie ich es im Folgenden nennen werde – Familiennarrative Einblicke in das Funktionieren historischer Prozesse aus der Mikroperspektive erlauben. Ich werde dabei versuchen, Erzählmuster und Handlungsmuster4 der Protagonistinnen und Autorinnen miteinander zu kontrastieren. Untersuchungsgegenstand ist zum einen das Verhältnis von Töchtern und Müttern, zum anderen die gesellschaftlich privilegierte Beziehung zwischen Mann und Frau: die Ehe. Ich möchte den aufgeworfenen Fragen anhand eines Fallbeispiels nachgehen. Eine einzigartige Quellendichte ermöglicht die Untersuchung dreier Generationen innerhalb einer Schriftstellerinnenfamilie. Die Niederschrift der Quellen umfasst den Zeitraum 1761-1856, die in den Quellen behandelte Zeit greift bis an den Anfang des 18. Jahrhunderts aus. Ich möchte analysieren, wie ein zentrales Lebensmotiv – die Ehe – von drei Autorinnen gedeutet und wie die Autorinnen im Vergleich zu diesen Deutungen selbst gehandelt haben. Anhand eines dichten Gewebes von auto- und biographischen Texten von Anna Louisa Karsch, Caroline von Klencke und Helmina von Chézy versuche ich herauszuarbeiten, wie das je eigene Leben im Nachhinein interpretiert und mit Sinn unterlegt wurde, wie es in die Vergangenheitsdeutung der nachfolgenden Person einging, variiert und umgedeutet wurde, welchen Handlungsrahmen die Texte umreißen und wie sie sich zu dem, was als tatsächliches Handeln rekonstruiert werden kann, in Beziehung setzen lassen. Mein Vorgehen ist dabei Folgendes: Zunächst gehe ich auf die Begriffe Familiennarrativ und Handlungsmuster (2) ein, dann möchte ich mit den drei Frauenleben, den sechs scheiternden Ehen und deren Dokumentation in sieben (auto-)biographischen Texten bekannt machen (3). Im Anschluss werde ich anhand ausgewählter Passagen fol-
3. Über die grundsätzlich narrative Struktur von Erfahrungen vgl. Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, Bd. I, Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 87135. 4. Erzähl- und Handlungsmuster sind uns in diesem Fall nur textuell zugänglich. Es geht also nicht um den Gegensatz von Diskurs und nichtdiskursivem Umfeld. 255
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gende These über den Zusammenhang von Familiennarrativ und Handlungsmuster in der Familie Karsch erläutern (4): Bei der Großmutter Anna Louisa Karsch entsprechen sich historische Sinngebung und eigenes Handeln. Trotz aller Unterschiedlichkeit ihres Lebens mit dem ihrer Mutter ordnet sie es in die vorgegebene Tradition ein. Die Tochter Caroline von Klencke stellt auf der Ebene der Vergangenheitsdeutung Innovation als unumgänglich dar, ihr Handeln ist aber an der gesellschaftlichen und innerfamiliären Tradition orientiert. Erst bei der Enkelin, Helmina von Chézy, werden Innovation und Tradition miteinander vermittelt. Deutung der Vergangenheit und eigenes Handeln sind zu einer Deckungsgleichheit gelangt, die selbstbestimmtes Handeln innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens ermöglicht. Es lässt sich also eine historische Bewegung festhalten, die von einer Fremdbestimmung hin zu einer Selbstbestimmung der Protagonistinnen führt, gleichzeitig ist sie aber von einer historischen Kontinuität begleitet: Alle Ehen scheitern.
2. Familiennarrative und Handlungsmuster Unter Familiennarrativ verstehe ich einen Sonderfall von Geschichtsschreibung. Geschichtsschreibung ist – und hier folge ich den Ausführungen von Paul Ricœur – die Deutung der historischen Zeit.5 Was unterscheidet die historische von der schlicht vergangenen Zeit? Die historische Zeit ist zunächst eine im Nachhinein gedeutete Zeit. Darüber hinaus steht sie in einem Gegensatz zu der Zeit, die ein einzelnes Individuum erlebt hat. Geschichtsschreibung geht gerade nicht vom individuellen Gedächtnis aus, sondern entwickelt verschiedene Techniken, dieses Gedächtnis zu überschreiten. Indem sie das Gedächtnis überschreitet (und nicht nur erweitert), überschreitet sie auch die Deutung der individuellen Zeit hin zur Deutung der historischen Zeit. Geschichtsschreibung vermittelt die Vergangenheit symbolisch mit der Gegenwart, denn die Ereignisse der Vergangenheit sind nicht unmittelbar in ihr aufgehoben. Was aber hat es mit dem Terminus Familiennarrativ auf sich? Versteht man unter Familiennarrativen diejenigen Erzählungen, die innerhalb einer Familie von einer Generation6 an die nächste wei-
5. Vgl. hierzu vor allem Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, Bd. III, Die erzählte Zeit, München 1991, S. 165-201. 6. Der Begriff »Generation« ist hier auf eine konkrete Familie bezogen, nicht auf Generationengruppen. Ich plädieren im Folgenden nicht für einen generationengeschichtlichen Ansatz (vgl. die kritische Zusammenfassung solcher Ansätze: Daniel, Ute, 256
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ANGELIKA EPPLE: VON DER SCHICKSALSEHE ZUR LIEBESEHE
tergegeben werden, handelt es sich um einen Sonderfall von Geschichtsschreibung resp. -tradierung. Einerseits geraten sie in die Nähe des individuellen Gedächtnisses, in dem die individuelle Zeit aufgehoben ist. Andererseits sind sie bereits Repräsentationen einer symbolisch vermittelten Vergangenheit, sobald diese Erzählungen von einer Generation an die nächste weitergegeben und aufgeschrieben werden. Hier werden erste Schritte in Richtung einer Anonymisierung der Zeit geleistet. Sie setzen innerhalb bestimmter Grenzen auf intersubjektive Nachprüfbarkeit und sind daher nicht als ein erweitertes Gedächtnis zu verstehen, in dem die Ereignisse unmittelbar enthalten sind.7 Der Anspruch auf Nachprüfbarkeit wächst, sobald die Erzählungen als historische Erzählungen8 für die Veröffentlichung geschrieben werden. Mit dem Begriff Familiennarrativ geht es mir um die Geschichtstradierung innerhalb einer Familie, die einerseits die individuelle Zeit der Verfasserinnen überschreitet, andererseits aber bei den Individuen bleibt – sonst wären wir schon wieder bei der allgemeinen Geschichtsschreibung angekommen. Der Begriff macht deutlich, dass innerfamiliäre Geschichtsschreibung uns heute zwar nur in schriftlicher Form zugänglich ist, in einer Familie die mündliche Erzählung aber die vorherrschende Weise der Geschichtstradierung ist. Bei den Quellentexten, denen ich mich im nächsten Schritt zuwenden möchte, handelt es sich um Geschichtserzählungen, die in je unterschiedlichem Maße die Grenze des Gedächtnisses ihrer Autorinnen überschreiten. Die herausragende Methode der Entindividualisierung ist in diesen Quellen die Generationenfolge. Das einzelne Individuum wird hier in einen weit über dessen Lebenszeit hinausreichenden Zeitzusammenhang gestellt: Die Generationenfolge bestimmt »die Kette der geschichtlich Handelnden als die Lebenden, die den Platz der Toten einnehmen werden.«9 Hier werden Lösungen für bestimmte Fragen, aber auch Probleme und offene Fragen weitergereicht. Bei der Lektüre der Geschichtserzählungen dieser außergewöhnlichen Familie fällt auf, dass sie über die drei Generationen hinweg um drei zentrale Motive kreisen: um die schriftstellerische Existenz und die literarische Bildung, um die Beziehung zu den Eltern und um die Ehe. Während
Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001, S. 330-345). 7. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III, S. 179. 8. Unter historischer Erzählung verstehe ich eine Erzählung, die sich im Gegensatz zur literarischen Erzählung auf die erfahrungsgestützte Richtigkeit verpflichtet und in diesem Sinne nicht fiktiv ist – wenngleich jede Erzählung freilich fiktive Elemente hat. 9. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III, S. 174 (Hervorhebung im Original, A. E.). 257
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also auf der Ebene der Narration diese Themen behandelt werden, kann man bei wiederholter Lektüre eine Schicht erkennen, die tiefer zu liegen scheint. Hier wiederholen sich Handlungsmuster, die sich zwar aus dem Text ableiten lassen, die aber nicht in der Erzählung behandelt werden. Sie werden also im Text nicht explizit gemacht, sondern auf anderen Wegen an die nächste Generation weitergegeben. Im Gegensatz zu den narrativen Mustern werde ich sie als pragmatische Muster bezeichnen. Diesem Spannungsverhältnis von narrativen und pragmatischen Mustern möchte ich nachgehen. Die Problematik der schriftstellerischen Existenz als Frau möchte ich hier ausblenden. Ins Zentrum der Untersuchung rücke ich daher die beiden Themenbereiche Beziehung zu den Eltern und zu den Ehemännern. Wenden wir uns dem Material selbst zu:
3. Drei Frauen, sechs Ehen und sieben (auto-)biographische Texte. Die Schriftstellerinnenfamilie Karsch, Klencke, Chézy 1722-1856 Anna Louisa Karsch, ihre Tochter Caroline von Klencke und ihre Enkelin Helmina von Chézy haben sich gegenseitig und jeweils selbst in verschiedenen lebensgeschichtlichen Erzählungen beschrieben. Dabei ist ein Netz an Fremd- und Selbstdeutungen entstanden, das Einblicke in die Wiederholungen, Variationen und Brüche innerfamiliärer Geschichtserzählungen erlaubt. Eine kurze Charakteristik der drei Protagonistinnen/Autorinnen und ihrer Texte gibt eine erste Skizze der hier untersuchten Eheproblematik. Die Lyrikerin Anna Louisa Karsch (1722-1791) erlangte Berühmtheit als »deutsche Sappho«10 oder »Siegessängerin Friedrichs des Großen«.11 Dabei ist sie der Nachwelt weniger aufgrund ihrer dichterischen Leistungen, sondern eher als Kuriosität bekannt: Aus der ungebildeten Rinderhirtin wurde eine in den Berliner Gelehrtenkrei-
10. Diese Stilisierung geht auf Gleim zurück. Karsch übernahm sie und signierte bis 1768 fast ausschließlich so, vgl. Nörtemann, Regina, Verehrung, Freundschaft, Liebe. Zur Erotik im Briefwechsel zwischen Anna-Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, in: Anke Bennholdt-Thomsen/Anita Runge (Hrsg.), Anna Louisa Karsch (1722-1791). Von schlesischer Kunst und Berliner »Natur«. Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag der Dichterin, Göttingen 1992, S. 81-93, hier S. 85. 11. Klencke, Caroline Luise von, Vorberichtender Lebenslauf der Dichterin Anna Louise Karschin, in: Caroline Luise von Klencke (Hrsg.), Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebenslauff herausgegeben von ihrer Tochter C. C. v. Kl., geb: Karschin, Berlin 1792, S. 1-128, hier S. 73. 258
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sen geachtete Dichterin, so das gängige Klischee. In vier Autobiographischen Briefen12 an Johann Georg Sulzer schrieb sie 1761/62 ihre Geschichte nieder. Freilich waren diese zur Veröffentlichung verfasst. Gekonnt versuchte Karsch ein Bild zu bedienen, das ihr den Zugang zu den Dichterkreisen als weibliches Naturtalent ermöglichen sollte. Die beiden qualvollen Ehen, geprägt von Gewalt, Verachtung, Alkoholproblemen und finanziellen Sorgen, deutet die Dichterin an, das Hauptaugenmerk liegt allerdings auf ihrer Entwicklung als Dichterin.13 Caroline von Klencke (1754-1802) hatte weder einen so außergewöhnlichen Lebenslauf wie ihre Mutter Anna Louisa Karsch noch so illustre Freunde wie ihre Tochter Helmina, so dass sie selbst samt ihrem schriftstellerischen Werk in Vergessenheit geriet. Wenn überhaupt, findet sie Erwähnung als Biographin ihrer Mutter. Die Biographie Vorberichtender Lebenslauf der Dichterin Anna Louisa Karschin14 stellt sie einer von ihr herausgegebenen Gedichtsammlung Karschs voran. Auch hier stand im Vordergrund, das absatzförderliche Bild des Naturgenies nicht zu beschädigen. Zwischen den Zeilen erscheint dabei blasse Kritik an der Mutter. Das ganze Ausmaß der von Klencke erlittenen Leiden kann man nicht erahnen. Genaueres über die Vorgänge im Hause Karsch erfahren wir in Klenckes Tagebuch und ihrer Autobiographie Fragmente.15 Den leiblichen Vater, den sie angeblich trotz seines Jähzorns und seiner Alkoholsucht geliebt habe, habe ihr die
12. Karsch, Anna Louisa, Autobiographische Briefe (1761/62), in: Regina Nörtemann (Hrsg.), Mein Bruder in Apoll. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 2 Bde., Bd. 1, Briefwechsel 1761-1768, Göttingen 1996, S. 342-363. 13. Sulzer kompilierte aus den Briefen eine Biographie (vgl. Sulzer, Johann Georg, Vorrede, in: Anna Louisa Karsch, Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. VII-XXVI). Karsch hinterließ noch mehr lebensgeschichtliches Material: Ihr Gedicht Belloisens Lebenslauf (hrsg. von Gerhard Wolf, 1982, S. 9f.) ist autobiographisch zu lesen. Des weiteren ist von ihr eine Autobiographie – Vorläufige Lebensbeschreibung der Dichterinn Anne Luise Karschin, geb. Dürbach (Carl Heinrich von Jördens [Hrsg.], in: Berlinischer Musenalmanach für 1792, S. 163-186) – in einer eigenartigen Überarbeitung überliefert. Der Herausgeber Carl Heinrich von Jördens hat den Text redigiert, mit Fußnoten versehen und vielleicht sogar von der ersten in die dritte Person umgearbeitet. 14. Klencke, Caroline Luise von, Vorberichtender Lebenslauf der Dichterin Anna Louise Karschin, in: Caroline Luise von Klencke (Hrsg.), Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebenslauff herausgegeben von ihrer Tochter C. C. v. Kl., geb. Karschin, Berlin 1792, S. 1-128, 15. Klencke, in: Chézy, Helmina Christiane von (Hrsg.), Leben und romantische Dichtung der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt am Main 1805. 259
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Mutter durch eine von ihr in die Wege geleitete Zwangsrekrutierung genommen – eine nicht ganz seltene Art sich eines ungeliebten Ehemannes zu entledigen. Schlimmeres Leid noch fügte ihr die Mutter nach dem Umzug nach Berlin zu. Karsch gab das Einverständnis, dass ihr in der gemeinsamen Wohnung lebender Stiefbruder ihre Tochter heiratete und ihr die Ehe zur Qual machte. Bereits als Klenckes Stiefonkel hatte sich der zukünftige Ehemann mit Grausamkeiten hervorgetan und die damals Sechzehnjährige wahrscheinlich durch eine Vergewaltigung vor der Ehe geschwängert. Das Tagebuch und die Autobiographie, die uns andeutend von diesen Vorgängen berichten, waren nicht für die Veröffentlichung geschrieben. Vielmehr wurden sie von Helmina von Chézy in einer Mischung aus Dokumentation und Bearbeitung nach dem Tod der Autorin 1805 mit dem Titel herausgeben: Leben und romantische Dichtung der Tochter der Karschin als Denkmal kindlicher Liebe.16 Helmina entstammte Klenckes zweiter Ehe, beide Ehemänner ihrer Mutter kannte sie nicht. Wie sich in der folgenden Quellenexegese zeigen wird, ist die Loyalität mit der Mutter dennoch geringer, als zu erwarten wäre. Häufig identifiziert sich Helmina stattdessen mit ihrer stärkeren und erfolgreicheren Großmutter. Die Beurteilung der (groß-)mütterlichen Ehen lesen wir in ihrer erst zwei Jahre nach ihrem Tod veröffentlichten (allerdings für die Publikation verfassten) Autobiographie Unverges senes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von H.v.Ch. Von ihr selbst erzählt.17 Helmina von Chézy (1783-1856), die Enkelin Karschs, ist wie ihre Mutter weniger aufgrund ihrer schriftstellerischen Tätigkeit bekannt. Dabei hat sie interessante Reiseberichte über das Napoleonische Paris, die Kunst und Kultur der Zeit verfasst.18 Dass ihr Name noch heute geläufig ist, verdankt sie der Freundschaft mit berühmten Romantikern wie Friedrich Schlegel oder Adalbert von Chamisso.19 An ausgewählten Textpassagen möchte ich mich nun, um es in den Wor-
16. Chézy, Helmina Christiane von (Hrsg.), Leben und romantische Dichtung der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt am Main 1805. 17. Chézy, Helmina Christiane von, Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus meinem Leben von H. v. Ch. Von ihr selbst erzählt, Leipzig 1858. 18. Chézy, Helmina Christiane von, Leben und Kunst in Paris seit Napoleon dem Ersten. Von Helmina von Hastfer geb. von Klenck, Weimar 1805/06. 19. Wie aus Vorbemerkungen einer Freundin zu Chézys Autobiographie hervorgeht, hat sich einer ihrer Söhne ebenfalls mit dem Leben der Mutter auseinandergesetzt und herbe Kritik an der Autobiographie geübt. Leider ist es mir bis jetzt nicht gelungen, diesen in einer Zeitschrift erschienenen Aufsatz ausfindig zu machen. Mit Chézys Eigeninterpretation bricht also die Quellengrundlage der vorliegenden Analyse ab. 260
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ten Chézys zu sagen, diesem »Irrgewinde dreier Lebenspfade«20 zuwenden.
4. Die Ehen der Mütter in den Erzählungen der Töchter. Die Wiederkehr des Scheiterns Wie bereits erwähnt, werde ich zwei Hauptmotiven der Erzählungen nachgehen: der Beziehung zu den Eltern und der Ehe. Es wird sich zeigen, dass diese beiden Motive eng miteinander verzahnt sind. Karschs Autobiographische Briefe geben dabei als älteste Quelle die Folie ab, in der sich die grundlegenden Familiennarrative ausmachen lassen. Wir sehen aber, dass sich die Autorin in eine Tradition stellt, die auch diesen vermeintlichen Ursprungstext als Variation eines vorausgehenden Narrativs ausweist. Allein, Karschs Mutter hat trotz ihrer großen dichterischen Begabung niemals Schreiben gelernt. Insofern sind die Autobiographischen Briefe doch eine Art Ursprungstext, mit ihnen beginnt die schriftliche Überlieferung der mündlichen Familiennarrative. Die Erzählmuster, mit denen die Töchter ihre jeweiligen Beziehungen zu den Eltern und das Scheitern ihrer Ehen beschreiben, sind von der Tatsache dominiert, dass es stets die Mütter sind, die über den zukünftigen Ehemann entgegen den Wünschen der Tochter entscheiden. Erst bei der Enkelin lockert sich diese Bindung. In allen Texten, seien sie biographisch oder autobiographisch, werden die Mütter gegenüber den Vätern in den Vordergrund gestellt. Sie dominieren die Erzählungen der eigenen Kindheit. Ursache hierfür ist, dass die Väter entweder früh verstarben (Karsch) oder die Mutter den Vater (Klencke) bzw. der Vater die Familie im Stich ließ (Chézy). Auffällig ist dabei, dass die Männer als Väter deutlich besser wegkommen als in der Rolle des Ehemannes. Dies gilt allerdings nur für die leiblichen Väter, die zumindest bei Karsch und Klencke eine zwar marginale, aber recht positive Rolle spielen. In der ganzen Dynastie wird jedoch nur ein Vater auch als guter Ehemann dargestellt. Dies ist der erste Mann, der in den Erzählungen beschrieben wird, Karschs Vater. Ich wende mich nun dem Entstehen der grundlegenden Folie der Familiennarrative in den Texten Karschs zu. Karsch berichtet in den Autobiographischen Briefen, ihr Vater sei ein fleißiger Bierbrauer und Wirtsmann gewesen. Sie kannte ihn vor allem aus Erzählungen ihrer Mutter, die nicht nur seinen Fleiß, sondern auch seinen Charakter zu loben wusste: »Er unterstütze sie in jedem Geschäfte, und sie hat mir oft gesagt, ich hätte mein Leben dem besten und zärtlichsten Vater
20. Chézy, Unvergessenes, S. 3. 261
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zu dancken.«21 Aber auch die eigene Erinnerung an den leiblichen Vater zeigt das Bild eines liebevollen Mannes: Sie lebte bei ihrem Oheim, von dem sie gegen den Willen von Mutter und Großmutter schreiben lernte. »Und als einstmahls meine Eltern uns besuchten, hüpft’ ich ihnen, mit einem Pappier in der Hand, entgegen und rief voller Empfindung: Vater ich kann schreiben! Dieser gute Vater küßte mich, und ich sahe ihn nicht mehr. Er starb wenige Monate nach diesem Besuch.«22 Ausgerechnet der erste Mann, der uns in den Texten begegnet, wird nicht nur als Vater, sondern auch als Ehegatte positiv dargestellt. Bis hin zur letzten Erzählung von Helmina von Chézy, fast 100 Jahre später, bleibt er der einzige. Noch Chézy schreibt, diese erste Ehe habe für ihre Urgroßmutter zwar einen sozialen Abstieg bedeutet, doch »sein biederer Charakter und sein verständiges Betragen«23 hätten ihm allgemeine Achtung verschafft. Im Vergleich zu den folgenden Männern ist das viel. In der Autobiographie der Großmutter wurden ihm zusätzlich Charaktereigenschaften zugeschrieben, die weit über den biederen Charakter hinausgehen: Zärtlichkeit und die Fähigkeit, Tochter und Ehefrau zu unterstützen. Wenn ein solches Männerbild an den Anfang einer Familiengeschichte gestellt wird, dann verblüfft es, dass es in den folgenden hundert Jahren nicht mehr eingeholt wird. Woran liegt das? Mit Karschs leiblichem Vater ist zwar das Ideal eines guten Vaters und Ehemannes entworfen, aber es ist eingebettet in das Narrativ, wie eheliche Beziehungen zustande kommen und geführt werden. Die Ehen ihrer Mutter stellt Karsch als schicksalsbestimmt dar. Die grundlegende Folie des Familiennarrativs Ehe möchte ich daher als Schicksalsehe bezeichnen. Karsch leitet es aus den Ehen ihrer Mutter ab. Um dieses Erzählmuster zu illustrieren, möchte ich Einblicke in die zweite, weniger glückliche Ehe ihrer Mutter und die daraus für Karsch entstehenden Folgen geben. In dieser zweiten Ehe, Karsch ist in der Zwischenzeit zehn Jahre alt, beginnt eine Problematik, mit der die Frauen der Familie im Folgenden stets zu kämpfen haben. Der Stiefvater Karschs ist Alkoholiker und jähzornig: »Endlich machte die stürmische Gemüths-Art meines Pflege-Vaters, daß wir diesen Ort verlaßen mußten.«24 Dass die Geburt des Halbbruders zum Vorwand der Mutter wird, Karsch vom unterrichtenden Oheim wegzuholen und zur Kinderwärterin zu machen, führt nicht etwa zu großem geschwisterlichen Hass. Vielmehr ist es dieser Bruder, den Karsch zeitlebens besonders lieben wird. In den Autobiographischen Briefen erfahren wir nicht viel
21. 22. 23. 24.
Karsch, Autobiographische Briefe, S. 343. Ebd., S. 344. Chézy, Unvergessenes, S. 5. Ebd., S. 344. 262
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mehr von dieser zweiten Ehe. Und doch ist es diese Ehe, von der das Unglück der nachfolgenden Generationen ausgeht. Noch bei der Enkelin Chézy lesen wir, dass seine Trinkerei die Familie in Armut gestürzt und sein erster Sohn ganz unter seinen Einfluss geraten sei. Dies war der spätere Ehemann der Karschtochter Caroline von Klencke. Kurz zusammengefasst steht in Karschs Interpretation ihrer Herkunftsfamilie der leibliche Vater für Zärtlichkeit und Förderung des literarischen Interesses, die Mutter und der Stiefvater für Ablehnung und Abbruch der eigenen Ambitionen. Dass diese Abtötung des eigenen Selbst eigentlich im Halbbruder personifiziert wird, es aber gerade dieser Mann ist, dem sie später die eigene (ungeliebte) Tochter überlässt, würde man nach heutigem psychologischem Allgemeinverständnis als Identifikation mit dem Aggressor beschreiben. Karsch liegt nichts ferner als solche Deutungsversuche. Weder ihr eigenes Handeln noch das ihrer Eltern reflektiert, kommentiert oder interpretiert sie. Sie beschreibt es. Sentimentalität kennt die Autorin ebenso wenig wie Ursachenforschung nach verborgenen Handlungsmotiven. Die Oberfläche des Erlebten erklärt sich (in ihrer Weltsicht) von selbst. Für Karsch drängt sich kein Spalt zwischen Erleben und Deuten des eigenen Schicksals. Diese Haltung gegenüber dem eigenen Leben bestimmt auch das Narrativ über die Ehe: Es ist eine Frage des Schicksals, ob die Eheleute harmonieren oder nicht. Ich habe das Narrativ der Schicksalsehe aus der Beschreibung der Ehen von Karschs Mutter abgeleitet. Entsprechend ließe sich das Narrativ über den Umgang der Mutter resp. der Väter mit ihren Kindern als Schicksalsbeziehung beschreiben. Es stellen sich nun die Fragen, ob sich diese Narrative in Bezug auf die eigenen Ehen und die eigene Tochter ändern und ob sich das eigene Handeln in diese Erzählmuster fügt. Zum Narrativ der Schicksalsbeziehungen gehört, dass die Realität, so wie sie ist, hingenommen und auf eine Ursachenforschung verzichtet wird. Als Beispiel mag gelten, dass Karsch nicht nur die Bewertung akzeptiert, aufgrund ihrer Hässlichkeit schlecht auf dem Heiratsmarkt zu vermitteln zu sein. Sie stellt es auch als unhinterfragbares Faktum dar, dass die Mutter sie aufgrund ihrer Hässlichkeit von Geburt an ablehnte. Diese Ablehnung der eigenen Tochter aufgrund von Hässlichkeit übernimmt sie als Handlungsmuster ebenso wie die Hässlichkeit als Begründung dient, warum sie ihre Tochter an den verhassten Stiefonkel verheiraten wird. Doch greifen wir nicht auf die Behandlung der Tochter durch Karsch vor, sondern widmen uns zunächst den eigenen Ehen. Als ihr die Mutter einen Anwärter vorstellt, ist sie selbst über die unerwartete Nachricht erstaunt – zumal er schön und angenehm sein soll. Wie sie sich zu verhalten habe, macht ihr die Mutter deutlich: »Sie befahl mir den fremden woll zu Empfangen, ich gehorsamte, und 263
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fand in der That an Ihm soviel Einschmeichelndes daß Ich anfing Ihren Außruffungen recht zu geben […].«25 Nur wenige Zeilen später kommt Karsch bereits auf das Scheitern der Ehe zu sprechen. Die Darstellung des Scheiterns wird in den Erzählungen der Tochter und Enkelin leicht variiert, aber auch hier gibt Karsch die Grundinterpretation vor: »ich Empfand in der folge daß mein Vermögen zu klein für Ihn gewesen, unßere Gemüther Harmonirten schlecht, mein weiches schmellzendes Herz, meine Zärtligkeit, und Seine begierde nach Reichthümern waren viel zu sehr untterschieden alß daß Eine Glückseeligkeit in unßerer Vereinigung möglich war […].«26 Wir werden durch die Wortwahl daran erinnert, dass Karsch mit ihren Autobiographischen Briefen ein werbewirksames Bild von sich zu entwerfen verstand. Sie baut als Gegensatzpaar seine Geldgier und ihren Wunsch nach Glückseligkeit und Harmonie auf. Dies aber sind Bausteine der moralischen Weltsicht der Empfindsamkeit, wie sie unter anderem von Sulzer (dem Empfänger der Briefe) ausformuliert wurde.27 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss hier klargestellt werden, dass Karsch sehr wohl Handlungen und Geschehnisse erklären kann. Entscheidend ist jedoch, dass sie die Erklärungen nicht im Verborgenen ausmacht. Alles beschreiben heißt für Karsch alles erklären. Hier beschreibt sie seinen und ihren Charakter, um dann zu dem Schluss zu gelangen, sie seien zu verschieden gewesen, als dass »eine Glückseeligkeit in unßerer Vereinigung möglich« gewesen wäre. Dass die Möglichkeit eines anderen Verlaufes der Ereignisse ausgeschlossen wird, ist Zeichen des Narrativs Schicksalsehe. Das Schicksal hat es hier nicht gut mit Karsch gemeint. Bei Tochter und Enkelin wird das Motiv der Geldgier aufgenommen, aber durch Charaktereigenschaften Karschs ergänzt. Die Enkelin schreibt, den Text der Mutter teilweise paraphrasierend: »Sobald er sie in seiner Gewalt hatte, warf er die Larve ab, und ließ es durch
25. Ebd., S. 348. 26. Ebd., S. 350. 27. Den Theoretikern der Empfindsamkeit widme ich in meiner Arbeit über Empfindsame Geschichtsschreibung ein ausführliches Kapitel (vgl. Epple, Empfindsame Geschichtsschreibung). Mit dem Begriff Empfindsamkeit beziehe ich mich in Anschluss an Marianne Willems auf dasjenige semantische Konzept, das im Gefühl ein Korrelat der Vernunft sieht (vgl. Willems, Marianne, Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik des Sturm und Drank. Studien zu Goethes »Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***«, »Götz von Berlichingen« und »Clavigo«, Tübingen 1995, S. 95). Dieses Konzept findet sich z.B. in Sulzers Zusammenfassung der aufklärerischen Ästhetik. Vgl. Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. 1-4, Leipzig 1792-1794. 264
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den unerträglichsten Geiz sie empfinden, daß er in Hinsicht der Mitgabe sich betrogen hatte […]. Dazu kam noch ihre Unerfahrenheit in der Haushaltung, und ihr zerstreutes Wesen, welches sie nicht überwinden konnte. Dies verdroß ihren Mann sehr.«28 Chézy und Klencke schreiben von seiner Gewalttätigkeit gegenüber der jungen Frau, als sie gegen seinen Willen erneut schwanger wird. Interessant ist dabei, dass nur Caroline von Klencke deutlich werden lässt, dass dieses Kind nicht von ihm stammen kann. Er hatte seine Ehefrau nämlich bereits nach dem dritten (ungewollten) Kind aus der gemeinsamen Schlafkammer ausquartiert. Die Schwangerschaft ist ihm Anlass, eine Scheidung allein zu seinen Gunsten durchzusetzen. Es verwundert wenig, dass in der Darstellung der Karsch’schen Ehe Tochter und Enkelin sich an Karschs Erzählung orientieren. Woher sollten sie auch eine andere Version der Geschichte nehmen? Die kleinen Unterschiede zwischen Karschs und Klenckes Erzählungen in der Darstellung des Geschehenen zeigen dennoch klar die Unterschiede in der Geschichtsdeutung. Lassen wir einmal beiseite, dass Karsch wenig Interesse hat, ein etwaiges Fehlverhalten gegenüber ihrem Ehemann öffentlich zuzugeben. Lassen wir ebenfalls beiseite, dass einige der Anschuldigungen Klenckes gegenüber ihrer Mutter dem schlechten Verhältnis der beiden Frauen geschuldet sind. Entscheidend für unseren Untersuchungszusammenhang ist die unterschiedliche Motivation des Verhaltens. Bereits über die Eheanbahnung hatte Klencke gesagt: »denn an diesem Ort werden die Töchter mehrentheils zur Ehe wie die Lämmer zur Schlachtbank geführt […] Ob ihre Gesinnungen für einander gestimmt sind, das wird gar nicht gefragt.«29 Über die Scheidung und die Schande, die ihre Mutter nun zu erwarten hatte, schreibt sie: »man nagte und quälte sich lieber in einer lebenslangen Ehe, als dass man an eine vernünftige Trennung unter beiden Theilen hätte denken wollen.«30 Caroline von Klencke stellt das Verhalten ihrer Mutter, so sehr sie deren Charaktereigenschaften kritisieren mag, in einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Sie gibt einen Teil der Verantwortung für die misslichen Umstände an die Außenwelt ab. Damit hat das Familiennarrativ Schicksalsehe eine Umdeutung erfahren. Man sollte denken, dass sie so Raum schafft für eigenverantwortliches Handeln, das sich im Einklang oder im Gegensatz zu dieser Gesellschaft profiliert. Woran lässt sich die Forderung Klenckes nach eigenverantwortlichem Verhalten noch ablesen? Neben den gesellschaftlichen Ursa-
28. Chézy, Unvergessenes, S. 23. 29. Klencke, Vorberichtender Lebenslauf der Dichterin Anna Louise Karschin, S. 39. 30. Ebd., S. 54. 265
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chen stellt Klencke auch das Verhalten ihrer Mutter als Ursache des Scheiterns der Ehen dar. Sie sucht nach Gründen, die über die reine Beschreibung der unterschiedlichen Charaktere von Ehemann und -frau hinausgehen. Wird das Verhalten des ersten Ehemannes nicht verständlicher, wenn man davon ausgehen muss, die Frau habe ihn betrogen? Stärker tritt dieses Bemühen Klenckes bei der Beurteilung von Karschs zweiter Ehe in den Vordergrund, schließlich handelt es sich um die Ehe mit ihrem Vater. In der Biographie, die sie der Gedichtesammlung ihrer Mutter voranstellt, hält sich die Autorin zurück. Sie benötigt Geld und möchte den Verkauf des Bändchens nicht durch absatzschädigende Bemerkungen gefährden. In den autobiographischen Fragmenten lesen wir eine freimütigere Beurteilung der Ehe. Sie ist der Meinung, er habe zuviel getrunken, weil er die Vorwürfe seiner Frau immer mehr fürchtete. Entsprechend beschreibt sie den Vater: »Darum auch warst Du wohl oftmals unmenschlich, aber doch nur, wenn Du getrunken hattest, und wenn man Dich aufbrachte und mit der Zunge zur Unzeit strafte.«31 Auch hier interessiert weniger, wie es zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen des Ehepaares kam oder warum er trank. Entscheidend ist, dass Klencke davon ausgeht, ein anderes Verhalten von Karsch wäre möglich gewesen und hätte eine andere Geschichte entstehen lassen. Von der Gesellschaft fordert sie freie (Ehe-) Partnerwahl, von den Eheleuten fordert sie das gemeinsame Streben nach Glückseligkeit und damit ein Erzeugen der Harmonie. Karsch wünscht sich zwar auch Harmonie, sie wird von ihr aber als Schicksalsfügung genommen – stellt sie sich ein, ist das gut, ist sie nicht vorhanden, dann sind die Eheleute nicht für einander geschaffen. Halten wir fest, dass Caroline von Klencke im Gegensatz zu ihrer Mutter eine gesellschaftskritische Haltung gegenüber den normativen Anforderungen an die Geschlechterrollen einnimmt und von den Ehepartnern ein verantwortungsvolles Handeln erwartet, um eine gemeinsame Harmonie zu erleben. Sie glaubt an die Möglichkeit, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Daraus ergeben sich mehrere Fragen: Empfindet Karsch einen Mangel an Handlungsspielraum? Wie geht sie damit um? Wie ergeht es der Tochter? Kann Klencke den von ihr geforderten Freiraum ausfüllen? Wenden wir uns der ersten Frage zu: Wie beurteilt Karsch ihre neue Situation? Ganz im Gegensatz zu ihrer Tochter, die von den Ängsten gegenüber der gesellschaftlichen Schande spricht, schreibt sie, sie habe sich endlich frei gefühlt. Leider habe dieser Zustand nicht lange angehalten. Zwar hatte der erste Ehemann die älteren Kinder mit zu sich genommen, das vierte Kind aber wurde erst nach der Trennung
31. Chézy, Leben und romantische Dichtung der Tochter der Karschin, S. 30. 266
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geboren und von ihm nicht rechtmäßig anerkannt. Erneut zwingt Karschs Mutter die Tochter zu einer Ehe: »in Seinem äußerlichen Ansehn war nichts für meine Wahl, aber genug Er gefiel meiner Mutter, Sie wiederhohlte Ihre beschwörungen bey dem Verlust Ihrer mütterlichen Gunst und Ihres Segens, es ward mir unbeschreiblich schwer meinem Herzen diese Gewallt anzuthun, ich fand in den Gesichtszügen meines Liebhabers etwas so Widersprechendes und Willdes daß mir davor schauderte, doch daß Ehrwürdige Anrahten und der halb göttliche befehl Einer mutter vermochten mich meinen Neigungen entgegen zu verfahren, Ich überredete mein Herz, sagte ja, und war auff lange niederdrükende Jahre gefesselt […].«32 Die Sprache Karschs beantwortet die Frage nach dem empfundenen Mangel an Handlungsspielraum klar. Sie fühlt sich gefesselt. Sie wird gezwungen, gegen ihre Neigungen zu handeln. Im Gegensatz zu ihrer Tochter entwirft sie aber keine Handlungsalternativen. Der Mutter muss gehorcht werden. Man kann sagen, dass Karsch das Narrativ Schicksalsehe im Gegensatz zu ihrer Mutter verengt. Während ihre Mutter auch eine glückliche Ehe erlebte, meint es das Schicksal mit Karsch nicht gut. Da der Mutter unbedingter Gehorsam zu zollen ist, wird aus der Schicksalsehe eine Opferehe. Dem Schicksal muss man sich fügen, auch wenn es Opfer verlangt. Ich habe oben herausgearbeitet, dass Klencke bereits bei der ersten Ehe Karschs entscheidende Veränderungen am Familiennarrativ Schicksalsehe vornimmt. Noch deutlicher werden die Unterschiede in der Geschichtsdeutung paradoxerweise, wenn man sich die Wiederholungen des Karsch’schen Lebens im Leben der Tochter vor Augen führt. Klencke ging aus dem Martyrium dieser Opferehe hervor. Das narrative Muster Schicksalsbeziehungen hat sich bei Karsch zu einem pragmatischen Muster verfestigt. Wie Karsch aufgrund ihrer Hässlichkeit abgelehnt wurde, so lehnt sie nun die eigene Tochter aufgrund ihrer Physiognomie ab. Die Tochter aber reagiert anders auf die Ablehnung ihrer Mutter als dies Karsch getan hat: Sie sucht nach Ursachen der Ablehnung. Die Ablehnung wird damit ihrer Schicksalshaftigkeit beraubt. Klencke findet eine Erklärung in der Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Vater, den die Mutter widerlich fand. Dass der Vater der Mutter widerwärtig war, kann sie zwar nicht verstehen, aber sie hält es für plausibel, dass sich die Abneigung überträgt. Zur Ursache der Ablehnung wird damit der Zwang, der auf die Mutter ausgeübt wurde, den Vater zu heiraten. An die Stelle der Schicksalsbeziehungen treten die Zwangsbeziehungen. Ausgenommen von diesem narrativen Muster ist die Beziehung
32. Karsch, Autobiographische Briefe, S. 358. 267
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zum leiblichen Vater. Auch das positive Vaterbild wiederholt sich: »So unwillkommen ich meiner Mutter war, so lieb war ich meinem Vater.«33 Wie einst der leibliche Vater Karschs deren Schreibunterricht unterstützte, so ist es auch jetzt der Vater, der die Wissensbegierde der Tochter im Rahmen seiner Möglichkeiten zu stillen versucht: »Wohl hatte mir Gott Gaben geschenkt; wohl hätte ich viel lernen können, aber ich bekam nur wenigen Unterricht, und Niemand bemühte sich so um mich, wie Du nach Deinen Kräften an mir gethan hast, mein Vater!«34 Es wiederholt sich nicht nur die Ablehnung durch die Mutter aufgrund des angeblich hässlichen Aussehens, sondern auch der von der Mutter erzwungene Abbruch der Bildung. Noch weiter gehen die Wiederholungen. Die Mutter setzt die Heirat eines von der Tochter gehassten Mannes unerbittlich durch. Ich habe bereits erwähnt, dass es sich dabei um den bei Mutter und Tochter lebenden Halbbruder Karschs handelt. Klencke berichtet in der Biographie ihrer Mutter nur kurz von ihrer eigenen Verheiratung. Tatsächlich könnte sich diese Bemerkung ebenso gut auf die Verheiratung ihrer Mutter bezogen haben: »Die Tochter wurde weiter nicht um ihren Willen gebeten: weil sie nicht blendende Reize hatte, so glaubten beide, daß sie kein Unrecht thäten.«35 Im Gegensatz zu Karsch, die ihrer Mutter keine Vorwürfe machte, klagt Klencke im ersten die Schritt die Mutter an, um im zweiten Schritt eine Erklärung für deren Verhalten mitzuliefern. Wir erhalten hier einen Einblick in das Funktionieren von Familiennarrativen. Karsch stellt ihre eigenen Ehen, die von der Mutter angebahnt wurden, in eine Tradition, die sie nicht hinterfragt – auch wenn sie sich äußerst negativ in ihrem Leben auswirkt. Ihr Handeln orientiert sich an dieser Tradition. Narrative und pragmatische Muster sind deckungsgleich. Sie verhält sich als Mutter genauso, wie es die eigene Mutter getan hat. Klencke verändert als Schriftstellerin das Familiennarrativ. Sie kritisiert die Ehen, die entgegen dem Willen der Bräute durchgesetzt wurden. Sie bedient damit nicht mehr das narrative Muster Schicksals- bzw. Opferehe. Sie geißelt diese Form der Eheschließung als Zwangsehe. Die Zwangsehe ist zum Scheitern verurteilt. Das hat sie mit der von Karsch beschriebenen Opferehe gemein. Im Gegensatz zu dieser ist jene jedoch keine Fügung des Schicksals, sondern eine Machtausübung der Mutter und der Gesellschaft. Als Tochter findet sich Klencke noch ganz in den pragmatischen Mustern der Opferehe befangen. Sie zwingt sich zum Gehorsam. Den
33. Klencke, in: Chézy, Leben und romantische Dichtung der Tochter der Karschin, S. 7. 34. Ebd., S. 26. 35. Klencke, Vorberichtender Lebenslauf der Dichterin Anna Louise Karschin, S. 111. 268
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tagelangen inneren Kampf, in dem die Protagonistin um das Recht der Flucht ringt, kann man in den Fragmenten nachlesen. Erzählt wird diese Passage allerdings nicht von Klencke selbst, sondern von ihrer Tochter und Herausgeberin Chézy: Der Onkel habe sie unter strenger Aufsicht gehalten und die Arbeit einer Magd verrichten lassen: »Seine Nichte wurde dadurch zu seiner Sklavin, und als er mit dem Heyrathsantrag zum Vorschein kam, gegen den sich ihr ganzes Herz empörte, da war kein Freund, kein Vorsprecher, der ihr beygestanden hätte.«36 Beinahe hätte sich Klencke auf eigene Faust aus dieser Situation befreit. Chézy beschreibt die Gewissenskämpfe: »da tritt es wie ein strafender Engel vor sie. Ungehorsam, willkührliche Handlung! Sie darf nicht wagen, sie darf ihr Schicksal nicht allein bilden – und sie geht zurück in den Kerker, stürzt auf die Kniee, weint und betet, vergiebt ihrem Unterdrücker, und fühlt sich heiter nach dem Gebet […]. Der Trauungstag rückt heran, mit blutendem Herzen schwört sie Treue und Liebe, und die Pflicht hilft ihr das unaussprechlich schwere Opfer zu vollbringen, sich dem Mann hingeben, der so in der Blüte das Glück ihres Lebens mit Füßen trat und zerstörte.« Dies sind die letzten Sätze der Autobiographie. Wird die Situation nicht fast identisch mit der zweiten Zwangsheirat Karschs beschrieben? Die Verbindung von Mutter und göttlicher Gewalt wird ebenso angestrengt wie die Überredung des eigenen Herzens. Die Heirat wird zum »Opfergang« der Braut. Und dennoch gibt es Unterschiede: Im Gegensatz zu ihrer Mutter bot sich Klencke eine Alternative, die sie nicht zu ergreifen wagte. Die Prinzessin Amalia hatte – so zumindest erzählt die Enkelin – erfahren, dass sich Karsch habe bereden lassen, die Tochter dem Oheim zu verloben. Sie bot Klencke an, sich um sie zu kümmern. »Doch die Kleine war zu furchtsam, sie schlug das liebreiche Anerbieten aus – und brachte mit blutendem Herzen das Opfer, das ihr tyrannisch abverlangt wurde.«37 Es ist schwierig, durch die Erzählung der Tochter bzw. Enkelin hindurch auf das Handeln von Klencke und Karsch oder gar auf deren Motivation zu schließen. Deutlich ist aber geworden, dass sich von Karschs Mutter über Karsch selbst bis hin zu Klencke ein Handlungsmuster wiederholt, nach dem Ehen geschlossen werden, ohne auf die Gefühle der Braut zu achten. Die Gefühle der Bräutigame können wir kaum erahnen. Sie sind uns nur verzerrt über die Erzählungen der unglücklichen Frauen überliefert. Klencke fügt sich als Tochter in das familiäre Handlungsmuster. In ihren Erzählungen aber beginnt sie das Familiennarrativ Opferehe rückblickend zu kritisieren. An dessen Stelle
36. Klencke, in: Chézy, Leben und romantische Dichtung der Tochter der Karschin, S. 4. 37. Chézy, Unvergessenes, S. 54. 269
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setzt sie das Narrativ Zwangsheirat. Dies ist ein Schritt, den Karsch nicht gegangen ist. Bis hin zu ihrer zweiten Ehe kann sich Klencke aber von pragmatischen Mustern, die sich aus dem Narrativ Opfergang ableiten, nicht freimachen. Sie ordnet sich dem von der Mutter ausgeübten Zwang so unter, dass sie sich für die Ehe aufopfert. Der Druck ist so groß, dass sie sich trotz des Wissens darum, dass diese Ehe scheitern wird, und sie sich an ihr eigenes Gefühl halten müsste, nicht aus den tradierten Verhaltensmustern befreien kann. So wird deutlich, dass bei Klencke zwischen narrativen und pragmatischen Mustern eine Diskrepanz entsteht. Deuten und Handeln treten auseinander. Indem sie die Vergangenheit und das überlieferte Vorgehen der Mütter kritisiert, fordert sie in ihrer Geschichtsschreibung Innovation ein. Aus dem Familiennarrativ Schicksalsehe wird durch die von ihr geübte Kritik das Familiennarrativ Zwangsehe. Welche Vision steht hinter ihrer Gesellschaftskritik an der ehelichen Praxis? Letztlich kämpft Klencke um das Recht auf eine Liebesehe. Ihre Handlungsmuster richten sich aber noch an keinen neuen Narrativen aus. In Bezug auf die Frage nach dem Funktionieren historischer Prozesse ist dies eine wichtige Erkenntnis: Für Karschs Mutter stellte sich, folgt man den Autobiographischen Briefen, die Frage, wonach sich das Handeln ausrichten solle, nicht. Ganz zweckorientiert heiratete sie zwei Männer. Der eine war ein Glücksfall, der andere ein Fehlgriff. Mit diesem Bewusstsein versuchte sie ihre Tochter zu versorgen. Da die Tochter hässlich war, nahm sie es in Kauf, nicht auf einen optimalen Kandidaten zu warten. Als der Tochter auch noch das Stigma der Scheidung anhaftete, nahm sie bei der erneuten Partnersuche noch weniger Rücksicht auf deren Gefühle. Die Tochter übernahm die Auffassung, dass Ehen dem Schicksal unterworfen seien. Aber sie empfand es als Opfer, sich diesem Schicksal zu fügen. Zwar fühlte sie sich gefesselt, aber sie akzeptierte diese Freiheitseinschränkung. Die Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse führte nicht dazu, dass sie auf ein selbstbestimmtes Leben verzichtete. Sowohl mit der Scheidung als auch mit der von ihr in die Wege geleiteten Zwangsrekrutierung des zweiten Ehemannes wusste sie sich auf elegante Weise aus der Bredouille zu ziehen. Der Bruch mit der Tradition findet erst in der nächsten Generation statt, bei Caroline von Klencke. Sie stellt sich nicht mehr unter das Familiennarrativ Schicksalsbeziehungen. Vielmehr macht sie durch ihre Gesellschaftskritik, aber auch durch die Kritik am Handeln ihrer Mutter deutlich, dass Handlungsalternativen existieren und vorzuziehen wären. Wichtig erscheint mir die Erkenntnis, dass sich das Familiennarrativ bereits bei Klencke ändert. Es wird durch das der Zwangsehe ersetzt, die pragmatischen Muster kann sie als Tochter jedoch noch nicht ändern. Die Kritik der Tradition, das Einfordern einer Veränderung heißt nicht, dass sich auch das Handeln geändert hätte. 270
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ANGELIKA EPPLE: VON DER SCHICKSALSEHE ZUR LIEBESEHE
Bisher haben wir die zweite Ehe Klenckes noch nicht beleuchtet. Aus ihrer Autobiographie erfahren wir darüber nichts. Sie endete ja mit der ersten Zwangsheirat. Wir sind also auf die Erzählungen der nächsten Generation angewiesen. In Chézys Erzählungen findet sich eine große Ambivalenz der eigenen Mutter gegenüber. Leichter fällt es ihr, sich in die Tradition Karschs zu stellen. Dies mag an einem Beispiel illustriert werden. Chézy hat dem inneren Leiden ihrer Mutter am Vortage der ersten Hochzeit wortreichen Ausdruck verliehen. Die Frage nach der Schuld ihrer Großmutter spart sie aus. In ihrer Erzählung ist der Verantwortliche allein der Halbbruder Karschs. Klencke wird meist als schwach, furchtsam oder hilflos dargestellt. Bis auf die Scheidung der ersten Ehe hat sie, folgt man der Erzählung der Tochter, keine Entscheidungen getroffen, die Klenckes eigener Überzeugung entsprochen hätten. Die zweite Eheanbahnung bleibt relativ blass. Angeblich habe sich die Mutter des Bräutigams Klencke zu Füßen geworfen und flehentlich um eine Hochzeit mit dem todkranken Mann gebeten. Diesem Druck habe Klencke nicht stand halten können. Handelt es sich um eine Variante der Zwangsehe? Chézy berichtet nur von den Erwartungen, die ihre Großmutter in den neuen Bräutigam setzte: »Klencke hatte kein Vermögen, keine Aussicht auf ein Fortkommen. Die Karschin glaubt ihn durch ihre hohen Gönner bald befördern zu können, und bot ihm an, als ihr geliebter Sohn bei ihr zu leben. Sie fühlte sich beseligt durch das Glück der Tochter.«38 Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich um eine Variante der Zwangsehe handelte, wenn auch einiges dafür spricht. Wahrscheinlich sind die Zwangsmittel subtiler geworden. Chézy beendet diese Episode im Leben ihrer Mutter mit einer Entschuldigung für den Bräutigam. Chézy greift hier auf ein Familiennarrativ zurück, das in ihrer Situation nur schwer anzuwenden ist: Das des liebevollen leiblichen Vaters. Chézy versucht zu retten, was zu retten ist, obwohl der zweite Ehemann wie sein Vorgänger ein unsicherer Komparse war. Sie äußert die Meinung, ihr Vater sei nur aufgrund seiner Weichheit und Jugend strafbar geworden. Klenckes Ehen entstanden also ganz im Schatten Karschs. Sie bestimmte die Ehemänner der Tochter und zwang sie, sich ihren Entscheidungen unterzuordnen. Ich habe bereits hervorgehoben, dass Karschs Handeln in der Tradition steht, in der sie selbst aufgewachsen ist. Sie verhält sich wie ihre eigene Mutter. Die Ehe ist für sie vorrangig eine Institution, die Versorgung sichern soll. Sie identifiziert sich nicht mit den Gefühlen ihrer Tochter, die sich eine Fortführung der eigenen Ausbildung und eine Liebesehe bei freier Partnerwahl wünscht. Karsch tritt damit, obwohl sie sich in vielerlei Hinsicht äußerst unkon-
38. Ebd., S. 69. 271
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ventionell verhält, nicht in Konflikt mit gesellschaftlichen Normen. Ihre Weltsicht und ihre Handlungsmuster entsprechen sich. So unglaublich es auf den ersten Blick klingen mag, steht ausgerechnet Karsch, deren Mythos auf den Brüchen in ihrem Leben beruht, noch in einer Gegenwart, in der die Zukunft und die Vergangenheit in einem übergreifenden Erfahrungsraum zusammengehalten werden. Dass Deutungen der Vergangenheit Handlungsmuster für die Zukunft bereitstellen können, heißt ja nicht, dass es im Leben keine Brüche gibt oder dass die Zukunft vorhersehbar ist. Es heißt nur, dass die Person, die in einem solchen übergreifenden Erfahrungsraum lebt, Vergangenheit und Zukunft nicht als qualitativ anders erlebt und die Deutung des eigenen Lebens das Handeln bestimmt. Bei Klencke konnte man sehen, dass sie in kritische Distanz zu der Überlieferung tritt, aber keine neuen Handlungsmuster in Bezug auf ihre eigenen Ehen entwerfen kann. Die eigene Tochter, das haben wir nun erfahren, distanziert sich von ihr, da sie – im Gegensatz zu Karsch! – kein selbstverantwortetes Leben gelebt habe. Allein der formale Aufbau der Autobiographie Chézys macht deutlich, dass sie sich eher in die Tradition Karschs stellen möchte: Karsch ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in das Chézy das Leben der Mutter einfügt. Dreht Chézy das Rad der Geschichte zurück? Orientiert sich ihre Erzählung erneut an den von Karsch vorgegebenen Narrativen? Auf den ersten Blick mag dieser Anschein erweckt werden – zumal sich eine Kontinuität herausschält, die über alle drei Generationen weitergegeben wird: Das Verhältnis zur Mutter ist äußerst problematisch. Wir werden aber sehen, dass sich sowohl das Mutter-TochterVerhältnis verändert hat, als auch dass es Chézy gelingt, das Familiennarrativ von der Schicksalsehe über die Opferehe hin zur Zwangsehe weiterzuentwickeln. Verfolgen wir diesen Gedanken in Bezug auf die letzten beiden Ehen, die uns in der Autobiographie Chézys begegnen. Die erste Verheiratung wird innerhalb der meist chronologischen Erzählung als Rückblende begonnen. »Ich lebte schon seit 1799 in den Fesseln einer höchst unglücklichen Ehe. Meine Mutter hatte es gern gesehen, daß ich einen Gatten gewählt hatte, dessen Stand und Alter mir in ihm eine väterliche Leitung zu versprechen schien.«39 Der Erzählduktus macht schnell klar, dass sich hier einiges geändert hat. Chézy ist das Subjekt der Handlung. Sie hat sich den Gatten gewählt. Aber es wird auch klar, dass es sich um eine Variation des Themas Zwangsehe und Selbstverantwortung handelt. Erneut wird das Bild der Fesseln verwendet und die Mutter wird als Subjekt des Hauptsatzes noch vor der Braut selbst genannt. Klencke hat demnach nicht mit Druck oder halb-göttlichen Drohungen Zwang ausgeübt. Insofern haben sich die pragmatischen Muster im Vergleich zu ihrer Mutter und
39. Ebd., S. 128. 272
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Großmutter doch gewandelt. Aber sie hat ihrer Meinung Ausdruck gegeben und sich dabei in hohem Maße an dem Kriterium orientiert, das ihre eigene Mutter und Großmutter für die jeweilige Zwangsheirat angeführt hatten: Versorgung. Wie stark die Macht der Wiederholung ist, zeigt sich daran, dass auch dieser Mann über keine finanziellen Ressourcen verfügt und – von Zufall kann hier keine Rede mehr sein – er am Vorabend der Hochzeit sein Alkoholproblem zu erkennen gibt. Der auch von den Müttern erlebte Zwang, die Tochter versorgt zu wissen, ist so groß, dass alle Warnzeichen nicht Ernst genommen werden. Die Töchter, dieser Eindruck entsteht über alle Generationen hinweg, werden sehenden Auges in ihr Unglück entlassen. Auch bei Chézy wiederholen sich die pragmatischen Muster. Wie einst ihre Mutter möchte auch sie im letzten Moment den Rückzug antreten: »Der Lieutnant von Kenber unternahm es, ›mich zur Vernunft zu bringen‹, wie er sagte.«40 Sie hält ihm entgegen, dass sie in dieser Ehe unglücklich werde, er aber bricht einen Stab für die Konvenienzehe. Er begründet diese Auffassung mit der eigenen Erfahrung, nach der die aus Liebe eingegangene Ehe zu noch größerer Enttäuschung führte, da die Liebe nicht erwidert worden sei. Wie reagiert Chézy auf diese neue Variante des Narrativs der Zwangsehe? »Ich, ein schwankendes Rohr, gab nach. Es hätte mir auffallen sollen, daß weder mein Bräutigam, noch meine geliebte Mutter gekommen waren, mich zu überreden. Baron Hastfer [d.i. der Bräutigam, A. E.] hielt sein böses Gewissen ab, meine Mutter hingegen war vernichtet. Sie fühlte, daß eine Vermählung, die so begann, nicht glücklich ausgehen konnte.«41 Hier ist das Dilemma, in dem Klencke und Chézy verfangen sind, genau festgehalten. Beiden ist die Bedeutung dessen, was sie erleben, bewusst. Die Geschichte ihrer Mütter hat sie gelehrt, dass eine solche Ehe nur schief gehen kann. Klencke reagiert gelähmt. Das Familiennarrativ Zwangsheirat bleibt dominierend auch für ihre pragmatischen Muster. Sie lässt zu, dass die Tochter im Gewande der Konvenienzehe den Opfergang tätigt. Im Gegensatz zu den Zeiten Karschs steht das ehemalige Familiennarrativ Opferehe aber nicht mehr in einem Umfeld, in dem das Schicksal als göttliche Fügung interpretiert wird. Die Erzählerin Chézy hat die Lektion gelernt: Hier hätte gehandelt werden müssen. Sowohl die Mutter, als vor allem auch sie selbst, hätten auf das eigene Gefühl vertrauen müssen. Die Erzählerin Chézy nähert sich dem Narrativ, das ihrer Mutter nur als Vision, nicht aber als Erzählmuster zugänglich war, sie geht erste Schritte zu dem neuen Narrativ, der Liebesehe. Was unterscheidet die Vergangenheitsdeutung Chézys von der
40. Ebd., S. 130f. 41. Ebd. 273
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Klenckes, die doch ebenfalls die freie Entscheidung bei der Partnerwahl eingefordert hatte? Chézy lehnt sich nicht nur gegen den Opfergang bzw. die Zwangsheirat auf. Vielmehr sucht sie nach Ursachen im eigenen Handeln. Damit verlässt sie in der Aufarbeitung der eigenen Geschichte den Rahmen, den ihre Mutter vorgegeben hatte. Im Gegensatz zu Klencke, die zwar starke Kritik am Handeln Karschs äußerte, eröffnet sich erst im veränderten Narrativ Chézys tatsächlich ein neuer Handlungsraum. Offensichtlich war es aber auch Chézy als Tochter nicht möglich, bereits bei der ersten Ehe neue Handlungsmuster zu verwenden. Aber, wie es zu erwarten war, dauert es nicht lange, bis die Ehe geschieden wird. Kommt es nun in den folgenden Beziehungen Chézys zu einem »Happy-End«? Chézy erzählt zunächst von einem Liebesabenteuer, das sie gegen die Warnung ihrer Mutter (!) eingegangen sei. Narrative und pragmatische Muster haben sich also deutlich geändert. Nicht mehr die Druck oder Zwang ausübende Mutter, sondern das eigene Gefühl der Protagonistin bestimmt über deren Handeln. Kurz vor dem Tod der Mutter verlässt sie der Liebhaber – angeblich durch einen zauberhaften Trunk beeinflusst. Die letzte Ehe geht Chézy ebenfalls ganz auf eigene Verantwortung ein. Sie liebt ihren Ehemann, den sie in den intellektuellen Zirkeln in Paris kennen lernt. Wie ihrer Großmutter ist es auch Chézy gelungen, eine eigenständige schriftstellerische Existenz aufzubauen, die völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. So hat sich in der Familie das Narrativ Liebesehe durchgesetzt. Die Familiengeschichte endet dennoch nicht mit einem »Happy-End«. Chézy verliert sich in den Gefahren, denen eine Liebesehe ausgesetzt ist.42 Das Ehepaar entfremdet sich, als sich der gelehrte Bräutigam in Arbeit vergräbt, für die er keine Anerkennung findet. Er scheitert daran, eine tragfähige bürgerliche Existenz aufzubauen, obwohl er eigentlich als Kronprinz seines erfolgreichen Vaters auserkoren war. Die Familie wohnt bald an verschiedenen Orten. Die Kinder kennen den Vater kaum noch. Zwar lässt sich Chézy nicht scheiden, ihr Verständnis für den Gatten wächst jedoch erst nach seinem Tod. Auch Chézy scheitert in ihren Ehen. Es liegt die Vermutung nahe, dass in dieser Familie ein pragmatisches Muster überliefert wurde, das in den hier untersuchten Erzählungen nicht zur Sprache kommen konnte. Es wurde den Autorinnen nicht bewusst.
42. Zu dem Risiko der Entfremdung in der Liebesehe, vgl. immer noch überzeugend Hausen, Karin, »… eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 85-117. 274
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ANGELIKA EPPLE: VON DER SCHICKSALSEHE ZUR LIEBESEHE
Dieses pragmatische Muster hat neben all der narrativen Veränderung – von der Schicksalsehe, zur Opfer-, Zwangs-, Konvenienz- bis hin zur Liebesehe – überdauert. Es machte glückliche Ehen ab dem Tod von Karschs leiblichem Vater um 1728 bis zum Jahr 1856 in dieser Familie unmöglich. Wie es gelautet haben könnte, bleibt nur zu vermuten. Es beinhaltete eine große Skepsis gegenüber Männern und schloss die Vereinbarkeit von weiblicher Selbständigkeit und Ehe aus. Erlauben uns die Familiennarrative von Karsch, Klencke, Chézy Einblicke in das Funktionieren historischer Prozesse? Die Analyse konnte erstens – und dies ist ein sehr allgemeines Ergebnis – zeigen, dass sich narrative und pragmatische Muster mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ändern. Narrative Muster lassen sich schnell austauschen. Revolutionäre können neue Kalender einführen. Pragmatische Muster zu verändern, dürfte eher der longue durée zuzuordnen sein. Zweitens lassen sich vor allem bezüglich der Konzeption der Ehe aus der Mikroperspektive dieser Familie Rückschlüsse auf den Vollzug historischen Wandels ziehen. Wir wissen, dass sich Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zur Romantik die Möglichkeit, eine Liebesehe zu schließen, gesellschaftlich etablieren konnte. d.h. nicht, dass die meisten geschlossenen Ehen Liebesehen waren. Aber die Einforderung von Liebe durch die Ehepartner war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine zunehmend akzeptierte Argumentation. Weder Karschs Mutter noch Karsch selbst hätten diese Forderung jedoch gestellt – ein Zeichen, wie schwierig der Umgang mit Generationen bezogenen Verallgemeinerungen ist.43 Klencke war deutlich mehr von diesem neuen Paradigma geprägt. Sie kritisierte das Verhalten ihrer Mutter, deren Grundhaltung ihr fremd geworden war. Ihre, wie ich es genannt habe, pragmatischen Muster, die Grammatik ihres Handelns also, waren jedoch so festgefügt in den überlieferten Bahnen, dass sie sich nicht daraus befreien konnte. Dies gilt nicht für alle Teilbereiche ihres Lebens. Als Erzählerin öffnete sie mit neuen Narrativen den Weg für neue Handlungsmuster. Auch als Mutter versuchte sie, ihre Tochter anders zu behandeln. Sie zwang sie nicht mehr zur Ehe, allerdings unterstützte sie die Tochter auch nicht, als das Unglück noch hätte abgewendet werden können. Erst Chézy gelingt es, wenigstens nach der ersten gescheiterten Ehe, neue Wege des Handelns zu beschreiben. Das Fami-
43. Trepp unternimmt in ihrer Untersuchung den Versuch, das Aufkommen des Konzepts der Liebesehe für die Jahrzehnte zwischen 1770 und 1840 im Hamburger Bürgertum nachzuweisen (vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit, S. 16f.). In meinem Fallbeispiel steht der prekäre Status der Liebesehe, selbst wenn sie wie bei Klenke als Leitbild voll akzeptiert ist, im Vordergrund. 275
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liennarrativ Schicksalsehe hat sich zum Narrativ Liebesehe entwickelt. Interessant ist dabei, dass Chézy eher an ihre Großmutter anzuknüpfen glaubt, als an ihre Mutter. Woran mag das liegen? Karschs Handeln stand im Einklang mit ihrer symbolischen Weltdeutung. Dies ermöglichte ihr paradoxerweise ein selbstverantwortetes Handeln. Zwar war sie der Auffassung, dass das Leben vom Schicksal bestimmt sei. Mit diesem Schicksal ging sie aber vergleichsweise frei um. Ihre Tochter dagegen konnte den Spalt zwischen kritisierten narrativen und übernommenen pragmatischen Mustern nicht schließen. Dies lähmte ihr Handeln in entscheidenden Momenten. Erst der Enkelin Chézy gelingt es, die von der Mutter geforderte narrative Innovation auch mit neuen Erzählungen auszufüllen. Diese eröffnen ihr neue Handlungsmuster.
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ULRIKE HAMANN: RECHT IM ZEITPROZESS
Recht im Zeitprozess. Die Entstehung des Grundrechtssystems der Europäischen Union Ulrike Hamann
Am 7. Dezember 2000 wurde in Nizza die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU) von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats der Europäischen Union sowie der Europäischen Kommission unterzeichnet und feierlich proklamiert.1 Mit dieser Charta wurde erstmals in der Geschichte der europäischen Integration ein geschriebener Grundrechtskatalog auf der Ebene der Europäischen Union anerkannt und damit ein Meilenstein in der Entstehungsgeschichte der europäischen Grundrechte erreicht. Die Grundrechte haben sich ab der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in verschiedenen Etappen entwickelt. Der Prozess der Entstehung und des Ausbaus der europäischen Grundrechtsordnung enthielt dabei Beschleunigungsschübe und retardierende Momente, wobei die Grundrechtsentwicklung weitgehend den verschiedenen Tempi des politischen Einigungsverfahrens folgte. In meinem Aufsatz, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung der Grundrechte auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften (EG) und der Europäischen Union im Zeitraum von 1951 bis 2001 steht, werde ich der Frage nachgehen, welchen Einfluss die Komponente Zeit auf den Auf- und Ausbau des Grundrechtssystems innerhalb der EG/ EU ausübte. Ich werde hierbei vor allem ergründen, welche Arten der Zeiterfahrung in den Entwicklungsprozess der europäischen Grundrechte hineinspiel(t)en und wie sich die Grundrechte im Laufe der bisherigen ungefähr fünfzigjährigen Geschichte der EG/EU fortentwickelten und dadurch ihre Aufgabe als Sinnkonzept mit handlungsleitender Orientierungs- und Ordnungsfunktion immer weiter ausfüllen konnten.
1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABl.) 2000, Nr. C 364, S. 1. 277
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EUROPA UND DER WESTEN
In meiner Untersuchung werde ich daher folgende Komplexe bearbeiten: Erstens werde ich das Verhältnis von Zeit, Sinn und Recht, insbesondere der Grundrechte, analysieren. Zweitens werde ich darlegen, in welchen Etappen sich innerhalb des europäischen Integrationsprozesses die Grundrechte auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union bildeten, und welche Beziehung zwischen dem politischen Einigungsprozess und der Grundrechtsentwicklung bestand. Drittens werde ich feststellen, inwiefern mit der Charta der Europäischen Union eine neue Entwicklungsphase des europäischen Rechtssystems begann, und dafür den Ausarbeitungsprozess der Charta, ihren Inhalt, ihre Funktionen, ihre Rechtsnatur und zuletzt ihr Verhältnis zu einer zukünftigen europäischen Verfassung beleuchten.
1. Die Interdependenz von Zeit, Sinn und Recht Recht ist als ein lebens- und handlungsleitendes Orientierungs- und Ordnungssystem für menschliches Zusammenleben in der Zeit zu verstehen.2 Das Handeln der Menschen ist von rechtlichen Strukturen durchwirkt, welche die notwendigen Grundsteine für eine auf Dauer angelegte soziale Ordnung bilden. Die Normen, welche die Rechtsorientierung vermitteln, stellen eine Auswahl unter verschiedenen denkbaren Regelungsmöglichkeiten dar und erheben den Anspruch auf Verbindlichkeit.3 Recht ist dabei »die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee [der Gerechtigkeit] zu dienen« (Gustav Radbruch);4 Recht strebt die »Entsprechung von Sollen und Sein« (Arthur Kaufmann)5 an oder wie es Edgar Bodenheimer ausdrückte: »Law is a Bridge between Is and Ought«.6 Gesetze bilden das
2. Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 1; Winkler, Günther, Zeit und Recht. Kritische Anmerkungen zur Zeitgebundenheit des Rechts und des Rechtsdenkens, Wien, New York 1995, S. 305; »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« lautete der Titel der Studiengruppe am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, der die Autorin als Stipendiatin des Jahres 2001 angehörte. 3. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 1. 4. Gustav Radbruch, zitiert in: Kaufmann, Arthur, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997, S. 136f. und 149; siehe auch Kaufmann, Arthur, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl., Heidelberg 1994, S. 30178, hier S. 108-115. 5. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 137 und 148. 6. Edgar Bodenheimer, zitiert in: ebd., S. 137. 278
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Instrumentarium, um Recht und konkrete Lebenssituationen in Beziehung zueinander zu setzen. Die Aufgabe der Gesetzgebung besteht also nicht in der Schaffung von Recht, sondern lediglich in der Auswahl und Festlegung von verbindlich geltenden Normen aus einer Mehrzahl von vorstellbaren Regelungsalternativen oder in der Formulierung von Niklas Luhmann: »Gesetztheit heißt […] Kontingenz, heißt, dass die Geltung auf Setzung beruht, die auch hätte anders ausfallen können«.7 Das Verfahren der Gesetzgebung ist demnach »Angleichung von Rechtsidee und künftigen möglichen Lebenssachverhalten, [der Prozess der] Rechtsfindung […] Angleichung von Gesetzesnorm und wirklichem Lebenssachverhalt«.8 Recht, Gesetz und Lebenssachverhalt müssen hierbei von einer gemeinsamen Klammer umfasst werden, nämlich dem Sinn (ratio iuris). Er muss sowohl in der Rechtsidee (Gerechtigkeit), den einzelnen Gesetzen als auch in den konkreten Situationen des Lebens identisch vorhanden sein, damit Sollen und Sein einander entsprechen können (Identität des Sinnverhältnisses).9 Eine Rechtsordnung besteht somit aus verbindlichen Normen, welche in einer bestimmten Ordnung, d.h. in einem System, zusammengestellt sind und auf den Wert der Gerechtigkeit hin orientiert sind.10 Moderne Rechtsordnungen, wie z.B. die der Mitgliedsländer der Europäischen Union oder das der Europäischen Union selbst, bilden in der Regel strukturierte, hochkomplexe Gebilde. Die Komplexität in Gesellschaft und Recht bedingen sich dabei in sachlicher und zeitlicher Hinsicht gegenseitig. Einfache soziale Systeme kommen oft mit überschaubaren Rechtsstrukturen und relativ konkret verstandenen, situationsorientierten Regelungen aus. Je länger und nachhaltiger sich jedoch eine Gesellschaft zu höherer Komplexität entwickelt, desto stärker steigt der Abstraktionsgrad der Normen und verdichtet sich das Regelungsgeflecht, um sicherzustellen, dass in einer Vielzahl von unterschiedlichen Situationen rechtliche Orientierung und Entscheidung gegeben werden können.11 Die Zeit spielt bei der Entstehung, der Fortentwicklung und inhaltlichen Komplexität von Recht eine entscheidende Rolle. Zum einen kommt das Recht »aus der Zeit«, zum anderen entwickelt und ändert es
7. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 209. 8. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 126. 9. Ebd., S. 126f.; Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 162 und 164f. 10. Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. IV. Dogmatischer Teil, München 1977, S. 177. 11. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 6-9; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 139. 279
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sich »in der Zeit«12 und weist schließlich über den vergangenen und gegenwärtigen Moment in die Zukunft, d.h. »in die Zeit«. Während im juristischen Alltag bei der konkreten Gesetzesanwendung Zeitbegriffe, wie der des Termins als ein bestimmter Zeitpunkt und der der Frist (Verjährungs- und Ausschlussfrist) als ein abgegrenzter Zeitraum, von großer Wichtigkeit sind, gehen die Überlegungen zum Thema der Zeitlichkeit des Rechts über diese Zeitvorstellungen hinaus.13 Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Komplexe näher eingehen: erstens auf die Beziehung zwischen Recht und Geschichte und zweitens auf die Zeitlichkeit von Grundrechten und Verfassungen. Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Geschichte ist zuerst einmal festzustellen, dass jede Rechtsordnung »eine bestimmte Phase in der Geschichte der Menschheit« repräsentiert.14 Rechtssysteme besitzen eine Vorgeschichte und werden selbst Teil einer bestimmten temporalen Ordnung; aufgestellte Regelungen sind »nicht nur ›in der Geschichte‹, sie sind selbst Geschichte«.15 Das Recht, das sich gerade in Kraft befindet, stellt somit einerseits immer ein Produkt der vorausgegangenen Rechtsgeschichte dar; andererseits wird es von der geschichtlichen Entwicklung in der Zeit mitgerissen.16 Das Recht der Gegenwart ist daher nur unter der Berücksichtigung seiner geschichtlicher Evolution und seiner prinzipiellen Offenheit zur Zukunft hin, welche moderne Rechtsordnungen auszeichnet, zu erfassen.17 Während in vormodernen Rechtssystemen die Vergangenheit den zentralen Zeitfaktor darstellte, die zur weitgehenden Unabänderlichkeit des Rechts führte, dominiert in modernen Rechtssystemen die Zukunft als der für das Recht maßgebliche Zeithorizont. Vergangenheit fließt heute als historisches Wissen in zukünftige gesetzgeberische Entscheidungen ein, ohne jedoch länger bindende Wirkung kraft Tradition oder Werturteil zu entfalten, dass altes Gesetz besser sei als neues. 18 Jede Norm existiert also als historisches Faktum in seiner Zeit. Zustande gekommen in einem formalisierten Entstehungsvorgang von
12. Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. III. Mitteleuropäischer Rechtskreis, Tübingen 1976, S. 196. 13. Creifelds, Carl, Rechtswörterbuch, 16. Aufl., München 2000, S. 500. 14. Husserl, Gerhart, Recht und Zeit, in: Gerhart Husserl, Recht und Zeit. Fünf rechtsphilosophische Essays, Frankfurt am Main 1955, S. 9-65, hier S. 10. 15. Ebd., S. 22. 16. Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. I. Frühe und religiöse Rechte. Romanischer Rechtskreis, Tübingen 1975, S. 4. 17. Larenz, Karl, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin u.a. 1991, S. 190. Bezüglich der Entwicklung der Zukunftsbezogenheit des Rechts im Laufe der Rechtsgeschichte siehe Luhmann, Rechtssoziologie, S. 343ff. 18. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 347f. 280
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zeitlich aufeinanderfolgenden Verfahrensschritten ist sie meistens stillschweigend für eine unbestimmte Dauer aufgestellt. Da die Zeit aber nicht still verharrt, sondern vorwärts schreitet, gehen – bildlich gesprochen – die Rechtsregelungen mit ihr mit. Wandeln sich daher im Laufe der Zeit die tatsächlichen Verhältnisse, Zielvorstellungen oder Bewertungen, kommt es zu einer veränderten Auslegung der Normen, zu richterlicher Rechtsfortbildung oder dem Erlass neuer Gesetze, welche die veralteten ergänzen oder ersetzen bzw. eine neue Rechtsmaterie innovativ regeln.19 Die geltenden Gesetze durchlaufen somit einen stetigen Prozess der Angleichung an die geänderten Lebenswirklichkeiten innerhalb der Zeit,20 da »das System als die Sinneinheit einer konkreten Rechtsordnung […] nicht statisch, sondern dynamisch [ist], also die Struktur der Geschichtlichkeit aufweist« (Claus-Wilhelm Canaris).21 Das so eng mit der Zeit verknüpfte Rechtssystem stellt dabei notwendigerweise ein offenes und auch fragmentarisches Normengefüge dar, weil es immer unvollendet und auch unvollendbar ist.22 Die zeitliche Flexibilität der Rechtsnormen gewährleistet jedoch, dass die Rechtsordnung sich schnell und stark ändernden Lebensumständen durch einen Austausch von rechtlichen Problemlösungen oder Strukturänderungen anpassen und die gesellschaftliche Entwicklung dadurch begleitend unterstützen kann.23 Das Charakteristikum der Wandelbarkeit sowie die Möglichkeit, sich für eine andere Regelungsalternative zu entscheiden, stellt somit ein konstituierendes Element des Rechts dar. Die Chance, innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens andere Regeln zu schaffen, durch die frühere Normen geändert werden oder ihren Anwendungsimperativ verlieren, trägt dazu bei, dass das Recht von den Menschen als ein lebens- und handlungsleitendes Ordnungs- und Orientierungssystem akzeptiert und effektiv angewandt wird.24 Bei der Analyse des zweiten Komplexes der Zeitlichkeit von
19. Ellscheid, Günther, Das Naturrechtsproblem. Eine systematische Orientierung, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl., Heidelberg 1994, S. 179-247, hier S. 241f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 350. 20. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 190 und 350; Husserl, Recht und Zeit, S. 23; Winkler, Zeit und Recht, S. 192 und 303. 21. Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 63; siehe auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 486f. 22. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 489. 23. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 211f. und 349. 24. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, S. 474f. 281
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Grundrechten und Verfassungen ist zunächst einmal der Begriff der Verfassung zu klären. Die Verfassung eines Gemeinwesens wird als die zumeist in einem Verfassungsgesetz (»Verfassungsurkunde«) zusammengestellten Grundrechte und grundlegenden Bestimmungen über die Aufgaben, die Organisation und die Ausübung der öffentlichen Gewalt definiert.25 Die Verfassung bildet das Fundament einer modernen Rechtsordnung, denn sie stellt in einer bestimmten historischen Situation der Gesellschaft ein sinnhaftes, ordnungsstiftendes Konzept zur Verfügung, wie »politische Herrschaft mit den sozialen Normen und den Sinnbedingungen des individuellen Daseins« (Peter Badura) verbunden werden kann.26 Die Verfassungsnormen verleihen dem Handeln der Staatsorgane Legitimität und Legalität, stiften als Symbol politischer und gesellschaftlicher Einheit Identität und gewährleisten durch ihren Charakter als auf Dauer angelegte Entscheidungen des rechtlich und politisch Wesentlichen Kontinuität. Die Verfassung ist somit Ausdruck politischer Kultur in einem Land und stellt einen integrativen Bestandteil der Kultur und der allgemeinen Geschichte eines bestimmten staatlichen Gemeinwesens dar.27 Innerhalb einer Verfassung nehmen die Grundrechte eine zentrale Rolle ein, denn sie dienen dazu, in Form von subjektiven Rechten die Freiheitssphäre des einzelnen Individuums vor Beeinträchtigungen der öffentlichen Gewalt zu schützen (Abwehr- und Schutzrechte), ihm ferner die Teilhabe am Gemeinwesen zu ermöglichen und ihn in den Genuss von Leistungen der öffentlichen Hand und Verfahrensgarantien kommen zu lassen. Daneben enthalten die Grundrechte auch objektive Prinzipien, die »Wertentscheidungen« für die gesamte Rechtsordnung des Gemeinwesens ausdrücken. Sie legen diejenigen grundlegenden Werte fest, die für die Menschen und für das Gemeinschaftsleben in der konkreten geschichtlichen Phase, in der die Grundrechte ausgearbeitet werden, von Bedeutung sind und an welchen sich auch in Zukunft das Verhalten der Bürger und der Träger hoheitlicher Gewalt leiten soll.28 Aufgrund ihrer Aufgabe als Orientierungs- und Ordnungssystem für den Aufbau und das Funktionieren des Gemeinwesens verfügen die Grundrechte und die anderen Verfassungsnormen über eine
25. Badura, Peter, Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, München 1986, S. 6, Rd. A 7. 26. Ebd., S. 7, Rd. A 7. 27. Winkler, Zeit und Recht, S. 286, 297 und 556. 28. Quasdorf, Peter, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, Frankfurt am Main u.a. 2001, S. 70-88; Badura, Staatsrecht, S. 62-64, 73-75, Rd. C 2-4, 14f. 282
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andere Zeitlichkeit als Gesetze ohne Verfassungsrang. Während bei einfachen Gesetzen der Tag als zentraler Zeitmaßstab gilt, wird bei Verfassungen z.B. bezüglich ihres Inkrafttretens und ihrer Änderungen das Jahr als kleinste Zeiteinheit genommen und bei der geschichtlichen Verfassungslehre gar in Zeiträumen von Jahrzehnten und Jahrhunderten gedacht.29 Auch wenn Verfassungen an einem bestimmten Tag formell in Kraft treten, benötigen sie für ihr inhaltliches Werden und ihre effektive Rechtsanwendung eine gewisse Zeit. In der Regel kommen Verfassungen etappenweise zustande. Zwar sind formal das Ende einer Verfassung und der Anfang einer neuen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen strikt voneinander getrennt, materiell gesehen überlagern sie sich jedoch während eines größeren Zeitraums. Die Verbindlichkeit der Sinngehalte einer früheren Verfassung hört synchron zu der Entwicklung der Verbindlichkeit der Inhalte der nachfolgenden Verfassung auf. Auch Verfassungen, die auf Grund einer Revolution zustande kommen und quasi in einer »historischen Stunde« (Kairos) »geboren« werden, entstehen nicht aus einem rechtsleeren Raum heraus. Oft werden in die Verfassung einige bereits vor der Revolution geltende Rechtsprinzipien und Institutionen einbezogen und in die gesamte neue Rechtsordnung viele »einfache Gesetze« aus vorrevolutionärer Zeit übernommen.30 Sind die neuen Sinngehalte einer Verfassung einmal verbindlich geworden, so befindet sich auch die neue Verfassungsordnung in einer ständigen Dialektik zwischen Statik und Dynamik. Zum einen sorgt die Verfassung, insbesondere die in ihr enthaltenen Grundrechte, für Bestandskraft und Dauer der wesentlichen Grundentscheidungen. Zum anderen durchläuft die Verfassung mit den Grundrechten einen immerwährenden dynamischen Veränderungsprozess, in welchem die abstrakten Sinngehalte der Verfassungsnormen konkretisiert, ergänzt und weitergebildet werden.31 Durch Auslegung der Verfassungsvorschriften und durch Verfassungswandel in Form von inhaltlicher Fortbildung ohne Änderung des Verfassungstextes, die vor allem durch die Praxis der öffentlichen Gewalt erfolgen, sowie durch die Veränderung des Wortlautes der Verfassung selbst können die Normen an die im Laufe der Zeit stattfindenden sozialen und politischen Entwicklungen angepasst und damit ihrem prinzipiell zeitoffenen Regelungszweck gerecht werden. Der Verfassungsänderung sind jedoch systemimmanente Grenzen gesetzt. Da die Verfassung eine besondere Stabilisierungsfunktion ausübt, ist ihre Umgestaltung im Wege der Gesetzgebung nur
29. Winkler, Zeit und Recht, S. 548 und 552-560. 30. Ebd., S. 257-260 und 554. 31. Ebd., S. 271; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 145. 283
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unter besonderen Voraussetzungen möglich.32 So ist in manchen Verfassungen eine Änderung des Verfassungstextes nur durch schwer zu überwindende Hürden zu erreichen, z.B. einer Zweidrittelmehrheit des Gesetzgebungsorgans; andere Bestandteile der Verfassung dagegen, wie der Wesensgehalt der Grundrechte und die Kernbereiche der verfassungsrechtlichen Grundprinzipien, sind absolut gegen eine Änderung geschützt.33 Um eine solche trotzdem zu erreichen, müsste die alte Verfassung als ganze außer Kraft gesetzt werden, und dann (eventuell) eine neue Verfassung beschlossen werden. Zusammengefasst erweisen sich im geschichtlichen Verlauf die Verfassung im Allgemeinen und die Grundrechte im Besonderen als Einheit von Dauerhaftigkeit und Wandel: in ihrer Form zeigen sie sich relativ statisch, in ihren Sinngehalten dagegen dynamisch, obwohl der Veränderung der grundsätzlichen Wertentscheidungen und Prinzipien Grenzen gesetzt sind und diese daher auch Beständigkeit ausstrahlen. Trotz der fortwährenden Weiterentwicklung und der Änderungen der Grundrechte und anderer Verfassungsbestimmungen in ihren Einzelheiten bleibt die Verfassung insgesamt in ihrem legitimierenden Wesensgehalt gleich und wirkt somit bis zum Ende ihrer geschichtlichen Existenz als ein konstantes temporales Ordnungs- und Orientierungssystem.34
32. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 488; Badura, Staatsrecht, S. 386f., Rd. F 59f. 33. Im deutschen Recht regelt Art. 79 GG die Verfassungsänderung. Gem. Art. 79 Abs. 1 GG ist eine Änderung der deutschen Verfassung (»Grundgesetz«) durch ein Gesetz, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt, grundsätzlich möglich. Ein solches Gesetz bedarf jedoch gem. Art. 79 Abs. 2 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Art. 79 Abs. 3 GG hingegen spricht ein absolutes Verbot der Änderung der Gliederung des Bundes in Länder, der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder der in Art. 1 GG (Achtung und Schutz der Menschenwürde) und Art. 20 GG (Garantie der rechtsstaatlichen Ordnung) niedergelegten Grundsätze aus. Die Änderungsschranke des Art. 79 Abs. 3 GG ist dabei aus Gründen der Normlogik auch unabänderbar. Des Weiteren bestimmt im deutschen Recht Art. 19 GG, dass ein Grundrecht zwar durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt (Art. 19 Abs. 1 GG), aber in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf (Art. 19 Abs. 2 GG). Diese Wesensgehaltsgarantie postuliert eine absolute Eingriffsgrenze für den Gesetzgeber, die Verwaltung und die Gerichte. Siehe Seifert, Karl-Heinz/Hömig, Dieter, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar, 5. Aufl., Baden-Baden 1995, S. 206f. und 442-444. 34. Winkler, Zeit und Recht, S. 286, 297 und 555. 284
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2. Der europäische Integrationsprozess und die Grundrechtsentwicklung innerhalb der Europäischen Gemeinschaften bzw. Europäischen Union Die Entstehung und die Entfaltung des Grundrechtsschutzes innerhalb der Europäischen Gemeinschaften und Europäischen Union hängt sowohl zeitlich als auch sachlich eng mit dem europäischen Integrationsprozess zusammen. Der Grundrechtsschutz in der EG/EU ist in mehreren Etappen entstanden, wobei die letzte Phase noch nicht abgeschlossen ist. Insgesamt können drei zeitliche Perioden unterschieden werden: der Zeitraum von 1951 bis 1968, die Phase von 1969 bis 1999 und die noch andauernde Etappe ab 2000.
2.1 Die erste Phase von 1951 bis 1968 Nach den traumatischen politischen, gesellschaftlichen und individuellen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges erhoben sich in Europa viele Stimmen, welche die Einigung Europas forderten und vorschlugen, dass sich die europäischen Nationalstaaten zu einem einzigen europäischen Staatengebilde zusammenschließen sollten. Die Gründung einer politischen Gemeinschaft sollte sicherstellen, dass in Zukunft einerseits eine Wiederholung der wechselseitigen Zerstörung der europäischen Länder verhindert und stattdessen künftig Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf dem europäischen Kontinent gesichert würde, und dass andererseits Europa neben den beiden Weltmächten USA und Sowjetunion politisch und wirtschaftlich selbständig bestehen könnte. Da jedoch für einen sofortigen politischen Verbund zu den Vereinigten Staaten von Europa, die Winston Churchill bereits 1946 gefordert hatte, in vielen europäischen Ländern der Wille fehlte, beschlossen einige westeuropäische Staaten, zunächst wirtschaftliche Zusammenschlüsse einzugehen. So gründeten Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande im Jahr 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) und im Jahr 1957 mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Die sechs Gründungsmitglieder wurden dabei von der Hoffnung geleitet, die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Sektor würde zu einer Kooperation in immer weiteren Bereichen führen, und der Weg der fortschreitenden Teilintegration würde, begleitet von einem wachsenden europäischen Zusammengehörigkeitsgefühl, schließlich in die politische Einigung münden.35 In der Aufbruchsstimmung der Zeit nach
35. Geiger, Rudolf, Grundgesetz und Völkerrecht. Die Bezüge des Staatsrechts zum Völkerrecht und Europarecht. Ein Studienbuch, 2. Aufl., München 1994, S. 193285
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1958 wurde vor allem die wirtschaftliche Integration innerhalb der EG vorangetrieben; so wurde z.B. der freie Warenverkehr und die Freizügigkeit des Personenverkehrs in der EWG verwirklicht. Daneben wurde der organisatorische Aufbau der EG reformiert und ein gemeinsamer Rat und eine gemeinsame Kommission für alle drei Gemeinschaften eingesetzt (Fusionsvertrag von 1965). Im gleichen Jahr kam es jedoch zu einer Krise innerhalb der EG, als das Prinzip der Mehrheitsentscheidung im Ministerrat eingeführt werden sollte und über diese Frage ein grundsätzlicher Streit über das Wesen einer künftigen Europäischen Politischen Union entweder als föderales System oder als bloße Staatenkooperation ausbrach. Obwohl das Problem der Mehrheitsentscheidung durch den »Luxemburger Kompromiss« 1966 gelöst wurde, stand der Integrationsprozess bis Ende des sechziger Jahre weitgehend still.36 Die Rechtsordnung der EG blieb in ihrer Anfangsphase entsprechend dem Willen ihrer Mitglieder weitgehend auf Vorschriften zur Regelung der wirtschaftlichen Integration beschränkt. Die überwiegende Mehrzahl der Mitgliedstaaten der EG enthielt zwar in ihren nationalen Verfassungen Grundrechtskataloge.37 Außerdem traten alle Mitglieder der EG der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) von 195038 sowie der Europäischen Sozialcharta von 196139 bei und wurden damit in den Mechanismus der Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte im Rahmen des Europarats eingebunden. In den Verträgen der EG aber existierte weder ein geschriebener Grundrechtskatalog noch irgendeine grundrechtliche Norm. Da die Mitglieder der EG in der ersten Zeit
198.; Oppermann, Thomas, Europarecht. Ein Studienbuch, 2. Aufl., München 1999, S. 7-13. 36. Der »Luxemburger Kompromiss«, der durch Frankreichs Fernbleiben von den Arbeiten des Ministerrats (»Politik des leeren Stuhles«) erzwungen wurde, sieht vor, dass sich die Ratsmitglieder um einen einstimmigen Beschluss bemühen, wenn sehr wichtige Interessen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten berührt werden. Siehe Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 225f.; Oppermann, Europarecht, S. 13-16. 37. In der französischen Verfassung der V. Republik von 1958 findet sich kein Grundrechtskatalog. Jedoch verweist die Präambel der Verfassung von 1958 auf die Menschenrechtserklärung von 1789 und auf deren Ergänzungen in der Verfassungspräambel von 1946, die damit geltendes Recht darstellen. Siehe Hübner, Ulrich/Constantinesco, Vlad, Einführung in das französische Recht, 2. Aufl., München 1988, S. 47f.; Kimmel, Adolf (Hrsg.), Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 2. Aufl., München 1990, S. XV. 38. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1952 II, S. 686, 953. 39. Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961, BGBl. 1964 II, S. 1262. 286
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der Integration die politisch-demokratische Einigung (vorläufig) aussparen wollten, wurden während der gesamten ersten Phase des Zusammenschlusses keine gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in die Verträge aufgenommen, die Abwehr- und Schutzrechte der Bürger gegenüber der europäischen öffentlichen Gewalt postulierten oder eine gesellschaftliche europäische Werteordnung festlegten.
2.2 Die zweite Phase von 1969 bis 1999 Nach Jahren der Stagnation erhielt der europäische Einigungsprozess ab 1969 mit dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften in Den Haag neuen Schwung. Die Konferenzteilnehmer beschlossen, die Integration beschleunigt fortzusetzen, bekannten sich zur politischen Zielsetzung eines geeinten Europas und vereinbarten neben der Vollendung des Binnenmarktes die stufenweise Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die politische Zusammenarbeit und die Erweiterung der Gemeinschaft um neue Mitglieder.40 Damit waren die Themen gesetzt, welche den europäischen Integrationsprozess in den nächsten 30 Jahren bestimmen sollten. Das Jahr 1969 stellte auch in der Entwicklung der europäischen Grundrechte einen Meilenstein dar. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt noch keine geschriebenen Grundrechte oder gar ein Grundrechtskatalog in den Verträgen der EG niedergelegt waren, begann der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Grundrechte aus dem gesamten Rechtssystem der EG zu destillieren und als solche verbindlich für alle EG-Bürger anzuerkennen. Hatte der Europäische Gerichtshof es davor stets abgelehnt, zur Frage des Grundrechtschutzes innerhalb der EG Stellung zu nehmen, wandelte sich parallel zum neuen Integrationsdynamismus auf politischer Ebene ab dem Ende der 60er Jahre auch die Rechtsprechung des EuGH. In seinem bahnbrechenden Urteil Stauder stellte 1969 das Gericht zum ersten Mal fest, dass in den allgemeinen Grundsätzen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung Grundrechte enthalten seien und er die Kompetenz besäße, diese zu sichern.41 Ab diesem Zeitpunkt entwickelte der Europäische
40. Haager Gipfelkonferenz der Sechs: Schlußkommuniqué, 2. Dez. 1969, in: Walter Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen und die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986, Dokument Nr. 108, S. 502-506. 41. EuGH Rs. Stauder (Erich Stauder gegen Stadt Ulm, Sozialamt), Urteil vom 12. November 1969; Slg. 1969, S. 419; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, S. 28. 287
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Gerichtshof durch Richterrecht im Wege der Rechtsfortbildung in einer langen Reihe von Urteilen gemeinschaftsrechtliche Grundrechte.42 Im Laufe der 70er Jahre wurden im Zuge des Integrationsprozesses schrittweise einige Reformpläne von Den Haag umgesetzt. So wurden 1973 die neuen Mitglieder Großbritannien, Irland und Dänemark (Norderweiterung) in die EG aufgenommen und 1978 das Europäische Währungssystem (EWS) gegründet. 1979 wurde das Europäische Parlament, dessen Abgeordnete bis dahin von den nationalen Parlamenten bestimmt worden waren, erstmals direkt gewählt und erfuhr damit als erstes EG-Organ eine unmittelbare demokratische Legitimation.43 In der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurden auch die Grundrechte erstmalig von den anderen Organen der EG anerkannt.44 In ihrer gemeinsamen Erklärung vom 5. April 1977 bekannten sich das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission zur Achtung der Grundrechte und billigten dadurch nachträglich den Rechtsfortbildungsprozess des EuGH, ohne jedoch den politischen Willen zur Aufstellung eines europäischen Grundrechtskatalogs aufzubringen.45 Ein Jahr später kreuzten sich zum ersten Mal der europäische politische Integrationsprozess und die Grundrechtsentwicklung in einem einheitlichen Dokument. In seinem Bemühen um eine demokratischere Grundlage des europäischen Einigungsprozesses gab der Europäische Rat am 8. April 1978 auf dem Gipfel von Kopenhagen die »Erklärung zur Demokratie« ab. In ihr bewertete er die Direktwahl des Europäischen Parlaments, die ein Jahr später erstmals durchgeführt wurde, als »Demonstration des allen Mitgliedstaaten gemeinsamen demokratischen Ideals« und bekannte sich zur Respektierung der Grundrechte
42. Der EuGH stützt(e) sich bei seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten auf die Interpretation des Rechtsbegriffs des Art. 220 (ex Art. 164) EGV; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 219f.; Alber, Siegbert/Widmaier, Ulrich, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung. Zu den Beziehungen zwischen EuGH und EGMR, in: Europäische Grundrechte 27, 2000, Nr. 17-19, S. 497-510, hier S. 502f. 43. Oppermann, Europarecht, S. 17-19. 44. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, S. 29-31. 45. »1. Das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission unterstreichen die vorrangige Bedeutung, die sie der Achtung der Grundrechte beimessen, wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehen. 2. Bei der Ausübung ihrer Befugnisse und bei der Verfolgung der Ziele der Europäischen Gemeinschaften beachten sie diese Rechte und werden dies auch in Zukunft tun.« Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 1977, ABl. 1977, Nr. C 103, S. 1. 288
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und Achtung der Menschenrechte, deren Schutz er in Verfahren garantiert sah, welche eine pluralistische Demokratie zur Verfügung stelle.46 Da der Europäische Rat durch diese Erklärung weiterhin dem Europäischen Gerichtshof den Prozess der Aus- und Fortbildung europäischer Grundrechte allein überließ, ohne selbst die Initiative zur Aufstellung von Grundrechten zu ergreifen, setzte der EuGH seine Bemühungen fort, den Bürgern einen möglichst umfassenden Grundrechtsschutz angedeihen zu lassen.47 Er entwickelte dabei die Grundrechte aus folgenden Erkenntnisquellen: zum einem stützte er sich auf die Gründungsverträge der EG und deren Abänderungen und Ergänzungen; zum anderen griff er im Wege des Rechtsvergleichs auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze zurück; ferner berücksichtigte er die völkerrechtlichen Verträge über Menschen- und Grundrechte, denen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft beigetreten waren, wobei der EuGH des öfteren ausdrücklich auf den Schutzkatalog der Europäischen Menschenrechtskonvention verwies, und zog außerdem – unverbindliche – Erklärungen des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission über Grundrechte als Erkenntnisquelle heran.48 In den 80er Jahren erhöhte sich abermals die Zahl der Mitglieder der Gemeinschaft. Im Rahmen der Süderweiterung wurden 1981 Griechenland sowie 1986 Spanien und Portugal in die EG aufgenommen, die damit aus zwölf Staaten bestand. Mitte der 80er Jahre erhielten der europäische politische Einigungsprozess und die Entwicklung des Grundrechtsschutzes einen neuen Anstoß. Erstmalig wurden in einem Vertrag der Gemeinschaft, der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986, das Ziel der Bildung einer Europäischen Union genannt und in diesem Zusammenhang auch die Grundrechte erwähnt. Beide Termini »Europäische Union« und »Grundrechte« erlangten jedoch keinen verpflichtenden Status, sondern wurden lediglich in der Präambel der Einheitliche Europäische Akte aufgeführt. In ihr wurden die Grundrechte als Stütze der Demokratie bezeichnet und besonders die Grundrechte der Freiheit, Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit hervorgehoben.49
46. Erklärung des Europäischen Rates vom 8. April 1978 (Kopenhagen). Erklärung zur Demokratie, Bulletin EG 1978, Nr. 3, S. 5. 47. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, S. 30. 48. Jaeckel, Liv, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht. Eine Untersuchung der deutschen Grundrechte, der Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 2001, S. 186; Ahlt, Michael, Europarecht. Examenskurs für Rechtsreferendare, 2. Aufl., München 1996, S. 33f. 49. Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986, ABl. 1987, Nr. L 169, S. 1. 289
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Ende der 80er Jahre/Anfang der 90er Jahre änderten sich in Europa schlagartig die politischen Rahmenbedingungen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989-1991 und dem damit verbundenen Ende der Teilung des europäischen Kontinents in zwei politische und militärische Lager erhielt die Idee der politischen Einigung Europas, die bis dahin eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, neuen Auftrieb. Bereits 1992 wurde die Europäische Union im Vertrag von Maastricht gegründet, welcher durch den Vertrag von Amsterdam 1997 modifiziert wurde.50 Die Konstruktion der EU ruht dabei auf drei Säulen: erstens auf den drei Europäischen Gemeinschaften, die im weitesten Sinne die Wirtschaftsordnung der Gemeinschaft und Ansätze einer europäischen Innenpolitik darstellen, zweitens auf der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)«, die formell zur Zeit nur aus einer intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedländer besteht, aber schrittweise zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ausgebaut werden soll, und drittens auf der »Polizeilichen und Justitiellen Zusammenarbeit (PJZ)«, die ebenfalls derzeit nur in einem zwischenstaatlichen Rahmen stattfindet, aber die Perspektive einer einheitlichen europäischen Innenpolitik in diesen Bereichen in sich birgt.51 Quasi als Dach über diesen drei Pfeilern sorgt die EU für Kohärenz und Kontinuität des gemeinschaftlichen Handelns, da sie gemeinsame Ziele und Grundsätze postuliert und einen einheitlichen institutionellen Rahmen zur Verfügung stellt.52 Die Intensivierung des europäischen Integrationsprozesses in den 90er Jahren drückte sich jedoch nicht allein in der Gründung der Europäischen Union aus. 1995 fand eine neue Erweiterungsrunde statt und die drei neutralen Staaten Österreich, Schweden und Finnland traten der Europäischen Union bei (EFTA-Erweiterung), womit sich die Zahl der Mitglieder der Gemeinschaft auf 15 Staaten erhöhte.53 Nachdem bereits am 31. 12. 1992 der
50. Der Vertrag von Maastricht wurde auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Maastricht am 9./10. Dezember 1991 beschlossen, am 7. Februar 1992 unterzeichnet und trat am 1. November 1993 in Kraft; siehe Vertrag über die Europäische Union. Unterzeichnet zu Maastricht am 7. Februar 1992, ABl. 1992, Nr. C 191, S. 1. Auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Amsterdam einigten sich am 16./17 Juni 1997 die Teilnehmer auf den Vertrag von Amsterdam, welcher am 2. Oktober 1997 unterzeichnet wurde und am 1. Mai 1999 in Kraft trat; siehe Vertrag von Amsterdam. Zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte. Unterzeichnet in Amsterdam am 2. Oktober 1997, ABl. 1997, Nr. C 340, S. 1. Vgl. Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Europa-Handbuch, Bonn 1999, S. 919, 921, 925 und 928. 51. Oppermann, Europarecht, S. 22-24, 661-663, 725-727. 52. Siehe Art. 3 EU-Vertrag; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 202. 53. EFTA steht als Abkürzung für European Free Trade Association. Die Europä290
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europäische Binnenmarkt vollendet worden war, wurde 1999 schließlich die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen elf EU-Mitgliedern verwirklicht und der Euro als gemeinsame Währung eingeführt (Euro-Zone), wobei die Euro-Geldscheine und Cent-Münzen erst im Jahre 2002 in Umlauf kamen.54 Im Gründungsvertrag von Maastricht erhielten zur Legitimation der Europäischen Union auch die Grundrechte zum ersten Mal auf gemeinschaftlicher Ebene vertraglich verbindlichen Schutz. Die zentrale grundrechtliche Vorschrift des Art. F Abs. 2 EU-Vertrags wiederholte jedoch sinngemäß nur die gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission von 1977.55 Damit wurden lediglich der Grundrechtsbestand, wie er bereits durch die Rechtsprechung des EuGH ausgearbeitet worden war, vertraglich verankert, aber kein darüber hinausgehender Grundrechtsschutz erreicht. Der politische Wille der Mitgliedstaaten reichte noch nicht zur Aufstellung eines Grundrechtskatalogs, sondern die Entwicklung der Grundrechte verblieb weiterhin in Händen des Europäischen Gerichtshofs. Im Vertrag von Amsterdam von 1997 verbesserten die Mitgliedstaaten den Schutz der Grundrechte, ohne jedoch die Aufgabe angepackt zu haben, eine vertraglich verbindliche Liste von Grundrechten auszuarbeiten. Vielmehr verblieb es bei dem schon in der Vergangenheit angewandten Verweisungssystem auf internationale Verträge und die gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten. Der Vertrag von Amsterdam unterstrich sowohl in der Präambel als auch im Vertragstext die enge Verbindung zwischen den Prinzipien der Demokratie und der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten innerhalb der Europäi-
ische Freihandelsassoziation setzt sich aus europäischen Industriestaaten zusammen, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen der EG/EU nicht beitreten woll(t)en, aber gemeinsam den Schutz ihrer Handelsinteressen verfolgen. Zur Zeit verfügt die EFTA noch über vier Mitglieder: Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Siehe von Baratta, Mario/Clauss, Jan Ulrich, Internationale Organisationen. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 1991, S. 134; von Baratta, Mario (Hrsg.), Der Fischer Weltalmanach 2001, Frankfurt am Main 2000, S. 970f. 54. Griechenland trat am 1. Januar 2001 als zwölftes Mitgliedsland der EuroZone bei, während Dänemark, Großbritannien und Schweden sich am 1. Januar 2002, dem Zeitpunkt der Einführung der Euro-Banknoten und Cent-Münzen, (noch) nicht der Währungsunion angeschlossen hatten. Siehe von Baratta, Der Fischer Weltalmanach 2001, S. 1071f. 55. Art. F Abs. 2 EU-Vertrag: »Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.« 291
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schen Union.56 So beinhaltete Art. 6 I EU-Vertrag die Feststellung, dass u.a. neben der Demokratie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten das Fundament der EU bilde. Art. 6 II EU-Vertrag übernahm wortgleich die zentrale Grundrechtsvorschrift des Maastrichter Vertrags (Art. F Abs. 2 EU-Vertrag) und normierte, dass in der Europäischen Union die Grundrechte im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu achten seien.57 Ferner bestätigte der Amsterdamer Vertrag in seiner Präambel die Bedeutung, die in der EU den sozialen Grundrechten beigemessen würden, und Art. 136 EG-Vertrag legte das Ziel der Gemeinschaft fest, u.a. für einen angemessenen sozialen Schutz zu sorgen, wobei diese Vorschrift ausdrücklich auf die sozialen Grundrechte, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 formuliert waren, Bezug nahm.58 Daneben bestimmte der Amsterdamer Vertrag, dass der EuGH zur Kontrolle des Grundrechtsschutzes zuständig sei (Art. 46 lit. d) EU-Vertrag), was im Vertrag von Maas-
56. Präambel des EU-Vertrags: »[…] in Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, in Bestätigung der Bedeutung, die sie den sozialen Grundrechten beimessen, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind […] haben [die oben genannten Länder] beschlossen, eine Europäische Union zu gründen.« 57. Art. 6 I EU-Vertrag: »Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.« Art. 6 II EU-Vertrag: »Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.« 58. Art. 136 EG-Vertrag: »Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten verfolgen eingedenk der sozialen Grundrechte, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind, folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen […].« 292
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tricht noch nicht ausgesprochen worden war (Art. L EU-Vertrag Maastricht).59 Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Grundrechtsschutz innerhalb der Europäischen Union am Ende des 20. Jahrhunderts relativ weit entwickelt war. Zwar war im (derzeit noch gültigen) Vertrag von Amsterdam kein geschriebener Grundrechtskatalog enthalten, aber er umfasste neben den Grundfreiheiten des freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Zahlungsverkehrs und einigen grundrechtsähnlichen Bestimmungen (wie beispielsweise das Diskriminierungsverbot in Art. 12 EG-Vertrag) das Prinzip, die Grundrechte, wie sie vom Europäischen Gerichtshof entwickelt worden waren, zu achten. Es blieb bis dahin weitgehend dem Europäischen Gerichtshof überlassen, durch eine Abfolge von Urteilen europäische Grundrechte – wie z.B. das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Eigentumsrecht, die Meinungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit – aufzustellen.60 Durch diesen vom EuGH getragenen Prozess der Grundrechtsbildung, der nicht durch systematisches Vorgehen, sondern durch eine »entwicklungsoffene Konzeption« (Liv Jaeckel) von Gerichtsentscheidung zu Gerichtsentscheidung gekennzeichnet war und noch immer ist, konnte jedoch kein in sich abgerundeter Grundrechtskatalog ausgearbeitet werden.61 Ferner gelang es nicht, den Grundrechtsschutz auf der Ebene der EU umfassend zu gewährleisten. So hatte sich der EuGH beispielsweise noch nicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, zur Freiheit der Kunst und der Wissenschaft sowie zum Asylrecht geäußert.62 Es war und ist jedoch damit zu rechnen, dass der EuGH die restlichen Lücken, falls ihm durch eine entsprechende Fallgestaltung die Gelegenheit dazu gegeben werden wird, auf dem Weg der richterlichen Rechtsfortbildung schließen wird.63
59. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 187. 60. Eine Liste der durch die bisherige Rechtsprechung des EuGH anerkannten Grundrechte findet sich bei Müller-Graff, Peter-Christian, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta: Die Europäische Union als transnationales Gemeinwesen, in: integration 23, 2000, Nr. 1, S. 34-47, hier S. 40; siehe auch Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, S. 235f. 61. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 186. 62. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta, S. 40. 63. Zuleeg, Martin, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte. Funktionen einer EU-Charta der Grundrechte, in: Europäische Grundrechte 27, 2000, Nr. 17-19, S. 511-517, hier S. 511. 293
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2.3 Die dritte Phase ab 2000 Die dritte Phase des europäischen Integrationsprozesses und der Grundrechtsentwicklung innerhalb der Europäischen Union begann im Jahr 2000 und dauert noch an. Angesichts der bevorstehenden Erweiterung der EU um mittel- ost-, und südeuropäische Staaten, die möglicherweise eine Verdoppelung der Anzahl der Mitglieder der Union mit sich bringen wird, und des sich immer weiter verdichtenden politischen Integrationsprozesses, was zu einem enormen Anstieg der Komplexität der gemeinschaftlichen Gesellschaft führen wird, war und ist es notwendig, Reformen u.a. des institutionellen Rahmens der EU durchzuführen. Auf der Regierungskonferenz des Europäischen Rates am 7.-11. Dezember 2000 wurde deshalb der Vertrag von Nizza beschlossen, der am 26. Februar 2001 unterzeichnet wurde.64 Er enthält u.a. eine Neuregelung der Anzahl der Mitglieder der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rats sowie die Ausweitung des Prinzips der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat.65 Daneben erweitert er die im Vertrag von Amsterdam geschaffene Möglichkeit des Rats, gegen einen Mitgliedstaat Sanktionen zu verhängen, der die Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit schwerwiegend und anhaltend verletzt, um die Option, schon bei der Gefahr der Grundrechtsverletzung durch einen Mitgliedstaat tätig zu werden und an diesen »geeignete Empfehlungen« zu richten.66 Gleichzeitig vereinbarten die Staats- und Regierungsvertreter in Nizza, den Reformprozess der Europäischen Union weiter voranzutreiben, und insbesondere die Frage der Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten sowie die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas zu klären und eine Vereinfachung der Verträge anzustreben. Ferner legten sie fest, im Jahre 2004 eine neue Regierungskonferenz abzuhalten, auf der die entsprechenden Änderungen des gemeinschaftsrechtlichen Vertragswerks beschlossen werden sollen.67
64. Vertrag von Nizza. Zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. 2001, Nr. C 80, S. 1. Zur Zeit befindet sich der Vertrag von Nizza im Ratifikationsverfahren. 65. Europäische Kommission, Wer macht was in der Europäischen Union? Die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union. Was bringt uns der Vertrag von Nizza?, Luxemburg 2001, S. 3-18. 66. Art. 7 EU-Vertrag. 67. Siehe die von der Konferenz des Europäischen Rates in Nizza angenommene »Erklärung zur Zukunft der Union«, in: Vertrag von Nizza. Zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemein294
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Zeitlich und sachlich eng mit dem institutionellen Reformprozess verknüpft erfolgte im Jahr 2000 innerhalb der Europäischen Union im Bereich der Grundrechte ein Quantensprung. Denn anlässlich des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs in Nizza wurde am 7. Dezember 2000 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats sowie der Europäischen Kommission unterzeichnet und feierlich proklamiert.68 Mit der Charta wurde erstmals in der europäischen Integrationsgeschichte ein geschriebener Grundrechtskatalog für die Europäische Union anerkannt.
3. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union 3.1 Prozess der Ausarbeitung Bereits vor der Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hatte es mehrere Entwürfe eines europäischen Grundrechtskatalogs gegeben. Vor allem das Europäische Parlament hatte immer wieder den Versuch unternommen, einen solchen auszuarbeiten und die anderen europäischen Organe von dessen Notwendigkeit zu überzeugen. Insbesondere folgende Vorarbeiten sind zu nennen: der Luster/Pfennig-Entwurf von 1983,69 die »Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten« des Europäischen Parlaments von 1989,70 der Martin-Bericht von 1990,71 der (zweite) Herman-Bericht aus dem Jahre 199472 und der darauf fußende Verfassungsentwurf des Europäi-
schaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte. Von der Konferenz angenommene Erklärungen. Erklärung zur Zukunft der Union, Nr. 23 V und VII, ABl. 2001, Nr. C 80, S. 1, 85f. 68. Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 1. 69. Fünfzig Abgeordnete der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament: Verfassung der Europäischen Union. 14. Sept. 1983 [Luster/Pfennig – Entwurf], in: Walter Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen und die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986, Dokument Nr. 140, S. 688-710, hier S. 690-692. 70. Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom 12. April 1989, ABl. 1989, Nr. C 120, S. 52, 53-56. 71. Dritter Zwischenbericht im Namen des Institutionellen Ausschusses über die Regierungskonferenzen im Rahmen der Strategie des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Europäische Union, Berichterstatter: Herr David Martin, EP Doc A 3270/90, S. 1, 6-9. 72. Zweiter Bericht des Institutionellen Ausschusses über die Verfassung der 295
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schen Parlaments von 199473 sowie der Simitis-Bericht von 1999.74 Die Vorschläge zur Einführung eines verbindlichen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalogs vor dem Jahre 1999 scheiterten, weil sie entweder als Teil eines Verfassungsentwurfs konzipiert waren oder zumindest eine europäische Verfassung anvisierten, zu deren Ausarbeitung im 20. Jahrhundert die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EG/EU noch nicht bereit waren.75 Ab 1999 kam es im Prozess der Grundrechtsentwicklung auf Ebene der Europäischen Union zu einer Beschleunigungsphase. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich bei den Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten konsensuell der politische Wille durchgesetzt, sich beim Grundrechtsschutz nicht länger mit der im Vertrag von Maastricht und Amsterdam angewandten Verweisungstechnik auf völkerrechtliche Verträge und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zufrieden zu geben, sondern stattdessen einen geschriebenen Grundrechtskatalog für die Europäische Union aufzustellen. Auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft beschloss daher am 3./4. Juni 1999 der Europäische Rat auf dem Gipfel in Köln, eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erarbeiten.76 Erstmals im europäischen Integrationsprozess sollte dabei ein neues Verfahren zur Anwendung kommen: in einem Gremium sollten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten der EU, der Europäischen Kommission, der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments, ausgestattet mit einem konkreten Arbeitsauftrag der Staatsund Regierungschefs der Mitgliedsländer der EU, gemeinsam einen
Europäischen Union. Berichterstatter: Herr Fernand Herman, EP Doc A 3-0064/94, S. 1, 21 und 35-38. 73. Europäisches Parlament, Entschließung zur Verfassung der Europäischen Union, ABl. 1994, Nr. C 61, S. 155, 158 und 166-168. 74. Europäische Kommission, Die Grundrechte in der Europäischen Union verbürgen – es ist Zeit zu handeln. Bericht der Expertengruppe »Grundrechte« [SimitisBericht], Luxemburg 1999, S. 18f. 75. Schweitzer, Michael/Hummer, Waldemar, Europarecht. Das Recht der Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG, EAG) – mit Schwerpunkt EWG, 4. Aufl., Neuwied, Kriftel, Berlin 1993, S. 202f.; Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 498; Schmuck, Otto, Die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta als Element der Verfassungsentwicklung, in: integration 23/1, 2000, S. 48-56, hier S. 52f. 76. Europäischer Rat (Köln), 3. und 4. Juni 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anhang IV. Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Berichte und Dokumentation, Opladen 2001, S. 71. 296
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Entwurf der Charta der Grundrechte verfassen.77 Auf dem Gipfel des Europäischen Rates in Tampere (Finnland) vom 15./16. Oktober 1999 wurde die Zusammensetzung und das Arbeitsverfahren des Gremiums präzisiert, das am 17. Dezember 1999 unter der Leitung von Roman Herzog78 seine Arbeit aufnahm und sich in einen Konvent umbenannte.79 Das innovative Konventsverfahren sollte folgende Anforderungen erfüllen: Erstens musste eine effiziente Arbeitsleistung unter Zeitdruck erbracht werden. Ohne Blockierung durch den Zwang der Einstimmigkeit, der die Ergiebigkeit von Verhandlungen auf Regierungskonferenzen oft stark beeinträchtigte, waren die Konventsteilnehmer tatsächlich in der Lage, in der ihnen zur Verfügung stehenden kurzen Zeit von weniger als einem Jahr den Text der Charta zu formulieren.80 Zweitens sollte das Verfahren der Ausarbeitung der Charta transparent sein.81 Das Gremium erfüllte diese Vorgabe, indem neben nichtöffentlichen Beratungen öffentliche stattfanden, und außerdem in der Internet-Homepage des Konvents Hunderte von Dokumenten der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurden.82 Drittens sollte dem Verfahren der Ausarbeitung der Charta demokratische Legitimation verliehen werden. Dies wurde dadurch erreicht, dass zum einen Mitglieder des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente am Entwurf-
77. Schmuck, Die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta als Element der Verfassungsentwicklung, S. 48. 78. Roman Herzog war Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1987-1994, bevor er zum deutschen Bundespräsidenten (1994-1999) gewählt wurde. Siehe Das Fischer Lexikon Personen der Gegenwart. Biographien aus Politik, Wirtschaft und Kultur von 1945 bis heute, Frankfurt am Main 2000, S. 337. 79. Europäischer Rat (Tampere), 15. und 16. Oktober 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage, Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte sowie einschlägige praktische Vorkehrungen entsprechend den Schlussfolgerungen von Köln, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Berichte und Dokumentation, Opladen 2001, S. 73f.; Hohmann, Harald, Die Charta der Grundrechte der EU. Ein wichtiger Beitrag zur Legitimation der Europäischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 52-53, 2000, S. 5-12, hier S. 7; Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 497. 80. Schmuck, Die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta als Element der Verfassungsentwicklung, S. 53; Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 498. 81. Europäischer Rat (Tampere), Anlage, B, II, in: Deutscher Bundestag, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 74. 82. Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU. Ein wichtiger Beitrag zur Legitimation der Europäischen Union, S. 7. 297
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verfahren beteiligt wurden, die zusammengenommen etwa drei Viertel des 66 Mitglieder zählenden Konvents stellten,83 und zum anderen zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und andere zivile Akteure angehört wurden, wie etwa Vertreter von Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerbeauftragte.84 Am 2. Oktober 2000 fand die Abschlusssitzung des Konvents statt, auf welcher der endgültige Entwurf der Charta der Grundrechte verabschiedet wurde. Bereits am 13./14. Oktober 2000 stimmte der Europäische Rat auf seinem Gipfel in Biarritz dem Entwurf des europäischen Grundrechtskatalogs zu.85 Das Europäische Parlament erteilte sein Plazet am 14. November 2000 und die Europäische Kommission am 6. Dezember 2000, so dass, wie bereits erwähnt, am 7. Dezember 2000 die Präsidentin des Europäischen Parlaments (Nicole Fontaine), der Präsident des Rates (Hubert Védrine) und der Präsident der Kommission (Romano Prodi) die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Nizza anlässlich der Regierungskonferenz des Europäischen Rates unterzeichnen und feierlich proklamieren konnten.
3.2 Inhalt Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist in eine Präambel und 54 Artikeln aufgebaut, die in sieben Kapitel unterteilt sind:
83. Der Konvent setzte sich im Einzelnen folgendermaßen zusammen. Jede der 15 Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union stellte jeweils einen Beauftragten, die Europäische Kommission entsandte einen Vertreter, das Europäische Parlament war mit 16 Mitgliedern vertreten, und von den 15 nationalen Parlamenten der Unionsmitgliedsländer wurden jeweils zwei Abgeordnete, d.h. insgesamt 30 Delegierte, geschickt. Ferner gehörten dem Konvent jeweils zwei Beobachter des EuGH’s und des Europarats an. – Eine Liste der Mitglieder des Grundrechts-Konvents und deren Stellvertreter findet sich in: Konvent zur Ausarbeitung der Grundrechte-Charta der EU, Brüssel, Mitglieder (M) und Stellvertreter (S), 6. September 2000, in: Europäische Grundrechte 27, 2000, Nr. 17-19, S. 570f. 84. Weiterhin wurden auch Vertretern des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen sowie der Europäische Bürgerbeauftragter konsultiert. Siehe Europäischer Rat (Tampere), Anlage, A, I, IV und VI, in: Deutscher Bundestag, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 73f.; Schmuck, Die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta als Element der Verfassungsentwicklung, S. 54; Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 498. 85. Meyer, Jürgen/Engels, Markus, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Eine Einführung, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Berichte und Dokumentation, Opladen 2001, S. 7-38, hier S. 10. 298
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Art. 1-5 Würde des Menschen, Art. 6-19 Freiheiten, Art. 20-26 Gleichheit, Art. 27-38 Solidarität, Art. 39-46 Bürgerrechte, Art. 47-50 justizielle Rechte und Art. 51-54 allgemeine Bestimmungen.86 Der Grundrechtskatalog ist unbeschränkt auf alle Maßnahmen und Handlungen der Organe und Einrichtungen der Europäischen Union anwendbar. Für die Mitgliedstaaten dagegen gilt die Charta nur beschränkt, nämlich nur soweit sie EU-Recht durchführen. 87 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union entwickelte den geltenden Grundrechtsschutz, wie er bisher durch die Rechtsprechung des EuGH und durch die EMRK gewährleistet war, in vierfacher Hinsicht weiter. Erstens wurden zum ersten Mal für die so genannte zweite (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, GASP) und die dritte Säule (Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit, PJZ) der Europäischen Union Grundrechte ausgearbeitet. Vor allem die Zusammenarbeit der nationalen Polizei- und Zollbehörden mit Europol sowie die Bemühungen um eine einheitliche Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik innerhalb der Europäischen Union erforderten, Grundrechte auch für diese Bereiche in die Charta aufzunehmen. Zweitens wurden in Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes soziale Grundrechte in die Charta miteinbezogen, wie beispielsweise das Grundrecht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Art. 34). Drittens wurden in die Charta der Grundrechte moderne politische Rechte aufgenommen, wie z.B. das Grundrecht auf Medizin- und Bioethik, das insbesondere das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen festschreibt (Art. 3 II).88 Daneben wurden in der Charta der Grundrechte auch Leitprinzipien anerkannt, wie etwa die Sicherung des Umweltschutzes (Art. 37) und des Verbraucherschutzes (Art. 38).89 Die vierte Weiterentwicklung des Grundrechtschutzes durch die Charta besteht in der Präzisierung einiger Grundrechte. Beispielsweise spezifiziert die Charta das Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK, indem in Art. 21 I der Charta drei weitere Differenzierungsverbote (Behinderung, Alter, sexuelle Orientation) genannt werden.90
86. Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 8-22. 87. Art. 51 I der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: »Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung gemäß ihren jeweiligen Zuständigkeiten.« Siehe Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 21. 88. Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 8-10f. 89. Hausmann, Hartmut, EU-Gipfel in Biarritz II: Grundrechtecharta. Proklamation im Dezember, in: Das Parlament 50/44 2000, S. 17. 90. Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 11. 299
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Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union weist aber auch Lücken auf. So fehlt ein spezifischer Einschränkungsvorbehalt für jedes Grundrecht, d.h. die Nennung der Voraussetzungen, unter denen dem jeweiligen Grundrecht Schranken gesetzt werden können. Art. 52 I normiert lediglich einen allgemeinen Einschränkungsvorbehalt für alle Grundrechte der Charta, wonach eine Begrenzung eines Grundrechts möglich ist, wenn sie gesetzlich vorgeschrieben ist, der Wesensgehalt des Grundrechtes nicht tangiert wird, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Ein weiteres Manko der Charta der Grundrechte besteht darin, dass in ihr keine Grundrechtsbeschwerde oder sonstige Klagemöglichkeit vorgesehen ist. Damit die Charta ihre Schutzfunktion entfalten kann, ist es aber nötig, dass der Unionsbürger sich vor Gericht gegen eine Verletzung seiner europäischen Grundrechte wehren kann.91 Bislang enthält der Grundrechtskatalog keinen Artikel, in welchem die gerichtliche Zuständigkeit festgelegt ist. Falls die Charta Bestandteil der Gemeinschaftsverträge würde, ergäbe sich jedoch automatisch die Justiziabilität vor dem EuGH (Art. 220 EGVertrag).92 Ein weiteres Problem bei der Anwendung der Charta besteht darin, dass durch die Aufstellung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union neben die bereits existierende Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nun auf europäischer Ebene zwei selbständige Menschen- und Grundrechtskataloge vorhanden sind. Dies hat zur Folge, dass sich im Falle der Inkorporierung der Charta in die Verträge der Europäischen Union für den in seinen Grundrechten verletzten EU-Bürger zwei verschiedene Rechtswege für Klagen eröffnen können, nämlich den zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach Luxemburg (bei Geltendmachung einer Verletzung der Charta der Grundrechte) und den zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Straßburg (bei Behauptung einer Verletzung der EMRK).93 Um eine unterschiedliche Auslegung der Grundrechte durch beide Gerichtshöfe zu verhindern, bestimmten die Verfasser der Charta, dass diejenigen Grundrechte, die bereits in der EMRK enthalten sind, grundsätzlich gleich zu interpretieren seien, es sei denn, die Charta gewähre einen größeren Schutzumfang.94 Das Problem des gesplitteten Rechtswegs könnte durch
91. Ebd., S. 11f. 92. Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 500f. 93. Ebd., S. 499. 94. Art. 52 III Charta der Grundrechte der Europäischen Union: »So weit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Men300
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den Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention gelöst werden, der zur Konsequenz hätte, dass im Falle einer Grundrechtsverletzung der betroffene Bürger nach Erschöpfung des gemeinschaftsrechtlichen Rechtswegs, d.h. eines Urteils des EuGH, noch den Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg anrufen könnte.95 Nach gutachterlicher Meinung des EuGH jedoch verfügt die EG beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht über die Zuständigkeit, Mitglied der EMRK zu werden. Vielmehr müsste dafür erst eine Rechtsgrundlage im Wege der Änderung des EG-Vertrags geschaffen werden, die bislang aber noch nicht beschlossen wurde.96
3.3 Funktionen Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union erfüllt sowohl rechtliche als auch politische Funktionen. So bietet die Charta einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Legitimation der Europäischen Union. Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union üben Hoheitsrechte aus, die bisher nur den Einzelstaaten zustanden. Die Institutionen der EG und EU setzen bindendes Recht und greifen durch ihre Verordnungen, Entscheidungen und sonstigen Rechtsakte in die Sphäre der Bürger ein. Die Ausübung von Hoheitsgewalt ist aber nur legal, wenn sie demokratisch legitimiert und konstitutionalisiert, d.h. verfassungsrechtlich gebunden, begrenzt und kontrollierbar ist.97
schenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.« 95. Trechsel, Stefan, Nur ein Recht der Menschenrechte für Europa. »Pomp and Circumstances« – oder die EU-Grundrechtscharta als Imagepflege, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13./14. Januar 2001, S. 61; Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 501. 96. Der EuGH begründete seinen Gutachterspruch damit, dass die EMRK ein völkerrechtlich andersartiges institutionelles System darstelle, und demnach der Beitritt der EG zur EMRK und die damit verbundene Übernahme sämtlicher Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in das Gemeinschaftsrecht eine wesentliche Änderung des gegenwärtigen Gemeinschaftssystems bewirke. Der Beitritt der EG zur EMRK wäre damit von verfassungsrechtlicher Dimension und dementsprechend die Handlungskompetenz des Rates nach Art. 235 [jetzt Art. 308] EG-Vertrag überschritten. Siehe Gutachten 2/94 des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 228 EGVertrag, 28. März 1996, »Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten«, I, S. 1-28, hier S. 27f. 97. Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 5f. 301
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Die Europäer haben einen Anspruch auf Schutz vor missbräuchlicher Machtausübung und Willkürakte der Organe der Europäischen Union.98 Die Charta schützt die Grundfreiheiten, auf denen eine demokratische Gesellschaft basiert und bindet die Institutionen der Europäischen Union an die Grundrechte, wobei sie verdeutlicht, dass die gemeinschaftsrechtlichen Organe bei Ausübung ihrer Hoheitsgewalt nicht im rechtsfreien Raum agieren können, sondern sich an rechtsstaatliche Regeln halten müssen.99 Die Charta stellt ferner sicher, dass auf der Ebene der Europäischen Union dem Bürger klare, transparente und einklagbare Grundrechte zur Verfügung stehen.100 Der bisherige Grundrechtsschutz weist den Nachteil auf, dass zum einen der vor Gericht ziehende Kläger im vorhinein nicht immer sicher sein kann, welche Grundrechte ihm auf europäischer Ebene tatsächlich zugesprochen werden.101 Zum anderen sind die Grundrechte in der umfangreichen und kompliziert formulierten Judikatur des EuGH verstreut oder aus einem »undurchdringlichen Geflecht von Verträgen und Konventionen heraus[zu]lesen«.102 Die Charta der Grundrechte sichert mit ihrem Katalog von klar und leichtverständlich formulierten Rechtssätzen den Bestand der Grundrechte und erleichtert die Orientierung im europäischen Grundrechtssystem. Die Transparenz der Grundrechte bringt dem Bürger Rechtsklarheit und wird die gleichmäßige Anwendung des Grundrechtsschutzes innerhalb der Europäischen Union bewirken.103 Damit dient die Charta dem Schutz und der Sicherheit des Einzelnen und wird letztlich die Akzeptanz der europäischen Rechtsordnung erhöhen.104 Des Weiteren verfolgt die Charta der Grundrechte das Ziel, den europäischen Grundrechtsschutz weiterzuentwickeln und Grundrechte aufzustellen, die den neuesten Entwicklungen in den Naturwissen-
98. So Nicole Fontaine, in: Hausmann, EU-Gipfel in Biarritz II, S. 17. 99. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, S. 516; Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 6. 100. Holtz, Uwe, Fünfzig Jahre Europarat – Eine Einführung, in: Uwe Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, Baden-Baden 2000, S. 11-36, hier S. 14, Fußnote 16. 101. Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 6. 102. Limbach, Jutta, Die Kooperation der Gerichte in der zukünftigen europäischen Grundrechtsarchitektur. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Verhältnisses von Bundesverfassungsgericht, Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, in: Europäische Grundrechte 27/14-16, 2000, S. 417 420, hier S. 417. 103. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, S. 514f. 104. Schmuck, Die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta als Element der Verfassungsentwicklung, S. 49. 302
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schaften, der Medizin, der Technik und der Ethik Rechnung tragen.105 Außerdem sind soziale und gesellschaftliche Errungenschaften zu sichern, indem sie in moderne europäische Grundrechte gegossen werden. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union erfüllt ferner die Funktion, einen Konsens über gemeinsame Wertvorstellungen zu erzielen.106 Sie stellt einen von allen Unionsmitgliedern und der Mehrheit ihrer Bewohner akzeptierten Grundlagentext dar, der einen »kollektiven Bestand an Werten und Grundsätzen«107 enthält, auf welchem die EU basiert, und an welchem sich die innen- und außenpolitischen Handlungen der Gemeinschaften orientieren. Die Schaffung einer Charta zeigt, dass die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft darstellt, sondern ebenso eine Rechtsgemeinschaft, die auf übereinstimmenden Überzeugungen im Bereich der Freiheits-, Gleichheits- und sozialen Rechte gegründet ist.108 Gerade im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union geht von der Charta eine wichtige Signalwirkung aus. Sie verdeutlicht zukünftigen Mitgliedstaaten, dass sie in eine Union eintreten werden, die auf einer gemeinsamen Wertegrundlage basiert und in welcher der Beachtung der Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes höchste Priorität eingeräumt wird.109 So fordern die »Kopenhagener Kriterien« von 1993, mit denen der Europäische Rat die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für einen Beitritt der bereits assoziierten mittel- und osteuropäischen Ländern zur Europäischen Union festlegte, als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der EU u.a. das Vorhandensein von stabilen Institutionen in den Beitrittsstaaten, welche die »demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, […] die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten« garantieren.110 Daneben müssen potentielle Bei-
105. Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 499. 106. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, S. 516. 107. Europäisches Parlament, Erarbeitung der Grundrechte-Charta der EU. Entschließung vom 16. März 2000, in: Europäische Grundrechte 27/5-6, 2000, S. 189-191, hier S. 190. 108. Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 499. 109. Kaelble, Hartmut, Verankerung sozialer Grundrechte in der Europäischen Charta der Grundrechte 2000. Das Pro überwiegt ein beachtenswertes Contra, in: Das Parlament 50/31-32, 2000, S. 7. 110. Die Kopenhagener Kriterien von 1993, in: Europäische Kommission, Die Erweiterung der Europäischen Union – wie, wer, wann?, Bonn 1998, S. 5. 303
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trittskandidaten »die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen können und sich die Ziele der politischen Union […] zu eigen machen können«.111 Da die Respektierung von Grundrechten ein Element rechtsstaatlicher Ordnung ausmacht und ein Ziel der Europäischen Union in der Achtung der Grund- und Menschenrechte besteht, wird künftig – in Auslegung und Erweiterung der Kopenhagener Kriterien – die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit des Grundrechtsschutzes, so wie er in der Charta der Grundrechte niedergelegt ist, ein wichtiges Kriterium für die Beitrittsfähigkeit neuer Staaten in die Europäische Union bilden.112 Für die europäische Integration ist die Charta somit in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen stellt die Charta eine weitere Stufe der Verflechtung der nationalen Rechtssysteme zu einer europäischen Rechtsgemeinschaft dar, zum anderen fungiert sie für den weiter voranschreitenden, immer mehr Sachgebiete und Mitgliedstaaten erfassenden europäischen Integrationsprozess als das rechtsethische Fundament.113 Die Charta fördert daher aufbauend auf dem erzielten Konsens über gemeinsame Wertvorstellungen die Identifizierung der Bürger mit der europäischen Rechtsordnung und den Zielen der europäischen Einigung. Sie trägt damit zur Entwicklung eines stärkeren europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls und zur Festigung einer europäischen Identität bei.114
111. Ebd. 112. Der Europarat führt bereits seit Jahren ein sog. Monitoring-Verfahren durch, bei dem sowohl die Parlamentarische Versammlung als auch das Ministerkomitee überprüfen, ob Staaten, die dem Europarat beitreten wollen, neben der Rechtsstaatlichkeit die Beachtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sicherstellen, so wie sie in der EMRK geschützt werden (Art. 3 Satzung des Europarates). Siehe die Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949, BGBl. 1950 I, S. 263; Steenbrecker, Andrea, Politisches Monitoring im Europarat, in: Uwe Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, Baden-Baden 2000, S. 171-182, hier, S. 173; vgl. Schmuck, Die Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta als Element der Verfassungsentwicklung, S. 49f. 113. Europäisches Parlament, Erarbeitung der Grundrechte-Charta der EU, S. 191; kritisch Trechsel, Nur ein Recht der Menschenrechte für Europa, S. 61 sowie Schachtschneider, Karl Albrecht, Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 50/B 5253, 2000, S. 13-21. 114. Kaelble, Verankerung sozialer Grundrechte in der Europäischen Charta der Grundrechte 2000, S. 7; Jürgen Meyer, in: Schmitz, Cornelia, Die Grundrechte-Charta der EU – ein Dokument europäischer Identität. Das Ziel ist wichtiger als der Weg: »Die künftige Seele der Europäischen Union«, in: Das Parlament 50/44, 2000, S. 10. 304
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3.4 Rechtsnatur Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde am 7. Dezember 2000 lediglich proklamiert.115 Sie wurde jedoch kein formeller Bestandteil des Vertrags von Nizza, insbesondere wurde sie nicht in den Grundrechtsartikel des Unionsvertrags (Art. 6 EU-Vertrag) aufgenommen, da sich einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen einen rechtsverbindlichen Text gesträubt hatten.116 Auf dem Gipfel des Europäischen Rats in Nizza kamen jedoch die Staats- und Regierungschefs in ihrer gemeinsamen »Erklärung zur Zukunft der Union« überein, im Jahr 2004 wiederum eine Konferenz der Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzuberufen, auf der u.a. der Status der proklamierten Charta geklärt werden solle.117 Die Rechtsnatur der Charta der Grundrechte zum jetzigen Zeitpunkt ist umstritten. Während einige Rechtsexperten in der Proklamation der Charta in Nizza eine »bloße Deklaration« (Stefan Trechsel) sehen, die überhaupt keine Rechte begründe,118 beharren anderen Kenner des Europarechts darauf, dass trotz fehlender konstitutiver Einbeziehung der Charta in die EU-Verträge in Nizza die Zustimmung des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rats zum Grundrechtskatalog die allgemeine Überzeugung der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft zur Achtung der Grundrechte belege. Der EuGH könne demnach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ohne dass zuvor die Gemeinschaftsverträge geändert werden müssten,119 zur Wirksamkeit verhelfen, indem er sie als Erkenntnisquelle für sein Richterrecht berücksichtige (Manfred Zuleeg).120 Für die Rechtswirksamkeit der Charta der Grundrechte als primäres Gemeinschaftsrecht ist hingegen ihre formelle, konstitutive Aufnahme in die EU-Verträge erforderlich. Dies kann auf zwei Wegen erfolgen. Entweder werden die 54 Artikel der Charta direkt in die Gemeinschaftsverträge inkorporiert oder die Charta wird als Protokoll zu den Verträgen beschlossen. Da es sich in beiden Fällen um eine Ände-
115. Trechsel, Nur ein Recht der Menschenrechte für Europa, S. 61. 116. Weichenstellung für die EU-Erweiterung. Unspektakuläre Aufwärmrunde des Gipfels, in: Neue Zürcher Zeitung vom 8. Dezember 2000, S. 1. 117. Vertrag von Nizza, Erklärung zur Zukunft der Union, Nr. 23 V und VII, S. 85f. 118. Trechsel, Nur ein Recht der Menschenrechte für Europa, S. 61. 119. Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 510. 120. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, S. 514. 305
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rung der Gemeinschaftsverträge handelt, benötigen beide Verfahren die Ratifizierung aller Mitgliedsländer der EU.121 Es ist möglich, dass die Charta der Grundrechte als Bestandteil einer zukünftigen Verfassung der Europäischen Union Rechtswirksamkeit erlangen wird. Bereits heute wird die Charta häufig als die Keimzelle einer europäischen Verfassung qualifiziert.122 Schon vor der Proklamation der Charta hatte u.a. der deutsche Außenminister Joschka Fischer in seiner Vision von der »Finalität der europäischen Integration […] eine konstitutionelle Neugründung Europas, also […] die Realisierung des Projekts einer europäischen Verfassung, deren Kern die Verankerung der Grund-, Menschen- und Bürgerrechte […] sein muss«, gefordert.123 Die Mitglieder der Organe der Europäischen Union, welche die Charta proklamierten, waren sich bewusst, mit ihr möglicherweise eine Vorstufe für eine zukünftige europäische Verfassung bzw. Verfassungsentwurf geschaffen zu haben. Darauf deutet die feierliche Verkündung der Charta der Grundrechte in Nizza hin.124 In der Erklärung von Laeken zur »Zukunft der Europäischen Union« vom 15. Dezember 2001 sprach der Europäische Rat erstmals die Möglichkeit der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung aus. Er stellte fest, dass sich die Europäische Union auf dem »Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger« befände und stellte die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Reform der Verträge, die bei der nächsten Regierungskonferenz im Jahr 2004 beschlossen werden wird. Er regte an, darüber nachzudenken, ob die Charta der Grundrechte in einen Basisvertrag aufgenommen werden solle oder stattdessen ein Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention angebracht sei, und ob die anvisierte Vereinfachung und Neuordnung der Verträge in der Ausarbeitung eines Verfassungstextes bestehen solle, wobei Kernbestandteile einer solchen Verfassung möglicherweise die Grundrechte und -pflichten sein könnten.125 Die Charta der Grundrechte kann jedoch auch ohne Integration in eine zukünftige europäische Verfassung als eigenständiges Übereinkommen mit Rechtsgeltung bestehen. Der Präsident des Konvents Roman Herzog wies darauf hin, dass dem Katalog der Grundrechte nicht
121. Ebd. 122. Hohmann, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 6. 123. Fischer, Joschka, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede am 12. Mai 2000 in der HumboldtUniversität zu Berlin, in: integration 23, 2000, Nr. 3, S. 149-156, hier S. 149 und 154. 124. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, S. 515. 125. Erklärung von Laeken. Die Zukunft der Europäischen Union. 15. Dezember 2001, http://www.ue.eu.int/newsroom vom 20. Dezember 2001, S. 1-6, hier S. 4f. 306
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notwendigerweise eine formelle Verfassung nachfolgen müsse.126 Eine europäische Verfassung mag zwar erwünscht sein, zwingend erforderlich für die rechtliche Relevanz der Charta ist sie aber nicht.127 Auch ohne die Eingliederung in ein Verfassungswerk verkörpert die Charta einen rechtlich bedeutsamen Grundrechtskatalog. Die innovative Konventsmethode, die zu einer schnellen und effektiven Ausarbeitung des Entwurf der Charta in hohem Maße beitrug, hat hingegen bereits Modellcharakter erlangt. Entsprechend dem Ausarbeitungsverfahren der Charta der Grundrechte setzte der Europäische Rat von Laeken am 14./15. Dezember 2001 zur Vorbereitung der nächsten Vertragsrevisionskonferenz ebenfalls einen Konvent ein. Er soll nach seinem Arbeitsbeginn am 1. März 2002 innerhalb eines Jahres ein Abschlussdokument erstellen, über das die Staats- und Regierungschefs auf der nächsten Regierungskonferenz im Jahre 2004 endgültig beraten und abstimmen werden. Der Konvent zur Vorbereitung der nächsten Regierungskonferenz, der von Valéry Giscard d’Estaing geleitet wird, folgt in seiner Zusammensetzung und seiner Arbeitsmethodik fast identisch dem Vorbild des Chartakonvents.128 Mit 30 Vertretern der nationalen Parlamente und 16 des Europäischen Parlaments, 15 Repräsentanten der Regierungen der EU-Mitgliedsländer und zwei der EU-Kommission sowie beratender Teilnahme von Vertretern der Beitrittsländer sind 70% der stimmberechtigten Mitglieder Volksvertreter und sorgen für ein gewichtiges demokratisch-legitimierendes Element.129
4. Zusammenfassende Schlussbemerkung Die Grundrechte in der Europäischen Union stellen ein Orientierungsund Ordnungssystem und damit ein Sinnkonzept für das Zusammenleben der EU-Bürger und das Handeln der gemeinschaftlichen Organe dar. Für den Aufbau, die Weiterentwicklung und die inhaltliche Komplexität des Grundrechtssystems der EG/EU spielte die Zeit in dem von
126. Roman Herzog, in: Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, S. 498. 127. Ebd. 128. Valéry Giscard D’Estaing bekleidete von 1974 bis 1981 das Amt der französischen Staatspräsidenten. Siehe Das Fischer Lexikon Personen der Gegenwart, S. 292f. 129. Als Beobachter des Konvents wurden eingeladen: drei Vertreter des Wirtschafts- und Sozialausschusse, drei Vertreter der europäischen Sozialpartner, sechs Vertreter im Namen des Ausschusses der Regionen und der Europäische Bürgerbeauftragte. Siehe die Erklärung von Laeken, S. 5f. 307
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mir untersuchten Zeitraum von 1951 bis 2001 eine entscheidende Rolle. Der Prozess der Entstehung der Grundrechte wurde dabei von verschiedenen Arten der Zeiterfahrung geprägt, insbesondere von folgenden sieben Modi: erstens der traumatischen Erfahrung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die als Reaktion die Gründung der Europäischen Gemeinschaften mit dem Fernziel der politischen Einigung der europäischen Staaten in den 50er Jahren hervorrief; zweitens der Zeit der Krise und des Stillstandes des Integrationsprozesses Mitte der 60er Jahre, die jegliche Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes blockierte; drittens dem Zeitpunkt des »großen Augenblicks« (Kairos) des Einsetzens der Grundrechtsentwicklung auf gemeinschaftlicher Ebene mit dem Urteil Stauder des Europäischen Gerichtshofs, der im Jahre 1969 parallel zum erneuten Anschieben des europäischen Einigungsprozesses durch den Gipfel in Den Haag erfolgte; viertens dem schrittweisen, kontinuierlichen und unumkehrbaren Ausbau des Grundrechtsschutzes durch den EuGH im Laufe der 70er und 80er Jahre; fünftens der plötzlichen Änderung der außenpolitischen Rahmenbedingungen für den europäischen Integrationsprozess in Folge des Zusammenbruchs des Ostblocks Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre, die dem politischen Einigungsprozess und der Entwicklung der Grundrechte neue Dynamik verlieh und sich in der Gründung der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht und Amsterdam, in welchen auch das Prinzip des Grundrechtsschutzes zum ersten Mal vertraglich verankert wurde, niederschlug; sechstens der Beschleunigung der Grundrechtsentwicklung um die Jahrtausendwende angesichts des unmittelbar bevorstehenden enormen Anstiegs der Komplexität der europäischen Gesellschaft mit der Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäische Union im Jahre 2000, die mittels des innovativen Konventsverfahrens unter großem Zeitdruck ausgearbeitet worden war und den ersten Grundrechtskatalog auf gemeinschaftlicher Ebene darstellt; schließlich siebtens der offenen »kontingenten« Zukunft mit den alternativen Möglichkeiten des Einbezugs der Charta der Grundrechte in eine noch zu schaffende europäische Verfassung oder des Beitritts der Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Das Grundrechtssystem der Europäischen Union entwickelte sich aus der Zeit kommend (Vergangenheit) in der Zeit (Gegenwart) in die Zeit (Zukunft) hinein. Die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte konnten zwar bei ihrer Entstehung nicht direkt auf eine ihnen eigene europäisch-supranationale Geschichte der Grundrechte oder der Integration zurückverweisen und an diese anknüpfen. Trotzdem stellen die gemeinschaftlichen Grundrechte ein Produkt der vorausgegangenen Rechtsgeschichte dar, da sie während einer langen Periode vom EuGH via richterlicher Rechtsfortbildung u.a. aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der EG/EU destilliert 308
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ULRIKE HAMANN: RECHT IM ZEITPROZESS
wurden. Im Laufe der Fortentwicklung der Grundrechte »in der Zeit« wandelte sich die Komplexität des Grundrechtssystems. Während die europäische Gesellschaft in ihrer Anfangsphase infolge der Fokussierung auf den wirtschaftlichen Bereich zunächst noch ohne Grundrechtsschutz ausgekommen war, erwarteten die EG-Bürger mit zunehmender europäischer Integration die Geltung von Grundrechten, die sie aus den Erfahrungen mit ihren nationalen Rechtssystemen kannten, auch auf gemeinschaftlicher Ebene, welche dann der EuGH situativ von Urteil zu Urteil erarbeitete. Schließlich erreichte die europäische Gesellschaft einen Grad der Komplexität und eine Normendichte, die nach einem abstrakten zukunftsoffenen grundrechtlichen Ordnungs- und Orientierungssystem verlangten, das in Form der Charta der Grundrechte geschaffen wurde. Die Geschichte der Entwicklung der Grundrechte innerhalb der EG/EU ist durch eine Abfolge von statischen und dynamischen Zeitverläufen charakterisiert. Dabei folgte der Grundrechtsprozess weitgehend den Tempi des politischen Integrationsprozesses, was sich aus den Funktionen der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte erklärt. Zum einen legitimieren die Grundrechte das hoheitliche Handeln der EU, indem sie den einzelnen Bürgern subjektive Abwehr- und Schutzrechte gegen Eingriffe der EU-Organe in ihre individuelle Freiheitssphäre zusichern und ihnen ferner ermöglichen, am europäischen Gemeinwesen teilzuhaben und in den Genuss von Leistungen der öffentlichen europäischen Hand zu gelangen. Zum anderen enthalten die Grundrechte einen Kanon von Werten und objektiven Rechtsprinzipien, auf denen die europäische Gesellschaft fußt und an denen sowohl die EU-Bürger als auch die EU-Organe ihr Handeln orientieren sollen. Die Grundrechte drücken einen Konsens über gemeinsame, in allen Mitgliedstaaten enthaltene Wertvorstellungen über Freiheits-, Gleichheits- und soziale Rechte aus und fungieren im fortschreitenden, immer weitere Sachbereiche einbeziehenden europäischen Integrationsprozess als das rechtsethische Fundament. Auf diesem Wege fördern die Grundrechte die Identifikation der Bürger mit der europäischen Rechtsordnung und dadurch mit der Europäischen Union im Allgemeinen und tragen somit zur Herausbildung und Festigung einer europäischen Identität bei. Mit der Verabschiedung der Charta der Grundrechte knüpfte die Europäische Union nach einem ungefähr ein halbes Jahrhundert andauernden Festigungskurs an die Tradition der meisten europäischen demokratischen Staatsgebilde an, der Rechtsordnung durch einen (geschriebenen) Grundrechtstext eine Grundlage zu geben anstatt auf andere völkerrechtliche Menschen- und Grundrechtsverträge zu verweisen. In einer noch aufzustellenden, zukünftigen europäischen Verfassung werden daher die Grundrechte der Europäischen Union, einschließlich der Menschenrechte, den Kern der Verfassung und damit 309
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EUROPA UND DER WESTEN
den Kern des europäischen Rechtssystems insgesamt bilden müssen. Auch wenn bis heute formell noch keine solche Verfassung existiert, so wurde mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, deren Erhebung zu primär geltendem Gemeinschaftsrecht wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit sein wird, materiell bereits das Herzstück einer europäischen Verfassung geschaffen.
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IV. Repräsentationen
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) T04_00 resp repräsentationen.p 27966147178
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) vakat 312.p 27966147186
FRIEDRICH JAEGER: EPOCHEN ALS SINNKONZEPTE HISTORISCHER ENTWICKLUNG
Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung und die Kategorie der Neuzeit Friedrich Jaeger
»Ich habe kaum nötig, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass es in der Geschichte sowenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Wendekreise, dass es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt, um sie so desto gewisser zu fassen«1 Johann G. Droysen, Historik Mit diesen Worten hat Johann Gustav Droysen auf dem Höhepunkt der historistischen Geschichtswissenschaft der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass es sich bei Epochen um »Gliederungen der Geschichte« handelt, mit denen einem zunächst ungegliederten Bestand geschichtlicher Phänomene und Ereignisse eine temporale Ordnungsstruktur und damit ein kultureller Sinn gegeben wird. Mit ihnen transformiert sich der Stoff der historischen Erfahrung zu Sinneinheiten geschichtlichen Wandels, die aus der Perspektive der Gegenwart erst ihre Kontur gewinnen. Mit Epochen als Ordnungsinstrumenten der historischen Erkenntnis gewinnt die Vergangenheit eine kulturelle Dimension – darin sieht Droysen ihren Erkenntniswert begründet. Freilich bedeutete dies für Droysen keineswegs, dass es sich bei den Epochen der Geschichte um willkürliche Setzungen oder bloße Konstruktionen handelt, in denen sich allein die Vorlieben einer epochensetzenden Gegenwart spiegeln. Die epochale Struktur der Geschichte blieb für ihn vielmehr eingebunden in einen Fortschrittsprozess der Menschheit. Insofern repräsentierten für ihn die Epochen der Geschichte nicht allein die Sinnkonzepte des historischen Denkens,
1. Droysen, Johann G., Historik, hrsg. v. Peter Leyh, Stuttgart 1997, S. 371. Dieser Beitrag erscheint in leicht veränderter Form auch in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2003. 313
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REPRÄSENTATIONEN
sondern zugleich die Sinnstruktur der geschichtlichen Entwicklung.2 In ihnen manifestierten sich nicht nur die Stufen der kulturellen Sinnbildung über die Vergangenheit, sondern zugleich die Schrittfolge einer durch den menschlichen Geist vorangetriebenen Kulturentwicklung, die sich Droysen auf dem Boden der historistischen Geschichtsphilosophie als einen Fortschritt der Freiheit dachte, in dem sich für ihn als Repräsentanten des Historismus die Geschichte der Menschheit kondensierte: »In jenen Epochen, und genauer, in jenen großen Gruppierungen der Zeiten und Völker, die sie bezeichnen, tritt uns die Reihe der allgemeinen geschichtlichen Typen entgegen. Wie allmählich auch der Übergang von einem zum anderen sich vermittelt zeigen mag, prinzipiell sind sie unermesslich weit voneinander. Es sind nicht bloß gelegentliche Unterschiede von etwas mehr oder weniger Einsicht und dergleichen, sondern so große Wandlungen, dass man wohl sagen kann, die Menschheit ist je mit der neuen Epoche eine qualitativ andere geworden; mit jeder ist ihr eine völlig neue Welt aufgegangen.« 3 Der Sinn, den Droysen mit dem Epochenbegriff verbindet, ist zugleich ein sich im Bewusstsein nachträglich herstellender Ordnungssinn und ein sich im Handeln aktual vollziehendes Sinngeschehen – und die Wahrheitsfähigkeit der Geschichtswissenschaft entscheidet sich an der Frage, ob sie diese beiden Gesichtspunkte zusammenzubringen und zu einem kohärenten Sinnkonzept zu synthetisieren vermag, das eine historische Orientierung der Gegenwart über die Entwicklungsstufen der Vergangenheit zu leisten vermag, indem die vergangenen Epochen der menschlichen Freiheitsentwicklung auf dem Boden der Gegenwart in die Epoche ihres zukünftigen Fortschreitens übersetzt werden können. Das 19. Jahrhundert stellte eine Phase der historischen Begriffsbildung dar, in der die wissenschaftliche Zeitdeutung zunehmend mit theoretisch ausformulierten Konzepten der Epochendifferenzierung operierte.4 Der Begriff der »Neuzeit« im Sinne einer Epochenbezeichnung breitete sich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
2. Parallel zu diesem historistischen Verständnis von Epochen als einer dialektischen Korrespondenz von Sinnbildung und Geschehen, Theorie und Praxis hat es immer auch Versuche gegeben, Epochenbestimmungen zu objektiven Entwicklungstendenzen zu verdinglichen und ihnen eine reine Abbildfunktion zuzusprechen. Die Epochenkonzeptionen des Marxismus und des Positivismus stehen etwa dafür. 3. Droysen, Historik, S. 376. 4. Riedel, Manfred, Epoche, Epochenbewusstsein, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel, Stuttgart 1978, Sp. 596-599. – Am Beispiel des Renaissance-Begriffs zeigt dies auch Stierle, Karlheinz, Renaissance – Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 453-492. 314
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FRIEDRICH JAEGER: EPOCHEN ALS SINNKONZEPTE HISTORISCHER ENTWICKLUNG
allmählich aus, wenn auch die dem Begriff korrespondierenden Vorstellungen einer temporalen Ordnung der Zeit wesentlich älter waren, wie die bereits im Jahre 1685 von Cellarius erstmals vorgenommene Unterscheidung eines antiken, mittleren und neuen Zeitalters belegt.5 In der Praxis der historischen Forschung hatte sich die Arbeit mit einem Periodisierungsschema, in dem der Neuzeitbegriff einen prominenten Stellenwert besaß, durchgesetzt, bevor es zu einer theorieförmigen Explikation dieser auf die Neuzeit zugeschnittenen Epochenkonzeption kam. In diesem Zusammenhang besaß die protestantische Geschichtsauffassung eine besondere Bedeutung, da ihr begreiflicherweise an der Legitimation der Zäsur ›um 1500‹ als einem Neubeginn der Weltgeschichte gelegen war. Die seit dem 19. Jahrhundert akzentuierte Epochenstruktur der Geschichte ist Teil einer Historisierung der Weltdeutung, in der die Kultur jede Form der Statik verliert und stattdessen als Entwicklung, als kontinuierliche Herausbildung immer neuer individueller Formen wahrgenommen wird. In diesen kulturhistorischen Vorgängen hat der moderne Epochenbegriff eine Bedeutungsspannweite erhalten, die er bis heute nicht verloren hat.6 Wie sich das Problem einer Periodisierung des geschichtlichen Wandels zu epochal aufeinander folgenden Sinneinheiten in der Gegenwart als Problem des historischen Denkens stellt, soll im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung des Neuzeit-Begriffs untersucht werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, unter welchen Gesichtspunkten sich der Epochen- und Neuzeitbegriff als ein Sinnkonzept des historischen Denkens beschreiben lässt und welche Bedeutung die epochale Gliederung des Zeitverlaufs im historischen Denken besitzt. Braucht die historische Forschung Epochenkonzepte des historischen Wandels? – Unumstritten ist dies nicht;7 unbestritten ist jedoch, dass sie sich ihrer immer dann reflexiv zu vergewissern hat, wenn sie als etabliertes Deutungsschemata und Interpretationsrahmen
5. In seiner Arbeit: »Historia universalis, in antiquam, medii aevi novam divisa«. – Eine Zusammenfassung der Geschichte des Neuzeit-Begriffs bietet Schulze, Winfried, Einführung in die Neuere Geschichte, 3. Aufl., Stuttgart 1996, S. 22ff. 6. Koselleck, Reinhart, »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 300-348; Koselleck, Reinhart, Wie neu ist die Neuzeit?, in: Historische Zeitschrift 251, 1990, S. 539-553. 7. Den heuristisch-methodischen Wert des bis heute gültigen Epochenschemas, das Altertum, Mittelalter und Neuzeit voneinander scheidet, bestreitet Günther, H., Neuzeit, Mittelalter, Altertum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel, Stuttgart 1984, Sp. 782-798, indem er behauptet, die historische Arbeit könne durchaus auf sie verzichten (Sp. 796). 315
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REPRÄSENTATIONEN
existieren – und dies ist offensichtlich der Fall. Es gibt »Epochen« als methodische Instrumente der historischen Forschung und daher ist zu fragen, welche Rolle sie im Prozess der Erkenntnisgewinnung spielen. Betrachtet man neuzeithistorische Epochenkonzepte als Instrumente der historischen Sinnbildung, lassen sich insgesamt sieben Aspekte voneinander unterscheiden.
1. Epochen als diachrone Unterscheidung. Der temporale Zusammenhang und die historische Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart Epochen lassen sich als methodische Instrumente des historischen Denkens begreifen, mit denen eine diachrone Unterscheidung vorgenommen wird und ein temporaler Zusammenhang oder auch eine historische Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart als unterscheidbaren Aggregatzuständen des Zeitflusses hergestellt wird. Bereits die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen einer »diversitas temporum« verweisen auf diese historische Unterscheidungsleistung von Epochenbegriffen, die angesichts einer sich nicht nur beschleunigenden, sondern auch qualitativ ändernden Zeiterfahrung ein ursprünglich homogenes Zeitkontinuum zu einem durch Epochenzäsuren untergliederten Entwicklungsprozess transformieren. Diese in den Texten vormoderner Geschichtsdenker und Chronisten nachweisbaren Deutungsmuster legen die Vermutung nahe, dass bereits den Zeitgenossen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Erfahrungen geschichtlichen Wandels präsent waren, die auf einer qualitativen Divergenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruhten. Und dies gilt trotz des zunächst noch ersichtlichen Bemühens, die durch Veränderungserfahrungen heraufbeschworene Erschütterung der Gegenwart zu beruhigen und sie mit der Hilfe kontinuitätsbildender Epochenschemata erneut an die tradierte Überlieferung anzudocken, um die kulturelle Verunsicherung auszubalancieren. Auf längere Sicht ging mit dieser sich allmählich einstellenden Einsicht in die Einmaligkeit und Differenz der jeweiligen Epochen ein nachhaltiger Historisierungsschub der Zeitdeutung einher.8
8. Näher hierzu Schreiner, Klaus, »Diversitas Temporum«. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 381-428, hier S. 381f., 408, 414; dort das folgende Zitat: »Spätmittelalterliche Geschichtsdenker sprachen von ›diversitas temporum‹, um Erfahrungen der Andersheit und des Wandels auf den Begriff zu bringen. Das Wissen um die epochale Einmaligkeit und Differenz der verschiedenen Zeiten bildete eine Grundkategorie ihres geschichtlichen Denkens. Die Wort316
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FRIEDRICH JAEGER: EPOCHEN ALS SINNKONZEPTE HISTORISCHER ENTWICKLUNG
Epochen periodisieren Geschichte chronologisch aus der Perspektive der Gegenwart, um sie in eine prozessuale Ordnung zu bringen und somit deuten zu können. Daher lassen sich aus den Epochenbegriffen einer Zeit auch Vorstellungen darüber ableiten, wie diese sich in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit begreift. Nur mit diesem Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist die Dynamik von Epochendiskussionen zu erklären, die zu einer Abfolge unterschiedlicher Vorstellungen über Anfang und Ende, Struktur und Sinn der Neuzeit, aber auch über ihr Verhältnis zu anderen Epochen geführt hat. Der konstitutive Gegenwartsbezug jeder epochalen Strukturierung der Vergangenheit zeigt sich darin, dass sich mit dem Wandel aktueller Zeiterfahrungen in der Gegenwart nicht nur der Zuschnitt der Neuzeit, sondern auch der Charakter ›ihres‹ Mittelalters und ›ihrer‹ Antike verändert, also das Bild, das sich eine transformierende Neuzeit jeweils von ihnen gemacht hat. Die Ausbildung eines Epochenbewusstseins ist eine Unterscheidungsleistung, mit der sich eine Zeit von anderen abgrenzt und sich auf diesem Wege ihres eigenen Orts im Wandel der Zeit vergewissert. Dieser Umstand erklärt auch, warum eine Epoche ihren kulturellen Sinn und ihre geschichtliche Perspektive gewöhnlich aus ihrem Ursprung ableitet und ihre Eigentümlichkeit von ihrem Anfang her deutet: In ihrem Ursprung bilden sich nämlich diejenigen Faktoren erst heraus, die sie von anderen Epochen unterscheiden. Darauf verweisen deutlich die adjektivischen Verwendungsweisen des Wortes Epoche: »Epochal« oder »epochemachend« werden gewöhnlich solche Ereignisse genannt, die dem geschichtlichen Verlauf eine schlagartige und unvorhergesehene Wendung geben. Sie beenden das Althergebrachte und machen einen Neuanfang. Mit ihnen beginnt eine neue Zeitrechnung, wenn man darunter versteht, dass sich von ihnen als Ursprung und Stiftung her auch die folgenden Eigenschaften und Ereignisketten einer Epoche perspektivisch ableiten lassen. Grundsätzlich können Epochenbestimmungen im Sinne zeitlicher Unterscheidungen und als Ausdruck historischer Divergenzerfahrungen in einer prospektiven und in einer retrospektiven Form auftreten: als utopische Handlungsentwürfe oder als rekonstruktive Interpretationen. Im ersten Fall sind epochale Neuanfänge der Geschichte von
verbindung ›diversitas temporum‹ beweist einen Zugewinn an entwicklungsgeschichtlicher Denkweise. Der Gedanke der ›Zeitverschiedenheit‹ ermöglichte die Ausdifferenzierung einer eigenen Geschichtszeit, für welche Einmaligkeit, Dauer und Wandel grundlegend waren. Die Einsicht in die Verschiedenheit und Andersheit vergangener Zeiten befreite von theologischen, kosmologischen und anthropologischen Prinzipien der Zeitgliederung; sie erschloss Möglichkeiten, weltlichen Handlungs- und Ereignisfolgen ihre eigene Historizität zu geben.« 317
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REPRÄSENTATIONEN
den jeweils Handelnden bewusst intendiert, etwa im Kontext neuzeitlicher Revolutionen, deren Selbstverständnis oftmals darin begründet lag, dass mit ihnen ein neuer Anfang utopisch gewollt oder politisch ›gemacht‹ werden sollte. Dieser Anspruch und Status eines gewollten »Machens« hat Revolutionskritikern wie Edmund Burke oder Jacob Burckhardt die Munition geliefert, Revolutionen als gefährliche Abirrungen vom Weg geschichtlicher Entwicklungen und Kontinuitäten zu deuten, die nicht allein Ausdruck menschlicher Hybris seien, sondern mit einer gewissen Konsequenz im Terror zwanghaft realisierter Handlungsabsichten und Utopien enden müssten.9 Man muss derartige Befürchtungen nicht unbedingt teilen, um es für historisch gut begründet zu halten, dass das emphatische Zeitbewusstsein geschichtlicher Akteure, in Übereinstimmung mit einer epochalen Tendenz zu stehen und diese in der Praxis zu vollstrecken, ernorme Bedeutung im Sinne der Politisierung und Handlungsverstärkung besitzt. Im zweiten Fall von Epochen als Interpretationen entscheidet die Retrospektive darüber, ob einem bestimmten Ereignis eine epochemachende Qualität zugesprochen werden kann. Weder die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, noch der Thesenanschlag Luthers, denen retrospektiv oftmals die Bedeutung epochaler Ereignisse beigemessen wurde und weiterhin beigemessen wird, haben sich im Rahmen ihres eigenen Zeithorizonts als Beginn einer neuen Epoche verstanden. Erst rückblickend erweisen sie sich als wesentlich für eine Gegenwart, die sich zu diesen Ereignissen im Sinne eines geschichtlichen Ursprungs ihrer selbst noch in einem besonderen historischen Verhältnis weiß. Epochen stellen insofern unverzichtbare historisierende Hilfsmittel der eigenen Traditionsbildung dar: Mit ihnen werden diejenigen Elemente des geschichtlichen Wandels ausgemacht und bestimmt, die man als ausschlaggebend für die eigene Gegenwart ansieht. Diese Doppelstruktur von Epochen als Zukunftsentwürfen und Rekonstruktionen macht deutlich, dass sie in zwei möglichen Aggregatzuständen existieren: einem motivierend-emphatischen und einem interpretierend-analytischen. Sie entspringen einerseits dem Selbstverständnis der Zeitgenossen, das sich in den historischen Quellen dokumentiert; andererseits stellen sie methodische Instrumente der historischen Forschung dar, in denen sich das Selbstverständnis der Gegenwart und deren Interessen an historischer Orientierung im Verhältnis zur Vergangenheit spiegeln – und zwar im Prinzip auch unabhängig von dem in den Quellen sich manifestierenden Zeitverständnis und der Eigenwahrnehmung der Handelnden. Dass diese beiden Ebenen histo-
9. Ausführlicher hierzu am Beispiel Burckhardts: Jaeger, Friedrich, Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung. Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber, Göttingen 1994, S. 134ff. 318
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FRIEDRICH JAEGER: EPOCHEN ALS SINNKONZEPTE HISTORISCHER ENTWICKLUNG
rischer Epochalisierung keineswegs übereinstimmen müssen, zeigt nicht zuletzt die kritische und analytische Arbeit des historischen Denkens an den Zäsursetzungen vergangener Zeiten, die das emphatische Selbstverständnis der Zeitgenossen, einen Neuanfang zu markieren, nur zu oft als einen Akt der Selbsttäuschung entlarvt hat. So hat die epochenkritische Arbeit der historischen Forschung selbst vor der mit der Französischen Revolution traditionellerweise verbundenen epochalen Emphase nicht Halt gemacht, indem sie diese vermeintliche Wende der Weltgeschichte zu einem durchaus uneinheitlichen, ja in sich widersprüchlichen Geschehenskomplex relativiert hat, der gleichermaßen von Brüchen und Kontinuitäten, von Neuanfängen und Traditionen geprägt ist.10 Die Plausibilität der Neuzeit-Kategorie beruhte jedoch bis in die jüngste Vergangenheit auf der weitgehenden Kongruenz zwischen der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen, in einer ›neuen Zeit‹ zu leben, und den Orientierungsbedürfnissen der interpretierenden Nachgeborenen, die sich bewusst in die Tradition der Neuzeit stellten. Diese diachrone Übereinstimmung zwischen der aktualen und der retrospektiven Bedeutungsschicht des Epochenbegriffs der Neuzeit erstreckte sich vor allem auf den Beginn der europäischen Expansion, auf die Informations- und Kommunikationsrevolution als Folge des Buchdrucks und der Entstehung neuer Medien, auf die sich seit dem 16. Jahrhundert herausbildenden neuen Formen (national-)staatlicher Herrschaft, oder schließlich auf die Entstehung der konfessionellen Spaltung – allesamt Phänomene, die sowohl von den Zeitgenossen der Frühen Neuzeit, als auch von den Interpreten des 19. oder 20. Jahrhunderts mit epochaler Signifikanz versehen und daher mit einer hohen kulturellen Wertigkeit aufgeladen waren. Die allmählich festzustellende Krise des Neuzeit-Begriffs als einer tragfähigen Kategorie der historischen Forschung zeichnet sich daher auch vor allem darin ab, dass sich diese diachron konsensfähigen Bedeutungsevidenzen abzuschleifen beginnen: Die neuzeitspezifische Hegemonie Europas erscheint heute angesichts eines fortschreitenden Globalisierungsprozesses als zunehmend problematisch, weil er diejenigen Unterschiede und Traditionen zu nivellieren droht, mit denen die nicht-europäischen Kulturen ihre Eigenständigkeit zu behaupten versuchen. Damit entsteht zugleich der Druck, das tradierte dualistische Deutungsschema, das Europa bzw. ›dem Westen‹ in der Geschichte der Neuzeit eine Sonderrolle gegenüber allen anderen Kulturen zuerkannte, durch ein komplexeres Modell von Interkulturalität und »world history« zu ersetzen, in dem diese anderen Kulturen neu in den Blick treten.11 Die digitale Medienrevo-
10. Hierzu Schulze, Einführung, S. 78. 11. Zu den damit verbundenen Herausforderungen des historischen Denkens 319
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REPRÄSENTATIONEN
lution unserer Gegenwart wirft Fragen auf, inwieweit die neuzeitspezifischen Kommunikationsformen und das von ihnen begründete Modell der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft in der Zukunft überhaupt noch Bestand haben werden und ob sich nicht stattdessen ein Politikund Kommunikationsmodell abzeichnet, das diese Erbschaft der Neuzeit hinter sich lässt. Fortschreitende Prozesse der Säkularisierung und der religiösen Pluralisierung, überhaupt das Schwinden der geschichtlichen Innovationskraft und Kulturbedeutung der Religion lassen die konfessionelle Spaltung mit ihren dramatischen Konsequenzen zu Beginn der Neuzeit in neuem Licht erscheinen. Angesichts derartiger Verschiebungen der Neuzeiterfahrung stellt sich die Frage, ob sich unsere Gegenwart überhaupt noch als eine Fortschreibung derjenigen Prozesse verstehen lässt, die ›um 1500‹ begonnen haben, oder ob wir nicht bereits in ein Zeitalter eingetreten sind, dessen Konturen sich gerade in der Negation neuzeitspezifischer Faktoren des geschichtlichen Wandels abzuzeichnen beginnen. In jedem Falle scheint sich ein Nachlassen der historischen Orientierungskraft der Neuzeitkategorie anzukündigen. Diesem Sachverhalt entsprechen die zunehmenden innerwissenschaftlichen Versuche, sich ihrer Leistungen und Grenzen neu bewusst zu werden, und die damit verbundene Frage, ob die diachrone Unterscheidung, die der Begriff der Neuzeit bisher vorgenommen hat, heute noch zu überzeugen vermag.12
2. Epochen als Arrangements struktureller Ordnungs- und Entwicklungsfaktoren Jenseits der mit Epochenschemata verbundenen diachronen Unterscheidung historischer Zeiteinheiten stellen sie auch eine strukturelle Ordnungsleistung dar, indem sie spezifische Arrangements geschichtlicher Entwicklungsfaktoren erkennbar machen. Jenseits der Chronologie und Diachronie von Zeitabläufen geht es ihnen immer auch um eine synchrone Tiefenebene der geschichtlichen Wirklichkeit, d.h. um den spezifischen Zusammenhang, in dem Faktoren einer geschichtlichen
siehe Rüsen, Jörn (Hrsg.), Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte, Göttingen 1999. – Einen Abriss der neueren Konzepte der world history und der mit ihnen verbundenen Periodisierungsfragen bietet Green, William A., Periodization in European and World History, in: Journal of World History 3, 1992, S. 13-53. 12. Exemplarisch für diese Diskussionen ist ein Heft der neugegründeten »Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit«, 2, 2001, unter dem fragenden Titel »NeuZeit?«. Dort wird bereits von einer sich abzeichnenden »Dekonstruktion« des Neuzeit-Begriffs gesprochen, der sich als zunehmend unfähig erweise, die historischen Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart in den Blick zu bringen. 320
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FRIEDRICH JAEGER: EPOCHEN ALS SINNKONZEPTE HISTORISCHER ENTWICKLUNG
Epoche zueinander stehen und durch den sie sich gegenüber anderen Epochen auszeichnen. Mit Epochenbestimmungen verbinden sich gewöhnlich Vorstellungen darüber, wie sich innerhalb einzelner Epochen Segmente oder Sphären der geschichtlichen Wirklichkeit zueinander verhalten, welche Elemente dominieren und welchen Faktoren eine Schrittmacherrolle zukommt. Hier geht es also weniger um das Nacheinander epochaler Entwicklungsschritte, als vielmehr um das Nebeneinander epochaler Strukturelemente, die sich im Schritt von einer bestimmten Epoche zu einer anderen neu arrangieren. Von einer neuen Epoche ließe sich also immer dann sprechen, wenn sich aufgrund eines Wandels allgemeiner Strukturbedingungen in Zentralbereichen der menschlichen Lebensführung Umschichtungen und Gewichtsverlagerungen vollziehen, so dass sich aufgrund dieser Umstrukturierung fundamentaler Ordnungsfaktoren der Charakter der Lebensform als ganzer nachhaltig zu ändern beginnt. Ein bekanntes Beispiel für eine Epochenkonzeption, für die derartige Arrangements struktureller Ordnungsfaktoren von konstitutiver Bedeutung sind, stellt etwa die marxistische Theorie aufeinander folgender Produktionsweisen dar, in denen sich das Verhältnis von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften jeweils neu organisiert. Aber auch in Max Webers Modernisierungstheorie finden sich formal vergleichbare Vorstellungen einer strukturellen Umschichtung dominanter Lebensführungsmächte. In seiner Religionssoziologie korreliert er die Entstehung der modernen Gesellschaft mit dem epochalen Bedeutungsverlust der Religion im Konzert kultureller Lebensmächte. Der Verlust ihrer tradierten Kulturbedeutung zeitigte für Weber ›epochale‹ Konsequenzen für den Charakter der menschlichen Lebensführung insgesamt, da sie seither auf neuen, spezifisch rationalisierten und religiös ›entzauberten‹ Grundlagen beruht.13 Aber auch von der Frühneuzeitforschung sind wesentliche Strukturmerkmale und Konstellationen herausgearbeitet worden, die diese Epoche auszeichnen und von anderen Zeiteinheiten deutlich unterscheiden. Dazu gehören etwa die Dominanz der ländlichen Gesellschaft bei allmählicher Verdichtung des Städtewesens; eine Herrschaft des Landbesitzes und des Adels, die durch den Aufstieg bürgerlicher Teilgruppen, Professionen und Funktionseliten langsam relativiert wurde; die Ausbildung des frühmodernen Staates auf der Grundlage territorialer Souveränität nach außen und des staatlichen Gewaltmonopols im Innern; die Expansion der europäischen Mächte in den überseeischen Raum und die Internationalisierung des Handels; die Entfaltung neuer erfahrungs- und naturwissenschaftlicher Methoden, Disziplinen und Formen der Kritik; eine zunächst schwache Alphabeti-
13. Näher hierzu Jaeger, Bürgerliche Modernisierungskrise, S. 182ff. 321
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sierung mit zunehmender Tendenz – um nur einige Arrangements von Entwicklungsfaktoren zu nennen. Mit ihnen ist ein Ensemble struktureller Merkmale frühneuzeitlicher Gesellschaften und Staaten benannt, die diese Epoche als eine in sich zusammenhängende Periode sowohl gegenüber dem Mittelalter,14 als auch gegenüber der auf den Grundlagen von Industrialisierung, politischer Aufklärung, Frühliberalismus, entstehenden Nationalbewegungen beruhenden Neuzeit des 18. und 19. Jahrhunderts identifizierbar machen.15 Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie innerhalb von Forschungskonzepten die strukturellen Grundlagen neuzeitlicher Geschichte thematisiert und unterschieden werden. Ein sozialgeschichtliches Gesellschaftsmodell operiert gewöhnlich mit der Unterscheidung allgemeiner Strukturbedingungen neuzeitlicher Geschichte in den Bereichen der Wirtschaft, des sozialen Lebens, der politischen Herrschaft und schließlich der Kultur. Zugrunde liegt dabei die Vorstellung, dass jenseits der Sphäre der Ereignisse eine Sphäre struktureller Bedingungsfaktoren und gesellschaftlicher Großkomplexe geschichtlichen Wandels existiert, deren Konstellation zueinander sich im epochalen Wandel nur langsam verändert. Dazu gehören beispielsweise Prozesse der Urbanisierung und der inneren Staatsbildung, die allmähliche Ausbildung eines bürokratischen Staats- und Verwaltungsapparats mit regulativ-interventionistischen Aufgaben, die Tendenz zur Professionalisierung moderner Berufe und Berufsgruppen, Prozesse der Industrialisierung, der Entstehung von Lohnarbeit sowie der Kapitalkonzentration in den Händen großer Unternehmen. Die epochenerschließende Kraft eines solchen sozialgeschichtlichen Theoriemodells besteht darin, dass es – wie vormals die historistische Orientierung an den Ereignisketten der politischen Geschichte – auf einer analytischen Ebene die Neuzeit als Epoche strukturell qualifiziert und damit von den anders gelagerten Epochenstrukturen des Mittelalters abgrenzt. Eine damit vergleichbare Ausdifferenzierung epochenspezifischer Strukturmerkmale und Bedingungsfaktoren neuzeitlicher Geschichte lässt sich gewinnen, wenn man von markanten »Schlüsselbegriffen« der Neueren Geschichte im Sinne einer Forschungsdisziplin ausgeht und mit ihnen neuzeitübergreifende Strukturprozesse wie Mo-
14. Ein prominentes mediävistisches Beispiel für die Arbeit mit Vorstellungen struktureller Ordnungen ist etwa Dubys Interpretation der Epoche des Feudalismus als eines dreifach gegliederten Arrangements der mittelalterlichen Gesellschaft; Duby, Georges, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt am Main 1986. 15. Vierhaus, Rudolf, Vom Nutzen und Nachteil des Begriffs »Frühe Neuzeit«. Fragen und Thesen, in: Rudolf Vierhaus, u.a. (Hrsg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? – Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, S. 13-26, hier: S. 24f. 322
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dernisierung, Säkularisierung, Revolution, Verrechtlichung, Zivilisierung oder Sozialdisziplinierung interpretiert.16 Die Gemeinsamkeit derartiger Deutungsmodelle ist darin zu sehen, dass sie mit Vorstellungen übergreifender Strukturveränderungen langer Dauer operieren, die der Neuzeit eine Epochenspezifik geben und sie als ein einzigartiges Arrangement allgemeiner Ordnungsfaktoren erkennbar machen. Damit wird die Neuzeit als eine Konstellationen struktureller Rahmenbedingungen erkennbar, in der ihre Eigenart begründet liegt. Allgemeiner ausgedrückt: Die Geschichte erfährt in der Abfolge ihrer Epochen einen grundlegenden Formwandel, indem sich die Ordnung ihrer wesentlichen Entwicklungsfaktoren und dynamischen Kräfte ändert und neu aufbaut: Religion und Kirche in ihrem Verhältnis zu Individuum und Staat; die Städte in ihrem Verhältnis zum Land; die entstehenden Nationalstaaten in ihrem außenpolitischen Verhältnis zueinander innerhalb eines sie umgreifenden Staatensystems; die ökonomisch handelnden Gruppen in ihren zunehmend marktvermittelten Austauschbeziehungen; die politischen Gruppen, Parteien und Bewegungen in ihrem Verhältnis zum monarchischen Zentrum.
3. Interkulturalität. Epochen als Unterscheidungen von Eigenem und Fremdem Ein weiteres Element von Epochenkonzepten ist darin zu sehen, dass ihnen Vorstellungen kultureller Differenz und Spezifik bzw. Vorstellungen von Interkulturalität und des Zusammenhangs zwischen den Kulturen zugrunde liegen. In diesem Sinne legt auch der Begriff der Neuzeit ein bestimmtes Verhältnis zwischen Europa und der übrigen Welt nahe und impliziert eine Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, weil mit ihrem Beginn erstmals im weltgeschichtlichen Maßstab Kulturen und Kulturstufen in Kontakt zueinander traten, was neuartige Erfahrungen von Fremdheit und Differenz mit sich brachte, für die es keine Vorläufererfahrungen gab.17 Seit ihren erstmaligen Verwendungen im 17. Jahrhundert be-
16. Schulze, Einführung, S. 60-93. – Eine ähnliche Orientierung an forschungspragmatischen Schlüsselbegriffen als einer strukturanalytischen Rekonstruktion von Grundelementen neuzeitlicher Geschichte zeichnet eine jüngere Einführung in die Frühe Neuzeit aus, Völker-Rasor, Anette (Hrsg.), Frühe Neuzeit, München 2000, S. 293ff. 17. Zu den theoretischen, methodischen und empirischen Herausforderungen einer interkulturell und transkulturell geöffneten Geschichtswissenschaft und Neuzeitgeschichte siehe im einzelnen Osterhammel, Jürgen, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001. 323
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zieht sich die Rede von der »neuen Zeit« vor allem auf die Geschichte Europas. Es handelt sich um eine Kategorisierung geschichtlichen Wandels, die auf spezifisch europäische Erfahrungsbestände zugeschnitten ist. Der Begriff der Neuzeit entsteht in dem weltgeschichtlichen Augenblick, in dem mit der Entdeckung Amerikas der Ausgriff Europas auf die übrige Welt beginnt und er periodisiert dieses Verhältnis zwischen europäischem Zentrum und außereuropäischer Peripherie im Rekurs auf innereuropäisch relevante Epochenzäsuren und Ereignisse. Insofern steckte in ihm von Anfang an ein entweder versteckter, offener oder auch reflektierter Europazentrismus, der die Geschichte der anderen, nicht-westlichen Kulturen den Kriterien und Periodisierungen der europäischen Neuzeitgeschichte unterwarf. Der Begriff der Neuzeit zielt daher immer auch auf die »Weltgeschichte Europas«. Seit einigen Jahren wächst die Sensibilität dafür, dass sich im Horizont eines solchen Epochenbewusstseins kein angemessenes Verständnis der außereuropäischen, aber auch der innereuropäischen Geschichte entwickeln kann und dass es darum gehen muss, die dominanten Epochenstrukturen der Neuzeit im Rahmen transkultureller Vergleiche reflexiv zu öffnen, um die Unterschiedlichkeit von Entwicklungszyklen, Entwicklungsdynamiken und Entwicklungsrichtungen berücksichtigen zu können.18 »Can a periodization contrived by Europeans for the study of European history provide a meaningful structure for the study of world history?«19 – In dieser Frage klingt die Hauptaufgabe einer interkulturell geöffneten Neuzeit-Bestimmung an, wie sie etwa in dem seit 1989 erscheinenden »Journal of World History« programmatisch verfolgt wird, indem es sich der Herausforderung einer neuen Universalgeschichte jenseits einer europäisch überdeterminierten Neuzeit stellt. Vornehmlich ginge es in diesem Zusammenhang darum, unterschiedliche Formen des historischen Denkens und der wechselseitigen Wahrnehmung geschichtlicher Prozesse aufeinander zu beziehen, um mit dieser Vermittlung und Erweiterung von Zeitperspektiven komplexere Epochenstrukturen zu gewinnen, als es eine weiterhin einseitige
18. Ansätze dazu finden sich mit Blick auf die Geschichte der Frühen Neuzeit inzwischen bei Völker-Rasor, Frühe Neuzeit, S. 429ff. 19. Green, Periodization, S. 40. – Interessanterweise hält aber auch Green daran fest, dass erst im Gefolge der mit den Kreuzzügen beginnenden Expansion Europas sinnvollerweise von einer Weltgeschichte gesprochen werden könne, die tendenziell alle Völker und Kulturen »in a shared experience« umfasste. Ähnlich argumentiert auch Bentley, Jerry H., Cross-Cultural Interaction and Periodization in World History, in: American Historical Review 101, 1996, S. 749-770. 324
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Orientierung am neuzeitlichen Erfahrungs- und Begriffshorizont Europas erlauben würde.20 Dies kann angesichts der offensichtlichen Sonderrolle Europas innerhalb der Geschichte der letzten 500 Jahre freilich nicht bedeuten, den Focus der europäischen Geschichte völlig abzublenden, denn die Expansion Europas war ›die‹ epochale Zäsur auch für die übrigen Kulturen, auch wenn sie nicht für alle gleichzeitig, sondern zeitlich gestaffelt erfolgte, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt die nicht-europäischen Kulturen in den Einfluss- und Interessenbereich der europäischen Welt gerieten. Nicht allein in europäischer, sondern auch in universalhistorischer Perspektive begann die Neuzeit als ein weltumspannender Erfahrungsraum mit verteilten Rollen und unterschiedlichen Konsequenzen, wobei das Zusammentreffen in einem integrierten Raum geschichtlicher Veränderung für die nicht-europäischen Völker die bekannten dramatischen Konsequenzen zeitigte. Mit der Neuzeit wurden in zeitlicher Abfolge alle Teile der Welt zu Rädern eines Prozesses, dessen Musik für lange Zeit vornehmlich in Europa gespielt wurde. Ihre Spezifik ist unter dem Gesichtspunkt interkultureller Beziehungen gerade darin zu sehen, dass mit ihr ein interdependentes Welt-System entstand, in dem die Entwicklung der europäischen Geschichte und Kultur unmittelbare Konsequenzen für alle anderen Kulturen hatte.21 So gesehen vermag keine Geschichte der Neuzeit zu überzeugen, die von dieser epochenspezifischen Sonderrolle Europas abstrahieren würde. Einerseits können die nicht-europäischen Kulturen ihre Geschichte der letzten 500 Jahre nur begreifen, indem sie die von Europa ausgegangenen und weiterhin ausgehenden Wirkungen und Einflüsse als wesentlichen Bestandteil ihrer eigenen Geschichte mit reflektieren. Andererseits bedeutet es aber auch, dass Europa seiner eigenen Geschichte der Neuzeit nur unter Berücksichtigung dieser interkulturellen Dimension bewusst werden kann. Ein historisches Selbstverständnis seiner selbst kann es nur gewinnen, sofern es im Rahmen einer Beziehungs- und Transfergeschichte die Konsequenzen seiner Sonderentwicklung für die nicht-europäischen Kulturen – und zwar auch und gerade die verheerenden – mit bedenkt und seine geschicht-
20. Rüsen, Westliches Geschichtsdenken. 21. Green gibt einen Überblick über die neueren Versuche innerhalb der World History, diesen interkulturellen Zusammenhang zu begreifen. Auffällig ist dabei, dass er in weltgeschichtlicher Perspektive die Plausibilität der Epochenschwelle ›um 1500‹ relativiert und dazu anregt, die wichtigeren Schwellen im 10. und 18. Jahrhundert zu sehen und insofern eher den Kreuzzügen eine Initialbedeutung zuzubilligen, mit denen eine jahrhundertelange Entwicklung einsetzte, in der alle Länder dieser Welt zunehmend und Schritt für Schritt in den politischen und ökonomischen Einflussbereich Europas gelangten, Green, Periodization, S. 52f. 325
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liche Eigenart der kontrastierenden Erfahrung anderer Kulturen und Lebensformen aussetzt. Beispielhaft wäre im Hinblick auf die Realisierung einer derart erweiterten Perspektive an eine Geschichte der europäischen Expansion zu denken, die für Europa wie für die nicht-europäischen Gesellschaften seit dem 16. Jahrhundert konstitutiv für die Entstehung der Neuzeit geworden ist. In diese Geschichte wäre die Wahrnehmung der nicht-europäischen Völker und Kulturen, die der europäischen Expansion unterlagen oder ausgesetzt waren, systematisch hineinzuschreiben. Das historische Phänomen würde im Zuge dieser Perspektivenerweiterung seine vormalige Eindeutigkeit verlieren und als eine äußerst gewalt- und konfliktgeladene interkulturelle Begegnung sichtbar werden, die aus unterschiedlichen Perspektiven gedeutet und interpretiert werden muss, um zu einem Ereignis der Neuzeit zu werden, in dem sich beide Seiten wiedererkennen können. In der Überwindung einer europazentrischen Wahrnehmung inter- und transkultureller Entwicklungen würde sich damit der Epochencharakter der Neuzeit qualitativ verändern, ohne zugleich den dominanten Bezug auf die europäische Geschichte zu verlieren. Diese Einsicht in die Notwendigkeit kulturübergreifender Forschungsperspektiven prägte bereits die Forschungs- und Theoriekonzepte europäischer Geschichte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Diskussion dominierten. Bereits Max Webers religionssoziologisches und universalhistorisches Werk, oder auch Ernst Troeltschs Programm einer »Kultursynthese« vom Standpunkt des Europäismus aus waren von der Überzeugung getragen, dass der Sonderentwicklung und geschichtlichen Eigenart Europas bzw. des Okzidents nur auf der Grundlage einer interkulturell vergleichenden Forschungsperspektive analytisch Rechnung getragen werden könne, die die anderen Kulturen nicht zu Randphänomenen der eigentlichen Weltgeschichte Europas verkümmern lässt. Vielmehr müssten sie als eigenständige Realisationen der menschlichen Kultur zur Geltung gebracht werden, vor denen sich die Eigenart der europäischer Kultur deutlicher abzeichne. Einher ging diese interkulturelle Wendung der modernen Kulturwissenschaften mit der Erfahrung eines Epochenbruchs neuzeitlicher Geschichte und einer tiefgreifenden Sinnkrise der bürgerlich geprägten westlichen Kultur. Angesichts dieser Krise europäischer Kulturtraditionen ergab sich die Notwendigkeit, sich ihrer in der reflexiven Unterscheidung von der Geschichte anderer Kulturen neu zu vergewissern. Unter zunächst stark modernisierungstheoretisch geprägten Vorzeichen lebte dieser in der Kulturkrise des frühen 20. Jahrhunderts wirksame komparative Impuls in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte seit den 60er Jahren fort, begleitet durch eine starke normative Aufladung des westlichen Demokratie- und Gesellschaftsmodells. Bis heute ist dieser zivilisations- oder kulturvergleichende Zugriff ein 326
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Grundzug der neueren Sozialgeschichte geblieben und zu einem analytischen Instrumentarium von hohem methodischen und forschungspraktischen Wert weiterentwickelt worden, wobei allerdings die modernisierungstheoretische Euphorie der 60er und 70er Jahre sowie die einseitige Orientierung an den explanatorischen Ansprüchen makrosoziologischer Theoriemodelle inzwischen einer größeren Offenheit gegenüber unterschiedlichen, auch kulturwissenschaftlich geprägten Ansätzen gewichen ist.22 Wie ist jedoch die zunehmende Interkulturalität und Internationalität der Perspektiven, in der eurozentrische oder gar rein nationalgeschichtlich ›geschnittene‹ Zugriffe nicht mehr plausibel erscheinen und sich die Kulturen zu einem transeuropäischen Erfahrungsraum vernetzen, mit der neuzeitspezifischen Sonderrolle Europas zu vermitteln?23 Dass diese beiden Perspektiven sich nicht wechselseitig ausschließen, wird allein schon daraus ersichtlich, dass die stark komparative Ausrichtung der historischen Forschung es überhaupt erst möglich gemacht hat, die eigentümliche Sonderrolle Europas seit dem Beginn der Neuzeit komplexer als bisher in den Blick zu nehmen. Weiterhin wird sie nicht nur als naheliegender, sondern auch als unvermeidlicher und zudem heuristisch fruchtbarer Ausgangs- und Bezugspunkt der Neueren Geschichte im Sinne einer Forschungsdisziplin betont.24 Die Epochenqualität der Neuzeit bleibt damit perspektivisch an die Sonderentwicklung Europas gebunden, ohne dass damit zugleich eine Haltung moralischer Überlegenheit eingenommen werden müsste. Viel-
22. Haupt, Heinz-Gerhard/Kocka, Jürgen (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main, New York 1996; Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 1999; Kaelble, Hartmut/ Schriewer, Jürgen (Hrsg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main, New York 1999; Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hrsg.), Vergleich und Transfer, Frankfurt am Main, New York 2002; Osterhammel, Geschichtswissenschaft. 23. Programmatisch zur Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Perspektive jenseits der Summe einzelner Nationalgeschichten siehe Schmale, Wolfgang, Europäische Geschichte als historische Disziplin. Überlegungen zu einer »Europäistik«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46, 1998, S. 389-405. 24. So etwa bei Schulze, Winfried, »Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters«. Entwicklungen, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44, 1993, S. 3-18, hier: S. 16: »Wo immer in der Welt – gerade auch außerhalb Europas – über das Phänomen komplexen sozialen Wandels gesprochen wird, wird auf die Frühe Neuzeit zurückgegriffen, zunehmend auch von Nichthistorikern. Aber auf welche Frühe Neuzeit greift man zurück? Die Antwort kann nur lauten: Auf die europäische Frühe Neuzeit.« 327
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mehr ist eine historische Komparatistik, der es um die neuzeitgeschichtliche Eigenart des »europäischen Wunders« geht, als Ausweg aus der historischen Fixierung an eine fragwürdig gewordene Tradition der Weltgeschichte Europas gemünzt. Indem die Vorreiterrolle Europas nicht unilinear aus der Spezifik eines von vornherein auf westliche Rationalität hin ausgelegten Wesenszuges abgeleitet, sondern im Rekurs auf ein historisch kontingentes Zusammentreffen ganz unterschiedlicher Entwicklungsfaktoren erklärt wird, zeichnen sich neue Erklärungswege der historischen Forschung ab. Der neuzeitliche Sonderweg Europas resultiert in solcher Sicht aus einer erfolgreichen und ›epochemachenden‹ Lösung von Problemen, Krisen und Herausforderungen, die sich den europäischen Staaten und Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit gestellt haben. Dazu zählt sowohl die Bewältigung der von den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pestepidemien ausgelösten Bevölkerungskrisen, die die Voraussetzung für ein demographisches Wachstum schaffte, mit der das industrielle Zeitalter eingeleitet wurde, als auch der Übergang von einer Subsistenzwirtschaft zu einer marktorientierten Überschussproduktion, die nicht nur Arbeitskräfte auf dem Agrarsektor freisetze, sondern auch dem entstehenden Bürgertum als sozialer Trägerschicht günstige Aufstiegsbedingungen innerhalb eines florierenden Städtewesens bot. Als weitere erfolgreiche Antworten auf die Herausforderungen der europäischen Geschichte lassen sich die Herausbildung der frühneuzeitlichen Staaten anführen, die auf der Grundlage einer neuartigen Disziplinarmacht neue Herrschafts-, Ordnungs-, und Verwaltungsfunktionen übernahmen und zu einem kompetitiven Staatensystem zusammenwuchsen, aus dessen Konfliktnatur eine ernorme geschichtliche Dynamisierung nach innen und außen resultierte; ferner ein Prozess der sozialen, ökonomischen, rechtlichen und kulturellen Individualisierung im Rahmen einer bürgerlich geprägten Lebensführung, die neue Formen sozialer Ungleichheit, aber auch erhebliche Transformationsenergien und Freiheitschancen innerhalb einer sich pluralisierenden Gesellschaft freisetzte.25 Sicherlich wären noch weitere erfolgreiche Antworten der europäischen Gesellschaften zu erwähnen, um den Sonderweg Europas in der Geschichte der Neuzeit historisch erklären zu können – man denke nur an den mit blutigen konfessionellen Kriegen und Bürgerkriegen einhergehenden Prozess der religiösen Pluralisierung und der Durchsetzung des Toleranzprinzips, oder an die Tendenz zur Verrechtlichung sozialer und politischer Interessenkonflikte, die sich innerhalb der Gewalt- und Protestgeschichte seit der Frühen Neuzeit bemerkbar machte.
25. Hierzu auch van Dülmen, Richard, Die Entdeckung des Individuums, 1500-1800, Frankfurt am Main 1997. 328
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Einem zukünftig tragfähigen Konzept der Neuzeit wird man zumuten dürfen, die in solchen komplexen Faktoren sich abzeichnende Spezifik des europäischen Sonderweges nicht nur in komparativer Absicht, sondern auch im Interesse einer interkulturellen Beziehungsund Transfergeschichte mit den Entwicklungswegen der nicht-europäischen Kulturen abzugleichen, um auf diese Weise zu einem multiperspektivisch gebrochenen Konzept der Neuzeit zu gelangen, in dem sich die Kulturen, die den Konsequenzen der europäischen Weltgeschichte ausgesetzt waren und weiterhin sind, in ihrer jeweiligen Eigenart auch wiederzuerkennen vermögen.
4. Die Hierarchisierung geschichtlicher Akteursgruppen und die Identifikation epochaler Handlungssubjekte Wie jedes andere Epochenkonzept macht auch das Epochenkonzept der Neuzeit Aussagen darüber, wer »Handlungsträger der Neuzeit ist und wer ihre Folgen lediglich zu erleiden hat.«26 Unabhängig davon, ob man die Neuzeit eher als einen diachronen Prozess, oder aber als ein synchrones Arrangement struktureller Ordnungsfaktoren betrachtet, schwingen in jedem Falle Vorstellungen darüber mit, in welchen Individuen oder sozialen Gruppen die geschichtlich bewegenden Handlungsakteure bzw. diejenigen Kräfte zu sehen sind, die für eine bestimmte Konstellation der sozialen Ordnung stehen, diese aufrechterhalten oder verändern wollen. Zugleich werden diese Akteursgruppen in der Regel auch einander zugeordnet und damit in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gebracht, das sich in der Abfolge von Epochen unterschiedlich arrangiert. Ein Blick in die verschiedenen Epochenkonzepte der historischen Forschung im besonderen oder des historischen Denkens im allgemeinen lässt dies sofort deutlich werden: Immer erscheint die Neuzeit auch im Lichte eines konfliktreichen Verhältnisses zwischen sozialen Gruppen oder Klassen, die sich in einer epochenspezifisch geprägten Konstellation gegenüberstehen und ihre Interessen verfolgen. Exemplarisch lässt sich diese akteursspezifische Dimension epochaler Bestimmungen im Rahmen eines Vergleichs sozialgeschichtlicher und kulturhistorischer Methodenkonzepte deutlich machen: In der sozialgeschichtlich geprägten Neuzeitgeschichte treten die Akteure gewöhnlich nicht als unverwechselbare Individuen, sondern als Repräsentanten sozialer Gruppen und übergreifender Transformationsprozesse in den Blick. Im Mittelpunkt ihrer heuristischen Perspektiven stehen etwa die neuzeitliche Etablierung des Bürgertums als einer viel-
26. Günther, Neuzeit, Sp. 795. 329
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fältig gestaffelten sozialen Formation, die Entstehung neuer Funktionseliten im Kontext von Bürokratisierungs- und Professionalisierungsprozessen, die soziale Klassenbildung infolge der Durchsetzung von Lohnarbeit und marktregulierten Beziehungen, ferner langfristige demographische Trends, Urbanisierungsfolgen und vieles andere mehr. Demgegenüber widmen sich die neueren kulturgeschichtlichen Strömungen oftmals eher den konkreten Menschen als Handlungsakteuren neuzeitlicher Geschichte oder ihrem Alltagsleben in überschaubaren Lebenszusammenhängen und Sozialformationen, in denen sie nicht als anonyme Repräsentanten epochenübergreifender Strukturen fungieren, sondern als individualisierbare Subjekte greifbar werden. Ganz in diesem Sinne widmet sich eine bekannte kulturgeschichtlich orientierte Rekonstruktion von Lebensformen der frühen Neuzeit zwischen 1500 und 1800 eher »den Problemen elementarer Lebensbewältigung, den Hauptstationen menschlicher Existenz, den Formen der Sozialität sowie den Werten, Normen und Mentalitäten, die das Leben offen oder versteckt bestimmt haben.«27 Es geht hier also weniger darum, historische Subjekte in ihrer alltäglichen Lebensführung als Organe, Opfer und Funktionsträger derjenigen Entwicklungsmächte neuzeitlicher Geschichte zu betrachten, die sich aus dem retrospektiven Blickwinkel und unter Berücksichtigung der rekonstruktiven Interessen der Gegenwart als relevant erweisen, als vielmehr darum, die Individuen im originären Kontext ihrer eigenen Verhältnisse und Sinnordnungen zu beobachten und von dort ausgehend die Epochenspezifik menschlichen Handelns zu bestimmen und ihr Verhältnis zur Gegenwart zu beschreiben. Betrachtet man diese beiden Forschungskonzepte unter neuzeitoder epochentheoretischen Gesichtspunkten, dann fällt auf, dass sich für die sozialgeschichtliche Seite der neuzeitspezifische Sinn menschlichen Handelns, der nicht mit dem Handlungssinn der Subjekte selbst identisch ist, erst im Rückblick einer späteren Gegenwart herstellt, während die kulturgeschichtliche Seite darauf beharrt, dass dieser erst nachträglich hergestellte Sinnzusammenhang neuzeitlicher Geschichte nicht nur den Handlungs- und Eigensinn der Akteure unterschlägt, sondern auch die geschichtliche Epochenspezifik vergangener Zeiten – im angeführten Beispiel also den Handlungssinn frühneuzeitlicher Menschen – aus dem Blick verliert: »Stets lauert die Gefahr, die Epoche von ihren so oder so definierten Zielen einsinnig und einseitig auf eine als dominant angesehene Entwicklung zu verkürzen. Ein unbefangener
27. Münch, Paul, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500-1800, Frankfurt am Main 1996, S. 20. Siehe auch van Dülmen, Richard, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, 3 Bde., München 1990-1994. 330
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Blick auf die frühe Neuzeit wird außerdem durch die zeitgebundene Perspektive des 19. Jahrhunderts versperrt oder getrübt.«28 Was heißt hier »unbefangener Blick«? – Es heißt nicht, dass die Epochenspezifik vergangener Zeiten in den Quellen selbst, ohne Zutun rekonstruktiver Interpretamente sichtbar vorliegt. »Unbefangen« kann dann nur heißen, die rekonstruktive Reflexivität der auf vergangene Epochen zielenden Interpretation geschichtlichen Wandels mit einer Heuristik des Fremden anzureichern, in der die Eigenperspektive sowie der Handlungs- und Sinnhorizont vergangener Lebensformen ihren Platz findet und methodisch erschlossen werden kann. Damit würde die einfache Reflexivität historischer Epochenbestimmungen durch eine doppelte ersetzt und damit erheblich gesteigert. Epochenkonzepte müssen zu zwei Seiten gleichermaßen geöffnet sein: zum einen gegenüber dem retrospektiven Wissen der Nachgeborenen um die Kosten und Folgen des Handelns der geschichtlichen Akteure; zum anderen gegenüber den damit keineswegs identischen Sinnhorizonten der vergangenen Handlungssubjekte selbst, deren historisches Selbstverständnis nicht durch die Epochenkonzepte der Gegenwart verstellt werden darf, sondern erschlossen und als Korrektiv unseres eigenen Vorverständnisses und als Erweiterung unserer heuristischen Perspektive genutzt werden muss. In diesem Fall würde die Neuzeit an Reflexivität und Komplexität gewinnen und zugleich würde der historische Kurzschluss zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermieden, in der die Geschichte zum bloßen Echo der Gegenwart verkümmert und ihre Epochen nur noch als arbiträre, künstliche Konstruktionen der Gegenwart wahrgenommen werden können, denen keine Wirklichkeit mehr korrespondiert.
28. Münch, Lebensformen, S. 16f. – Hier wird auch deutlich, warum es kein Zufall ist, dass sich der erfahrungs- und mikrogeschichtliche Blick auf die konkreten Lebenszusammenhänge sozialer Akteure vor allem in der Frühneuzeitgeschichte etabliert hat, denn die Frühe Neuzeit gilt als »Paradefeld dieser Forschungsrichtung« (Schulze, Von den großen Anfängen, S. 13), während die Sozialgeschichte ihren Schwerpunkt weitgehend in der Geschichte des 19. Jahrhunderts hatte und dort die Rolle struktureller Prozesse jenseits mikrogeschichtlich verortbarer und sozial konkretisierbarer Akteure akzentuierte. Demgegenüber entfaltete sich das Paradigma der Erfahrungsgeschichte als Frage nach kulturellen Potenzialen und Ressourcen konkreter Akteursgruppen, mit denen epochenspezifische Herausforderungen aufgegriffen wurden, wesentlich in Forschungskontexten zur frühneuzeitlichen Geschichte, weil hier die Divergenz zwischen den Forschungsperspektiven der Gegenwart und den Sinnperspektiven der zeitgenössischen Handlungsakteure geradezu schlagend und die methodische Verarbeitung kultureller Fremdheitserfahrungen dringlicher war. 331
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5. Die Prozessualisierung geschichtlicher Entwicklungen. Epochen als Richtungs- und Tendenzbestimmungen Diachrone Unterscheidungen zwischen einzelnen Epochen verbinden sich gewöhnlich mit Theorien der geschichtlichen Entwicklung, die in einer neuzeit-emphatischen Version als Fortschrittsvorstellungen oder Modernisierungstheorien, in einer neuzeit-kritischen Version dagegen als Theorien des kulturellen Eigensinns und der historischen Individualität vergangener Epochen, oder gar als kulturkritisch gemünzte Verfallstheorien der Neuzeit aufgetreten sind.29 Ihnen liegen Unterscheidungskriterien zwischen Vormoderne und Moderne, Traditionalität und Neuzeitlichkeit zugrunde, die sich auf ganz unterschiedliche Leitdifferenzen beziehen können: etwa auf die Leitdifferenz zwischen Religion und Wissenschaft als konkurrierenden Mächten der menschlichen Lebensführung, oder auf die zwischen einer noch nicht funktional ausdifferenzierten Kultur der Vormoderne und den rational autonomisierten Wertsphären moderner Lebensformen. Die Neuzeit als Epoche wird vor diesem Hintergrund zu einem Prozessgeschehen, das sich zwischen den jeweiligen Anfangs- und Endzuständen dieses Zeitabschnitts vollzieht und die entsprechenden Veränderungen austrägt. Ganz in diesem Sinne ist dafür plädiert worden, die Epoche der Neuzeit von der sie kennzeichnenden Veränderungsdynamik und von den ihr zugrunde liegenden Transformationsprozessen her zu deuten. Dies würde sie nicht zu einem statischen Zeitraum mit festen Ausgangsund Endpunkten stillstellen, sondern zu einem dynamischen Geschehen prozessualisieren, dessen Triebkräfte und Tendenzen eindeutig bestimmt werden könnten: »In der Geschichtswissenschaft hat sich immer mehr der Trend durchgesetzt, unabhängig von tradierten Epochengrenzen bestimmte Probleme oder Prozesse in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Fast alle modernen Forschungskonzepte sind Prozessbegriffe, wenn wir an Konzepte wie Nationalstaatsbildung, Modernisierung, Industrialisierung, Sozialdisziplinierung oder Verzeitlichung denken […]. Daraus folgt, dass in der konkreten Forschung viel eher vom Problem der ›Prozessualisierung‹ als von ›Periodisierung‹ gesprochen werden sollte. So ergäbe sich leichter die Chance, Gegenstände in ihrem Zusammenhang und ihrer historischen Veränderung zu erkennen und sich nicht durch tradierte Epochengrenzen ablenken zu lassen.«30
29. Hierzu auch van Dülmen, Richard, Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, Köln u.a. 2000, S. 43ff. 30. Schulze, Einführung, S. 32f. – Siehe auch Schulze, Winfried, Das Wagnis der Individualisierung, in: Thomas Cramer (Hrsg.), Wege in die Neuzeit, München 1988, S. 270-286, hier: S. 271. Unter Prozessualisierung von Periodisierungskonzepten »soll ein offenes Verfahren der historischen Analyse von vermuteten Wirkungsfaktoren und 332
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Für die historische Periodisierung ist dieses Element der Prozessualisierung von zentraler Bedeutung, da sich die heuristische Fruchtbarkeit von Epochenkonzepten als operativen Mitteln der historischen Interpretation wesentlich an ihrer Fähigkeit entscheidet, historische Verlaufsbestimmungen, d.h. Entwicklungsrichtungen, Tendenzen, Triebkräfte, Brechungen, Beschleunigungen, Verzögerungen präzise benennen zu können und damit die Historizität der menschlichen Lebenspraxis als einen zeitlichen Prozess in den Blick bringen zu können. Historische Ist-Zustände und Momentaufnahmen können so in übergreifende Entwicklungen eingeordnet und historisch skaliert werden. In der historischen Forschung sind vielfältige methodische Verfahren entwickelt worden, die diese Prozessualisierung der Neuzeit leisten sollen. Dazu gehört die Arbeit mit allgemeinen Schlüsselbegriffen, die sich in der Arbeit mit den Quellen bewähren müssen und dazu dienen, die dort auftauchenden vielgestaltigen Phänomene zu Tendenzbestimmungen neuzeitlicher Geschichte zu verdichten und zugleich in einen dynamischen Geschehenszusammenhang zu bringen.31 Es handelt sich um verzeitlichende und dynamisierende Prozesskategorien, die die Wandlungsdynamik neuzeitlicher Gesellschaften als deren epochale Grundstruktur zum Ausdruck bringen. Bekannte Beispiele dafür sind makrohistorische Konzepte der Individualisierung, die auf die Herauslösung der Individuen aus sozialen, in der Frühen Neuzeit vor allem ständisch und familiär geprägten Ordnungen zielen;32 ferner Interpretations- und Verlaufsmodelle der Modernisierung, der Verrechtlichung,33 der Verbürgerlichung,34 der Verwissenschaftlichung,35 der Konfessionalisierung,36 der Nationalisierung der Staaten und des
Prozessen verstanden werden, die in ihrer jeweils spezifischen Genese und Entwicklung verfolgt werden sollen, unabhängig von tradierten Epochengrenzen.« 31. Beispiele für diese Arbeit mit expliziten Schlüsselbegriffen bieten Schulze, Einführung, S. 60ff., sowie Völker-Rasor, Frühe Neuzeit, S. S. 293ff. 32. van Dülmen, Entdeckung des Individuums; Schulze, Wagnis der Individualisierung. 33. Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3. Bde., München 1988-1999. 34. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, bisher 3 Bde., München 1987ff., hier: Bd. 2, S. 174ff. 35. Schulze, Winfried, Gerhard Oestreichs Konzept »Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14, 1987, S. 265-302, hier: S. 232ff. 36. Hierzu näher Burkhardt, Johannes, Frühe Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 364-385, hier: S. 366ff. 333
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internationalen Staatensystems,37 oder schließlich der Sozialdisziplinierung.38 Obwohl derartige Grundbegriffe, die sich noch ergänzen ließen, die Gefahr in sich bergen können, ihren epochenübergreifenden Deutungsanspruch zu überdehnen und damit ihren forschungspraktischen Effekt für die Interpretation konkreter Phänomene neuzeitlicher Geschichte einzubüßen, sind sie von hohem epochentheoretischen Nutzen, da sie Periodisierungen dynamisieren, Veränderungsrichtungen angeben und die Kategorie der Neuzeit mit Inhalt füllen. Eine besondere theoretische Herausforderung ist darin zu sehen, dass sich ganz unterschiedliche Prozesse überlagern und in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen, das ebenfalls eigener Interpretationsmodelle bedarf, die geeignet sind, auch diese Komplexität noch einmal theorieförmig abzubilden. Auf der Grundlage derartiger Kategorisierungen wird die Neuzeit zu einem dynamischen Transformationszusammenhang gerichteter Entwicklungen prozessualisiert, der sich als ein flexibles Netz historischer ›von-zu‹-Relationen beschreiben lässt:39 von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung; von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft; vom mittelalterlichen Personenverbandstaat zum modernen Anstalts- und Sozialstaat; von angeborenen Rechten zum Grundrechtsverständnis; vom Gemeinnutz zum Eigennutz als Motivationsgrundlage ökonomischen Handelns; vom Stände- und Fehderecht zum staatlichen Gewaltmonopol; von der mittelalterlichen Einheitskirche zur konfessionellen Pluralisierung, um nur einige Beispiele solcher von-zu-Relationen innerhalb des Epochenkonzepts der Neuzeit zu erwähnen.
6. Periodisierung als epochale Binnendifferenzierung der Neuzeit Epochenbegriffe dienen der Periodisierung historischer Zeitabläufe, wobei sich die Aufgabe einer zeitlichen Strukturierung und Binnendifferenzierung im wesentlichen auf drei verschiedenen Ebenen stellt:40
37. Langewiesche, Dieter, Neuzeit, Neuere Geschichte, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 386-405. 38. Hierzu Lottes, Günther, Disziplin und Emanzipation. Das Sozialdisziplinierungskonzept und die Interpretation der frühneuzeitlichen Geschichte, in: Westfälische Forschungen 42, 1992, S. 63-74, hier: S. 71; Schulze, Gerhard Oestreichs Konzept. 39. Ein Beispiel dafür bietet Schulze, Einführung, S. 94ff. 40. Binnendifferenzierende Konzepte der epochalen Feinperiodisierung sind jedoch nichts neuzeitspezifisches: Das Mittelalter wird bekanntlich ebenfalls in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter unterteilt; mit Blick auf die Antike dominiert bis heute die Unterscheidung zwischen griechischer; römischer und Spätantike. 334
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Erstens: Auf der ersten Ebene geht es um die Epoche als ganzes, d.h. vor allem um die Datierung ihres Anfangs und Endes und die für diese Datierung entscheidenden Kriterien. Im Hinblick auf die Frage, für welchen Zeitpunkt der Beginn der Neuzeit anzusetzen sei, besitzen die bisherigen Antworten der historischen Forschung eine Schwankungsbreite von nicht weniger als einem halben Jahrtausend. Der Epochenkonzeption, die den Beginn der Neuzeit auf die Zeit ›um 1500‹ datiert,41 stehen ältere Positionen entgegen, die die Herausbildung neuzeitlicher Staatlichkeit bereits entweder weit in das 13. Jahrhundert hinein zurückdatierten,42 oder – wie die Vertreter des ›Alteuropa‹-Konzepts und Ernst Troeltsch bereits vor ihnen – in die Zeit der politischindustriellen Doppelrevolution ›um 1800‹ als entscheidende Wendemarke zur Neuzeit verlegten.43 Dieser Bandbreite möglicher Epochenschwellen entsprechen verschiedene Versuche, mit ausufernden Übergangszeiten zwischen Mittelalter und Neuzeit zu operieren, die aufgrund ihrer zeitlichen Erstreckung von bis zu 500 Jahren ebenfalls Epochenqualität erreichen.44 Zweitens: Dieser Gesamthorizont der Neuzeit ist jedoch nicht der einzige Zeitrahmen, auf den die Epochenkategorie Anwendung findet. Auf einer zweiten Ebene erstreckt sie sich auch auf kleinformatigere Teilabschnitte der Neuzeit: auf das Zeitalter der Revolution, des Absolutismus, der konfessionellen Kriege etwa, denen von der historischen Forschung ebenfalls die Qualität von »Epochen« zugesprochen wird. Mit ihnen wird die Neuzeit zu einzelnen Zeitabschnitten periodisiert, die sie als Gesamtepoche nicht auflösen und zerfasern lassen, sondern ihr eine Fein- und Binnenstruktur verleihen. Auch die Rede von ›lan-
41. Hierzu aus älterer Sicht Skalweit, Stephan, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff, Darmstadt 1982. 42. Hassinger, Erich, Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300-1600, 2. Aufl., Braunschweig 1964; Näf, Werner, Die Epochen der Neueren Geschichte. Staat und Staatengemeinschaft vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 2. Aufl., München 1970. 43. Zu diesen Debatten siehe im Einzelnen Walder, Ernst, Zur Geschichte und Problematik des Epochenbegriffs »Neuzeit« und zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte, in: Festgabe Hans von Greyerz, Bern 1967, S. 21-47; Bödeker, Hans Erich/Hinrichs, Ernst (Hrsg.), Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt? Perspektiven der Forschung, in: Hans Erich Bödeker/Ernst Hinrichs (Hrsg.), Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart, Bad Cannstatt, 1991, S. 11-50; Koselleck, Reinhart, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S. 269-283. 44. Skalweit etwa interpretiert die Renaissance als eine 300-jährige Übergangsperiode zwischen Mittelalter und Neuzeit, Skalweit, Beginn der Neuzeit, S. 9-46. 335
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gen‹ (1517-1648; 1789-1914) und ›kurzen‹ (1914-1991) Jahrhunderten verweist auf inhaltlich begründete Periodisierungskriterien, die eine bloße Chronologie außer Kraft setzen.45 Begriffe wie »Frühe Neuzeit« oder »Moderne« stehen an vorderster Stelle für diese zweite Ebene epochaler Differenzierung, wobei zwischen den von ihnen auf den Begriff gebrachten Teilepochen neuzeitlicher Geschichte sowohl fließende Übergänge als auch scharfe Zäsuren und Knotenpunkte, mit denen schlagartig neue Entwicklungen einsetzen und sich Richtungen oder Dynamiken ändern, denkbar sind. In diesem Sinne gilt etwa der Westfälische Friede als ein Übergangsereignis, mit dem das konfessionelle Zeitalter endet und das Zeitalter des Absolutismus beginnt. Drittens: Noch einmal unterhalb dieser Ebene einer Periodisierung neuzeitlicher Geschichte zu Teilepochen existieren schließlich die zeitgliedernden Zäsuren der jeweiligen Nationalgeschichten, die in der politischen Kultur und Sinnsymbolik der einzelnen Völker und Nationen von enormer kultureller Bedeutung sind und die kollektiven Erinnerungslandschaften konturieren – man denke nur an die Bedeutung des 4. Juli in der amerikanischen Geschichte oder des 14. Juli in der französischen. In der deutschen Geschichte symbolisieren die üblicherweise genannten Daten 1806, 1848, 1871, 1918, 1933, 1945, 1989 eine komprimierte, an epochalen Ereignissen orientierte Narration der deutschen Nationalgeschichte, die in ihrer zeitlichen Abfolge ein historisches Sinngebilde mit äußerlich zwar weithin konsensfähigen, inhaltlich und politisch jedoch heftig umstrittenen Signaldaten liefert. Derartige Epochenzäsuren sind nur innerhalb eines eingeschränkten, gewöhnlich nationalstaatlich geprägten Rahmens plausibel zu machen. Selbst die Jahre 1517 und 1648 besitzen als Zäsuren neuzeitlicher Geschichte allein für das Heilige Römische Reich deutscher Nation ein Höchstmaß an Bedeutung, das sie für Spanien, Frankreich oder Italien keineswegs besitzen.46 Mit Blick auf die zweite der genannten Ebenen epochaler Binnendifferenzierung soll im Folgenden ein Periodisierungskonzept nahegelegt werden, das eine Feingliederung der Neuzeit in eine frühe Neuzeit (bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts), eine revolutionäre Neuzeit (bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts), eine moderne Neuzeit (bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) und in eine globalisierte Neuzeit (seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs) vorsieht. Natürlich versteht sich dieses Periodisierungskonzept nicht als ein starres Zeitschema, sondern als ein Gerüst der historischen Deutung, das in mehrfacher Hinsicht heu-
45. Zur Geschichte des Jahrhundertbegriffs siehe auch Brendecke, Arndt, Vom Zählschritt zur Zäsur. Die Entstehung des modernen Jahrhundertbegriffs, in: Comparativ 10, 2000, S. 21-37. 46. Hierzu auch Bödeker/Hinrichs, Alteuropa, S. 14. 336
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ristisch zu flexibilisieren wäre: erstens für zeitliche Entwicklungsgefälle, für Vorreiterschaft und Verspätung zwischen unterschiedlichen Gesellschaften (etwa zwischen England, Deutschland oder Russland mit Blick auf die Ausbildung wesentlicher Entwicklungsfaktoren und Modernisierungstrends); zweitens für die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung unterschiedlicher Strukturebenen (etwa zwischen der wirtschaftlichen und politischen Ebene); drittens schließlich für epochale Sonderentwicklungen im internationalen und transkulturellen Vergleich (etwa im Sinne des europäischen Wunders oder des deutschen Sonderwegs). Ferner erweist es sich als zwingend notwendig, mit überlappenden Periodisierungskonzepten zu operieren, die Übergangsperioden auch längerer Dauer (etwa zwischen 1750 und 1789, oder zwischen 1850 und 1880) vorsehen und begründen.47 Erstens: Das Epochenkonzept der Frühen Neuzeit, das sich erst seit den 50er Jahren als Bezeichnung für die Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert allmählich herausgebildet und inzwischen weithin durchgesetzt hat, geht davon aus, dass sich ›um 1500‹ mit dem Zusammentreffen mehrerer einschneidender Ereignisse die Konfiguration Europas langfristig und tiefgreifend zu ändern begann.48 Es unterstellt, dass sich bereits in dieser Periode – womöglich sogar im Gegensatz zum Selbstverständnis der Zeitgenossen selbst49 – die epochalen Trends andeuten und abzeichnen, die die Neuzeit insgesamt ausmachen und seit dem 18. Jahrhundert dominant und prägend wurden: Prozesse der politischen Staatsbildung, Anfänge der wissenschaftlichen Revolution, die Genese der Weltwirtschaft auf dem Boden sich internationalisierender Handelsbeziehungen, die religiöse Pluralisierung in der Folge der Reformation sowie schließlich die Entfaltung des Individualismus stehen dafür. Durchgesetzt hat sich das Modell der Frühen Neuzeit in
47. Als Plädoyer für fließende Zeitstrukturen und Epochengrenzen siehe Demel, Walter, »Fließende Epochengrenzen«. Ein Plädoyer für eine neue Periodisierungsweise historischer Zeiträume, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48, 1997, S. 590-598. 48. Vierhaus, Vom Nutzen, S. 17. – Der disziplinäre Aufstieg der Frühen Neuzeit kann geradezu als ein Erfolgsmodell innerwissenschaftlicher Autonomisierung und Spezialisierung gelten. Untrügliche Indikatoren dafür ist die Existenz eigener Lehrstühle, Einführungen und Fachzeitschriften als notwendigen Voraussetzungen innerfachlicher Verselbständigung. Zu ihrer Einordnung im Fach der Neueren Geschichte s. auch Schulze, Winfried, Neuere Geschichte – Ein problematisches Fach, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 287-317. 49. Angesichts eines weithin fehlenden neuzeitlichen Selbstverständnisses repräsentiert die Frühe Neuzeit geradezu den Zeitabschnitt der Neuzeit, »der seine Neuzeitlichkeit noch nicht wahrhaben wollte.« Burkhardt, Frühe Neuzeit, S. 365. 337
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Deutschland vor allem gegenüber den Alteuropa-Vorstellungen Dietrich Gerhards und Otto Brunners, indem es die Veränderungsdynamik dieser Zeit akzentuierte. Auch der Alteuropa-Begriff war ein Produkt der Nachkriegszeit, schloss aber lose an ältere Ideen an, wie sie von Jacob Burckhardt und Alexis de Tocqueville bereits im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren.50 Auch eine Nähe zu Braudels Theorie der »longue durée«, die ebenfalls die Statik der alteuropäischen Institutionen akzentuiert hatte, ist auffällig.51 Die Kontinuität Alteuropas endete bei Gerhard und Brunner erst mit der ökonomisch-politischen Doppelrevolution des späten 18. Jahrhunderts, so dass die größte Schwäche dieses Konzepts darin zu sehen ist, dass es die bereits im Kontext von Renaissance, Reformation und Frühaufklärung erfolgenden Transformationsprozesse nicht hinreichend zu würdigen vermochte. In dem Maße, in dem die neuzeitkonstitutive Bedeutung der kulturgeschichtlichen, ökonomischen und politischen Wandlungsprozesse seit dem 15. Jahrhundert zunehmend in den Blick trat, verblasste daher auch der Glanz des institutionenlastigen Alteuropa-Konzepts. Die sich in der historischen Forschungspraxis durchsetzende Tendenz, die frühe Neuzeit zu einem Elementarbaustein der Neuzeit zu erklären und nicht zur Vorlaufphase einer erst um 1800 einsetzenden ›eigentlichen‹ Neuzeit verkümmern zu lassen, beruhte auf der Erkenntnis, dass hier bereits wichtige Entwicklungen begonnen hatten, die die Neuzeit insgesamt prägen sollten. Aus diesem Grunde wurden die dynamisierenden Faktoren der frühneuzeitlichen Staatsbildung und des ›protoindustriellen‹ Frühkapitalismus betont,52 oder das vorausweisende Element der religiösen Pluralisierung unterstrichen, in der sich Grundvoraussetzungen bürgerlicher Lebensformen bereits anzudeuten schienen. Wenn das 16. Jahrhundert als eine Epoche interpretiert wird, die durch ein »Übermaß an Veränderung« gekennzeich-
50. Hierzu ausführlicher Bödeker/Hinrichs, Alteuropa, S. 24ff.; Kunisch, Johannes, Alteuropa – der Ursprung der Moderne, in: Jost Dülffer/Bernd Martin/Günter Wollstein (Hrsg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Berlin 1990, S. 21-36. 51. Gerhard, Dietrich, Old Europe: A Study of Continuity, 1000-1800, New York 1981. 52. Sehr deutlich bereits bei van Dülmen, Richard, Formierung der europäischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Ein Versuch, in: Geschichte und Gesellschaft 7, 1981, S. 5-41; van Dülmen, Richard, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 15501648, Frankfurt am Main 1982. Zur Debatte um Protoindustrialisierung ferner Kriedte, Peter/Medick, Hans/Schlumbohm, Jürgen, Sozialgeschichte in der Erweiterung – ProtoIndustrialisierung in der Verengung?, in: Geschichte und Gesellschaft 21, 1995, S. 231255. 338
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net gewesen sei,53 macht dies schlagartig deutlich, wie sehr sich das Konzept der Frühen Neuzeit von den Versuchen abhebt, diese Epoche noch der alteuropäischen Welt des Mittelalters zuzurechnen. Nicht Statik, sondern »Aufbruch« und »Veränderung« wurden zu Leitkategorien der Frühneuzeitforschung, indem sie die dynamisierenden, in die Zukunft der Neuzeit weisenden Kräfte und Entwicklungen akzentuierte. Neben dieser ausgeprägten Prozessualisierung ist ein weiterer Vorteil des Konzepts der Frühen Neuzeit darin zu sehen, dass es eine Konfigurationsanalyse erlaubt, in der vielschichtige Prozesse gesondert und zugleich in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet werden können und damit der Gleichzeitigkeit von Statik und Wandel Rechnung getragen werden kann. Das Konzept der Frühen Neuzeit öffnet den historischen Blick auf eine komplexe Übergangsperiode, in der sich widersprüchliche oder sogar gegensätzliche Tendenzen überschneiden und in Spannung zueinander stehen. Man denke dabei nur an die Festschreibung der Ständegesellschaft bei gleichzeitigem Aufstieg eines städtischen Bürgertums; an den aufkeimenden Konflikt zwischen religiöser und weltlicher bzw. wissenschaftlicher Lebensorientierung; an die weiterhin bestehende Dominanz des agrarischen Sektors bei gleichzeitiger Entstehung eines Welthandelssystems und eines auf zunehmender Arbeitsteilung beruhenden Frühkapitalismus.54 Zweitens: Zwar richtete sich das Konzept der Frühen Neuzeit grundsätzlich dagegen, die europäische Welt vor 1800 umstandslos der statischen Welt Alteuropas zuzurechnen, nicht aber dagegen, der politisch-industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts eine Zentralbedeutung innerhalb der Epoche der Neuzeit beizumessen.55 Ganz in diesem Sinne lässt sich dem Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 als revolutionärer Neuzeit eine eigenständige Bedeutung im Sinne eines »Umbruchs aller Lebensverhältnisse« geben,56 eine Perspektive, die bereits Jacob Burckhardt mit seinen »Vorlesungen zur Geschichte des Revolutionszeitalters« eröffnet hatte, die aber auch in der späteren NeuzeitForschung noch eine Rolle gespielt hat.57 Das Konzept einer revolutionären Neuzeit geht von der Gleichzeitigkeit politischer und ökono-
53. Schulze, Winfried, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987, S. 292ff. 54. Vierhaus, Vom Nutzen, S. 24f.; Bödeker/Hinrichs, Alteuropa, S. 31ff. 55. Auch für Vertreter der Frühen Neuzeit bildet die Französische Revolution die »Mittelachse« des Neuzeitbegriffs, Schulze, Einführung, S. 34. 56. Conze, Werner, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln 1957, S. 9. 57. Etwa bei Palmer, Robert Roswell, The Age of Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760-1800, 2 Bde., 2. Aufl., Princeton 1964. 339
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mischer Transformationsschübe der bürgerlichen Gesellschaft aus. Unter Gesichtspunkten der politischen Entwicklung bringt es die Vorgeschichte der Amerikanischen Revolution und die unmittelbare Nachgeschichte der Revolutionen von 1848 in einen epochalen Zusammenhang miteinander und öffnet so den historischen Blick auf eine epochenspezifische Spannung von Revolution und Restauration. Unter Gesichtspunkten der industriellen Entwicklung umspannt sie die Zeit zwischen der Bevölkerungsexplosion und Agrarrevolution der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Spaltung zwischen bürgerlicher und proletarischer Bewegung als konkurrierenden Antworten auf die Herausforderungen des modernen Kapitalismus, mit der sich zugleich der politisch-revolutionäre Impuls des Bürgertums verliert. Aus dieser Perspektive erscheinen die revolutionären Bewegungen von 1848 als letzter, zum Scheitern verurteilter Versuch, die Vergangenheit im Sinne frühliberaler Ideale der bürgerlichen Gesellschaft gegen die kapitalistische Gesellschaft der Zukunft zu verteidigen.58 Drittens: Das hier vorgeschlagene Epochenkonzept sieht eine weitere Zäsur um 1850 (mit einem Übergangskorridor von etwa 30 Jahren) vor, in der der Schritt in die moderne Neuzeit erfolgte. Dies verbindet sich mit dem Plädoyer, den Begriff der Moderne im Gegensatz zu weit umfassenderen Semantiken auf das Jahrhundert zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beschränken. Wie unterschiedlich der Begriff der Moderne innerhalb der historischen Forschung und in seinem Verhältnis zum Begriff der Neuzeit verwandt wird, zeigt sich an der jeweiligen Divergenz seines Zeithorizonts: Zum einen gibt es die Tendenz, die beiden Begriffe im wesentlichen synonym zu verwenden; in diesem Sinne wird die Welt ›um 1500‹ zum Beginn der Moderne, der frühneuzeitliche bereits zum ›modernen Staat‹.59 Die Frühe Neuzeit gilt als »Inkubationszeit der Moderne« (Paul Münch), die bereits »alle jene Problemlagen enthält, die die Neuzeit bestimmen sollten« und sie zum »Musterbuch der Moderne« macht.60 Von dieser begrifflichen Identifikation von Neuzeit und Moderne unterscheidet sich deutlich ein Verständnis der Moderne als ›eigentlicher‹, sich ihrer selbst bewussten Neuzeit als einer Epoche, die sich in ihrer spezifischen Neuzeitlichkeit gesteigert und in der sich die
58. Langewiesche, Neuzeit, S. 398. 59. Skalweit, Beginn der Neuzeit, S. 123ff. – Ebenso bei LeGoff, Jacques, Das alte Europa und die Welt der Moderne, München 1994. 60. Schulze, Von den großen Anfängen, S. 8. – Ferner siehe Schulze, Winfried, Ende der Moderne? Zur Korrektur unseres Begriffs der Moderne aus historischer Sicht, in: Heinrich Meier (Hrsg.), Zur Diagnose der Moderne, München 1990, S. 69-97. 340
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frühneuzeitliche Vorgeschichte der Moderne vollendet habe.61 Dem entspricht die Tendenz, die Moderne mit der Doppelrevolution der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnen zu lassen und die »Umbruchphase um 1800« als die »letztlich entscheidende Wende zur Moderne« zu interpretieren.62 Schließlich findet sich auch die Vorstellung, dass die Moderne gar nicht mehr zur Neuzeit gehöre und bereits eine gänzlich neue, eigenständige und letztlich zur Gegenwart gehörige Epoche darstelle, die die Neuzeit hinter sich gelassen habe. Daher müsse man sogar noch »die Vorstellung vom 19. Jahrhundert als der klassischen Ausformung von Modernität […] fallen lassen«,63 weil selbst diese Zeit einer Welt der Vormoderne zugerechnet werden müsse, auf die wir uns quasi nur noch aus der Ferne – wie auf eine uns fremde Welt – beziehen könnten. Zweifellos ist auch die hier in Absetzung von diesen Verwendungen des Moderne-Begriffs vorgeschlagene Epochensetzung ›um 1850‹ mit vielen Argumenten zu bestreiten, zumal, da sie mit wichtigen etablierten Periodisierungen nicht kompatibel erscheint. Das »lange 19. Jahrhundert« zwischen 1789 und 1918, das vielfach als eine »Epoche von eigenständigem Gepräge« aufgrund von Nationsbildung, Verstaatung und Demokratisierung interpretiert wird,64 verliert seine Einheit und wird zwei unterschiedlichen Perioden der Neuzeit zugeschlagen, wobei die Zeit zwischen Jahrhundertmitte und 1880er Jahren eine längere Übergangsperiode bildet, in der sich die Grundlagen der Moderne ausbilden. Zum anderen relativiert sich die Bedeutung des Ersten Weltkriegs, der von vielen Zeitgenossen als ein epochaler Einschnitt sowie als ein ruckartiges Ende der Bürgerlichen Welt erfahren wurde und in der historischen Forschung teilweise noch immer als Beginn der Zeitgeschichte gilt. Ein Vorteil dieses Periodisierungsvorschlags scheint jedoch darin zu bestehen, dass er eine Prozessualisierung dessen ermöglicht, was mit Blick auf die Jahrhundertwende oder die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts die »eigentliche« oder »klassische« Moderne genannt worden ist.65 Sie ermöglicht, die allmähliche Herausbildung moderner Lebens-
61. Kunisch, Johannes, Über den Epochencharakter der Frühen Neuzeit, in: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Festschrift für Karl Dietrich Erdmann, Stuttgart 1975, S. 150-161, hier: S. 150. 62. Burkhardt, Frühe Neuzeit, S. 364f. – Ähnlich Langewiesche, Neuzeit, S. 386; Bödeker/Hinrichs, Alteuropa, S. 30f. 63. Nolte, Paul, 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 1996, S. 281-300, hier: S. 300. 64. Langewiesche, Neuzeit, S. 388. 65. Nitschke, August u.a. (Hrsg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die 341
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formen und struktureller Bedingungen in längeren Zeiträumen zu verfolgen, als es eine Fixierung und Konzentration des Blicks auf die Zeit der Jahrhundertwende ›um 1900‹ erlauben würde. Prozesse der Urbanisierung und der Professionalisierung; Tendenzen der Kapitalkonzentration und der Herausbildung neuer innerbetrieblicher Organisationsformen und Unternehmensstrukturen; ein neues, durch zunehmend kritische Untertöne geprägtes kulturelles Selbstverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Deutungs- und Interpretationseliten; die Genese einer imperialistischen Konstellation, die sich im Ersten Weltkrieg auf katastrophale Weise entlud; die Entstehung des Sozial- und Interventionsstaats; der Aufstieg der Frauenbewegung; eine neue Stufe von Verkehr und Kommunikation durch Eisenbahnbau und die Massenpresse würden sich auf diese Weise in eine übergreifende historische Perspektive rücken und damit prozessualisieren lassen. Mit der Epochenzäsur um 1850 ist keineswegs unterstellt, dass sich alle diese Tendenzen bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich abzeichnen oder sogar prägend wurden. Vielmehr soll sie es möglich machen, diese Tendenzen, die teilweise erst Jahrzehnte später dominante Erscheinungen des geschichtlichen Wandels wurden, heuristisch so in den Blick zu bringen, dass sie in größere historische Zusammenhänge gestellt werden können. Die Entstehung der modernen politischen Massenparteien – man nehme nur das zuletzt untersuchte Beispiel der SPD66 – lässt sich besser verstehen, wenn man sie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein zurückverfolgt. Insofern scheint es heuristisch ergiebiger, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildende Ausgangskonstellation der modernen Welt von der etablierten Moderne des frühen 20. Jahrhunderts nicht abzuspalten, sondern diese von ihren historischen Grundlagen her, in statu nascendi, zu verstehen. Denn in dieser Zeit entstanden die Erfahrungswelten und die problemerzeugenden Krisenkonstellationen, auf die die Moderne erst reagierte.67 Wenn hier im Interesse eines Präzisionsgewinns der Begriff der Moderne bzw. der modernen Neuzeit auf das Jahrhundert zwischen
Moderne 1880-1930, 2 Bde., Reinbek 1990; Peukert, Detlev, Die Weimarer Republik, Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. 66. Hierzu jetzt Welskopp, Thomas, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Berlin 2000. 67. Mit Blick auf die amerikanische Gesellschaft der Jahrhundertwende und die Reformbewegung des Progressive Movement siehe Jaeger, Friedrich, Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2001. 342
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1850 und 1945 beschränkt wird, so entspricht dies nicht allein einem verbreiteten Selbstverständnis der Zeitgenossen, das darin zum Ausdruck kommt, dass der Begriff der Moderne – wie derjenige der Neuzeit – ein Produkt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Vielmehr liegt dem auch die Überzeugung zugrunde, dass er an konkretisierbare Phänomene gebunden ist, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben und die hier nur selektiv und exemplarisch erwähnt werden können. Von wesentlicher Bedeutung war in diesem Zusammenhang, dass das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft, das die Epoche der revolutionären Neuzeit weithin getragen hatte, in die Defensive gerät. Dies war zugleich mit der Verabschiedung eines die revolutionäre Neuzeit noch kulturell tragenden Fortschrittsmodells durch eine bürgerliche Kulturkritik verbunden, die zunehmende Selbstzweifel der bürgerlichen Gesellschaft an ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit artikulierte. Neu war eine abschiedlich gestimmte Bürgerlichkeit, deren Individualitätskonzept einer im Entstehen begriffenen Massenkultur nicht mehr angemessen schien und die sich durch die Entstehung neuer Klassengegensätze sowie durch den mit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft verbundenen Aufstieg der Arbeiterbewegung zur Massenbewegung in ihren Grundlagen bedroht fühlte. Weitere modernitätsspezifische Phänomene lassen sich im Bereich der technisch-industriellen Entwicklung ausmachen. Dazu zählen sowohl der Aufstieg der Naturwissenschaften zu Produktivkräften der ökonomisch-technischen Entwicklung und die Entstehung eines neuen, naturalistisch geprägten Deutungsmusters gesellschaftlicher Wirklichkeit, als auch eine neue, geradezu als Revolutionierung von Raum und Zeit erfahrene Stufe der neuzeitlichen Kommunikationsrevolution. Der Durchbruch der modernen Massenpresse erreichte dabei in den USA bereits während der 1820/30er Jahre eine Durchdringungsdichte des öffentlichen Raumes, die in Europa erst in der zweiten Jahrhunderthälfte erreicht wurde. Auffällig war ferner ein tiefgreifender Wandel von Lebensstilen angesichts der seit 1870 beschleunigten Phase der Urbanisierung und Metropolenbildung, in der sich nicht nur das Verhältnis von Stadt und Land rapide verschob, sondern auch spezifisch urbane Lebensformen und eine neuartige Massenkultur entstanden. Hinzu kam ferner im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte eine Tendenz zur Professionalisierung und zur Ausbildung einer Kultur des Professionalismus, zu der auch die Entstehung der Angestellten als einer spezifisch ›modernen‹ sozialen Schicht gehörte. Schließlich ist noch auf die Entstehung eines europäischen Konzerts der Nationalstaaten und neuer Typen von Nationalitätenkonflikten zu verweisen, die sich zu einer zunehmend imperialistisch geprägten Konfliktkonstellation mit den totalitären Konsequenzen der ersten 343
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Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichteten.68 In den 80er Jahren erfolgte der Übergang vom freihändlerischen Frühimperialismus zum Hochimperialismus als einem Wettlauf der Mächte um die Aufteilung der Welt. Hier erfolgte eine gesellschaftliche Aufladung des Politischen und zugleich eine folgenschwere Vergesellschaftung der Kriegsführung, die bereits zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gehört. Zugleich erfolgte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein im Zweiten Weltkrieg dann vollendeter Aufstieg der USA zur neuen weltpolitischen Führungsmacht der westlichen Welt, der die neuzeitspezifische Führungsrolle Europas beendete und damit eine Epoche herbeiführte, in der sich die Frage nach dem Ende der Neuzeit stellt. Viertens: Hat die Neuzeit ein Ende? Oder handelt es sich, in deutlichem Gegensatz zu allen bisherigen Epochen erstmalig um eine Periode geschichtlichen Wandels, die prinzipiell offen, unabgeschlossen und in eine unabsehbare Zukunft hinein dehnbar ist? – Vor einigen Jahren noch schien letzteres ausgemacht zu sein und zugleich in der Konsequenz der sich seit dem späten 18. Jahrhundert vollziehenden Fundamentalhistorisierung des neuzeitlichen Welt- und Selbstverständnisses zu liegen: »›Neuzeit‹ ist per definitionem unabgeschlossen; deshalb konnte sich (im Deutschen) die Epochenbezeichnung ›frühe Neuzeit‹ durchsetzen, sich aber kein Pendant ›späte Neuzeit‹ einstellen; von einer ›hohen Neuzeit‹ zu sprechen, wäre absurd.«69 Inzwischen hat sich jedoch in der historischen Forschung durchaus der Begriff der »späten Neuzeit« als Bezeichnung für die Geschichte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingebürgert. Dass auf dem Deutschen Historikertag des Jahres 2002 in Halle die entsprechenden Sektionen unter dieser Epochenzuschreibung firmierten, hat den Begriff von höchster Stelle aus autorisiert und legt die Vermutung nahe, dass er sich inzwischen als gleichberechtigtes Pendant zum Begriff der Frühen Neuzeit durchgesetzt hat. Jedoch impliziert diese Ergänzung einer »frühen« durch eine »späte« Neuzeit mit innerer Denknotwendigkeit die Vorstellung von einem nahenden Ende der Neuzeit; ansonsten wäre diese Begriffsverwendung sinnlos. Die Neuzeit wird damit als eine Epoche denkbar, die mit den ›um 1500‹ einsetzenden Transformationsprozessen begonnen hat und seit dem späten 19. Jahrhundert einen Aggregatzustand erreicht hat, der auf ein mögliches, ja historisch absehbares Ende derjenigen Konstellation hindeutet, die die Neuzeit als Epoche konstituiert und bisher geprägt hat. Dies liegt in der Konsequenz des Epochenbegriffs überhaupt begründet, da
68. Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Wehler, Hans-Ulrich, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. 69. Vierhaus, Vom Nutzen, S. 14. 344
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er allein solche Zeiteinheiten auszeichnet, die nicht nur eine temporale und strukturelle Ordnung besitzen, mit der sie sich von anderen Zeitabschnitten unterscheiden, sondern die auch einen Anfang und ein Ende haben (müssen). Auch die Neuzeit kann – sofern sie als eine Epoche gedacht wird – nicht unendlich in die Zukunft hinein verlängert werden, ohne ihren Epochencharakter zu verlieren. Eine unabschließbare Epoche der Neuzeit wäre ein Widerspruch in sich, da Epochen gar nicht als Phänomene statischer Dauer begriffen werden können. Vielmehr handelt es sich um zeitliche Einheiten, die immer schon sowohl auf ihre interne Transformation, als auch auf ihre geschichtliche Abfolge sowie auf ihre Überwindung durch andere Epochen hin angelegt sind.70 Doch worin bestehen die Veränderungsprozesse, die die spezifisch neuzeitliche Konstellation geschichtlicher Veränderung zur Auflösung bringen oder bringen könnten? Ich möchte diese Frage dahingehend beantworten, dass ich von einem Ende der Neuzeit im Prozess ihrer Globalisierung als der vierten Phase neuzeitlicher Geschichte spreche. Diese These verbindet sich zugleich mit einer Absage an den Begriff der Zeitgeschichte, da dieser Begriff im Sinne einer Epochenkategorie nicht tragfähig genug ist, um diejenige Periode neuzeitlicher Geschichte auf den Begriff zu bringen, auf die er heute üblicherweise Anwendung findet. Dies liegt in seiner historischen Inhalts- und Konturlosigkeit begründet, die außer dem Kriterium, dass die Zeitgeschichte im großen und ganzen von der Geschichte der noch lebenden Generationen handelt, keine inhaltlichen Kriterien zur Verfügung stellt, um eine Zeit epochal zu qualifizieren und von anderen Epochen begrifflich zu unterscheiden. Der Begriff ist bereits 1657 erstmals nachgewiesen und erfuhr eine Konjunktur nach 1789, um die jeweils unmittelbare Aktualität von Ereignissen zum Ausdruck zu bringen.71 Zeitgeschichte als Epochenkategorie zielt also nicht auf eine einmalige und unverwechselbare geschichtliche Konstellation, sondern kann auf alle möglichen Konstellationen und Ereignisketten angewendet werden. Der Begriff ist letztlich austauschbar; die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts ist eine andere als die des 19. oder des 21. Jahrhunderts. Diese Austauschbarkeit unterscheidet ihn in grundsätzlicher Weise von den Epochenbegriffen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, die ausschließlich auf eine jeweils inhaltlich bestimmte zeitliche Konstellation und Entwicklungsstufe Anwendung finden. Wenn die oben bereits angedeutete These stimmt, dass die Neu-
70. Hierzu auch Vogler, Günter, Probleme einer Periodisierung der Geschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 203-213. 71. Schulze, Einführung, S. 40. 345
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zeit als historische Kategorie unterschwellig oder bewusst immer durch Theoreme einer Weltgeschichte Europas bestimmt war, so lässt sich, ohne dabei zwangsläufig in das Fahrwasser postmoderner Positionen zu geraten, von einem Ende der Neuzeit in dem Moment sprechen, in dem dieses Verhältnis als Folge ökonomischer, politischer oder kultureller Globalisierungsprozesse auf komplexere Weise bestimmt werden und die außereuropäische, nicht-westliche Welt auf multilaterale, postdualistische Weise in die Geschichte der ehemals allein europäischen Neuzeit hineingeschrieben werden muss. Nimmt man das Argument einer europäisch-westlichen Schieflage der Neuzeitkategorie ernst, liegt es nahe, dass die Neuzeit nicht in alle Zukunft hinein gedehnt werden kann, sondern in dem Moment ihr Ende findet, in dem sich ein globaleres Weltsystem ausbildet, in dem die Rollen nicht mehr in neuzeittypischer Weise zwischen Zentrum und Peripherie verteilt sind, sondern das Verhältnis zwischen den Kulturen multiperspektivischer, differenzierter und komplexer gedacht werden muss. Dies scheint im Prinzip seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem seither vollzogenen Prozess der Dekolonisierung, in verschärfter Form mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes der Fall zu sein. Die dualistische, dem Prinzip »Europa und die Anderen« verpflichtete Struktur neuzeitlicher Geschichte ist damit an ihr Ende gelangt und muss mit der Hilfe neuer Konzepte multilateraler Art neu gedeutet werden: als eine Transformation der Neuzeit hin zu einer neuen Epoche, in der sich das tradierte Verhältnis des europäisch-amerikanischen Westens zu den anderen Kulturen neu arrangiert – nicht im Sinne der Postmoderne oder der Theorie vom Ende der Geschichte, sondern eher in Auseinandersetzung mit den Problemen der Globalisierung sowie in Anknüpfung an neue komparative Theoreme von Interkulturalität und transkulturellen Beziehungen.72 Die Neuzeitkategorie war und ist dagegen eurozentrisch, insofern sie bis heute auf spezifisch europäische Erfahrungsbestände zugeschnitten ist und von ihnen ausgehend die Weltgeschichte der letzten fünfhundert Jahre gliedert. Ihr Aufkommen im 16. Jahrhundert reagierte auf europäische Entwicklungen, die bereits von den Zeitgenossen als neuartig, wenn nicht gar als revolutionär wahrgenommen wurden. Dabei handelt es sich neben den kulturellen Transformationsprozessen im Anschluss an die Reformation,73 dem Aufstieg des frühneuzeitlichen Staates sowie der Kommunikationsrevolution infolge des Buchdrucks vor allem auch um den Beginn der europäischen Expansion im
72. Zum Forschungs- und Theorieprogramm einer transkulturell vergleichenden Geschichtswissenschaft siehe Osterhammel, Geschichtswissenschaft, S. 11-45. 73. Hierzu van Dülmen, Richard, Reformation und Neuzeit. Ein Versuch, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14, 1987, S. 1-25. 346
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Zusammenhang der Entdeckung Amerikas. Angesichts des beginnenden »Zeitalters der Entdeckungen«74 und Eroberungen ergab sich zu Beginn der Neuzeit die Notwendigkeit, die kulturelle Identität Europas (bzw. der christlichen Völker) in ein kulturell reflektiertes Verhältnis zu den nicht-europäischen Kulturen zu setzen und sie vor der Kontrastfolie dieser außereuropäischen Welt zu formulieren. Zum Kernbereich dieses europäischen Selbstverständnisses gehörten traditionellerweise entweder christlich, ökonomisch oder politisch motivierte und legitimierte Vorstellungen einer »Weltgeschichte Europas«. In historischer Perspektive konnten sie sehr vielfältige Formen annehmen und sich über verschiedene Entwicklungsstufen bis in unsere Gegenwart hinein ausbilden; in interkultureller Perspektive konnten sie mit unterschiedlichen Graden europäischer Hegemonie und eines offenen oder latenten Eurozentrismus, aber auch mit spezifisch europäischen Formen der Anerkennung von Differenz und Vielfalt verbunden sein. Weil also die Kategorie der Neuzeit letztlich die Weltgeschichte Europas in den drei genannten Perioden der frühen, revolutionären und modernen Neuzeit meint, stellt sich zumindest die Frage, ob nicht in dem Moment von einem Ende der Neuzeit gesprochen werden kann, in dem sich diese einseitige Form historischer Epochalisierung zugunsten neuer Formen interkultureller Kommunikation und der Neuzentrierung geschichtlicher Handlungs- und Entscheidungsräume inklusive einer neuen Gewichtsverteilung der geschichtlichen Akteure auflöst. Das Ende der Neuzeit wäre dann als eine Zeit verstehbar, in deren »Verlauf die Weltstellung Europas zuende gegangen ist«.75 Die tradierten Muster europäischer Selbstdeutung im Verhältnis zu den anderen Kulturen, für die die Kategorie der Neuzeit bisher stand und weiterhin steht, haben angesichts der gegenwärtigen Dynamik sozioökonomischer, kultureller und politischer Entwicklungen ihre Plausibilität verloren und müssen neu konzeptualisiert werden. Begleitet ist dies von einer zunehmenden Sensibilisierung für die unterschiedlichen Entwicklungswege und Modernisierungspfade, die die außereuropäischen Kulturen und Gesellschaften im Kontrast zu europäischen Vorbildern gegangen sind und die daher in ein neues Verhältnis zu ihnen gerückt werden müssen. Neuere modernisierungstheoretische Konzepte versuchen daher dem Eintritt in eine globalisierte Weltgeschichte mit dem Leitbegriff der »multiple modernities« Rechnung zu tragen und damit eine Öffnung der kulturwissenschaftlichen Perspektiven zu bewirken.76
74. Zu dieser Kategorie neuzeitlicher Geschichte auch Skalweit, Beginn der Neuzeit, S. 47ff. 75. Vierhaus, Vom Nutzen, S. 20f. 76. Eisenstadt, Shmuel Noah, Multiple Modernities in an Age of Globalization, 347
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Die Rede vom Ende der Neuzeit ließe dabei auch die Neuzeit selbst nicht unberührt, sondern verlangt danach, auch sie in der historischen Retrospektive neu zu deuten. Bei ihr würde es sich dann nicht mehr um die aufeinander folgenden Stufen einer kumulativen Europäisierung der Welt oder der Globalisierung des Westens handeln, vielmehr wäre der Geschichte der anderen Kulturen auf eine Weise Rechnung zu tragen, die deren historisch-kulturelle Eigenständigkeit nicht unterschlägt. Die gegenwärtig noch weithin offene Frage besteht darin, wie diese kulturübergreifende Dimension der europäischen Geschichte heuristisch und methodisch aufgearbeitet werden kann und welche historisch-kulturwissenschaftlichen Konzepte zur Verfügung stehen, um das Verhältnis Europas oder »des Westens« zu den nicht-europäischen Kulturen seit dem Beginn der Neuzeit zur Darstellung zu bringen. Seit dieser Zeit gibt es keinen Teil der Welt, der nicht von den – teilweise dramatischen – Implikationen und Konsequenzen der europäischen, später auch der amerikanischen Kultur in irgendeiner Form geprägt worden ist. Als europäische Historiker können wir den europäischen Standpunkt unserer Arbeit weder verleugnen noch verlassen. Gerade deshalb wird es darauf ankommen, sich den Ausprägungen, Folgen, Grenzen und Chancen dieses neuzeitlichen Erbes unserer eigenen Identität reflexiv zu vergewissern und die hier unterstellte Möglichkeit eines nahenden oder sich bereits vollziehenden Endes der Neuzeit als Herausforderung unserer Arbeit anzunehmen, die dazu zwingt, die Epoche der Neuzeit retrospektiv neu zu deuten, um auf der Höhe gegenwärtiger Herausforderungen zu bleiben.
7. Die Kohärenz des Heterogenen und die Bedeutung des Widersprüchlichen Es ist bereits erwähnt worden, dass Epochenkonzepte auf Vorstellungen eines strukturellen Zusammenhangs zwischen und einer synchronen Einheit von verschiedenen Basisfaktoren geschichtlichen Wandels beruhen. Gleichzeitig jedoch geht es in ihnen immer auch darum, das Nicht-Zusammenhängende und Uneinheitliche geschichtlicher Prozesse historisch zu deuten. Man kann sich die innere Spannung zwischen diesen gegensätzlichen Anforderungen an Epochenkonzepte erneut an den Unterschieden zwischen Sozial- und Kulturgeschichte klar machen: Für das Neuzeitkonzept der Sozialgeschichte ist die Vorstellung einer Kongruenz bestimmter Basisentwicklungen leitend, die in ihrem spannungsvollen Zusammenspiel die Entwicklung neuzeitlicher Ge-
in: Canadian Journal of Sociology 24, 1999, S. 283-295; Osterhammel, Geschichtswissenschaft. 348
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sellschaften bestimmen und dynamisieren. Dieses Zusammenspiel besteht etwa in der historischen Parallelität einer ökonomischen, politischen und sozialen Freisetzung der Subjekte von traditionellen ständischen Bindungen; in der Monopolisierung der Gewaltausübung und regulativer Funktionen in den Händen des liberal-demokratischen Verfassungsstaates; in der zunehmenden Unterwerfung der Subjekte unter die Mechanismen des Marktes; oder schließlich in der Entstehung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft und debattierenden Öffentlichkeit. Von der Seite der neueren Kulturgeschichte ist diese sozialgeschichtliche, teilweise modernisierungstheoretisch unterfütterte Synchronisation neuzeitlicher Entwicklungstendenzen dem Verdacht eines »finalistischen Denkens« ausgesetzt.77 Damit verbindet sich zugleich die Kritik, dass aus der Vogelperspektive makrohistorischer Theoriebildung eine vorschnelle Glättung des Disparaten erfolge, das im Gegensatz zu einem sozialgeschichtlichen Methodenmodell nur in einer mikrohistorischen Einstellung wahrgenommen werden könne, die die Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit von Entwicklungen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Unterschiedlichkeit zwischen fortgeschrittenen und rückständigen Gebieten innerhalb derselben Untersuchungseinheit akzentuiert. Daraus erklärt sich zugleich die Abwendung von allzu ›glatten‹ Modernisierungskonzepten, die derartige Widersprüchlichkeiten auf der Detail- und Momentebene durch eine Orientierung an epochenübergreifenden Entwicklungstendenzen einebnet; das gespaltene Verhältnis der neueren kulturhistorischen und -anthropologischen Strömungen zu den etablierten Globaltheorien neuzeitlicher Geschichte, wie sie in den Werken von Marx, Weber, Foucault und anderen vorliegen, steht dafür. Damit stellt sich jedoch die Frage, wie die Kulturgeschichte die Leerstelle dieser epochentheoretischen Globalvorstellungen neuzeitlicher Geschichte alternativ besetzen könnte. Zwar operiert sie implizit durchaus mit Vorstellungen übergreifender Entwicklungen,78 verortet diese aber nicht innerhalb eines einförmigen Neuzeitkonzepts, sondern innerhalb eines Netzes widersprüchlicher Tendenzen, das sich als eine Einheit des Heterogenen, Ambivalenten und Differenten beschreiben ließe. Damit ist ein wesentlicher Aspekt epochaler Differenzierungen angesprochen, bei denen es immer auch um die Deutung des Kontingenten und Heterogenen, des Ungleichzeitigen und Widersprüchlichen und damit alles dessen geht, was sich den synchron-strukturellen Ord-
77. van Dülmen, Historische Anthropologie, S. 44. 78. Ein epochenübergreifender Prozess von Individualisierung scheint etwa eine solche allgemeine Entwicklungstendenz neuzeitlicher Geschichte zu repräsentieren; siehe van Dülmen, Entdeckung des Individuums. 349
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nungsleistungen von Epochenkonzepten entzieht oder sich ihnen gegenüber sperrig verhält.79 Unter mehreren Gesichtspunkten erhöht sich die Komplexität von Epochenkonzepten, wenn sie sich derartigen Erfahrungen des Kontingenten stellen: Erstens: Zunächst sind sie zu einer temporalen Flexibilisierung neuzeitspezifischer Epochenstrukturen gezwungen. Damit ist die Aufgabe gemeint, den unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten gerecht zu werden, die nicht nur die Ebene der Ereignisse und Strukturen voneinander trennen, sondern auch eine innere Widersprüchlichkeit einzelner Geschehenszusammenhänge erzeugen. Nicht nur für die deutsche Geschichte ist etwa im Kontext der Sonderwegs-Diskussion eine Zeit- und Verlaufsdivergenz zwischen ökonomischer Entwicklung und politischer Demokratisierung konstatiert worden, auch mit Blick auf die Französische Revolution ist betont worden, dass sich ein völlig anderes Verlaufsbild zeigt, je nachdem auf welchen Aspekt von Veränderung man blickt. Überwiegt auf der einen Seite angesichts einer weitgehenden Kontinuität der Sozialverfassung, der Mentalitäten und der alltäglichen Lebensformen der Eindruck einer von der revolutionären Dynamik nur begrenzt erfassten Dauer, so drängt sich auf der anderen Seite und im Gegensatz zu dieser Statik beim Blick auf die politische Ereignisgeschichte das Element des Wandels in den Vordergrund.80 Auch der Beginn und das Ende der Frühen Neuzeit werden in diesem Sinne temporaler Flexibilisierung zunehmend als eine Gemengelage unterschiedlicher Entwicklungen interpretiert, die in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Wissenschaft zu unterschiedlichen Zeitpunkten wirksam wurden und unterschiedliche Intensitäten, Prozessgeschwindigkeiten und Ergebnisse zeitigten: »Beginn und Ende der Frühen Neuzeit werden nicht länger als synchrone Entwicklungen sondern als Gefüge von Prozesssträngen mit differierenden Anfängen und Enden beschrieben.«81 Zweitens: Eine weitere Dimension des Heterogenen und Inkohärenten wird deutlich, wenn man an die einem kulturellen Alteritätsschock gleichkommende interkulturelle Horizonterweiterung denkt, die mit dem Beginn der Neuzeit und der Expansion Europas hin zu ande-
79. Ganz in diesem Sinne wird in der Neuzeitforschung bereits seit Jahren der Aspekt des Widersprüchlichen als eine wesentliche forschungspraktische Herausforderung akzentuiert: »Die Geschichte der Neuzeit stellt sich uns als eine hochkomplizierte Mischung von Widersprüchen dar, zumal in ihrer deutschen Version« (Schulze, Einführung, S. 339). 80. Ebd., S. 78. 81. Bödeker/Hinrichs, Alteuropa, S. 43. 350
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ren Kulturen einsetzte. In diesem Zusammenhang ließe sich von der Notwendigkeit einer kulturellen Flexibilisierung des Epochenkonzepts der Neuzeit sprechen. Die erwähnten Strömungen einer komparativen Geschichtswissenschaft erweisen sich unter diesem Gesichtspunkt als ein methodischer Versuch, die Eigentümlichkeit von Entwicklungswegen in der Unterscheidung von kulturellen Alternativen zu untersuchen und damit die Sensibilität der historischen Forschung für Differenzen und Alteritäten zu wecken. Drittens: Ferner ergibt sich die Notwendigkeit einer disziplinären Flexibilisierung des Neuzeitkonzepts, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Epocheneinteilungen hochgradig disziplinabhängig variieren. Gewöhnlich ergibt sich keineswegs eine Kohärenz, sondern eine Asynchronie zwischen den Epochenzäsuren, die aus den jeweiligen Sonderperspektiven der Politikgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Kirchengeschichte und Kultur- oder Mentalitätsgeschichte sinnvoll gesetzt werden könnten – zumal wenn man die verschiedenen nationalgeschichtlichen Kontexte berücksichtigt. Diese drei Aspekte machen darauf aufmerksam, dass es sich bei historischen Epochen niemals um völlig kohärente, auf einen Nenner zu bringende Einheiten handelt, sondern dass sie durch eine Gemengelage inkonsistenter Elemente und eine Vielfalt unterschiedlicher Tendenzen geprägt sind. Allerdings ist diese Einsicht kein Argument gegen die Verwendung und Erarbeitung übergreifender Epochenkategorien. Im Gegenteil setzt die Fähigkeit, Detailprozesse als ungleichzeitig oder unzeitgemäß erkennen zu können, die Arbeit mit allgemeinen Epochen- und Prozesskategorien voraus. Aus ihnen resultiert überhaupt erst die Fähigkeit, Unterschiede und Abweichungen feststellen und ihre Ursachen und Bedingungen präzisieren zu können. Gleichzeitig machen es übergreifende Epochenbegriffe erst möglich, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Einheit in der Vielfalt, den Zusammenhang des Auseinanderstrebenden, die Konstanz im Wandel, das Übergreifende im Partikularen zu erkennen. Epochenbestimmungen tragen zur Stiftung eines Zusammenhangs des Heterogenen gerade dann bei, wenn sie die Existenz von Inkohärenzen nicht leugnen, sondern sich als fähig erweisen, sie als solche zu erkennen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Die Neuzeit verliert auf dem Boden derart differenz-offener Epochenbestimmungen den Charakter eines einlinig gerichteten und sich kontinuierlich vollziehenden Wandels und wird stattdessen als eine Gemengelage unterschiedlicher Entwicklungen denkbar, ohne damit zugleich ihre Einheit verlieren zu müssen. Ein Beispiel dafür, dass der Aufweis von Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchlichkeiten einen Epochenbegriff der Neuzeit nicht unmöglich macht, sondern nur zu einer Komplexitätssteigerung der Perspektiven zwingt, stellen die neueren Debatten um den Zusam351
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menhang zwischen Modernisierung und Gewalt dar, in denen sich allmählich die Konturen seiner historischen Gewaltforschung abzeichnen.82 Die historische Einsicht, dass die Ausübung von Gewalt jenseits aller neuzeitlichen Errungenschaften der Gewaltzivilisierung infolge der Verrechtlichung von Konflikten, der Zunahme des moralischen Bewusstseins oder der erhöhten Regulierungsdichte internationaler Beziehungen ein konstitutives Element neuzeitlicher Geschichte bleibt, führt nicht etwa zu einem Verlust der Einheit der Neuzeit, sondern zu einer Neuperspektivierung historischer Prozesse, die in der Lage ist, den vorschnell unterstellten Prozess umfassender Gewaltzivilisierung zu überdenken und damit das ›Ungleichzeitige‹ und ›Unzeitgemäße‹ von Gewalt und Barbarei als Element einer komplexer gewordenen Neuzeit zu verstehen. Die traditionelle Modernisierungstheorie etwa tendierte im Sinne eines sunny-side-up-Konzepts des geschichtlichen Wandels dazu, die dunklen und gewaltsamen Begleitmomente der Moderne auszublenden. Auch angesichts der ungeheuren Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts hielt sie weithin an einem evolutionistischen Fortschrittsparadigma fest, das es erlaubte, selbst extreme Gewaltphänomene durch Exterritorialisierung zur Bestätigung des eigenen Konzepts zu nutzen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Theorie des deutschen Sonderweges, der als negative Kontrastfolie den westlichen Normalfall der Modernisierung gegen Kritik immunisierte und den Anschein des gewaltzivilisierenden Charakters der Moderne ex negativo zu retten versuchte. Die Annahme der Modernisierungstheorie, dass die Neuzeit einen allmählichen Übergang von gewaltsamen zu immer gewaltloseren Formen des Austragens von Interessenkonflikten und kultureller Differenz impliziere, hat sich angesichts der fortdauernden Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts als falsch erwiesen. Dem entspricht, dass in den letzten Jahren die Sensibilität gegenüber Gewalt sowohl innerhalb, als auch zwischen den Kulturen zugenommen hat, und zwar auch im Kontext modernisierungstheoretischer Ansätze selbst. Am entschie-
82. Siehe aus einer Vielzahl von Beiträgen nur Joas, Hans, Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2000; Lindenberger, Thomas/Lüdtke, Alf (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt 1995; Miller, Max/Soeffner, Hans-Georg, Modernität und Barbarei. Eine Einleitung, in: Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 12-27; Schumann, Dirk, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37, 1997, S. 366-386; Sieferle, Rolf P./Breuninger, Helga (Hrsg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte Frankfurt am Main 1998. 352
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densten hat der Soziologe Hans Joas zuletzt dafür plädiert, die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts theoretisch ernst zu nehmen, um die fortschrittsmythischen Banalitäten der Vergangenheit zugunsten eines zukünftigen Verständnisses der Moderne überwinden zu können, das den Katastrophen des 20. und nun auch bereits des 21. Jahrhunderts angemessen ist.83 Das epochenspezifische Theorieproblem besteht in diesem Zusammenhang darin, wie sich die kontinuierlich fortsetzenden Gewalterfahrungen der Neuzeit und Moderne verstehen lassen, ohne in das Fahrwasser einer politischen Kulturkritik zu geraten, die schon immer wusste, dass man sich die Flausen einer zunehmenden Gewaltlosigkeit und einer zunehmenden Zivilisierung von Gewalt im Zuge von Modernisierung zugunsten eines machtpolitischen Realismus aus dem Kopf zu schlagen habe. Es wäre fatal, auf die Enttäuschung überschwänglicher Erwartungen von Gewaltlosigkeit zu reagieren, indem nun die Gewalt selbst zur heimlichen, aber universellen Grundstruktur der Moderne erklärt wird, eine Gewalt, die nicht enden will, sondern nur ständig neue Formen annimmt und ihre zerstörende Wirkung mit der Zunahme technischer Vernichtungspotenziale unendlich steigert. Zu plädieren ist daher für eine Rückbesinnung der Moderne auf die ihr eigenen Gewaltrisiken und Gewalterfahrungen jenseits dieser beiden Extreme.84 Ein derartiges Bewusstsein von den Ambivalenzen und Kontingenzen des Modernisierungsprozesses hatte bereits die Klassiker der Soziologie ausgezeichnet, die – wie Max Weber etwa – bereits frühe Zweifel an den Fortschrittsversprechen der Moderne artikuliert und begründet haben.85 An dieses selbstreflexive Erbe der Moderne, das in der modernisierungstheoretisch geprägten Atmosphäre der Nachkriegszeit verloren gegangen war, ist vor dem Erfahrungshintergrund neuer Gewalterfahrungen im Zusammenhang der Balkankriege, der Nord-Süd-Konflikte zwischen zweiter und dritter Welt, der religiösen Fundamentalismen und politischen Nationalismen der letzten Zeit anzuknüpfen, um ein angemesseneres Verständnis der Neuzeit zwischen Gewaltkontinuität und den Versuchen ihrer rechtlichen, politischen und sozialen Zivilisierung zu gewinnen. Gelingt dies, könnte dieses Beispiel einer tradierte Epochenbestimmungen revidierenden
83. Joas, Kriege und Werte, S. 34ff. 84. Siehe in diesem Sinne Miller/Soeffner, Modernität und Barbarei, S. 17: »Eine dritte mögliche grundlegende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Barbarei lautet: Das Projekt der Moderne erfüllt sich genau darin, dass sich die Moderne ihres Potenzials an Barbarei bewusst wird und es in einem Zivilisierungsprozess zu überwinden trachtet. […] Modernität impliziert eine Selbstdistanzierung der Moderne, ohne sie – das heißt ihre Zivilitätsstandards – preiszugeben.« 85. Hierzu Jaeger, Bürgerliche Modernisierungskrise, S. 182ff. 353
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historischen Gewaltforschung zeigen, dass eingespielte Epochen- und Prozesskategorien in der Folge erfahrener Ungleichzeitigkeiten und Diskohärenzen transformiert werden können, ohne dass sich zugleich die Konsistenz des Epochenkonzepts insgesamt auflöst. Vielmehr besteht die Chance, dass es in solchen Vorgängen historischer Neuperspektivierung an innerer Komplexität gewinnt.
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ULLI SEEGERS: GEBANNTE ZEIT
Gebannte Zeit. Aby Warburgs »Pathosformel« im Kontext historischer Sinnbildung Ulli Seegers
»Jede Zeit hat die Renaissance der Antike, die sie verdient.« Aby Warburg, Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts
1. Einleitung Aby Warburgs (1866-1929) kunsthistorisches Forschungsinteresse galt dem »Nachleben der Antike«. Dass er sich dabei nicht nur ikonographisch-motivischer Bildanalysen bediente, sondern auch Religion, Wissenschaft und Alltagskultur in seine Studien integrierte, macht ihn zu einem der Väter moderner, zumal interkultureller, Kulturwissenschaft. Eng mit dem Namen Warburg verbunden ist der Begriff der Pathosformel, jenen »gebärdensprachlichen Ausdrucksformen maximalen inneren Ergriffenseins«, die zum Leitmotiv seiner neuen Wissenschaft, der Ikonologie, avancierten. Das Konzept der Pathosformel prägt nicht nur einen spezifischen Bildbegriff, sondern setzt auch ein bestimmtes Geschichtsverständnis und eine bestimmte Zeiterfahrung voraus. Ziel der Untersuchung ist es einerseits, den Zentralbegriff der Warburgschen Ikonologie in Bezug zu setzen zu den implizierten Prämissen von Zeit, Geschichte und Kultur. Andererseits sollen die Konsequenzen und Möglichkeiten einer von der Pathosformel geprägten Kulturwissenschaft fokussiert werden. Dabei wird zunächst auf Warburgs Begriff der Pathosformel einzugehen sein, dem sich der Versuch einer Verortung des zugrundeliegenden Zeitbegriffes anschließt.
2. Der Begriff der Pathosformel Während sich Aby Warburg in seiner Dissertation über Botticelli (1893) den »Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenais355
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sance« widmet und sich dabei auf die Motive »äußerer Bewegung« und des »bewegten Beiwerks – der Gewandung und der Haare –« konzentriert,1 beginnt sich sein Verständnis der affektiven »pathetischen Gebärdensprache«2 erst mit seinem Vortrag Dürer und die italienische Antike (1905) in einer umfassenderen Bedeutungsdimension zu kristallisieren: Antike Formen und Motive sind nicht länger nur als historische Vorbilder für die Darstellung körperlicher Bewegung interessant, sondern gelten Warburg nunmehr als Anzeichen einer bestimmten, überhistorischen Mentalität und Geistesart, als »Stationen jener Etappenstraße […], auf der die wandernden antiken Superlative der Gebärdensprache von Athen über Rom, Mantua und Florenz nach Nürnberg kamen, wo sie in Albrecht Dürers Seele Einlaß fanden«.3 Das rein typologische Interesse an der Renaissance antiker Ausdrucksgebärden wandelt sich in den Aufweis von »Erscheinungen zu allgemeinerer Erklärung der Kreislaufvorgänge im Wechsel künstlerischer Ausdrucksformen«.4 Der Begriff der »Vorstellung von der Antike« in der Renaissance, der der Dissertation zugrunde lag, tritt zurück hinter das appellativ-eigensprachliche »Volkslatein der pathetischen Gebärdensprache, das man international und überall da mit dem Herzen verstand, wo es galt, mittelalterliche Ausdrucksfesseln zu sprengen«.5 Im Nachgang der »wandernden antiken Superlative der Gebärdensprache« gerät der Forscher zum Spurensucher in der Antike geprägter, aber überzeitlicher Bildelemente, die von ihrer universellen Bildwirkung im Wechsel der Zeiten bis in seine eigene Gegenwart nichts eingebüßt zu haben scheinen. Wie sind metahistorische und interkulturell wirksame Formen denkbar?
2.1 Die Wirkmacht des Bildes Im Begriff des »Pathos«, der für Warburg seit seinem Dürer-Vortrag bedeutsam wird, manifestiert sich der Wechsel von der Aktivität zur Passivität des Betrachters und – vice versa – vom Gewirktsein zur Wirkung des Bildes auch sprachlich. Die vormalige unbeteiligte Bestimmung von Bildtypen hat sich transformiert in die nachvollziehende Er-
1. Warburg, Aby, Sandro Botticellis Geburt der Venus und Frühling, in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 3 1992, S. 11-63, hier S. 13. 2. Warburg, Aby, Dürer und die italienische Antike (1906), in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 3 1992, S. 125-198, hier S. 130. 3. Ebd. 4. Ebd. 5. Ebd. 356
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fahrung energetischer Bildformeln. Aus den »italienischen Pathosblättern«, von denen in seiner Dürer-Studie die Rede war, sind in der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929) »dynamische Pathosformeln all’ Antica«6 geworden, die als »energetisch aufgeladene Dynamogramme«7 ein Eigenleben führen. Der Atlas war als Konvolut von »Bilderreihen zur kulturwissenschaftlichen Betrachtung antikisierender Ausdrucksprägung bei der Darstellung inneren und äußeren bewegten Lebens im Zeitalter der europäischen Renaissance«8 konzipiert und auf etwa 2000 Abbildungen mit zwei begleitenden Textbänden hin angelegt. Durch den plötzlichen Tod Warburgs 1929 ist das Projekt unvollendet geblieben: nur die Einleitung, alternative Titelvorschläge und diverse Tagebuchnotizen jedoch lassen auf die originäre Intention des Ikonologen schließen. Auch sind nur Photographien von den über 70 großformatigen, mit schwarzen Leinen bespannten Keilrahmen (ca. 170 x 140 cm) erhalten, auf denen Warburg sein Bildmaterial unterschiedlichster Art und Provenienz (Photographien von Kunstwerken von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Reklamebilder, Abstraktionszeichnungen, Briefmarken u.a.) zum Thema des »Nachlebens der Antike« mittels Heftklammern befestigte.9 Das heterogene Material aus Reproduktionen von Werken der Kunst und des Kunsthandwerks, von Formen des Festwesens wie der Propaganda kommt dabei überein im Aufweis einer mal subtil, mal vordergründig integrierten Pathosformel als formales Anzeichen eingekapselter Bildenergie. Mit dem Mnemosyne-Atlas sollte Warburgs These von der »Einverseelung vor-
6. Warburg, Aby, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, zit. n.: Ilsebill Barta Fliedl/Christoph Geissmar (Hrsg.), Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg u.a. 1992, S. 171-173, hier S. 172. 7. Handschriftliche Notiz Warburgs von 1927: Warburg Institute Manuskript Nr. III, 12.29 mit der Aufschrift »Allgemeine Ideen 1927«. 8. Warburg, zit. n.: Ilsebill Barta Fliedl, ›Vom Triumph zum Seelendrama. Suchen und Finden oder Die Abentheuer eines Denklustigen‹, in: Fliedl/Geissmar, Die Beredsamkeit des Leibes, S. 165-170, hier S. 169. Aby Warburg hatte verschiedene Versuche zur Findung einer adäquaten Überschrift für sein letztes und umfassendstes Projekt unternommen. Die 17 überlieferten Alternativ-Titel bezeugen das breit gefächerte Interesse Warburgs: ebd. 9. Vgl. das Begleitmaterial zur Ausstellung der Rekonstruktion von Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas im Kunsthaus Hamburg 1994, das zu jeder Bildtafel des Atlas ein Faltblatt bereitstellt, welches eine Photographie der originalen Tafel, wie sie Warburg in den 20er Jahren zusammengestellt hat, Reproduktionen und Legenden der einzelnen Bilder auf der Tafel sowie begleitende Texte enthält, hrsg. v. M. Koos/W. Pichler/W. Rappl/G. Swoboda, Hamburg 1994. Vgl. auch die begonnene Edition der vollständigen Gesammelten Schriften/Studienausgabe Warburgs, hrsg. v. H. Bredekamp u.a., Berlin 1998ff. (Zweite Abt., Bd. II.1: Der Bilderatlas MNEMOSYNE, hrsg. v. M. Warnke). 357
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geprägter Ausdruckswerte« zur Evidenz gelangen und sich auch der »Sinn dieser gedächtnismäßig aufbewahrten Ausdruckswerte als sinnvolle geistestechnische Funktion« erweisen.10 Warburg leitete dabei die ungeheure spezifische Wirkenergie der Pathosformeln, die sie von anderem Gestenvokabular unterschied, aus ihrem Ursprung in der Antike her. Da »bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt […] als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichne[t] [werden darf]«11, erkennt der Kunsthistoriker in der menschlichen Ausdrucksleistung eine verobjektivierende Veräußerung des »eindrückenden Reizes« im »Geschäfte der Orientierung«. Im Ausdruck im allgemeinen verwandele sich triebhaftes Handeln in bewusstes Handeln und habe damit generell »Denkraum schaffende Funktion«. Dem antiken gebärdensprachlichen Ausdruck bewegten Lebens im besonderen allerdings kommt eine zusätzliche Bedeutung zu: in der Bewegungsgebärde nämlich spiegelt sich für Warburg die ausdrucksverursachende Zerrissenheit des Menschen. Innere Bewegtheit erfahre ihren adäquaten Ausdruck in der Darstellung äußerer Bewegung, wobei »[d]ie ungehemmte Entfesselung körperlicher Ausdrucksbewegung […] die ganze Skala kinetischer Lebensäußerung phobisch-erschütterten Menschentums von hilfloser Versunkenheit bis zum mörderischen Taumel [umfängt]«.12
2.2 Die Antike Warburgs Verständnis der Antike fußt auf der Vorstellung der grundlegenden Prägung eines kulturellen Menschheitsgedächtnisses durch ekstatische Erfahrung: »In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins […] in solcher Intensität einhämmert, daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben«.13 In den von »Urtrieben« emotional aufgeladenen Ausdrucksgebärden der Antike erkennt er daher die »Urworte leidenschaftlicher Dynamik«, die als höchster Ausdruck von Leid oder Leidenschaft ihrerseits zur Ursache für Emphase werden: durch die Eindringlichkeit des individuell gestalteten, aber allgemein verständlichen Bewegungsausdrucks wird die Ebene des Subjektiv-Singulären transzendiert und findet – als Pathosformel – eine überindividuelle, überzeitliche Form. Die von Warburg angenommene »Intensität« der Einprägung wird gespeist aus der »erschütternden Gegensätzlichkeit von Lebens-
10. 11. 12. 13.
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bejahung und Ichverneinung« im »Wesen der Antike«, die mit einer »Doppel-Herme des Apollo-Dionysos« verglichen wird.14 Die so verstandene Antike wird zum Prototyp existenzieller Polarität und damit zum originären Ausdrucks-Katalysator. Aufgrund dieser Bipolarität antiken Lebensgefühls im warburgschen Sinne muss es daher mindestens zwei verschiedene, wenn auch sich gegenseitig bedingende Gattungen von Pathosformeln geben: »In dem gegensätzlichen Umfang humaner Ergriffenheit vom Lebenstriumph bis zur Totenklage sehen wir ganz unmittelbar die vorgeprägten Ausdruckswerte in die Formenwelt eingreifen: die Kunst aus dem Kreise des römischen Triumphators, die Bögen, Säulen und Münzen liefern die Formeln derer, die zum Leben Ja sagen, während auf der anderen Seite die Sarkophage aus der griechischen Sage und Tragödie mit der verzweifelten Gebärdensprache dem leidenden Pathos der zeitgenössischen Totenklage [ihren] unheimlich hinreißenden Stil aufdrücken.«15 Abgesehen davon, dass Warburg hier ›die Antike‹ in einen griechisch-apollinischen (»olympische Antike«) und einen römisch-dionysischen (»dämonische Antike«) Zweig unterteilt und auf diese Weise die Unterschiedlichkeit der Pathosformeln aus der historischen Sukzessivität herleitet, ist es erstaunlich, dass er den gestalteten Ausdrucksformen das aktive Moment des »Eingreifens« zuschreibt. Die Pathosformeln, geprägt durch klassische Tragik bzw. durch hellenistische, emphatische Lebensbejahung, werden zu autonomen, überhistorischen und wirkmächtigen Bildelementen, die auf einer prinzipiellen »Gegensätzlichkeitslehre« basieren: sie verdeutlichen, »dass man Sophrosyne und Ekstase […] in der organischen Einheitlichkeit ihrer polaren Funktion bei der Prägung von Grenzwerten menschlichen Ausdruckswillens begreif[en muss]«.16 Stoische Besonnenheit und entrückte Verklärung erscheinen in Warburgs Begriff der Pathosformel als zwei fundamentale Verfassungszustände, die wechselseitig aufeinander bezogen sind, in ihrer Polarität dynamisieren und auf diese Weise den bildnerischen Ausdruck von Bewegung provozieren. Die Spannung zwischen den beiden unterschiedlichen Bewusstseinsebenen wird abgeleitet durch die Darstellung von Bewegung im Raum, die als formales Element ihrerseits die Polaritätsenergie dynamisierend freisetzt.
14. Ebd., S. 172. 15. Warburg, Aby, Lesung vom 19.01.1929 in der Biblioteca Hertziana mit dem Titel Die römische Antike in der Werkstatt Ghirlandajos (Warburg Institute, Typoskript Nr. 101.1). 16. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 172. 359
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2.3 Sinninversionen Ohne weitere inhaltliche Spezifizierung besitzt die Pathosformel damit ein ungebundenes Aktionspotenzial: der Zustand der Leid(en)schaft, der die Entstehung der Form zunächst be-wirkt und der über die Gestaltung seine Katharsis erfahren hat, kann durch das dynamische Moment der ›Formel‹ erneut ge-wirkt werden, wobei dieses Wirken durch die Loslösung vom ursprünglichen, historischen Inhalt in einem gänzlich anderen Sinnzusammenhang auftauchen kann. So kehrt die Pathosformel vom Typus ›Nympha‹ als eilende junge Frau im flatternden Gewand nicht nur in einer antiken Mänade, römischen Fortuna, in einer Judith oder Salome wieder, sondern erscheint auch in einem früchtetragenden Mädchen aus der Hand Ghirlandaios sowie in einem modernen Werbeplakat, das eine Golfspielerin zeigt. Die Formel der ›Nympha‹ verkörpert entfesselte Leidenschaft; als Formel des gesteigerten Pathos schlechthin wird sie »zum eigentlichen Symbol für Befreiung und Emanzipation«.17 Mit den Atlas-Bilderreihen führt Warburg den Betrachter sowohl an den Ursprungsort der Pathosformeln in antiker Skulptur- und Reliefkunst zurück, wie er ihn auch zum Zeugen ihrer Wanderschaft durch Regionen, Kulturen und Zeiten macht. In der historischen Wiederkehr der antiken Bildformeln erkennt er einen Hinweis auf ihren Status als autonome Stilmittel, die nicht spezifisch inhaltlich konnotiert sind, sondern die – wie in der christlich geprägten Antikenrezeption der Frührenaissance – in ihrer paganen Herkunft ausschließlich als dynamisierende Elemente verstanden werden konnten. Durch Sinninversion werden die vormaligen Bedeutungsinhalte austauschbar, so dass selbst die schmerzverzerrte Magdalena unter dem Kreuz als Form heidnischer Orgiastik, als ›Mänade‹ erscheint. Die »energetisch invertierte Sinngebung«18 erweist sich als Bedingung der Möglichkeit für die Fortdauer der Pathosformeln; sie bildet als »ethische Neuprägung« die »Schutzhülle für die Weiterexistenz maximaler bewußter, energetischer Ausdrucksformen«.19 Was aber auf der einen Seite das Prinzip ›Pathosformel‹ ausmacht und erst ihr autonomes »Nachleben« ermöglicht, wird auf der anderen Seite zu ihrer Bedrohung: die Trennung von Form und ursprünglichem Inhalt ebnet dem inflationären Gebrauch und damit der
17. Gombrich, Ernst H., Aby Warburg: Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1992, S. 164. 18. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 172. 19. Handschriftliche Notiz Warburgs: Warburg Institute Manuskript Nr. 102.3.1-2, 102.4. 360
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Sinnentleerung der antiken Ausdrucksgebärde den Weg. Aus den vormals »energetisch aufgeladenen Dynamogrammen« werden »abgeschnürte Dynamogramme«,20 leere und entwertete Zitate. Die vormalige Energie der Bildformel tritt hinter ihren zeichenhaften, sensationsorientierten Gebrauch zurück. »So wie die Elemente des nordischen Stils den Künstler entweder auf den Pfad eines platten, nichtssagenden Realismus [in der Terminologie Warburgs ›alla Francese‹] locken oder ihm dabei helfen können, den wahren Ausdruck des menschlichen Antlitzes zu spiegeln, so kann die Sprache der Antike entweder ein Führer zur Darstellung einer höheren, idealen Sphäre oder eine Versuchung zu lautstarker und theatralischer Hohlheit sein. Wie er die Erbschaft verwendet, die er angetreten hat, ist am Ende allein die Entscheidung des Künstlers.«21 Die Verwendung einer Pathosformel erscheint damit prinzipiell als ambivalent. Neben der ›energetischen Entleerung‹ birgt sie zudem immer auch die Gefahr des Missbrauchs ihrer Bildenergie: die Suggestivkraft des Bildelementes macht die Pathosformel zum willkommenen Gegenstand manipulativer Instrumentalisierung. Mit Tafel 36 seines Atlas führt Warburg ein Beispiel dieser Indienstnahme vor Augen. Die abgebildeten 32 Miniaturen zur Hochzeit des Costanzo Sforza mit Camilla d’Aragona im Jahre 1476 lassen durch den Einzug der griechischen Götterwelt in das Fest auf eine beabsichtigte Adaption göttlicher Macht durch den Fürsten schließen. Der Glaube an antike Schicksalsmächte und die Herbeirufung des Olymps werden mit Hilfe der subtil ins Bild gerückten Pathosformeln transformiert in weltliche Herrscheradoration, die Bildenergie in den Dienst des fürstlichen Machtanspruches gestellt. Warburgs Bilderatlas hält weitere Beispiele für die Instrumentalisierung von Pathosformeln bereit, wenn er klerikale Auftragsarbeiten zitiert, die sich die wirkmächtigen Bildelemente auf neutralisierte, entschärfte Weise und damit als Ventil für heidnisch-sinnliches Aufbegehren aneignen, oder aber wenn er auf französischen Briefmarken seiner Gegenwart jene ›Nympha‹ ausmacht, die als Bacchantin bereits den orgiastischen Zug des Dionysos begleitet hatte.
2.4 Der Denkraum Polarität, Doppelwertigkeit und Wirkmächtigkeit der Pathosformel sind mit einer spezifischen Symboltheorie Warburgs verbunden, die an Friedrich Theodor Vischer erinnert. Wie bei diesem »wird das magische, durch den Glauben wirksame Ding, in dem Erscheinung und Be-
20. Handschriftliche Notiz Warburgs: Warburg Institute Manuskript Nr. 102. 1.4. 21. Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 241. 361
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deutung unauflöslich miteinander verquickt sind, gegen das diskursive, allegorische Zeichen gestellt, das sich rein logisch auf die dahinterliegende Idee bezieht. Zwischen diesen beiden Polen des Naturverbundenen, Dunklen, Halbbewußten und dem freien, aufgeklärten Bewußtsein steht das Symbol.«22 Der Gedanke des ›Dazwischen‹ in Warburgs Verständnis des Symbols wird dabei auch zu Leitmotiv und Programm seiner Kulturwissenschaft. Während nämlich das Zeichen auf etwas anderes verweist und im Bild Bedeutetes und Bedeutung unterschiedslos zusammenfallen, ist die Vereinigung von »bildhafter und zeichenmäßiger Ursachensetzung«23 dem Symbol vorbehalten und Ziel des »Denkraums« innerhalb einer lebendigen Kultur. Um Vereinseitigung zu vermeiden, gilt es, den schmalen Grat zwischen Bild und Zeichen, zwischen Anschauung und Abstraktion, mythischem und logischen Denken als Ideal zu erreichen. Erscheint die Geschichte als »Pendelgang«24 zwischen den Extremen, kommt die Herstellung dieses labilen Gleichgewichts den Pathosformeln zu: als Ausgleichsbewegung greifen die ›energetischen Dynamogramme‹ immer wieder neu in den Gang der Geschichte ein. Auf diese Weise und je nach Maßgabe der historischen Mentalität verstärken die Pathosformeln jeweils die zu kurz kommende Tendenz von »religiöser und mathematischer Weltanschauung«, von »ruhiger Schau oder orgiastischer Hingabe«.25 Dem so verstandenen (Bild-)Gedächtnis »sowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums« kommt daher »Denkraum schaffende« Funktion zu: »Es setzt die unverlierbare Erbmasse mnemisch ein, aber nicht mit primär schützender Tendenz, sondern es greift die volle Wucht der leidenschaftlich-phobischen, im religiösen Mysterium erschütterten gläubigen Persönlichkeit im Kunstwerk mitstilbildend ein, wie andererseits aufzeichnende Wissenschaft das rhythmische Gefüge behält und weitergibt, in dem die Monstra der Phantasie zu zukunftsbestimmenden Lebensführern werden. Um die kritischen Phasen im Verlauf dieses Prozesses durchschauen zu können, hat man sich des Hilfsmittels der Erkenntnis von der polaren Funktion der künstlerischen Gestaltung zwischen einschwingender Phantasie und ausschwingender Vernunft noch nicht im vollen Um-
22. Pochat, Götz, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, S. 177. 23. Warburg, Alternativtitel für das Atlas-Projekt: »Ikonologie des Zwischenraums. Kunsthistorisches Material zu einer Entwicklungsphysiologie des Pendelgangs zwischen bildhafter und zeichenmäßiger Ursachensetzung«, zit. n.: Fliedl/Geissmar, Die Beredsamkeit des Leibes, S. 169; vgl. auch: Warburg Institute MS Nr. III, 12.37 (›Mnemosyne. Grundbegriffe I‹). 24. Ebd. 25. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 171. 362
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fang der durch ihre Dokumente bildhaften Gestaltens möglichen Urkundendeutung bedient.«26 Hinweise auf eine vereinseitigende Akzentverschiebung, auf »kritische Phasen« der Weltgeschichte erkannte Warburg vor allem in den Wendezeiten der Spätantike wie der italienischen Renaissance. So diagnostiziert er in den synkretistischen Verbindungen von altorientalischem Gedankengut mit der klassischen-antiken Welt während des Hellenismus ein Eindringen der »Sphaera barbarica« in die »Sphaera graeca«, den Vormarsch von Sternglaube, Orakelkult und Idolatrie in die zuvor ausgewogene, ›symbolische‹ Kosmologie der Antike. Warburg konstatiert im zunehmenden Hang zur rein ›bildhaften Ursachensetzung‹ eine Tendenz zu magischer Instrumentalisierung und damit »akuten Denkraumverlust« durch Objektverfallenheit: »Fatalismus, der durch Bilder-Orakel die Zukunft zu enträtseln sucht.«27 Die bildliche Darstellung von Sternkonstellationen wie auf einer spätägyptischen Sternwahrsagetafel (Tabula Bianchini, 2. Jh.; Mnemosyne-Atlas Tafel 26) galt nicht länger als Bezeichnung von etwas, sondern wurde als Bild identisch mit dem Bezeichneten. Aus dem vormaligen Orientierungszeichen wurde – einem Zauberwort gleich – ein Werkzeug magischer Praktik, das Universum zum Bestiarium instrumentalisierbarer Kräfte. Waren sowohl »Denkraum« wie »Symbol« definiert durch den paritätischen Ausgleich von Bild- und Zeichenhaftigkeit, gehen beide durch diesen Überhang an Bildlichkeit verloren. Ein historisches Gegenbeispiel, die Tendenz zu reiner Zeichenhaftigkeit, erkennt der Ikonologe im wortausgerichteten Christentum des Mittelalters. Für den Christen haben die Gestirne ihre Macht verloren, die Beobachtung des Himmels als Urbild von »Orientierung« tritt hinter die Auslegung der Schrift zurück.28 Christliche Kunst besteht damit – zugespitzt formuliert – in einer Illustration von Begriffsinhalten, in der stilisierten Veranschaulichung eines Dogmas. Mit der Reduzierung des Bildes auf bloße Zeichenfunktionen geht seine allegorische Erstarrung einher: es wird lesbar. Den Hauptlinien von Warburgs Geschichtsentwurf zufolge setzt nach der spätantiken Bilddominanz und der mittelalterlichen Zeichenorientierung mit der Frührenaissance jene Epoche an, die die »Pendelbewegung« zeitweilig wieder austariert: »Ich glaube, nachdenklichen und geschulten Köpfen nicht die Freude und den Glauben an die
26. Ebd. 27. Warburg, Gedenkrede Franz Boll zum Gedächtnis, 25.04.1925, zit. n.: Koos u.a. (Hrsg.), Begleitmaterial, Tafel 23a. 28. Vgl. Warburg, Aby M., Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, hrsg. v. Uwe Fleckner u.a., Hamburg 1993, S. 242ff. 363
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Verdienste der Frührenaissance zu nehmen, wenn ich zu zeigen versuche, daß die Frührenaissance erst nach einer bewußten und schwierigen Auseinandersetzung mit der spätantiken Tradition (die wir fälschlich die mittelalterliche nennen) den heiteren Götterolymp gleichsam erst entschälen mußte aus scholastischer anschauungsloser Gelehrsamkeit und heraldisch erstarrter astrologischer Bilderschrift.«29 Den Impuls zur Aufsprengung erstarrter Zeichen erkennt er in der Vermittlung antik-griechischer Wissenschaft durch die Araber: die allmähliche Restitution klassischer ›Symbolik‹ vollzieht sich damit durch die neuerliche Berührung mit orientalischem Gedankengut.30 »Eine ins Urreich der heidnischen Religiosität wurzelnde Wiederherstellungssehnsucht kommt hinzu. Waren denn nicht die hellenistischen Sternbilder Symbole eines end-zeitlichen raptus in caelum, wie dementsprechend auch die ovidianischen Märchen, die den Menschen in die Hyle zurückwandeln, den raptus ad infernos versinnbildlichen? Die nur anscheinend rein äußerliche künstlerische Tendenz der Wiederherstellung der gebärdensprachlichen Umrißklarheit führte von selbst, d.h. der inneren Logik der gesprengten Fesseln entsprechend, zu einer Formensprache, die der verschütteten tragischen, stoischen Antike Fatalismus [sic!] angemessen war.«31 Aus einer handschriftlichen Tagebuch-Notiz Warburgs geht hervor, dass er bei den von den Arabern überlieferten, antiken Texten vor allem und an »nichts anderes als (an) ein(en) Nachläufer der antik-hermetischen Literatur«32 dachte. Tatsächlich waren die Hermetica von Marsilio Ficino noch vor den Platonica seit 1463 ins Lateinische übersetzt worden. An einer Stelle eines späteren Tagebuches heißt es: »[A]rabische Vermittlung der hermetischen Tektonik mit Rückschlag in monströsen Fatalismus […] Zurückgewinnung des Denkraumes«.33 Indizien für die damit durch die Aneignung zunächst hermetischer Überlieferungen beginnende Wiederherstellung von »Denkraum«, von Reflexion zwischen Logik und Anschauung macht Warburg nicht nur in neuerlichen Darstellungen mythologischer Gestalten aus,34 sondern
29. Warburg, Vortrag Die antike Götterwelt und die Frührenaissance im Süden und im Norden, zit. n.: Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 252. 30. Vgl. Warburg, Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde, S. 250ff. 31. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 173. 32. Warburg, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. 129, I 1-2 (›Planets and Gods‹). 33. Warburg, Tagebuch 1928, Warburg Institute MS Nr. III, 12.34 (›Mnemosyne/Formulierungen‹). 34. Vgl. Warburg, Aby, Italienische Kunst und internazionale Astrologie im Pa364
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insbesondere auch in der Rückkehr von Pathosformeln, die ihre ›pagane‹ Bildenergie hier in den Dienst von »Denkraum-Gewinnung« stellen. Sie werden zum »Symbol als bildhaft polarisierender Umschalter zwischen Eigenem und Fernen«,35 zum Vermittler zwischen den Kulturen und Zeiten. »Funktion des Symbols: Entfalter zwischen Metamorphose und Kinesis«36 im Geschichtsverlauf mit »Denkraumschöpfung als Kulturfunktion«.37 Als »Energieconserven«38 machen sie das Italien der Frührenaissance zum »Pufferstaat der mystischen und tagwachen Energien«.39 Doch brechen die wirkmächtigen, energetisch aufgeladenen Pathosformeln nicht abrupt in die Welt des ausgehenden Mittelalters ein, sondern zunächst in abgemilderter Form: in Gestalt von Grisaille-Malerei, der Grau-in-Grau-Malerei, wird die Wucht des ungewohnt fordernden Appellcharakters der Bildelemente durch eine in der Art der Darstellung betont gewahrte Distanz gefiltert; sie können als Scheinbilder entlarvt werden. Gombrich spricht hier treffend von den »Anführungszeichen« der Grisaille-Technik.40 Warburg selbst bemerkt: »In Grisaille stehen die Sphinx-monstra überall herum wie (Handgranaten) Spartöpfe des dämonischen Überfallkommandos«.41
2.5 Das engrammatische Gedächtnis Die für Warburgs Thesen zentrale Symboltheorie sei hier durch seinen Schüler Edgar Wind zusammengefasst: »Die kritische Phase liegt in der Mitte, dort, wo das Symbol als Zeichen verstanden wird und dennoch als Bild lebendig bleibt, wo die seelische Erregung, zwischen diesen beiden Polen in Spannung gehalten, weder durch die bindende Kraft der Metapher so sehr konzentriert wird, daß sie sich in Handlung entlädt, noch durch die zerlegende Ordnung des Gedankens so sehr gelöst wird, daß sie sich in Begriffe verflüchtigt. Und eben hier hat das ›Bild‹
lazzo Schifanoja zu Ferrara (1912/1922), in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 31992, S. 173-198. 35. Warburg, Tagebuch 1928, Warburg Institute MS Nr. III, 12.34 (›Mnemosyne/Formulierungen‹). 36. Warburg, Tagebuch 1927, Warburg Institute MS Nr. III, 12.18-21 (›Mnemosyne: [A] Notizen‹). 37. Warburg, Tagebuch 1929, Warburg Institute MS Nr. III, 12.36 (›Bilderwanderungen, Mnemosyne etc.‹). 38. Warburg, Tagebuch 1929, Warburg Institute MS Nr. III, 12.38 (›Mnemosyne. Grundbegriffe II‹). 39. Warburg, Tagebuch 1928/29, Warburg Institute MS Nr. 12.41/102.5. 40. Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 354. 41. Warburg, Tagebuch 1928/29, Warburg Institute MS Nr. 12.41/102.5. 365
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(im Sinne künstlerischen Scheinbildes) seine Stelle.«42 Zwischen Bild und Zeichen, Handlung und Begriff, Ekstase und Besonnenheit, Anschauung und Kognition, Phantasie und Vernunft, Mythos und Wissenschaft konstituiert sich »Denkraum«, in dem Kategorien wie Subjektivität und Objektivität, Aktivität und Passivität ›mytho-logisch‹ bzw. ›ikono-logisch‹ ineinandergreifen. Die »unheimliche Doppelheit« – »von der Antike plastisch präfiguriert«43 – gibt sich als universelles Polaritätsprinzip zu erkennen: »Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein.«44 In dieser »Dialektik des monströsen Symbols« liegt für Warburg auch die »Lösung des Causalitätsrätsels«: Magie erscheint als Bedingung der Möglichkeit von Logik. »Der Kampf mit dem Monstrum als Keimzelle der logischen Konstruktion«45 oder: »Per monstra ad sphaeram«.46 Wie aber wird eine Pathosformel zum »monströsen Symbol«, zum »Monstrum«? Warburg verwendet mit ›Pathos‹ einen Begriff der klassischen Rhetorik und belegt ihn neu: statt auf aristotelische Affekterregung zielt der Ikonologe vielmehr implizit auf die stoische Verbindung von Pathos, Pneuma und Schicksal (Heimarmene). Actio und Passio, Dynamis und Pathos nämlich bestimmen die materialistisch geprägte stoische Ontologie: das Pneuma durchzieht alles Seiende als ›warmer Hauch‹ und garantiert auf diese Weise die einheitliche Qualifizierung des Stofflichen, den Erhalt des gesetzmäßigen Weltlaufs unter der Leitung der Vorsehung (Pronoia). Das Gesetz der Heimarmene wird als zyklische Wiederkehr von Auflösung und Wiederherstellung aufgefasst. Vor dem Hintergrund von Warburgs Lehre der Pathosformeln hat es daher den Anschein, als rekurrierte er mit seiner These vom »Nachleben der Antike« nicht nur auf Nietzsche, den er in seiner Einleitung zum Mnemosyne-Atlas zitiert, sondern – dem Gegenstand gemäß – auch auf die Stoa. Wie das stoische Schicksal bilden nämlich auch die Pathosformeln ein kontinuierliches Band der Geschehnisse, in
42. Wind, Edgar, Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik (1931), in: Ekkehard Kaemmerling (Hrsg.), Bildende Kunst als Zeichensystem 1: Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme, 4. Aufl., Köln 1987, S. 165-184, hier S. 174f. 43. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 171. An anderer Stelle spricht Warburg auch von »Praefiguratio Mnemonica«, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. III, 12.37 (›Mnemosyne. Grundbegriffe I‹). 44. Warburg, zit. n.: Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 293. 45. Warburg, Tagebuchnotiz, Warburg Institute MS Nr. 102 (›Mnemosyne I, Grundbegriffe – Copies of notebooks‹). 46. Warburg, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. III, 12.37 (›Mnemosyne. Grundbegriffe I‹). 366
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ihrer »zweifachen Funktion« einen »immanenten Dynamismus«.47 Warburg selbst hat die Verbindung zwischen Pathos und Pneuma, zwischen menschlichem Affekt und Weltvernunft angedeutet: »Kosmisches Pneuma erscheint als orgiastisch subjektive Gestikulation«/ »Kosmisches Pneuma in menschlichem Pathos«.48 In der Ausdrucksgebärde der Pathosformel wird Warburg zufolge unsichtbares Pneuma in seiner Wirkung sichtbar und entfaltet über die Sichtbarkeit neue Wirkkraft. Sollte sich im ›Formel‹-Charakter der Pathosformeln jene stoisch geprägte, fatalistische Determination andeuten? »Vom Bild zum Zeichen – Kreislauf?«49 An Warburgs Auffassung einer zyklischen Wiederkehr des Geschichtsverlaufes kann kein Zweifel bestehen, wenn er mit den Pathosformeln wiederkehrende Bildelemente vorstellt, die in ihrem spezifischen Ausdruck einerseits als seismographische Indikatoren des mentalen Klimas einer Epoche,50 andererseits in ihrer affektiven Wirkmächtigkeit auch als geschichtstreibende Kräfte verstanden werden. Der Symptomcharakter der »energetischen Schicksalshieroglyphen«51 gereicht dem Ikonologen allenfalls zur »Wissenschaft als Prophetie«52, zur Vorausberechnung zukünftiger Entwicklung aufgrund des Pathosformel-Befundes der Gegenwart. Die Annahme magisch aktiver Bildformen setzt dabei den Glauben an ein alles durchwaltendes Weltprinzip voraus: Warburg ersetzt den stoischen Logos-Begriff als durchgängiges Einheitsprinzip durch den des »Kollektivgedächtnisses«53, das »die unverlierbare Erbmasse mnemisch ein[setzt]« und immer wieder neu zur »Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte« zwingt.54 Auch
47. Warburg, Tagebuch 1928, Warburg Institute MS Nr. III, 12.31 (›Pathos, Pneuma, Polarität‹). 48. Ebd. 49. Warburg, Tagebuchnotiz, Warburg Institute MS Nr. III, 12.37 (›Mnemosyne. Grundbegriffe I‹). 50. »Die Abweichungen der Wiedergabe, im Spiegel der Zeit erschaut, geben die bewußt oder unbewußt auswählende Tendenz des Zeitalters wieder und damit kommt die wunschbildende, idealsetzende Gesamtseele an das Tageslicht, die, im Kreislauf von Konkretion und Abstraktion und zurück, Zeugnis für jene Kämpfe ablegt, die der Mensch um die Sophrosyne zu führen hat.« Warburg, zit. n.: Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 359. 51. Warburg, Tagebuchnotiz, Warburg Institute MS Nr. III, 12.36 (›Bilderwanderungen, Mnemosyne etc.‹). 52. Warburg, Tagebuchnotiz, Warburg Institute MS Nr. III, 12.37 (›Mnemosyne. Grundbegriffe I‹). 53. Warburg, zit. n.: Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 359. 54. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 171. 367
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die Theorie der »Mneme« und »Engramme« lässt sich dabei auf Philosopheme der stoischen Erkenntnislehre zurückführen: da die Seele hier als leere Tafel gedacht wird, bedarf es in einem rein rezeptiven Akt einer Affektion der Sinne, die im Kontext der materialistischen Disposition stoischer Ontologie als Abdruck in der Seele (TyposisLehre) vorgestellt wird. Der Kunsthistoriker wird zum Seelenforscher, der Kleanthes verinnerlicht zu haben scheint, wenn er schreibt: »Das Erbbewußtsein von maximalen seelischen Eindrucksstempeln (Engramm) führt diese ohne Ansehung der Richtung der Gefühlsbetontheit qua energetisches Spannungserlebnis weiter«.55 Die zur Zeit der Antike geprägte ›Tabula rasa‹ wird zum »Leidschatz der Menschheit«56, zur anthropologischen Konstante. Gedächtnis im warburgschen Sinne steht damit nicht primär im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des Vergangenen, sondern richtet sich auf die synchrone Zusammenschau des Diachronen und Auseinanderliegenden, auf Vergegenwärtigung des universellen Polaritätsprinzips: dieses offenbart sich im historischen Prozess, hat aber überzeitliche Gültigkeit. Intersubjektive Erinnerung als Weltvernunft, als hypostasierte Klammer zwischen den Gegensätzen – nicht von ungefähr trägt sie bei Warburg mythische Züge, wenn er sie als Göttin »Mnemosyne« geradezu beschwörend zur Schutzpatronin sowohl seines umfangreichen letzten BilderreihenProjektes wie auch – in Stein gemeißelt über dem Türsturz – seiner Forschungsstätte, der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (»KBW«) macht, auf dass sich ihr Einfluss auf den Erforscher ihrer Spuren verstärke.57
3. Zeit, Geschichte und Kultur in Warburgs Ikonologie Als universelle Ausdrucksformen menschlicher Leidenschaften mit appellativer Wirkung sind die Pathosformeln nicht mit anderen suggestiv-einprägsamen Bildern zu verwechseln. Vielmehr setzen sie ei-
55. Handschriftliche Tagebuchnotiz Warburgs von 1929. 56. Warburg, Vortrag über Mediceische Feste, Hamburg, Handelskammer, 14. April 1928; Notizen und Vortragstext in Notizheft: »Handelskammer«. 57. Die Göttin Mnemosyne, Mutter der Musen, hatte auch in den antiken Mysterien eine zentrale Rolle beim Initiationsritus inne: »‘Erwecke in den Mysten die Erinnerung an die heilige Weihe‘, beten die orphischen Mysten zu Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, offensichtlich in anderer Erwartung: Die Weihe sollte ein Erlebnis sein, das auf das ganze weitere Leben ausstrahlt, Erfahrung, die die Existenz verwandelt. Daß die Teilnahme an den Mysterien eine besondere Art von Erleben sei, daß ein pathos in der Seele des Initianden bewirkt werde, wird in den antiken Texten mehrfach hervorgehoben.« Burkert, Walter, Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München 1990, S. 75. 368
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nen ganzen Kanon an zeit- und bildtheoretischen Prämissen voraus, die im Folgenden unter eher systematischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die komplexen Grundlagen der Idee der Pathosformel münden daher nicht von ungefähr in den Entwurf einer Kulturwissenschaft, der ›Ikonologie‹, wie abschließend zu zeigen sein wird. Pathosformeln erschienen als »energetisch aufgeladene Dynamogramme«, die als ins Bild gesetzte Bewegungsgebärden in der griechischen Antike vorgeprägt wurden und – einmal in die Welt gesetzt – als »unverlierbare Erbmasse« zum »kulturellen Gedächtnis« avancierten, um jenseits einer spezifischen Inhaltlichkeit andere Zeiten und Kulturen stetig zu polarisieren. »Das antikische Dynamogramm wird in maximaler Spannung aber unpolarisiert in Bezug auf die passive oder aktive Energetik an das Nachfühlende überliefert. Erst der Contakt mit der Zeit bewirkt die Polarisation – diese kann zur radikalen Umkehr (Inversion) des echten antiken Sinnes führen«.58 Das, was die Pathosformel damit erst zur sichtbaren und erkennbaren ›Formel‹ macht, ihre energetische Aufgeladenheit und Suggestivkraft, entsteht gerade erst durch ihre zeitliche Bedingtheit. Doch hat sich der Bezug der Pathosformeln auf Zeit seit ihrer historischen, antiken Prägung gewandelt zu einer metahistorischen Struktur, die in ihrer unterstellten Formelhaftigkeit nicht nur überzeitliche, sondern in ihrer Referenz auf Mnemosyne auch mythische Züge trägt. Wenngleich Pathosformeln als Reaktion auf die spezifische Zeiterfahrung in der Antike entstehen, orientieren die nunmehr zu anthropologischen Konstanten gewordenen Bilder ihrerseits in der Zeit; sie werden zu Katalysatoren des Geschichtsprozesses. Zeiterfahrung und Sinnbildung sind demnach im Sinnkonzept der Pathosformel unauflöslich ineinander verschränkt. Als Ausdruckselemente entspringen sie den Ur-Erfahrungen von Kontingenz, zu denen nicht nur die negative Dimension der Trauer, des Scheiterns und der Vergänglichkeit zu zählen ist, sondern auch positive Konnotationen wie Triumph, Sieg und Glück. Die Pathosformeln reflektieren diese Grundunterscheidung innerhalb von Kontingenz-Erfahrung in ihrem »gegensätzlichen Umfang humaner Ergriffenheit vom Lebenstriumph bis zur Totenklage«, in ihrem Gründen in der »olympischen Antike« bzw. in der »dämonischen Antike«. Allgemein menschliche leidenschaftlich-leidvolle Erfahrungen bewirken den bildlichen Ausdruck als Kompensationsleistung, der als Pathosformel seinerseits affiziert und dynamisiert. Indem Pathosformeln damit prinzipiell auf die menschlichen Affekte rekurrieren, ist der Modus ihrer Sinnhaftigkeit gemäß Ricœur auf der Ebene des operativen Sinnes auszumachen. Ihr Sinnkriterium ist Dynamisierung und Polarisierung, nicht aber linearer
58. Warburg, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. 12.29 (102.1.4). 369
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Fortschritt, etwa von der mythischen zur rationalen Welterfassung oder vom Bild zum Zeichen. Pathosformeln bewirken und indizieren zyklisch wiederkehrende Konfrontationen zwischen Denkkraft und Dämonenfurcht, zwischen Logos und Mythos, Abstraktion und Aberglaube, die sich Warburg zufolge in jeder Epoche widerspiegeln. »Die Epoche, wo Logik und Magie wie Tropus und Metapher (nach Worten Jean Pauls), auf einem Stamme geimpfet blühten‘, ist eigentlich zeitlos«.59 Im Rahmen einer Typologisierung müsste man daher von einer Verbindung von mythischem und historischem Zeitsinn sprechen. Die Formel der Pathosformel ist das Gesetz der Wiederholung: »Athen will eben immer wieder aus Alexandria zurückerobert sein.« In dieser Zirkelstruktur kann auch die Vergangenheit nicht abgeschlossen sein, sondern lebt im »Leidschatz der Menschheit« als »Collectiv-Gedächtnis« fort. Mit dem aktuellen Auftauchen einer Pathosformel, ließe sich formulieren, kommen damit für den Moment ihrer Erfahrung Vergangenheit und Gegenwart zu einer überzeitlichen Deckung. Dabei sind die verschiedenen Zeitschichten auf der inhaltlichen Ebene zum einen an das anthropologische und psychologische Humanum gebunden, auf der formalen Ebene verweisen sie zum anderen auf den zeitspezifischen Ausdruck. »Man darf der Antike die Frage ›klassisch ruhig‹ oder ›dämonisch erregt‹ nicht mir der Räuberpistole des Entweder-Oder auf die Brust setzen. Es hängt eben vom subjektiven Charakter der Nachlebenden, nicht vom objektiven Bestand der antiken Erbmasse ab, ob wir zu leidenschaftlicher Tat angeregt, oder zu abgeklärter Weisheit beruhigt werden. Jede Epoche hat die Renaissance der Antike, die sie verdient.«60 Im bildlichen Ausdruck fallen die Zeitdimensionen von Vergangenheit und Gegenwart, von chronologischer und mythischer Zeit zusammen. Selbst die Zukunft ist bereits inhäriert: wenn nämlich Geschichte als stetige »Pendelbewegung« zwischen den Polen aufgefasst wird, dann wird mit der Feststellung des gegenwärtigen Pendelausschlags auch ein Rückschluss auf das Zukünftige möglich. Entgegen einer einlinig-evolutionistischen Geschichtsauffassung erkennt Warburg neben dem historischen Prozess immer auch das Bleibende im Wechsel: das kollektive Bildgedächtnis der Pathosformeln. Die »Erkenntnis von der Polarisierung und der Polarität der Antike«61 fließt auf diese Weise ein in ein polares Geschichtsmodell. Die universelle polare
59. Warburg, Aby, Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Bibliothek Warburg, Leipzig, Berlin 1932, S. 491f. 60. Warburg, Vortrag über Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts im Mai 1926, zit. n.: Koos u.a.(Hrsg.), Begleitmaterial, Tafel 72. 61. Ebd. 370
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Struktur, die für Warburg ›Antike‹ bezeichnet, findet für ihn in der Form einer Ellipse eine geometrische Entsprechung. Nicht von ungefähr hat er den Lesesaal seiner Bibliothek als Ellipsoid, als runde Form mit zwei Mittelpunkten angeordnet. Die symbolische Form eines polaren Spannungsgefüges wiederholte sich auch im Oberlicht. Vor dem Hintergrund von Warburgs umfassenden Polaritätsmodell erscheint auch Kultur im allgemeinen als Schauplatz und Austragungsort des immer neu auszutarierenden Verhältnisses der beiden gegensätzlichen Pole. Geht doch Kultur auf das »kulturelle Gedächtnis« zurück, ist sie von daher immer schon eingebunden in den Kreislauf der Pathosformeln. Kulturschaffend zu sein bedeutet vor diesem Hintergrund, die anthropologischen Konstanten neuartig ins Bild zu setzen. »Wie er die Erbschaft verwendet, die er angetreten hat, ist am Ende allein die Entscheidung des Künstlers.« Ziel von Kultur kann so verstanden immer nur der »Denkraum der Besonnenheit« sein, die ideale, aber flüchtige Mitte zwischen den Gegensätzen. »Denkraumschaffung als Kulturfunktion.« Dem »Denkraumverlust« folgt auf diese Weise notwendig seine »Zurückgewinnung« und vice versa. Kulturleistung ist damit nach Warburg nicht nur prinzipiell gerichtet, sondern immer auch handlungstheoretisch orientiert. Da das phobisch geprägte, »kollektive Gedächtnis« die Matrix von Kultur bildet, gehen die Ursprünge von Kultur auf die Bannung des Flüchtigen im bewegten Augenblick, auf Angstbewältigung zurück. Die psychologische Dimension von Kultur, die hier durchscheint, geht mit einer eigentümlichen Verquickung von Fatalismus und Freiheit einher, wenn mit dem Konzept der Pathosformeln sowohl die schicksalhafte Unterwerfung unter die Zeit angezeigt ist wie gleichzeitig auch ihre reflektierende Beherrschbarkeit. Da das heilsame Gift der polyvalenten Bilder richtig dosiert werden muss, ist Aufklärung über die adäquate Aktivierung des kollektiven Bildgedächtnisses notwendig. An dieser Stelle kommt der Kulturwissenschaft, Warburgs ›Ikonologie‹, ein aufklärerischer, geradezu therapeutischer Impuls zu. Denn nur ihre Deutung vermag die Gefahren der affektiven Bilder zu bannen, die der Mensch als gleichzeitig magischem wie reflektiertem Wesen ausgesetzt ist. Kulturwissenschaft als »Bildwissenschaft« bedeutet vor diesem Hintergrund nichts geringeres, als dem Verhältnis des Menschen zu sich und dem Weltganzen nachzuspüren, indem die Gleichzeitigkeit von Ausdruck, Zügelung und Entfesselung von Leidenschaften ausgelotet wird. Warburgs anthropologischer Ansatz spiegelt sich in der ungeheuren Vielfalt von Kunstwerken, Dokumenten, Flugzetteln und Briefmarken aus unterschiedlichsten Epochen und Kulturen, die als gleichberechtigte Bildwerke in ungeahnten Serien, Nachbarschaften und Gegenüberstellungen Aufnahme in seinen Mnemo-
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syne-Atlas gefunden haben. Es ist damit die »Ikonologie des Zwischenraums«, auf die das Sinnkonzept Pathosformel als ihr zentrales Leitmotiv zuläuft. Modern erscheint sein Umgang mit der Kunst nicht als ästhetische Norm, sondern als soziales Gedächtnis, und geradezu aktuell mutet seine »Bildwissenschaft« an, die er energisch gegen die klassische Kunstgeschichte abgrenzt. Das Bild als Bild gerät zum Schmelztiegel des Kulturprozesses. Vor dem Hintergrund dieser existenziellen Einschätzung von Werken der Kunst wie von Bildwerken im allgemeinen wird Warburgs »aufrichtiger Ekel« vor einer »ästhetisierenden Kunstgeschichte« verständlich: »Die formale Betrachtung des Bildes – unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion und Kunstausübung […] schien mir ein steriles Wortgeschäft hervorzurufen«.62 Vielmehr sucht der Ikonologe unter der Oberfläche der formalen Erscheinungen nach den zugrundeliegenden Prinzipien der Phänomene: »Hedonistische Ästheten gewinnen die wohlfeile Zustimmung des kunstgenießenden Publikums, wenn sie solchen Formenwechsel aus der Pläsierlichkeit der dekorativen größeren Linie erklären. Mag wer will sich mit einer Flora der wohlriechenden und schönsten Pflanzen begnügen, eine Pflanzenphysiologie des Kreislaufs und des Säftesteigens kann sich aus ihr nicht entwickeln, denn diese erschließt sich nur dem, der das Leben im unteridischen Wurzelwerk untersucht.«63 Warburg wertet die rein formale, beschreibende Kunstwissenschaft daher als »unzulängliche deskriptive Evolutionslehre, wenn nicht gleichzeitig der Versuch gewagt wird, in die Tiefe triebhafter Verflochtenheit des menschlichen Geistes mit der achronologisch geschichteten Materie hinabzusteigen.«64 Die Geschichtlichkeit der Ereignisse und ihrer Ausdrucksformen verbindet sich in diesem Verständnis mit überzeitlichen, anthropologischen Konstanten, so dass »in der kulturwissenschaftlichen Darstellung solcher Polarität […] bisher ungehobene Erkenntniswerte zu einer vertieften positiven Kritik einer Geschichtsschreibung, deren Entwicklungslehre rein zeitbegrifflich bedingt ist«65, erkannt werden. Das Konzept einer »Ikonologie«, die sich auf den »Zwischenraum«66 von Geschichtlichkeit und Ahistorizität, Kunstge-
62. Warburg 1923, zit. n.: Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 118. 63. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 171. 64. Ebd., S. 172. 65. Warburg, Gesammelte Schriften (1932), S. 491f. 66. Warburg, Alternativtitel für das Atlas-Projekt: »Ikonologie des Zwischenraums. Kunsthistorisches Material zu einer Entwicklungsphysiologie des Pendelgangs zwischen bildhafter und zeichenmäßiger Ursachensetzung«, zit. n.: Fliedl/Geissmar, Die Beredsamkeit des Leibes, S. 169; vgl. auch: Warburg Institute MS Nr. III, 12.37 (›Mnemosyne. Grundbegriffe I‹). 372
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schichte und Bildhermeneutik, von »Logik und Magie«, »Antrieb und Handlung«67 verlegt, macht »Kunstgeschichte [zur] Quelle für die Geistesgeschichte«68. Sie mündet in ein »Plaidoyer […] zugunsten einer methodischen Grenzerweiterung unserer Kunstwissenschaft in stofflicher und räumlicher Beziehung«, in das Postulat einer »ikonologischen Analyse, die sich durch grenzpolizeiliche Befangenheit weder davon abschrecken läßt, Antike, Mittelalter und Neuzeit als zusammenhängende Epoche anzusehen, noch davon, die Werke freiester und angewandtester Kunst als gleichberechtigte Dokumente des Ausdrucks zu befragen, daß diese Methode, indem sie sorgfältig sich um die Aufhellung einer einzelnen Dunkelheit bemüht, die großen allgemeinen Entwicklungsvorgänge in ihrem Zusammenhange beleuchtet.«69 Unter den Augen des Ikonologen, der »als Psychohistoriker des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzuleiten versuch[t]«70, wird Kunstgeschichte zur Bildwissenschaft. Eine Wissenschaft, die dem ›Nachleben‹ wirkmächtiger Pathosformeln nachspürt und auf diese Weise einer »Magie« ausgesetzt ist, »die bisher unbekannte Gesetze des Ablaufs offenbart, wenn man ihr mit dem Rüstzeug der historischen Verflechtung von Wort, Bild und Handlung gegenübertritt.«71 Bildhistoriker wie Künstler72 werden im Vollzug zu ›Magiern‹, die mit energetischen Materialien umgehen. Beiden wird eine »Doppelheit zwischen antichaotischer Funktion […] und der augenmäßig […] erforderten, kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon« abverlangt – »Verlegenheiten des geistigen Menschen, die das eigentliche Objekt einer Kulturwissenschaft bilden müßten, die sich illustrierte psychologische Geschichte des Zwischenraums zwischen Antrieb und Handlung zum Gegenstand erwählt hätte.«73 Eikon und Logos, sinnliche Anschauung und reflektierende Wissenschaft, Ästhetik und Geschichte – in Warburgs Ikono-Logik verschmel-
67. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, S. 171. 68. Warburg, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. 69.7 (›Notes and drafts: Energy, Antiquity, Christianity, Individuality‹). 69. Warburg, Gesammelte Schriften (1932), S. 478f. 70. Warburg, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. 102 (Copies of notebooks: ›Mnemosyne I, Grundbegriffe‹). 71. Warburg 1928, Vortrag in der Handelskammer, zit. n.: Koos u.a. (Hrsg.), Begleitmaterial, Tafel 79. 72. »Der überpersönliche Zwang mag für den Durchschnittskünstler eine untragbare Belastung bedeuten, für das Genie bedeutet diese Auseinandersetzung einen Akt geheimnisvoller antheischer Magie, die den Neuprägungen erst die hinreißende Überzeugungskraft verleiht [….]«, Warburg über Eduard Manet, zit. n.: Gombrich, Eine intellektuelle Biographie, S. 364. 73. Warburg, Einleitung, S. 171. 373
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zen die Erkenntnisarten programmatisch. Bedingung der Möglichkeit von Reflexion als »Entdämonisierungsprozeß«74 aber bleibt »das Wunderwerk des normalen Menschenauges«, in dem »gleiche seelische Schwingungen lebendig [bleiben]«.75 »Heidnische Objektverfallenheit« wird zum Ausgangspunkt für aufgeklärtes Bewusstsein: »Säcularisierung der heidnischen Dämonie über die Melancholie zur Naturbeobachtung: fürchten – messen – schauen«.76 Aby Warburgs transhistorischer Entwurf von Kulturwissenschaft widersetzt sich explizit und faktisch einer Verharmlosung von Bildern als Grundlage von Kultur als solcher. Neben den aufgeführten Möglichkeiten einer Ikonologie im warburgschen Sinne jedoch stellt sich die Frage nach den Grenzen einer auf diese Weise auf Bildkultur hin ausgerichteten Kulturwissenschaft. Trotz der Aktualität der Erforschung von Bildwirkungen nämlich ist es erstaunlich, dass Warburg bei seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses ausschließlich auf Bilder im eigentlichen Sinne, d.h. Kunstwerke, Druckwerke oder Photographien, rekurriert. Insofern dem Sinnkonzept ›Pathosformel‹ damit nur ein Medium zu Grunde liegt, bleibt es vor dem Hintergrund einer Kulturwissenschaft notwendig medial begrenzt. Sämtliche textorientierten Kulturleistungen bleiben damit ausgeklammert, obwohl Warburg bei seiner ikonologischen Erforschung von Bildmacht programmatisch gerade auch auf textliche Überlieferungen zurückgreift. Neben der Determinierung des »Kollektiv-Gedächtnisses« auf rein bildliche Ausdrucksformen ist im Rahmen einer Kritik des Bildbegriffes auch die Plausibilisierung der perpetuierenden Pathosformel zu hinterfragen. Um die »Stationen« der »wandernden antiken Superlative« festmachen zu können, hat Warburg eine Typologie der Pathosformeln entworfen (Typus ›Nympha‹, ›Mänade‹ u.a.), denen jeweils spezifische Leidenschaften und Zuständlichkeiten zugeordnet werden. Erst auf diese Weise wurde es möglich, die Bewegungsgebärde einer eilenden jungen Frau mit flatternden Haaren nicht nur auf einem antiken Sarkophag als Symbol für Befreiung und Emanzipation zu identifizieren, sondern ebenso auch auf einem zeitgenössischen Plakat, das für das Golfspielen wirbt. Die nur vage Spezifizierung des Ausdruckstypus als Vergleichsmaßstab mag den Vorwurf der Beliebigkeit vindizieren. Einer so im Ansatz unterstellten ›Sinnlosigkeit‹ des Sinnkonzeptes begegnet die Inklusionsstrategie der Pathosformel: da Sinninversion nicht nur prinzipiell als möglich vorgestellt wird, sondern der Pathosformel sogar charakterisierend beigelegt ist, erscheint die Annahme von Sinnlosigkeit von vornherein selbst als sinnlos. Der
74. Ebd. 75. Ebd., S. 173. 76. Warburg, Tagebuch, Warburg Institute MS Nr. 12.37 (102.3.1-2, 102.4). 374
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konzeptionelle Einschluss des Gegenteils jedoch vermag mögliche Einwände der Stichhaltigkeit und Eindeutigkeit nicht zu entkräften. Im Rahmen einer kontextgeschichtlichen Analyse, der Warburg mit seiner Ikonologie zweifelsohne den Weg bereitet hat, erscheint zudem die weitgehende Ablösung von den historischen Bedingtheiten als zweifelhaft. Kann es ein überzeitlich-mythisches Gedächtnis, das dem Kulturprozess Warburg zufolge zu Grunde liegt, überhaupt geben oder sind nicht vielmehr sämtliche Ausdrucksleistungen des Menschen notwendig historisch konnotiert? Weitere Bedenken, die sich in diesen Fragehorizont einreihen, zielen auf den durch die Theorie der »gedächtnismäßig aufbewahrten Ausdruckswerte« determinierten Kunstbegriff. Lässt sich Kunstproduktion, wenn Warburg von der Notwendigkeit des Umgangs mit der »Erbschaft« spricht, tatsächlich nur auf die Art und Weise der Umsetzung »vorgeprägter Ausdruckswerte« reduzieren? In eine kritische Betrachtung von Ikonologie im warburgschen Sinne müsste zudem die Frage nach ihrer Geltung und Tragweite einfließen. Da Warburg mit seinen Pathosformeln die Grundlagen des »Leidschatzes der Menschheit« reklamiert, ist die Frage zwingend, wie diese Vorprägung ausgerechnet in der klassischen Antike Griechenlands stattgefunden haben kann und nicht vielmehr zu den Anfängen der Menschheit in Afrika. Wenngleich der Hamburger Kulturhistoriker bereits mit seinem Vortrag »Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika«77 aus dem Jahre 1923 den außereuropäischen Kulturleistungen auf der Spur war, erstaunt der weitgehende Ausschluss nichteuropäischer Kulturen in seinem Ikonologie-Konzept. Ohne den Bildhistoriker mit den Errungenschaften der Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts messen zu wollen, erstaunt dennoch der fortgesetzt eurozentrische Blick, der das Fremde der anderen Kultur bestenfalls als tradierte Pathosformel in die eigene Kultur inkludiert und auf diese Weise in seiner Fremdheit aufzuheben scheint. Obwohl Warburgs Ikonologie durch die nur begrenzte Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen wie auch durch das Ideal der Antike, das es – in besonderer Hinsicht – zurückzuerobern gilt, oberflächlich an den bürgerlichen Zeitgeist erinnert, dominieren die innovativen Elemente seines Entwurfes, mit denen der Kulturwissenschaftler und Humanist seit Begründung der neuen universitären Disziplin bis heute eine Vorreiterrolle einnimmt und zum Modellfall einer heterogenen Rezeptionsgeschichte geworden ist. Nicht zuletzt der eigenwillige Zeit- und Geschichtsbegriff hat dazu beigetragen.
77. Warburg, Aby M., Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1988. 375
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REPRÄSENTATIONEN
Industriekultur als Geschichte. Zu einer visuellen Rhetorik historischer Zeiten Heinrich Theodor Grütter
1. Geschichte als Erzählung Unser Verhältnis zur Zeit ist grundlegend geprägt durch die beiden Faktoren der Erfahrung und der Erwartung.1 Die Erwartungen an die Zukunft basieren auf den in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen, oder anders herum gesagt: Die Planung der Zukunft bedarf der Erinnerung an die in der Vergangenheit gewonnenen Erfahrungen. Dieses komplexe Wechselspiel hat Jörn Rüsen definiert als alle diejenigen »kulturellen Praktiken, durch die Menschen ihre Vergangenheit deuten, um ihre Gegenwart verstehen und Zukunft erwarten zu können. Auf eine Formel gebracht, lässt sich sagen: Geschichte ist Sinnbildung über Zeiterfahrung«.2 Spätestens seit dem ›linguistic turn‹ in den Kulturwissenschaften ab den 1970er Jahren wird dieser Akt der Sinnbildung über Zeiterfahrung als kommunikativer Prozess identifiziert, der auf der narrativen Struktur des historischen Denkens basiert.3 Erst in der Erzählung formieren sich die Erinnerungen an die Erfahrungen der Vergangenheit zu einer Geschichte, die Bedeutung für die Lebenspraxis der Gegenwart hat und damit Chancen für eine Perspektivierung der Zukunft
1. Auf die Bedeutung der Kategorien »Erfahrung« und »Erwartung« für das historische Denken hat vor allem Reinhart Koselleck aufmerksam gemacht: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2000, S. 349-375. 2. Rüsen, Jörn, Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003, S. 110; vgl. grundlegend ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt am Main 1990. 3. Vgl. vor allem Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988-91 und Rüsen, Jörn, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 43f. mit der geschichtstheoretischen Diskussion. 376
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
bietet.4 Dabei besteht zwischen der persönlichen lebensgeschichtlichen und der historischen Erzählung kein grundlegender Unterschied.5 Vielmehr geht die vor allem auf persönlichen Erinnerungen basierende biografische Erzählung immer schon der historischen, die kollektive Erinnerung repräsentierende, Erzählung voraus und ist auf vielfältige Weise in sie verwoben.6 Solange dieser Prozess gruppenbezogen bleibt und über die gemeinsame Erfahrung dieser Gruppe zeitlich wie räumlich nicht hinausgeht, erfolgt er in Form der Alltagskommunikation ohne weitere mediale Unterstützung.7 Er umfasst den lebensgeschichtlichen Erinnerungsbestand, den etwa die oral history erfasst. In dem Augenblick jedoch, in dem die Erinnerung diesen räumlichen und zeitlichen Rahmen verlässt, in dem nach Jan Assmann das lebensweltliche kommunikative Gedächtnis in das zeitlich weiter zurückreichende und weitere Teile einer Gesellschaft erfassende kulturelle Gedächtnis übertritt, bedarf es automatisch der kulturellen Formgebung.8 Das sind beileibe nicht nur Texte, sondern Bilder, Riten, Gebräuche, Bauwerke, Denkmäler und andere materielle und immaterielle Hinterlassenschaften, die Pierre
4. Auf den komplexen Zusammenhang zwischen dem konstruktivistischen Charakter der Narrativitätstheorie und dem objektivistischen Anspruch der Geschichtswissenschaft kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu zuletzt Rüsen, Jörn, Geschichte im Kulturprozess, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 100ff. 5. Vgl. dazu Straub, Jürgen, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz. Zeit- und erzähltheoretische Grundlagen einer Psychologie biographischer und historischer Sinnbildung, in: Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtsbewusstsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 15-44. 6. Harald Welzer macht sehr plausibel darauf aufmerksam, dass auch die lebensgeschichtlichen Erinnerungen nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen, sondern oft und häufig unbewusst aus anderen Quellen, etwa aus Büchern, Filmen und Erzählungen in die eigene Lebensgeschichte implantiert werden: Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002, S. 12 und S. 138-192. 7. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die alltägliche lebensweltliche Erzählung nicht eine bestimmte Sprachform annehmen muss, um ihre Orientierungsfunktion zu erfüllen und damit erst zur Sinnbildung über Zeiterfahrung zu werden. Vgl. dazu Straub, Jürgen, Über das Bilden von Vergangenheit. Erzähltheoretische Überlegungen und eine exemplarische Analyse eines Gruppengesprächs über die »NS-Zeit«, in: Rüsen, Geschichtsbewußtsein, S. 45-113. 8. Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./ Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19, hier S. 12. 377
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REPRÄSENTATIONEN
Norá als »Erinnerungs«- oder besser »Gedächtnisorte« identifiziert hat.9 Wie Assmann gezeigt hat, basierte diese kollektive Erinnerung oder Zeitvorstellung schon in den antiken Hochkulturen10, dann aber vor allem in der Neuzeit auf der Schrift. Aber auch die Antike kannte neben der Schriftlichkeit einen immensen Reichtum an Bildern, Ritualen und Symbolen, die mit dem Zurücktreten der Schrift im Mittelalter noch wichtiger wurden. Und auch die Neuzeit und vor allem die Gegenwart ist ja komplementär zum hohen Grad an Schriftlichkeit geprägt durch die Allgegenwart von visuellen Zeichen – und dies nicht nur durch die neuen Bildspeicher des industriellen und postindustriellen Zeitalters wie die Fotografie, den Film, das Fernsehen und die digitalen Medien. Die Bilderflut, in der wir uns befinden, ist vielmehr so erdrückend, dass in den letzten Jahren immer wieder das Ende des schriftlichen und der Beginn des elektronischen Zeitalters angekündigt wurde.11 Insofern vermitteln sich die Zeit und der ihr inhärente Sinn auch in der modernen Gesellschaft nicht unerheblich in visuellen Formen, und es stellt sich die Frage, ob die visuelle Darstellung der Vergangenheit nicht analog zur schriftlichen, also der Geschichtsschreibung, eine bestimmte Formung, eine rhetorische Figur annehmen muss, damit sie kommunizierbar und damit identitätskonkret werden kann.12 Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, jedoch nicht ohne vorher kurz die dazu nötigen Voraussetzungen der Überlieferung zu betrachten.
2. Kulturelle Überlieferung Kollektive, das heißt intersubjektiv deutbare und verbindliche Erinnerungsoperationen sind ohne Symbole nicht denkbar; sie brauchen die
9. Norá, Pierre, Les Lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984-92; ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990. 10. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997. 11. Zu der damit verbundenen Herausforderung für das historische Denken und die Geschichtswissenschaft: d’Haenens, Albert, Eine neue Kultur begründen! – Gefahren und Chancen an der Schwelle des elektronischen Zeitalters, in: Jörn Rüsen/Wolfgang Ernst/Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Pfaffenweiler 1988, S. 94-96. 12. Grundlegende Gedanken »Über die Sichtbarkeit der Geschichte« formuliert Jörn Rüsen in: Zerbrechende Zeit, S. 107-129; vgl. ders., Die Rhetorik des Historischen, in: Michael Fehr/Stefan Grohé (Hrsg.), Geschichte, Bild, Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 113-126. 378
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
schon von Aby Warburg konstatierte »mnemische Energie« der Relikte der Vergangenheit, deren Sinngehalt sich in der Begegnung mit ihnen wieder erschließt.13 Kollektive Erinnerung und kulturelle Überlieferung stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Die Vergangenheit vermittelt sich, wie Gottfried Korff sagt, nur in kulturellen Formen. Das soziale Gedächtnis ist immer ein Bildergedächtnis, oder umgekehrt: Kultur ist ein soziales Erinnerungsorgan.14 Wie sind diese Objektivationen kultureller Erfahrung beschaffen, auf welche Vergangenheit verweisen sie und welchen Sinn transportieren sie? Krzysztof Pomian unterscheidet die materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit zunächst nach Naturobjekten, den so genannten Körpern, und den menschlichen Produkten, den »Artefakten«. Die Artefakte unterteilt er noch einmal in »Dinge«, die zur Zeit ihrer Entstehung nur einen Gebrauchswert haben, und in so genannte Semiophoren, die von vornherein einen Symbolcharakter haben.15 Man könnte auch mit Johann Gustav Droysen unterscheiden zwischen der direkten Quelle – der Tradition, die eine Gesellschaft bewusst zur Überlieferung an die Nachwelt geschaffen hat – und der indirekten Quelle – dem Überrest, also allen Zeugnissen, die eine Epoche hinterlassen hat, ohne sich um ihre zukünftige Verwendung zu kümmern und die nur unabsichtlich Informationen über Geschehnisse oder Verhältnisse der Vergangenheit liefern. Dabei können auch Artefakte, die zunächst keinen Symbolcharakter haben, diesen im Laufe der Zeit erlangen. Das hat Michael Thomson in seiner Theorie des Abfalls gezeigt.16 Indem sie veralten und ihre Funktion immer mehr verlieren, werden sie aus dem Gebrauch genommen und zum Abfall, als solcher sie bei glücklicher Fügung eine Zeit überdauern. Werden sie nach einer bestimmten Zeit wieder entdeckt, z.B. archäologisch ergraben, werden sie neu bewertet und gehen über in die Kategorie des Dauerhaften, in der sie in einer neuen Funktion zunehmend an Wert gewinnen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit von Sammlern, Wissenschaftlern, Museen und Denkmalpflegern auf sich.17 Die Objekte erhalten in diesem Prozess eine neue
13. Assmann, Kollektives Gedächtnis, S. 12. Vgl. auch den Beitrag von U. Seegers in diesem Band. 14. Korff, Gottfried, Kulturelle Überlieferung und mémoire collective. Bemerkungen zum Rüsenschen Konzept der Geschichtskultur, in: Klaus Fröhlich/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtskultur. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1991/92, Pfaffenweiler 1992, S. 51-61, hier S. 53. 15. Vgl. hierzu Norá, Geschichte und Gedächtnis, S. 26f. 16. Thompson, Michael, Theorie des Abfalls, Stuttgart 1982. 17. Fehr, Michael, Müllhalde oder Museum. Endstationen der Industriegesellschaft, in: ders./Grohé, Geschichte, Bild, Museum, S. 182-196, hier S. 183f. 379
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Funktion, die von ihrer ursprünglichen grundverschieden ist. Sie verweisen auf eine verschwundene Vergangenheit, sie beziehen sich auf eine unsichtbare Realität. Sie haben in dieser Eigenschaft den Status von Bedeutungsträgern oder, wie Krzysztof Pomian sie nennt, von Semiophoren erworben und funktionieren von nun an in einem semiotischen Kreislauf.18 Ähnlich verhält es sich mit den Naturobjekten, ganz anders aber mit den Artefakten, die immer schon Symbolcharakter hatten. Zwar kommt es auch vor, dass diese im Zuge von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen an Bedeutung verlieren und erst später ihren ursprünglichen Charakter wiederfinden. In der Regel wechseln sie ihren Status aber nicht, sie bleiben Zeichen mit Symbolcharakter, selbst wenn sie lange in Vergessenheit gerieten. Was aber eine tiefe Veränderung erfährt, sind eventuell ihr Zweck und ihre Bedeutung. Auch die Semiophoren verlieren im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Abstand von ihrer Entstehung ihre traditionellen Gebrauchs- und Symbolisierungsweisen, z.B. ihre kultisch-religiöse oder repräsentativ-politische Funktion. Die Bildung des kulturellen Erbes besteht also in der Verwandlung von Naturprodukten oder Gebrauchsgegenständen in Zeichen mit Symbolcharakter oder in einer Zweck- und Bedeutungsänderung von Zeichen mit Symbolcharakter. Dabei entsteht jede Schicht des kulturellen Erbes aus einem Bruch zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Die Bedeutung der Relikte der Vergangenheit wird zweifelhaft. Sie werden gleichsam unsichtbar, um später mit neuen Zwecken und Bedeutungen zurückgeholt zu werden. Sie sind jetzt Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft.19 Walter Benjamin hat die Faszination solcherart verwandelter Objekte mit dem Begriff der »Aura« beschrieben.20 Aura meint bei ihm keineswegs – wie es häufig missverstanden wird – einen besonderen künstlerischen Wert, sondern die Faszination des Authentischen, die entsteht durch das Spannungsverhältnis von sinnlicher Nähe und zeitlicher Ferne und Fremdheit. Das Relikt der Vergangenheit ist dem Betrachter nah und fern zugleich: nah, weil er es mit Augen und Händen direkt erfassen, ja eventuell körperlich spüren kann, fern, weil er durch den historischen Gegenstand mit einer ganz anderen vergangenen Wirklichkeit und einem entfernten Bewusstsein konfrontiert wird.
18. Pomian, Krzysztof, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 42f. 19. Ders., Museum und kulturelles Erbe, in: Gottfried Korff/Martin Roth (Hrsg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main, New York 1990, S. 41-64, hier S. 44. 20. Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1977, S. 7-44. 380
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Genau hier setzt die Problematik der visuellen Vermittlung des Historischen ein. Gerade dadurch, dass die Relikte der Vergangenheit von ihrem ursprünglichen Kontext abgeschnitten, entzeitlicht und häufig auch enträumlicht sind, werden sie in dem Maße unverständlich, fremd und interpretationsbedürftig, in dem sie ihre ursprüngliche Bedeutung abgestreift haben oder nicht mehr so einfach preisgeben. Das gilt wie gesagt nicht nur für die archäologisch wiederentdeckten Überreste, sondern auch für die symbolisch aufgeladenen Kultobjekte. Auch sie haben im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche zusätzliche Deutungen und Umdeutungen erfahren und sich im Zuge ihrer Objektgeschichte mit unterschiedlichen Rezeptionsweisen und Sinnzuweisungen aufgeladen. Diese »inkorporierten historischen Lebensspuren«, wie Gottfried Korff sie nennt, bedürfen der »Re-Dimensionierung« und »Re-Kontextualisierung«, der immer neuen Aneignung, Deutung und Erklärung, und zwar vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart aus.21
3. Visuelle Vermittlung des Historischen Die Relikte der Vergangenheit existieren somit in einer doppelten Potenzialität. Sie sind zum einen Speicher der Ereignisse und Informationen der Vergangenheit und gleichzeitig Anlass für Interpretationen und Orientierungen in der Gegenwart. Aleida Assmann unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis als unterschiedlichen Modi der Erinnerung.22 Der Prozess der Umwandlung des Speichergedächtnisses in das Funktionsgedächtnis, die Aktivierung der Erinnerungskraft, der historischen Faszination, welche die Relikte der Vergangenheit besitzen, verläuft analog zum Prozess der Deutung von historischen Quellen in der Geschichtsschreibung. Er erfolgt zum einen durch narrative Erläuterungen zu den jeweiligen Objekten, vor allem aber durch das Arrangement der Objekte in einer bestimmten Anordnung und mit einer bestimmten Vorgabe, die man als Inszenierung beschreiben kann. Insofern stellt die Inszenierung das Äquivalent zur mündlichen Erzählung oder schriftlichen Geschichtsdarstellung dar und folgt im weitesten Sinne dem narrativistischen Paradigma, wobei die Fragmentarik der Überlieferung und der ästhetische Gehalt der Relikte der Vergangenheit noch
21. Korff, Gottfried, Musealisierung total? Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat, in: Klaus Füßmann/ Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 129-144, hier S. 139. 22. Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1994, S. 130-145. 381
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stärker den imaginativen Charakter und die fiktionalen Elemente dieses Kommunikationsvorganges betonen.23 Damit stellt sich aber die Frage, wie sich die unterschiedlichen Elemente einer visuellen Ordnung zueinander verhalten, um zu bestimmten Sinndeutungen über Zeit zu gelangen. Hayden White hat mit seiner tropologischen Ordnung für die Geschichtsschreibung ein Analyseraster erstellt24, das der englische Kulturwissenschaftler Stephen Bann auf andere Formen der historischen Repräsentation im Sinne einer visuellen Rhetorik übertragen hat.25 Hayden White unterscheidet zwischen den Hauptformen der figurativen Rede, die in der rhetorischen Theorie seit der Renaissance als die »master tropes« bezeichnet werden, wobei Tropen nichts anders meinen als Rede- oder Gedankenfiguren.26 Es handelt sich um die Metapher, die Metonymie, die Synekdoche und die Ironie. Wenn wir einmal alle Hierarchien und Abfolgen dieser Redefiguren außer Acht lassen, so bedeutet – vereinfacht gesagt – die Metapher die Herstellung einer Äquivalenz, die Metonymie die Zuordnung oder Unterordnung der einzelnen Teile zu einem Ganzen, die Synekdoche die Erstellung eines Ganzen durch die einzelnen Teile und die Ironie den reflexiven Umgang mit der Konstruktivistik solcher Ordnungen, der diese auch zu erkennen gibt. Stephen Bann hat diese unterschiedlichen Ordnungen vor allem für museale Ausstellungen im 19. Jahrhundert, aber auch für andere Formen der historischen Repräsentation nachgewiesen.27 Sie lassen sich sicherlich auch am einfachsten an Hand von Ausstellungen, die ja
23. Gottfried Korff hat sich als führender Museumstheoretiker immer wieder mit den Fragen der dinglichen Vergegenwärtigung der Vergangenheit auseinander gesetzt; vgl. z.B. Zur Eigenart der Museumsdinge, in: ders., Museumsdinge. Deponieren – exponieren, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 140-145, hier S. 143; ders., Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter, Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main, New York 1999, S. 319-335. 24. White, Hayden, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991; ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1990. 25. Bann, Stephen, The Clothing of Clio. A study of the Representation of History in Nineteenth Century Britain and France, Cambridge 1984; ders., The Inventions of History. Essays on the Representation of the Past, Manchester, New York 1990. 26. White, Hayden, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 12f. 27. Bann, Stephen, Das ironische Museum, in: Rüsen/Ernst/Grütter, Geschichte sehen, S. 63-68; ders., Die Kleidung Clios. Museale Darstellung von Geschichte im 19. Jahrhundert, in: Borsdorf/Grütter, Orte der Erinnerung, S. 303-318. 382
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
immer die Relikte der Vergangenheit im Blickwinkel der jeweiligen Gegenwart im Raum neu ordnen, diskutieren.28 So haben besonders symbolträchtige Gegenstände zweifelsohne eine metaphorische Dimension. Die so genannte Maske des Agamemnon steht für die Ideale der griechischen Heroenwelt und zugleich für die Wahrhaftigkeit der homerischen Epen, der mittelalterliche Barbarossakopf für göttliche Legitimität des kaiserlichen Herrschers und die Existenz eines himmlischen Jerusalems und die »Marilyn« von Andy Warhol für den kapitalistischen Warenfetischismus und die sich dagegen auflehnende amerikanische Popkultur. Die nach den einzelnen Schichten und Zeithorizonten präsentierten Funde der Grabungen aus Troja unterwerfen sich ebenso einer metonymischen Ordnung wie alle anderen morphologischen, systematischen oder auch chronologischen Museumssammlungen. Und die Rekonstruktion einer ägyptischen Grabkammer entspricht ebenso einer synekdochischen Darstellungsweise wie der mittelalterliche Rittersaal oder die Arbeiterküche im Essener Ruhrlandmuseum. Wenn es aber im Ruhrlandmuseum gleich vier Arbeiterküchen gibt, die sich zudem auf einem Karussell befinden und symbolisch von einer Dampfmaschine, also dem Takt der Arbeitswelt bewegt werden, so befinden wir uns im Bereich der ironischen Interpretation, die den konstruktiven Charakter ihrer Darstellung deutlich macht und darauf hinweist, dass es immer mehrere Deutungen gibt, jede Nachstellung der Vergangenheit fiktiv bleibt und die komplette Rekonstruktion einer vergangenen Wirklichkeit in das Reich der Illusion gehört.29 Dass die moderne Ausstellung per se nur ironisch funktioniert, zeigt sich über solche mehrdeutigen und gebrochenen Inszenierungen hinaus auch dadurch, dass sowohl metaphorische, metonymische und synekdochische Darstellungen nebeneinander existieren und dies häufig innerhalb des gleichen Museums oder der gleichen Ausstellung. Jeder, der eine Ausstellung konzipiert, kommt nicht darum herum, seine Entscheidungen bei der Zusammenstellung von Exponaten und Ensembles zu reflektieren, und tut gut daran, dies auch offen zu legen.30
28. Vgl. z.B. Grütter, Heinrich Theodor, Die Präsentation der Vergangenheit. Zur Darstellung von Geschichte in historischen Museen und Ausstellungen, in: Füßmann/Grütter/Rüsen, Historische Faszination, S. 173-188; ders., Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen, in: Horst Walter Blanke/Friedrich Jaeger/Thomas Sandkühler (Hrsg.), Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 179-193. 29. Borsdorf, Ulrich, Region, Geschichte, Museum, in: Ruhrlandmuseum Essen (Hrsg.), Die Erfindung des Ruhrgebietes: Arbeit und Alltag um 1900. Katalog zur sozialhistorischen Dauerausstellung, Essen 2000, S. 11-30. 30. Vgl. z.B. Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor, Überdachte Fragmen383
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4. Industriekultur als Geschichte Die Reihe der Museumsbeispiele ließe sich unendlich fortführen.31 Die Systematik einer visuellen Rethorik soll im Folgenden aber an einem anderen Beispiel deutlich gemacht werden, das für die historische Identität eines der größten Ballungsräume in Europa, dem Ruhrgebiet, eine gewisse Rolle spielt. Es handelt sich um ein architektonisches Beispiel und zwar um die so genannte »Route der Industriekultur«. Am Anfang dieser Route standen nach einer langen Zeit der bewussten oder der bewusstlosen Zerstörung funktionslos gewordener Industrieareale, die durch die Kohle- und Stahlkrise der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ihre Produktion aufgegeben hatten, einzelne solitäre Industrieanlagen und Gebäude, die in ihrem Ausmaß und ihrer architektonischen Gestalt den üblichen Rahmen überstiegen. Sie stießen Anfang der 80er Jahre auf ein Bewusstsein, das sich der Verdrängung und Zerstörung der historischen Wurzeln des Ruhrgebietes im Industriezeitalter immer stärker widersetzte.32 Dieser Bewusstseinswandel ging einher und war das Ergebnis einer tiefen Identitätskrise, in die das Ruhrgebiet als ehemalige schwerindustrielle Montanregion im Zuge des Strukturwandels zur Dienstleistungsgesellschaft geriet.33 Die grundlegende Erschütterung des Selbstverständnisses der Region als Zentrum industrieller Massenproduktion und ökonomischer Leistungskraft führte zu einer kulturellen Mobilisierung der Vergangenheit und einer völligen Neubewertung ihrer materiellen Hinterlassenschaft.34 Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass der ehemalige Wirtschaftsraum Ruhrgebiet zumindest im Bewusstsein seiner Bewohner erst in der kulturellen Aufarbeitung sei-
tarik. Die Ausstellung »Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet«, in: Fröhlich/ Grütter/Rüsen, Geschichtskultur, S. 173-203. 31. Vgl. etwa die luziden Ausstellungsanalysen bei Korff, Museumsdinge, S. 311-381. 32. Vgl. die ersten Inventare bei Föhl, Axel, Technische Denkmale im Rheinland, Köln 1976; Slotta, Rainer, Technische Denkmäler in der Bundesrepublik Deutschland, Bochum 1975; Rheinisches Museumsamt (Hrsg.), »Das darf nicht weg!« Historische Industrieobjekte in Nordrhein-Westfalen, Köln 1983; Westfälisches Industriemuseum (Hrsg.), Berthold Socha: Bestandsaufnahme. Stillgelegte Anlagen aus Industrie und Verkehr in Westfalen, Hagen 1985. 33. Vgl. Goch, Stefan, Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Bewältigung von Strukturwandel und Strukturpolitik im Ruhrgebiet, Essen 2002. 34. Vgl. z.B. Borsdorf, Ulrich u.a. (Hrsg.), Feuer & Flamme. 200 Jahre Ruhrgebiet. Eine Ausstellung im Gasometer Oberhausen, 2. Aufl., Essen 1995; Grütter, Heinrich Theodor (Hrsg.), Museumshandbuch Ruhrgebiet, 2. Aufl., Bottrop, Essen 2003. 384
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
Abbildung 1: Monument des Industriezeitalters: Der Gasometer Oberhausen
ner Geschichte als gemeinsame Region entstand.35 In diesem Prozess verließen die stillgelegten Industrieanlagen naturgemäß den Wirtschaftskreislauf, stiegen, einmal der Zerstörung entrissen, innerhalb weniger Jahre zu Symbolen der Industrialisierung auf und erhielten einen metaphorischen Charakter. So stehen z.B. der Gasometer Oberhausen und die Zeche Zollverein in Essen, die inzwischen zum Weltkulturerbe erklärt wurde, für Leistungskraft und Arbeitsethos des Ruhrgebietes, für die Beherrschung und Domestizierung ungeheurer Naturgewalten und die Verlagerung materieller Ressourcen sowie für die technische Innovationsfähigkeit und rationale Gestaltungsfähigkeit der Region. Etiketten wie »Kathedrale des Industriezeitalters« oder »Koloss an der Emscher«, die dem Gasometer zugedacht wurden und das gotische Mittelalter oder antike Weltwunder konotieren, oder die Bezeichnung »Eifelturm des Ruhrgebietes« für das Weltkulturerbe
35. Programmatisch: Barbian, Jan-Pieter/Heid, Ludger (Hrsg.), Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen 1946-1996, Essen 1997; Willamowski, Gerd/Nellen, Dieter/Bourée, Manfred (Hrsg.), Ruhrstadt. Die andere Metropole, Essen 2000; Tenfelde, Klaus (Hrsg.), Ruhrstadt. Visionen für das Ruhrgebiet. Vier Diskussionsrunden, Essen 2003; Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor (Hrsg.), Zukunft mit Geschichte? Das Ruhrgebiet am Ende des Industriezeitalters, Essen 2003. 385
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Zollverein, belegen dies eindrücklich. Und dies gilt im neuen Selbstbewusstsein des Ruhrgebietes keineswegs nur für die Vergangenheit, sondern es ist das Signal für die Aufbruchstimmung in der Gegenwart und die Perspektive für die Zukunft, wenn der Gasometer zum Wahrzeichen des größten Einkaufszentrums Europas, des CentrO in Oberhausen, geworden ist und die Zeche Zollverein zum Schwerpunkt des Zukunftssektors Design. Diese positive Bewertung der industriellen Vergangenheit als Wurzel und Motor für neue Innovationskraft im Strukturwandel führte dann in den 90er Jahren zur Formulierung einer dominanten Formation, der »Industriekultur«, die man heute geradezu als »Leitkultur« des Ruhrgebietes bezeichnen kann.36 Im Zuge der mit hohem Aufwand betriebenen Internationalen Bauausstellung Emscherpark wurde eine ganze Reihe weiterer bedeutender oder paradigmatischer Industrieanlagen vor dem Verfall gerettet, musealisiert oder einer neuen Nutzung zugeführt.37 Bis Ende der 90er Jahre wurden diese im gesamten Ruhrgebiet verstreuten Anlagen zusammengefasst und durch die »Route der Industriekultur« miteinander verbunden. Es entstand eine metonymische Ordnung, die unter einem Thema und einem Zeithorizont unterschiedliche und schon früher existierende, aber mit einer völlig anderen Bedeutung versehene Gebäude und Anlagen zusammengefasst. So gehören z.B. zur Route auch das »Herrscherhaus« des Ruhrgebiets, die Villa Hügel der Familie Krupp in Essen, oder das Künstlerhaus des Gründers des Folkwangmuseums Karl Ernst Osthaus, der Hohenhof in Hagen, oder das beschauliche Eisenbahnmuseum in Bochum-Dahlhausen, die allesamt vorher in anderen Zusammenhängen funktionierten. Dabei weist die Route in ihrer Ordnung Hierarchien auf, indem sie als Kern der Route 19 so genannte Ankerpunkte festlegt. Von diesen bilden wiederum drei, die Zeche Zollern in Dortmund, die Zeche/ Kokerei Zollverein in Essen sowie das Stahlwerk Duisburg-Meiderich als Zentralorte der Kohleförderung und Stahlproduktion, verteilt auf den Osten, die Mitte und den Westen des Ruhrgebietes, die besonders ausgestalteten Besucherzentren. Hinzu kommen zahlreiche weitere
36. Diesen Prozess beschreiben eindrücklich: Kierdorf, Alexander/Hassler, Uta, Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit der Industriekultur, Tübingen, Berlin 2000; vgl. auch Föhl, Axel, Bauten der Industrie und Technik in Nordrhein-Westfalen, Berlin 2000. 37. Vgl. Internationale Bauausstellung Emscherpark (Hrsg.), Katalog der Projekte, Gelsenkirchen 1999; und zusammenfassend Höber, Andrea/Ganser, Karl (Hrsg.), Industriekultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen 1999. 386
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
Abbildung 2: Die Route der Industriekultur
Einrichtungen, Arbeitersiedlungen und Gartenstädte38, Abraumhalden und Gebäude des Industriezeitalters, die durch so genannte Themenrouten und eine zusätzliche »Route der Industrienatur«39 mit der Route der Industriekultur verbunden sind und das Ruhrgebiet mit einem engmaschigen und beinahe flächendeckenden Netz der Zeugnisse des Industriezeitalters überziehen. So entsteht das Ruhrgebiet als komplette Erinnerungslandschaft, als »memorial landscape« und wird als Ganzes in den Rang eines Zeichens gehoben und semiotisiert.40 Die rituelle Begehung dieser Landschaft erfolgt jetzt nicht mehr nach ökonomischen Beweggründen, die den Waren- und Materialströmen des Industriezeitalters folgen, sondern sie ist touristisch geprägt und dient der kulturellen Selbstvergewisserung.41 Das ambitionierte
38. Vgl. Beierlorzer, Henry/Boll, Joachim/Ganser, Karl (Hrsg.), Siedlungskultur. Neue und alte Gartenstädte im Ruhrgebiet, Braunschweig, Wiesbaden 1999. 39. Vgl. Dettar, Jörg/Ganser, Karl (Hrsg.), Industrienatur. Ökologie und Gartenkunst im Emscherpark, Stuttgart 1999. 40. Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis, S. 59f; vgl. auch Assmann, Aleida, Das Gedächtnis der Orte, in: Borsdorf/Grütter, Orte der Erinnerung, S. 59-77; Schama, Simon, Landscape and memory, New York 1995. 41. Grütter, Heinrich Theodor, Denkmalskultur im Ruhrgebiet, in: Borsdorf/ Grütter, Orte der Erinnerung, S. 189-229, hier S. 228f.; vgl. Budde, Reinhold/Heckmann, Ulrich, Die Route Industriekultur. Tourismusoffensive für das Ruhrgebiet, in: Höber/ Ganser, Industriekultur, S. 61-71 und Lange, Detlef, Eine Zukunftsregion bekennt sich 387
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REPRÄSENTATIONEN
Ziel ist nichts Geringeres als ein Nationalpark der Industriekultur im Ruhrgebiet.42 Dabei erfolgt die Orientierung im Raum durch ein ausgeklügeltes und gestaffeltes Informationssystem. Es beginnt mit Hinweistafeln an den Autobahnen, die ins Ruhrgebiet führen und die gesamte Region unter dem Signum »Industrie-Kultur-Landschaft« als touristische Attraktion definieren. Autobahnschilder weisen auch auf die Hauptsehenswürdigkeiten, die so genannten »Landmarken« der Industriekultur hin, die damit in den Rang von Schloss Neuschwanstein oder dem Dom von Speyer gehoben werden. Bildet das enge Autobahnnetz des Ruhrgebietes somit das Skelett bei der Orientierung, so sind alle Hauptstandorte der Route mit einer grafisch angepassten Beschilderung im Straßenverkehr auf einer Gesamtlänge von 400 km miteinander verbunden. Weitere Standorte oder Objekte, die in der Nähe der Straßenroute liegen, sind als Abzweige ausgeschildert. An den einzelnen Ankerpunkten befinden sich stelenartige Informationstafeln im Außen- sowie Schriftenständer im Innenbereich, die den Charakter des jeweiligen Objektes beschreiben und auf die gesamte Route rückverweisen. Begleitet wird dieses semiotische System durch breit gefächertes Informationsmaterial, bestehend aus Faltblättern, Postkarten, Übersichtskarten, Erlebnisführern und Entdeckerpass, Broschüren zu den Themenrouten, Internetpräsentation, CD-ROM und Präsentationen in den drei Besucherzentren. Dienen all diese Informationen der Orientierung im Raum, so ermöglichen herausragende Aussichtspunkte – im flachen nördlichen Ruhrgebiet meist durch die Industrialisierung selbst entstandene Abraumhalden, im südlichen Ruhrtal aber auch natürliche Landschaftserhöhungen – als in die Route integrierte »Panoramen der Industrielandschaft« einen Überblick über den Raum und eine Landschaft, die dem dafür sensibilisierten Betrachter ihre Signatur und ihre durch die Industrialisierung gefundene metonymische Ordnung zu erkennen gibt. Gleichzeitig entsteht mit der Route der Industriekultur jedoch auch eine synekdochische Ordnung, indem aus der Not, dass man den komplexen und durch enge Vernetzung gekennzeichneten Prozess der Industrialisierung nicht an einem Ort augenfällig darstellen kann, eine
endlich zu ihrer Vergangenheit. Unterwegs auf der neuen »Route der Industriekultur«, in: Kommunalverband Ruhrgebiet (Hrsg.), Standorte. Jahrbuch Ruhrgebiet 1999/2000, Essen 1999, S. 201-206. 42. Grundlegend: Kommunalverband Ruhrgebiet (Hrsg.), Parkbericht Emscher Landschaftspark, Essen 1996; vgl. Arbeitsgruppe des IBA-Lenkungsausschusses, Nationalpark der Industriekultur, in: Höber/Ganser, Industriekultur, S. 52-55. Höber, Andrea, Plädoyer für einen Nationalpark der Industriekultur im Ruhrgebiet, in: Kommunalverband Ruhrgebiet (Hrsg.), Standorte. Jahrbuch Ruhrgebiet 2001/2002, Essen 2001, S. 131-134. 388
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
Abbildung 3: Panorama der Industriekultur: Halde Prosper in Bottrop mit dem Tetraeder
Tugend gemacht wurde, und zwar in der Form, dass an den verschiedenen Punkten der Route der Industriekultur unterschiedlichste Aspekte der Industrialisierung häufig am ehemaligen Originalstandort thematisiert werden. Die verschiedenen Stationen der Route der Industriekultur ergeben somit Teile eines Ganzen, das durch diese einzelnen Teile erst entsteht. Erst durch den Zusammenhang von Kanal- und Eisenbahnbau, von Elektrifizierung und Verkehr, von Kohleförderung und Stahlproduktion, von proletarischen Lebensverhältnissen und kapitalistischen Herrschaftsstrukturen wird der komplexe Prozess der Industrialisierung durch das Aufsuchen der einzelnen Stationen der Route der Industriekultur sinnlich erfahrbar und damit auch verstehbar. In diesem Prozess spielen die verschiedenen Standorte des Rheinischen und des Westfälischen Industriemuseums als Ankerpunkte der Route der Industriekultur43 sowie eine Reihe von überregiona-
43. Das Rheinische und das Westfälische Industriemuseum wurden bereits Ende der siebziger Jahre in der ersten Phase der Industriedenkmalpflege im Ruhrgebiet gegründet. Nach einer Aufbauphase konnten ihre Ausstellungen Ende der neunziger Jahre im Zuge der Entstehung der Route der Industriekultur eröffnet werden. Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.), Ein westfälisches Industriemuseum, Münster 1979; ders. (Hrsg.), Das Westfälische Industriemuseum im Aufbau, Dortmund 1992; Land389
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Abbildung 4: Netzwerke der Industrie: Zeche und Kokerei Zollverein in Essen
len technik- und sozialgeschichtlichen Museen, die ebenfalls in die Route integriert sind, eine zentrale Rolle. Die dezentralen Industriemuseen demonstrieren und interpretieren an Originalschauplätzen unterschiedliche Bereiche und Phasen der Industrialisierung: die Anfänge des Bergbaus in der Wittener Zeche Nachtigall, die Hochphase des Ruhrbergbaus in der Zeche Zollern II/IV in Dortmund, die Eisenerzverhüttung in der Hattinger Henrichshütte, die Stahlbearbeitung und den Maschinenbau in der Zinkfabrik Altenberg in Oberhausen und den Kanalbau und die Kanalschifffahrt im Alten Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop.
schaftsverband Rheinland (Hrsg.), Rheinisches Industriemuseum, Köln 1984; ders., Tatort Fabrik. Das Rheinische Industriemuseum im Aufbau, Köln 1989; Gaigalat, Michael/ Karabaic, Milena, … in Arbeit. Aufbau und Perspektiven des Rheinischen Industriemuseums, Köln 1994; Landschaftsverband Rheinland/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.), Nah dran. Industriekultur an 14 historischen Schauplätzen. Rheinisches und Westfälisches Industriemuseum, Dortmund, Oberhausen 2002. 390
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Ähnlich verhält es sich mit den älteren historischen Museen der Region, die bestimmte Aspekte des Ruhrgebietes im Überblick präsentieren. Das Westfälische Freilichtmuseum Hagen zeigt das vorindustrielle Handwerk und die Frühindustrialisierung, das Deutsche Bergbaumuseum in Bochum die technische Entwicklung des Bergbaus, das Ruhrlandmuseum in Essen die Sozial- und Kulturgeschichte des Ruhrgebietes, die Deutsche Arbeitsschutzausstellung in Dortmund die Veränderung der Arbeitswelt, das Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen und das Museum der Deutschen Binnenschifffahrt in Duisburg die Geschichte der für die Industrialisierung entscheidenden Transportmittel. All diese Museen, zu denen weitere Dauerausstellungen wie das »Museum Strom und Leben« im Umspannwerk Recklinghausen, das »Aquarius Wassermuseum« in Mülheim oder die Ausstellung zur Familie und Firma Krupp in der Villa Hügel in den anderen Ankerpunkten der Route treten, sind verfügbar über aktuelle und wissenschaftlich erarbeitete Kataloge und Museumsführer; sie geben Schriftenreihen heraus, halten ein umfangreiches museumspädagogisches Angebot mit Führungen, Vorführungen und Aktionen vor und bieten ein intensives Veranstaltungsprogramm mit Sonderausstellungen, Vorträgen und Diskussionen, das in einem gemeinsamen Periodikum, der »route industriekultur aktuell« angekündigt wird. Diese umfangreichen und gestaffelten Informationen ergeben vor allem ein analytisches Raster, in dem – ausgehend von der sinnlichen und ästhetischen Erfahrung der Hinterlassenschaften des Industriezeitalters – die Entstehung, Entwicklung und der Wandel zunächst einzelner Aspekte der Industrialisierung erläutert werden. In den einzelnen Themenrouten, die in der Regel regional bzw. thematisch aufgebaut sind (z.B. Oberhausen: Industrie macht Stadt; Dortmund: Dreiklang Kohle, Stahl und Bier; Westfälische oder Rheinische Bergbauroute; Kanäle und Schifffahrt; Großchemie und Energie) werden Zusammenhänge, Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, Abhängigkeiten und Implikationen bestimmter Regionen oder Industriezweige deutlich. Sie bringen die einzelnen Entwicklungen und Ereignisse in zeitliche Abfolgen und befördern damit die Zeitverlaufsvorstellungen des Besuchers und Betrachters. In ihrer Gesamtheit erzählt die Route der Industriekultur die große Geschichte der Entstehung, des Aufstiegs und des Wandels einer Industrieregion, mit ihren Anfängen im frühen Bergbau und der Metallverarbeitung in den Ruhrbergen, ihrem Höhepunkt in der Hochphase der Montanindustrie mit den Tiefbauzechen, Kokereien, Hochöfen und der Schwerindustrie und ihrem (vorläufigen) Abschluss in der Bergbau- und Stahlkrise, im Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft und in der Umwandlung von Industrieanla-
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gen zu -denkmalen.44 Indem gerade der letzte Aspekt immer selbstreflexiv mit problematisiert wird, gelang es den Planern und Organisatoren, aber auch den Betreibern der einzelnen Standorte der Route der Industriekultur, dieser auch eine ironische Ordnung zu geben. Praktisch nirgendwo wurde die Vergangenheit naturalistisch nachgeahmt, überall kam es zu bewusst offen gelegten Rekonstruktionen und Teilrekonstruktionen, zur Umnutzung unter Beibehaltung der alten Bausubstanz und vor allem zu einem ästhetischen Kommentar zu den Zeugnissen der Vergangenheit, der sich vor allem in der quer zur Route der Industriekultur verlaufenden »Route der Landmarkenkunst« dokumentiert.45 Abbildung 5: Landmarkenkunst: Bramme von Richard Serra auf der Schurenbachhalde in Essen
44. Eine synthetisierende Darstellung der Industriegeschichte des Ruhrgebietes anhand der Route der Industriekultur ist in Vorbereitung; vgl. aber die neu erschienenen Führer zur Industriekultur: Parent, Thomas, Das Ruhrgebiet: Vom »goldenen« Mittelalter zur Industriekultur, Köln 2000; Günter, Roland, Im Tal der Könige. Ein Handbuch für Reisen zu Emscher, Rhein und Ruhr, 4. Aufl., Essen 2000; ders., Besichtigung unseres Zeitalters. Industrie-Kultur in Nordrhein-Westfalen, Essen 2001; Jelich, Franz-Josef, Wegweiser zu industrie- und sozialgeschichtlichen Museen in Nordrhein-Westfalen, Essen 2003; und als Überblick: Köllmann, Wolfgang u.a. (Hrsg.), Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, 2 Bde., Düsseldorf 1990. 45. Vgl. Pachnicke, Peter/Mensch, Bernhard (Hrsg.), KUNST SETZT ZEICHEN. Landmarken-Kunst. Katalog zur Ausstellung in der LUDWIG GALERIE Schloss Oberhausen, 2. Aufl., Oberhausen 2000. 392
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HEINRICH THEODOR GRÜTTER: INDUSTRIEKULTUR ALS GESCHICHTE
Zahlreiche Landmarken der Industriekultur werden von renommierten Kunstschaffenden künstlerisch bearbeitet, sei es in Form der Land Art, der Großskulptur, der Lichtplastik oder der Klanginstallation. Insbesondere die Abraumhalden und Landschaftserhöhungen, die »Panoramen der Industrielandschaft« werden von Landschaftsarchitekten neu gestaltet und von bildenden Künstlern mit markanten, weit sichtbaren Skulpturen optisch wie künstlerisch markiert. Die 14,5 Meter hohe Stahlskulptur von Richard Serra auf der Essener Schurenbachhalde ist das wohl bekannteste Beispiel. Eine besondere Rolle kommt dabei der Lichtkunst zu. In ganz unterschiedlicher Konzeption werden die aufragenden Relikte der Industriekultur, die Hochöfen und Fördertürme, Schornsteine und Gasspeicher in der Nacht zu gigantischen und weit sichtbaren Lichtskulpturen, in denen die Mythen des Ruhrgebietes im »Land der 1.000 Feuer« zitiert und in neuer Form in Erinnerung gehalten werden. Diese künstlerischen Verfremdungen und Kommentare an den Zeugnissen des Industriezeitalters nehmen an den historischen Orten visuelle Verfremdungen vor, ermöglichen neue Sichtweisen auf eine scheinbar bekannte Vergangenheit. Damit zerstören sie jeden Versuch nostalgischer Rückwendung und bringen ständig die Zeitdifferenz von Vergangenheit und Gegenwart zum Ausdruck. Abbildung 6: Lichtkunst: Landschaftspark Duisburg-Nord
Führt man sich zusammenfassend noch einmal die formale Argumentation vor Augen, mit der die Route der Industriekultur ihre visuelle Erzählung von der Geschichte des Ruhrgebietes im Industriezeitalter
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führt, so argumentiert sie mit Hayden White46 zum einen formativistisch, indem sie zunächst metaphorisch die Einzigartigkeit der Epoche herausstellt. Sie argumentiert aber auch mechanistisch, indem sie in ihrer metonymischen Anordnung die kausalen Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten der einzelnen Faktoren der Industrialisierung synekdochisch heraushebt, und sie argumentiert organizistisch, indem sie die Einzelphänomene der Industrialisierung als notwendige Voraussetzungen zur Entstehung, zum Aufstieg und Niedergang des Industriezeitalters herausarbeitet. Und schließlich argumentiert sie auch kontextualistisch, indem sie die funktionalen Beziehungen zwischen diesen Phänomenen darstellt und damit zu erkennen gibt, dass auch der gigantische Prozess der Industrialisierung kein Automatismus ist, sich auch ganz anders hätte entwickeln können und in seiner historischen Bedeutung letztlich eine sinnhafte Deutung von Zeit aus dem Blickwinkel der Gegenwart ist.
46. Vgl. White, Auch Klio dichtet, S. 242-245 und S. 292-296; Rüsen, Kann gestern besser werden, S. 126; Straub, Über das Bilden von Vergangenheit, S. 67f. 394
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Autorinnen und Autoren Justus Cobet, geboren 1939. Prof. Dr. phil., Studium der Klassischen Philologie und Geschichte in Tübingen, Frankfurt am Main und Haverford/Bryn Mawr (Pensylvania). Promotion 1968. Seit 1979 Professor für Alte Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Standort Essen. Publikationen zur griechischen Historiographie, zur älteren griechischen Geschichte, zu Methodenfragen und zur Rezeptionsgeschichte der Antike. Veröffentlichungen u.a.: Herodots Exkurse und die Einheit seines Werkes, Wiesbaden 1972; (mit W. M. Calder III hrsg.) Heinrich Schliemann nach hundert Jahren, Frankfurt am Main 1990; Heinrich Schliemann. Archäologe und Abenteurer, München 1997; (mit C. F. Gethmann, D. Lau hrsg.) Europa. Die Gegenwärtigkeit der antiken Überlieferung, Aachen 2000; (mit H.-J. Gehrke) Warum um Troia immer wieder streiten?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53, 2002, 290-325. Britta Duelke, geboren 1958. Dr. phil., Studium der Ethnologie, Vor- und Frühgeschichte, Pädagogik, Philosophie und Psychologie in Frankfurt am Main und dort gegenwärtig als Dozentin für Ethnologie tätig. Langjährige Forschungsarbeiten in Australien zu Identitäts-, Zeit- und Raumkonzeptionen, zu Fragen indigener Landrechte und der Konfliktforschung, zur Zeit Fertigstellung einer Studie zum Thema ›Beschuldigungen‹. Veröffentlichungen u.a.: »… same but different …«, Vom Umgang mit Vergangenheit – Tradition und Geschichte im Alltag einer nordaustralischen Aborigines-Kommune, Köln 1998; Institutionen, Land- und Landrechtskonflikte im australischen Northern Territory: Bemerkungen zum Aboriginal Land Rights (N.T.) Act, 1976, in: E. Alber und J. Ecker (Hrsg.), Settling of Land Conflicts by Mediation – Schlichtung von Landkonflikten. Berlin, Eschborn 1999; Die Spritze oder Dispute über das Essentielle: Randständige Beobachtungen eines Übergangsprozesses, in: S. Schomburg-Scherff und B. Heintze (Hrsg.), Die offenen Grenzen der Ethnologie: Schlaglichter auf ein sich wandelndes Fach. Frankfurt am Main 2000; Fremder Raum und heilige Stätten: Australien und die Tropen der Erinnerung, in: B.-M. Baumunk und E. M. Thimme (Hrsg.), Sieben Hügel: Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, Bd. 5, Glauben, Berlin 2000; ›Nakedfella‹ oder Varianten der 395
2003-07-31 11-38-54 --- Projekt: transcript.kumedi.rüsen.zeitdeuten / Dokument: FAX ID 01de27966146858|(S. 395-399) T05_00 autoren.p 27966147226
ZEIT DEUTEN
Nacktheit, in: K. Gernig (Hrsg.), Nacktheit: Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, 17. Köln 2002. Angelika Epple, geboren 1966. Dr. phil., Wiss. Ass. am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Studium der Geschichtswissenschaft, Germanistik, Erziehungswissenschaften und Philosophie in Freiburg und Berlin. Promotion an der Universität Bielefeld, Mitglied der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« am Kulturwissenschaftlichen Institut Nordrhein-Westfalen in Essen. Veröffentlichungen zu: Diskursanalyse, Erzähltheorie, Historiographiegeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, u.a.: Henriette Fürth und die Frauenbewegung im Kaiserreich. Eine Sozialbiographie, Pfaffenweiler 1996; Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel (Mitherausgeberin), Frankfurt am Main 1996; Die Prosa der Geschichte und der Prozess der Faktisierung. Gattungstheoretische Überlegungen in Anschluss an Käte Hamburger und Paul Ricœur, in: Käthe Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, hrsg. von Johanna Bossinade und Angelika Schaser (= Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung), 2003, 156-168; Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln 2003; Zur Zeit arbeitet sie zu dem Thema »Geschichte der Schokolade – Wirtschafts- als Kulturgeschichte«. Heinrich Theodor Grütter, geboren 1957. Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum. Wiss. Mitarbeiter am Ruhrlandmuseum Essen, Lehrbeauftragter an den Universitäten Bochum und Essen. Konzeption und Leitung von kulturhistorischen Ausstellungen und Projekten zur Geschichtskultur. Bücher und Aufsätze zur Theorie und Didaktik der Geschichte, zur Museologie, zur Geschichts- und Erinnerungskultur und zur Kulturgeschichte des Ruhrgebietes. Neuere Publikationen: (Mit-)Herausgeber von: Orte der Erinnerung, Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main, New York 1999; Sinn (in) der Antike, Mainz 2003; Museumshandbuch Ruhrgebiet, Bottrop, Essen 22003; Zukunft mit Geschichte. Das Ruhrgebiet am Ende des Industriezeitalters, Essen 2003. Ulrike Hamann, geboren 1967. Ass. jur., M.A. (Cornell), Erststudium der Rechtswissenschaft an den Universitäten München und Bordeaux; Rechtsreferendariat am Oberlandesgericht München; Ergänzungsstudium an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer; Wahlstation an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in New Delhi; Zweitstudien in Geschichte, Kunstgeschichte und Politischer Wissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Cornell (USA); Stipendia396
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AUTORINNEN UND AUTOREN
tin und Mitglied der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« am Kulturwissenschaftlichen Institut Nordrhein-Westfalen in Essen; zur Zeit Doktorandin in Rechtswissenschaft (Humanitäres Völkerrecht) an der Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen: Hamann, Ulrike M., Gender and Political Power. The Development of Women’s Suffrage in the United States of America and Germany from 1848 to 1919/20, Master’s Thesis, Cornell 2001. Friedrich Jaeger, geboren 1956. PD Dr. phil., Studium der Geschichtswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Promotion und Habilitation an der Universität Bielefeld. Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und wiss. Mitarbeiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts/Essen. Arbeitsschwerpunkte: Amerikanische Geschichte des 18.-20. Jahrhunderts, Kommunikations- und Mediengeschichte der Neuzeit, historische Gewaltforschung, Geschichte der Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie, Fragen der gegenwärtigen Kulturwissenschaften. Veröffentlichungen u.a.: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992; (gemeinsam mit Jörn Rüsen); Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung. Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber, Göttingen 1994; Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2001; Religionsphilosophie im Angesicht der Moderne: Ernst Troeltsch und der amerikanische Pragmatismus (vorauss. 2003; wird auch ins Französische übersetzt). Jochen Johannsen, geboren 1967. M.A., Studium der Geschichtswissenschaft in Freiburg im Breisgau und Köln. Doktorand an der Universität Witten/Herdecke mit dem geschichtswissenschaftlichen Promotionsprojekt »Geschichte als Menschheitsbildung bei J. G. Herder«. 1998 bis 2002 Mitglied der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« am Kulturwissenschaftlichen Institut Nordrhein-Westfalen in Essen. Aufsätze und Rezensionen zum Geschichtsdenken Johann Gottfried Herders, zur Geschichtsschreibung um 1800 sowie zu Problemen der Zeit- und Geschichtserfahrung. Veröffentlichungen u.a.: Vom Zeitigen in der Geschichte. Revolution, Zeiterfahrung und historische Sinnbildung beim späten Herder, in: Herder Yearbook 4, 1998; Heeren versus Pölitz, in: Regine Otto und John H. Zammito (Hrsg.), Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, Heidelberg 2001; Der Erfahrungswandel der Moderne und die Ästhetisierung der Geschichte: Aspekte der historischen Erfahrung bei J. G. Herder, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 95/ 2, 2003. 397
2003-07-31 11-38-55 --- Projekt: transcript.kumedi.rüsen.zeitdeuten / Dokument: FAX ID 01de27966146858|(S. 395-399) T05_00 autoren.p 27966147226
ZEIT DEUTEN
Ute Ritz-Müller, geboren 1950. Dr. phil., Studium der Ethnologie, Romanistik und Wirtschaftsgeographie in Frankfurt am Main; 1978 Magister Artium, 1982-87 wiss. Assistentin an der Universität Frankfurt am Main; 1986 Promotion; 1987-88 wiss. Assistentin am Frobenius-Institut; 1991-96 wiss. Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westfrikanischer Savanne«; 1987-97 Lehrbeauftragte an der Philipps-Universität Marburg. Feldforschungen in Ghana und Burkina Faso. Veröffentlichungen u.a.: Das Bedeutsame in den Erscheinungen. Divinationspraktiken in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1988; Bäume des Lebens. Zum Naturverständnis in der Westafrikanischen Savanne, in: Paideuma 1993; Afrikanisches Geschichtsdenken. Zur rituellen Nachstellung höfischer Geschichte, in: J. Rüsen/M. Gottlob u.A. Mittag (Hrsg.), Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung, Geschichte, Identität 4, Frankfurt am Main 1998; (Mit Klaus E. Müller) Soul of Africa. Magie eines Kontinents, Köln 1999. Jörn Rüsen, geboren 1938. Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, Philosophie, Literaturwissenschaft und Pädagogik an der Universität Köln. Professuren an der Freien Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bielefeld. 1994-1997 geschäftsführender Direktor des ZiF der Universität Bielefeld, seit April 1997 Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen und seit WS 1996/97 Professor für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur an der Universität Witten/Herdecke. Letzte Veröffentlichungen: Zerbrechende Zeit, Köln 2001; Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002; Kann gestern besser werden?, Berlin 2003. Dirk Rustemeyer, geboren 1959. Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, Sozialwissenschaften, Pädagogik und Geschichte. Lehrt Allgemeine Pädagogik an der Universität Trier und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke; Veröffentlichungen u.a.: Erzählungen. Bildungsdiskurse im Horizont von Theorien der Narration, Stuttgart 1997; Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg 2001; (Hrsg.), Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaften, Würzburg 2002; (Hrsg.), Bildlichkeit. Aspekte einer Theorie der Darstellung, Würzburg 2003; (Hrsg.), Erziehung in der Moderne, Würzburg 2003. Ulli Seegers, geboren 1970. Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaften in München, Bochum und Stuttgart, 1995-97 Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), 1998 Kulturwissenschaftliches Institut im Wissenschaftszentrum NRW, Essen, 2002 Promotion mit einer Arbeit zur Ästhetik der Hermetik im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen: Alchemie des Se398
2003-07-31 11-38-55 --- Projekt: transcript.kumedi.rüsen.zeitdeuten / Dokument: FAX ID 01de27966146858|(S. 395-399) T05_00 autoren.p 27966147226
AUTORINNEN UND AUTOREN
hens – Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert. Von der Repräsentation zur Gegenwart der Hermetik im Werk von Antonin Artaud, Yves Klein und Sigmar Polke, Köln 2003 (gekürzte Diss.); The Art Loss Register – Eine private Datenbank zwischen Kunstkriminalität, Beute- und NSRaubkunst, in: Museen im Zwielicht. Ankaufspolitik 1933-45 (Kolloquium Köln 11.-12.12.01); die eigene GESCHICHTE. Provenienzforschung an deutschen Kunstmuseen im internationalen Vergleich (Tagung Hamburg 20.-22.02.02), hrsg. v. d. Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste (Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Bd. 2), Magdeburg 2002, S. 203-210; Zeichnung der Zeit. Ziemlich – Ein »Tagebuch« von Jürgen Klauke (Recto … Verso), in: Jürgen Klauke, ziemlich. Tageszeichnungen 1979-81, hrsg. v. Erhard Klein, Köln 2001, o. P.; Sinnliche Wahrnehmung und Sinnbildung: ›Hermetische Kunst‹ als Theorie ästhetischer Anschauung, in: Jahrbuch 98/99 des Kulturwissenschaftlichen Institutes im Wissenschafts-Zentrum NRW, hrsg. v. Jörn Rüsen, Essen 1999, S. 223-253 Hanne Straube, geboren 1949. Dr. phil., Studium der Ethnologie, Turkologie und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und der Istanbul Üniversitesi in Istanbul/Türkei. Promotion 1986. Längere Forschungsaufenthalte in Nordgriechenland, der Türkei und Zentralasien. Forschungsschwerpunkte u.a.: Migration, Islam, Identitätsbildung, Ethnomedizin, Nationalstaatsbildung. Von Januar 1999 bis Ende August 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Ethnisch-nationale Identitätsbestimmung, Geschichtsbewußtsein und historische Sinnbildung in den jungen zentralasiatischen Republiken Kasachstan und Kirgistan«. Von Januar 1999 bis Ende März 2002 damit Mitglied in der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« unter der Leitung von Prof. Dr. Jörn Rüsen und Prof. Dr. Klaus E. Müller am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI), Essen. Derzeit Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität/Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u.a.: Exilanten oder Deutschländer? Türkische Migranten in Deutschland. Zur Konstruktion von Stereotypen, in: Sylvia M. Schomburg-Scherff/Beatrix Heintze (Hrsg.), Die offenen Grenzen der Ethnologie. Schlaglichter auf ein sich wandelndes Fach, Frankfurt am Main 2000, S. 170-183; Der kandierte Apfel. Türkische Deutschlandbilder, Berlin 2001; Reifung und Reife. Eine ethnologische Studie in einem sunnitischen Dorf der Westtürkei, Berlin 2002; »Der Geist von Manas lebt«. Die Inszenierung des Nationalen durch ein Heldenepos in Kirgistan. In: Andreas Ackermann & Britta Duelke (Hrsg.), Die Mäßigung des Ungemäßen: Studien zu Formen sozialer Sinnbildung, Bielefeld 2003 (im Druck)
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ZEIT DEUTEN
Abbildungsverzeichnis S. 140 S. 143 S. 166 S. 167 S. 385 S. 387 S. 389 S. 390 S. 392 S. 396
Fotografie von Ute Ritz-Müller Fotografie von Hans Zimmermann Fotografie von Hans Zimmermann Fotografie von Hans Zimmermann Fotografie von Werner Hannappel, Essen Lageplan des Kommunalverbandes Ruhrgebiet, Essen Fotografie von Werner Hannappel, Essen Fotografie des Kommunalverbandes Ruhrgebietes, Essen Fotografie von Werner Hannappel, Essen Fotografie von Werner Hannappel, Essen
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