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German Pages 462 Year 2014
Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus
Edition Kulturwissenschaft | Band 22
Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.)
Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Franz von Stuck: Siegergenius, mit freundlicher Genehmigung des Nachlasses Franz von Stuck. Lektorat: Nikolas Immer, Mareen van Marwyck und Mechthild Kühling Satz: Nikolas Immer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2253-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
V ORWORT UND PROLOG Helden gestalten. Zur Präsenz und Performanz des Heroischen Nikolas Immer und Mareen van Marwyck | 11 Heroen. Halbgötter aus dem antiken Griechenland Matthäus Heil | 29
A. T YPOLOGIE / PHÄNOMENOLOGIE / D IFFERENZ Ästhetik der Gewalt. Der ›Werwolf‹ als Symbol des negativen Heroismus und politischer Willkür Claudia Simone Dorchain | 51 Helden der Autonomie. Genieästhetik und der Heroismus der Tat Elisa Primavera-Lévy | 63 Pathologischer Heroismus im Drama der Jahrhundertwende – Hugo von Hofmannsthals Elektra und Gerhart Hauptmanns Bogen des Odysseus Christopher Meid | 83 Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird. Zu Geschichte, Wesen und Ästhetik von Superhelden Thomas Nehrlich | 107
B. REPRÄSENTATION / ÄSTHETISIERUNG / I NSZENIERUNG Gemacht und dennoch wahr. Die Präsenz des Helden auf der Leinwand Josef Früchtl | 131 »Riesenbild« – Figuration und Defiguration des Heroischen bei Büchner Sandro Holzheimer | 149 Der Auftritt des Helden. Zu einem konstitutiven Aspekt des Heroismus seit dem 19. Jahrhundert Jesko Reiling | 173 Heroismus der Verausgabung. Zum Werk von Rainald Goetz Carsten Rohde | 199
C. HISTORISIERUNG / F UNKTIONALISIERUNG / I DEOLOGISIERUNG Leyer und Schwerdt oder Ahnung und Gegenwart. Zwei Modelle des Heroischen zur Zeit der ›Befreiungskriege‹ Martin Disselkamp | 223 Der kollabierte Feind. Zur historischen Poetik des Kriegshelden von Jünger bis Goethe Claude Haas | 251 Der entsagende Held im Bundesroman des romantischen Sozialismus Theodore Ziolkowski | 275
Die Totalität der Mitte. Gustav Freytags Figur Anton Wohlfart und Wilhelm Raabes Protagonist Hans Unwirrsch als ›Helden‹ des antisemitischen ›Bildungsromans‹ im 19. Jahrhundert Jan Süselbeck | 293
D. M EDIALISIERUNG / CODIERUNG / SIMULATION Jeanne d’Arc im Film. Weiblicher Heroismus zwischen Mangel und Innovation Irina Gradinari | 325 Held mit Serienformat. Zur Figurendisposition von Special Agent Gibbs in Donald P. Bellisarios Navy CIS Nikolas Immer | 349 »That woman deserves her revenge«. Quentin Tarantinos Kill Bill und die Geburtsstunde der Screen Queen Tanja Prokiü | 379 Fliegende Helden und versehrte Körper. Die doppelte Heldenästhetik in Andy und Lana Wachowskis Matrix-Trilogie Mareen van Marwyck | 403
E PILOG Hacker, Nerds und Übermenschen. Die Helden der Cyberkultur Florian Leitner | 435
Beiträgerinnen und Beiträger | 453
Vorwort und Prolog
Helden gestalten Zur Präsenz und Performanz des Heroischen N IKOLAS I MMER , M AREEN VAN M ARWYCK
I. H ORIZONTE Ein Kennzeichen unserer als postheroisch bezeichneten Gegenwart ist die mediale Omnipräsenz des Helden. Vor allem in den Massenmedien hat die Figur des Helden ungebrochen Konjunktur. Das Spektrum reicht von der Aktualisierung antiker Heroen bis zur Etablierung neuer Superhelden, die als Extremform des Heroismus die Entgrenzung menschlicher Fähigkeiten ins Unermessliche verkörpern.1 Ist aber deswegen, lässt sich in Abwandlung von Bertolt Brechts Galileo fragen, eine Gesellschaft schon unglücklich, nur weil sie offenkundig Helden nötig hat?2 Unabhängig von der Frage nach dem Glückseligkeitsgrad einer Gesellschaft zeigt das permanente Festhalten an heroischen Vorstellungen, dass Heldenbilder konkrete gesellschaftspolitische und soziale Funktionen erfüllen. Prinzipiell dienen sie der physischen, psychischen oder auch ethischen Orientierung, indem sie modellhaft in Aussicht stellen, welche Extremleistungen die Gattung Mensch zu erreichen in der Lage ist. Ihre Außerordent-
1
Vgl. Joseph Imorde, Jörg Scheller (Hg.): Superhelden. Zur Ästhetisierung und Politisierung menschlicher Außerordentlichkeit. Marburg 2011.
2
In Brechts Theaterstück äußert Andrea Sarti die Meinung: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat!« Daraufhin antwortet Galilei: »Nein, unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« (Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Frankfurt a. M. 2003, S. 139 f.).
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lichkeit liegt in der Grenzüberschreitung zum Außergewöhnlichen, deren Faszinationskraft die Nachahmung des Helden befördert. Mit dem Konzept ›Ästhetischer Heroismus‹ soll in diesem Band zum einen der ästhetische Konstruktionscharakter fokussiert werden, der von der Antike an das Heroische prägt. In allen Künsten entwickeln sich Verfahrensweisen der ästhetischen Heroisierung, durch welche der exzeptionell Handelnde erst als Held erscheinen kann. In der Literaturgeschichte wird der Held wiederum selbst zum gattungsbestimmenden Element: So wäre etwa die antike Tragödie nicht ohne das Konzept des tragischen Helden denkbar, und in der Narratologie ist bis heute der Ausdruck ›Held‹ als Synonym für ›Protagonist‹ gebräuchlich. Diese Verwendung reduziert zwar den Begriff auf wenige Bedeutungsebenen, macht jedoch deutlich, dass Narration nur schwer ohne das Konzept des handelnden Einzelnen gedacht werden kann, selbst dann, wenn dieses Handeln wie im Fall des »Hesitant Hero« gerade als Unterlassen von Handlung inszeniert wird.3 Mit dem Begriff ›Ästhetischer Heroismus‹ soll zweitens eine Entwicklung in den Blick genommen werden, welche die Geschichte des Heroismus seit der bürgerlichen Moderne prägt: die zunehmende Verlagerung des Heroischen aus der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit in ästhetische Erfahrungsräume. Denn festzuhalten ist, dass im Prozess der Verbürgerlichung die Bedeutung realer Helden weitgehend geschwunden ist, da in bewusster Abgrenzung von menschlicher ›Barbarei‹ verbindliche Grenzen, Normen und Konventionen etabliert worden sind. Für den Heroismus als Phänomen der Grenzüberschreitung hat das die Konsequenz, auf begrenzte Aktionsfelder ausweichen zu müssen. Folglich dienen Helden in der Moderne nicht zuletzt der Kompensation, um angesichts einer aheroischen Realität das Bedürfnis nach heroischer Größe in virtuellen Räumen ausleben zu können. In diesem Sinne wurde etwa der Basketballspieler Dirk Nowitzki als »Held im Paralleluniversum« gefeiert, wenn seine exzeptionelle sportliche Leistung gewürdigt wird.4 Während das Fiktionspotential künstlerischer Medien die Voraussetzung für die Gestaltung neuer und ungewöhnlicher Heldenbilder schafft, er-
3
Vgl. Theodore Ziolkowski: Hesitant Heroes. Private Inhibition, Cultural Crisis. Ithaca, London 2004.
4
Jürgen von Rutenberg: »Held im Paralleluniversum«, in: Zeit Online (15. Juni 2011) [http://www.zeit.de/2011/25/WOS-Nowitzki; Zugriff: 1. September 2012].
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wachsen aus dem ständigen Rekurs auf die Merkmale, das Verhalten und das Aussehen des besonderen Einzelnen verbindliche Ikonographien des Heroischen. In diesem Sinne lässt sich beispielsweise die Internetwerbung für das anspielungsreiche und durchaus selbstironische Computerspiel Duke Nukem Forever (2011) lesen, zu der die entsprechende ProduktHomepage die Spielanleitung liefert: Setz die Sonnenbrille auf und schlüpf in die Rolle von Duke Nukem, jenes Mannes, der in den Jahren seit seinen letzten Abenteuern zur Über-Legende geworden ist. Alien-Horden überfallen uns, und nur Duke Nukem kann die Welt retten. Schweinebullen, Schrumpfstrahlen und monströse Alien-Bosse können unseren Helden nicht aufhalten: Sein Ziel ist es, die Welt und die Ladys zu retten – und das Ganze mit Style!5
Die virtuelle Spielwelt von Duke Nukem Forever generiert eine plakative Wirklichkeit mit ins Groteske überzeichneten Charakteren. Dem stereotypen Protagonisten, der zur »Über-Legende« stilisiert wird, stehen ebenso eindimensionale Antagonisten gegenüber. Noch sprechender als der Begleittext ist allerdings die Bildwerbung.
Internetwerbung für das Computerspiel Duke Nukem Forever (2011).
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http://www.dukenukem.com/full/de/#/information; Zugriff: 1. September 2012.
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In der Untersicht, mit der die Unterlegenheit des Betrachters und die Überlegenheit der Heldenfigur betont wird, erscheint die übermäßig mit Waffen und Muskeln ausgestattete Figur wie ein ins Monströse gesteigerter Kämpfer. Die Kombination von minimalistischer Mimik und kaschierender Sonnenbrille ruft nicht nur den Action-Typus des Terminators (1984) auf, sondern gilt zugleich als äußerer Ausweis heroischer ›Coolness‹.6 Schließlich dient die Frauenhand, die Duke Nukem seitlich umfasst, als Signet seiner sexuellen Potenz. In dieser Konfiguration erweist sich der Held als ein virtuelles Phantasma, in dem sich narzisstische Wunschprojektionen widerspiegeln. Im Gegensatz zu dieser Hyperbolisierung des Helden, dessen Kräfte und Fähigkeiten ins Über- und Widernatürliche gesteigert werden, lässt sich seit dem 20. Jahrhundert das Phänomen seiner Vermassung beobachten. Durch die Integration des Helden in den Lebenshorizont einer Gesellschaft wird er in Opposition zu den virtuellen Helden als Inklusionsfigur fassbar, die ein weites Spektrum an Identifikationsmöglichkeiten bereitstellt. Folglich dienen Helden auch der Bekräftigung, um gewöhnliche Formen individueller Präsentation oder Interaktion aufzuwerten und als außergewöhnlich erscheinen zu lassen. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang das Werbekonzept des Pharmakonzerns Lilly angeführt werden, der mit der Formel »Helden der Liebe« für seine Präparate zur Bekämpfung erektiler Dysfunktion wirbt. Unter der Rubrik »Helden erzählen« werden auf der Produkthomepage des Konzerns mehrere Ehepaare vorgestellt, die ihre persönlichen Erfahrungsberichte offen mitteilen.7 Da sich die Einnahme von Medikamenten zur Bekämpfung einer körperlichen Einschränkung jedoch mit traditionellen Mustern kaum als heroischer Akt werten lässt, zielt die Werbestrategie auf das ›mutige‹ Verhalten dieser Betroffenen. Ausgestellt wird die Tapferkeit, im Tabubereich sexueller Erkrankung eine individuelle Defizienz zuzugeben und aktiv dagegen vorzugehen. Im Gegensatz zu traditionellen Heldenvorstellungen gilt nicht mehr die direkte Demonstration von körperlichem Potential, sondern das offene Bekenntnis zu einer körperli-
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Vgl. Annette Geiger: Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde. Bielefeld 2010; Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt a. M. 2004, S. 292-300.
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http://www.helden-der-liebe.de/helden-erzaehlen/erfahrungen.html; Zugriff: 1. September 2012.
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chen Dysfunktion als heroische Qualität. Nun ist es nicht mehr die solitäre Gesamterscheinung, die den Helden kennzeichnet, sondern das ins Zentrum gerückte Einzelmerkmal. In diesem Horizont ist der Begriff ›Held‹ zu einem universalen Etikett geworden, das jeder für sich in Anspruch nehmen kann.8
II. S IGNATUREN Mit den Aspekten der Orientierung, Kompensation und Bekräftigung sind drei Bestimmungen formuliert, die den sozialen Funktionsgehalt der Leitfigur ›Held‹ umreißen. Doch trotz dieser vorläufigen Koordinaten erscheint es angesichts ihrer langen kulturhistorischen Tradition sowie der Multivalenz ihrer Erscheinungen nahezu unmöglich, eine allgemeingültige Definition des Helden zu formulieren. Vielmehr hat die permanente Umwertung und Umakzentuierung dieses menschlichen Phänotyps zur Variabilität seiner Konfiguration geführt. Erschien der antike Heros noch als Steigerung des Menschlichen ins Göttlich-Allgemeine, ist der moderne Held Ausdifferenzierungs-, Marginalisierungs- und Reaktualisierungsprozessen unterworfen, die den inneren Brüchen und Ambivalenzen des geistesgeschichtlichen Phänomens ›Moderne‹ Rechnung tragen.9 Es ist daher zu Recht behauptet worden, dass »kein allgemeines Modell« ausreiche, »den Helden zu identifizieren«, und er demnach über »keine intrinsische Qualität« verfüge.10 Demgegenüber werden mit der Figur des Helden jedoch noch immer kanonische Eigenschaften und Werte assoziiert, wird mit seiner Präsenz nach wie vor ein vergleichsweise konkreter Erwartungshorizont aufgerufen. In der historischen Rückschau ist zu konstatieren, dass Johann Heinrich Zedler Mitte des 18. Jahrhunderts noch eine bündige Bestimmung des Helden zu liefern versucht: »Held, Lat. Heros, ist einer, der von der Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibes-Stärcke begabet, durch tapffere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand
8
Vgl. Ute Frevert: »Vom heroischen Menschen zum ›Helden des Alltags‹«, in:
9
Vgl. Früchtl: Das unverschämte Ich (Anm. 6).
Merkur 63 (2009), H. 9/10, S. 803-812, hier S. 803. 10 Hans-Thies Lehmann: »Wunsch nach Bewunderung. Das Theater um den Helden«, in: Merkur 63 (2009), H. 9/10, S. 772-781, hier S. 779.
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derer Menschen erhoben.«11 Diese Definition, die vom Heldenbild der Antike ausgeht und vom Urtypus Herakles abgeleitet ist,12 ruft die Figur eines männlichen Protagonisten auf, der sich durch überragende Körperkraft und die Tugend der Tapferkeit auszeichnet. Doch Zedler beschreibt damit eine Konfiguration, die bereits zur Zeit ihrer Niederschrift brüchig zu werden beginnt. Während im Rahmen des militärischen Heroismus und Kriegsheldentums diese Vorstellungen präsent bleiben, wie Johann Wilhelm Ludwig Gleims Preußische Kriegslieder (1758) exemplarisch belegen,13 wächst gleichzeitig die Ambition, den traditionellen Heroismus zu karikieren. Vor allem der englische ›mock-heroism‹ treibt die Zahl parodierender und travestierender Heldengestaltungen in die Höhe. Parallel dazu öffnet sich der Heroismus dem erstarkenden Bürgertum. Was als Aufwertung des Bürgers zum Helden beschrieben werden kann,14 lässt sich gleichzeitig als Entheroisierung oder Depotenzierung überkommener Heldenvorstellungen lesen. So begreift beispielsweise Leonce in Georg Büchners Leonce und Lena (1836) Valerios Auffassung vom »Heroismus« nur noch als »Alexandersund Napoleonsromantik«.15 Trotz dieser Demontage des Helden werden traditionelle heroische Vorstellungen durch den anti-napoleonischen Patriotismus neu belebt. Während Theodor Körner in seiner prominenten Sammlung Leyer und Schwerdt (1814) das soldatische Kriegsheldentum besingt, feiern Dichter wie Fried-
11 Johann Heinrich Zedler: »Held«, in: ders.: Grosses vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste […]. 64 Bde. Halle, Leipzig 17321754, Bd. 12, S. 1214 f. 12 Vgl. Herakles/Herkules, Bd. 1: Metamorphosen des Heros in ihrer medialen Vielfalt. Hg. von Ralph Kray und Stephan Oettermann in Verbindung mit Karl Riha und Carsten Zelle. Bd. 2: Medienhistorischer Aufriß. Repertorium zur internationalen Stil- und Motivgeschichte. Mit einer Einleitung von Ralph Kray. Basel, Frankfurt a. M. 1994. 13 Zur Tradition des Kriegsheldentums vgl. Michael Gratzke: Blut und Feuer. Heldentum bei Lessing, Kleist, Fontane, Jünger und Heiner Müller. Würzburg 2011. 14 Vgl. Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt a. M. 1973. 15 Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. 2 Bde. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 1992-1999, Bd. 1, S. 108.
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rich Rückert und Georg Herwegh die militärischen Sieger der Befreiungskriege.16 Angesichts der ›Krise des Heroischen‹ erleben zudem weibliche Helden eine Konjunktur: als kompensatorische Projektionsfiguren, die dem unheroisch gewordenen Mann einen kritischen Spiegel vorhalten,17 oder als Repräsentanten einer alternativen anmutigen Helden- und Gewaltästhetik, der komplementäre Funktionen zum männlich codierten Erhabenen zukommen. Wie das Erhabene dient die anmutig-weibliche Heldeninszenierung dazu, die in der bürgerlichen Ästhetik problematisch gewordene Gewalt des Helden ästhetisch fassbar werden zu lassen und sie zugleich moralisch zu rechtfertigen.18 Gleichzeitig ist verstärkt die Historisierung bedeutender Heldenfiguren zu beobachten, die als Leitfiguren für nachwachsende Generationen etabliert werden. So verfasst Friedrich Philipp Wilmsen Heldengemälde aus Roms, Deutschlands und Schwedens Vorzeit (1814), mit denen er sich ausdrücklich, wie es der Untertitel zu verstehen gibt, an die »Jugend unseres kriegerischen Zeitalters« wendet.19 Nur wenig später erweitert Thomas Carlyle in seinen Vorlesungen On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History (1840) die geschichtliche Perspektive zu einer typologischen. Die Reihe spannt einen Bogen vom Helden als Gottheit, wofür eingangs Odin namhaft gemacht wird, bis zum Helden als König, den Carlyle als den »erheblichste[n] der großen Menschen« begreift.20 In Anlehnung an die Entwicklungslinien der Historisierung und Typologisierung verstärkt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Tendenz zur narratologischen Konzeptualisierung. So bestimmt etwa Friedrich Spielhagen in seiner Rezension
16 Vgl. exemplarisch die Sammlung: Deutschlands Kampf- und Freiheitslieder. Hg. von Robert Prutz. Leipzig 1865. 17 Vgl. Anett Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg 2004. 18 Vgl. Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010. 19 Vgl. F[riedrich] P[hilipp] Wilmsen: Pantheon deutscher Helden. Ein historisches Lesebuch für die Jugend zur Belebung der Vaterlandsliebe und des Eifers für die Wissenschaft. Berlin 1830. 20 Thomas Carlyle: Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Sechs Vorlesungen. Übersetzt von J. Neuberg, hg. von Robert von Erdberg. Berlin [1912], S. 223.
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Der Held im Roman (1874) den Helden nicht nur als »das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht«,21 sondern wertet ihn konstitutiv zum stofflichen Zentrum der Großgattung ›Roman‹ auf. Spielhagens literaturtheoretische Fokussierung des Helden steht im Kontext einer wachsenden Heroisierung der Person des Dichters. Dieser Prozess lässt sich als Folge des massiven Dichter- und Memorialkults begreifen, der im 19. Jahrhundert mit der Monumentalisierung Friedrich Schillers und Johann Wolfgang Goethes einsetzt. Nach der Jahrhundertwende etabliert sich mit dem Kreis um Stefan George eine radikale Form heroischer Dichter-Stilisierung.22 Obwohl George selbst nicht mit den Nationalsozialisten sympathisiert, weist doch die in seinem Kreis zelebrierte kultische Anerkennung von Führerschaft auf die Machtstrukturen der Faschisten voraus. Der seit der Neuzeit mit moralischer und ethischer Vorbildschaft gekoppelte Heldengedanke wird durch die Integration in das nationalsozialistische Gemeinschaftskonzept eines vermeintlich überlegenen Germanentums ad absurdum geführt.23 Die massive Instrumentalisierung heroischer Leitbilder findet ihre Fortsetzung in der Ideologie des Sozialismus, die einerseits den Kollektivhelden generiert und andererseits den ›positiven Helden‹ – zumeist in Form eines ›Helden der Arbeit‹ – als überdimensionales und doch anspornendes Beispiel präsentiert. Mit der Ausweitung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der zunehmenden Technisierung und Medialisierung sind am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert etliche neue Formationen von Heldenfiguren entstanden. Doch während Film-, Comic- und Computerhelden verstärkt virtuelle Räume beleben, ist, wie eingangs skizziert, der Heldenbegriff längst Bestandteil der Alltagskultur geworden. Auch wenn die Eingrenzung des menschheitsgeschichtlichen Paradigmas ›Held‹ aufgrund der qualitativ heterogenen und quantitativ nicht mehr überschaubaren Einzelphänomene vergleichsweise schwierig anmutet, soll im Folgenden heuristisch versucht werden, vier übergreifende Strukturfel-
21 Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883, S. 72. 22 Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2
2007, S. 255.
23 Vgl. beispielhaft: Kurt Berger: Menschenbild und Heldenmythos in der Dichtung des deutschen Idealismus. Berlin 1940.
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der zu beschreiben, die es erlauben, die Variationsbreite heroischer Erscheinungsformen systematisch fassbar zu machen. A. Typologie / Phänomenologie / Differenz Mit Thomas Carlyles Vorlesungen On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History wird ein frühes Modell zur Kategorisierung heroischer Phänotypen greifbar. Die Differenzierung zwischen dem Helden als Gottheit, Prophet, Dichter, Priester, Schriftsteller und König verklammert den Heroismus nicht nur mit gesellschaftlich exponierten Funktionen, sondern etabliert zugleich ein historisierendes und hierarchisierendes Panorama unterschiedlicher Erscheinungsformen. Während beispielsweise der »Held als Gottheit« und »der Held als Prophet« als »Erzeugnisse früher Zeitalter« begriffen werden,24 verkörpert der »Held als Dichter« – der als poeta vates dennoch Verwandtschaft mit dem Propheten zeige – bereits einen modernen Heldentypus. Carlyles historischer Zugriff besteht darin, mit Dante und Shakespeare zwei Dichterpersönlichkeiten zu präsentieren, die ihm zufolge beim Leser noch immer die »unzerstörbare Ehrfurcht für das Heldenartige« zu wecken vermögen.25 Ihre Fortsetzungen hat dieser typologische Versuch Carlyles in Ralph Waldo Emersons Vorlesungen Representative Men (1850) und noch in Joseph Campbells Studie The Hero with a Thousand Faces (1943) gefunden. In seinem Binnenkapitel »Die Verwandlungen des Heros« unterscheidet der Mythenforscher Campbell zwischen den Heldenfiguren des Kriegers, des Liebenden, des Herrschers, des Welterlösers und des Heiligen.26 Gleichzeitig liefert Campbell mit der ›Heldenreise‹ ein Modell für den klassischen Entwicklungsweg des besonderen Einzelnen, der die Stationen ›Aufbruch – Initiation – Rückkehr‹ umfasst. Einzuschränken bleibt allerdings, dass die Typologisierungen von Carlyle, Emerson und Campbell zwar ein breites Spektrum von Heldenfiguren abbilden, jedoch nur bedingt Ansätze für eine definitorische Eingrenzung des Begriffs ›Held‹ liefern. Ergänzend sind daher neuere Bestimmungsversuche zu nennen, die mit den Aspekten der Liminalität und Transgression sowie der
24 Carlyle: Helden (Anm. 20), S. 89. 25 Ebd., S. 97. 26 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Übers. von Karl Koehne. Frankfurt a. M. 1953.
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Exzeptionalität, Unzeitgemäßheit, Vorbildlichkeit und Konstruiertheit sowie der Differenzqualität, Krisenhaftigkeit und Projektionalität operieren. In einem ersten Ansatz bestimmt Anett Kollmann den Helden als Grenzgänger und weist ihm im Anschluss an die ethnologischen Modelle Victor Turners eine liminale Existenz zu.27 Damit wird der Held in einem Schwellenbereich menschlichen Daseins angesiedelt, von dem aus sowohl die Rückkehr in die zivile Ordnung als auch die Transgression in einen jenseitigen Aktionsbereich möglich erscheint. Daneben begreift Nikolas Immer den Helden als Projektionsfigur, der seine Qualitäten aus dem Spannungsfeld von Individuum und Gemeinschaft bezieht.28 Während sich der besondere Einzelne aufgrund seiner Exzeptionalität über die Masse erhebt, verweisen deren Rezeptionsformen der Glorifizierung und Dämonisierung auf den Konstruktionsgehalt des Helden. Im Hinblick auf diese Stilisierung kann er zu einem Vor- und Leitbild avancieren, aber auch, als unzeitgemäßer Held, in einem Verhältnis der Isolation befangen bleiben. Schließlich akzentuiert Eckhard Schinkel die spezifische Alterität des Helden, dessen Figurationen »Differenz-Erfahrungen zum Ausdruck« bringen.29 Aufgewertet zu einem Objekt kultureller Selbstreflexion, erweist sich der Held als Indikator für soziale Krisenphänomene sowie als Projektionsfläche für aktuelle Problemstellungen in Kultur und Gesellschaft. B. Repräsentation / Ästhetisierung / Inszenierung Konstitutiv für den Bedeutungsgehalt einer Heldenfigur ist die Art ihrer Darbietung. Abhängig vom Medium der Darstellung sowie von der Wirkungsstrategie entwickeln sich je eigene Formen der Ästhetisierung und Inszenierung heroischer Präsenz. Diese wiederum werden insbesondere von Faktoren der Konzeption, der Evaluation, der Tradition und der Repräsentation beeinflusst. Im Fall der Konzeption wird die künstlerische Vergegen-
27 Vgl. Kollmann: Empfindsamkeit (Anm. 17), S. 17-34. 28 Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 3-12. 29 Eckhard Schinkel: »Die Helden-Maschine. Zur Aktualität und Tradition von Heldenbildern – Stichworte zu einem schillernden Begriff«, in: Die HeldenMaschine. Zur Aktualität und Tradition von Heldenbildern. Hg. vom LWLIndustriemuseum. Essen 2010, S. 8-18, hier S. 11.
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wärtigung des Helden von dessen theoretischer Fundierung bestimmt, wie das die Modellfälle des stoischen, erhabenen oder coolen Helden belegen. So entwickelt beispielsweise Schiller im Rahmen seiner Tragödientheorie das Konzept des Pathetisch-Erhabenen, demzufolge der Wechsel vom physischen Leiden zur psychischen Erhebung über das Leiden bühnenwirksam ausgestellt werden muss. Im Fall der Evaluation ist nach der dem Kunstwerk inhärenten Bewertung des präsentierten Helden zu fragen, deren Variationsspektrum sich von der Affirmation bis zur Negation sowie von der Monumentalisierung bis zur Karikierung spannen kann. Auf diese Weise stehen radikalen Huldigungen im Rahmen des Heldenkults Artikulationsformen gegenüber, mit denen die Ridikülisierung des Helden betrieben wird und die dennoch, indem die Karikatur das Charakteristische herausarbeitet, die Kontur des Heldenbildes zu festigen vermögen. Im Fall der Tradition bildet sich im kulturhistorischen Verlauf eine Topik heroischer Darstellungen heraus. Aus kennzeichnenden Mythologemen, individualisierenden Attributen oder typisierenden Gesten entwickeln sich ikonografische Muster, deren zentrale rezeptionsästhetische Funktion darin besteht, die Wiedererkennbarkeit der Heldenfiguren zu sichern. Die Etablierung einer festgelegten Darstellungssprache verankert den Helden als konstante Erinnerungsgröße im kulturellen Gedächtnis. Schließlich wird im Fall der Repräsentation nach dem gesellschaftlichen Bedeutungshorizont einer Heldenfigur gefragt. Indem sie als liminale Erscheinung in Grenzbereichen sozialer Macht- und Herrschaftsstrukturen agiert, kann ihr exemplarisches Verhalten Perspektiven und Beschränkungen von Gemeinschaftssystemen vor Augen führen. In diesem Horizont avanciert der Held zum strukturrelevanten Träger gesellschaftsbildender Normen und Wertvorstellungen. C. Historisierung / Funktionalisierung / Ideologisierung Heldenbilder unterliegen stetiger Veränderung und damit dem historischen Wandel. Auf die Formierung seiner Existenz durch die narrative Beglaubigung folgen Prozesse der geschichtlichen Rekonstruktion und künstlerischen Transformation, die das phänomenologische Profil sowie den funktionalen Gehalt eines konkreten Heldentyps erweitern. Aufgrund der wechselseitigen Relation von Held und Gemeinschaft avanciert der besondere Einzelne zur Explikationsfigur einer mentalitäts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Disposition während eines begrenzten historischen Zeit-
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raums,30 da die spezifische Konfiguration einer geschichtlichen Epoche maßgeblich zur Bildung und Manifestation heroischer Paradigmen beiträgt.31 Nach Herfried Münkler erweist sich der Akt des Selbstopfers als Differenzphänomen zur Unterscheidung heroischer und postheroischer Gesellschaften.32 Während die heroische Gesellschaft über die Ideologie der Verausgabung charakterisiert wird, da ihr der Untergang bevorsteht und sie deshalb den Heldentod als hohen ideellen Wert etabliert, ist in postheroischen Gesellschaften die Vorstellung des Opfertodes obsolet geworden. Aufgrund der »Selbstzufriedenheit postheroischer Gesellschaft« bleibt dem Helden, der sich zu opfern bereit ist, nur der Möglichkeitsraum der Kunst vorbehalten. Exemplarisch belegt dies der Film Saving Private Ryan (USA 1998), der die heroische Opferbereitschaft der amerikanischen Soldaten bei der Landung in der Normandie ästhetisch inszeniert und als bewunderungswürdig vorstellt, zugleich aber den Sinn der Opferung des Einzelnen für das Kollektiv aus der Perspektive der postheroischen Gesellschaft hinterfragt. Darüber hinaus erlauben die Schauplätze moderner kriegerischer Handlungen kaum mehr die einzelne heroische Bewährung, da sich mit den Massenkriegen des 20. Jahrhunderts die Perspektive vom Heroismus zum Viktimismus verschoben hat.33 Daraus folgt, dass in der historischen Kontur des Helden seine funktionale Bedeutung fassbar wird. Als dominante Orientierungsgröße trägt er zur Identitätsbildung einer Gemeinschaft bei und verkörpert ihr prägendes Werteverständnis. Während sich der Held auf diese Weise auch als abschreckendes Gegenbild einsetzen lässt, um ex negativo auf die ethische Ausbildung einer Gruppe hinzuarbeiten, bleibt er gleichfalls für die Umsetzung ideologischer und demagogischer Wirkungsziele instrumentalisierbar.
30 Vgl. Jan Philipp Reemtsma: »Der Held, das Ich und das Wir«, in: Mittelweg. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 36 (2009), H. 4, S. 4164. 31 Vgl. exemplarisch: Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002. 32 Vgl. Herfried Münkler: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur 61 (2007), H. 8/9, S. 742-752. 33 Vgl. Martin Sabrow: »Heroismus und Viktimismus. Überlegungen zum deutschen Opferdiskurs in historischer Perspektive«, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien 43/44 (2008), S. 7-20.
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D. Medialisierung / Codierung / Simulation Helden sind medial konstruierte Figuren. Im kulturhistorischen Verlauf ist die literarische Narration von Heldenviten durch filmische Präsentationen in ihrer Komplexität erweitert worden. Dabei veranschaulicht der Film nicht nur ein breites Darstellungsspektrum heroischer Inszenierungen, sondern erweist sich auch zunehmend als Medium der ästhetischen Selbstreflexion über die Frage, wie Helden gemacht werden.34 Ergebnis dieser Doppelperspektive kann die Spannung zwischen heroischer Visualisierung und ihrer gleichzeitigen reflexiven Infragestellung sein. So tritt beispielsweise John McClane in Live Free or Die Hard (USA 2007) als robuster und kampferprobter Akteur in Erscheinung, dessen Heldentum sich zwar mit dem Grad körperlicher Versehrung vergrößert, der es aber in der expliziten Thematisierung von Dispositiven des Heroischen ablehnt, die Rolle eines Helden auszufüllen. Mit der wachsenden Gegenwart des Helden in den visuellen Medien ›Film‹ und ›Computerspiel‹ etablieren sich nicht allein ungewohnte Bildsprachen und Darstellungsmuster, sondern auch neue Codierungen heroischer Präsenz. Beispielsweise werden traditionelle Attribute des Helden aufgerufen, um ins Überdimensionale gesteigert zu werden, wie dies die eingangs genannte Figur ›Duke Nukem‹ anschaulich zeigt. In Opposition dazu entstehen Simulationen, in denen der Held in der Fiktion nahezu verschwindet, indem er mit dem Rezipienten verschmilzt. Exemplarisch ist hier die Gattung der Ego-Shooter zu nennen, in denen der Blickwinkel des Computerhelden mit dem Blickwinkel des Spielers identisch wird. Diese Form der Interaktivität lässt sich als Steigerung des klassischen Verfahrens der ästhetischen Identifikation begreifen.35 Der Rezipient, der in der fiktionalen Rolle des Helden distanzlos dessen Gegenwart erlebt, macht vermittels der ästhetischen Einfühlung Erfahrungen, die sein Alltagsleben nicht ermöglicht. Problematisch ist der innere Widerspruch, den diese Form der Heroismusrezeption hervorbringt. Zum einen wird das traditionelle Prinzip der Vorbildschaft des Helden zur Perfektion getrieben, indem der Rezipient schon im ästhetischen Erleben des Heros selbst zum ›Handeln-
34 Vgl. Josef Früchtl: »Und diesen Unsinn glauben wir. Zur Selbstreflexion der Heldenfigur im Film«, in: Merkur 63 (2009), H. 9/10, S. 965-972. 35 Vgl. Hans Robert Jauß: »Levels of Identification of Hero and Audience«, in: New Literary History 5 (1974), Nr. 2, S. 283-317.
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den‹, zum ›Helden‹ wird: Rezeption und Nachahmung fallen hier zusammen. Zum anderen versucht die bürgerliche Literatur und in ihrer Tradition auch der Film und das Computerspiel – anders als in vorbürgerlichen Epochen, in denen die Heldendarstellungen explizit auf die Nachahmung des heroischen Handelns in der Realität zielten, um etwa Soldaten zu tapferem Handeln zu motivieren – das heroische Handeln in der Wirklichkeit durch das ästhetische Erleben zu ersetzen. Held und Zuschauer sollen zwar verschmelzen, jedoch nur in der virtuellen Realität. Diese Heldenästhetik kollabiert genau in dem Moment, in dem Verhaltensweisen des Helden in die unheroische Lebenswirklichkeit importiert werden. Dies ist schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu beaobachten, als die Lektüre von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) ein grassierendes ›Werther-Fieber‹ auslöste, in dessen Verlauf mehrere junge Männer Suizid begingen. In der Gegenwart stehen beispielsweise im Zusammenhang mit zeitgenössischen Phänomenen exzessiver Jugendgewalt immer wieder Computerspiele unter Verdacht, eine Vorbildfunktion für das Verhalten der jugendlichen Straftäter einzunehmen, so etwa das Spiel Far Cry II, das vom Amokläufer von Winnenden noch vor seiner Tat gespielt worden war. In diesem Ego-Shooter-Spiel muss der ›Held‹ einen berüchtigten Waffenhändler finden und töten. Auch wenn die Gewalttaten nicht dem fiktionalen Produkt oder dessen Produzenten ethisch oder juristisch zur Last gelegt werden können, zeigen die geschilderten Phänomene doch eines: Die Fixierung auf den simulierten Helden kann im Extremfall eine Konditionierung der Wahrnehmung zur Folge haben, in der Erscheinungsbild und Handlungsprofil des Heros vollständig imitiert werden, während sein Konstruktionscharakter vollkommen ausgeblendet bleibt.
III. P ANORAMA Der vorliegende Sammelband wird von Matthäus HEIL mit einem Aufsatz eröffnet, der sich mit der mythischen Tradition des Helden im antiken Griechenland befasst. Anhand überlieferter kultischer Rituale und Mythen skizziert er die ästhetischen Inszenierungen des Helden als Halbgott und Übermensch und veranschaulicht auf diese Weise die Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung spezifisch moderner Heldenkonzeptionen.
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Im ersten Abschnitt ›Typologie / Phänomenologie / Differenz‹ wird die Frage exponiert, durch welche typologischen Merkmale, durch welche Differenzen und Abgrenzungen vom Nichtheroischen sich der Held konstituiert. Versammelt sind hier vier einschlägige Aufsätze, die jeweils einen Heldentypus charakterisieren und zeigen, wie sich dieser in Ausgrenzung eines ›Anderen‹ konstituiert, das jedoch immer auch Teil der Persönlichkeit des Helden selbst ist und ihn infrage stellt. So widmet sich Claudia Simone DORCHAIN der Erscheinungsform des negativen Helden, der in den Theoriebildungen von Sulzer, Schiller über Benjamin und Bataille die Definition des Heros als Abgrenzungsfigur prägt, die gleichzeitig immer wieder Gemeinsamkeiten mit dem Helden aufweist, und hierdurch dessen inhumane, gewaltsame und wahnhafte Züge entlarvt. Als Sinnbild dieses negativen Heldentyps untersucht Dorchain literarische Darstellungen des Werwolfs, der als Inbegriff absoluten Machtstrebens konstruiert wurde. Elisa PRIMAVERA-LÉVY nimmt in ihrem Aufsatz einen Heldentypus in den Blick, der sich vor dem Hintergrund autonomieästhetischer Theoriebildung von Karl Philipp Moritz über Nietzsche bis hin zu Jünger entwickelt. Im Vordergrund steht der Künstler als Held, der explizit mit dem kriegerischen Helden parallelisiert wird, wobei es die Glorifizierung der Tat ist, die beide Typen verbindet. Christopher MEID beschäftigt sich mit dem Helden in seiner Abgrenzung und Identifikation mit dem Wahnsinn im Drama Hugo von Hofmannsthals und Gerhard Hauptmanns. Thomas NEHRLICH widmet sich dem Typus des Superhelden, der seine Abgrenzungsfigur in sich selbst, seinem bürgerlichen Alter Ego findet, und beleuchtet die Funktion der Maske, der Verkleidung und des Identitätswandels als kennzeichnende Merkmale der Superheldenstoffe Batman und Superman. Im zweiten Abschnitt ›Repräsentation / Ästhetisierung / Inszenierung‹ werden ästhetische Praktiken und Techniken diskutiert, mit denen Helden repräsentiert und inszeniert werden. Josef FRÜCHTL befasst sich mit der in der dekonstruktivistischen Theorie lange in Misskredit geratenen Kategorie der ›Präsenz‹, die heute in verschiedenen philosophischen Theorien eine Rehabilitierung erfährt. Früchtl demonstriert, dass es diese Kategorie ist, die das ästhetische Erleben des Helden in einer seiner wichtigsten zeitgenössischen Wirkungsformen codiert: dem Sport. Sandro HOLZHEIMER fragt nach den Bedingungen einer ›Ästhetik der Tat‹, die für die Inszenierung des Heroischen wesentlich ist. Hierfür findet er in Gilles Deleuzes Konzept des Aktionsbildes eine ideale ästhetische Konzeption vor, die Handlung als
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vorrangiges Merkmal der Inszenierung etabliert. Aus der Perspektive der Deleuze’schen Theorie analysiert Holzheimer Büchners Drama Dantons Tod und macht plausibel, wie hier die Ästhetik des Aktionsbildes konterkariert wird und sich das Drama als antiheroische Inszenierung erweist. Jesko REILING nimmt den Helden als rezeptionsästhetisches Phänomen in den Blick und konzentriert sich auf die »Ästhetik des ersten Auftritts«, indem er dessen affektmodulatorische Strategien untersucht. Carsten ROHDE weist nach, dass auch in zeitgenössischer antiheroischer Literatur noch Heldenbilder herangezogen werden, um soziale Utopien zu transportieren. So reaktiviere Rainald Goetz mit Rave und anderen Schriften aus den 1990er Jahren in seiner Inszenierung der nächtlichen Lebenswelt des Rave als sozialer Utopie nicht nur das (alt-)heroische Energiezentrum schlechthin, das Pathos. Vielmehr ziele Goetz mit seinen Techno-Texten insgesamt auf eine Vorstellung von Individualität und Sozialität, die in vielerlei Hinsicht einer postheroischen Re- und Umcodierung heroischer Werte (Größe, Kraft, Tatkraft usw.) gleichkommt. Im dritten Abschnitt ›Historisierung / Funktionalisierung / Ideologisierung‹ konzentriert sich die Diskussion auf die epochenspezifische Funktionalisierung des Heroischen. Ein zentrales historisches Schlüsselmoment dieser ideologischen Gewichtung des Helden lässt sich mit den Napoleonischen Kriegen benennen, die nachhaltig zur Reaktualisierung heroischer Werte im 19. Jahrhundert beitragen. In dieser Zeit zeichnet sich ein Konflikt zwischen den heroismuskritischen Tendenzen aus dem Geiste der Aufklärung und den reheroisierenden Strömungen im Geiste des Nationalismus ab. Paradigmatisch für diese Ambivalenz ist für Martin DISSELKAMP die diffizile und ambivalente Codierung des Heroischen in Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart. In dem Roman werden zwar die Napoleonischen Kriege als Inbegriff der Reheroisierung der deutschsprachigen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts aufgegriffen und ästhetisiert. Aus der Perspektive eines an der pragmatischen Wirklichkeit scheiternden Helden, der sich in ein Eremitendasein zurückzieht, wird jedoch die unheroische Gegenwart kritisiert. Darüber hinaus wird mit der satirischen Darstellungsform auch die konventionelle Medialisierung des Heroischen infrage gestellt. Vor dem Hintergrund einer negativen Zeitdiagnose enthalte Ahnung und Gegenwart einen paradoxen Entwurf heroischer Größe, der dazu tendiert, sich allen medialen Vermittlungen des Heroischen zu entziehen und sich schließlich selbst zu annihilieren. Claude HAAS widmet sich einer Ent-
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wicklung, die im 19. Jahrhundert beginnt und entscheidende Auswirkungen auf die Heroisierung des modernen Massenkrieges nimmt: das Verschwinden des ebenbürtigen Gegners als Held und die Selbstopferung als oberstes Gebot der heroischen Selbstkonstitution. Der Massenkrieg bringe keine typischen Bewährungssituationen des Helden mehr hervor, wie es paradigmatisch im heroischen Zweikampf der Fall war. Die Gegner treffen nicht mehr als ebenbürtige Heroen aufeinander, die sich einen Grundbestand an Respekt entgegenbringen, sondern bleiben anonym, was zur Dämonisierung des Gegners führt. Nun verbürgt nicht mehr das Kampfgeschick, sondern die Bereitschaft, im Krieg zu sterben, die heroische Konstitution des Individuums. Theodore ZIOLKOWSKI nimmt mit dem Bundesroman in der Tradition des Wilhelm Meister das ambivalente Verhältnis von Kollektiv und Heros in der sozialistischen Ideologie in den Blick. Ein Held kann – gemäß den sozialistischen Idealen – nur derjenige sein, der sich beispielhaft dem Kollektiv unterordnet. Hierdurch geraten die Inszenierungen jedoch zwangsläufig in Konflikt mit typologischen Merkmalen des Helden wie denen der Exzeptionalität und Individualität. Jan SÜSELBECK beschäftigt sich mit ausgewählten Heldenfiguren im antisemitischen ›Bildungsroman‹ des 19. Jahrhunderts. In Gustav Freytags Soll und Haben und Wilhelm Raabes Der Hungerpastor wird mit der Figur des deutschen Kaufmanns ein »Heroismus der Mittelmäßigkeit« etabliert, der gerade in Abgrenzung von traditionellen heroischen Werten Kontur gewinnt. Die mit Anton Wohlfart und Hans Unwirrsch konstruierten nationalen Selbstbilder konstitutieren sich dabei über die rassistische Abwertung jüdischer Referenzfiguren. Im vierten Abschnitt ›Medialisierung / Codierung / Simulation‹ behandeln die Beiträge vorwiegend filmische Inszenierungen des Helden und ihren ästhetischen und zeitspezifischen Implikationen. Irina GRADINARI beleuchtet die medienspezifischen Codierungen des weiblichen Heroismus in den Jeanne-d’Arc-Verfilmungen. Nikolas IMMER widmet sich der erfolgreichen amerikanischen Fernsehserie Navy CIS, um daran das Konzept des seriellen Helden zu untersuchen. Im Zentrum der Analyse steht die Figurenanlage von Special Agent Leroy Jethro Gibbs, der sich zwar einer heroisierenden Glorifizierung bewusst verweigert, dessen Unbedingtheit bei der Verbrechensbekämpfung jedoch unbestreitbar heroische Züge zutage treten lässt. Die serielle Wiederholung der typisierten Heldenkonfigurationen sichert ihre Wiedererkennbarkeit und evoziert ein enges Bindungsverhältnis zwischen Serienheld und Zuschauer. Tanja PROKIC analysiert die Inszenie-
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rung weiblicher Helden im zeitgenössischen Actionfilm und zeigt, dass sich die Figuren dadurch auszeichnen, dass sie weibliche und männliche Geschlechteridentitäten in sich vereinen und damit die Geschlechterdifferenz unterwandern. Diese neuen Figuren seien ›extraexzeptionell‹, ›extra-liminal‹ und ›extra-transgressiv‹, da sie Geschlechtsmerkmale beider Geschlechter in ein übermenschliches Modell integrieren. Mareen VAN MARWYCK setzt sich mit dem Verhältnis von Heroismusdiskurs und dem Diskurs des Humanen auseinander. In filmischen Inszenierungen des 20. und 21. Jahrhunderts wird die seit der Moderne emphatisch human gedachte Figuration des Heroischen durch die wachsenden Kompetenzen der Technik und die Eigenmächtigkeit künstlicher Intelligenz infrage gestellt. Beispielhaft setzen die Matrix-Filme von Andy und Lana Wachowski den vergeblichen Kampf um eine spezifisch humane heroische Identität in Szene und ästhetisieren mit dem Verhältnis von Mensch und Avatar eine neue Heldenfiguration. Hierfür greift die Filmreihe auf zwei ästhetische Heroismuskonzeptionen zurück, die vor allem um 1800 eine entscheidende Rolle spielten: die Anmut und das Erhabene. Der Sammelband schließt mit einem neuen Typus des Helden, der bewusst mit tradierten Männlichkeits- und Heldenbildern bricht, der jedoch vom Hollywoodkino wiederum mit Mustern überlieferter Heldenmythen charakterisiert ist. Es ist der Nerd, der Hacker, der Computerfreak, der im Mittelpunkt von Florian LEITNERS Beitrag steht. Leitner zeichnet die heroisierenden Strategien des Hollywoodkinos in der Darstellung des Nerds nach und zeigt, dass die Filme das teleologische Geschichtsmodell, das der Computerkultur inhärent ist, rezipieren und die Nerds zu Gründervätern einer neuen, digitalen Ordnung stilisieren.
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Achilleus, Herakles und die anderen Helden des antiken Griechenland sind nicht dem Vergessen anheimgefallen. Ihnen kam gleich mehreres zugute: Große Kämpfer und Kraftkerle, die Ungeheuer totschlagen – solche Figuren sind für alle leicht fasslich und nicht an ein spezifisches Publikum gebunden. Außerdem wurden der Trojanische Krieg, die Heimkehr des Odysseus und ähnliche Geschichten schon früh zum Gegenstand von Literatur in Griechisch und dann auch in Latein, und diese wiederum wurde – neben der Bibel und den Kirchenvätern – zur Grundlage aller höheren Bildung des europäischen Mittelalters und noch mehr der Neuzeit bis tief ins 19. Jahrhundert. Infolgedessen haben auch neuzeitliche Maler, Bildhauer und Schriftsteller die alten Helden immer wieder dargestellt und sie damit lebendig gehalten.1 Zwar hat das Bildungsgut aus der Antike mittlerweile an öffentlicher Geltung verloren, aber ein starker Bodensatz ist noch immer vorhanden, und seine Wirkung lässt sich bis in die Populärkultur hinein verfolgen.2 So sind auch noch die modernen Vorstellungen 1
Etliches Material hierzu bietet Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Wien 1959 (oft nachgedruckt). – Die antiken Texte und Inschriften sowie die altertumswissenschaftlichen Standardwerke werden im Folgenden zitiert gemäß dem Abkürzungsverzeichnis in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München 1964-1975.
2
Siehe z. B. Otta Wenskus: Umwege in die Vergangenheit. Star Trek und die griechisch-römische Antike. Innsbruck 2009.
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von Heldentum direkt oder indirekt vom Gedanken an Achilleus, Odysseus und ihresgleichen beeinflusst. Nicht zufällig ist der griechische Terminus ›Heros‹ (ਸ਼ȡȦȢ) in den meisten europäischen Sprachen zur Bezeichnung des Helden überhaupt geworden, und im Deutschen ist das Adjektiv ›heroisch‹ auch jenseits der Bildungssprache geläufig. Aber was macht den Heros aus – oder besser: Wie ist dieses Muster von Heldentum vorgeprägt? Ein Rückblick ins antike Griechenland wird weniger zu einer Definition führen als einen Prozess vor Augen stellen. Denn wie sich zeigen wird, waren die griechischen Helden ursprünglich in eine sehr spezifische – auch religiöse – Vorstellungswelt verflochten, und viele zeitbedingte Elemente wurden erst in Übertragungsprozessen ausgefiltert. Die Grundzüge der ursprünglichen Konzeption sind trotzdem erhalten geblieben und haben im Standard-Bild vom Helden weitergewirkt.3
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Die griechischen Heroen und ihre Mythen sind in der Rezeption privilegiert, doch origineller oder qualitätvoller als die Schöpfungen anderer Kulturen sind sie deswegen nicht unbedingt. Mythen – traditionelle Erzählungen4 – von Göttern und Helden gab es ursprünglich bei vielen Völkern, z. B. in den frühen Hochkulturen des Orients, und in ›primitiven‹ Gesellschaften sogar bis in die jüngste Zeit. Auch die Vorstellungen vom Wesen der großen Helden und sogar die Darstellungsformen sind vielfach vergleichbar, wie sich z. B. am babylonischen Gilgamesch-Epos ablesen lässt.5 Aber all das war lange vergessen und wurde erst seit dem 18. und 19. Jahrhundert von der modernen Forschung wieder erschlossen – zum Teil mit begrenzter Breitenwirkung bis heute. 3
Im Folgenden kann nur eine knappe Skizze eines komplexen Gegenstands geboten werden. Doch dürfte der Leser von einer – und sei es vereinfachenden – Übersicht mehr an Gewinn haben als von einer spezialistischen Mikrostudie, die den disziplinübergreifenden Austausch schwer und mühsam werden lässt.
4
So die bekannte minimalistische Definition von Geoffrey S. Kirk: The Nature of Greek Myths. Harmondsworth 1974, S. 27, der ich hier folge.
5
Siehe Das Gilgamesch-Epos. Übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul. München 42008. Gilgamesch ist – wie die griechischen Heroen – als Halbgott gedacht.
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Verantwortlich für die bleibende Nachwirkung der griechischen Heroen waren primär die zu Klassikern gewordenen Werke der antiken Literatur, doch in der griechischen Antike selbst lebten die Heroen nicht allein in den Texten. Deswegen wäre es nicht statthaft, sich nur mit den Dichtern und ihren Büchern zu beschäftigen. Man muss vielmehr den Versuch unternehmen, möglichst weit hinter die literarische Gestaltung zurückzukommen; bis zu einem gewissen Grad scheint das auch möglich.6 Ein Blick auf die Wortbedeutung von ›herǀs‹ (ਸ਼ȡȦȢ) erklärt manches, aber nicht alles.7 Die Etymologie ist ungeklärt. In der üblichen Verwendung meinte das Wort den Kämpfer, Anführer oder Herrscher. Zugleich bezeichnete es Wesen, die zwischen Göttern und Menschen standen oder als eine Art Lokalgott verehrt wurden; auch historische Persönlichkeiten wie der Spartanerkönig Brasidas konnten in diesen Rang aufrücken.8 Ferner konnte
6
Siehe hierzu Samson Eitrem: Art. »Heros«, in: RE 8,1 (1912), Sp. 1111-1145 (der viel Material aus der schriftlichen Überlieferung sammelt); die riesige Materialsammlung des Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC). 8 Bde. (in 16 Teilbänden). Zürich, München 1981-1997; außerdem Wilhelm Heinrich Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Leipzig 1884-1937 (6 Bände und 4 Supplemente); ferner Otto Gruppe: Griechische Mythologie und Religionswissenschaft. 2 Bde. München 1906. An neueren Untersuchungen siehe Sabine Albersmeier, Michael J. Anderson (Hg.): Heroes. Mortals and Myths in Ancient Greece. Baltimore 2009; David Boehringer: Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit. Berlin 2001; Vinciane Pirenne-Delforge, Emilio Suárez de la Torre (Hg.): Héros et héroïnes dans les mythes et les cultes grecs, Lüttich 2000; Robin Hägg (Hg.): Ancient Greek Hero Cult. Proceedings of the Fifth International Seminar on Ancient Greek Cult. Organized by the Department of Classical Archaeology and Ancient History, Göteborg University, 21-23 April 1995. Stockholm 1999; ferner Andreas Hartmann: Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften. Berlin 2010, insbesondere S. 264-286 (mit Forschungsüberblick). Vgl. auch das recht eigenwillige Werk von Nikolaus Himmelmann: Der Ausruhende Herakles. Paderborn u. a. 2009.
7
Henry George Liddel, Robert Scott, Henry Stuart Jones: A Greek-English Lexicon. Oxford 91940, Art. »ਸ਼ȡȦȢ«.
8
Thuk. 5,11,1. Er erhielt in der von ihm geretteten Stadt Amphipolis einen heiligen Bezirk, Agone und jährliche Opfer.
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jeder gewöhnliche Verstorbene so tituliert werden – was in der nachklassischen Zeit sehr üblich wurde. Es gibt außerdem auch Feminina: ›herǀinƝ‹ (ਲȡȦȓȞȘ), ›herǀnƝ‹ (ਲȡȞȘ), ›herǀis‹ (ਲȡȦȓȢ) oder einfach ›herǀs‹ mit weiblichem Artikel (ਲ ਸ਼ȡȦȢ). Die Heroinen unterschieden sich aber nicht grundlegend von ihren männlichen Pendants.9 Das breite Bedeutungsspektrum von ›herǀs‹ mag zunächst mehr verwirren als Klarheit schaffen. Betrachten wir daher ein Beispiel, einen typischen Heros, und zwar wegen der vergleichsweise günstigen Überlieferungslage für das klassische Athen einen der dortigen Heroen – zum Beispiel Kodros.10 Er galt als einer der athenischen Urkönige (ist nach Ansicht der modernen Forschung aber eine fiktive Gestalt). Sein Vater Melanthos soll aus Pylos eingewandert und in Athen zum König aufgestiegen sein. Er selbst, erzählt man, habe als König in einer Schlacht den Tod gefunden. Nach einer anderen Version verkündete ein Orakel, dass die Feinde den athenischen König am Leben lassen mussten, um selbst den Sieg zu erringen. Kodros sei daraufhin als Bettler verkleidet zum Lager der Feinde gegangen, habe Streit angefangen und sei erschlagen worden. Als dies bekannt wurde, seien die Feinde resigniert abzogen. Außerdem heißt es, nach Kodros (oder wenig später) seien in Athen die Könige durch Beamte ersetzt worden. Seine zahlreichen Söhne sollen allerdings zu Gründern von sieben ionischen Städten in Kleinasien geworden sein.11 Zu allen diesen Erzählungen sind zahlreiche Varianten überliefert. Auf einer Trinkschale wurde Kodros auch im Bild dargestellt, wie er in den Krieg aufbrach – nicht als Bettler, sondern im Schmuck einer vollen Rüstung.12 Die Athener haben
9
Jennifer Larsen: Greek Heroine Cults. Madison, London 1995 (mit Katalog der Heroinen-Kulte S. 147-159: 154 Einträge, teilweise Gruppen); Deborah Lyons: Gender and Immortality. Heroines in Ancient Greek Myth and Cult. Princeton (NJ) 1997 (mit Katalog der Heroinen S. 173-235: 554 Einträge).
10 Karl Scherling: Art. »Kodros«, in: RE 11,1 (1922), Sp. 984-994; Erika Simon: Art. »Kodros«, in: LIMC 6,1 (1992), S. 86-88 (beide mit Zusammenstellung der Mythen und ihrer Varianten sowie der Quellenbelege). 11 Ephesos, Milet, Priene, Kolophon, Erythrai, Myus, Teos; siehe die in der vorherigen Anm. genannten Materialsammlungen. 12 Abgebildet in: LIMC 1,2 (1981), S. 309; die Identifikation des Kodros ist durch eine Beischrift gesichert. Der Vasenmaler folgte also der ersten, wohl ursprünglicheren Version.
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ihm ferner eine (nicht erhaltene) Statue in Delphi gewidmet.13 In der Nähe Athens wurde außerdem ein Grab des Kodros gezeigt.14 Schließlich existierte ein kleines Heiligtum (ein Heroon), das Kodros sich jedoch mit dem Heros Neilos und der Heroine Basile teilen musste.15 Es gab also nicht nur Mythen, sondern auch einen Kult – verbunden mit regelmäßig wiederkehrenden Riten, die die Erinnerung wachhielten. Gestalten dieser Art finden sich in Athen in großer Zahl. Die moderne Forschung16 hat etwa 221 Heroen und 52 Heroinen nachweisen können, die kultisch verehrt wurden, wobei es sich zum Teil sogar um kleine Gruppen handelt. Hinzu kommen noch etwa ein halbes Dutzend historische Personen der jüngeren Vergangenheit, die nach ihrem Tod ebenfalls zu Heroen erhoben wurden.17 In Athen wurden einige Heroen verehrt, die in ganz Hellas berühmt waren (wie Herakles, Oidipous, Iphigeneia und Helena), doch viele andere sind ganz schattenhafte Gestalten. Die meisten von ihnen wurden – wie Kodros – als Figuren der Urzeit Athens aufgefasst. Nicht von allen wurden Gräber gezeigt, doch sind über ein Dutzend Heroengräber in der literarischen Überlieferung ausdrücklich erwähnt, darunter das der Herakles-Tochter Makaria, die Blumengirlanden als Opfer empfing, und auch die Gräber von Deukalion und von Oidipous.18 Zu nennen ist ferner ein Amazonengrab beim Itonia-Tor (südwestlich der Stadt).19 Manche Heroen
13 Paus. 10,10,1. Sie gehörte zu einer Gruppe von Statuen (zumeist von Heroen), die die Athener aus dem Zehnten der Kriegsbeute von Marathon gestiftet hatten. 14 Siehe die Inschrift (Versepigramm) IG II/III2 4258, die allerdings erst aus der römischen Kaiserzeit stammt. 15 Belegt durch einen athenischen Volksbeschluss von 418 v. Chr.: IG I3 84 = Syll.3 93. Zu den Heroa generell vgl. Emily Kearns: »Between God and Man. Status and Function of Heroes and their Sanctuaries«, in: Albert Schachter, Jean Bingen (Hg.): Le sanctuaire grec. Vandœvres, Genève 1992, S. 65-107. 16 Vgl. Emily Kearns: The Heroes of Attica. London 1989, insbesondere Appendix 1: Catalogue of Attic Heroes (S. 139-207). Die Zählung beruht auf diesem Katalog, wobei es jedoch eine Reihe von Zweifelsfällen gibt. 17 Vgl. ebd., insbesondere S. 150, 183, 198 (zu Harmodios und Aristogeiton, den Marathon-Kämpfern und zu Solon). 18 Vgl. Kearns: Heroes of Attica (Anm. 16), S. 155, 182, und zu Oidipous ihren Appendix II (S. 208 f.). 19 Plut. Thes. 27,6-9; Paus. 1,2,1. Vgl. Kearns: Heroes of Attica (Anm. 16), S. 146.
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besaßen ansehnliche Kultstätten – Triptolemos, der Heros von Eleusis, sogar zwei Tempel. Aber die meisten hatten nur ein kleines, schmuckloses Heroon oder mussten sich mit einem Altar begnügen oder diesen gar mit einem anderen Wesen teilen. Zu Ehren des Heros Eurygynes wurden auf dem Kerameikos auch Spiele veranstaltet, die aber unbedeutend blieben.20 Ein attischer Heros ist über einen Umweg weltbekannt geworden – Hekademos oder Akademos, der einen nach ihm benannten heiligen Hain außerhalb des Dipylon-Tores nördlich von Athen besaß. Hier eröffnete Platon seine Philosophenschule: die Akademie. Kulte und Riten dürften das tägliche Leben tiefer geprägt haben als die wandelbaren Erzählungen. Wer sie ausübte und finanzierte, hing sehr vom Einzelfall ab. Jedem stand es frei, dem Heros seine Reverenz erweisen, und einzelne Familien konnten einen Heros als (angeblichen) Vorfahren verehren. Daneben existierten Kultvereine (ੑȡȖİȞİȢ),21 und es gab städtischen Kult: Die athenische Bürgerschaft war in zehn Phylen unterteilt, deren jede nach einem Lokalheros benannt war.22 Unter diesen befanden sich sieben Urkönige, aber auch Aias von Salamis, Hippothoon von Eleusis und Leos von Hagnus. Ferner hatten auch die Demen, die Unterabteilungen der Phylen, ihre lokalen Heroen. Und für einige Heroen engagierte sich auch die Gesamtgemeinde. Erechtheus und Kekrops wurden an prominenter Stelle auf der Akropolis verehrt – nach Ersterem hieß das Erechtheion mit der berühmten Korenhalle. Hinzu kam Theseus, der seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. geradezu zum Übervater Athens hochstilisiert wurde; er besaß Kult und Heiligtümer.23 In den 470er Jahren ließ der damals bedeutendste Politiker Kimon die (angeblichen) Gebeine des Theseus von der Insel Skyros feierlich nach Athen überführen – ein großes Fest und ein großer Erfolg für Kimon.24
20 Hesychios s.v. ਥʌ’ ǼȡȣȖȪȞૉ ਕȖȫȞ = Hesiod. fr. 146 Merkelbach-West = Amelesagoras FGrHist 330 F 2. 21 Erich Ziebarth: Art. »ੑȡȖİȞİȢ«, in: RE 18,1 (1939), Sp. 1024 f. 22 Erechtheus, Kekrops, Pandion, Aigeus, Akamas, Aias, Hippothoon, Oineus, Antiochos, Leos. Vgl. Uta Kron: Die zehn attischen Phylenheroen. Geschichte, Mythos, Kult und Darstellungen. Berlin 1976. 23 Kearns: Heroes of Attica (Anm. 16), S. 168 f., mit Quellenverzeichnis. 24 Plut. Thes. 36,1-4; Plut. Kim. 8,5-6, Paus. 1,17,6 vgl. Barbara McCauley: »Heroes and Power. The Politics of Bone Transferal«, in: Hägg: Greek Hero Cult
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Religion und Politik waren nicht getrennt, so dass man Heroen auch in öffentlichen Nöten um Hilfe anrief – zumal nicht nur von Kodros erzählt wurde, dass er sein Leben für das Gemeinwesen geopfert habe. Die Athener ließen in einem öffentlichen Gebäude, der Stoa Poikile, ein Bild anbringen, wie ihnen Heroen in der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) beigestanden hätten.25 Am Vorabend der Seeschlacht von Salamis gegen die Perser (480 v. Chr.) holten die Griechen auch die Bilder von Aias und Telamon herbei, der Lokalheroen der Insel Salamis,26 und nach dem Sieg erhielten sie ihren Anteil an der Kriegsbeute.27 Selbstverständlich wurden Heroen auch für politische Zwecke in Dienst genommen; z. B. stritten sich während des Peloponnesischen Krieges die Athener und Spartaner um die Zugehörigkeit der Dioskuren Kastor und Polydeukes.28 Die größte Rolle spielten die Heroen jedoch im alltäglichen Leben, in der praktizierten Religion. Viele gewöhnliche Leute wandten sich mit ihren privaten Sorgen nicht an die großen Götter von ganz Hellas, sondern lieber an Gestalten, die ihnen nahe waren. Es gab Heroen, von denen man besonders die Heilung von Krankheiten erwartete wie Asklepios;29 in Geburtsnöten wandten sich Frauen an Iphigeneia – hier eine Gestalt aus dem Umkreis der Göttin Artemis. Von wieder anderen erhoffte man sich Schutz bei der stets gefährlichen Seefahrt. Die meisten Heroen stellte man sich als menschenfreundliche, hilfsbereite Wesen vor. Doch gab es unter ihnen auch schreckliche Gestalten, die man fürchten und besänftigen zu müssen meinte. Heroen waren nicht in jedem Fall gut, schon gar nicht in einem moralischen Sinn.30
(Anm. 6), S. 85-98; Martin Fell: »Kimon und die Gebeine des Theseus«, in: Klio 86 (2004), S. 16-54. 25 Paus. 1,15,3. Bei Herodot findet sich nichts über die Hilfe der Heroen. 26 Hdt. 8,64,2; vgl. Hdt. 8,109,3. 27 Hdt. 8,121,1. 28 H. Alan Shapiro: »Cult Warfare. The Dioskouroi between Sparta and Athens«, in: Hägg: Greek Hero Cult (Anm. 6), S. 99-107. 29 Zum Asklepieion in Athen vgl. Jürgen W. Riethmüller: »Bothros and Tetrastyle. The Heroon of Asclepius in Athens«, in: Hägg: Greek Hero Cult (Anm. 6), S. 123-143. – Bedeutende Heil-Heroen außerhalb Athens waren auch Amphiaros und Trophonios. 30 Vgl. Paus. 6,9,6-8 zu Kleomedes von Astypalaia, einem Amokläufer, der als
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Wenn auch die Heroenkulte je anders ausgestaltet waren, so unterschieden sie sich doch in der Regel deutlich vom Kult der eigentlichen Götter – worum die Griechen auch wussten. Den Heroenkult kann man vereinfacht als einen stark gesteigerten Totenkult mit Parallelen zur Verehrung von Toten- oder Unterweltsgottheiten begreifen. Von dorther stammen auch die meisten Rituale und ihr Zubehör sowie die entsprechenden Fachbegriffe.31 Allerdings waren die Grenzen zwischen Heroen und Göttern auch im Kult fließend. Es kam vor, dass Heroen Opfer wie für Götter empfingen, und es ist sogar belegt, dass derselbe Heros in beiden Formen geehrt wurde – je nach Anlass und Umständen.32 Für die anderen Städte des antiken Griechenland ist die Überlieferung weit lückenhafter, aber so weit die verstreuten Zeugnisse erkennen lassen, gab es überall Heroen und auch Heroengräber33 – und zwar nicht weniger als in Athen. Die griechische Welt war voll von ihnen. Wenn man hochrechnet, kommt man im Siedlungsgebiet der Hellenen auf mehrere tausend
Heros verehrt wurde. Vgl. auch Paus. 6,6,7-11. Siehe ferner Manuel García Teijerio, María Teresa Molinos Tejada: »Les héros méchants«, in: Pirenne-Delforge/Suárez de la Torre: Héros et héroïnes (Anm. 6), S. 111-123; Michael J. Anderson: »Heroes as Moral Agents and Moral Examples«, in: Albersmeier/ Anderson: Heroes (Anm. 6), S. 144-173. 31 Vgl. Eitrem: Heros (Anm. 6), Sp. 1119-1127; Gunnel Ekroth: »Pausanias and the Sacrificial Rituals of Greek Hero-cults«, in: Hägg: Greek Hero Cult (Anm. 6), S. 145-158; ders.: The Sacrificial Rituals of Greek Hero-cults in the Archaic to the Early Hellenistic Periods. Lüttich 2002; ders.: »The Cult of Heroes«, in: Albersmeier/Anderson: Heroes (Anm. 6), S. 120-143. 32 Eitrem: Heros (Anm. 6), Sp. 1123. Vgl. insbesondere Philostr. her. 19 p. 208 Kayser: IJ ȝȞ ੪Ȣ șİ, IJ į ੪Ȣ ਥȞ ȝȠȓȡ IJȞ țİȚȝȑȞȦȞ. 33 Von Pelops wurde ein Grab in Olympia verehrt, daneben gab es eines in der Pisatis, deren Bewohner mit Elis um die Kontrolle über die Olympischen Spiele rivalisierten. Von Oidipous wurden insgesamt vier Gräber gezeigt (vgl. Paus. 1,28,7). – Außerdem zeigte man Reliquien von Heroen und in einigen Fällen wurden ihre (angeblichen) Gebeine umgebettet, so die des Orestes nach Sparta und die des Arkas nach Mantineia, vgl. McCauley: Heroes and Power (Anm. 24). Vgl. auch Lee E. Patterson: Kinship Myth in Ancient Greece. Austin 2010, S. 25 und 43.
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Heroen. Die meisten von ihnen waren aber nur am jeweiligen Ort bekannt und geachtet; nur einige wenige haben überregionales Ansehen erlangt. Eine Querschnittsbetrachtung, wie sie hier versucht wurde, vermittelt ein immer noch zu statisches Bild, denn der Wandel war stark und permanent. Nachweisen lässt sich der Heroenkult etwa seit dem 8. Jahrhundert v. Chr.34 Die Ursprünge lagen also in einer Zeit weit vor jeder ausgeformten Staatlichkeit; doch wird das große Aufblühen im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. in der Forschung häufig mit den Verwerfungen bei der allmählichen Verfestigung der Stadtgemeinden (Poleis) in Verbindung gebracht. Keine einheitliche Erklärung gibt es dafür, was wirklich hinter den traditionellen Heroengestalten steht. Bei einigen kann es sich um abgesunkene Götter handeln, andere werden die (wohl fiktiven) Stammväter von Adelsgeschlechtern gewesen sein, und wieder andere – wie die athenischen Urkönige oder Kadmos in Theben – sind als Gründergestalten konzipiert, wie auch die (mythischen oder historischen) Gründer von griechischen Kolonien dort als Heroen verehrt wurden.35 Der Kult kann sich auch an großen alten Gräbern der mykenischen Zeit entzündet haben – und besondere Geländeformationen können als Hügelgrab missverstanden worden sein, wie z. B. das angebliche Pelops-Grab in Olympia.36 Im Lauf der Zeit schliefen etliche Heroenkulte wegen mangelnden Engagements ein, während andere an institutioneller Festigkeit gewannen. Zugleich hörte das ›Finden‹ neuer Heroen nicht auf. Einige wenige Heroen erlebten erst spät einen fulminanten Aufstieg – Asklepios, allem Anschein nach ursprünglich ein thessalischer Lokalheros aus Trikka (heute Trikala),37 wandelte sich zum Heilgott, dem vielerorts Heiligtümer errichtet wurden, auch in Rom (wo er ›Aesculap‹ hieß)
34 Vgl. Maria Deoudi: Heroenkulte in homerischer Zeit. Oxford 1999 (mit Katalog der archäologischen Belege). Zu den Ursprüngen generell vgl. Jorge J. Bravo III: »Recovering the Past. The Origins of Greek Heroes and Hero Cult«, in: Albersmeier/Anderson: Heroes (Anm. 6), S. 10-29. 35 Vgl. Bruno Prehn: Art. »Ktistes«, in: RE 11,2 (1922), Sp. 2084-2087 (Materialsammlung); ferner Carla M. Antonaccio: »Colonization and the Origin of Hero Cult«, in: Hägg: Greek Hero Cult (Anm. 6), S. 109-121. 36 Vgl. Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst. München 2004, S. 68 f. 37 Siehe Hom. Il. 2,729-732. Zu Asklepios allgemein vgl. Eduard Thraemer: Art. »Asklepios«, in: RE 2,2 (1896), Sp. 1642-1697.
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und schließlich in der ganzen Mittelmeerwelt.38 In nachklassischer Zeit wurden die Heroen weiter verehrt – bis in die Spätantike; noch 354 n. Chr. ist ein ausgeübter Heroenkult belegt.39 Andererseits sollte die Bedeutung dieses permanenten Wandels nicht überschätzt werden. Was sich änderte, waren Namen, Daten und Kulte. Die Grundstrukturen blieben bemerkenswert konstant und mit ihnen auch die Vorstellung davon, was ein Heros im eigentlichen Sinne war. Schon sehr früh wurden sie als Halbgötter (ਲȝȓșİȠȚ) charakterisiert.40 Das war ganz buchstäblich gemeint: Zwischenwesen zwischen Menschen und Göttern. Die Heroen galten einerseits als Sterbliche – daher die Gräber und Reliquien, die es für echte Götter nicht gab. Andererseits glaubte man, dass sie über den Tod hinaus eine Wirkkraft entfalteten – ähnlich wie Götter, nur in kleinerem Maß – und dass die Lebenden sie ähnlich wie göttliche Wesen behandeln mussten. In der religiösen Vorstellungswelt der Griechen,41 die allerdings nie dogmatisch fixiert war, gab es keine Transzendenzschwelle, die Menschliches und Göttliches strikt schied. Ferner erwartete man ein Weiterleben nach dem Tode, jedoch ohne feste Glaubenssätze darüber zu haben. So schien es plausibel, dass ein außerordentlicher Mensch nach seinem Tod weiterwirken oder gar zu den Göttern aufsteigen könne – wie Herakles, der bisweilen ausdrücklich als ਸ਼ȡȦȢ șİȩȢ (Gott-Heros) bezeich-
38 Aus dem Heiligtum in Epidauros stammt eine lange Inschrift mit Berichten über Wunderheilungen (Syll.3 1168). 39 Iulian. ep. 79 Bidez = 78 Hertlein = 19 Wright. Vgl. Dennis D. Hughes: »Hero Cult, Heroic Honors, Heroic Dead. Some Developments in the Hellenistic and Roman Period«, in: Hägg: Greek Hero Cult (Anm. 6), S. 167-175. 40 Hom. Il. 12,23: ਲȝȚșȑȦȞ ȖȑȞȠȢ ਕȞįȡȞ. Siehe auch Hes. erg. 159 f.: ਝȞįȡȞ ਲȡȫȦȞ șİȠȞ ȖȑȞȠȢ, Ƞ țĮȜȑȠȞIJĮȚ ਲȝȓșİȠȚ. Hesiod konstruiert hier die Zeit der Heroen als viertes, relativ glückliches Weltalter zwischen dem der Dämonen und dem elenden Zeitalter der jetzigen Menschen. – Man findet auch ਕȞIJȓșİȠȢ (»göttergleich«, so z. B. Hom. Il. 5,663) und ähnliche Ausdrücke. 41 Vgl. Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Zeit. Stuttgart 1977, insbesondere S. 293-319. – Entsprechende Vorstellungen finden sich auch bei den Philosophen, vgl. Immaculada Rodríguez Moreno: »Les héros comme ȝİIJĮȟȪ entre l’homme et la divinité dans la pensée grecque«, in: Pirenne-Delforge/Suárez de la Torre: Héros et héroïnes (Anm. 6), S. 91-100.
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net wurde.42 Da sich die Konstitution der Welt nicht von Grund auf änderte, hielten es viele für möglich, dass jederzeit neue Heroen auftraten. Im Extrem konnte man sogar jeden Toten, dem man etwas Gutes nachsagen wollte, als Heros bezeichnen. Als Zwischenwesen standen die Heroen nicht allein. Es gab auch Naturgeister wie Nymphen, Dryaden und Oreaden, ferner Dämonen, die nachts umgingen, außerdem Silene, Satyrn und ähnliche Gestalten. Auch der Kreis der richtigen Götter war nie abgeschlossen. Als moralische Instanzen wurden sie alle nicht aufgefasst, jedenfalls nicht außerhalb des Kreises der Philosophen. Man betrachtete sie eher wie die Naturgewalten: überwältigende und manchmal blindwütig wirkende Kräfte, denen man sich ausgeliefert sah und mit denen man eine gedeihliche Beziehung aufbauen wollte – wenn möglich zum eigenen Vorteil. Analoges galt für die Heroen.
II. M YTHEN
UND IHRE
D ARSTELLUNG
Vor dem Hintergrund dieser religiösen Vorstellungen sind – jedenfalls ursprünglich – auch all die Erzählungen (Mythen) zu sehen, die über Leben und Taten der Heroen im Umlauf waren. Allerdings waren Kult und Mythos nicht streng funktional aufeinander bezogen, und in den Erzählungen werden die Kulte meist auch nicht ausdrücklich erwähnt. Mythen und die Kulte waren sozusagen zwei verschiedene Formen, mit Heroen umzugehen. Sie existierten wohl von Anfang an nebeneinander, und es scheint eine müßige Frage, was zuerst da war.43 Ein Name und eine Geschichte waren wohl schon deshalb nötig, um einem Heros Individualität zu verschaffen und ihn ansprechbar zu machen; dies braucht aber weder elaboriert noch originell gewesen zu sein. Man findet Erzählungen über die Herkunft von Heroen aus der Verbindung einer Gottheit mit einem sterblichen Menschen, die
42 Pind. Nem. 3,22. 43 Die Mehrheit der modernen Forschung hält die Kulte für das Primäre, eine einflussreiche Minderheit die Erzählungen und speziell die homerischen Epen, siehe Bravo III: Recovering the Past (Anm. 34), S. 10-25; Forschungsübersicht auch bei Hartmann: Zwischen Relikt (Anm. 6). Die Quellen reichen nicht zu, um einen stringenten Beweis zu führen. Allerdings fällt es schwer zu glauben, dass all die vielen Kulte nichts weiter waren als Epiphänomen der Literatur.
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ihren übermenschlichen Rang veranschaulichten – wie bei Herakles, dem Sohn von Zeus und Alkmene, oder Helena, der Tochter von Zeus und Leda. Das Gleiche verdeutlichen Mythen, die zeigten, wie Heroen mit den Göttern von Angesicht zu Angesicht verkehrten oder gar gegen sie kämpften.44 Andere Erzählungen rechtfertigten indirekt die Existenz des Kultes, z. B. bei den Gründergestalten oder Vorkämpfern für das Gemeinwesen wie Kodros. In diese konnten zudem politische oder kulturelle Selbstaussagen hineinverwoben sein wie beim angeblich aus der Erde geborenen Erechtheus, der damit den Anspruch der Athener auf Autochthonie verkörperte. Doch in vielen Fällen sind die Zusammenhänge und Zielrichtungen längst nicht klar. Für uns sind die Mythen erst zu fassen, wenn sie in Wort oder Bild festgehalten wurden, doch eigentlich gehörten sie in eine Welt des mündlichen Erzählens – und zwar eines nicht formgebundenen mündlichen Erzählens. Ihr Geltungsanspruch beruhte nicht auf Zeugen und Beweisen, sondern primär auf der persönlichen Autorität des Erzählers. Infolgedessen gibt es meist mehrere Versionen – und es wäre vergebliche Mühe, nach einer authentischen Fassung zu suchen. Anders als die Kulte konnten sich die Erzählungen leicht von ihrem Entstehungsort und ursprünglichen Kontext lösen, sich weiträumig verbreiten und dabei verselbständigen. Dass die Mythen zirkulierten, ist bereits für die griechische Frühzeit zwingend vorauszusetzen, auch wenn der handfeste Beweis fehlt. Es gab jedoch bereits in der früharchaischen Zeit einen Berufsstand, der mit dem Erzählen und Verbreiten von Geschichten seinen Lebensunterhalt bestritt: fahrende Sänger, die – sich selbst auf der Leier begleitend – aus dem Stegreif Erzählungen in Versen vortrugen.45 Sie traten z. B. bei den großen Festen der Adeligen auf, wobei sie sich wohl auf das jeweilige Publikum einstellen mussten. So dürfte bereits in der mündlichen Verbreitung eine Art Selektion stattgefunden haben, wobei auch der jeweilige Unterhaltungswert eine Rolle gespielt haben mag. Jedenfalls waren Herakles, der Stammesheros der Dorier, und
44 Wichtigstes Beispiel: Hom. Il. 5,330-352 (Diomedes verwundet Aphrodite). 45 Locus classicus: Hom. Od. 8,236 ff. (Fest an Hof des Phaiakenkönigs). Zu den Sängern vgl. Milman Parry: The Making of Homeric Verses. The Collected Papers of Milman Parry. Ed. by Adam Parry. Oxford 1971; Albert Bates Lord: The Singer of Tales. Cambridge (Mass.) 1960.
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seine Taten bald in ganz Hellas bekannt, während z. B. von Galios,46 einem Heros aus Marathon, und von vielen anderen überhaupt keine Mythen überliefert sind. Das Aufeinandertreffen verschiedenster Heroenmythen dürfte zudem den Wunsch nach einer elementaren Systematisierung geweckt haben. Dafür bot sich das genealogische Schema an. So wurden Agamemnon und Menelaos, die Könige von Argos und Sparta, der wichtigsten Städte auf der Peloponnes, zu Brüdern gemacht und zu Enkeln des Pelops, der fest mit Olympia (ebenfalls auf der Peloponnes) verbunden ist. Das ließ sich weiterspinnen.47 Ferner führten sich griechische Adelsgeschlechter gerne auf Heroen und über diese auf Götter zurück, und entsprechend wurden Anknüpfungspunkte fingiert – was in der Zusammenschau den kuriosen Eindruck erweckt, als habe Zeus ständig seine Gattin Hera betrogen. Auch Herakles wurde gerne als Stammvater in Anspruch genommen – mit den gleichen Folgen. Der spätere Mythograph Apollodor zählte nicht weniger als 66 Kinder von 60 verschiedenen Frauen auf.48 Ein weiterer Prozess der Selektion stellte sich ein, als Heroenmythen dauerhaft aufgezeichnet wurden. Je nach Gattung ergaben sich dabei unterschiedliche Akzentuierungen. Bildliche Darstellungen von Mythen kennt man bereits seit der früharchaischen Zeit, und sie blieben bis zum Ende der Antike eines der wichtigsten Sujets der griechischen Kunst.49 Für die Frühzeit ist dies am deutlichsten und kontinuierlichsten in der Vasenmalerei50 zu greifen, und in der römischen Kaiserzeit schmücken dann Reliefs mit mythischen Szenen die Schauseite sehr vieler kunstvoller Sarkophage. Gezeigt werden konnte aber fast immer nur eine Szene oder allenfalls eine kleine Szenenfolge. Dies setzte voraus, dass der Betrachter den Mythos bereits kannte; andernfalls blieb das Bild trotz eventueller Beischriften unverständlich. So wurden bekannte Mythen viel häufiger dargestellt als weniger pro-
46 Kearns: Heroes of Attica (Anm. 16), S. 153 mit Verweis auf den Opferkalender IG II/III2 1358 Spalte B 51. 47 Vgl. die einschlägigen Artikel bei Hunger: Lexikon (Anm. 1) und Roscher: Ausführliches Lexikon (Anm. 6). 48 Apollod. bibl. 2,7,8. 49 Siehe die gewaltige Materialsammlung des LIMC (Anm. 6); Karl Schefold: Götter- und Heldensagen in der früh- und hocharchaischen Kunst. München 1993. 50 Siehe beispielsweise Jenifer Neils: »Beloved of the Gods. Imag(in)ing Heroes in Greek Art«, in: Albersmeier/Anderson: Heroes (Anm. 6), S. 108-119.
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minente – was ihre Bekanntheit weiter steigerte. In der Kunst findet man teilweise andere Versionen als in der Literatur, was zeigt, dass auch Letztere nur einen Teil aus der ursprünglichen Fülle aufnahm. Die Übernahme der Schrift51 von den Phoinikiern in der archaischen Zeit erlaubte es, dem eine beständige Form zu geben, was zuvor die Erzähler stets variierend vorgetragen hatten. Dabei wurde wohl nicht nur ausgewählt, sondern auch auf andere Art erzählt. Dies lässt sich bei den Gedichten des sogenannten Homer gut beobachten, die den mündlichen Erzählungen der fahrenden Sänger noch recht nahestehen. Dargestellt wird in der Ilias bekanntlich nur ein Ausschnitt von wenigen Tagen aus dem trojanischen Sagenkreis und in der Odyssee die Heimkehr des Odysseus, beides aber weit ausführlicher und raffinierter, als dies ein mündlich vortragender Sänger je bewältigen konnte.52 Die Breite der Erzählung und die Vielzahl der auftretenden Personen zwang überdies dazu, Ansätze einer sozialen Ordnung vor Augen zu stellen,53 obwohl die Heroen immer noch so handeln, als sei jeder sein eigener Herr.54 Verschiedene Dichter der archaischen Zeit verfassten auch Lieder für den Einzelvortrag zur Lyra oder für den Chorgesang – gedacht oft für die Aufführung beim Trinkgelage, aber auch im Kult, wobei des Öfteren die
51 Vgl. Lilian Hamilton Jeffery: The Local Scripts of Archaic Greece. A Study of the Origin of the Greek Alphabet and its Development from the Eighth to the Fifth Centuries B.C. Revised Edition with a Supplement by A. W. Johnston. Oxford 1990 (mit breiter Übersicht über die frühen Inschriften); Christian Marek: »Euboia und die Entstehung der Alphabetschrift bei den Griechen«, in: Klio 75 (1993), S. 27-44. 52 Ilias: 15694 Verse; Odyssee: 12110 Verse. 53 Vgl. Moses I. Finley: The World of Odysseus. Revised Edition. New York 1978 (zuerst 1954) mit der sicher richtigen These, dass als Muster die Verhältnisse der eigenen Zeit oder die der etwas zurückliegenden, noch tatsächlich erinnerten Vergangenheit verwandt wurden. 54 Es ist oft bemerkt worden, dass bei Homer von einem Heroenkult und von Heroengräbern nicht viel erwähnt wird. Das erklärt sich wohl daraus, dass er (der Intention nach) die Zeit schildert, als die Heroen noch am Leben waren. Der Kult war eine Sache der Nachgeborenen.
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Heroen zur Sprache kamen.55 Auch Pindar, der bereits in die frühklassische Zeit gehört, hat in seinen Oden für die Sieger der großen panhellenischen Wettspiele häufig die jeweils passenden Erzählungen von alten Heroen gerafft angeführt oder knapp auf sie angespielt – voraussetzend, dass sie im Prinzip bekannt waren.56 Aus dem Chorgesang heraus entstand im ausgehenden 6. und im 5. Jahrhundert das Drama – Theateraufführungen im Rahmen von Kultfesten.57 Soweit die wenigen, als Klassiker überlieferten Stücke und andere Nachrichten erkennen lassen, wurden für die Tragödie überwiegend – wenn auch nicht ausschließlich58 – Heldenmythen oder Teile daraus in Szene gesetzt. Die darstellerischen Möglichkeiten waren jedoch begrenzt, zumal außer dem Chor höchstens drei sprechende Rollen auf der Bühne stehen durften. Trotzdem sollten zumal die Tragödien die Zuschauer nicht nur durch Ausstattung und Musik beeindrucken, sondern auch ihre Emotionen ansprechen oder – wie Aristoteles es später ausdrückte – »Furcht und Mitleid« erwecken.59 So wurden allem Anschein nach Stoffe bevorzugt, die bereits ihrem Inhalt nach schockierend waren: solche, die von heftigsten Konflikten, wilder Leidenschaft und schwersten Verstößen gegen elementare Prinzipien des Zusammenlebens handelten, d. h. Mord, Inzest, Kannibalismus, Menschenopfer, Verrat und andere Scheußlichkeiten. Harmlose Mythen wie die über Kodros wurden dagegen – soweit wir wissen – nicht dramatisiert. Diese Präferenz ist vielleicht auch der Grund, weshalb in Athen zahlreiche Stücke über die Bühne gingen, die in Argos, Theben oder Korinth spielten, obwohl dieser Städte damals zu den Rivalen Athens gehör-
55 Siehe z. B. den Asklepios-Hymnus (Hom. h. 16) oder den Dioskuren-Hymnus (Hom. h. 33). 56 Vgl. auch Bruno Currie: Pindar and the Cult of Heroes. Oxford 2005. 57 Die Ursprünge der Tragödie sind nur in groben Zügen zu erkennen; alle Details sind sehr umstritten und lassen sich wahrscheinlich nicht endgültig klären. Vgl. z. B. Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung. München 21992; ders. (Hg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. München 2011, S. 461-554. 58 Vgl. Aischilos: Die Perser und Phrynichos: ȂȚȜȒIJȠȣ ਚȜȦıȚȢ (über die Einnahme Milets durch die Perser 494 v. Chr.; das Stück löste in Athen große Erschütterung aus, Hdt. 6,21,2). 59 Poet. 1449 b.
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ten. Dort wurde man offenbar besonders fündig:60 in den Erzählungen von Oidipous und seinen Kindern, in der über die rasende Eifersucht der Medea und in der über das Atridenhaus in Argos (mit Thyestes, Agamemnon, Iphigeneia,61 Klytaimnestra und Orestes als Protagonisten). Hier ließ sich aus jedem Ausschnitt ein aufwühlendes Theaterstück schaffen, und das ist wiederholt geschehen.62 Übrigens bot sich einiges an Stoff auch in Athen, wie nicht zuletzt die Geschichte von Theseus, Phaedra und Hippolytos illustriert.63 Die Heroen, die im Kult überwiegend als menschenfreundliche Wesen in Erscheinung traten, bekamen in der Tragödie ein eigenartiges Gesicht. Parallel zur Literarisierung der Mythen begann in der archaischen Zeit eine philosophisch inspirierte Kritik an den traditionellen Erzählungen von Göttern und Heroen. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. lässt sich bei Xenophanes der folgenreiche Gedanke fassen, dass die Götter – wenn sie welche sind – mit dem Sittengesetz in Übereinstimmung stehen müssen (und dass dem widersprechende Erzählungen kaum wahr sein könnten).64 Hekataios von Milet, ein Vorläufer der Geschichtsforschung, wies darauf hin, dass viele Erzählungen sachlich unmöglich waren.65 All dies wurde in der Sophistik seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert noch weiter radikalisiert – bis hin
60 Zu den Einzelheiten und divergierenden Versionen vgl. die einschlägigen Artikel bei Hunger: Lexikon (Anm. 1) und Roscher: Ausführliches Lexikon (Anm. 6). 61 Bei Euripides (Iph. T.; Iph. A.) findet sich die Version, dass Artemis Iphigeneia kurz vor der Tötung entrückte und damit rettete. Das ist vielleicht eine spätere, sozusagen entschärfte Fassung einer Menschenopfer-Erzählung. 62 Erhalten: Aischylos, Orestie (Agamemnon, Choephoren, Eumeniden); Sophokles, Elektra; Euripides, Iphigenie in Aulis, Iphigenie im Taurerland, Elektra, Orestes. 63 Euripides, Hippolytos. – Hippolytos gehörte wohl eigentlich nach Troizen (auf der anderen Seite des Saronischen Golfs), wo er als Gott verehrt wurde, siehe Paus. 2,32,1 und vgl. Samson Eitrem: Art. »Hippolytos«, in: RE 8,2 (1913), Sp. 1865-1872 (mit den weiteren Quellen). 64 Formuliert besonders ex negativo in der Kritik an den gängigen Mythen, siehe Diels/Kranz6 Nr. 21 fr. 11: »Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was bei den Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen, Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen«. 65 Vgl. z. B. FGrHist 1 fr. 19: »Aigyptos kam selbst auch nicht nach Argos; ihm schreibt Hesiod fünfzig Söhne zu, ich aber weniger als zwanzig«.
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zur Frage, ob die Götter nicht bloße Erfindungen der Menschen seien.66 Spätestens seit Platon dominierte in der Philosophie die Vorstellung von einer abstrakten Gottheit, die von Natur aus gut und frei von menschlichen Leidenschaften ist. Die traditionelle Religion blieb davon weitgehend unberührt, doch zumindest unter den Gebildeten war seitdem unstrittig, dass die Mythen von Göttern und Heroen etwas anderes waren als echte Historie. Unter den Tragödienautoren teilte zumindest Euripides diese Einsicht – und die späteren Dichter erst recht. Doch sie alle haben in Epos, Drama und Lyrik weiter bevorzugt Stoffe aus dem Mythos gestaltet: Sie haben bewusst fiktionale Texte verfasst, mit allen Möglichkeiten, die dies bietet. In hellenistischer Zeit setzte zudem eine Literaturwissenschaft ein, die nicht nur Klassiker-Texte kritisch edierte, sondern sich auch der Stoffgrundlage annahm, die verschiedenen Mythen zusammentrug und sie handbuchmäßig zusammenstellte.67 Erhalten ist die ›Bibliothek‹ des Apollodor, in der alle erreichbaren Mythen von der Erschaffung der Welt an in vier umfangreichen Büchern in einem fortlaufenden Text durcherzählt und somit (wenn auch lose) miteinander verknüpft werden. Erst solche Sammlungen leisteten dem Missverständnis Vorschub, als bildeten die Mythen eine Art in sich zusammenhängendes System, als gebe es nicht viele Einzelmythen, sondern ›den‹ einen griechischen Mythos.68 Während die Heroenkulte an ihren Ort und an den Kontext der griechischen Religion gebunden blieben und am Ende der Antike untergingen, wirkte die griechische Literatur – und mit ihr die literarisierten Mythen – enorm über ihren Ursprungsraum hinaus. Die neu aufkommende Literatur der Römer orientierte sich zunächst ganz am griechisch-hellenistischen Vorbild und hat von dort auch die Heroenmythen übernommen, obwohl es in Rom keinen genuinen Heroenkult gab. Die Mythen waren hier erst recht
66 Klaus Meister: ›Aller Dinge Maß ist der Mensch‹. Die Lehren der Sophisten. München 2010. 67 Eine Übersicht bietet Carolyn Higbie: »Hellenistic Mythographers«, in: Roger D. Woodard (Hg.): The Cambridge Companion to Greek Mythology. Cambridge 2007, S. 237-254. 68 Das gilt auch für Ovids Metamorphosen – quasi eine Mythensammlung in eleganten lateinischen Versen. Und selbstverständlich folgt diesem Muster auch die klassische deutsche Nacherzählung Gustav Schwabs: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Stuttgart 1838-1840.
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reine Literatur, und sie wurden auf Grundlage der vorliegenden Stofftradition in Latein neu gestaltet, z. B. in Ovids Metamorphosen. Das Weiterwirken vor allem der lateinischen Literatur im europäischen Mittelalter und in der Neuzeit hatte zur Folge, dass die griechischen Heroen noch immer als Paradigma für Heldentum überhaupt gelten können.
III. AUSBLICK Man kann nun die Frage stellen, ob all dieses Nachgraben in den griechischen Ursprüngen zu mehr an Erkenntnis führt als zu einigen vielleicht unterhaltsamen, aber entbehrlichen Hintergrundinformationen über die Stoffgenese. Zu bejahen wäre diese Frage allerdings nur, wenn man zeigen könnte, dass sich die Vorstellung vom Wesen der Heroen im Laufe der Traditionsgeschichte derart gewandelt hat, dass von den anfänglichen Ideen kaum noch etwas übrig geblieben ist. Dem war aber augenscheinlich nicht so. Bei der Ablösung der Heroen-Erzählungen aus ihrem ursprünglichen Kontext handelte es sich jeweils um Selektionsvorgänge, um Akzentverschiebungen und um Modifikationen, nicht um eine Neukonzeption der Heldenfiguren. So wird später im Grunde noch immer von Halbgöttern erzählt, auch wenn die Autoren das selbst nicht mehr ganz verstanden haben und sich der religiöse Kontext geändert hatte. Es ging – und geht – deswegen noch immer um Übermenschen im eigentlichen Sinne des Wortes. In der Neuzeit standen und stehen daneben selbstverständlich andere Konzeptionen von Heldentum, und es führte jeweils zu fühlbaren Spannungen, wenn die Heroismustradition mit diesen zusammengefügt werden sollte. Das Christentum kannte keine Halbgötter mehr; Heldentum wurde hier – ausgehend vom Prototyp des Märtyrers – als eine besondere menschliche Tugendleistung verstanden. Seit der Frührenaissance suchte man nach einer Bestätigung dieser Sichtweise in der antiken Überlieferung, wobei sich die Schulphilosophie häufig auf eine eher beiläufige Bemerkung bei Aristoteles berief, aber geflissentlich überlas, dass dort von einer übermenschlichen, einer »heroischen und göttlichen« Tugend die Rede war.69
69 Eth. Nic. VII 1145a: … IJȞ ਫ਼ʌȡ ਲȝ઼Ȣ ਕȡİIJȒȞ, ਲȡȦȚțȒȞ IJȚȞĮ țĮ șİȓĮȞ. Bei Aristoteles folgt zur Illustration ein Zitat, in dem es von Hektor heißt, er gleiche eher einem Gott als einem Menschen.
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Die Exemplifikation an antiken Heroen führte letztlich zu Aporien.70 Das Prinzip einer allgemeinen Moral, Realismus-Anspruch, Interesse an Psychologie und der gesellschaftlichen Bedingtheit des Individuums taten ein Übriges. Intelligente und anspruchsvolle moderne Autoren haben – sofern sie sich nicht ohnehin anderen Themen zuwandten – den antiken Heroen meist nur dadurch etwas abgewonnen, indem sie sie umdeuteten und umgestalteten.71 Ganz verstehen wird der Leser diese Umgestaltungen aber nur, wenn er trotzdem auch das Original kennt. Daneben findet man insbesondere in der gebrauchsorientierten Literatur und Kunst noch immer die alten Heroen72 oder neue, die nach ihrem Vorbild gestaltet sind – Letzteres auch in Fantasy-Abenteuern und Science-Fiction; auch die neuen Helden sind teilweise mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet. Ferner haben sie mit den antiken Heroen noch immer charakteristische Züge gemein, die kaum anders zu erklären sind als dadurch, dass die Urbilder eigentlich Halbgötter waren: Sie treten als souveräne Einzelne auf, selbst wenn sie formal in eine Hierarchie eingebunden sind. Dabei sind sie über alle wirtschaftlichen Zwänge erhaben und nicht den Regeln gewöhnlicher Lohnarbeit unterworfen; von allzu menschlichen Eigenschaften wie lähmender Angst und giftigem Neid sind sie frei, genauso wie ihnen ernste Krankheiten nahezu unbekannt sind. Sie kämpfen stets in eigener Person, und ihr persönliches Eingreifen erbringt den Sieg – kurioserweise auch da, wo von Massenkämpfen die Rede ist. Und wenn sie am Ende sterben, dann eines würdevollen Todes – nicht durch einen banalen Unfall oder von der Hand eines gemeinen Mannes. Sie sind nicht unbedingt die Verkörperung moralischer Prinzipien – aber wirkungsmächtig wie ihre antiken Vorläufer. Es mag sein, dass die Autoren und das Publikum hierbei die antiken Urbilder nicht immer unmittelbar im Blick hatten und dass die Schöpfer der Figuren sich auch von anderen Quellen inspirieren ließen, die analoge Ste-
70 Vgl. Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002. 71 Vgl. z. B. Christa Wolf: Kassandra. Erzählung. Darmstadt, Neuwied 1983. 72 Vgl. z. B. den Film Troy (dt. Troja, USA 2004, R: Wolfgang Petersen). Bemerkenswerterweise wird hier an der Abkunft des Achilleus von einer göttlichen Mutter festgehalten, obwohl sonst der ›Götterapparat‹ der Ilias weggefallen ist.
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reotype von Heldentum enthalten.73 Doch die Erzählungen aus der Antike sind zu tief in der kulturellen Tradition Europas verankert, als dass man sie leicht und vollständig ausblenden könnte. Die alten Heroen sind zählebig.
73 Bekanntlich hat John R. R. Tolkien für seine bis heute erfolgreichen Romane Anleihen bei der altgermanischen Mythologie genommen. Hier findet man eine Götterwelt, die mit der des alten Griechenland strukturell vergleichbar ist – und entsprechend fallen Tolkiens Heldengestalten aus.
A. Typologie / Phänomenologie / Differenz
Ästhetik der Gewalt Der ›Werwolf‹ als Symbol des negativen Heroismus und politischer Willkür C LAUDIA S IMONE D ORCHAIN »So lege festen Grund denn, Tyrannei; Rechtmäßigkeit wagt nicht, dich anzugreifen.« Shakespeare, Macbeth, Akt IV, Szene 3
I. »N EGATIVE H ELDEN «: V ERBRECHER , R EBELLEN , G EWALTTÄTER Der Begriff des »negativen Helden« – des machtvollen, in irgendeiner Weise überlegenen Menschen im destruktiven Sinn – ist in unserer Vorstellung traditionell mit Charaktertypen verbunden, bei denen das Pathologische, Deviante oder Delinquente das Hauptkriterium ist. Für Walter Benjamin ist der sogenannte »große Verbrecher«1 ein negativer Held. Was macht jedoch den »großen Verbrecher« aus? Benjamin glaubt, der »große Verbrecher« unterscheide sich vom gewöhnlichen Verbrecher dadurch, dass er nicht nur irgendeine Straftat beginge, sondern dadurch gleichsam auch eine neue Ordnung erschaffe, deren Herrscher er ist. Benjamins Idee vom »großen Verbrecher« folgt hierbei einer historischen Denklinie. Die Ambivalenz des Heldenbegriffs ist schon früh an Konzepte ›gerechter‹ oder ›ungerechter‹
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Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt a. M. 1918, S. 40 f.
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Herrschaft gebunden. So findet sich schon im 18. Jahrhundert die Debatte um die Ästhetisierbarkeit eines »erhabenen Verbrechers«2 mit Bezug auf die Herrschertypen bei Plutarch. Die Verbindung von einem negativen Heldenbegriff mit dem Verbrechen und die Andeutung verbrecherischer Herrschaft ist also schon alt und eröffnet eine spannende Perspektive, die sowohl eine negative Deutung des Helden – als personifiziertes Verbrechen – ermöglicht und zum anderen auch das Konzept der Herrschaft als solches – als institutionalisiertes Verbrechen – hinterfragbar macht. Für Walter Benjamin bedeutet Verbrechertum also eine heroische Größe, wenngleich negativ konnotiert, die eine neue Realität mit eigenen Werten konstruiert. Unser Vorverständnis von Heldentum könnte hier passen: sind doch auch Prometheus, Richard Löwenherz, El Cid, Zorro und Robin Hood solche Helden, die durch ihre Taten eine neue Ordnung mit eigenen Werten konstruierten. Der Unterschied zwischen positiven Helden und negativen Helden – Benjamins »großer Verbrecher« ist ja gleichsam ein Held mit negativem Vorzeichen – wäre also nicht die Etablierung einer Ordnung, denn das ist ja gerade das Gemeinsame, sondern die uneingeschränkte Herrschaft über die neue Ordnung. Der negative Held offenbart einen Bezug zu uneingeschränkter Macht, und dies impliziert Gewalt. Die aktuelle Forschung über das organisierte Verbrechen erkennt diesen Zusammenhang, die Etablierung einer neuen Ordnung uneingeschränkter Herrschaft, als charakteristisch an. Das organisierte Verbrechen, schließt Gordon Cheers in seiner Studie von 2010 über die Mafia,3 besteht nicht in Einzeltaten, sondern im Erschaffen einer Gegenmacht, die uneingeschränkte und unkontrollierte Willkürmittel bereitstellt. Das Prinzip des Heldenhaften wird folglich im organisierten Verbrechen vom Einzeltäter auf ein Kollektiv ausgedehnt, und die Negativität erweist sich darin, dass der neuen Macht keinerlei Schranken gesetzt werden und somit ihr Missbrauch und die Willkür ohne Sanktion bleiben. Die uneingeschränkte Macht entspricht
2
Vgl. Friedrich Schiller: »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 4, S. 244.
3
Gordon Cheers: Mafia. The necessary reference to organized crime. Millennium House Australia 2009 [dt.: Potsdam 2010], S. 17.
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einem Feudalprinzip der Herrschaft, einem Souveränitätsgedanken, nicht aber einer modernen Demokratie. Max Weber legt in seiner politischen Philosophie fest, dass die einzige legitime Gewalt in einer Demokratie beim Staat läge.4 Insofern bewegt sich der »souveräne« Mensch mit einer schrankenlosen Macht, als negativer Held, grundsätzlich außerhalb des Rechtsstaats. Einer der ersten Typen des »negativen Helden« im Sinne Benjamins, der uneingeschränkt mächtig bis gewaltvoll herrschen kann, ist der Rebell, der Revolutionär, denn dieser etabliert sich ja gerade im Erschaffen einer neuen Ordnung. Obwohl das Motiv des Revolutionärs von Zeit zu Zeit konjunkturelle Aufschwünge und Umdeutungen erlebt, kann es als epochenübergreifend stabil gelten, denn es ist ein Bild, dessen Spuren in seiner literarischen Gestaltung sich bis ins hohe Mittelalter zurückverfolgen lassen. Der deutsche Theologe, Mystiker und Prediger Meister Eckhart (1260– 1328) erzählt in seinem Werk Das Buch der göttlichen Tröstung (liber benedictus) von einer Revolte: da ist ein Knecht, der seinen Herrn niederschlägt.5 Der Herr verkleidet sich nachts und greift seinen Wache haltenden Knecht an. Dieser erkennt ihn nicht und schlägt ihn nieder. Am Morgen fühlt sich der Herr mit dem siegreichen Knecht umso stärker verbunden. Die Moral dieser Geschichte, die uns an Hegels späteren Aufgriff der Dichotomie Herr – Knecht erinnern mag, ist ambivalent: Meister Eckhart erzählt hier eine Machtumkehr mit einer konservativen Aussage, denn zuletzt erscheint die bisherige Ordnung als bestärkt, nicht als zerstört. Die theologische Interpretation dieser Parabel ist die Identifikation des »Herrn« mit Gott und des »Knechts« mit der menschlichen Seele und ihres Zweikampfs als Glaubenskrise, aus der der Gläubige seelisch gestärkt hervorgehen kann. Doch diese konventionelle Deutung erfasst nur einen Aspekt der Parabel. Meister Eckhart, der aus einer Thüringer Ritterfamilie stammte, hat die Metaphorik der mittelalterlichen Stände mit Bedacht gewählt und ein Bild der Revolte geschaffen, das eine lebensweltliche Entsprechung hatte. Eckharts Geschichte vom sieghaften Knecht ist nicht nur ein Beispiel für den negativen Helden, sondern auch ein historisch früher Ausdruck des
4
Max Weber: Politik als Beruf. Frankfurt a. M. r1999, S. 18.
5
Meister Eckhart: Werke. 2 Bde. Hg. und kommentiert von Niklaus Largier. Frankfurt a. M. 1993, Bd. 2, S. 291,37-293,7.
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literarischen Umgangs mit dem Thema ›Identität und Gewalt‹ und ›negativer Heroismus‹ im Allgemeinen. Diese Revolte des Knechts gegen den Herrn, diese Bedrohung der bisherigen Ordnung oder Umkehrung von Autoritätsverhältnissen, welche Benjamin als den Immanenzgrund der Gewalt ansieht,6 ist jedoch nichts Spezifisches für das 14. Jahrhundert. Wenngleich das 14. Jahrhundert schon einige moderne Impulse mitbrachte, ja sogar schon »Moderne war«,7 wie Günther Mensching urteilt, liefert Eckharts Parabel vom negativen Helden nicht nur Denkanstöße über konkrete reale Machtverhältnisse, sondern auch einen Diskussionspunkt für Geschichte allgemein und unseren Umgang damit – besonders zur geschichtlichen Legitimation von Gewalt.
II. Z EIT UND M OMENT : A KTUALISIERUNG DES
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Was ›Geschichte‹ bedeutet, unabhängig von ihrer potentiell Gewalt legitimierenden Macht, gilt keineswegs als offenkundig. Hans Blumenberg ist der Meinung, Geschichte sei immer eine Abfolge von menschlichen Selbsterhaltungsversuchen angesichts einer unfassbaren Wirklichkeit (damit meint er die theologische Vorstellung des omnipotenten Gottes) und insofern hermeneutisch: »Der Singular von Geschichte ist selbst eine absolute Metapher.«8 Das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, sei demzufolge ein psychologischer Akt als Versuch der Identitätswahrung, und insofern stimmt Blumenberg mit sich selbst überein, dass Geschichtenerzählen in Umbruchszeiten – wie dem 14. Jahrhundert und in gewisser Weise auch heute – an Bedeutung gewänne, ebenso, wie René Girard zuzustimmen ist, für den Geschichte und Mythen im Umfeld des Opfers tradiert werden.9 Somit ist die Geschichte der Gewalt eine Geschichte von Situationen, innerhalb
6
Benjamin: Kritik der Gewalt (Anm. 1), S. 40 f.
7
Günther Mensching: Das Allgemeine und das Besondere. Stuttgart 1992, S. 318.
8
Hans Blumenberg: »Beobachtungen an Metaphern«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 161-214, hier S. 168.
9
Vgl. René Girard: »Generative Scapegoating«, in: Robert G. Hamerton-Kelly (Hg.): Violent Origins. Walter Burkert, René Girard and Jonathan Z. Smith on Ritual Killing and Cultural Formation. Stanford 1987, S. 73-148, hier S. 89 f.
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derer eine Bedrohung der Ordnung erlebt oder behauptet wurde – und hier tritt der Held in positiver oder negativer Form auf. Was Meister Eckhart in der Parabel vom Kampf des Knechts gegen den Herrn beschrieb, ist ein komplexes Sinnbild mit vielschichtiger Deutbarkeit: eine Darstellung der Säkularisierung der mittelalterlichen Ständegesellschaft, eine Bezugnahme auf Christi Glaubenskonflikt im Garten von Gethsemane oder ein Hinweis auf die Fehlbarkeit der menschlichen Ethik. Eine zusätzliche Deutungsdimension fügt Slavoj Žižek in seiner Auseinandersetzung mit Judith Butlers Lektüre von Sigmund Freud hinzu.10 Butler bezeichnet den »Knecht« als »Körper« des Herrn,11 als ausführende Organe im Dienst des Herrn, also, in Giorgio Agambens Sprache, als einen stellvertretenden »homo sacer«,12 als einen Menschen, der getötet werden darf. Das Konzept der »Sazertät«, auf das sich der italienische Philosoph Agamben bezieht, ist ein aus dem religiösen Kult stammendes Konzept der Tötbarkeit des Opfers. Es passt deshalb in den Kontext von negativen Helden, weil diese uneingeschränkt herrschen (wollen) und somit ohne Kontrolle andere Menschen töten können. Wenn Butler nun den »Knecht« als den »Körper« des »Herrn« bezeichnet, so bedeutet das, dass die Knechtschaft der Willkür der Herrschaft ausgeliefert ist bis hin zum Extrem ihrer durch keine Kontrolle verhinderten Tötbarkeit – eine Willkür der Gewalt, welche ihrerseits einen negativen Heroismus verkörpert. Diese Parallele zwischen Butlers Gedanken zur Knechtschaft als tötbarem Körper für die Herrschaft und der Parabel von Meister Eckhart ist deshalb bedeutend, weil sie einen Gegensatz darstellt zu Eckharts seinerzeit überaus fortschrittlichem Denken über Stellvertreterschaft. Für Eckhart gibt es keine Stellvertreterschaft, da die Menschen im Grund alle gleich und somit soziale Unterschiede nichtig seien. Das Konzept des geliehenen Körpers, das Butler vorsieht, oder das der »Sazertät« tötbarer Opfer von Agamben, wäre für den deutschen Mystiker unvorstellbar. Welcher Deutung man jedoch auch das Hauptgewicht beimessen möchte, eins bleibt als allgemeine Grundaussage erhalten: Es handelt sich bei diesem nächtlichen Kampf,
10 Slavoj Žižek: Sehr innig und nicht zu rasch. Zwei Essays über sexuelle Differenz als philosophische Kategorie. Wien 1999, S. 24. 11 Ebd. 12 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002.
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den der deutsche Mystiker beschreibt, um eine Ausnahmesituation von wirkender Gewalt und um den Sieg des negativen Helden in einem »Ausnahmezustand«.13
III. D ER »AUSNAHMEZUSTAND « ALS L EGITIMATION VON G EWALT Ein »Ausnahmezustand« ist eine zeitliche Dimension, welche gerade als das Abweichen von der Regel und das Infragestellen der herrschenden Macht und Ordnung diese und ihre Legitimität verdeutlicht. In einem solchen Moment werden geltende Gesetze außer Kraft gesetzt – das bedeutet nicht, dass es sie nicht mehr gäbe, sondern vielmehr, dass sie verdrängt wurden und dass deren Wiederherstellung wünschenswert ist. Für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben sind die »Ausnahmezustände« wichtig, denn sie kennzeichnen genau die zeitliche Dimension, innerhalb derer sich der »Souverän« – der negative Held, der Rebell, der Gewalttäter – und der »homo sacer« – das Opfer der Gewalt, der tötbare Mensch – einander gegenüberstehen. Jene Ausnahmezustände bilden den Erscheinungsrahmen nicht nur der gewaltsamen Souveränität als Selbstermächtigung, der entfesselten Gewalt und Willkür negativer Helden, sondern auch dessen, was traditionell als das heilige Opfer zur Sühne von Schuld definiert werden kann. Symptome für das heilige Opfer sind laut René Girard insbesondere »Inzest, Rache, Verrat an Bruder oder Schwager, kollektive Metamorphosen und Zerstörungen, die Gründungs- und Schöpfungsakten vorausgehen …«14 – kurz, Symptome des Ausnahmezustands und Präzisierungen der Schuld, die ihm voranging und ihn durch ihren Effekt, die Bedrohung der Ordnung, verursachte. Wenn die herrschende Macht und Ordnung durch eine wirkende Ursache außer Kraft gesetzt wird, wie Walter Benjamin in seinem Klassiker Zur Kritik der Gewalt von 1918 feststellt15 – genau das geschieht innerhalb des »Ausnahmezustands« –, verfällt das kodifizierte Recht als Möglichkeit eindeutig vertraglicher, konsensueller, somit Erwartungen fixierender und da-
13 Ebd., S. 116 f. 14 René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Paris 1975, S. 356. 15 Vgl. Benjamin: Kritik der Gewalt (Anm. 1), S. 29.
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durch vertrauensbildender Vereinbarungen zum Einsatz von Gewalt. Plötzlich ist eine vorvertragliche, willkürliche Gewalt möglich, das sadistische Heilige, wie ich es nenne, deren Subjekt der negative Held als Souverän ist und deren Objekt der »nackte Mensch«, dessen Rechtsstatus dem entspricht, was das Mittelalter als »vogelfrei« benannte: tötbar, die Existenz des Todgeweihten, der sich seiner Rechte begeben hat.
IV. L ITERARISCHE S PUREN
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Giorgio Agamben sieht nun nicht den rebellischen Knecht bei Meister Eckhart, sondern den Wolfsmenschen als Prototyp einer souveränen Gewalt an, welche im »Ausnahmezustand« verkörpert ist.16 Der Werwolf17 war bereits eine Schreckgestalt der antiken Volkssage. Einer der ältesten Werwölfe begegnet uns in der Dichtung des römischen Schriftstellers Petronius Arbiter. Petronius’ Sittengemälde Satyricon, das 1969 von Federico Fellini verfilmt wurde, beschreibt das kurzweilige Leben der »jeunesse dorée« im Rom der Kaiserzeit im Lichte des Umgangs mit Sexualität, Korruption und Gewalt. Die Rahmenhandlung des Satyricon ist schnell erzählt: Die bisexuellen Freunde Encolpius und Askyltos und ihr Lustknabe Giton halten nicht viel von geregelter Arbeit, leben von Gelegenheitsdiebstählen und machen sich auf zu einer ›Schnorrertour‹ bei verschiedenen reichen Gönnern. Einer der Gönner, Trimalchio, ist ein freigelassener Sklave, der sich durch kostspielige Gelage, sonst aber eher durch einen frappanten Mangel an Bildung und Erziehung auszeichnet – er prahlt damit, dass er sechs Millionen Sesterzen besitze, aber noch nie einen Philosophen gehört habe. Trimalchio erzählt während des großen Menüs, dem die Schnorrer Encolpius und Askyltos beiwohnen, eine Vermischung aus römischen Legenden und eigenen Größenphantasien, während die Gäste sich Privatunterhaltungen widmen, die nicht weniger sinnfrei erscheinen. Ein Teilnehmer aus der illustren Schar
16 Ebd., S. 117. 17 Das deutsche Wort ›Werwolf‹ geht wahrscheinlich nicht auf die Wortwurzel ›sich wehren, Wehr‹ zurück, sondern auf das lateinische Wort ›vir‹, das ›Mann‹ bedeutet. Der ›Werwolf‹ ist der ›Mannwolf‹, ein Doppelwesen aus Mensch und Tier.
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seines Gelages beschreibt dann schaudernd die Begegnung mit einem Werwolf, der sich – wie ein Gespenst – Stück um Stück vor seinen Augen auflöste, bis er ganz verschwunden war.18 Was Petronius beschreibt, als Schauermärchen betrunkener Symposiumsteilnehmer, beweist, wie tief verankert die Vorstellung des »Werwolfs« in der antiken Gesellschaft war, wo sie offenbar jedermann kannte. Das mag nicht wirklich wundern, wenn man die römische Religion kennt. Der Ritus der ›Luperkalien‹, der im antiken Rom im Februar gefeiert wurde, bestand darin, dass junge Männer (›Luperci‹) morgens in Fellkleidung als Wölfe verkleidet durch die Straßen zogen und vornehmlich die Bürgersfrauen mit Lederriemen peitschten. Dieser Brauch ginge, Niklaus Largier zufolge, auf die Grotte am Berg Palatin zurück, wo Romulus und Remus angeblich von der Wölfin gesäugt wurden.19 Dort sei auch das Heiligtum des Hirtengottes Faunus, dem im Frühjahr die Böcke geopfert wurden, aus deren Haut man Lederriemen schnitt. Der ›Lupercus‹ war folglich ein als Wolfsbock verkleideter Kultteilnehmer, der in seinem Kostüm die Fruchtbarkeit und Geilheit des Gottes Faunus symbolisierte. Ein solcher ›Lupercus‹ mit seiner Verbindung von Erotik und Gewalt, der die Frauen – und vielleicht auch die Männer – peitschte, könnte ein Vorgänger der Sage vom Wolfsmenschen sein, die die Phantasie der Menschen bei Petronius entzündete. Das Motiv der entfesselten Gewalt, wie sie dem ›souveränen‹ Menschen eignet, der eine neue Ordnung etabliert, deren unbeschränkter Herrscher er ist, findet sich schon in diesem antiken Brauch.
V. D ER ›W ERWOLF ‹ ALS S YMBOL HEROISCHER M ACHT Die sagenhafte Gestalt des Werwolfs hatte nicht nur einen Unterhaltungswert, so dass sie von antiken Zeitgenossen wie den Zechern in Petronius Arbiters kaiserzeitlichem Roman Satyricon offensichtlich auf gleicher Ebene mit Geistern und Gespenstern angesehen wird, über die man offenbar gern zum Erzeugen eines wohligen Gruseleffekts bei geselligen Anläs-
18 Vgl. Petronius: Satyricon. Berkeley r1996, S. 56, 62 f. 19 Vgl. Niklaus Largier: Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung. München 2001, S. 311.
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sen sprach. Vielmehr hatte die Gestalt zusätzlich eine zeitübergreifende politische Bedeutung. Im Verständnishorizont des Werwolfs als einer Gestalt des Fremden per se innerhalb einer vormals vertrauten Welt oder des Werwolfs als des Einbrechens des Tierischen in eine menschliche Zivilisation scheint diese politische Deutung erstmals auf und wirft damit allgemeine Fragen nach Ordnung und Identität auf. Dieser politischen Aussage des Werwolf-Motivs spürt Giorgio Agamben systematisch nach und findet erste Evidenzen einer Verbindung vom Bildmotiv des Menschen verschlingenden Fabeltiers und einer politischen Dimension schon vor Petronius Arbiter, in der griechischen Antike.20 Platon, dessen Onkel Solon Politiker und Gesetzgeber war, erfasste als erster uns bekannter Denker die politische Dimension des Werwolf-Motivs und benutzte den Wolfsmythos zur Illustration der Tyrannei. Agamben zitiert Platon zum Wolfsmenschen, der in der Politeia den Tyrannen beschreibt: »Wer von den menschlichen Eingeweiden esse, […] der würde zum Wolf.«21 Diese Stelle bleibt vorerst dunkel, wenn man nicht den Kontext berücksichtigt, in dem sie steht: Platon versucht hier, den gerechten Volksvorsteher ethisch vom Tyrannen zu unterscheiden, und merkt an, dass der Tyrann sich auch nicht scheue, das Blut seiner Untertanen zu vergießen. Der Tyrann vergießt also Blut und »kostet menschliches Eingeweide« – das Motiv des Essens von Eingeweiden kommt folglich zu dem Blutvergießen hinzu und erweitert die reine Mordgewalt um die zusätzliche Dimension eines tierisch anmutenden, blind wütenden Angriffs. Platons Beschreibung des Tyrannen als eines »Wolf[es]«, der bezeichnenderweise »menschliches Eingeweide« verschlingt, ist nicht nur als eine zoomorphe Bildaussage zu deuten, sondern weist auch auf besonders drastische juridische Praktiken hin, wie sie nicht nur in der Antike, sondern bis in die Neuzeit tatsächlich gültig waren. Im Motiv der Ausweidung ist ein eindeutiger Bezug zum rituellen Opfer und zur Folter des »Ausdärmens«22 hergestellt, einer Folterart, die Michel Foucault in seiner bekannten Untersuchung der Gewalt und ihrer juridischen Formen beschreibt. Das Öffnen der Bauchdecke und Entfernen der Eingeweide hatte keine normative Funktion in der Justiz, sondern lediglich demonstrativen Charakter: als eskalatorische
20 Agamben: Homo sacer (Anm. 12), S. 27 ff. 21 Platon: Politeia 565 d-e. 22 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M. 1977, S. 19.
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Gewalt, als Mordgewalt, die überschießt und die als überschießende, das heißt uneingeschränkte Gewalt die schrankenlose Willkür des negativen Helden veranschaulicht. Ähnlich mordbereit, wenngleich auch nicht direkt in Wolfsform, wird der Tyrann bereits in der biblischen Überlieferung beschrieben, wo der Prophet Habakuk sagt, dass sein weit aufgesperrter blutiger »Rachen«23 der Tod sei. Sowohl die alttestamentarischen als auch die griechischen Quellen verbinden folglich den Herrscher des »Ausnahmezustands«, den negativen Helden, mit der animalischen Mordgewalt, die sich sprachlich in Bildern des Rachenaufreißens, Auffressens und Verschlingens ausdrückt. Die Assoziation souveräner Macht mit Kannibalismus ist auch in der Moderne gebräuchlich: in Emily Brontës berühmtem Roman Wuthering Heights (1847) wird auch die Person des leidenschaftlichen Liebhabers Heathcliff als »cannibal« bezeichnet, eine Bezeichnung, auf die Martha Nussbaum in ihrer Ethikforschung von 2001 kritisch hinweist.24 Für Nussbaum handelt es sich in Emily Brontës Roman vornehmlich um ein Beziehungsdrama, doch die amerikanische Philosophin kann nicht erklären, weshalb Brontë mit der bildlichen Darstellung von Heathcliff als Kannibale oder Menschenfresser einen Wiederaufgriff oder eine Variante des antiken Tyrannenmotivs »Werwolf« leistet, das schon im Alten Testament und bei Platon eine politische Aussage beinhaltete, die weit über das bei Brontë vermutete rein private Beziehungsleben hinausreicht. Woher stammt nun die politische Implikation bei Brontës Schilderung von Heathcliff als »Kannibale«? Auffällig ist, dass die Figur von Brontë tatsächlich nicht nur als überaus leidenschaftlicher Mensch, sondern insbesondere auch als ein Ordnungsbrecher beschrieben wird. Er passt nicht in die enge, von bigotten Bewohnern überwachte Welt eines englischen Dorfes im 19. Jahrhundert. Es liegt psychologisch nah, den Außenseiter Heathcliff in eine gemeinsame Assoziationskette mit Verbrechern, Rebellen und Gewalttätern zu stellen, jener bekannten Auflistung »negativer Helden«, die als gemeinsamen Faktor ihr Anderssein und ihren Angriff auf eine etablierte Ordnung aufweisen – so schließt sich auch der Kreis zum WerwolfMotiv. Heathcliff ist kein »Menschenfresser«, weil er leidenschaftlich ist,
23 Habakuk 2,5. 24 Martha Nussbaum: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions. New York 2001, S. 603.
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sondern weil seine Leidenschaft die Begriffe von Sitte und Ordnung innerhalb seines sozialen Umfelds bedroht und weil er somit in Walter Benjamins Verständnis als Gegen-Macht, in Giorgio Agambens Sinn als Herrscher des »Ausnahmezustands« angesehen werden kann – und die typische Motivik dieser Negativhelden ist das Halb-Tierische, Wölfische.
VI. AMBIVALENZ
UND
AKTUALITÄT
DER
G EWALT
Wir können zusammenfassen: Werwölfe, Wolfsmenschen, Kannibalen und Fabelwesen mit verschlingendem Rachen, diese Bildmotive sind Indikatoren souveräner Gewalt, welche eine herrschende Ordnung bedroht und die durch ihre Auswirkungen den Menschen auf den bloßen Körper – die physische, sogenannte »erste Welt« bei Karl Popper – reduziert und ihn als Veranschaulichungsfläche einwirkender Macht missbraucht. Im epochenübergreifenden Bild des Werwolfs wird also das sadistische Heilige verkörpert, das – seiner möglicherweise kultischen Ursprungssphäre bereits enthoben – vornehmlich als politische Denkfigur des negativen Helden mit uneingeschränkter gesellschaftlicher Macht, des willkürlichen Souveräns auftritt, der seine machtlosen Untertanen ausdärmen, ausweiden morden und verschlingen darf.25 Giorgio Agamben schließt aus diesem offensichtlichen kulturellen Konnex von Werwölfen und gewaltvoller Souveränität als dem Subjekt und dem Prozess der Rechtsenthobenheit, dass überall dort, wo ein Wolfsmensch als negativer Held in der Literatur auftaucht, ein politischer »Ausnahmezustand« brutaler Gewalt illustriert wird, und zwar unabhängig vom jeweiligen politischen Narrativ der Epoche. Agamben verweist auch auf die mittelalterliche französische Sage Bisclavet von Marie de France, welche die nächtliche Verwandlung eines Mannes in einen Werwolf beschreibt, eine Geschichte, die zuletzt sinnigerweise im Bett des Souveräns endet, wo der Werwolf in einen Menschen zurückverwandelt wird.26 Der Werwolf ist also mit dem Souverän identisch und spiegelt gleichsam dessen ›öffentliche‹ Seite, während die Schlafszene
25 Eine künstlerische Gestaltung des Monster- und Kannibalismus-Themas findet sich in: Claudia Simone Dorchain: Die Gewalt des Heiligen – Legitimationen souveräner Macht. Würzburg 2012, S. 395 ff. 26 Agamben: Homo sacer (Anm. 12), S. 118.
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die ›private‹ Seite zeigt. Hier könnte im Bild von Absurdität und Monstrosität das verrätselte Böse auftreten, welches die Ambivalenz von Herrschaft allgemein – als Macht habend und gewalttätig zugleich – in einer fassbaren Form vom »guten Herrscher«, in den sich der »böse Herrscher« zurückverwandelt, obgleich es sich hier wahrscheinlich um ein und dieselbe Person handelt, begreiflich macht. Die potentielle Identität des Bösen mit der Herrschaft ist eine Erkenntnis, die dem psychologischen Bedürfnis nach einer sicheren Welt – einem »just world scheme«, in dem die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden und in dem jeder Herrscher gerecht ist – zutiefst widerspricht und die womöglich gerade deshalb in symbolischen Aussagen verschlüsselt wird, welche von einer konkreten Benennung der Systeme und Akteure der Gewalt absehen. Die Identität des Bösen mit der Herrschaft, folglich die Identität des negativen Helden mit schrankenloser politischer Willkür, im Bild des halb-tierischen Gewalttäters, den eine unhinterfragte Willkür der Gewalt legitimiert, welche der »Ausnahmezustand« schafft, all das sind wichtige Aspekte des Werwolf-Mythos. Doch der Werwolf ist nur ein Bild des Subjekts der Souveränität: Er verweist auch machtvoll auf die Objekte der Souveränität, die Opfer. Der Werwolf als ein »negativer Held« beweist, welche Dynamik in einer unbegrenzt willkürlichen Gewaltausübung liegt und inwiefern ein Gemeinwesen in Gefahr gerät, wenn seine Herrscher sich nicht durch eine öffentliche Rechtfertigung legitimieren müssen. Der Werwolf ist ein Symbol des Heroischen in seiner monströsen Ausprägung und der gefährlichen Ambivalenz von Machtausübung – und gerade deshalb ein Korrektiv für ein allzu glattes, idealistisches Bild vom heroischen Übermenschen.
Helden der Autonomie Genieästhetik und der Heroismus der Tat E LISA P RIMAVERA -L ÉVY
I. E INLEITUNG Der traditionelle kriegerische Held der antiken Mythen und Sagen und die Figur des kunstschaffenden Genies, so meint man instinktiv zu wissen, haben Wesentliches gemeinsam. Die kulturelle Matrix hat beide in ihrem außergewöhnlichen, das normale menschliche Maß übersteigenden Sein als Vergleichsfiguren ausgeformt. So nimmt es nicht weiter wunder, wenn auch der Eintrag »Held, Heros« des Historischen Wörterbuchs der Philosophie recht unvermittelt von den Merkmalen des griechischen Helden zur Vorstellung des Genies übergeht.1 Worin aber liegen im Einzelnen die verbindenden Elemente zwischen Vorstellungen des kämpfenden Heldentums und der sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausbildenden Autonomieästhetik samt ihren Formulierungen des Originalgenies? Gesellschaftlicher Antagonismus, das unberechenbare Element im heroischen Akt bzw. in der autonomen Kunstleistung sowie die den Akt aus seinem Kontext herauslösende Betrachtung bilden die wesentlichen Überschneidungspunkte zwischen den Ansprüchen der Autonomiekunst und der Figur heroischer Taten antiken Modells. Die folgenden Überlegungen beschreiben diese Schnittpunkte zum einen schematisch und verfolgen zum anderen die Entwicklung der Künstlertypologie des kriegerischen Helden-
1
Otto F. Best: »Held, Heros«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel, Stuttgart 1974, Sp. 1043-1049, hier Sp. 1045.
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genies ausgehend von Karl Philipp Moritz’ Begründungstexten der Autonomieästhetik über Friedrich Nietzsches Konzept eines gänzlich in der Isolation gelebten, zerebralen Heroismus bis zu Ernst Jüngers in seinen frühen Schriften entwickelten Kriegerästhetizismus. Vorweg ist festzuhalten: Zentral für die Künstlertypologie des Heldengenies ist die Verabsolutierung der Tat, und zwar durch Ablösung derselben von ihren Folgen, vom Kontext ihrer Entstehung sowie von der die Tat ausführenden Person. Aus welchen Gründen diese Loslösung erfolgt und wie dies im Einzelnen geschieht, wird zu zeigen sein.
II. D ER H ELD
UND SEIN
ODER DAS IN DER
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T AT
RUHENDE
G ENIE
Wie nach ihm Immanuel Kant bestimmt Karl Philipp Moritz in seinem 1788 veröffentlichten ästhetischen Grundtext Über die bildende Nachahmung des Schönen den Begriff des Schönen als frei von jeglicher Bestimmung des Nutzens. Ferner sei konstitutiv für das Schöne, dass die menschliche Einbildungskraft es als ein in sich bestehendes Ganzes aufzunehmen in der Lage sein müsse. 2 Neben dieser knappen Charakterisierung des Schönen im Hinblick auf die Rezeptionsbedingungen, als solches vom Betrachter überhaupt wahrgenommen werden zu können, liegt Moritz’ Hauptaugenmerk aber eindeutig auf den Produktionsprozessen des Schönen durch das schöpferische Genie. Diesen Schöpfungsprozess fasst er in radikaler Weise als den eigentlichen Zweck des Schönen: Dem von der Natur bestellten Genie genügt es nicht, die Natur zu betrachten, es muss »ihr nachstreben, in ihrer geheimen Werkstatt sie belauschen, und mit der lodernden Flamm’ im Busen bilden und schaffen, so wie sie: –« (ÜS 41). Dabei schafft der Künstler im verkleinerten Maßstab die »dunkel geahndeten Verhältnisse jenes grossen Ganzen« der Natur (ÜS 45) wieder nach. Die Nachbildung im Kleinen geschieht dabei ohne Zuhilfenahme der Denkkraft des Genies. Es wird eben »dunkel geahndet[]«, und dies Ahnden geht durch die
2
Karl Philipp Moritz: »Über die bildende Nachahmung des Schönen«, in: Stefan Ripplinger (Hg.): Die Signatur des Schönen und andere Schriften zur Begründung der Autonomieästhetik. Hamburg 2009, S. 27-68, hier S. 39. Zitate werden im Folgenden mit der Sigle ÜS und entsprechender Seitenzahl ausgewiesen.
G ENIEÄSTHETIK UND DER H EROISMUS
DER
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»Thatkraft« vonstatten, einem synthetisierenden Vermögen, das Empfindungskraft mit konstruktiven Elementen vereint. Dadurch aber, dass die Denkkraft an der Entstehung des Schönen keinen Anteil hat und das Schöne auch im rezeptiven Modus durch den Betrachter gleichfalls nicht durch die Denkkraft zu ergründen ist, kann Moritz in binnenästhetischer Argumentation den Primat des Genies postulieren. Denn allein das Genie hat im Akt der Entstehung des Kunstwerks einen lebendigen, d. h. gefühlten Begriff des Schönen und somit auch den vollen Genuss desselben. Da nun aber jene grossen Verhältnisse, in deren völligen Umfange eben das Schöne liegt, nicht mehr unter das Gebiet der Denkkraft fallen; so kann auch der lebendige Begriff von der bildenden Nachahmung des Schönen, nur im Gefühl der thätigen Kraft, die es hervorbringt, im ersten Augenblick der Entstehung statt finden, wo das Werk, als schon vollendet, durch alle Grade seines allmähligen Werdens, in dunkler Ahndung, auf einmal vor die Seele tritt, und in diesem Moment der ersten Erzeugung gleichsam vor seinem wirklichen Daseyn, da ist. (ÜS 46)
Mit dieser Beschreibung ist auch auf den im Geniediskurs immer wieder diskutierten unbestimmbaren Reiz hingewiesen, der den Künstler stetig erneut zum Schaffen drängt, um das Schöne im ephemeren Augenblick der Entstehung zu umfassen. Moritz räumt zwar ein, dass die geschulte ästhetische Kontemplation der schönen Kunstwerke den Betrachter dem lebendigen Begriff des Schönen etwas näherkommen lässt, dennoch bleibt der höchste Genuss dem schaffenden Genie vorbehalten, und das Schöne hat somit seinen Zweck – unabhängig von seinen Folgen, zu denen mitunter das Publikumsvergnügen zu zählen wäre – in seinem Werden selbst. Zwar mag das Werk des Genies im annähernden Modus der ästhetischen Betrachtung eines Hinzukommenden Gefallen finden, das Werk ist jedoch bereits in sich selbst vollendet und gerechtfertigt und bedarf des »Nachgenuß[es]« eines Publikums schlicht nicht. Allein da unser höchster Genuß des Schönen dennoch sein Werden aus unsrer eignen Kraft unmöglich mit in sich fassen kann – so bleibt der einzige höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, das es hervorbringt, selber; und das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck, in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge sei-
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nes Daseyns – und das bildende Genie ist daher im grossen Plane der Natur, zuerst um sein selbst, und dann erst um unsertwillen da. (ÜS 46 f.)
Zur legitimierenden Rahmung sowie zur Herleitung dieser komplexen ästhetischen Überlegungen bedient sich der mythenversierte Moritz 3 im ersten Teil des Aufsatzes der Vergleichsfigur des legendären patriotischen Attentäters Mucius Scaevola. Der römische Held hatte sich in der Absicht, die Belagerung Roms durch die Etrusker zu beenden, in das Feldlager des etruskischen Königs Lars Porsenna eingeschlichen, um diesen zu ermorden. Noch vor Ausführung des Attentats von Häschern aufgegriffen, wird Mucius Scaevola dem König vorgeführt, dem er in einem Akt der Selbstverstümmelung – die Hand in eine aufgestellte Fackel haltend – seine Entschlossenheit vor Augen stellt. Diese aufrechte Mannestat, behauptet nun Moritz, trage ihre Schönheit und ihren Wert in sich selbst und habe nicht notwendigerweise die für Scaevola und für das römische Volk segensreichen Folgen mit sich bringen müssen, die seine Begnadigung und der anschließende Abzug des zutiefst beeindruckten Königs zweifellos darstellten: »[...] sie [die Tat] brauchte nicht nützlich zu seyn, um edel4 zu seyn; bedurfte des Erfolges nicht, eben weil sie ihren innern Werth in sich selber hatte: und wodurch anders hatte sie diesen Werth, als durch sich selbst, durch ihr Daseyn?« (ÜS 33) Die Glorifizierung der Tat an sich und ihre Ablösung von den aus ihr resultierenden Folgen für das handelnde Individuum sowie für die Gemeinschaft, aus der es hervorgegangen ist, bildet so die Vorlage für Moritz’ Formulierung, dass das Schöne bereits seinen höchsten Zweck im Prozess des Schaffens erreiche. Der »Nachgenuß« des Schönen seitens eines Publi-
3
Vgl. hierzu die von Moritz für ein breites Publikum kompilierten Mythenführer: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin 1791; Mythologischer Almanach für Damen. Berlin 1792; Mythologisches Wörterbuch zum Gebrauch für Schulen. Berlin 1793.
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Die Begriffe »edel« und »schön« sind bei Moritz unauflöslich miteinander verbunden. Sie repräsentieren zwei Betrachtungsseiten einer Einheit, wobei eine Handlung nach der bloßen Betrachtung der Oberfläche schön genannt wird und edel, wenn ihr innerer Wert ausgedrückt werden soll: »Jede schöne Handlung aber muß nothwendig auch edel seyn: das Edle ist bei ihr die Basis oder der Fond des Schönen, durch welches sie in unser Auge leuchtet« (ÜS 32).
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kums ist lediglich sekundäre Konsequenz des originären Daseins des Schönen, so wie das von der Fremdherrschaft befreite Rom nur als zu vernachlässigende Wirkung der originären Tat des Scaevola erscheint. Zentral ist weiterhin, dass die Intention des Helden jenseits einer Tauschlogik von Einsatz und Gewinn liegt. Der »junge Held«, so stellt es Moritz dar, wagte das Äußerste und war »auf jeden Erfolg« gefasst: »So kann nur der handeln, welcher eine grosse That, deren Erfolg so äusserst ungewiß ist, um dieser That selbst willen unternimmt, wovon allein schon das grosse Bewußtseyn ihn für jeden mißlungnen Versuch schadlos hält« (ÜS 33). Was in der traditionellen Heldendarstellung als impulsiv-irrationaler Wagemut oder kühne Todesverachtung tradiert wurde, erfährt in Moritz’ Auslegung für seine Ästhetik eine entscheidende Umdeutung durch die Verabsolutierung der Tat als Leistung um ihrer selbst willen. So muss auch das schaffende Genie sich sowohl von Publikumserwartungen wie von allen Vorstellungen ökonomischer Bereicherung, zu gewinnenden Ruhms und gar eigenen Vergnügens am Schaffen5 frei machen, wenn es nicht das wahre Werk – die Tat an sich – verraten und verfehlen will. Wozu, so lässt sich fragen, nun diese Loslösung der Tat von allen sie umgebenden Überlegungen, Konsequenzen und Kontexten in Moritz’ radikalem, mit den wirkungsästhetischen Begriffen von Gefallen und Nutzen brechendem Text? Die Entstehung der Autonomieästhetik ist nur durch die Kenntnis der ökonomischen Umwandlungsbewegungen des literarischen Felds Ende des 18. Jahrhunderts zu begreifen. Hierzu zählen die neuen Produktionsverhältnisse, voran das Ende der intimen ›Arbeitsbeziehung‹ zwischen Autor und dem ihm Unterhalt bietenden Mäzen sowie die Herausbildung eines literarischen Marktes mit einem anonymen Publikum, von dessen Gunst der nun freie Schriftsteller abhängig zu werden drohte. Moritz, einer der ersten freien Autoren, sah sich gezwungen, in rascher Abfolge zu produzieren, und reagierte mit seinen autonomieästhetischen Schriften empfindlich auf die heraufziehende kapitalistische Gefahr, die das einzigartige Werk als austauschbare und bezahlte Ware entwertete: »Ein zu-
5
Vgl. hierzu Moritz’ Bemerkungen zur Gefahr des falschen Genies, d. h. zum sich selbst versuchenden Liebhaber der Künste, der so stark empfindet, dass er nicht nur am »Nachgenuß«, sondern selbst am Mysterium der »dunklen Ahndung« teilhaben will, und gerade durch dieses bewusste Wollen der Entstehung von Kunst entgegenwirkt (ÜS 49 f.).
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tiefst Abhängiger«, so Stefan Rippliner, sich buchstäblich zu Tode schreibender Literat fordert in radikalster Weise die Unabhängigkeit der Kunst.6 Das Ideal des Dichter-Helden bzw. des Philosophen-Helden, der vom inneren künstlerischen Auftrag besessen und gleichgültig gegenüber Ruhm und außer seinem Werk liegenden Befriedigungen erscheint, entsteht also in gewisser Weise als ersehnte Wunschvorstellung und geistiges Ausweichmanöver zu den veränderten Bedingungen der künstlerischen Produktion.7 Bereits drei Jahre zuvor, im 1785 erschienenen Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten hatte Moritz die klare Trennung zwischen dem Nützlichen und dem Schönen postuliert. In Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Moses Mendelssohn wies Moritz dessen Behauptung zurück, der Zweck des Kunstwerks müsse »Gefallen« und »Vergnügen« sein. 8 Dennoch räumte er zu diesem Zeitpunkt noch ein, dass das Schöne bzw. das Kunstwerk nur existiert, wenn es von jemandem betrachtet wird: Man betrachtet es [das Schöne] nicht, in so fern man es brauchen kann, sondern man braucht es nur, in so fern man es betrachten kann. Wir bedürfen des Schönen nicht so sehr, um dadurch ergötzt zu werden, als das Schöne unsrer bedarf, um erkannt zu werden. Wir können sehr gut ohne die Betrachtung schöner Kunstwerke bestehen, diese aber können, als solche, nicht wohl ohne unsere Betrachtung bestehen.9
6
Stefan Ripplinger: »Nachwort«, in: ders.: Signatur des Schönen (Anm. 2), S. 127-159, hier S. 129 f.
7
Zum Zusammenhang zwischen Genieästhetik, Autonomiekunst, der Entwicklung des freien Markts und der Verdrängung des Mäzenatentums vgl. Martha Woodmansee: »The Genius and the Copyright: Economic and Legal Conditions of the Emergence of the ›Author‹«, in: Eighteenth-Century Studies 17 (Summer 1984), H. 4, S. 425-448.
8
Wo Mendelssohn diese Begriffe noch im Sinne der Horaz’schen Tradition eines »delectare et prodesse« verstand und den »Nutzen« als anthropologischen und psychologischen Wert begriff, deutet Moritz den Gefallen in ein pöbelhaftes Gefallen um und fasst den Nutzen als rein ökonomische Kategorie auf. Vgl. Ripplinger: Nachwort (Anm. 6), S. 135-138.
9
Karl Philipp Moritz: »Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten«, in: Ripplinger: Signatur des Schönen (Anm. 2), S. 7-15, hier S. 9.
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Erst durch die Betrachtung wird den Kunstwerken »ihr wahres volles Dasein« gegeben. Hieran schließen sich die Beobachtungen an, dass man aus besagtem Grunde Missbehagen empfände, wenn ein Schauspielhaus nur halb besetzt ist oder wenn Kunstwerke im Staub liegen. Solche wirkungstheoretischen Überlegungen fehlen vollständig in Moritz’ späterem Text. Die rezeptive und dadurch das Kunstwerk komplettierende Dimension des Betrachters ist in den Hintergrund geraten. Die ehemals als essentiell eingestufte Existenzbedingung des Kunstwerks – das Zeugnis eines Dazukommenden – ist zum »Nachgenuß« herabgestuft. Hätte Moritz auch seiner ersten ästhetischen Schrift ein mythisches Lehrbeispiel eingefügt, wäre dieses, so ist anzunehmen, gleichfalls ganz anders ausgefallen als die Helden-Episode des gänzlich in seiner Tat aufgehenden Mucius Scaevola in Über die bildende Nachahmung des Schönen. Sein Scaevola ist darüber hinaus gemäß den radikalen Forderungen der Autonomieästhetik zurechtfrisiert und erscheint von allen Regungen, die nur im Entferntesten als eigennützige – und damit werkfremde – ausgelegt werden könnten, gereinigt. Die Helden der Ilias zum Beispiel sind dagegen ganz und gar nicht frei von heteronomen, außer ihrem kriegerischen Werke liegenden Intentionen und Bestrebungen. Hektor, Odysseus, die beiden Aias usw. wissen z. B. um die absolute Notwendigkeit, die Körper der gefallenen Krieger zu retten, denn nur so kann die Bereitung des verdienten Nachruhms garantiert werden. Die griechischen Helden kämpften ferner nicht, wie in späterer Historiographie oft angenommen, aus naiver Freude und im freien Spiel der Betätigung der eigenen Kraft, sondern in der heroischen Gesellschaft herrschte stattdessen ein stetiger Kampf um soziale Hierarchie und Status, und diese hingen wesentlich von der Kriegsleistung des Einzelnen ab.10 Ehrengeschenke, unsterblicher Ruhm und der »kalós thánatos«, der schöne Tod, sind der vom Heros selbst einkalkulierte Lohn. Freilich ist die Idee des vom Selbstnutz befreiten Helden nicht erst durch Moritz begründet, vielmehr führt er eine begriffsgeschichtliche Entwicklung fort, die seit der Neuzeit den kriegerischen Helden antiken Zuschnitts zum christlichen Tugendhelden umbildet.11 Ein Schlaglicht in dieser Entwicklung ist La Rochefoucaulds Demontage des Helden in seiner her-
10 Vgl. Oliver Hellmann: Die Schlachtszenen der Ilias. Das Bild des Dichters vom Kampf in der Heroenzeit. Stuttgart 2000, S. 12, 33-49. 11 Vgl. Best: Held (Anm. 1), Sp. 1045.
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ausfordernden Behauptung, vollkommene Tapferkeit bestehe darin, ohne Zeugen etwas zu tun, das man vor aller Welt ohne weiteres tun würde.12 Damit ist ein wesentliches Moment der Verinnerlichung benannt, das die Logik des antiken Heroentums aushebelt. Die Maxime von La Rochefoucauld besagt ja nichts anderes, als dass der wahre Held auf Ruhm und Anerkennung durch die Welt Verzicht leisten müsse. Der Held traditionellen antiken Zuschnitts, in einer Welt des Status und der Ehre, ist jedoch, um als Held gelten zu können, auf eine dreiteilige Struktur von außerordentlicher Tat, einem von dieser Tat Bericht ablegenden Zeugen und einem lauschenden Publikum angewiesen.13 Sobald der Zeuge oder ein die Tat vernehmendes Kollektiv fehlen, kann nur der Held selbst wissen, dass er ein Held ist. Eben dies ist in Moritz’ Formulierung der großen Tat des Heldengenies, die um ihrer selbst willen unternommen wird, zum Ausdruck gebracht: »[...] allein schon das grosse Bewußtseyn« hält den Helden »schadlos« (ÜS 33). Das große Bewusstsein der edlen Tat ersetzt so als Verinnerlichung den Statuszugewinn bzw. die Publikumsverehrung. Die Reinheit der Absichten, die Gleichgültigkeit gegenüber äußerem Ruhm und Anerkennung durch Zweite und Dritte entspricht somit eher der Struktur des Opfers, das zumeist unerkannt und scheinbar ohne Folgen in der Welt des Erfolges bleibt. In dieser Entwicklung enthalten ist die vom exponierten zum anonymen bzw. unbesungenen Helden und auch zu den vor allem im angelsächsischen Kulturraum popularisierten ›Helden des Alltags‹, die eher stillen Duldern als glänzenden Heroen gleichen.14
12 »La parfaite valeur est de faire sans témoins ce qu’on serait capable de faire devant tout le monde.« (La Rochefoucauld: Maximes et Réflexions diverses. Hg. von Jean Lafond. Paris 1976, S. 79). 13 Vgl. Christian Schneider: »Wozu Helden?«, in: Mittelweg 36 (2009), H. 1, S. 91-102, hier S. 92. 14 Vgl. als Beispiel für diese Linie der Heldeninterpretation die aus einer Predigt stammenden Worte des einflussreichen amerikanischen Predigers und Sozialreformers Henry Ward Beecher (1813–1887) (ein Bruder von Harriet Beecher Stowe): »The world’s battlefields have been in the heart chiefly; more heroism has been displayed in the household and the closet, than on the most memorable battlefields in history.« (http://www.citaten.net/en/search/quotes-heart.html? page=4; Zugriff: 18. Mai 2012).
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Das schaffende Heldengenie der Autonomieästhetik in der Prägung von Karl Philipp Moritz schickt sich freilich in die Möglichkeit, durch die Reinheit seiner Intentionen und sein völliges Aufgehen im Werk dieser anonyme, unbesungene Held zu bleiben.
III. D AS H ELDEN -G ENIE IM K AMPF GEGEN DIE Z EIT
UND SICH SELBST
Fast ein Jahrhundert später untersucht Nietzsche mit seinem 1874 als Unzeitgemäße Betrachtung erschienenen Text Schopenhauer als Erzieher die Entwertung der wahrhaften und damit ›heroischen‹ Philosophie durch das akademisch-besoldete »staatlich anerkannte Afterdenkerthum«.15 Denn Philosophie ist für Nietzsche eine Sache auf Leben und Tod und nur für unerschrockene heldenhafte Denker, die sich buchstäblich mit Leib und Seele dem Kampf für die Wahrheit verschreiben. Philosophie sei eine »furchtbare Sache« und man solle wissen, »welche Quelle des Heroischen in ihr fliesst« (SE 426). Schopenhauer, der 1866 verstorben war, hatte nach gut 30 Jahren fast gänzlicher Missachtung seines Werkes in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch den Beginn einer schrittweisen Anerkennung seiner Philosophie erleben dürfen. Nietzsches Schrift verfolgt so einerseits eine ihn als Genie gänzlich rehabilitierende Absicht und widmet sich andererseits den Existenzbedingungen des echten Genies, das sich von der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts nachhaltig behindert sieht. Lag bei Karl Philipp Moritz der Schwerpunkt seiner in den ästhetischen Schriften enthaltenen Kulturkritik auf der losgelösten künstlerischen Tat im Kampf gegen pöbelhaftes Gefallen und kapitalistische Verwertbarkeit, hebt Nietzsche auf die ausgeprägte Kampfstellung des Heldengenies gegenüber feindlichen, es herabziehenden Kräften der Mittelmäßigkeit und Dummheit ab. Im Zentrum seiner Gedanken steht das freiwillig auf sich genommene Leiden des Genies, das sich willig für das Fortkommen der Wahrheit opfert. Der unzeitgemäße Kampf gegen die Zeit und ihre falschen Ideale ist
15 Friedrich Nietzsche: »Schopenhauer als Erzieher«, in: ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Berlin, München 1988, S. 335-427, hier S. 421. Zitate werden im Folgenden mit der Sigle SE und entsprechender Seitenzahl ausgewiesen.
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mitunter zugleich ein Kampf des heldenhaften Genies gegen sich selbst und gehegte Überzeugungen. Der moderne Held, dessen Vorstellung Nietzsche an der Figur Schopenhauers herausarbeitet, lebt einen »Heroismus der Wahrhaftigkeit«. Den Willen, als tiefblickender Diagnostiker zum eigentlichen Wesen der Dinge vorzudringen, beschreibt er als heroische, schmerzensbereite Erkenntnisverpflichtung: Gewiss, er vernichtet sein Erdenglück durch seine Tapferkeit, er muss selbst den Menschen, die er liebt, den Institutionen, aus deren Schoosse er hervorgegangen ist, feindlich sein, er darf weder Menschen, noch Dinge schonen, ob er gleich an ihrer Verletzung mit leidet, er wird verkannt werden und lange als Bundesgenosse von Mächten gelten, die er verabscheut, er wird, bei dem menschlichen Maasse seiner Einsicht, ungerecht sein müssen, bei allem Streben nach Gerechtigkeit: aber er darf sich mit den Worten zureden, welche Schopenhauer, sein grosser Erzieher, einmal gebraucht: Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf. (SE 372)
Der Held, wie er von Nietzsche gezeichnet wird – und hier gibt es reichlich Hinweise darauf, dass er damit auch ein persönliches Porträt seiner selbst malt16 –, ist unerschrocken im Aufsuchen selbst der zerstörerischsten Wahrheiten, auch wenn dies auf Kosten der psychischen und physischen Gesundheit geht. Die grausame, übermenschlich-unmenschliche Dimension in den Taten der antiken Heroen richtet sich in einer Umkehr der Gewaltrichtung gegen den heroischen Sucher der Wahrheit selbst. In Nietzsches Gedanken eines intellektuellen Heldentums kommt es also gleichfalls zu einer Verabsolutierung der Tat, in dem Sinne, dass die Tat von der sie ausführenden Person gänzlich abgelöst wird. In den zugespitzten Gedanken zum Heroismus der Tautenburger Aufzeichnungen heißt es dann: »Heroismus – das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt, gegen welches ge-
16 Vgl. Nietzsches Betonung der exemplarischen Funktion seiner Schrift für seine persönliche Lebensführung. In einem Brief an Franz Overbeck vom August 1884 schreibt er: »Übrigens habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich in Schopenhauer als Erzieher) vorgezeichnet habe« (Nietzsche an Franz Overbeck, Anfang August 1884; Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3/1. Berlin 2003, S. 518).
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rechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergange.«17 Nietzsches Formulierung des Heroismus greift ebenfalls das Moment der Isolation auf, dem wir in der Struktur der heldenhaften Tat und im Ideal der ästhetischen Autonomie bei Moritz begegnen. Wie das Helden-Genie ist auch der Nietzsche’sche Held eine so anziehende und würdige Figur, weil beide jenseits einer Tauschlogik von Entlohnung und Anerkennung stehen. In seinem schmerzvollen Streben nach Wahrhaftigkeit wird der ideale Held nicht einmal den tröstenden Balsam eines bewundernden Publikums oder ergebener Schüler genießen. Als unzeitgemäße Figur, sich vollständig außerhalb dessen bewegend, was sein Zeitalter beschäftigt, ist der Nietzsche’sche Held eine wesentlich beziehungslose Figur ohne Gleichgesinnte oder Bewunderer. In Menschliches, Allzumenschliches präsentiert Nietzsche seine klare Vision des Heroischen als grandiose Selbstgenügsamkeit: Das Heroische besteht darin, dass man Grosses thut (oder Etwas in grosser Weise nicht thut), ohne sich im Wettkampf mit Anderen, vor Anderen zu fühlen. Der Heros trägt die Einöde und den heiligen unbetretbaren Gränzbezirk immer mit sich, wohin er auch gehe.18
Auch hier sind also Wirkungen der Entwicklung zum Tugendhelden zu beobachten, der das Bewusstsein seiner Größe mit gleichzeitiger Verachtung äußerer Bewunderer und auch Wettkämpfer, mit denen er sich sichtbar messen könnte, verinnerlicht hat. Und es zeigt sich bereits an den verwendeten Charakteristika des Erhabenen (Würde, edle, selbst gesuchte Einsamkeit und Gleichgültigkeit gegenüber äußeren Wertungen), dass hier trotz aller gegenteiligen Beteuerungen ein großer Gewinn für den leidenden Helden verborgen liegt. In Die fröhliche Wissenschaft antwortet Nietzsche auf seine eigene Frage »Was macht heroisch?« folgendermaßen: »Zugleich
17 Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abt. 7. Bd. 1. Berlin, New York 1977, S. 33. 18 Friedrich Nietzsche: »Menschliches, Allzumenschliches II: Der Wanderer und sein Schatten«, in: ders.: Kritische Studienausgabe (Anm. 15), Bd. 2, S. 535704, hier S. 699.
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seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehn.«19 Ein mächtiges Versprechen und damit eine höchst anschlussfähige Künstlermystik liegt im heroischen Schmerz, wie die Nietzsche-Rezeption weithin gezeigt hat.
IV. N UR
DIE T AT ? O DER WAS HAT DAS H ELDENGENIE DAVON ?
So viel ist bereits angeklungen: Die Tat mag noch so sehr als in sich selbst gerechtfertigt, durch ihr bloßes Dasein als edel und in sich selbst abgeschlossen, präsentiert sein, die Folgen nichtig und der Ausübende in der Konsequenz nur als das ihr aufzuopfernde Werkzeug erscheinen, durch Schlupflöcher kommen die von allem Egoismus gereinigten Helden der Autonomie schließlich doch auf ihre Kosten. Bei Moritz heißt es über den seine Hand mutwillig verbrennenden Mucius Scaevola, er habe die Tat »um dieser That selbst willen« unternommen, »wovon allein schon das grosse Bewußtseyn ihn für jeden mißlungnen Versuch schadlos hält«. Dieses für sämtliche Mühen und Verletzungen entschädigende Bewusstsein, das allen Tugendhelden der neueren Ausformung eigen ist, umfasst unter anderem das Wissen, durch die außergewöhnliche Tat gegen die Banalität des Lebens aufzubegehren. In der außergewöhnlichen Tat reflektiert sich das Göttliche, und der Held genießt so die Gewissheit seiner Überlegenheit über die Normalsterblichen bzw. über die »philiströsen Dutzendmenschen«, die sich als dunkler Untergrund von »dem leuchtenden Genieideal« absetzen.20 Auf äußerlich sichtbaren Status und Ehrengeschenke kann er getrost verzichten zugunsten eines geistigen Besitzes aus gelebter Integrität und innerem Reichtum. Denn das heldenhafte Genie, so zeigt Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher, bildet sich in schmerzhafter Selbstüberwindung stetig hin zur eigenen Transzendenz: »[...] dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern hoch über dir« (SE 350).
19 Friedrich Nietzsche: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: ders.: Kritische Studienausgabe (Anm. 15), Bd. 3, S. 343-651, hier S. 519. 20 Edgar Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus. Hildesheim, New York 1972, S. 6.
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Neben diesem Bildungszugewinn und der Erhebung durch das sich schadlos haltende Bewusstsein erscheinen weitere Hilfskonstruktionen in der Rede über das allein in der Tat ruhende, radikal unabhängige Heldengenie, das allein schafft und genießt und niemanden sonst zu brauchen vorgibt. Bei Nietzsche lässt z. B. die verschwenderisch verfahrende Kultur in ihrem Drange, das menschliche Geschlecht zu vervollkommnen, Genie im Übermaß wachsen: »Die Natur schießt den Philosophen wie einen Pfeil in die Menschen hinein, sie zielt nicht, aber sie hofft, daß der Pfeil irgendwo hängen bleiben wird« (SE 404). Das Genie ist also nicht intentional; den Pflanzen vergleichbar, existiert es für sich und ist wie diese in abgelöster Schönheit in sich komplett, aber es wird dennoch »gehofft«, dass das Genie irgendwo auf fruchtbaren Boden fällt und so Samen des Verständnisses aussät. Dies macht die Aporie der Autonomieästhetik aus. Wie bei Moritz gesehen, gehört es zu ihren rhetorischen Strategien der Selbstrechtfertigung, vorzugeben, sie könne ohne Zeugen auskommen. Sie kann es aber natürlich nicht, denn ohne Zeugen lebt die Kunst schlicht nicht. Gängige Trostfigur im Diskurs der autonomen Künste ist daher das Geistergespräch und der späte, oft postume Ruhm durch die nachgeborenen Zeugen, die das Unzeitgemäße der Tat endlich adäquat aufzunehmen und zu schätzen wissen. Diese Figur erscheint auch im letzten, hier zu verhandelnden Text, Ernst Jüngers Rechtfertigungsschrift der im Nachhinein sinnlos erscheinenden Opfer und Kriegsleistungen des Ersten Weltkriegs Der Kampf als inneres Erlebnis (1922).
V. D AS
AUTONOME
G ENIE
DES
G RABENKAMPFS
Mit Jüngers vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges erschienenen Der Kampf als inneres Erlebnis kehren wir zum traditionell angestammten Feld der Heroen, dem Feld der kriegerischen Auseinandersetzungen, zurück. Während Moritz und Nietzsche strukturelle Merkmale sowie Bildlichkeit der kämpfenden Helden auf die Gebiete der Autonomieästhetik und des Geniediskurses übertrugen, bedient sich Jünger in seiner Auslegung des Kriegserlebnisses der autonomieästhetischen Vorstellung einer auf sich beruhenden Tat und verlegt die geniehafte Zeugung auf das Schlachtfeld. In Jüngers Text ist die Betonung des für alle Entbehrungen entschädigenden und erhebenden Bewusstseins der großen Tat sowie die Loslösung
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der Tat sowohl von Beweggründen und Folgen als auch vom Agierenden zu beobachten. Diese Verabsolutierung der Tat und die mit ihr einhergehende Bewegung zur Verinnerlichung eignet gleichfalls Moritz’ und Nietzsches Formulierungen des Heldengenies. In allen Fällen hat man es mit einem feindlichen Kontext, d. h. einer Gesellschaft zu tun, die das Tun zu entwerten droht. Bei Moritz erscheint die Begründung der Autonomieästhetik als Rettung des von ökonomischen Zwängen, kapitalistisch denkenden Verlegern und pöbelhaft empfindenden Lesern bedrohten Künstlers, der sich defensiv als radikal unabhängiges Genie geriert. Der von Nietzsche beschriebene Heldenphilosoph kämpft gegen eine ihm feindlich gesinnte dekadente Kultur der Mittelmäßigkeit. Er lebt einen halsbrecherischen Heroismus der Wahrhaftigkeit und verfolgt damit ein über alles gehendes Ziel, gegen das er selbst zu einer vernachlässigenden Größe wird. Bei Jünger, so geht sehr deutlich aus dem Vorwort zur zweiten Auflage von Der Kampf als inneres Erlebnis hervor, wird das Kriegserlebnis als in sich selbst gerechtfertigte Tat glorifiziert, da die Folgen des Krieges für Deutschland schlicht desaströs waren und der um 1922 herrschende Zeitgeist der »Undankbarkeit« der Daheimgebliebenen die Motive des Krieges als falsch und den Einsatz der Soldaten als sinnwidrig abtat: Das mußte stutzig machen und regte manchen zu der Frage an, ob er denn wirklich an einem Wahnsinn teilgenommen hätte, zu dem man gut täte, sich nicht mehr zu bekennen, wenn man noch irgendwie ernst genommen werden wollte. Hatte man denn wirklich nur der reinen, sinnlosen Gewalt Herz und Arm geliehen, und waren diese unzähligen Männer nur von einem geistlosen Gehorsam getrieben, unter der unwiderstehlichen Wucht von Massenpsychosen dem Tode entgegengetreten?21
Der zermürbende Graben- und Stellungskrieg und die Materialschlachten enttäuschten bekanntermaßen alle Vorstellungen vom alten Heldentum und ritterlichen Kampf zwischen gleichwertigen Gegnern. Zwar suchte sich Jünger als erfolgreicher Sturmtruppführer – mit dem Orlando Furioso in der Kartentasche, wie er noch als Hundertjähriger notierte – in gewisser Weise ein Reservat, durch das er sich in Einzelaktionen als wirkungsmäch-
21 Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin 31928, S. XII. Zitate werden mit der Sigle KiE und entsprechender Seitenzahl ausgewiesen.
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tiger Held mit treuen Gefährten empfinden konnte. Jedoch täuschte er sich nicht über den allgemeinen Charakter des Krieges, der das Überleben des Einzelnen nicht vom Mut und persönlichem Einsatz abhängen ließ, sondern zu einer reinen Frage der Wahrscheinlichkeitsstatistik machte. Ein zutiefst Abhängiger und Gefangener der Situation, und dies betrifft sowohl die Struktur der Kriegsführung während der vier Jahre dauernden Kämpfe als auch die unerträgliche Situation der nachträglichen Entwertung seines Einsatzes und seiner Qualen, löst so die Tat als Kampf als eine für sich bestehende Sache von allen ihn umgebenden Kontexten ab: »So bin ich bemüht, in diesem Buche, in dem ich mich mit dem Kriege abfinden will, ihn zu betrachten als etwas, das bestand und noch in uns besteht, ihn aus aller Vorstellung zu schälen als eine Sache für sich« (KiE 53). Dabei bedient sich Jünger, wie im Einzelnen zu sehen sein wird, extremer Formen von Legitimationsstrategien des autonomieästhetischen Diskurses und beschreibt den Kampf als genieartigen Ausbruch der Tatkraft.22 Der Kampf ist ferner wie das autonome Kunstwerk in sublimer Zwecklosigkeit in sich abgeschlossene Tat, die keiner äußeren Rechtfertigung bedarf. In der Betonung der Unteilbarkeit der Erfahrung ist Jüngers Schrift ferner eine Rede an Eingeweihte, d. h. an die ehemals Kämpfenden als ›Genie-Kameraden‹. Die Genies des Grabenkampfes sind selbstverständlich nur eine kleine Elite der im Ersten Weltkrieg kämpfenden Soldaten. Jünger beschreibt die unerschrockenen, für den Krieg lebenden »Landsknechte« als die Heroen des Grabenkampfes, die in »göttlicher Frechheit« (KiE 61) den überwältigenden Elementen der Materialschlacht trotzen. Damit repräsentieren sie das leuchtende Gegenstück zum glanzlosen Massentypus der Volksheere – des Bourgeois, der eben kämpfen musste und »Krieg ausübte[] als staatsbürgerliche Pflicht« (KiE 56). Die Landsknechte sind gleichfalls weit entfernt von den Unmutsäußerungen der mehr recht als schlecht soldatisch überformten »Krämer oder Handschuhmacher«, die nach der Rolle der Interessen und der Kriegsgewinnler fragen und die Jünger nachdrücklich
22 Auf diesen Zusammenhang wies bereits Walter Benjamin in seiner Besprechung des von Jünger herausgegebenen Sammelbands Krieg und Krieger hin. »Diese neue Kriegstheorie« sei »eine hemmungslose Übertragung der Thesen des l’Art pour l’Art auf den Krieg« (Walter Benjamin: »Theorien des deutschen Faschismus«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1972, S. 238-250, hier S. 240).
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verärgern, da sie den Kampf nicht als eine Sache an sich zu behandeln wissen und so von der höheren Bewegung, an der sie seiner Lesart nach eigentlich teilhaben, durch ihre Haltung abgeschnitten bleiben. Der Landsknecht, der »den Kampf um des Kampfes willen liebt« (KiE 57) gleicht eben durch diese Loslösung des Tuns strukturell dem Künstlerhelden bzw. dem Philosophenhelden: »Wie andere in der Kunst oder in der Wahrheit, so erstrebten sie im Kampfe Erfüllung« (KiE 62). Jünger führt für den Krieger gleichfalls einen ekstatischen Schaffensrausch an: »Ein letztes noch: die Ekstase. Dieser Zustand des Heiligen, des großen Dichters und der großen Liebe ist auch dem großen Mute vergönnt. Da reißt Begeisterung die Männlichkeit so über sich hinaus, daß das Blut kochend gegen die Adern springt und glühend das Herz durchschäumt« (KiE 53). Ähnlich wie bei Nietzsche und Moritz die Versenkung ins künstlerische bzw. philosophische Ziel wird die Versenkung in den Kampf zu einem »Geschehen, bei dem der Mensch nichts und seine Sache alles« (KiE 50) gilt. Doch bezeichnet Jünger richtig den Unterschied zum genieästhetischen Diskurs. Der tödliche Ernst, den das kunstschaffende Heldengenie für sich und die Genese seiner Werke postuliert, ist auf dem Schlachtfeld keine rhetorische Figur mehr. »Und doch ist es kein Spiel mehr, ein Spiel kann wiederholt werden, hier ist beim Fehlwurf unwiderruflich alles vorbei« (KiE 51). Der Kämpfer ist so in gewisser Weise das wahrhaftere Genie, der sich unter Einsatz der ganzen Person keine Wiederholung, kein Neuansetzen leisten kann. Der Kampf ist nicht nur Kampf, sondern zugleich geschaffenes Werk: »Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung, und so kämpft nicht einmal der umsonst, welcher für Irrtümer ficht« (KiE 49). Jünger versieht den Krieger mit den Attributen eines märtyrerhaften Genies: seine Schöpfung ist freilich der Tod. Es schafft unter Einsatz seines Lebens und harrt lange oder gar vergeblich der verdienten Anerkennung. Letztere Differenzierung ist im Hinblick auf die Situation der Weltkriegssoldaten zu lesen, denen in der Masse weder ein »kalós thánatos«, d. h. nicht einmal ein Heldenbegräbnis zuteilwurde und denen nach Ende des Krieges kein Dank, sondern eher eine peinlich berührte Ratlosigkeit entgegengebracht wurde. Waren sie doch in ihrer sichtbaren körperlichen wie geistigen Versehrtheit lebendiger Beweis dafür, dass man sich einst zusammen im Nationalrausch einer verlorenen Sache verschrieben hatte. Gegen die Entwertung der Tat durch die im besiegten Deutschland herrschende Niedergeschlagenheit nach dem Versailler Vertrag postu-
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liert Jüngers Kriegerästhetizismus die Tat um der Tat willen als autonome Kunstleistung und den Krieg als zweckfreies Kunstwerk. Alle Ziele sind vergänglich, nur die Bewegung ist ewig, und sie bringt unaufhörlich herrliche und unbarmherzige Schauspiele hervor. Sich in ihre erhabene Zwecklosigkeit versenken zu können wie in ein Kunstwerk oder wie in den gestirnten Himmel, das ist nur wenigen vergönnt. Aber wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres, sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt. (KiE 113 f.)
Formulierungen wie »Nicht wofür wir kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen« (KiE 78) lösen selbst den sittlichen Kontext auf, den man noch bei Moritz’ Mucius-Scaevola-Episode als geteilten Hintergrund annehmen durfte. Denn in der Konstruktion dieses Helden gibt es eine Übereinkunft, dass seine Tat für die Befreiung Roms von den Etruskern moralisch gerechtfertigt, also »edel« ist. Es handelt sich also nicht um eine gänzliche Ablösung des Bewusstseins der großen Tat von einer verbindlichen sittlichen Wahrheit. Bei Jünger zählt nur noch das bis in den Tod gelebte Bewusstsein der großen Tat – er nennt es »Überzeugung« – in vollständiger Abtrennung von allen Kontexten. Er nähert sich damit der bewussten Sinnlosigkeit. Neben diesem ästhetizistischen Begreifen des Krieges als in sich geschlossene Tat erhabener Zwecklosigkeit werden doch darüber hinaus gewaltige globale Folgen vom Kriege abgeleitet. Die auf verlorenem Posten erbrachten Einzeltaten der Heldengenies im Graben werden so – trotz augenscheinlicher Sinnlosigkeit – zum Werk für eine neue Zeit, als Menschheitsleistung verbucht. Beide sich komplettierende Lesarten widersprechen der zeitgenössischen Entwertung des Kriegserlebnisses. Der Krieger setzt sich am schärfsten für seine Sache ein; das haben wir bewiesen, wir Frontsoldaten des Erdballs, ein jeder an seinem Platze. Wir waren die Tagelöhner einer besseren Zeit, wir haben das erstarrte Gefäß einer Welt zerschlagen, auf daß der Geist wieder flüssig werde. Wir haben das neue Gesicht der Erde gemeißelt, mögen es auch noch wenige erkennen (KiE 49).
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Durch die Darstellung des Krieges als unabwendbare, planetarische Umwandlungsbewegung zu einer sich neu gestaltenden Weltordnung beharrt Jünger auf dem Krieg als gemeinsam erbrachte, in ihrem gewaltigen Ausmaße noch nicht erkannte Menschheitsleistung: »Vielen wird es noch unsichtbar sein unter dem Wolkenschatten des Geschehens: Die ungeheure Summe der Leistung birgt ein Allgemeines, das uns alle verbindet. Nicht einer ist umsonst gefallen« (KiE 49). Die vordem abgelöste Leistung um der Leistung willen ist doch als gemeinschaftliches Werk lesbar. Mit solchen Hinweisen auf die durch den Ersten Weltkrieg angestoßenen geopolitischen Umwälzungsbewegungen (z. B. die soziale wie kulturelle Homogenisierung Mitteleuropas, der Sturz der Monarchien etc.) wird die Radikalität von Jüngers ästhetizistischen Standpunkt wieder etwas zurückgenommen.
VI. D ER H ELD
UND DIE
H UMANITAS
Jüngers Genie des Grabenkampfes schafft den Tod. Der Akt totaler Selbstvergessenheit im tödlichen Werk ist beschrieben als »das höchste Vollbringen«, als »Erfüllung« und als »Vollkommenes und die Vollendung schlechthin« in einer unvollkommenen Welt (KiE 110). Nietzsche preist am Beispiel Schopenhauers die Vorbildlichkeit eines heroischen Lebenslaufes, der das Werk als Ziel der kläglichen, vergänglichen Person überordnet. Moritz koppelt die Idee der Schönheit mit der autoaggressiven Radikalität eines Mucius Scaevola. Heldentum ist Erfüllung eines menschlichen Potentials, das der Held, als Ausnahmegestalt zwischen dem Menschlichen und dem Übermenschlichen (bzw. dem Göttlichen) angesiedelt, auf das Äußerste ausreizt. Dennoch bleibt der Held, um als beispielhaft gelten zu können, im Bereich des Menschlichen. Anthropologische Diskurse haben seit dem späten 18. Jahrhundert den Ort des Menschen in einer Spannungsbeziehung zwischen seiner kreatürlichen Bedürftigkeit und dem in ihm gleichfalls angelegten Trieb zur geistigen Überwindung gedeutet. Heldensagen faszinieren, da sie das menschliche Leben in diesem Spannungsverhältnis markieren. Die gelebte
G ENIEÄSTHETIK UND DER H EROISMUS
DER
T AT
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und empfundene Spannung bestimmt den Menschen in seinem spezifischen Menschsein.23 Heldentum, das nach dem Modell des Heroismus der Tat formuliert wird, ist immer an individuelle Leistung gebunden. Diese höchste Leistung wird aber, so haben die gewählten Beispiele gezeigt, nur unter völligem Absehen vom leistenden Individuum möglich. Erfüllung im Aufgehen in der Tat, ein Prozess, der sowohl als rauschhaft wie auch als schmerzhaft beschrieben wird, ist dabei Weg zur Transzendenz. Für Nietzsche liegt eben in jenem Streben nach der heroischen Tat der Weg zur volleren, wahren Menschlichkeit. Dafür aber muss das Kreatürliche – die Angst, der Überlebenstrieb, das Mitleid mit anderen sowie mit sich selbst, das Leid, das Verhaftetsein im Materiellen sowie auch das Behagen und die Möglichkeit auf stilles Glück – abgeblendet werden. In der Isolierung der Tat durch Ablösung derselben von ihren Folgen, vom Kontext ihrer Entstehung sowie von der sie ausführenden Person, die hier für den Heldendiskurs der Genieund Autonomieästhetik beschrieben wurde, verbirgt sich somit ein Stolperstein des Humanismus, wie mitunter an Jüngers Formulierungen in Der Kampf als inneres Erlebnis deutlich wird. Im Sommer 1944 beendet Albert Camus den vierten und letzten seiner Briefe an einen deutschen Freund. Als tiefer liegenden Grund des Konflikts zwischen Franzosen und Deutschen benennt er eben jene, vom menschlichen Fond abstrahierende und gefährliche Verabsolutierung des Heroismus der Tat, die als orientierendes Ethos mit in die Katastrophe geführt hat: Ihr habt den richtungslosen Heroismus gewählt, weil dies in einer Welt, die den Sinn verloren hat, der einzige Wert ist, der bleibt. Und indem ihr ihn für euch gewählt habt, habt ihr ihn auch für die ganze Welt und für uns gewählt. [...] Jetzt, da all das enden wird, können wir euch sagen, was wir verstanden haben: der Heroismus ist wenig, das Glück ist schwieriger.24
23 Vgl. Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Bern 21950, S. 40. 24 Albert Camus: Lettres à un ami allemand. Paris 2003, S. 72-74. Übersetzung von Elisa Primavera-Lévy: »Vous aviez choisi l’héroïsme sans direction, parce que c’est la seule valeur qui reste dans un monde qui a perdu son sens. Et l’ayant choisi pour vous, vous l’avez choisi pour tout le monde et pour nous. […] Maintenant que cela va finir, nous pouvons vous dire ce que nous avons appris, c’est que l’héroïsme est peu de chose, le bonheur est plus difficile.«
Pathologischer Heroismus im Drama der Jahrhundertwende – Hugo von Hofmannsthals Elektra und Gerhart Hauptmanns Bogen des Odysseus C HRISTOPHER M EID
I. W AHNSINN
UND
D RAMA
In seiner knappen Sophokles-Einführung nutzt der neuklassische Autor Paul Ernst die Gelegenheit, um ausführlich mit der Elektra Hugo von Hofmannsthals ins Gericht zu gehen.1 Auf sieben Seiten – immerhin knapp zehn Prozent des kleinen Buchs! – diskutiert er die Schwierigkeiten, denen sich der moderne Dichter bei der Bearbeitung der sophokleischen Tragödie zu stellen hatte: Ernst erblickt gerade in der (bereits bei Sophokles angelegten) starken Zurücknahme äußerer Handlungselemente die wesentliche Tendenz von Hofmannsthals Elektra. Diese Handlungsarmut habe der Autor durch die Erweiterung der Dramenhandlung hin zum Pathologischen kompensiert: Um diesen 66 Seiten den Anschein eines dramatischen Interesses zu geben, musste die lyrische und psychologische Skala sehr weit genommen werden; und da Hofmannsthal sie nur nach der einen Seite weit nahm und gleich sehr hoch
1
Vgl. Paul Ernst: Sophokles. Berlin, Leipzig o. J. [1905], S. 63: »Die allerneueste Bearbeitung des Stoffes durch Hofmannsthal verdient die härteste Beurteilung.«
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anfing, so musste er notwendig bis zum Pathologischen kommen; man kann aber sicher sein, dass ein Dichter schlecht komponiert hat, wenn er pathologisch wird.2
Ernst verbindet seine durchaus nachvollziehbare Beobachtung mit einem vernichtenden Werturteil. Durch diese bedenkliche Pathologisierung der Tragödie, die beim Zuschauer »Abscheu und Ekel«3 hervorrufe, passe sich Hofmannsthal, so Paul Ernst, verderblichen Zeitströmungen an. Kunst sei nur noch »Illustration der fütilsten Tagesmeinungen«,4 der Künstler, der die überkommenen Formen zersetze, sei »ein Sklave seiner Zeit«,5 dessen Werke zwangsläufig bald der Vergessenheit anheimfallen würden. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass Ernsts Kritik von klassizistischem Normdenken geprägt ist, und doch lenkt sie den Blick auf einen bemerkenswerten Aspekt der Literaturgeschichte: In der Dramatik der Jahrhundertwende lässt sich ein vermehrtes Interesse an dem Wahnsinnsmotiv erkennen.6 Zugleich gewinnt es eine neue Qualität: In Affinität zu der beginnenden Psychoanalyse, zu den Hysteriestudien von Freud und Breuer, aber auch der Philosophie Nietzsches entwerfen Autoren Protagonisten, deren Heldentum wesentlich mit ihrer pathologischen Befindlichkeit zu-
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Ebd., S. 67.
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Ebd., S. 68.
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Ebd.
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Ebd.
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Selbstverständlich spielt der Wahnsinn von Beginn der europäischen Tradition an eine Rolle: Betrachtet man die europäische Dramengeschichte, so drängt sich der Eindruck auf, dass sich die herausgehobene Stellung des Helden in nicht wenigen Fällen seiner bedenklichen pathologischen Position verdankt, seinem Wahnsinn. Dies lässt sich bereits in der antiken Tragödie beobachten – zu denken wäre etwa an den rasenden Ajas des Sophokles, die Hekabe der gleichnamigen euripideischen Tragödie oder die problematischen Heldenfiguren Senecas. Die Linie wahnsinniger Dramenheldinnen und -helden reißt auch in der Moderne nicht ab; sie führt über Shakespeare und Kleist bis hin zu Georg Büchner. Die Gestaltung und Bewertung des Wahns unterliegt etlichen Wandlungen; Überschneidungen mit der Melancholietradition, die in Anlehnung an die pseudoaristotelischen Problemata physica formuliert, Melancholie sei eine Eigenschaft gerade des großen Individuums, liegen auf der Hand.
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sammenhängt. Philosophische, religiöse, naturwissenschaftliche und ästhetische Diskurse vermengen sich. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass gerade an Bearbeitungen antiker Stoffe diese Tendenzen augenfällig werden: Die Pathologisierung der tragischen Helden lässt sich als ein Versuch verstehen, die brüchig gewordene Transzendenz zu substituieren. Während Hofmannsthal in seiner Elektra (1903) eine Hysterikerin darstellt, die sich letztlich als handlungsunfähig erweist, bringt Hauptmann in seinem nur wenig rezipierten Drama Der Bogen des Odysseus (1907–1914), einem expliziten Gegenentwurf zu Hofmannsthal, programmatisch einen Heilungsprozess auf die Bühne. Auch Hauptmann psychologisiert und pathologisiert den antiken Helden – Julius Bab hebt hervor, ihm sei »eine großartige Unterbauung der Antike mit moderner Psychologie – ohne alle Verkleinerung der heroischen Maße«7 gelungen – zentral für Hauptmanns vitalistische Konzeption ist jedoch die (durch göttliche Zeichen beglaubigte) Überwindung des Wahnsinns. Die Frage nach dem Verhältnis von Heroismus und Pathologisierung in den Dramen Hauptmanns und Hofmannsthals führt ins Zentrum einer Diskussion um die Möglichkeiten einer modernen Tragödie. An den unterschiedlichen Krankheitsentwürfen zeigen sich die Schwierigkeiten, die sich den Bearbeitern antiker Stoffe stellen; gerade die denkbar unterschiedlichen Pathologisierungstendenzen stellen den Versuch dar, die kanonischen Texte unter Rückgriff auf moderne medizinische Diskurse zu verlebendigen. Dabei hängt die Dominanz pathologischer Deutungsmuster wesentlich mit den antiklassizistischen Tendenzen der Jahrhundertwende zusammen: Die Dramen stellen nicht zuletzt Selbstpositionierungen innerhalb aktueller Debatten dar, wie auch Paul Ernsts aggressive Verteidigung klassischer Positionen demonstriert.
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Julius Bab: Über den Tag hinaus. Kritische Betrachtungen. Heidelberg, Darmstadt 1960, S. 189.
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II. MYTHOS UND HYSTERIE – HOFMANNSTHALS ELEKTRA Laut eigener Aussage versucht Hugo von Hofmannsthal in seiner archaisierenden Bearbeitung der Elektra des Sophokles, den »Schauer des Mythos«8 neu zu schaffen. In einer eigentümlichen Gedankenfigur, die für den modernen Umgang mit antiken Mythen symptomatisch ist, erklärt er, es gehe darum, der klassizistischen Antikerezeption in der Nachfolge Winckelmanns und der Weimarer Klassik das Bild einer wilden, ursprünglichen Antike gegenüberzustellen.9 Wenn sich Hofmannsthal in seiner Elektra bewusst gegen das Antikebild der Klassik wendet und das wahre Griechenland in düsteren Vorzeiten sucht, so partizipiert er an Strömungen, die um 1900 geradezu Mode geworden sind – im Hintergrund steht Nietzsches Geburt der Tragödie, daneben darf aber der Einfluss von Bachofen, Burckhardt und Rohde nicht unterschätzt werden.10 Dass diese dionysisch akzentuierte Vitalisierung und Archaisierung vor allem durch intertextuelle Verfahren erreicht wird, dass also Emotionalisierung und Affizierung erst durch ein Maximum an Gelehrsamkeit möglich werden, bleibt ein faszinierendes Paradoxon: Hofmannsthal versucht in seiner Elektra gerade durch ein Höchstmaß an intertextueller Verdichtung und Akkumulation hinter das klassische Altertum zurückzugehen.11 Diese zeittypischen Archaisierungstendenzen bestimmen Hofmannsthals inszenatorische Vorschriften: Er verzichtet demonstrativ auf die »anti-
8
Hugo von Hofmannsthal: »Elektra«, in: ders.: Sämtliche Werke VII: Dramen 5. Hg. von Klaus E. Bohnenkamp und Mathias Mayer. Frankfurt a. M. 1997, S. 59110, S. 303-495 (Kommentar), hier S. 368 (Aufzeichnung aus dem Juni 1903).
9
Vgl. ebd., S. 400: »Als Stil schwebte mir vor, etwas gegensätzliches zur Iphigenie zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe: ›dieses gräcisierende Product erschien mir beim erneuten Lesen verteufelt human.‹ (Goethe an Schiller).«
10 Vgl. zu den historischen Entwicklungen Lorella Bosco: »Das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen«. Deutsche Antikebilder (1755–1875). Würzburg 2004. – Zur Rezeption der griechischen Archaik vgl. Glenn W. Most: »Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg«, in: Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 2001, S. 20-39. 11 Vgl. zu Hofmannsthals Gelehrsamkeit Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001.
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kisierenden Banalitäten«12 und entwirft die Szenerie eines Hinterhofs, der an diejenigen der »großen Häuser im Orient«13 erinnert. Hofmannsthals Wendung gegen »jedes falsche Antikisieren«14 wird auch auf der Handlungs- und Figurenebene sinnfällig. Statt den antiken Stoff klassizistisch zu dämpfen, setzt er alles daran, das Gewalttätige und Düstere des antiken Mythos neu zu evozieren und drastisch zu vergegenwärtigen. Dabei nähert er sich – obwohl er die religiöse Deutungsebene der Vorlage aufgibt – wiederum dem kultischen Theater an, indem er die Tragödie als rauschhaftes, sexuell konnotiertes Blutopfer gestaltet, als den Versuch, aus »dem Blut wieder Schatten aufsteigen [zu] lassen.«15 Es verwundert keineswegs, dass Hofmannsthal, poeta doctus mit gründlichen altphilologischen Kenntnissen, während der Arbeit an seiner Elektra die einflussreiche Darstellung Psyche von Erwin Rohde liest – daneben aber bezeichnenderweise die Studien über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud.16 Dieses heute als »Urbuch der Psychoanalyse«17 angesehene Werk hatte 1902 nur einen bescheidenen Rezipientenkreis erreicht: Hofmannsthal gehört zu den ersten Künstlern, die sich intensiv damit auseinandersetzen.18
12 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 379. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 381. 15 Ebd., S. 368. 16 Vgl. ebd., S. 459: »Auf die Charakteristik hat kein Buch merklichen Einfluß gehabt (gewiß nicht Schubert, den ich oberflächlich kenne); die drei Frauengestalten sind mir wie die Schattierungen eines intensiven und unheimlichen Farbentones gleichzeitig aufgegangen. Doch habe ich immerhin damals in zwei ganz verschiedenartigen Werken geblättert, die sich wohl mit den Nachtseiten der Seele abgeben: das eine die ›Psyche‹ von Rohde, das andere das merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud.« 17 Michael Worbs: »Mythos und Psychoanalyse in Hugo von Hofmannsthals Elektra«, in: Thomas Anz, Christine Kanz (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999, S. 3-16, hier S. 7. 18 Vgl. Worbs: Mythos und Psychoanalyse (Anm. 17), S. 7: »Die achthundert Exemplare der Erstausgabe aus dem Jahre 1895 waren 1902 noch kaum verkauft. Es spricht für Hofmannsthals großes Interesse an der psychiatrischen Literatur, auf dieses ausgefallene Werk zu kommen.«
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Er erreicht die Rückgewinnung des Schauers, der affizierenden Kräfte der Tragödie, wesentlich dadurch, dass er seine Protagonisten pathologisiert. Dies geht mit dem Abbau metaphysischer Bezugssysteme einher: An die Stelle göttlicher Instanzen treten psychische Triebkräfte. So leiden Elektra, Chrysothemis und Klytämnestra auf jeweils unterschiedliche Weise unter dem Mord an Agamemnon. Während Klytämnestra und Chrysothemis versuchen, die Tat zu verdrängen – die Mutter, weil sie von ihren Schuldgefühlen und Ängsten befreit werden möchte, die Tochter, weil sie ein gesellschaftskonformes Leben, ein »Weiberschicksal«19 ersehnt, das den überlieferten Geschlechterrollen entspricht –, hält Elektra zwanghaft die Erinnerung an die Bluttat wach. Die Eigenschaften der Titelheldin Hofmannsthals weisen eine derartige Ähnlichkeit mit der von Josef Breuer aufgezeichneten Krankengeschichte der Bertha Pappenheim (»Anna O.«) auf, dass kein Zweifel an dem wesentlichen Einfluss bestehen kann, den diese Studie ausübte.20 Für die Existenz Elektras gilt, was Freud und Breuer für Hysteriker konstatieren: Der »veranlassende Vorgang wirke noch nach Jahren fort, nicht indirekt durch Vermittlung einer Kette von kausalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewußtsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit Tränensekretion hervorruft: der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen.«21 So entgegnet Elektra ihrer Schwester Chrysothemis: »Vergessen? Was! bin ich ein Tier? vergessen? [ ]…[ ۄI]ch bin kein Vieh, ich kann nicht ۄvergessen!«22
19 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 71. 20 Den folgenden Ausführungen liegen im Wesentlichen die Arbeiten von Michael Worbs zugrunde: Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1988, S. 259-295; ders.: Mythos und Psychoanalyse (Anm. 17). – Vgl. hingegen Wolfgang Nehrig: »Elektra und Ödipus. Hofmannsthals ›Erneuerung der Antike‹ für das Theater Max Reinhardts«, in: Ursula Renner, G. Bärbel Schmid (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Würzburg 1991, S. 123-142, besonders S. 131-135. 21 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Frankfurt a. M. 1991, S. 31. 22 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 71 f.
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Für Elektra ist wie auch für Anna O. der Tod des Vaters das ausschlaggebende Ereignis,23 das ihre Psyche bestimmt: Prinzip ist die Wiederholung der traumatischen Begebenheit. Diese ist mit einer festen Tagesrhythmik verbunden, wie sie die Mägde zu Beginn des Dramas beschreiben: »Immer, wenn die Sonne tief steht, ۄliegt sie und stöhnt.«24 Wie Anna O. erlebt Elektra ihre hysterischen Zustände kurz nach Sonnenuntergang:25 »Ist doch ihre Stunde, ۄdie Stunde, wo sie um den Vater heult, ۄdaß alle Wände schallen.«26 Grundlegende Kennzeichen des Verhaltens von Anna O. und von Elektra sind die immer wiederkehrenden Wachträume, eine Tendenz zum »Privattheater«:27 »Es bestanden zwei ganz getrennte Bewußtseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden.«28 So erblickt Elektra zwar in halluzinatorischen Zuständen den toten Vater, kann aber ansonsten rational und taktisch geschult argumentieren. Elektras »Privattheater«,29 in dessen Verlauf sie die traumatische Ermordung des Vaters wiederholt und zugleich die Rache an seinen Mördern antizipiert, wird bereits an ihrem Auftrittsmonolog deutlich. Sie beschwört Agamemnon: »Wo bist du, Vater? hast du nicht die Kraft, ۄdein Angesicht herauf zu mir zu schleppen? ۄEs ist die Stunde, unsre Stunde ist’s! ۄDie Stunde, wo sie dich geschlachtet haben, ۄdein Weib und der mit ihr in einem Bette, ۄin deinem königlichen Bette schläft.«30 Elektra imaginiert die grausigen Details seines Todes. Es wird deutlich, dass sie tatsächlich die Präsenz des Toten erfahren möchte; die Erinnerung an das Verbrechen und die Antizipation des Wiedergängers gehen ineinander über:
23 Vgl. Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 21), S. 43. 24 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 63. 25 Vgl. Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 21), S. 49. 26 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 63. 27 Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 21), S. 42: »Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr ›Privattheater‹ nannte.« 28 Ebd., S. 44. 29 Ebd., S. 42. 30 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 66.
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Sie schlugen dich im Bade tot, dein Blut ۄrann über deine Augen, und das Bad ۄ dampfte von deinem Blut, dann nahm er dich, ۄder Feige, bei den Schultern, zerrte dich ۄhinaus aus dem Gemach, den Kopf voraus, ۄdie Beine schleifend hinterher: dein Auge, ۄdas starre, offne, sah herein ins Haus. ۄSo kommst du wieder, setzest Fuß vor Fuß ۄund stehst auf einmal da, die beiden Augen ۄweit offen, und ein königlicher Reif ۄvon Purpur ist um deine Stirn, der speist sich ۄ aus deines Hauptes offner Wunde. ۄVater! ۄIch will dich sehn, laß mich heut nicht allein! ۄNur so wie gestern, wie ein Schatten, dort ۄim Mauerwinkel zeig dich deinem Kind!31
Elektra vergegenwärtigt in drastischen Bildern den Mord an ihrem Vater. In ihrem Gebet an Agamemnon, den sie direkt adressiert, evoziert sie das Bad als Schlachthaus, als einen Ort des Grauens und der Gewalt. Dem Blut kommt dabei zentrale Bedeutung zu: Am Ende der Anrufung wird es umgedeutet zu einer Auszeichnung, zur Krone, die die Würde des wiederkehrenden Königs symbolisiert. Elektra hofft, dass ihr der Vater »wie gestern« erscheinen werde – ein deutlicher Hinweis darauf, dass für sie in »ihre[r] Stunde«32 der Tote nicht weniger real und präsent ist als die Menschen ihrer Umgebung.33 Während Elektras Existenz von der zwanghaften Erinnerung geprägt ist, tut ihre Mutter Klytämnestra alles, um die Erinnerung an ihre Tat zu verdrängen. Gerade an dieser Figur zeigen sich bemerkenswerte Fehlleistungen: »Gibt’s nicht welche in den Kerkern, ۄdie sagen, daß ich eine Mörderin ۄund daß Aegisth ein Meuchelmörder ist?«34 So ruft sie ständig die Erinnerung an die Tat wach, die sie doch vergessen möchte: »Mancher ۄ kam um, weil er ins Bad gestiegen ist ۄzur unrichtigen Stunde.«35 Von Träumen gequält, sucht sie nach einem Mittel, die Reminiszenzen zu bannen. Ihre Tat erscheint ihr unwirklich: »Erst war’s vorher, ۄdann war’s
31 Ebd., S. 67. 32 Ebd., S. 63. 33 Mathias Mayer weist darauf hin, dass die Art, wie Agamemnon mit dem Kopf voraus hinausgetragen wird, auf sein gespenstisches Wiedererscheinen verweist: In Rohdes Psyche wird der Tote genau umgekehrt transportiert, um seine Wiederkehr zu vermeiden. Vgl. ebd., S. 479. 34 Ebd., S. 77. 35 Ebd., S. 78.
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vorbei – dazwischen hab’ ich nichts ۄgetan.«36 Sie distanziert sich von der Tat um den Preis der Ich-Dissoziation: Klytämnestras Persönlichkeit ist in Auflösung begriffen. Ihr Bemühen, sich von ihrer Schuld zu befreien, nimmt groteske Züge an, wenn sie eine Begegnung mit Agamemnon imaginiert, bei der sie sich »wie zwei alte Freunde«37 gegenübertreten würden. In diesem Gespräch zwischen Mutter und Tochter, das in einer Mordphantasie Elektras gipfelt,38 nimmt ironischerweise Elektra die Rolle der Ärztin ein. Klytämnestra selbst konstatiert: »Sie redet wie ein Arzt.«39 Diese Rolleninversion sollte davor warnen, Hofmannsthals Umgang mit medizinischen Wissensbeständen als simple Übernahme vorgeformter Muster zu verstehen. Das spielerische Moment ist unverkennbar, wenn er im Kontext der Tragödie die Rolle des Therapeuten für einen Moment einer Kranken zuweist.40 So liegen trotz aller Übernahmen auch eklatante Unterschiede zu den Studien über Hysterie vor, die eine monokausale Herleitung von Hofmannsthals Tragödienkonzept aus Freuds und Breuers Fallstudien verbieten. Etliche Aspekte sind geradezu als Gegenentwurf, zumindest aber als Modifikation der Fallstudie Breuers zu lesen. Über Anna O. heißt es, das »sexuale Element war erstaunlich unentwickelt; die Kranke, deren Leben mir durchsichtig wurde, wie selten das eines Menschen einem andern, hatte nie eine Liebe gehabt, und in all den massenhaften Halluzinationen ihrer Krankheit tauchte niemals dieses Element des Seelenlebens empor.«41 Zwar sieht sich auch Elektra außerhalb jeglicher Liebesbindung; dieser Befund allein reicht jedoch nicht aus, sie ohne weiteres mit der sexuell nicht interessierten Anna O. gleichzusetzen.42 Obwohl sie erklärt, sie »fühle ۄdoch nichts von dem, was Weiber, heißt es, fühlen«,43 ist ihr »Privatthea-
36 Ebd., S. 82. 37 Ebd., S. 83. 38 Vgl. ebd., S. 85 f. 39 Ebd., S. 75. 40 Vgl. zu weiteren möglichen Übernahmen Worbs: Mythos und Psychoanalyse (Anm. 17). Dazu zählen Sehstörungen ebenso wie Elektras eigentümliche Kopfhaltung. 41 Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 21), S. 42. 42 So Worbs: Mythos und Psychoanalyse (Anm. 17), S. 11. 43 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 97.
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ter«44 von Sexualität geprägt, und dies in einem Maße, dass Elektra geradezu als obsessiv gelten kann. Sie ist zugleich fasziniert und abgestoßen. Den Geschlechtsakt verbindet sie unweigerlich mit dem Vatermord. So äußert sie über Klytämnestra: »Ah, mit einem schläft sie, ۄpreßt ihre Brüste ihm auf beide Augen ۄund winkt dem zweiten, der mit Netz und Beil ۄhervorkriecht hinter’m Bett.«45 Dass sie Sexualität und Tod gleichsetzt und sich sichtlich vor dem Zeugungsakt ekelt, heißt nicht, dass ihre Sprache nicht vielfach stark sexuell aufgeladen ist, am deutlichsten wohl in der Szene, als sie nach der Nachricht vom angeblichen Tod des Orest versucht, ihre Schwester »zur Tat buchstäblich zu verführen«.46 Zwar hasst sie den ewigen Kreislauf aus »kreißen« und »morden«,47 der für sie das Leben in Mykene auszeichnet – die teilweise geradezu voyeuristisch geprägte Faszination ist jedoch unverkennbar: Hofmannsthal sexualisiert in seiner Elektra den antiken Prätext.48 Das gewichtigste Argument gegen eine simplifizierende Übernahmethese besteht in der Tatsache, dass die Dramenfigur Elektra keineswegs von ihrem Trauma befreit wird, obwohl sie es permanent ausspricht – und zwar nicht nur im Wahnsinn.49 Schließlich ist Elektra im Gespräch mit Orest in
44 Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 21), S. 42. 45 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 71. 46 Werner Frick: ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen 1998, S. 127. Vgl. Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 92-96. 47 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 73. 48 Vgl. ebd., S. 71. 49 Vgl. Breuer/Freud: Studien über Hysterie (Anm. 21), S. 30 f.: »Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekte Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann ›ausgesprochen‹ werden.«
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der Lage, ihren Zustand genau zu beschreiben.50 Überhaupt exemplifiziert sie an jeder Stelle, was genau ihren Grundkonflikt darstellt. Hugo von Hofmannsthal projiziert somit keineswegs lediglich zeitgenössische Vorstellungen auf die Antike zurück,51 sondern nutzt vielmehr Teile der (dezidiert modernen) Symptomatik, um angesichts einer metaphysisch entkleideten Tragödie das Geschehen der Vorlage umzumotivieren. Während bei Sophokles kein Zweifel an göttlichen Instanzen besteht, die menschliches Handeln determinieren, nutzt Hofmannsthal Positionen moderner Seelenkunde, um dieses metaphysische Schicksal psychologisch zu verankern: Er verbindet Psychopathologie mit dem antiken Mythos. Auf diese Weise ist zwar die kultische Ebene präsent, allerdings verlegt in das Innenleben eines pathologischen Falles, als Projektionen und Phantasien einer Wahnsinnigen. Was etwa Erwin Rohde als Opferkult bis in die Details beschreibt, findet in der Psyche Elektras statt.52 Bei Rohde und auch bei Nietzsche findet Hofmannsthal ein Bild der griechischen Kultur, das auch die pathologischen Aspekte nicht verharmlost, ja diese deutlich herausstellt. Wenn der Autor also auf den zeitgenössischen Hysterie-Diskurs verweisen kann, dann nur, weil die Pathologisierung der vermeintlich edlen und ruhigen Griechen auch in Philosophie und Altertumswissenschaft weit fortgeschritten ist. Seine Elektra wird durch ihren Wahnsinn nicht ihres heroischen Status
50 Vgl. Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 103 f. 51 Vgl. zur Hysterie als zeittypischer Krankheit Worbs: Mythos und Psychoanalyse (Anm. 17), S. 15. 52 Vgl. Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Reprografischer Nachdruck der 2. Auflage, Freiburg i. Br., Leipzig, Tübingen 1898. Darmstadt 1991. – Vgl. Juliane Vogel: »Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals Elektra«, in: Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2007, S. 100-119, hier S. 106 f.: »Antike Religionspraxis wird nur mehr als Zitat, als ein isoliertes peripatetisches Moment in das neurotische Zeremoniell integriert. Rohdes Forschungen bilden in ihrer Eindringlichkeit nicht den Fundus kultischer Erneuerung, sondern den Ausgangspunkt einer durch und durch hysterischen Dramaturgie und Rhetorik, die nur mehr mit den entleerten, ihrer ursprünglichen Bedeutungen entledigten Zeichen der Religionsgeschichte operieren.«
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entkleidet, vielmehr stellt der Wahnsinn eine Möglichkeit dar, ihre herausragende Rolle zu unterstreichen – und dies wird erst durch eine Sicht auf die griechische Kultur möglich, die eben ihre unterschwelligen Gefährdungen in den Vordergrund rückt. Die Pathologisierung einer antiken mythologischen Heldin bedeutet keinesfalls deren Abwertung. An Elektras moralischer Legitimation lässt das Drama keinen Zweifel; sie erscheint von Beginn an als Opfer – auch als Opfer ihres moralischen Rigorismus. Ihr finales Scheitern – sie vergisst im entscheidenden Augenblick, den sie jahrelang herbeigesehnt hat, Orest das Beil zu geben53 – entbehrt nicht einer gewissen Ironie, personifiziert doch Elektra paradigmatisch die permanente Erinnerung. Ihre Tathemmung ist nicht, wie partiell in der Elektra des Sophokles, sozialhistorisch oder durch Konstanten des Mythos motiviert, sondern durch ihre psychische Disposition und nicht zuletzt durch die Geschlechterkonzeption Hofmannsthals.54 Ihre Krankheit, ihr Wahnsinn, erscheint als Symptom menschlicher Verstrickungen, nicht wie in Hauptmanns Bogen des Odysseus als göttliche Strafe. Laut Hofmannsthal handele es sich bei dem »Gehalt« des Dramas »um ein simples oder ungeheueres Lebensproblem: das der Treue«.55 Diese Treue mache – so die nachträgliche, etliche Aspekte des Dramas durchaus verharmlosende Selbstdeutung – den Heroismus der Elektra-Figur aus: An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben, nicht zum gedächtnislosen Tier herabsinken. Es ist das Grundthema der »Elektra«, die Stimme der Elektra gegen die Stimme der Chrysothemis, die heroische Stimme gegen die menschliche.56
In aller Deutlichkeit stellt Hofmannsthal den unmenschlichen und autodestruktiven Charakter von Elektras Heroismus heraus, der keinerlei versöhn-
53 Vgl. Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 106. 54 Vgl. ebd., S. 466. 55 Ebd., S. 458 (Brief an Strauss, Juli 1911). 56 Ebd.
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liche Auflösung des Konflikts zulässt:57 »Die einzig heroische Existenzform der Frau: Priesterin zu sein. Dies ist Elektra, aber ohne Tempel ohne Ritus, ausser dem furchtbaren Ritus des Blutes.«58
III. Ü BERWINDUNG DES W AHNSINNS – H AUPTMANNS B OGEN DES O DYSSEUS Gerhart Hauptmanns Verhältnis zur Elektra Hofmannsthals ist ambivalent.59 In einer Notiz zu Paul Ernsts eingangs zitiertem Sophokles-Buch nimmt er das Drama vor Anwürfen in Schutz, die Pathologisierung von Hofmannsthals Protagonistin sei Ausdruck dichterischen Unvermögens. Hauptmann hält dieser Behauptung entgegen, es sei vielmehr Aufgabe des Dichters, »Menschen […] universell [zu] betrachten«.60 Überhaupt durchzieht das Interesse für pathologische Zustände Hauptmanns Werk; zu erinnern ist nur an die Gestalt der Pippa oder der Ottegebe aus dem Armen Heinrich, aber auch an die ekstatischen Nebenfiguren in den Webern.61 57 Vgl. Heinz Politzer: »Hugo von Hofmannsthals ›Elektra‹. Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Psychopathologie«, in: ders.: Hatte Ödipus einen ÖdipusKomplex? Versuche zum Thema Psychoanalyse und Literatur. München 1974, S. 78-105, hier S. 100: »Was sich jedoch in Elektra vollzieht, ist tödlich, ein sakraler, ein ritueller Akt, wie er auch am Ursprung der Tragödie verborgen liegt.« 58 Hofmannsthal: Elektra (Anm. 8), S. 466 (Aufzeichnung aus dem Jahr 1916). 59 Vgl. zum Verhältnis der beiden Autoren Martin Stern: »Hugo von Hofmannsthal und Gerhart Hauptmann. Chronik ihrer Beziehungen 1899–1929«, in: Hofmannsthal-Blätter 37/38 (1988), S. 5-53; Martin Stern: »Hofmannsthal über Hauptmann – ›ein beständiges Verhältnis der Hingezogenheit‹«, in: Renner/ Schmid: Hugo von Hofmannsthal (Anm. 20), S. 27-35; Peter Sprengel: »Hauptmann über Hofmannsthal: Aristophanisches und anderes«, in: ebd., S. 37-53. In dem durchaus agonalen Verhältnis der Autoren ist besonders das gemeinsame Interesse für die Antike bedeutsam. 60 Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1906 bis 1913. Mit dem Reisetagebuch Griechenland – Türkei 1907. Nach Vorarbeiten von Martin Machatzke hg. von Peter Sprengel. Berlin 1994, S. 11 (Eintrag vom 3. Januar 1906). 61 Vgl. Sprengel: Hauptmann über Hofmannsthal (Anm. 59), S. 51-53.
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Hermann Bahr überliefert, dass Hauptmann das Drama Hofmannsthals schätzte, wenn auch mit signifikanten Einschränkungen: »Hübsch sagt Hauptmann, der sich sehr für Hofmannsthal einsetzt, ungriechisch sei das Stück freilich, weil es uns nirgends auf das Meer und zu den Sternen hinausblicken lasse, wodurch uns die griechischen Tragiker mit jedem Schicksal doch immer versöhnen.«62 Dieses Lob ist zweischneidig. Hauptmanns vordergründige Verteidigung des Kollegen weist gerade auf die entscheidenden Defizite seines Werks hin. Hofmannsthals Bearbeitung ist in Hauptmanns Wahrnehmung zwar ein interessanter Versuch eines modernen Autors, an die Tradition der attischen Tragiker anzuschließen, der aber letztlich mangelhaft und »ungriechisch« bleibt.63 Wenn Gerhart Hauptmann hervorhebt, das Drama Hofmannsthals sei ungriechisch und unversöhnlich, so wird daran ein Vorbehalt erkennbar, der sich – auch unter dem Eindruck seiner Griechenlandreise – zunehmend verschärfen wird. Ein Produkt dieser Reise ist das Drama Der Bogen des Odysseus, ein agonaler Gegenentwurf zu Hofmannsthals Elektra. Hauptmann verfolgt mit diesem Drama ein ambitioniertes Vorhaben: Letztlich geht es ihm darum, ein Drama aus dem Geist der griechischen Tragödie zu schreiben, den Mythos auf der modernen Bühne heimisch zu machen, also eben das, was Hofmannsthal mit seiner Elektra nicht gelungen sei. Diese Erneuerung der griechischen Tragödie basiert unmittelbar auf Hauptmanns Erfahrungen in Griechenland, die gewissermaßen die Authentizität verbürgen sollen. Im Griechischen Frühling beschreibt Hauptmann, wie er auf Korfu in gleichsam homerischer Atmosphäre und angeregt durch Goethes Dramenfragment Nausikaa ein Telemach-Drama begann, aus dem später Der Bogen des Odysseus werden sollte.64 Diese Erzählung trifft nur
62 Hermann Bahr: Prophet der Moderne. Tagebücher 1888–1904. Ausgewählt und kommentiert von Reinhard Farkas. Wien, Graz, Köln 1987, S. 159. 63 Ebd. 64 Vgl. Gerhart Hauptmann: Griechischer Frühling. Reisetagebuch Griechenland – Türkei 1907. Hg. von Peter Sprengel. Berlin 1996, S. 29: »Weniger um etwas zu schaffen, als vielmehr um mich ganz einzuschließen in die homerische Welt, beginne ich ein Gedicht zu schreiben, ein dramatisches, das Telemach, den Sohn des Odysseus, zum Helden hat. Umgeben von Blumen, umtönt von lautem Bie-
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bedingt zu, hatte sich doch Hauptmann bereits zuvor mit dem Stoff auseinandergesetzt.65 Für seine Selbstdarstellung jedoch ist diese Version zentral, weil sie darstellt, wie die Inspiration auf griechischem Boden zu wirken beginnt. Der moderne Autor stilisiert sich auf diese Weise zu einem Nachfolger der Antike; sein Werk entsteht unter dem Himmel Homers. Neben dieser Inspirationstopik sind die allgemeineren tragödientheoretischen Überlegungen essentiell, die Hauptmann im Theater von Delphi anstellt. Grundlegend für Hauptmanns Verständnis der griechischen Tragödie ist deren Verbindung mit dem Opferkult: »Wenn zu Beginn der großen Opferhandlung, die das Schauspiel der Griechen ist, das schwarze Blut des Bocks in die Opfergefäße schoß, so wurde dadurch das spätere höhere, wenn auch nur scheinbare Menschenopfer nur vorbereitet: das Menschenopfer, das die blutige Wurzel der Tragödie ist.«66 Unter dem deutlichen Einfluss von Nietzsches Geburt der Tragödie artikuliert Hauptmann seine Vorstellung von der Tragödie als sublimiertem Menschenopfer.67 Er konstatiert, dass die Götter »grausame Zuschauer«68 waren: »[U]nter den Schauspielen […] waren die, die von Blute trieften, den Göttern vor allen anderen heilig und angenehm«.69
nengesumm, fügt sich mir Vers zu Vers, und es ist mir allmählich so, als habe sich um mich her nur mein eigener Traum zu Wahrheit verdichtet.« 65 Vgl. dazu Roy C. Cowen: Hauptmann-Kommentar zum dramatischen Werk. München 1980, S. 171-178. Die komplizierte Entstehungsgeschichte spiegelt sich in der Anlage des Dramas wider, das neben der Heimkehr des Odysseus den Konflikt zwischen Vater und Sohn thematisiert und zudem in der Gestalt der Penelope ein Bild dämonischer, potenziell gefährlicher Weiblichkeit entwirft. Vgl. dazu Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses (Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft, Bd. 2). Berlin 1982, S. 272-283. 66 Hauptmann: Griechischer Frühling (Anm. 64), S. 99. 67 Vgl. aus der altertumswissenschaftlichen Forschung Walter Burkert: Homo necans. Interpretationen zu altgriechischen Opferriten und Mythen. Berlin, New York 1972. 68 Hauptmann: Griechischer Frühling (Anm. 64), S. 99. 69 Ebd.
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Es kann nicht geleugnet werden, Tragödie heißt: Feindschaft, Verfolgung, Haß und Liebe als Lebenswut! Tragödie heißt: Angst, Not, Gefahr, Pein, Qual, Marter, heißt Tücke, Verbrechen, Niedertracht, heißt Mord, Blutgier, Blutschande, Schlächterei – wobei die Blutschande nur gewaltsam in den Bereich des Grausens gesteigert ist. Eine wahre Tragödie sehen hieß, beinahe zu Stein erstarrt, das Angesicht der Medusa erblicken, es hieß, das Entsetzen vorwegnehmen, wie es das Leben heimlich immer, selbst für den Günstling des Glücks, in Bereitschaft hat.70
Das Opfer ist nicht nur die Wurzel der Tragödie, sondern darüber hinaus die Basis der gesamten griechischen Kultur, wie sie in Delphi sichtbar wird. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die griechische Religion für Hauptmann auf dem Hirtenwesen basiert. Ihre abstoßenden Aspekte – die »Schlachthausromantik«71 – erklären sich aus diesen wilden Ursprüngen: »Der Opferpriester, mit Blut besudelt, der einem Kyklopen gleich das geschlachtete Tier zerstückte und ihm das Herz aus dem Leibe riß, war dem Volk ein gewöhnlicher Anblick.«72 Der Bogen des Odysseus ist ein Beispiel für Hauptmanns Konzeption der tragischen Gattung. Bereits der Ort der Handlung deutet auf seine Hirtenthese: Hauptmanns Drama spielt auf dem Gehöft des Schweinehirten Eumaios; den Hirten kommt durchweg eine zentrale Rolle zu. Dort erscheint der entkräftete Odysseus, der zunächst seine wahre Identität verbirgt. Zugleich ist Odysseus’ Sohn Telemach von einer Reise heimgekehrt, während der er sichtlich zum Mann gereift ist. Er hat für sich die Gewissheit erlangt, dass sein Vater tot sei: Nun sei es an ihm, als legitimer Herrscher Ithakas die Freier zu vertreiben. Als die Freier das Gehöft besuchen, bietet sich die Gelegenheit zur Tat. Schließlich muss Telemach in dem vermeintlichen Bettler seinen Vater erkennen, wogegen er sich lange gesträubt hat. Odysseus selbst übernimmt die »Blutarbeit«73 und tötet die Freier, um am Ende des Dramas mit ambivalenten Gefühlen zu Penelope aufzubre-
70 Ebd., S. 100 f. 71 Ebd., S. 102. 72 Ebd. 73 Gerhart Hauptmann: »Der Bogen des Odysseus«, in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Berlin 1996, Bd. 2, S. 833-942, hier S. 930.
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chen. Odysseus wird zum Priester, der den Göttern die Freier als Menschenopfer darbringt, das seinen getöteten Gefährten gilt. Auf der Handlungsebene liegen vielfältige Bezüge zu Hofmannsthals Elektra vor, die bei allen Ähnlichkeiten auf ein konkurrierendes Konzept der Tragödie verweisen. Sowohl bei Hofmannsthal als auch bei Hauptmann geht es um die Restauration legitimer Herrschaftsverhältnisse, die gewaltsam erfolgt. In beiden Fällen steht die Blutrache im Zentrum der Handlung; die Morde erscheinen jeweils zugleich als religiöse Opferakte. Auch die Figurenkonstellation ist frappierend ähnlich: Der wartenden Elektra entspricht Odysseus’ Sohn Telemach: Beide ringen sich erst dann zur Tat durch, als sie von dem Tod des jeweiligen Hoffnungsträgers überzeugt sind, beiden wird schließlich die langersehnte Tat wieder abgenommen. Schließlich werden die Protagonisten beider Dramen als pathologische Fälle dargestellt. Doch während Elektra stirbt, wird Odysseus geheilt: In diesem Gegensatz manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied. So stellt Hauptmann Hofmannsthals Hysterikerin einen vitalistischen Heros gegenüber, der zugleich mit seiner angestammten Herrschaft seine Gesundheit wiedererlangt und am Ende des Dramas aufbrechen kann, um die als männermordende Kirke dargestellte Penelope zu domestizieren. In einer Stellungnahme zu seinem Drama nimmt Hauptmann die implizite Kritik an Hofmannsthals Elektra wieder auf. Er wendet sich gegen einen Krankheitskult, den er in der Literatur des Jungen Wien verwirklicht sieht: Wer keine bewußte Beziehung zur Natur kennt, nichts von den elementaren Beziehungen weder zur Scholle noch zur Woge an sich hat, wer die großen physischen und typischen Erlebnisse des irdischen Abenteuers nicht kennt und statt dessen nur solche, die sich unter künstlichem Licht in narkotisierter Luft zwischen Cafés, Restaurants, Alkoven und so weiter abspielen, der kann unmöglich einen Pulsschlag für das Werk mitbringen. Ebensowenig, wer verwachsen, hektisch, pervers, ohne einen Tropfen gesunden Blutes, in seine Krankheit vernarrt, das ungeheure Siechenhaus, dem er angehört, mit dem weiten reinen Raume des Himmels verwechselt.
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Wer sollte sich etwa hindern lassen, durch tiefe köstliche Atemzüge starkes ursprüngliches Leben einzusaugen, und wenn auch nur durch den eigenen heiteren Daseinspuls, gegen das Kranke zu protestieren?74
Diese vitalistische Konzeption sei auch, so Hauptmann, für die Gestaltung seiner Hauptfigur bestimmend: »Odysseus bedeutet das Lebensabenteuer des Starken.«75 Es besteht nicht zuletzt in der Kraft zur Selbstheilung, wie die Entwicklungsstadien der Dramenfigur demonstrieren. Bereits bei seinem ersten Auftritt wird deutlich, dass es um Odysseus’ geistige und körperliche Gesundheit nicht zum Besten steht: »Ein Bettler erscheint atemlos, gehetzt und stürzt vor Leukone nieder, ihre Knie umfassend. Es ist Odysseus selbst, unkenntlich vor Alter, Elend und Lumpen.«76 Der Hirte Eumaios und seine Tochter Leukone bezeichnen ihn als »Bettler« oder »Bettelmann«.77 Sein Zustand schwebt zwischen Leben und Tod. Odysseus selbst artikuliert seine Todessehnsucht: »Er muß ۄdas Leben tragen! weitertragen! und ۄein Elend schleppen ohne Maß und Ziel, ۄverhaßt den Himmlischen, von den Geschlechtern ۄder Menschen ausgestoßen und vergessen.«78 Er stellt sich nicht nur als Außenseiter dar, sondern als Toten: »Soll ich der Himmlischen gedenken, ۄumringt von Schatten? ich? ein Toter? ein ۄVergessener!? der aus Aïdes’ Reich, ۄgewohnt an Finsternis, emportaucht! –?«79 Folgerichtig opfert er nicht den olympischen, sondern den chthonischen Gottheiten Hades und Persephone.80 Seinen Zustand beschreibt er selbst als pathologisch: »Hilflos tast’ ich um mich her, ۄgehüllt in Wahnsinn!«81 Leukone deutet seinen Wahnsinn als todesähnlichen Zustand, als denkbar schlimmste göttliche Strafe. Für sie entspricht der Wahnsinnige einem
74 Gerhart Hauptmann: »Der Bogen des Odysseus [Essay]«, in: ders.: Sämtliche Werke (Anm. 73), Bd. 6, S. 921-924, hier S. 922. 75 Ebd. 76 Hauptmann: Der Bogen des Odysseus (Anm. 73), S. 844. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 845. 79 Ebd. 80 Vgl. ebd. 81 Ebd., S. 847 f.
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Toten; der »Greis«,82 den sie vor sich sieht und der mit dem »Gott«83 Odysseus nur denkbar wenig gemein hat, ist gleichsam ein gespenstischer Wiedergänger aus dem Totenreich84 – Hauptmann spielt an dieser Stelle auf die Beschreibung der Unterweltfahrt des Odysseus im elften Gesang der Odyssee an. Als Leukone am Ende des ersten Akts von den Freiern erzählt, die Penelope bedrängen, erleidet Odysseus einen Anfall: Er »röchelt«, man sieht »das Weiße seines Auges nur«.85 Eumaios begreift die Symptome als Ausdruck psychischer Zerrüttung: »Dieses Mannes Seele ist ۄverschmachtet«.86 Bereits Peter-Christian Wegner hat auf die Ähnlichkeit mit Symptomen der Epilepsie hingewiesen,87 aber auch die hysterischen Aspekte von Odysseus’ Verhalten herausgestellt.88 Seine Interpretation der Odysseus-Figur als »Hysteroepileptiker«89 (so die historische Terminologie) wird auch entstehungsgeschichtlich gestützt: In dem Wiedertäufer-Fragment konzipiert Hauptmann den Protagonisten als Epileptiker.90 Ebenso wenig wie sich Hofmannsthals Elektra allein vor dem Hintergrund der Studien über Hysterie verstehen lässt, erschließt sich Der Bogen des Odysseus einzig über den medizinischen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Über diese schlüssige pathologische Symptomatik hinaus ist zu fragen, weshalb sich Hauptmann gerade an diesem Krankheitsbild orientiert. Auch kann eine rein medizinische Deutung nicht erklären, wie es zu der Heilung des Protagonisten kommt. Hier hilft ein Blick auf die Tradition
82 Ebd., S. 848. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd. 85 Ebd., S. 854. 86 Ebd. 87 Vgl. Peter-Christian Wegner: Gerhart Hauptmanns Griechendramen. Ein Beitrag zu dem Verhältnis von Psyche und Mythos. Phil. Diss. Kiel 1968, S. 156: »Das Verhalten des Odysseus legt wiederholt die Vermutung nahe, in ihm einen von epileptischen Anfällen Betroffenen zu sehen.« 88 Vgl. ebd., S. 161-164. 89 Ebd., S. 164. 90 Vgl. ebd., S. 161.
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der Epilepsie und die lange Linie literarischer Epilepsie-Darstellungen:91 Seit der Antike gilt sie als heilige Krankheit, als morbus sacer, wenn auch von Beginn an ihr natürlicher Ursprung betont wird. Der Kranke hat, so die wirkmächtige Deutungstradition, Zugang zu rational nicht fasslichen Sphären, zu einer Ebene göttlicher Wahrheit. Die Krankheit bedeutet Strafe und Auszeichnung zugleich. Wenn Hauptmann seinem Protagonisten Züge eines Epileptikers verleiht, schließt er nicht nur an medizinische, sondern zugleich an kulturhistorische Diskurse an. Hauptmanns Sicht auf den Wahnsinn, wie er sie in seiner Autobiographie Abenteuer meiner Jugend zum Ausdruck bringt, zeigt die Faszination für derartige Entrückungszustände. Sie geht auf seinen Schweiz-Aufenthalt im Jahr 1888 zurück.92 In der von Auguste Forel geleiteten Heilanstalt Burghölzli bei Zürich glaubte Hauptmann, in einer Patientin eine »Mänade«93 zu erkennen: Wahnsinn bedeutet für Hauptmann offenbar die Möglichkeit, mit den Bereichen der Psyche in Verbindung zu treten, die durch die Zivilisation verdrängt wurden. Er ist immer auch Ausdruck des Dämonischen,94 so dass der Wahn zugleich Zugänge zu tieferen Bewusstseinsschichten ermöglicht. Nicht zufällig deutet Hauptmann den Wahn in mythologischen, metaphysischen Zusammenhängen und verweist immer wieder auf die Antike. Im Griechischen Frühling entwickelt er Vorstellungen der antiken Kultur, die von visionärer Schau geprägt gewesen sei: Das Hirtenleben ist in den meisten Fällen ein Leben der Einsamkeit. Es begünstigt also alle Kräfte visionärer Träumerei. Ruhe der äußeren Sinne und Müßig-
91 Vgl. Dieter Heimböckel: »Morbus sacer: Literatur und Epilepsie«, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S. 415-437; vgl. Dietrich von Engelhardt, Hansjörg Schneble, Peter Wolf (Hg): »Das ist eine alte Krankheit«. Epilepsie in der Literatur. Stuttgart 2000. 92 Vgl. Gerhart Hauptmann: »Das Abenteuer meiner Jugend«, in: ders.: Sämtliche Werke (Anm. 73), Bd. 7, S. 451-1088, hier S. 1059. Vgl. ebd., S. 1063: »Im Burghölzli sah ich und unterschied nach und nach alle hauptsächlichsten Formen des Irreseins. Grausige Bilder waren darunter.« 93 Ebd., S. 1064. 94 Vgl. Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen (Anm. 65), S. 202-210.
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gang erzeugen die Welt der Einbildung, und es würde auch heut nicht schwerhalten, etwa in den Irrenhäusern der Schweiz ländliche Mädchen zu finden, die, befangen in einem religiösen Wahn, von ähnlichen Dingen überzeugt sind, von ähnlichen Dingen »mit rasendem Munde« sprechen, wie die erste Seherin, die Sibylle oder ihre Nachfolgerin zu Delphi taten.95
Dieser heilige Wahn setzt aber Verhältnisse ungestörter Transzendenz, der menschlichen und göttlichen Harmonie voraus. In der Moderne wird derartiges Verhalten pathologisiert; die Kranken werden isoliert. In seinem Drama konzipiert Hauptmann einen göttlich inspirierten Wahn. Dies wird gerade in der Heilungsszene am Ende des dritten Aktes, dem Wendepunkt des Stückes, deutlich. Naturwunder, von denen Leukone berichtet, kündigen den Anbruch eines großen Ereignisses an: »Nun fängt es allenthalben an zu sprudeln, ۄdurch jede Röhre dringt kristallnes Naß, ۄ und überfließend steht schon jeder Steintrog. ۄAuch hier erwacht der Lebensborn: sieh her.«96 Die herbeieilenden Hirten – herbeigerufen von »heiligen Nymphen«97 und geheimnisvollen Stimmen – feiern dieses Quellwunder mit ekstatischen priapischen Tänzen. Odysseus hält sich zunächst abseits des allgemeinen Taumels: Soll der nicht weinen, dem ein Himmlischer ۄim Spiegel zeigt, was er verlor? Ich war ۄwie sie. Die goldne Heimat gab ۄmir goldne Früchte, reichlich goldnen Wein ۄund goldnes Glück. Und kam ich etwa, seit ۄich von der Heimat schied, näher den Göttern? ۄSie wohnen Wand an Wand dem großen Pan ۄbenachbart. Ihre Herden hüten sie, ۄdie Hirten, und er ist der Hirten Hirt. ۄAls wir um Ilion uns würgten, sproßte ۄhier auf des Muttereilands unberührten ۄfriedsamen Bergeshöhen diese Saat ۄvon Jünglingen! Sind es dieselben, die ۄich zu des Krieges Schlachtbank einst hinschleppte ۄund die wie Halme neu emporgeblüht, ۄnachdem der Schnitter sie geschnitten? Nein. ۄSie kennen mich nicht, und die Gefährten kehren ۄnicht wieder, die ich in die Nacht hinabstieß.98
95 Hauptmann: Griechischer Frühling (Anm. 64), S. 95. 96 Hauptmann: Der Bogen des Odysseus (Anm. 73), S. 898. 97 Ebd., S. 899. 98 Ebd., S. 901 f.
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Odysseus artikuliert hier seine tiefe Trauer um den Tod seiner Gefährten; wiederum steht der elfte Gesang der Odyssee im Hintergrund. Als einziger Überlebender fühlt er sich seiner Umwelt entfremdet, anders als die Hirten, an deren Leben exemplarisch deutlich wird, wie eine Existenzform in Einheit mit Natur und Göttern möglich ist. Zugleich bietet Odysseus mögliche psychologische Erklärungen für seinen Wahnsinn, der auch als Ausdruck traumatischer Erfahrungen verstanden werden kann, als Flucht vor Schuldgefühlen. Dieser Durchbruch zur Selbstreflexion geht mit weiteren Zeichen der Natur einher. Ein geheimnisvoller Hornton erschallt;99 der Hirte Hektor berichtet von Göttererscheinungen, die denen bei der Abfahrt Odysseus entsprächen: Der Kreis scheint sich zu schließen. Plötzlich übernimmt Odysseus die Initiative. Er »tritt unter die Hirten mit den Bewegungen eines Blinden«.100 Als göttlich inspirierter blinder Seher – die Assoziationen zur Tiresias-Figur sind offensichtlich – ruft er die Hirten zum Krieg und lässt die Buhlerin Melantho fesseln. Entscheidend für die Deutung des Dramas wie auch für die Bewertung der Odysseus-Figur ist sein anschließender großer Monolog, in dem er sich von Poseidons Fluch lossagt. In Anlehnung an Goethes Prometheus-Hymne wendet sich der Held gegen den Meergott. Anders als Prometheus aber richtet er sich nicht gegen göttliche Bevormundung schlechthin, sondern lediglich gegen das feindliche Element des Wassers, das in seiner Schimpfrede weiblich konnotiert ist: Poseidaon, antwortest du dem Gotte, ۄdes Braue mir Gewährung eben winkt? ۄ Antwortest du dem Wetterleuchtenden ۄtrotzig auf alten Groll mit deines Abgrunds ۄrollendem Donner? Färbst du rings die See ۄschwarz in ohnmächt’ger Wut? Hier steh’ ich, hier! ۄUnd achte deiner nicht. Denn draußen liegt ۄauf deinem Meer der Pallas weißer Schild ۄund gleißt herauf zu mir, sosehr es nachtet. ۄLaß die Gestade donnern, Schrecklicher. ۄGelb dampft der Strand! nur zu! rolle nur immer ۄim galligen maßlosen Grimme mächtige ۄschwarzgrüne Platten schweren Erzes und ۄzerbrich am Felsen sie zu weißem Staub! ۄIch hasse dich und spotte deiner, hier ۄvon sichrer Klippe, die du doch nicht einschluckst. ۄ Recht so! mach auch die Berge wogen! Recht so, ۄdu zahnloses, neidgrünes,
99 Vgl. ebd., S. 901. 100 Ebd., S. 902.
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pantschendes ۄWaschweib! Um mehr zu leiden, litt ich schon ۄzu viel: so oder so, ich bin am Ziele.101
Odysseus verweist auf die Unterstützung von Zeus und Athene, denen Poseidon nichts entgegenzusetzen habe. Wenn er den Meergott als »Waschweib« bezeichnet, setzt er sich von der gefährdenden Weiblichkeit ab, der er sich auf seinen Irrfahrten ausgesetzt sah, und ebenso von Penelope, die im Drama als Kirke erscheint. Odysseus’ Selbstermächtigung bedeutet zugleich, dass er seine Identität wieder gefunden hat, geheilt ist. Er distanziert sich von der eigenen Schuld. Ein letzter Zusammenbruch steht am Ende von Odysseus’ Krankheit102 – die Parallelen zur Heilung Orests in Goethes Iphigenie sind offensichtlich. Diese Selbstheilung durch Sprache markiert den Wendepunkt des Dramas: Fortan kann Odysseus den Wahnsinn bewusst als Verstellung nutzen, um die Freier zu täuschen: »Seht nicht auf mich, ich bin ein rasender ۄNarr! bin ein Narr, der rast! ein Rasender!«103 Am Ende des Dramas wird er erklären: »Ist mir nicht ۄals streckt’ ich jetzt mein Haupt aus einem Traum ۄ als wie aus einem Meer empor ins Wache?«104 Odysseus’ innerliche Verjüngung hängt unmittelbar mit dem bevorstehenden Blutopfer zusammen: »Trotzdem die Schicksalsstunde mich durchschüttert, ۄhüpft mir, von heiliger Mordlust froh, das Herz. ۄO Kind, o Sohn! o welche Wollust! o ۄwelch ein Geschenk der Götter, Rache üben. ۄ Was ist mir nun der Irrfahrt Trübsal: nichts.«105 Komplementär zu Odysseus’ Gesundung verstärkt sich die Identitätskrise Telemachs, der sich durch den zurückgekehrten Vater seiner eben erst gewonnenen Männlichkeit beraubt sieht. Tatsächlich ist sein Anteil an der Rache minimal: »Mein Schwert hat nichts verrichtet. Du tatst alles.«106 Wie Elektra kommt ihm ein Heimkehrer zuvor. Anders aber als für Hofmannsthals Protagonistin endet Hauptmanns Drama für den Tatenlosen ver-
101 Ebd., S. 902 f. 102 Vgl. ebd., S. 903. Leukone, das Sprachrohr Athenes, äußert: »Telemach, ۄer ist ein Seher und des Gottes voll. ۄEr schäumt! Er windet sich in Zuckungen!« 103 Ebd., S. 919. 104 Ebd., S. 930. 105 Ebd., S. 931. 106 Ebd., S. 942.
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gleichsweise optimistisch: Es ist noch viel »Blutarbeit«107 zu tun, bei der sich Telemach bewähren kann. Wenn Gerhart Hauptmanns Odysseus am Ende des Dramas aufbricht, um seine Heimat endgültig in Besitz zu nehmen und zugleich seine Frau zurückzugewinnen, so äußert sich darin eine männlich-vitalistische Heroismuskonzeption: Das »Lebensabenteuer des Starken«108 besteht gerade auch in der Überwindung des Wahnsinns, die mit der Rückgewinnung der eigenen Identität einhergeht. Odysseus’ Heilungsprozess ist eingebettet in größere Zusammenhänge und wird im Drama metaphysisch beglaubigt. Der Bogen des Odysseus stellt somit den Versuch dar, den kultischen Charakter der antiken Tragödie wiederzugewinnen, indem dieses rekonstruierte Einheitsgefühl geradezu musealisierend versinnlicht wird. Darin zeigt sich in aller Schärfe der Unterschied zu Elektra. Auch Hofmannsthal archaisiert die Tragödie. Dieser Versuch basiert aber auf einem Bewusstsein der Distanz: Eine transzendentale Geborgenheit, wie sie Gerhart Hauptmann zu rekonstruieren sucht, ist für Hugo von Hofmannsthal nicht möglich. Gerade die Unversöhnlichkeit ist wesentliches – von Hauptmann kritisiertes! – Kriterium seiner Sophokles-Transformation. Hauptmanns Pathologisierung steht nicht im Widerspruch zu der optimistischen Wendung, die das Drama nimmt; die Düsterkeit der Elektra ist ihm fremd. Von Paul Ernsts antimodernem Beharren auf klassizistischen Normen sind Hofmannsthal und Hauptmann gleichermaßen entfernt – trotz gewisser Solidarität sind ihre Strategien jedoch inkompatibel.
107 Ebd., S. 930. 108 Hauptmann: Der Bogen des Odysseus [Essay] (Anm. 74), S. 922.
Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird Zu Geschichte, Wesen und Ästhetik von Superhelden T HOMAS N EHRLICH
In seinem Aufsatz Heroische und postheroische Gesellschaften vertritt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die These, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts vor allem die westlichen Staaten zunehmend zu »postheroischen Gesellschaften« gewandelt hätten.1 Grund dafür seien die »Erosion des Religiösen«,2 die nachlassende Unterstützung größerer Bevölkerungsteile für ›heroische Gemeinschaften‹, d. h. für Gruppen und Verbünde, die durch einen Ehrenkodex und / oder militärisches Ethos an Heldenvorstellungen gebunden sind, sowie die ernüchternden Erfahrungen zahlreicher Kriege, von denen nicht einmal die Sieger in erhofftem Maße profitieren konnten. Der politische, militär- und ideengeschichtliche Hintergrund, vor dem Münkler argumentiert, macht seine Auffassung plausibel. Aus kulturhistorischer Perspektive hingegen lässt sich eine andere Entwicklung beobachten: Diese hat statt zur Verabschiedung klassischen Heldentums zu dessen Überbietung, statt zum Abbau »heroischer Dispositionen«3 zur Verbreitung superheroischer Figurationen geführt. Tatsächlich ist der Zweite Weltkrieg als Zeitpunkt, den Münkler für die Durchsetzung postheroischer
1
Herfried Münkler: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur 61
2
Ebd., S. 742.
3
Ebd., S. 750 und passim.
(2007), H. 8/9, S. 742–752.
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Tendenzen in Europa und den USA ansetzt,4 zugleich Geburtsstunde eines neuen Heldentyps, der dazu in einem eigenartigen Spannungsverhältnis steht: Superhelden stammen aus dem US-amerikanischen Comic, werden inzwischen jedoch weltweit rezipiert. Ihre imaginären Kräfte, Taten und Geschichten beruhen anders als etwa bei Kriegs-, Sport- oder Arbeitshelden nicht auf realen Leistungen; zugleich haben sie eine Popularität und mediale Präsenz erreicht, die jene lebendiger Vorbilder weit übertrifft.
I. G ESCHICHTE
DER
S UPERHELDEN
Die Entwicklung der Superhelden ist eng verknüpft mit der Geschichte ihres Ursprungsmediums in den USA.5 Comics waren Ende der 1930er Jahre durch ihre Erscheinungsweise vorrangig als knappe daily comic strips oder
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Vgl. ebd., S. 750. Die Geschichte der Superhelden-Comics ist bereits verschiedentlich ausführlich erzählt worden, vgl. insbesondere zu Superman und Batman u. a. Wolfgang J. Fuchs: »Superman – 50 Jahre härter als Krupp-Stahl«, in: Comic Jahrbuch 1988, S. 26-37; ders.: »Superhelden im Wandel«, in: Comic Jahrbuch 1988, S. 38-50; Thomas Hausmanninger: Superman. Eine Comic-Serie und ihr Ethos. Frankfurt a. M. 1989; Uwe Anton: »50 Jahre Batman. ›Verbrecher sind ein abergläubisches, feiges Pack‹«, in: Comic Jahrbuch 1990, S. 155-159; Richard Reynolds: Super Heroes. A Modern Mythology. London 1992, S. 7-10; Les Daniels: Superman – The Complete History. The Life and Times of the Man of Steel. San Francisco 1998; Will Brooker: Batman Unmasked. Analyzing a Cultural Icon. London, New York 2000; Andreas Friedrich, Andreas Rauscher: »Amazing Adventures. Zur Einführung«, in: dies. (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film. München 2007, S. 3-10; Michael Gruteser: »Magic Marvel Moments«, in: Friedrich/Rauscher: Superhelden (Anm. 5), S. 11-22; Andreas C.: Knigge: »Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics«, in: Heinz Ludwig Arnold, Andreas C. Knigge (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels. Göttingen 2009, S. 5-34; Andreas Platthaus: »Superman – Die Treue zur Utopie und zu Amerika«, in: Klassiker der Comic-Literatur. Bd. 1: Superman. Frankfurt a. M. 2005, S. 3-10; Dietmar Dath: »Batman oder Ich bin der Ausnahmezustand«, in: Klassiker der Comic-Literatur. Bd. 7: Batman. Frankfurt a. M. 2005, S. 3-10; Lars Banhold: Batman. Konstruktion eines Helden. Bochum 42009.
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als Sonntagsbeilage vom Zeitungswesen noch nicht emanzipiert. Im Juni 1938 jedoch veröffentlichte der Verlag Detective Comics (später: DC) in der ersten Nummer seiner neugegründeten Heftreihe Action Comics den mehrseitigen Titel Superman von Jerry Siegel und Joe Shuster, was Medium, Verlag und Figur umgehend zum Durchbruch verhalf. Der Verkaufserfolg der ersten Superman-Geschichten war außerordentlich und der Weg geebnet für die Etablierung jener Comic-Serien, die nicht wie zuvor bloß Strips aus Zeitungen nachdruckten, sondern von eigenen Autoren und Zeichnern verantwortet wurden. Zu diesen eigenständigen Reihen gehörte auch die bereits seit 1937 erscheinende Serie Detective Comics, die ihrem Verlag den Namen gab und in deren 27. Ausgabe im Mai 1939 die erste Geschichte um den von Bob Kane und Bill Finger geschaffenen Batman erschien. Im selben Jahr wurde der Verlag Timely Comics (später Marvel) gegründet, der u. a. ab 1940/41 die Geschichten um den von Joe Simon und Jack Kirby erdachten Captain America publizierte.6 Neben einer rasch ansteigenden Anzahl ähnlicher Figuren hatte im Dezember 1941 mit der von William Moulton Marston erschaffenen Wonder Woman die erste weibliche Superheldin ihren Auftritt.7 Binnen kurzem waren Verlage, Heftreihen und insbesondere die Superhelden derart etabliert, dass Millionenauflagen abgesetzt wurden. Die zunehmende Emanzipation der Comics als autonomer Artefakte der sich weiter differenzierenden ›neunten Kunst‹8 und die wachsende Popularität der Superhelden leisteten einander wechselseitig Vorschub, zumal während des Zweiten Weltkriegs, als der Bedarf an patriotischen Helden, die »truth, justice and the American way«9 gegen äußere Anfechtungen verteidigten, be-
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Die Erstausgabe, Captain America Comics 1 (März 1941), erschien bereits im Dezember 1940.
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Vgl. All Star Comics 8 (Dezember 1941); ab Sommer 1942 hatte Wonder Woman eine eigene Heftreihe.
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Francis Lacassin prägte diesen Begriff in einem umfangreichen Essay zum Comic als vielfältiger Kunstform; vgl. ders.: Pour un neuvième art. La bande dessinée. Paris 1971.
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Zuvor auf »truth and justice« beschränkt, erhielt dieser bekannte Slogan, der Supermans Wertesystem zusammenfasst, den entscheidenden Zusatz »and the American way« nach Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Neben Superman und dem seit 1941 mobilisierten Captain America, der seine patriotische
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sonders groß war. Anfang der 1940er Jahre waren über 150 verschiedene Heftreihen auf dem Markt. Die immense Nachfrage danach sicherte den Erfolg dieses bis in die frühen 50er Jahre anhaltenden ›Golden Age‹ des Superhelden-Comics und legte den Grundstein für eine ganze Industrie. Zu Beginn der 50er Jahre wurde zunehmend Kritik an dem populären Medium geäußert: Die Propaganda-Funktion, durch die manche Regelübertretung der Superhelden als Mittel zu übergeordneten (Kriegs-)Zwecken gerechtfertigt worden war, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg an Relevanz verloren. In der Folge verurteilten Pädagogen, Politiker und Kirchenvertreter den Einfluss der Superhelden-Geschichten auf die zumeist jugendliche Leserschaft als Bedrohung für deren seelische Gesundheit.10 Der einflussreichste Kritiker war der Psychiater Fredric Wertham, dessen Studie Seduction of the Innocent 1954 die wesentlichen Argumente zusammenfasste:11 Wertham behauptete eine Korrelation zwischen Comic-Lektüre und Jugendkriminalität, u. a. monierte er Gewalt- und Verbrechensdarstellung,
Mission im Namen und die amerikanische Flagge als Uniform trägt und bereits in seiner ersten Ausgabe (März 1941) gegen Hitler kämpfte, wurden in Zeiten heißer oder kalter Kriege die allermeisten amerikanischen Superhelden propagandistisch instrumentalisiert und u. a. gegen Nazis und Kommunisten ins Feld geführt. Vgl. das Kapitel »1939–1945: Origins and Wartime« in Brooker: Batman Unmasked (Anm. 5), S. 33-100; Jason Dittmer: »Retconning America: Captain America in the Wake of World War II and the McCarthy Hearings«, in: Terrence R. Wandtke (Hg.): The Amazing Transforming Superhero! Essays on the Revision of Characters in Comic Books, Film and Television. Jefferson (N. C.), London 2007, S. 35-51; Marc DiPaolo: War, Politics and Superheroes. Ethics and Propaganda in Comics and Film. Jefferson (N. C.), London 2011, besonders S. 11-48. – Die politischen Interventionen der frühen Superhelden während des Zweiten Weltkriegs haben noch einen anderen Hintergrund: Jerry Siegel, Joe Shuster, Bob Kane, Bill Finger, Jack Kirby (eigentlich: Jacob Kurtzberg), Stan Lee und viele weitere Pioniere des Superhelden-Comics waren jüdischer Herkunft und Nachkommen jüdischer Emigranten oder selbst aus Europa emigriert. Vgl. dazu Jens Meinrenken: »Eine jüdische Geschichte der Superhelden-Comics«, in: Margret Kampmeyer-Käding, Cilly Kugelmann (Hg.): Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics. Berlin 2010, S. 26-41. 10 Vgl. Hausmanninger: Superman (Anm. 5), S. 46-49. 11 Vgl. Fredric Wertham: Seduction of the Innocent. New York 1954.
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Amoralität und sexuelle Devianz (etwa in Form eines homoerotischen Verhältnisses zwischen Batman und Robin). 12 Presse und Politik griffen die Kritik auf und machten sie zum Thema von Kampagnen und Senatssitzungen; es kam zu öffentlichen Comic-Verbrennungen. Stark unter Druck geraten, schlossen sich zahlreiche Comic-Verlage noch 1954 zur Comics Magazine Association of America zusammen und gründeten die Comics Code Authority. Diese erließ bald darauf den Comics Code, ein Regelwerk, mit dem sich die meisten publishers zu einer rigiden Selbstzensur verpflichteten.13 Infolge des anschließenden Leserschwunds, der Einstellung zahlreicher Reihen und des Bankrotts etlicher Verlage wurde versucht, die Superhelden diesen neuen Produktionsbedingungen anzupassen, vor allem durch Vertiefung und Differenzierung der Charaktere: Nachdem DC 1956 in Ausgabe 4 der Reihe Showcase die bereits 1940 von Gardner Fox und Harry Lampert geschaffene Figur Flash erfolgreich wieder aufgelegt hatte, lancierte ab 1958 vor allem Marvel eine Reihe innovativer Superhelden, die menschliche Makel und Zweifel kannten, ihre Kräfte unfreiwillig durch Unfälle oder Mutationen erwarben und mit ihrer Vorbildrolle haderten. Unter der konzeptionellen Leitung von Stan Lee und gezeichnet von Jack Kirby und Steve Ditko entstanden so 1961 bis 1963 in rascher Folge die Superhelden The Fantastic Four, Hulk, Thor, Spider-Man, The X-Men und Iron Man.14 Diese ›Marvel-Revolution‹ und die Dauerbrenner von DC – Superman und Batman dominierten, begünstigt durch populäre Formate in Radio, Fernsehen und Kino, auch Ende der 1960er Jahre den Comic-
12 Vgl. Brooker: Batman Unmasked (Anm. 5), S. 110-117. 13 Der Comics Code, der die Darstellung u. a. von Kriminalität, Gewalt, Sexualität und fiktiven Figuren wie Werwölfen und Vampiren stark einschränkte, besteht nach Anpassungen vor allem in den frühen 1970er Jahren in überarbeiteter Form bis heute, hat seine Verbindlichkeit und Regulationsmacht jedoch weitestgehend eingebüßt. Für heutige Comic-Veröffentlichungen spielt er keine Rolle mehr. Vgl. Amy Kiste Nyberg: Seal of Approval. The History of the Comics Code. Jackson (Miss.) 1998, besonders S. 155-183. 14 Die Erstausgaben waren: The Fantastic Four 1 (November 1961); The Incredible Hulk 1 (Mai 1962); Thor in Journey into Mystery 83 (August 1962); SpiderMan in Amazing Fantasy 15 (August 1962); Iron Man in Tales of Suspense 39 (März 1963); The X-Men 1 (September 1963).
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Markt –15 sind bis etwa 1970 die prägenden Elemente dieses ›Silver Age‹ des Superhelden-Comics. Im anschließenden ›Bronze Age‹ führten die großen Verlage viele bestehende Tendenzen fort, versuchten, nachdem zuvor der Teenager-Superheld Spider-Man für Erfolge gesorgt hatte, jedoch wieder vermehrt, ein erwachsenes Publikum anzusprechen – u. a. durch Lockerung und sinkende Verbindlichkeit des Comics Code. Mit personellen Veränderungen in den Verlagen – Jack Kirby wechselte zwischen 1971 und 1975 vorübergehend von Marvel zu DC, Julius Schwartz übernahm 1971 die Redaktion der Superman-Reihe – stieg das Bewusstsein für den konzeptionellen Einfluss von Autoren und Zeichnern. Hatten diese ihre Urheberrechte zuvor vollständig an die Verlage abtreten müssen, wurde ihre Position nun durch neue Verträge und Namensnennung (credits) in den Heften gestärkt. Inhaltlich gewannen politische und gesellschaftlich relevante Themen an Bedeutung in den Superhelden-Comics, etwa Drogenkonsum, Armut und soziale Ungleichheit in Dennis O’Neills und Neal Adams’ Geschichten um DCs Green Lantern und Green Arrow,16 später außerdem Alkoholismus eines Superhelden in David Michelinies und Bob Laytons Iron-Man-Heftfolge Demon in a bottle.17 Nachdem Marvel 1966 mit Black Panther den ersten schwarzen Superhelden eingeführt hatte, folgten – als Reaktion auf die öffentliche Thematisierung von Rassismus und Minderheitenzugehörigkeit durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung – während der 70er Jahre eine wachsende Zahl von minority superheroes, darunter die ab 1975 wieder aufgelegten X-Men.18
15 Vgl. Reynolds: Super Heroes (Anm. 5), S. 9. 16 Vgl. z. B. Green Lantern / Green Arrow 85-86 (August/September-Oktober/November 1970), in der die Drogenabhängigkeit der Figur Speedy dargestellt wird. Vgl. auch Fuchs: Superhelden im Wandel (Anm. 5), S. 43. 17 Vgl. The Invincible Iron Man 120-128 (März-November 1979). 18 Vgl. den ersten Auftritt des von Stan Lee und Jack Kirby geschaffenen Black Panther in Fantastic Four 52 (Juli 1966). Weitere schwarze Superhelden sind u. a. bei Marvel: Falcon ab Captain America 117 (September 1969), Luke Cage in der ersten eigenen Reihe eines schwarzen Superhelden ab Luke Cage, Hero for Hire 1 (Juni 1972) und Storm ab Giant Size X-Men 1 (Mai 1975); bei DC: John Stewart ab Green Lantern, Folge 2, 87 (Dezember 1971/Januar 1972), Tyroc ab Superboy 216 (April 1976), Black Lightning in seiner eigenen Reihe ab
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Das Bemühen um soziale und politische Themen, das diese relevant comics prägte, konnte jedoch die zunehmenden narrativen Probleme vieler Reihen nicht überdecken: Durch die vielfache Variation von Ursprungsmythen und Figurenentwicklung, die stete Rekonfiguration von Allianzen und Feindschaften und die wiederholte aitiologische Neubegründung von Beweggründen und Fähigkeiten der Superhelden ergaben sich Diskrepanzen in Kohärenz und Kontinuität der Serien. Besonders betroffen waren die alten, aber nicht altern wollenden Figuren wie Superman, der inzwischen längst nicht mehr der einzige Überlebende Kryptons war und der mit immer neuen Formen des Kryptonits zu kämpfen hatte, und Batman, der mit Robin, Batgirl, Batwoman, dem Bat-Hound Ace und dem Kobold Bat-Mite zwischenzeitlich eine skurrile Bat-Familie angesammelt hatte.19 Die storylines wurden außerdem dadurch unübersichtlich, dass sich mehrere Figuren eine Superheldenidentität teilten bzw. verschiedene Versionen eines Superhelden nebeneinander in Parallelwelten existierten.20 Überdies kam es 1976 erstmals zu einem crossover zwischen den zwei großen Verlagen, in dem Superman und Spider-Man gegeneinander antraten und die Logik der getrennten Comic-Universen durchbrachen.21 Mitte der 80er Jahre erkannten die Verlage, dass die widersprüchliche und verschachtelte Struktur vieler Reihen neuen Lesern den Einstieg erschwerte. Um die ausgefaserten Enden der Handlung zu verknüpfen und eine allgemeingültige continuity herzustellen, lancierte Marvel mit Secret Wars (1984/85) und DC mit Crisis on Infinite Earths (1985/86) groß angelegte Vereinigungsfolgen, in denen eine Vielzahl der jeweiligen Superhelden zusammengeführt und auf einen ge-
April 1977. Die X-Men, denen seit ihrer Neuauflage ab Giant Size X-Men 1 (Mai 1975) auch eine Afroamerikanerin, die schwarze Superheldin Storm, und ein Native American, der Apache Thunderbird, angehören, sind durch ihren Mutantenstatus seit jeher Sinnbild für gesellschaftliche Minderheiten. Vgl. Aldo Regalado: »Modernity, Race, and the American Superhero«, in: Jeff McLaughlin (Hg.): Comics as Philosophy. Jackson (Miss.) 2005, S. 84-99. 19 Vgl. kritisch dazu Anton: 50 Jahre Batman (Anm. 5), S. 157. 20 DC trieb dieses Konzept auf die Spitze: Es gab parallele, nummerierte Erden (»Earth-1«, »Earth-2« usw.) innerhalb des DC multiverse. 21 Gerry Conway u. a.: Superman vs. the Amazing Spider-Man. Battle of the Century. New York 1976.
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meinsamen Stand gebracht wurde.22 Seit Jim Starlins prominent inszeniertem Death of Captain Marvel – erschienen 1982 als Band 1 einer großformatigen Reihe, die erstmals bei Marvel die klangvolle Bezeichnung graphic novel trug –23 stieg zudem die Sterberate unter Superhelden stark an. Auch dies kann als Versuch verstanden werden, die Komplexität der Handlungsebenen zu reduzieren und eine neue Phase der Superhelden-Comics einzuläuten. Die Abkehr vom ›Bronze Age‹ markieren insbesondere zwei der prägendsten Veröffentlichungen der Comic-Geschichte: Nachdem er sich Anfang der 80er Jahre einen Namen u. a. mit der Aktualisierung von Marvels Daredevil gemacht hatte, legte Frank Miller 1986 bei DC die hochwertig ausgestattete, aus der Batman-Reihe ausgekoppelte Folge The Dark Knight Returns vor, die stilbildend für das gesamte Genre werden sollte. Zugleich Autor und Zeichner, führt Miller darin keinen triumphalen Heros, sondern einen gealterten, traumatisierten Batman vor; die Story ist düster und die Gewaltdarstellung eindringlich, der Zeichenstil expressiv und Batmans dynamischer Schattenriss das häufigste Motiv (Abb. 1). Mit Watchmen, geschrieben von Alan Moore und gezeichnet von Dave Gibbons, erschien 1986/87 ebenfalls bei DC die zweite äußerst einflussreiche graphic novel der Zeit. Visuell weniger drastisch als Millers Werk, zeichnet sich Watchmen durch eine außerordentlich elaborierte Bildkomposition aus – von
22 Vgl. Jim Shooter, Mike Zeck, Bob Layton: Secret Wars. New York 1984/86; sowie Mark Wolfman, George Pérez u. a.: Crisis on Infinite Earths. New York 1985/86. Besonders nachhaltig war dieser Einschnitt bei DC, wo seither eine Trennung zwischen Pre-Crisis-Produktionen und aktuelleren Post-Crisis-Titeln gezogen wird. 23 Vgl. Jim Starlin: The Death of Captain Marvel. New York 1982 (Marvel Graphic Novels 1). DC reagierte ab 1983 mit einer eigenen Prestige-Reihe: DC Graphic Novel. Der Begriff ›graphic novel‹ ist u. a. von Will Eisner bekannt gemacht worden und gilt als Gütesiegel für umfangreiche, komplexe, oft außerhalb von Reihen und als hochwertige, gebundene Ausgaben erscheinende Titel von meist renommierten Autoren und Zeichnern. Außerdem wird durch die Gleichstellung mit Romanen (engl. novels) eine Annäherung an traditionelle, angesehene Gattungen der Literatur beabsichtigt, nicht zuletzt im Interesse des Marketings. Ob es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Comics und graphic novels gibt, ist umstritten.
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Details einzelner Panels über den Aufbau der Seiten bis hin zur bildmotivlich-formalen Gesamtstruktur –, deren zahlreiche subtile Stilmittel sich erst bei mehrmaligem Lesen ganz erschließen.24 Die Handlung kreist um eine Gruppe abgehalfterter und zwielichtiger Vigilanten, deren fragwürdige Moral und Taten die ehemaligen Supernunmehr als Antihelden erscheinen lassen. Gemein ist beiden Comics die Reflexion und Subversion der Bedingungen und Konventionen des Genres, wodurch die Rolle der Superhelden stark infrage gestellt wird.25 Die radikalen Darstellungen, die Morbidität und die Absage an positive Identifikation, die The Dark Knight Returns und Watchmen prägen, wurden in der Folge Kennzeichen der deshalb auch ›Dark Age‹ genannten modernen Comic-Ära. Im Zeichen von grim and gritty traten sinistre Figuren in den Vordergrund – darunter Marvels Punisher – und neugegründete VerAbb. 1: Batmans Silhouette als lage konnten sich mit entsprechenden Reihäufiges Stilmittel in Frank Milhen neben den beiden Marktführern etalers The Dark Knight Returns.
24 Vgl. dazu u. a. Stuart Moulthrop: »See the Strings. Watchmen and the UnderLanguage of Media«, in: Pat Harrigan, Noah Wardrip-Fruin (Hg.): Third Person. Authoring and Exploring Vast Narratives. Cambridge (Mass.), London 2009, S. 287-302. 25 Vgl. Geoff Klock: How to Read Superhero Comics and Why. New York, London 2002, besonders das Kapitel »The Bat and the Watchmen: Introducing the Revisionary Superhero Narrative«, S. 25-76; Aeon J. Skoble: »Superhero Revisionism in Watchmen and The Dark Knight Returns«, in: Tom Morris, Matt Morris (Hg.): Superheroes and Philosophy. Truth, Justice, and the Socratic Way. Chicago, La Salle (Ill.) 2005, S. 29-41; Iain Thomson: »Deconstructing the Hero«, in: McLaughlin: Comics as Philosophy (Anm. 18), S. 100-129; Terrence R. Wandtke: »Frank Miller Strikes Again and Batman Becomes a Postmodern Anti-Hero: The Tragi(Comic) Reformulation of the Dark Knight«, in: Wandtke: Amazing Transforming Superhero (Anm. 9), S. 87-111.
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blieren.26 Als Reaktion darauf ließ DC – ein zuvor undenkbares Szenario – in der Heftfolge The Death of Superman27 (1992/93) den berühmtesten aller Superhelden sterben – nicht ohne ihn kurz darauf in neuer Gestalt und in aktualisierten Reihen wieder zum Leben zu erwecken. Der Erfolg dieser Story-Volte führt bis heute zu Tod und Auferstehung einer ganzen Reihe weiterer wichtiger Superhelden. Dennoch erreichen die Auflagenzahlen vor allem seit den 2000er Jahren nicht mehr die ehemaligen Höhen.28 DC und Marvel versuchen seither mit immer häufigeren Neustarts und Story-Events wie team-ups und Verknüpfungen eigentlich getrennter Serien gegen diesen Trend anzukämpfen. So hat DC, nachdem bereits 2005/06 durch Geoff Johns’ Infinite Crisis eine Revision der 80er-Crisis erfolgt war, 2011 mit dem Programmereignis The New 52 einen vollständigen relaunch sämtlicher Superhelden-Reihen unternommen.29 Der größte Konkurrent hat mit
26 Der 1986 gegründete Verlag Dark Horse Comics veröffentlichte z. B. ab der Ausgabe San Diego Comic-Con Comics 2 (August 1993) Geschichten um den von Mike Mignola kreierten Hellboy, außerdem bereits 1991/92 Frank Millers ebenfalls stilbildendes Sin City. Der seit 1993 bestehende Verlag Image Comics wartete u. a. seit der Ausgabe Malibu Sun 13 (Mai 1992) mit Todd McFarlanes Spawn auf. 27 The Death of Superman war eine von Dan Jurgens u. a. verantwortete Heftfolge der Superman-Reihe der Jahre 1992/93; Supermans Tod erfolgt in Superman, Folge 2, 75 (Januar 1993). Kurz darauf ereilte Batman in der von Chuck Dixon und anderen konzipierten vielteiligen Heftfolge Knightfall 1993/94 ein ähnliches Schicksal, als Bane ihm in Ausgabe Batman 497 (Juli 1993) das Rückgrat brach (vgl. Abb. 2). 28 Bereits 1996 war Marvel durch Veränderungen der Geschäftsstruktur in große finanzielle Schwierigkeiten geraten und stand unmittelbar vorm Bankrott. Mithilfe von Investoren und Restrukturierungen konnte der Vertrieb jedoch aufrechterhalten und in der Folge stabilisiert werden. Vgl. James Reynolds: »›Kill Me Sentiment‹. V For Vendetta and comic-to-film adaptation«, in: Journal of Adaptation in Film & Performance 2,2 (2009), S. 121-136, hier S. 122 f. Diesen und weitere Hinweise verdanke ich Lukas Etter, Bern. 29 Selbst DCs traditionsreichste Reihen Action Comics und Detective Comics, die die ersten Auftritte von Superman und Batman enthalten hatten, von 1937/38 bis 2011 ununterbrochen erschienen waren und beide rund 900 Ausgaben erfahren
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Marvel NOW! bereits ein ähnliches Vorhaben für die Jahreswende 2012/13 angekündigt. Ob damit das Ziel steigender Absätze langfristig zu erreichen ist, bleibt abzuwarten. Neben ihrem traditionellen Medium hatten die Superhelden frühzeitig und konstant auch Auftritte in Radio, Fernsehen, Kino und Videospielen. Kurz nach seinem ersten Erscheinen bekam Superman in New York bereits seine eigene Radioshow (The Adventures of Superman, WOR, 1940–51), die erst eingestellt wurde, als der berühmteste Superheld u. a. mit der Zeichentrickserie Superman (Fleischer Studios, 1941/42) und Realfilm-Serials in Kino (Superman, Columbia, 1948) und Fernsehen (Adventures of Superman, u. a. ABC, 1952–58) landesweit in den visuellen Medien etabliert war.30 Besondere Bekanntheit haben die vier Kino-Verfilmungen der 70er und 80er Jahre mit Christopher Reeve in der Hauptrolle erlangt.31 Daneben sendete ABC 1966 bis 1968 die TV-Serie Batman, deren bunter, humoriger camp-Stil noch ein Vierteljahrhundert später in den Breitwand-Verfilmungen von Tim Burton und besonders Joel Schumacher nachwirkte. 32 Eine entschiedene Rückkehr zum düsteren Charakter der Figur vollzog hingegen Christopher Nolans Batman-Trilogie, die mit einem Einspielergebnis von
hatten, blieben vom The-New-52-Neubeginn nicht ausgenommen und starteten danach in neuen Folgen wieder bei Ausgabennummer 1. 30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Fuchs: Superman (Anm. 5), S. 31 f.; Massimo Moscati: Comics und Film. Übersetzt von Angelika Drexel und Georg Seeßlen. Berlin 1988, S. 35-37 und 135-139; und besonders Andreas Friedrich: »Der Amerikanische Traum und sein Schatten. Superman, Batman und ihre filmischen Metamorphosen«, in: Friedrich/Rauscher: Superhelden zwischen Comic und Film (Anm. 5), S. 23-50; sowie Andreas Rauscher: »Stadtneurotiker, Outlaws und Mutanten. Das Marvel-Universum im Film«, in: Friedrich/Rauscher: Superhelden zwischen Comic und Film (Anm. 5), S. 51-71. 31 Vgl. Superman: The Movie (USA 1978, R: Richard Donner), Superman II (USA 1981, R: Richard Lester), Superman III (USA 1983, R: Richard Lester), Superman IV: The Quest for Peace (USA 1987, R: Sidney J. Furie). 2006 folgte als weitere große Hollywood-Produktion Superman Returns (USA 2006, R: Bryan Singer), für 2013 ist Man of Steel unter der Regie von Zack Snyder angekündigt. 32 Vgl. Batman (USA 1989, R: Tim Burton), Batman Returns (USA 1982, R: Tim Burton), Batman Forever (USA 1995, R: Joel Schumacher), Batman & Robin (USA 1997, R: Joel Schumacher).
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über 2 Milliarden US-Dollar zu den erfolgreichsten Dreiteilern der Kinogeschichte gehört.33 Nolans Filme sind Teil einer großen, anhaltenden Welle an Comic-Verfilmungen, die seit den 2000er Jahren möglichst realitätsnahe, seriöse Leinwand-Versionen verschiedenster Superhelden in die Kinos schwemmt. Ausgelöst u. a. durch den Erfolg von Sam Raimis Spider-ManVerfilmungen hat seither insbesondere Marvel mit umfangreichen KinoProjekten wie der Avengers-Reihe das Franchise-Potenzial seiner Superhelden ausgeschöpft und das Genre zu einem der lukrativsten des Filmgeschäfts gemacht.34 Gemeinsam mit den zahllosen Videospielen und sonstigen Merchandising-Produkten wird durch diese Superhelden-Filme ein Publikum erreicht, das weit über den ursprünglichen Rezipientenkreis der Comics hinausgeht: Vielen neueren Anhängern der Superhelden sind einzelne Figuren erstmals im Film begegnet. Dadurch haben weltweit und in Deutschland seit der Jahrtausendwende die Superhelden und ihr Medium einen Popularisierungsschub erfahren, der nicht nur die Breite der Rezeption, sondern auch deren Höhe betrifft. Blieben hierzulande Comics im Allgemeinen und Superhelden im Besonderen lange Zeit als bloße Populärkultur von der Literaturkritik unterschätzt, zeichnet sich seither – befördert durch die Filmerfolge – ein Wandel in den deutschsprachigen Feuilletons ab.35 Daneben sind
33 Vgl. Batman Begins (USA 2005, R: Christopher Nolan), The Dark Knight (USA 2008, R: Christopher Nolan), The Dark Knight Rises (USA 2012, R: Christopher Nolan). 34 Vgl. Spider-Man I–III (USA 2002, 2004, 2007, R: Sam Raimi). Zu den Superhelden, die Marvel seit 2000 verfilmt hat, gehören Daredevil, X-Men (beide ab 2003), Punisher, Elektra (beide 2004), Fantastic Four (ab 2005), Ghost Rider (2007); Hulk (ab 2003), Iron Man (ab 2008), Thor und Captain America (beide 2011) hatten zunächst eigene Filme und wurden dann in Avengers (2012) zusammengeführt. DC hat neben Batman und Superman im gleichen Zeitraum u. a. Catwoman (2004), Spirit (2008), Watchmen (2009) und Green Lantern (2011) verfilmt. Beide Verlage haben ab 2013 bereits weitere Kinoversionen angekündigt. 35 Seit Art Spiegelmans genreprägende Comic-Biographie Maus 1992 einen Pulitzer-Preis gewonnen hat, sind Comics in Amerika regelmäßig bei wichtigen Literaturpreisen erfolgreich und schon seit längerem Gegenstand von Rezensionen in renommierten Zeitungen und Zeitschriften. Im letzten Jahrzehnt ist auch in
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(Superhelden-)Comics inzwischen auch Forschungsgegenstand kulturwissenschaftlicher, 36 soziologischer, 37 philosophischer 38 und sogar medizinischer39 und naturwissenschaftlicher40 Untersuchungen geworden. Eine dezi-
der deutschen Presse das Interesse für dieses Medium deutlich gestiegen, u. a. erkennbar an der 20-bändigen Auswahl-Ausgabe der Klassiker der Comic-Literatur (2005) durch das F.A.Z.-Feuilleton. Zur Comic-Rezeption in der deutschsprachigen Presse vgl. Stephan Ditschke: »Comics als Literatur. Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003«, in: Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, S. 265-280. 36 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive seien neben den oben erwähnten Publikationen noch genannt: Peter Coogan: Superhero. The Secret Origin of a Genre. Austin 2006; Wendy Haslem, Angela Ndalianis, Chris Mackie (Hg.): Super/ Heroes. From Hercules to Superman. Washington 2007; Angela Ndalianis (Hg.): The Contemporary Comic Book Superhero. New York 2009; George Kovacs, C. W. Marshall (Hg.): Classics and Comics. Oxford 2011. 37 Vgl. z. B. Richard J. Gray II., Betty Kaklamanidou (Hg.): The 21st Century Superhero. Essays on Gender, Genre and Globalization in Film. Jefferson (N. C.) 2011; Joseph J. Darowski (Hg.): The Ages of Superman. Essays on The Man of Steel in Changing Times. Jefferson (N. C.) 2012. 38 Vgl. u. a. McLaughlin: Comics as Philosophy (Anm. 18); Morris/Morris: Superheroes and Philosophy (Anm. 25); Mark D. White, Robert Arp (Hg.): Batman and Philosophy. The Dark Knight of the Soul. Hoboken (N. J.) 2008; Mark D. White (Hg.): Watchmen and Philosophy. A Rorschach Test. Hoboken (N. J.) 2009. 39 Vgl. z. B. Danny Fingeroth: Superman on the Couch: What Superheroes Really Tell Us about Ourselves and Our Society. New York, London 2005; Sharon Packer: Superheroes and Superegos. Analyzing the Minds Behind the Masks. Santa Barbara (Calif.) u. a. 2010. 40 James Kakalios: The Physics of Superheroes. London 2005 u. a. Das Interesse an Superhelden ist so groß, dass selbst skurrile Forschungsergebnisse publik werden: Im Juli 2012 meldeten verschiedene Internet-Nachrichtenportale, dass einer Studie britischer Physik-Studenten zufolge der Umhang, den der Superheld in Batman Begins trägt, aus aerodynamischen Gründen nicht ausreichen würde, um die dargestellten Flugszenen in der Wirklichkeit zu realisieren, vgl. »Batman braucht einen größeren Umhang«, in Spiegel online (10. Juli 2012) [http://www.
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dierte Comic-Forschung nach US-amerikanischem Vorbild ist nun auch im deutschen Sprachraum seit einiger Zeit im Entstehen und widmet sich nicht nur den sogenannten graphic novels, die am ehesten Maßstäben des traditionellen literarischen Kanons zu entsprechen scheinen, sondern auch dem populärkulturellen Superhelden-Genre.41
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Die damit beschriebene, außergewöhnliche und sich immer noch steigernde Präsenz der Superhelden in Kultur, Wissenschaft und Medien verschleiert ein wenig, dass ihr Begriff und Wesen weniger eindeutig bestimmt sind, als es die allgegenwärtige Rede über sie vermuten lässt. Dies ist vor allem ihrer vielgestaltigen Phänomenologie geschuldet, die generalistische Bestimmungsversuche erschwert: Allzu naheliegende Kriterien wie Super-, d. h. übermenschliche Kräfte scheiden als Generalkennzeichen schon auf den ersten Blick aus, da mit Batman eine der bekanntesten Figuren über solche nicht verfügt.42 Aussichtsreicher ist eine Bestimmung anhand der Erscheinungsweise in Comic-Heften bestimmter Verlage, führt jedoch in eine Tautologie: Eine Figur wäre demzufolge ein Superheld, insofern sie Protagonist eines Superhelden-Comics ist. Auf ähnliche Weise erklärt der Comic-Forscher Peter Coogan auf die Frage nach der Gemeinsamkeit der Superhel-
spiegel.de/wissenschaft/technik/aerodynamik-batman-braucht-zum-fliegen-groesseren-umhang-a-843539.html; Zugriff: 1. August 2012], darin auch ein Link zur Studie im Online-Journal Physics Special Topics 10 (2011). 41 Vgl. Daniel Stein: »Comics Studies in Germany. Where It’s At and Where It Might Be Heading«, in: comicsforum.org (7. November 2011) [http://comicsforum.org/2011/11/07/comics-studies-in-germany-where-it’s-at-and-where-it-mi ght-be-heading-by-daniel-stein/; Zugriff: 11. September 2012]. 42 Batmans Fähigkeiten beruhen auf strengem physischem und mentalem Training, nahezu unerschöpflichen finanziellen Mitteln und raffinierten Technologien, nicht jedoch auf außerirdischer Herkunft (wie bei Superman), Mutation (wie bei den X-Men) oder atomaren bzw. gentechnischen Unfällen (wie bei Hulk oder Spider-Man), durch die sich die Kräfte und Fertigkeiten anderer Superhelden über menschliches Maß hinaus steigern.
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den-Figuren: »The answer is genre«,43 räumt aber sogleich ein: »But […] the superhero genre is not well defined.«44 Deshalb arbeitet Coogan eine Reihe von Genre-Konventionen heraus, die sämtlich nicht exklusiv bei Superhelden auftreten, aber eine spezifische Merkmalkombination darstellen. Entscheidend sei die Trias »mission-powers-identity«,45 also eine bestimmte Konfiguration aus altruistischer Pflichterfüllung, beträchtlichen Fähigkeiten und der Annahme einer durch Anzug oder Beinamen symbolisierten Superhelden-Rolle. Coogan fasst seine Darlegungen in einer synthetischen Definition zusammen: Demzufolge ist ein Superheld a heroic character with a selfless, pro-social mission; with superpowers – extraordinary abilities, highly developed physical, mental, or mystical skills, or advanced technology; who has a superhero identity embodied in a codename and iconic costume, which typically express his biography or character, powers, or origin (transformation from ordinary person to superhero); and is generically distinct, i. e. can be distinguished from characters of related genres (fantasy, science fiction, detective, etc.) by a preponderance of generic conventions. Often superheroes have dual identities, the ordinary one of which is usually a closely guarded secret.46
Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern: Tod oder Abwesenheit der Eltern, ein initiales (Kindheits-)Trauma, Vorbildfunktion bei gleichzeitigem rollenbedingten Outlaw-Status, unverrückbare moralische Grundsätze (wie z. B. Tötungsverbot), Gottähnlichkeit, sexuelle Askese und nicht zuletzt ein perpetuierter Kampf gegen bestimmte Superschurken sind weitere Charakteristika, die zahlreiche männliche wie weibliche Superhelden-Figuren kennzeichnen.47
43 Peter Coogan: »The Definition of the Superhero«, in: Haslem/Ndalianis/Mackie: Super/Heroes (Anm. 36), S. 21-36, hier S. 21. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 36, vgl. auch ebd., S. 24-28. 46 Ebd., S. 19. 47 Vgl. Reynolds: Super Heroes (Anm. 5), S. 12-16, sowie das Kapitel »Sex and Superheroes: Sublimated and Subversive« in Packer: Superheroes and Superegos (Anm. 39), S. 173-196. Die hier genannten Merkmale treffen in ganz ähnlichem Maß auch auf Figuren zu, die keine Superhelden sind, z. B. auf Joanne
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Letztlich bleiben solche Merkmallisten einem essenzialistischen Paradigma verhaftet, das durch Eingrenzung versucht, dem wahren Wesen der Superhelden auf die Spur zu kommen. Eine abschließende Definition ist auf diesem Wege jedoch kaum möglich, da in Zweifelsfällen und für eng verwandte Helden-Figurationen immer wieder neue Ein- und Ausschlusskriterien aufgestellt werden müssen. Dieses Dilemma konstatieren auch Stephan Ditschke und Anjin Anhut im ersten Teil ihres umfassenden Definitionsversuchs,48 setzen ihm jedoch alternativ zwei neue Ansätze entgegen: Im Anschluss an Lotman stellen sie Superhelden-Narrative als eine spezifische Konstellation unterschiedlicher semantischer Räume vor, die mit den gegensätzlichen Genre-Instanzen ›Superheld‹, ›Superschurke‹ und der ›etablierten Ordnung‹ besetzt sind, aber ineinander übergehen können, und zwischen denen sich wiederkehrende Konfliktmuster bilden.49 Aus einer narratologischen Perspektive heraus schlagen Ditschke und Anhut außerdem eine funktionelle Klassifikation der Superhelden anhand von deren »Grundorientierung« vor:50 Diese ergibt sich primär aus dem telos der Superhelden – positiv auf die Bewahrung des Guten oder negativ auf die Beseitigung des Bösen bezogen – und aus ihrem – natürlichen, affirmativen oder aversiven – Verhältnis zu den eigenen Kräften und den damit verbundenen Fähigkeiten und Verpflichtungen. Daraus folgen die Grundfigurationen ›Beschützer‹, ›Rächer und Jäger‹ und ›Zweifler‹.51 Derartige Muster-Narrative strukturieren jedoch nicht ausschließlich Superhelden-Geschichten, sondern sind allgemein kennzeichnend für mythische und Helden-Erzählungen; es gelten also ähnliche Einschränkungen wie für Coogans Superhelden-Definition. Um eine spezifische Differenz gegenüber Helden aufzuzeigen, soll hier deshalb abschließend eine Perspektive zur Bestimmung von Superhelden verfolgt werden, die stärker auf deren Ästhetik und mediale Verfasstheit fokussiert. Ausgangspunkt dafür
K. Rowlings Harry Potter. Daran zeigt sich das Abgrenzungsproblem, das die Wesensbestimmung von Superhelden erschwert. 48 Vgl. Stephan Ditschke, Anjin Anhut: »Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics«, in: Ditschke/Kroucheva/Stein: Comics (Anm. 35), S. 131-178, hier S. 134-140. 49 Vgl. ebd., S. 133 f. und 144-148. 50 Ebd., S. 150. 51 Vgl. ebd., S. 150-156.
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ist ein einfacher, aber bisher wohl zu wenig reflektierter Befund: Die beiden vorrangigen Medien der Superhelden – Comic und Film – beruhen auf Visualität. Zwar haben auch viele klassische Helden-Figuren sich in diesen Medien etabliert, umgekehrt jedoch kommen Superhelden in nicht-visuellen Medien kaum vor: Es gibt keine bedeutende Superhelden-Literatur.52 Superhelden sind an eine visuelle Darstellungsweise gebunden. Dies liegt zunächst an der mit literarischen Mitteln nicht zu erreichenden Unmittelbarkeit, mit der Film und Comic die dynamischen und raumgreifenden Ereignisfolgen der actionzentrierten Superhelden-Geschichten zu vermitteln vermögen. 53 Im Comic hat sich mit den splash pages – großen, aus dem sequenziellen Panel-Raster ausbre chenden Abbildungen – ein effizientes Abb. 2: Bane bricht Batman auf eiStilmittel zur Darstellung von Schlüsner ganzseitigen splash page das selmomenten solcher HandlungsverRückgrat. läufe herausgebildet (Abb. 2). Dane-
52 Superhelden eignen sich offensichtlich nicht als Helden von Romanen. Anders verhält es sich mit ihrer Geschichte und ihren Erschaffern: Der 2001 mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman The Amazing Adventures of Kavalier & Clay von Michael Chabon (New York 2000) verwendet biographische Details aus dem Leben verschiedener Pioniere des Superhelden-Comics, um dessen Entstehung nachzuzeichnen. Es handelt sich gleichsam um einen historischen MetaSuperhelden-Roman. Vgl. Friedrich/Rauscher: Amazing Adventures (Anm. 5), S. 11 f. 53 Die klassischen medientheoretischen Einschränkungen für die bildliche Darstellung einer Handlung in ihrem Zeitverlauf, die u. a. Lessing im Laokoon beschrieben hat, haben für die Bildergeschichten des Comics ihre Gültigkeit verloren, da sie durch die Sequenzierung einzelner Momentaufnahmen – konstitutives Prinzip der Bildergeschichte – und graphische Verfahren zur Abbildung von Handlungen und Prozessen (z. B. Bewegungsunschärfe) ausgeglichen werden.
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ben wurden graphische Verfahren eingeführt, die insbesondere Farblichkeit und Komposition der Bilder nutzen, um völlig unabhängig vom Sprechblasen-Text – und oft genug unter Verzicht darauf – subtile Wirkungen zu erzielen: Häufig wird die bürgerliche Gestalt eines Superhelden in leichter Aufsicht und aus der Nähe gezeigt, so dass der Betrachter aus etwas erhöhter Position auf die Figur hinabschaut, die dadurch kleiner erscheint; die superheroischen Einsätze werden hingegen vielfach in Untersicht und in der Totale vorgeführt, um den Eindruck von Größe und Kraft noch zu potenzieren. Desgleichen wird der Kontrast zwischen gesättigten Primärfarben und matten Sekundärfarben eingesetzt, um die farbig-strahlenden Superhelden-Kostüme von ihrer Umgebung abzuheben.54 Daneben gibt es bei manchen Figuren ganz eigene Gestaltungsregeln: An der Länge der Fledermaus-Ohren an Batmans Anzug erahnen Kenner den Geisteszustand des Superhelden.55 Solche visuellen Konventionen, die fast in allen Superhelden-Comics und -Filmen Einsatz finden, haben sich nicht selten zu charakteristischen Bildmotiven verfestigt, die die Individualität der Superhelden unterstreichen: Kein Spider-Man-Comic verzichtet darauf, den Protagonisten, am dünnen Spinnenfaden schwingend, beim rasanten Beinahe-Flug durch New Yorks Hochhausschluchten abzubilden; in Batman-Storys bricht mit Sicherheit eine dämonische Fledermaus durch die Nacht ins Licht; das ikonische S-Logo blitzt in jedem Superman-Heft unterm aufgerissenen Hemd hervor. Seine beiden mächtigsten Eigenschaften – Kraft und Flugfähigkeit – haben sich bei Superman zu einem weiteren regelmäßigen Motiv verbunden: Es zeigt ihn, wie er im Flug schwere Lasten über dem Kopf balanciert, und zitiert so das Cover der Erstausgabe (Beispiele in Abb. 3).
54 Die Bedeutung der Farbgebung und der damit verbundenen Ausdrucksabsichten verdeutlicht der Fall des von Alan Moore verfassten Batman-Comics The Killing Joke, der zunächst 1988 in der Kolorierung von John Higgins erschien. Da diese seinen Vorstellungen nicht entsprach, hat der Zeichner des Comics, Brian Bolland, zur Jubiläumsausgabe 20 Jahre später eine eigene Kolorierung vorgenommen, die er in einem Nachwort erläutert. Vgl. Allan Moore, Brian Bolland: The Killing Joke. The Deluxe Edition. New York 2008, »Afterword« o. S. 55 Vgl. Dath: Batman (Anm. 5), S. 5.
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Abb. 3: Motivrekurrenz bei Superman.
Die Visualität des Mediums dient auch dazu, inhärente Inplausibilitäten zu nivellieren, die im reinen Textmedium zur Störung der Fiktion führen könnten. So ist rein logisch zunächst einmal kaum nachvollziehbar, dass Superman, der keine Maske trägt, von den Bewohnern von Metropolis nicht als identisch mit Clark Kent erkannt wird. Doch die Comics erleichtern die suspension of disbelief, indem sie gestalterische Freiheiten nutzen und diesen in der Regel etwas schmächtiger zeichnen. Auch die Mimik trägt dazu bei: Superman hat wie die meisten anderen Superhelden fast durchgängig einen entschlossenen Gesichtsausdruck mit geschlossenem Mund und stark zusammengezogenen Augenbrauen, während Clark Kent oft mit gehobenen Brauen und geöffneten Lippen gezeigt wird (Abb. 4). Im Film wird dies meist als Kontrast zwischen den brav gescheitelten Haaren des Reporters und der in Abb. 4: Darstellungsunterschiede der Mimik zwidie Stirn hängenden Tolle schen Superman (l.) und Clark Kent. des Superhelden visualisiert. Der Verzicht auf eine Maske und die freundliche Farbgebung seines Kostüms setzen Superman in Kontrast zu Batman. Beide Figuren sind auch deshalb prototypische Superhelden, weil sie sich so stark voneinander unterscheiden und in ihrer Differenz ein großes Spektrum an möglichen Superhelden-Figurationen ausleuchten. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen ziviler und Superhelden-Rolle bei beiden genau umgekehrt: Während
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der eine, als Bruce Wayne geboren, durch Trauma und Entschluss zur Nachtgestalt wird, muss der andere, als der Kryptonier Kal-El geboren und als Außerirdischer auf die Erde gekommen, erst eine bürgerliche Existenzform finden. Entsprechend gegensätzlich ist die Kostümierung: Bruce Wayne wird durch Anlegen des Batsuit zum Dark Knight, während der Man of Steel seinen Anzug stets unter dem unscheinbaren Alltagsgewand eines Mauerblümchens verbirgt. So ist denn auch die Botschaft, die sie mit ihrer Superhelden-Gestalt vermitteln wollen, völlig konträr: Beabsichtigt Batman mit der Wahl der Fledermaus – vor der dem jungen Bruce Wayne einst selbst grauste –, bei den gejagten Gegnern Furcht und Schrecken zu verbreiten, will Superman durch sympathisches Äußeres das Vertrauen der von ihm Beschützten gewinnen.56 Kostüm und Maske dienen also nicht willkürlich zur Vermummung, sondern als Hinweis auf das individuelle Rollen- und Selbstverständnis der Figuren. Tatsächlich ist das visuell vermittelte Verhältnis von Maske und Identität ein weiteres wichtiges Merkmal von Superhelden. Aus der literarischen Tradition haben wir kaum Begriffe für diese Identitätsmodi der Superhelden; die behelfsmäßige Rede von einer ›dualen Identität‹ – aufgeteilt in Superhelden- und ziviles Ich – ist irreführend: 57 Superhelden-Figuren
56 Dies liegt auch daran, dass Superman und Batman unterschiedlichen Grundorientierungen im Sinne Ditschkes und Anhuts entsprechen, vgl. Ditschke/Anhut: Zur narrativen Struktur von Superheldencomics (Anm. 48), S. 152. Der Entschluss für ein bestimmtes Kostüm erfolgt oft, wenn die Figuren zum ersten Mal die Rolle eines Superhelden annehmen, und hängt fest mit deren Ursprung – ihrer origin story – zusammen. Solche Initiationsmomente sind daher Gegenstand wiederholter Interpretation in bekannten Comics; vgl. z. B. Joe Shuster, Jerry Siegel: »Superman«, in: Action Comics 1 (Juni 1938); Bill Finger, Bob Kane: »Batman«, in: Detective Comics 27 (Mai 1939); Frank Miller, Dave Mazzucchelli: Batman – Year One. New York 1987; Mark Waid, Leinil Francis Yu, Gerry Alanguilan: Superman – Birthright. The Origin of the Man of Steel. New York 2004, besonders Clark Kents Kostümierung S. 82 f. 57 In der Sekundärliteratur zu Superhelden ist das Alter-ego-Paradigma vorherrschend; auch Coogan: Definition of the Superhero (Anm. 43), S. 19, und Ditschke/Anhut: Zur narrativen Struktur von Superheldencomics (Anm. 48), S. 137, sprechen von »dual identities« bzw. »Doppelidentitäten«. Unhaltbar ist Ditsch-
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zeichnen sich ja dadurch aus, dass bürgerliche und superheroische Gestalt zwar unterschiedliche Rollen, dabei aber Elemente einer ungeteilten Identität sind und eine Einheit bilden.58 Die Maske mag innerhalb der Fiktion ein Mittel gegen die Aufdeckung der zivilen Existenz sein; für den Comic-Leser hingegen ist sie Ausweis für die Intaktheit des Superhelden: Der Superheld, der seine Maske nicht mehr trägt, hört auf, einer zu sein.59 Anders als die Larve des gemeinen Kriminellen hat die Maske des Superhelden keine Täuschungs-, sondern im Gegenteil eine indexikalische Funktion: als Hinweis auf beide Rollen seiner Identität.60 Dadurch werden Maske und Wesen des Superhelden untrennbar. Die Maske ist Bezeichnung und Abbild der Identität des Superhelden – statt sie zu verbergen, macht sie sie sichtbar.
III. S UPERHELDEN UND POSTHEROISCHE GESELLSCHAFTEN Die Geschichte und spezifische Ästhetik der Superhelden, deren ikonische Präsenz aus der westlichen Kultur nicht wegzudenken ist, zeigt, dass ›postheroische Dispositionen‹ im Sinne Münklers kulturell durchaus einhergehen können mit superheroischen Artefakten. Es lässt sich auf dem Gebiet des Heroischen also nicht nur eine ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ beobachten, wie sie Münkler bei der Entwicklung des Postheroismus im
kes und Anhuts Behauptung, Batman sei die »wahre Identität« (ebd.) von Bruce Wayne: Batman und Bruce Wayne sind zwei Seiten einer Identität. 58 Nicht von ungefähr gibt es auch Superhelden, die ihre bürgerlichen Namen aller Welt bekanntgegeben haben und diese deshalb nicht verbergen und beschützen müssen, etwa die Fantastic Four oder Iron Man/Tony Stark. 59 Vgl. dazu exemplarisch die Figur des Nite Owl in Watchmen. 60 Die Maskierung spielt auch bei der Entgegensetzung von Superheld und Superschurke eine Rolle: Batman etwa ist durch seinen einfarbigen Anzug deutlich vom knallbunten Aufzug des Jokers unterschieden. Unter diesem Gesichtspunkt war es ein guter Einfall Christopher Nolans, die Maske des Superschurken Bane für seinen Auftritt in The Dark Knight Rises etwas zu modifizieren: Während sie in den Comics sein gesamtes Gesicht verdeckt, verbirgt sie im Film nur genau jene untere Gesichtshälfte, die Batmans Maske freigibt, und vergrößert so den Kontrast zwischen ihnen.
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globalen Maßstab konstatiert, 61 sondern auch eine intrakulturelle Koexistenz konträrer Heldenvorstellungen. Vielleicht jedoch lässt sich dieser Gegensatz versöhnen: Obwohl sie in ihren Geschichten mit diesem Versprechen auftreten, sind Superhelden als kulturelles Phänomen wohl nicht im Sinne einer Potenzierung des Heroischen zu verstehen, sondern als dessen Kompensation. Mit ihrer Kombination von Identifikationsangebot und Fiktionalitätssignalen62 leiten die Comics das Bedürfnis nach Helden von der Wirklichkeit ab in die Fiktion.63 In einer Kultur, in der gelebtes Heldentum an Bedeutung verloren hat, bewahren die Superhelden diesem einen letzten akzeptierten Modus: den eines genuin ästhetischen Heroismus.
Bildnachweise Abb. 1: Frank Miller: The Dark Knight Returns. New York [1986] 2002, S. 55. Abb. 2: Doug Moench, Chuck Dixon, Jim Aparo u. a.: Batman – Knightfall. New York [1993] 2000, Bd. 1, S. 276. Abb. 3: Action Comics 1 (Juni 1983), Cover; Frank Miller: The Dark Knight Returns. New York [1986] 2002, S. 130; Mark Millar, Dave Johnson, Kilian Plunkett u. a.: Superman – Red Son. New York 2004, S. 22; Mark Waid, Leinil Francis Yu, Gerry Alanguilan: Superman – Birthright. The Origin of the Man of Steel. New York 2004, S. 50. Abb. 4: Jeph Loeb, Tim Sale u. a.: Superman For All Seasons. New York 1998, S. 41, 63.
61 Vgl. Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften (Anm. 1), S. 751 f. 62 Zahlreiche häufige Merkmale von Superhelden – außerirdische Herkunft, Superkräfte etc. – machen das Genre eindeutig als nicht-realistisches kenntlich. 63 Da Superhelden-Comics stets eine jugendliche Stammleserschaft hatten, findet diese Kanalisierung des Heroismus-Bedürfnisses in unschädliche Bahnen bezeichnenderweise primär bei jener Altersgruppe statt, die laut Münkler selbst in postheroischen Gesellschaften am stärksten für die Restitution heroischer Dispositionen anfällig ist. Vgl. Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften (Anm. 1), S. 751 f.
B. Repräsentation / Ästhetisierung / Inszenierung
Gemacht und dennoch wahr Die Präsenz des Helden auf der Leinwand* J OSEF F RÜCHTL
I. H EGEL ,
DIE
M ODERNE
UND DIE
K UNST
Beginnen möchte ich mit der Erinnerung an eine sozialphilosophische These. Sie lautet, dass Helden im Zeitalter der Moderne keinen rechten Platz mehr im gesellschaftlichen Gefüge finden. Modern nennt man in diesem Zusammenhang eine Epoche, die durch rechtsstaatliche Gewaltenteilung, individuelle Freiheit und ökonomische Arbeitsteilung gekennzeichnet ist. Hegel, der sie Anfang des 19. Jahrhunderts als Erster in diesem Sinne konzipiert hat, nennt sie auch »prosaisch« und stellt ihr als anderes Extrem das »mythische« Zeitalter gegenüber. In der Moderne geht es rational, nüchtern und alltäglich zu. Der ihr angemessene Erzählton ist der der Prosa, nicht mehr derjenige des Epos, der Tragödie, der Lyrik, auch nicht des Romans. Die Moderne lässt sich überhaupt nicht mehr in der Kunst erklären, sondern nur noch in der Wissenschaft und der wissenschaftlich gewordenen Philosophie. Max Weber spricht später, Anfang des 20. Jahrhunderts, von der »Entzauberung«, die die Moderne über die abendländische Kultur bringt.1 *
Dieser Beitrag ist die gekürzte und veränderte Fassung eines Kapitels meines Buches: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films, das 2013 im Fink Verlag erscheint.
1
Vgl. dazu Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt a. M. 2004, S. 67 ff., 134 ff. Der Konflikt und die Tendenz zur Exklusion zwischen Bürger und Held ist allerdings nicht nur eine Erfindung
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Wiesenlandschaften mit Bächlein und Birken beherbergen keine Feen und Geister mehr, die in Märchen und romantischen Gedichten verträumt besungen werden. Sie werden wohl noch besungen, aber niemand kann im Ernst noch an sie glauben. Das ist die Situation der Kunst in der Moderne: Nach wie vor singt sie ihre Lieder, erzählt sie verzaubernde Geschichten, malt sie Schreckfiguren und Symbole an die Wand oder auch nur auf eine Leinwand, aber niemand kann sie mehr als Wahrheit, geschweige denn als die Wahrheit nehmen, zumindest nicht ungebrochen. Moderne Kunst ist gemacht, aber nicht mehr wahr. Und genau das ist, Hegel, aber auch Weber zufolge, zugleich die Situation des Heroischen in der Moderne. Es gehört als Handlungsweise und Charaktermodell der Vergangenheit an, der vormodernen, sprich noch nicht rechtsstaatlich-demokratischen, bürgerlichen und kapitalistischen Zeit. Einen Platz kann das Heroische nach dem Ende des mythischen Zeitalters und erst recht innerhalb der Moderne nur noch in zweifacher Weise innehaben: zum einen unter den außergewöhnlichen Bedingungen einer Revolution oder eines Krieges, zum anderen aber, unter Bedingungen des gewöhnlichen Lebens, allein innerhalb der Kunst, also in jenem Medium, das als Wahrheitsmedium immer weniger zeitgemäß erscheint. In nachheroischen Zeiten ist der Platz der Helden in der Kunst. Denn nicht nur beziehen wir unser Wissen von Helden zunächst allein aus der Kunst, aus dem antiken Epos und der Tragödie, sondern es gibt, was für Hegel noch bedeutsamer ist, auch eine strukturelle Übereinstimmung zwischen Kunst und Heldentum. Wie der Held etwas Allgemeingültiges verkörpert, präsentiert der
Hegels. In der Literatur und gesellschaftstheoretischen Essayistik ist dieses Thema seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu vernehmen. So beklagt Schiller in der Hauptfigur seiner Räuber das »schlappe« aristokratische »KastratenJahrhundert«, zu nichts nutze, als »die Helden des Altertums zu verhunzen mit Trauerspielen«. In Jean Pauls Titan sehnt sich ein bürgerlicher Protagonist nach »Krieg und Taten«. Und Kleist schreibt ganz im Sinne Hegels, dass »alle großen Tugenden unnötig« geworden sind, »seitdem man die Ordnung erfunden hat.« – Aus gendertheoretischer Perspektive hat Mareen van Marwyck den Heroismus analysiert und den Akzent dabei interessanterweise auf die Anmut als weiblich konnotierte Gewaltästhetik gelegt, vgl. dies.: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010, dort auch die Zitate von Schiller, Jean Paul und Kleist (S. 44).
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Künstler etwas Allgemeingültiges in seinen Werken. Der Held ist die Personifizierung eines sozial-kulturellen Ganzen, ein Individuum, das eine Gemeinschaft verkörpert, eine volonté générale. Der Künstler ist entsprechend der Held einer im Werk zur Erscheinung gebrachten sozial-kulturellen Wahrheit. Er bringt eine ›Idee‹, das heißt begriffene Wirklichkeit zur Erscheinung. Für nachheroische und vorbürgerliche Zeiten, vor allem für die griechische Antike, ist das Hegel zufolge eine durchaus angemessene Beschreibung artistischer Kompetenz, keinesfalls aber mehr für bürgerliche Zeiten. Gleichwohl hat diese Vorstellung, kunsthistorisch gesehen, gerade seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Kampfbegriff der Avantgarde das Selbstverständnis der ästhetischen Moderne in zunehmender Aggressivität, weil in zunehmender Aussichtslosigkeit, geprägt. Wenn der Platz des Helden in der Kunst ist und diese in der Moderne nicht mehr ein Ort der Wahrheit sein kann, ist auch die Figur des Helden ohne Überzeugungskraft: gemacht und unwahr.
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Sozialphilosophisch gesehen, hat das Heldentum also in nach-mythischen, speziell in modernen Zeiten seinen legitimen Platz in der Kunst und populären Kultur. Diese These lässt sich heutzutage durch eine soziologische ergänzen. In einer im Sinne Max Webers oder Parsons’ und Luhmanns ausdifferenzierten Gesellschaft bieten sich dem Heldentum verschiedene Subsysteme an, neben der Kunst und Unterhaltungskultur etwa Politik, Religion und Wissenschaft. Zum »zentralen Heldensystem der modernen Gesellschaft« ist aber der Bereich des Sports, genauer des Spitzensports aufgestiegen. Er ist »der einzige Sozialbereich, der real existierende Helden noch in einer ungefährlichen und sozial weithin akzeptierten Weise hervorbringen kann«.2 Man muss betonen, dass es in diesem Bereich in der Tat um real existierende Helden und zunehmend auch Heldinnen geht, denn jener Bereich, der, wie von Hegel bereits behauptet, unter Bedingungen der Moderne als einziger Anspruch auf Konkurrenz erheben könnte, nämlich derjenige der Kunst oder, weiter gefasst, der populären Kultur, hat es vor allem
2
Karl-Heinrich Bette: »Ein Jahr im Heldenkosmos«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Dezember 2009.
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mit irreal existierenden Heldinnen und Helden zu tun, Heldinnen und Helden, die real sind, als Schauspieler, Popstars und Entertainer existieren, und doch nicht real sind, denn ihr primäres Dasein läuft auf einer zweiten Ebene ab, derjenigen der Filmleinwand oder des Fernsehbildschirms. Diese irrealen heroischen Existenzen nennen wir ›Stars‹. Es ist kein Zufall, dass diese Bezeichnung mit dem Medium Film Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommt, auch wenn man nicht vergessen sollte, dass das Starprinzip bereits im 19. Jahrhundert Einzug hält. Das Denken in Begriffen des Könners und Helden wird dort auf das Theater übertragen. Der »Virtuose« und »Bühnenheld« ist der Star des 19. Jahrhunderts.3 Bis heute sind für den Star unter anderem diese Elemente kennzeichnend: etwas zu können und auf einer Art von Bühne zu stehen. Ein Könner zu sein heißt, ein Meister der Regelanwendung zu sein. Könner beherrschen Regeln souverän. Sie wenden sie mit scheinbarer Leichtigkeit und auf eine Weise an, die überrascht, etwas sehen und hören lässt, was man auf diese Weise noch nie gesehen oder gehört hat. Die Art, wie Marilyn Monroe mit cremig-weicher, lasziver Stimme, leichtem Vibrato und großen, traurigverwirrten Kinderaugen »I wanna be loved by you« singt und das genregemäße »boop-boop-a-doop« anhängt; die Art, wie Urban Priol sekundenschnell seine Gesichtszüge, Körperhaltung und Stimme auf Angela Merkel, Edmund Stoiber oder Hansi Hinterseer, allesamt Stars der deutschen Politik und deutsch-österreichischen Unterhaltung, umstellen kann; die Art, wie Franz Beckenbauer einen Pass aus dem Fußgelenk heraus schlenzen, Diego Maradona sich am Mittelkreis diebisch den Ball schnappen und dann in einem Slalomlauf an allem vorbeiziehen konnte, was sich ihm in den Weg stellte, und die Art schließlich, wie Zinedine Zidane kräftig und elegant wie ein Stier durch die Fußballarena tänzeln konnte4 (unvergesslich das Spiel
3
Vgl. Werner Faulstich: »Sternchen, Star, Superstar, Megastar, Gigastar. Vorüberlegungen zu einer Theorie des Stars als Herzstück populärer Weltkultur«, in: ders.: Medienkulturen, München 2000, S. 201-212, hier S. 204, mit Verweis auf Knut Hickethiers Aufsatz: »Vom Theaterstar zum Filmstar. Merkmale des Starwesens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert«, in: Werner Faulstich, Helmut Korte (Hg.): Der Star. Geschichte – Rezeption – Bedeutung. München 1997, S. 29-47.
4
So hat ihn meiner Erinnerung nach der spanische Autor Manuel Vázquez Montalbán beschrieben.
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Frankreich gegen Brasilien bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, als die brasilianischen Fußballstars, wie ein Sportjournalist treffend bemerkte,5 neben Zidane herliefen wie Hündchen an der Leine, die es nicht wagten, das französische Leittier anzugreifen, denn die Strafe der Blamage folgte, im doppelten Sinn des Wortes, auf dem Fuß) – all dies sind Beispiele, die den Star als Könner, als Souverän in einem Reich von Regeln vorführen.6 In der Sprache des Bürgertums ist er ein Repräsentant des Leistungsprinzips. Deshalb gehört der Star, ganz anders als der Held, zur bürgerlichen Moderne. Er profiliert sich, hebt sich hervor und verschafft sich ein Profil durch Leistung. Und dieses Prinzip gilt in keinem Subsystem der modernen Gesellschaft so rein wie im Spitzensport. Es gibt insofern einen Konflikt zwischen dem Star- und dem Heldenprinzip. Aber der Könner ist nichts, als Star nicht existent, wenn er nicht auf einer Bühne erscheint. Ein, wie man so sagt, »Leistungsträger«, der das Scheinwerferlicht der Medienöffentlichkeit scheut – ein Fußballspieler, der nicht in einem vollen Stadion und vor Fernsehkameras spielen will, oder ein Schriftsteller, der es ablehnt, Interviews zu geben und sich fotografieren zu lassen –, eignet sich nicht zum Star.7 Das Zeitalter der technologischen Reproduzierbarkeit, die Epoche von Zeitung, Fotografie, Fotozeitschrift, Radio, Film, Video und schließlich Internet, kommt dieser Anforderung
5
Vgl. Michael Eder: »Gegen Magier Zidane schrumpfen Brasiliens Stars zu Zauberlehrlingen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Juli 2006.
6
Das gilt allerdings nicht für die kurzlebigen Stars aus der Alltagswelt, die das Reality-TV und die Casting-Shows bevölkern. Sie gehören zu den »weitgehend selbstreferentiell erzeugten Medienprominenten – ohne besondere Leistung, ohne spezifische Kompetenz, ohne eine per se Interesse weckende gesellschaftliche Stellung (ein hohes Amt, einen berühmten Namen)«. Alle diese – in uneigentlicher Redeform sogenannten – ›Stars‹ werden in der Regel schnell wieder vergessen. Sie sind medial-selbstreferentiell erzeugt insofern, als die »wirklichen Gewinner« solcher Shows »die Produzenten, Manager, Juroren und Moderatoren« sind. »Das Ziel einer Casting-Show ist eine Casting-Show« (Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke: Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Köln 2010, S. 21 (gekürzte Fassung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. August 2010).
7
Es gibt natürlich auch hier Ausnahmen. In der Literatur gehört Thomas Pynchon zu ihnen. Aber die Ausnahmen bestätigen die Regel.
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entgegen. Und wiewohl Stars ein eigenes Können mitbringen, kann man sie mit Blick auf ihre hochgradige Abhängigkeit von der Öffentlichkeit Publicityparasiten nennen, Wesen, die sich in dem multiplen, pseudo-organischen Gewebe namens Öffentlichkeit einnisten und nur so lange existieren, als dieses Gewebe sie mit Aufmerksamkeit versorgt, was aber nicht funktioniert, ohne in das Gewebe umgekehrt eine Integrationsleistung einzuspeisen. Auch Stars verkörpern, wie Helden, etwas Allgemeines, gruppenspezifische Werte und Normen. Anders ließe sich ihr Erfolg nicht erklären. Sie sind also Publicityparasiten mit eingebauten symbiotischen Effekten. Eine Leistung auf einer Bühne zu erbringen, reicht aber ebenfalls noch nicht aus, um Starqualität zu verleihen. Als ein drittes Element muss zumindest hinzukommen, über so etwas wie eine Aura, gewiss aber über ihren säkularen Nachfolger, nämlich Image, zu verfügen. Walter Benjamin hat Aura definiert als lokale und instantane Erscheinung einer Ferne, einer Unnahbarkeit im räumlichen wie epistemologischen Sinn, als Unberührbarkeit und Unerklärlichkeit. Seiner grundsätzlich und daher grob gehaltenen Einteilung zufolge gehört die Aura dem historischen Stadium einer traditionsverhafteten Kultur an, die sich ihre ursprüngliche Ausformung in Religion, Ritual und Kult gibt und bis in die bürgerliche Epoche und ihre Lehre von der Autonomie der Kunst hineinwirkt. Filmstars können daher keine Aura haben, jedenfalls nicht auf der Leinwand. Die kapitalistisch organisierte Filmindustrie antwortet darauf aber, so Benjamins schlichte Konstruktion, »mit einem Aufbau der ›personality‹ außerhalb des Ateliers«. Wiewohl also das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit den »Kultwert« zugunsten des sogenannten »Ausstellungswerts« zurückdrängt, beweist der »Starkult«, dass es erfolgreiche Konservierungsmechanismen gibt. Der Starkultus »konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht«.8 Stars sind demnach Waren, die ihren eigenen Zauber, ihren eigenen »Fetischcharakter« (Marx) produzieren. Sie sind, kurzum, ein Produkt des Kapitalismus. Hält man sich statt an das Konzept der Aura sogleich an das des Image, kann man den Star schlichtweg als eine Person begreifen, die über eine
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Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/2: Abhandlungen. Frankfurt a. M. 1974, S. 492; vgl. ebd., S. 479 ff., 489.
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(charakterisierende und verwertbare) Darstellung in der Öffentlichkeit verfügt. Spätestens seit den 1960er Jahren geht das Image dabei eine innige Verbindung mit der Popkultur ein, denn ›pop‹ ist seither, wer oder was über ein Image verfügt, ein massenwirksames, konsumistisches und entsprechend verwertbares Selbstbild, das aufgebaut ist vor allem aus technisch produzierten und ästhetisch-expressiven (›knalligen‹) Bildern.9 Das Element des Image widerstreitet insofern demjenigen der Leistung, denn wichtiger als das, was gewisse Personen, die Stars, wirklich können – Fußball spielen, Gitarre spielen, singen oder laufen –, wichtiger ist das Image, das sie verbreiten. Ihre überdimensionalen Gehälter und Gagen lassen sich von daher begreifen. Eine Leistung will in einer Marktgesellschaft bezahlt sein, das Image ist eigentlich unbezahlbar.
III. P HILOSOPHIE
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Sport ist auch ein Ausgangspunkt für einen Theoretiker, dem es gefällt, sich als Komparatist zwischen den Disziplinen der Geisteswissenschaften, zwischen Literaturwissenschaft, Geschichtsschreibung und Philosophie zu bewegen und dabei auch keine betuliche Rücksicht mehr zu nehmen auf die bürgerlich-vertraute Zweiteilung von hoher und niederer Kultur. Ich meine Hans Ulrich Gumbrecht, der – das ist für meinen Kontext entscheidend – zudem einen Begriff reaktualisiert, der in der jüngsten Vergangenheit – man nannte sie Postmoderne – sehr in Verruf geraten ist: der Begriff der Präsenz. Nachdem dieser Begriff durch Edmund Husserl eine gewisse Bedeutung auch im Sinne der Relevanz erhalten hat, da Husserl Philosophie als Phänomenologie konzipiert und Phänomenologie als die Wissenschaft vorstellt, die Phänomene in ihrer Reinheit unmittelbar, das heißt intuitiv und apodiktisch gewiss, mit einem Wort: in ihrer »Präsenz« erfasst, hat Jacques Derrida diese Art des philosophischen Denkens mit dem gesamten abendländischen Denken identifiziert und es als »Metaphysik der Präsenz« diskreditiert. Sie habe das Sich-nicht-Zeigende nicht oder, mit Blick auf Martin Heidegger, nicht genug bedacht. Was Derrida différance oder »Spur« nennt, bedeutet demgegenüber das permanente Aufschieben von Präsenz. Différance meint weder Präsenz noch Absenz, sondern geht die-
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Vgl. Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts. Bielefeld 2009.
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sem Oppositionsverhältnis voraus. Diesem Muster folgt das inzwischen hinlänglich bekannte dekonstruktivistische Sprachspiel. Natürlich hat dieses Sprachspiel einen ernst zu nehmenden Kern. Den Begriff der Präsenz heute zu reaktualisieren, kann nicht gelingen, wenn man auf Derridas, man kann aber auch hinzufügen: Hegels Argumente gegen Thesen der Unmittelbarkeit nicht eingeht. Gumbrecht erweckt zwar immer wieder den Eindruck, als wolle er sich handstreichartig über diese Argumente hinwegsetzen. Dann wiederholt er beinahe beschwörend, dass es bei der anvisierten Präsenz um eine räumliche und sinnlich-körperliche, nicht um eine zeitliche und mentale Beziehung zu den Dingen und Ereignissen gehe, um den Primat nicht der Begreifbarkeit, sondern der Greifbarkeit.10 Aber Gumbrecht weiß natürlich, dass es zunächst einmal nur ein »Verlangen« nach Unmittelbarkeit ist, dem er Sprache verleiht, noch lange kein Beweis.11 Ein Verlangen, eine sehnsüchtige und hartnäckige Form von Glauben, macht philosophisch nicht selig. Und der Wunsch mag zwar Vater des Gedankens sein, ist aber nicht mit dem Gedanken identisch. Philosophisch gesehen, steht diesem Glauben markant Hegels Kritik an der »sinnlichen Gewissheit« entgegen als einer Form des unmittelbaren Wissens, das sich auf die deiktische Verweisung auf ein »Dieses« kapriziert, auf ein »Hier« und »Jetzt«, das sich aber immer wieder als etwas »Vermitteltes« erweist, in einem notwendigen Zusammenhang mit dem stehend, was es ausschließt. Entsprechend konstatiert auch Gumbrecht, dass das Unmittelbare nur vor jeglicher Vermittlung, die Präsenz nur vor jeglicher Interpretation gegeben zu sein »scheint«, dass man »letzten Endes« zwischen Präsenz und Interpretation »oszillieren« und eine »Spannung« zwischen beiden austragen müsse.12 Die Frage ist freilich immer noch, wie diese Spannung genauer zu beschreiben sei: mit einem relativen Primat einer Seite oder als gleichgewichtig. Um diesbezüglich mehr Deutlichkeit zu schaffen, holt Gumbrecht sich Unterstützung bei Martin Heidegger, denn dieser hat mehr oder weniger einladende Vorschläge gemacht, um das alte, cartesianisch geprägte Para-
10 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004, S. 10 f. 11 Ebd., S. 11 f.; zu Hegel vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Phänomenologie des Geistes«, in: ders.: Werke. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1970, S. 82 ff. 12 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik (Anm. 10), S. 12, 98, 136.
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digma des Subjekt-Objekt-Denkens hinter sich zu lassen. In seinem bahnbrechenden Werk Sein und Zeit lautet der Gegenvorschlag auf das »In-derWelt-Sein« des »Daseins«. Natürlich kommt die raum-deiktische Vorsilbe »da« im Wort »Dasein«, mit dem Heidegger die menschliche Existenz beschreibt, Gumbrecht entgegen. Dennoch erstaunt ein wenig, dass er sich vorbehaltslos auch auf diesen Heidegger beruft, hat dieser doch in jener Phase die hermeneutische Transformation der Phänomenologie zu seinem Anliegen gemacht, indem er zeigen will, dass das behauptete direkte Wahrnehmen der Phänomenologie durch das Verstehen zu ersetzen ist, wobei Verstehen allerdings heißt, etwas ›als‹ etwas zu sehen, etwas vorprädikativ und insofern grundlegender denn allein prädikativ zu sehen, etwas als ›Bedeutsames‹ zu sehen. Verstehen konstituiert also in Sein und Zeit die Seinsverfassung des Daseins. An die Stelle eines Objekte beobachtenden Subjekts tritt ein verstehendes Dasein in einer (symbolisch strukturierten) Welt. Verstehen ist nicht das Gegenkonzept zur Präsenz, sondern das Zwischenkonzept zwischen unmöglicher phänomenologischer Präsenz und sprachlich artikuliertem Verstehen. Ausschlaggebend ist dabei, dass das Dasein jenes besondere Sein ist, dem es um sein Sein selber geht, und das heißt post-idealistisch: das sich zu seinem Sein verhalten kann. Das Verständnis seiner selbst ist praktisch. Sein und (vorprädikativer) Sinn sind insofern identisch. Man kann es nicht vom hermeneutischen Akt des Verstehens abtrennen, dieses Verstehen aber verfährt nicht prädikativ, sondern praktisch. So sieht das Oszillieren zwischen Sinn und Sein beim frühen Heidegger aus. Es steht unter dem Primat der Praxis. Gumbrecht bezieht sich aber auch auf den späteren Heidegger, vornehmlich denjenigen des Kunstwerk-Aufsatzes. Hier ist das Konzept des Seins als eines Wahrheitsgeschehens zentral. Wahrheit ist demnach ein »Geschehen« im Sinne einer Doppelbewegung des »Entbergens« und »Verbergens«. Im Hintergrund steht Heideggers berühmte, allerdings nach wie vor umstrittene etymologische Deutung des griechischen Terminus aletheia als Unverborgenheit, die er dem Korrespondenzbegriff der Wahrheit entgegenhält, nach der eine Aussage wahr ist, wenn sie der Wirklichkeit ›entspricht‹ oder mit ihr ›übereinstimmt‹ (ihr adäquat ist). Betont Heidegger in seinen frühen Schriften die aktive, entbergende Seite der Wahrheit, das »Erschließen« der Situation, tritt mit den späteren Schriften eine Gleichwertigkeit von Unverborgenheit und Verborgenheit hervor. Heideggers Wahrheitsbegriff ist zwar notorisch unterbestimmt, wenn es um Kriterien
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der Überprüfung von Wahrheit geht13, aber wenn man diesen Wahrheitsbegriff in Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus und Kulturalismus interpretiert, wird sein berechtigtes Anliegen verständlich. Um nämlich etwas (in seinem Sein) erfahren zu können, muss man es als eines, als ein Etwas identifizieren, und das heißt aus dem Kontinuum des Erfahrungsstroms herausheben können. Diese konstruktive Identifizierung erfolgt durch praktische oder linguistische Bezugnahme. Da beide Referenzformen kulturell bestimmt (wenn auch nicht zwingenderweise determiniert) sind, lässt sich das Sein von Dingen und Ereignissen nur innerhalb einer kulturellen Semantik aussagen. Auf der anderen Seite kann das Sein, das wir meinen, wenn wir von (begriffsloser, allein sinnlich-körperlich erfahrbarer, unmittelbarer) Präsenz sprechen, nur außerhalb dieses kulturellen Bereichs liegen. Im Kunstwerk-Aufsatz beschreibt Heidegger diese Spannung als den »Streit« zwischen »Welt« und »Erde«, zwischen demjenigen, das sich als Bedeutungszusammenhang zu erkennen gibt, und demjenigen, das sich jeglicher Bedeutungszuschreibung entzieht. Es ist diese Spannung, die verständlich macht, warum der Versuch, die Wahrheit über etwas zu sagen, eine fortwährende Doppelbewegung sein muss: hinein in den Bereich der Kultur, ihrer Praktiken und ihrer Sprachformen, und wieder hinaus.14 Das Oszillieren zwischen Innen und Außen, Sinn und Präsenz ist in diesem Falle streng paritätisch. Gumbrecht bevorzugt aus gutem Grund Heidegger als philosophischen Inspirator. Es ist meiner Meinung nach aber nicht schwer zu zeigen, dass ein Philosoph und politischer Gegner wie Adorno mit dem gleichen Problem ringt. Mit der These vom »Vorrang des Objekts« versucht dieser, auf seine Weise die Frage zu beantworten, wie dem Sein, das nun auf den Namen des »Nichtidentischen« hört, inmitten des identifizierenden Denkens zur Geltung verholfen werden könne.15 Und er macht mit dieser These deutlich deutlich, dass es trotz aller Vermittlung, trotz der Unabweisbarkeit der These, dass es ein Unmittelbares nicht geben könne, nicht damit getan
13 Vgl. Dorothea Frede: »Stichwort: Wahrheit. Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung«, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2003, S. 127-134, hier S. 127 ff. 14 Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik (Anm. 10), S. 90 f., 95 ff. 15 Vgl. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a. M. 2003, S. 184 ff.
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ist, sich mit einer Parität zwischen beiden Polen zufriedenzugeben. Der Sinn des Oszillierens zwischen Sinn und Präsenz ist vielmehr Präsenz.
IV. ÄSTHETIK
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Die Verbindung zwischen einer Philosophie der Präsenz und dem Sport liegt nun auf der Hand. Ein sportliches Ereignis mitzuerleben oder gar selber aktiv daran teilzunehmen, ein Fußballspiel im Stadion oder auf einem Fernsehbildschirm zu verfolgen oder selber mitzuspielen16 – das ist ein Paradebeispiel für das Erleben oder Erfahren (Gumbrecht bevorzugt den Begriff des Erlebens) von Präsenz. Denn in einem solchen Fall lassen wir uns, wie in allen Fällen des Spielens und Miterlebens, wenn sie nur intensiv genug sind, ganz auf das ein, was gerade geschieht. Im Spiel und im Sport herrscht der Primat der Präsenz über den Sinn. Freilich ist dies kein uneingeschränkter Primat. Denn zum einen zehrt das Sich-Einlassen auf das, was gerade geschieht, von der Erinnerung an das, was schon geschehen ist, und der Hoffnung auf das, was noch geschehen könnte. Vergangenheit und Zukunft lassen sich von der Gegenwart auch im Falle des Erlebens nicht abtrennen. Als Zuschauer, als (innerlicher) Mitspieler geht man in dem, was gerade geschieht, umso mehr auf, je mehr man weiß, dass die Zeit mit im Spiel ist. So intensivieren die 89. und dann
16 Ein Fußballspiel in einem Stadion oder auf einem Fernsehbildschirm (oder auf einer Großleinwand) mitzuerleben, ist natürlich unterschiedlich. Im Stadion herrscht die Einheit von Zeit, Ort und Handlung, auf dem Bildschirm oder der Leinwand nicht, denn die Zuschauer sind nicht am Ort der Handlung. Daher ist die körperliche Nähe und somit, laut Gumbrecht, die Möglichkeit der Präsenzerfahrung im Stadion größer. Auch bietet das Stadion die überwältigende (beeindruckende und potentiell gewalttätige) Massenerfahrung. Großleinwandevents vermögen das einigermaßen auszugleichen. Das Fernsehen macht die fehlende körperliche Nähe schließlich durch visuelle Nähe und Dynamisierung des Geschehens wett. Zwanzig Kameras und mehr sind heutzutage bei Übertragungen im Einsatz. In einem Wechsel von Totale, Close-up und Superzeitlupe zelebrieren und vergrößern sie im wörtlichen wie übertragenen Sinn die Handlungen der Akteure. Ihr intendierter Effekt ist die Heroisierung – des Körpers, des Könnens, des Charakters.
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die 90. Minute eines Fußballspiels noch einmal das Erleben, jedenfalls stets dann, wenn das Spiel noch nicht entschieden, wenn eine Wendung zum Guten, zum Sieg oder wenigstens zur vereitelten Niederlage noch möglich ist. Das Gegenwärtige zu erfahren, erfordert Zeit in ihrer einschlägigen Dreidimensionalität. Die Intensität des Erlebens lebt von der Extension der Zeit. Zum Zweiten kann die Präsenz der Stars und manchmal auch Helden auf dem Spielfeld, dem Bildschirm und der Großleinwand auch eine andere Qualität annehmen, eine ästhetische zum Beispiel. Eine ästhetische Erfahrung von Präsenz ist anders und mehr als die (bloße) Erfahrung von Präsenz. Über das öffentliche Schauspiel des modernen Sports kann man ganz lapidar sagen: »Das ist keine Kunst und soll keine Kunst sein; das hat keine [veritative, J.F.] Bedeutung und soll keine haben.« Im Falle der ästhetischen Erfahrung, des ästhetischen Erlebens oder Wahrnehmens – diesen Begriff bevorzugt Martin Seel – geht es demgegenüber nicht nur darum, sich auf die Gegenwart, auf das, was in jedem Augenblick passiert, einzulassen, sondern es geht zugleich auch um das »Bewusstsein« bzw. – eine kantianische Gleichsetzung – um die »Anschauung« einer Gegenwart.17 Das ästhetische Erleben von Präsenz spielt sich demnach also auf einer hinzukommenden zweiten Ebene, einer Meta-Ebene ab. Sie stellt sich sozusagen in Parallele zur Gegenwart ein, und das kann gleitend oder abrupt geschehen. In der Sprache der klassischen Ästhetik gesprochen, kann es ein Geschehen von Schönheit oder Erhabenheit sein. Als Zidane beim Weltmeisterschaftsendspiel vor vier Jahren einen italienischen Gegenspieler (sein Name sei Schall und Rauch) mit einem Kopfstoß niederstreckte, war die Wucht dieses Stoßes zugleich eine des Erlebens: ein Riss in der Gegenwart, der sich im ungläubigen Blick des Zuschauers und der verwirrten Fragenfolge spiegelte: ›Was war das? Habe ich richtig gesehen? Kann das wirklich wahr sein?‹ Um schließlich, als die Wahrheit unabweislich war, nachzusetzen mit der großen Warum-Frage: ›Warum hat er das getan?‹ Jede Frage wirkt wie ein Katapult, das im Stakkatorhythmus die gesamte
17 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München, Wien 2000, S. 218 f. – Auch Kant setzt unter dem Oberbegriff der »Betrachtung«, dem deutschen Wort für »Kontemplation«, Anschauung und Bewusstsein (bei ihm heißt es »Reflexion«) gleich, vgl. Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Bd. 4: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1957, § 2 und § 5.
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Situation wie mit einem Schlag in nichts weniger als in eine Situation des Erhabenen versetzte.18 In diesem Augenblick wurde Zidane denn auch vom Star zum Helden. Er hat die Regeln des Spiels nicht mehr nur meisterlich angewandt, sondern sie durchbrochen. Und das gehört zu den Eigenschaften, die Helden auszeichnen. Sie durchbrechen Regeln, was sie in gefährliche Nähe zu Verbrechern bringt. Deshalb sind unsere Gefühle ihnen gegenüber immer ambivalent; wir bewundern sie nicht nur, sondern fürchten sie auch. Eine spezifische Beschreibungskategorie für Phänomene ästhetischer Präsenz hat jüngst Karl Heinz Bohrer vorgeschlagen. In einer kritischen Wendung gegen meine Analyse des Films als einer »Allegorie moderner Subjekttheorie«, nach der bestimmte Genres (der Western, das crime movie, der Science-Fiction-Film) sozusagen lesbar werden als Ausdrucksformen der Figur des Helden in der Moderne, die genauer gesagt eine nicht-einheitliche, stratifikatorische Moderne ist (auf die Frage, was uns an diesen Genres fasziniert, antworte ich: Es ist die Faszination des Ich, des Ich in seiner mittlerweile dreifach ausdifferenzierten, nämlich klassisch-begründenden, agonalen und hybriden Dimension), in einer Kritik also an dieser philosophisch-theoretischen Zugangsweise insistiert Bohrer in einschlägig bekannter Weise auf dem ästhetischen Eigenwert der Figur des Helden, auf seinem »fiktional ästhetischen Status«, seinem, wie auch er nun sagt, »Erschei-
18 Wer das Leben und damit auch den Fußball aus der Perspektive eines Liebhabers der dramatischen Weltliteratur sieht, kann das Ereignis vom 9. Juli 2006 im Berliner Olympiastadion auch als »ein Schauspiel von fast vollkommener Trostlosigkeit« und daher im erhebenden Sinn nicht als erhaben beschreiben (Benjamin Henrichs: »Endspiel«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5./6. Juni 2010). Wie in einem Drama wird aus einem winzigen Anlass (ein tumber italienischer Abwehrrecke zupft am Trikot des »französischen Fußballhalbgotts«) ein »gewaltiger Schrecken«. Weil die Zuschauer das Ganze aber aus sicherer Distanz verfolgen, ist der Schrecken lediglich einer der Wahrnehmung, nicht der Existenz. Und eben das macht ihn ästhetisch-erhaben. Und schließlich konzediert auch der Autor der Fußballeloge, dass es in Szenen wie dieser doch auch um den »ewigen, metaphysischen Zweikampf zwischen Gut und Böse« gehe, ein Zweikampf, für den niemand mehr als Helden und ihre Parasiten prädestiniert sind.
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nungs-« und »Präsenzcharakter«.19 Um ihn fassbar zu machen, konzentriert Bohrer sich in einer Analyse des Westernfilms auf die formalen Aspekte des Rituals (des Duells) und der Geste (des Gehens). Entsprechend kann er das »Schreiten« Henry Fondas, das »Vorwärtsstürzen« John Waynes und das »laszive Gehen« Robert Mitchums herausstellen. Bewegungsstil und Gestik von Schauspielern herauszustellen, um die Wirkung ihrer Präsenz auf der Leinwand zu erklären, ist sicher naheliegend. Denn Präsenzphänomene, darin ist Gumbrecht zuzustimmen, sind an die Körperlichkeit der Phänomene gebunden. Philosophisch und ästhetisch führt aber eine formale Analyse der Gestik weiter. Eine solche Analyse hat, der ontologisch-hermeneutischen Tradition folgend, Gottfried Boehm unter dem Titel »Hintergründigkeit des Zeigens« vorgelegt. Gesten des Zeigens finden demnach vor einem Hintergrund statt, der ihnen Bedeutung verleiht, und dieser Hintergrund ist der »körperliche Bewegungsfluss« oder auch die »Haltung, der Tonos des Körpers«, ein Erregungs- oder Spannungszustand, der sich, wie der Ton in der Musik, der Tonfall einer Stimme oder ein sozialer Umgangston, semantisch nicht festlegen lässt, sondern umgekehrt jede einzelne Bedeutung »grundiert«. In einer Formulierung, die Gumbrecht gefallen dürfte, schreibt Boehm: Jeder einzelne Zeigeakt »kommt aus dem deutungslosen Off einer Körperpräsenz«, wobei, um es noch einmal zu wiederholen, der Körper nicht mit seiner Dinglichkeit identisch ist, sondern einen Spannungszustand, eine »energetische Größe« meint.20 Mir gefällt eine andere Formulierung noch besser: »Was Gesten zeigen, geht niemals in dem auf, was sie zu sagen scheinen. Denn der Überhang des Körpers bringt Tonos, Timbre, Rhythmus, ein Flair ins Spiel«.21 Man kann auch sagen: Der Überhang des Körpers bringt das Ästhetische ins Spiel. Das Ästhetische ist das somatisch angestoßene Spiel von Tonos, Timbre, Rhythmus, Flair. Umgekehrt und genauer formuliert: Das Spiel von Tonos, Timbre, Rhythmus und Flair erfüllt auf der basalen Ebene der Wahrnehmung,
19 Karl Heinz Bohrer: »Ritus und Geste. Die Begründung des Heldischen im Western«, in: Merkur 63 (2009), H. 9/10, Sonderheft: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, S. 943-953, hier S. 944 f. 20 Gottfried Boehm: »Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes«, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 19-33, hier S. 23 f. 21 Ebd., S. 27.
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der aisthesis, eine zentrale, ursprünglich Kantische Bestimmung des Ästhetischen im spezifischen Sinn, diejenige des Spiels aus einem Spannungsverhältnis. Der ›Boden‹, die ›Grundierung‹ der Gesten des Zeigens ist somit nichts Festes, sondern in Bewegung, eine Bewegung, die aus Spannungsverhältnissen resultiert. Zur Bestimmung des Ästhetischen im spezifischen Sinn gehört freilich mindestens noch ein weiteres Merkmal: dasjenige des Fiktiven. Das macht erst den Spannungszustand mit Blick auf die Präsenz aus: Was sich in eindringlicher Präsenz zeigt – der Held auf der Leinwand –, ist zugleich nicht wirklich und spielt ein Spiel mit diesem Spannungszustand. Ein zentrales Element der Fiktion ist ja dasjenige des Trugs und der Täuschung. Unter dem moralischen Aspekt hat dies dazu geführt, sie unter Daueranklage zu stellen. Im 18. Jahrhundert lässt sich aber eine Diversifizierung beobachten in eine Fiktion, die ihre Geschaffenheit verbirgt und so zum Trug wird, und eine Fiktion, die jenseits der Alternative von wahr und falsch sich in einem Eigenrecht behauptet.22 Dieses Eigenrecht kann sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Methodik oder im Rahmen der Kunst, speziell der Literatur, behaupten. Im einen Fall lässt sich die Fiktion als Hypothese deuten, als eine prinzipiell wahrheitsfähige, aber (noch) nicht als wahr geltende Aussage. Im anderen Fall, dem der (Kunst der) Literatur, sind, nach sprachanalytischem Sprachgebrauch, die Regeln der Referenz und der illokutionären, kommunikativ verbindlichen Kraft suspendiert, was wiederum bedeutet: in suspense, in Spannung versetzt.23 Eine Aussage, paradigmatisch eine metaphorische Beschreibung, gilt auch in diesem Falle nicht als wahr, wohl aber als prinzipiell wahrheitsfähig, nämlich, heideggerianisch gesprochen, als Eröffnung eines Wahrheitsfeldes, als Einführung neuer Kandida-
22 Vgl. Karlheinz Stierle: Art. »Fiktion«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2: Dekadent bis Grotesk. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart 2000, S. 380-428, hier S. 410. 23 Vgl. Gottfried Gabriel: Art. »Fiktion, literarische«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Mannheim, Wien, Zürich 1980, S. 648 f., hier S. 649; vgl. auch Jürgen Mittelstraß: Art. »Fiktion«, in: ebd., S. 648.
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ten für (wörtliche) Wahrheit, was dazu führt, unsere bisherigen Überzeugungen zu verändern.24 Eine spezielle Variante dieses Konzeptes ist dasjenige der Selbstreferenz, in dem die Fiktion auf sich selbst verweist, sich also als Fiktion zu erkennen gibt, nicht verbirgt, dass sie gemacht ist, und dennoch oder eben dadurch einen Wahrheits-, nämlich einen Evidenzanspruch vertreten kann. Dieses Konzept ist bei Hegel und bei Adorno ausgearbeitet worden, findet sich ansatzweise aber auch wiederum bei Kant.25 Als Fiktionen haben die Produkte der Kunst einen doppeldeutigen Status. Sie bewirken nämlich, dass etwas prima facie als wirklich und wahr erfahren wird, das nicht wirklich und wahr ist. Sie haben, kantianisch gesprochen, den Status des Als-ob, das auf einem Spiel von Gegensätzen beruht. Sie sind gemacht und dennoch wahr, und das heißt nun: Obwohl sie deutlich machen, dass sie nicht wahr sind, sondern bloße Fiktionen, erwecken sie den manifesten Anschein, als ob sie wahr, als ob sie wirklich seien. Was speziell die Figur des Helden betrifft, ließe sich diese Doppeldeutigkeit bestens an heroischen Erscheinungen auf der Kinoleinwand de-
24 Vgl. Richard Rorty: »Philosophy as science, as metaphor, and as politics«, in: ders.: Essays on Heidegger and Others. Philosophical Papers, Vol. 2. Cambridge 1991, S. 9-26, hier S. 12: »There are three ways in which a new belief can be added to our previous beliefs […], perception, inference, and metaphor.« Ein Beispiel für die erste Art und Weise, unsere Überzeugungen zu verändern: »I open a door and see a friend doing something shocking«. Ein Beispiel für die zweite Art und Weise: »if I realize, through a complicated detective-story train of reasoning, that my present beliefs entail the conclusion that my friend is a murderer, I shall have to either find some way to revise those beliefs, or else rethink my friendship.« Ein Beispiel für die dritte Art und Weise: »The first time someone said ›Love is the only law‹ or ›The earth moves around the sun‹ the general response would have been ›You must be speaking metaphorically‹. But, a hundred or a thousand years later, these sentences become candidates for literal truth.« 25 Zu Hegel vgl. dessen »Vorlesungen über die Ästhetik I«, in: ders.: Werke. Bd. 13. Frankfurt a. M. 1970, S. 23: Der »Schein der Kunst« hat »den Vorzug, daß er selbst durch sich hindurchdeutet«, dass er sich also »selbst nicht als täuschend gibt«. Zu Kant vgl. KdU, § 51: »Der Dichter dagegen verspricht wenig und kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an [...]«.
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monstrieren, speziell an Filmen, die diesen Erscheinungscharakter selbstreflexiv zum Thema machen, an vielen Komödien und einigen Filmen aus dem seriösen Bereich. Mein Lieblingsfilm in dieser Hinsicht ist Clint Eastwoods Unforgiven, ein Western, der – hier ist sie wieder – die Spannung hält zwischen De- und Remythologisierung, der die angebliche Wahrheit all der Geschichten, die die Helden erzählen und Groschenheftschreibern in die Feder diktieren, als Angeberei, Übertreibung und Lüge enthüllt und zugleich weiß, wie sehr Held und Erzähler, Tatmensch und Intellektueller sich gegenseitig brauchen, ein Film schließlich, der den Helden in ewiger Verdammnis auf der Leinwand zurücklässt und es fertigbringt, dieser Figur ihre metaphysische Wucht zurückzugeben, ohne zu verleugnen, dass sie auf einer kulturellen Konstruktion beruht. Die Präsenz des Helden auf der Leinwand ist doppeldeutig: durchsichtig in ihrer Gemachtheit und erdrückend in ihrer Evidenz. Sie ist im naiven wie im reflektierten Sinne spannend, spannend wie die Struktur des Ästhetischen und wie ein tolles Fußballspiel.
»Riesenbild« – Figuration und Defiguration des Heroischen bei Büchner S ANDRO H OLZHEIMER
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ANSCHAUEN
Das Heroische realisiert sich, nach Hegel, in der Handlung als »tätige[r] Bewegung«,1 in der großen Tat oder im Entscheidungskampf, in dem sich eine »kollisionsvolle Situation«2 verdichtet und entlädt. Das heißt zugleich: Der Held ist undenkbar ohne seine Anschauung, ohne sinnliche, ja optische Präsenz, ohne das (bewegte) Bild, in dem er aktuell wird: »Ein Held ist jedenfalls ohne seinen Auftritt undenkbar – was wäre ein Held, wenn man ihm sein Heldentum nicht ansähe?«3 Hierin mag einer der Gründe für Hegels Entscheidung liegen, das »kollidierende[] Handeln«,4 in dem der Held auftritt, an die dramatische Poesie zu delegieren, da diese allein »Handlung als Handlung«5 zeige. Zur »Darstellung gegenwärtiger menschlicher Handlungen«6 ist das Drama medial berufen, weil es Handlung in »unmittelbarer
1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Hg. von Eva Moldenhauer. Bd. 13:
2
Ebd., S. 267.
3
Reinhard Steiner: »Heldenposen«, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches
Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt a. M. 1986, S. 233.
Denken 63 (2009), H. 9/10, S. 925-933, hier S. 925. 4
Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 285.
5
Ebd., S. 278.
6
Ebd., S. 275.
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Gegenwärtigkeit«7 für das »unmittelbare Anschauen«8 produziert. Es gibt das Heroische nicht nur auf dem Wege des symbolischen Ausdrucks, sondern zeigt »den ganzen Menschen in seinem auch leiblichen Dasein, Tun, Benehmen, in seiner körperlichen Bewegung und seinem physiognomischen Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften«.9 Am Helden als Handelndem par excellence muss also das interessieren, was sowohl den Logos, der dieses Handeln legitimiert, als auch den Mythos, die Fabel, die es erklärt, transzendiert und eine sinnliche Evidenz, das heroische Aktionsbild, ins Spiel bringt. Ästhetischer Heroismus wäre dann eine Tautologie, weil der Held in Aktion10 nicht ohne die ›aísthesis‹, d. h. die sinnliche Anschauung, und genauer: nicht ohne eine pathetische ›ópsis‹ zu denken ist, für die etwa die aristotelische Poetik deshalb nur Geringschätzung übrig hat, weil sie weder vom Logos noch vom Mythos der Tragödie völlig einzuholen ist.11 Im 22. Gesang der Ilias treffen sich Hektor und Achilleus im Zweikampf, der als reale Aktion den Dialog, die symbolische Verständigung verstummen lässt: Im Moment der dramatischen Verdichtung zum Kampf weichen Logos und Mythos der heroischen ›ópsis‹, der »sprachlosen Körperlichkeit«12 der Aktion – oder dem, was epische Sprache davon zu geben imstande ist: Also redete jener [Hektor], und zog das geschliffene Schwert aus, Welches ihm längs der Hüfte herabhing, groß und gewaltig. An nun stürmt’ er gefaßt wie ein hochherfliegender Adler,
7
Ebd., S. 474.
8
Ebd., S. 483.
9
Ebd., S. 505.
10 Eine Formulierung, die nach Steiner: Heldenposen (Anm. 3), S. 925, auch nichts anderes als eine Tautologie darstellt. 11 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 25 (1450b): »Die Inszenierung [ȥȚȢ] vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun.« 12 Karl Heinz Bohrer: »Ritus und Geste. Die Begründung des Heldischen im Western«, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 63 (2009), H. 9/10, S. 942-953, hier S. 952.
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UND
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Welcher, herab auf die Ebne gesenkt aus nächtlichen Wolken, Raubt den Hasen im Busch, wo der hinduckt, oder ein Lämmlein: Also stürmete Hektor, das hauende Schwert in der Rechten. Gegen ihn drang der Peleid’ [Achilleus], und Wut erfüllte das Herz ihm Ungestüm. Er streckte der Brust den geründeten Schild vor, Schön und prangend an Kunst, und der Helm, viergipflig und strahlend, Nickt’ auf dem Haupt, und die stattliche Mähn’ aus gesponnenem Golde Flatterte, welche der Gott auf dem Kegel ihm häufig geordnet.13
An Homers »großen Darstellungen«, schreibt Goethe an Schiller, fasziniere das Bemühen, die sinnlich-optische Präsenz des Geschehens zu geben, »um das Ganze klarer und faßlicher zu machen«,14 d. h. hier: den Kampf der Heroen anschaulich vor das Leserauge treten zu lassen. Lokale Deiktika und Adjektive, die visuelle Details nennen, ›energetische‹ Verba sowie Metaphern, die das Feld der dynamischen Natur zitieren, besorgen die Belebung des Heroischen am Helden: den Auftritt in der Aktion. So bemerkt schon vor Goethe die Rhetorik des Aristoteles dort, wo sie vom ›ornatus‹ der Rede handelt, dass Homer »berühmt dafür [sei], in allem Tätigkeit darzustellen«, dass in seinen Versen »Tätigkeit zu bestehen«15 scheine. Das betrifft den Helden auf paradigmatische Weise, weil sein Begriff den der Tätigkeit einschließt und die Frage nach dem Helden als einem ästhetischen Phänomen notwendig aufruft. Ein Überschuss des Sinnlichen durchzieht also die Idee des Helden. Zum Helden gehören dort, wo er wie bei Homer episch-sprachlich zur Geltung kommt, ein (Sich-)Zurschaustellen, eine Verlebendigung des Heroischen in der Darstellung und deshalb eine rhetorische bzw. ästhetische
13 Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München 1987, S. 385 f. (21, V. 306-316). 14 Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller: Briefwechsel. Hg. von Siegfried Seidel. Bd. 1: Briefe der Jahre 1794–1797. München 1984, S. 323 (Brief vom 10. April 1797). 15 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 176 (1412a).
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Strategie.16 Jeder Versuch der »historisch-politischen Legitimierung« des Helden gehe, wie Karl Heinz Bohrer konstatiert, fehl, weil dieser der »Ästhetik, [der] imaginativen Tendenz«17 gehorcht: Heroisch am Helden sei der »ästhetische[] Status seiner Erscheinung«, das »Faktum seines Erscheinungscharakters«.18 Diese These ist mit einem philosophischen Heldenbegriff solidarisch. In den Passagen seiner geschichtsphilosophischen Vorlesungen, die Hegel den »welthistorischen Individuen« widmet, gehören diese »Heroen einer Zeit«19 nicht nur zur abstrakten Allgemeinheit namens Weltgeist, dessen Geschäft sie historisch erledigen, sondern bringen ein »zweites Moment« ins Spiel: »die Tätigkeit des Menschen«20 und, mit Hegels ästhetischer Vokabel, die Geschichte als das große »Schauspiel der Tätigkeit«.21 Die These, dass das Heroische nicht Sache der abstrakten Legitimierung, sondern der Erscheinung und der ›aísthesis‹ ist, übersetzt nur Hegels Beobachtung, dass ein Held derjenige ist, der »nach außen tritt und dadurch sich in eine Welt hineinbegibt«,22 d. h. im Schauspiel der Tätigkeit auftritt und dort als Handelnder direkt anschaulich wird. Rhetorisch ist der Held somit ein exemplarischer Fall der Figur des Vor-Augen-Stellens. Vor-Augen-Stellen, ›sub oculos subiecto‹ oder Hypotypose heißt in Quintilians Institutionis Oratoriae nämlich eine »Aktualitätsfigur«,23 durch die »ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist, vorgeführt wird«, heißt also »eine in Worten so ausgeprägte Gestaltung von Vorgängen, daß man eher glaubt, sie zu
16 Steiner: Heldenposen (Anm. 3), S. 925 f., spricht von »ästhetischen Heldenmuster[n]«, zu denen etwa in der bildenden Kunst die Pose gehöre, die »die Anzeichen der Tat in einem komplexen Bild zu verdichten« erlaube. 17 Bohrer: Ritus und Geste (Anm. 12), S. 944. 18 Ebd., S. 944 f. 19 Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 45 f. 20 Ebd., S. 36. 21 Ebd., S. 34. 22 Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 13, S. 234. 23 Rüdiger Campe: »Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung«, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1997, S. 208-225, hier S. 209.
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sehen als zu hören«.24 Hypotypose ist die »Figur der Medientransposition« zur sinnlichen Präsenz des Bildes, durch die die Rede einen »medialen Wechsel vom Sprachlichen zum Optischen«25 vollzieht. Sie verknüpft, nach Campe,26 eine anschauliche ›repraesentatio‹, in der das Erzählte »sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt«27 (›enárgeia‹/›evidentia‹), mit einem dynamischen Handlungsaspekt des Erzählten (›enérgeia‹). Als »figuriertes Vor-Augen-Stellen von Handlungen und Personen«28 ist Hypotypose für den Begriff des ästhetischen Heroismus interessant. Zum Helden als Handelnden kommt mit der Hypotypose die Figur, die Hegels »Schauspiel der Tätigkeit« vor Augen führt und »dramatische Mimesis figurativ nachstellt«.29 Diesen theatralischen Effekt hat sie bei Quintilian allen Figuren voraus: Sie habe »etwas gar zu Handgreifliches: es ist nicht, als ob Dinge erzählt, sondern als ob sie aufgeführt würden«.30 Wo Hegel den Helden also auf der »Seite der Energie, des Willens und der Tätigkeit«31 veranschlagt, gibt er dessen Ästhetik mit an: Den Begriff der ›enérgeia‹ reserviert nämlich schon Aristoteles für die Darstellung belebter Handlungen, für eine »Augenscheinlichkeit«, der es gelinge, »(beim Zuhörer) eine Vorstellung
24 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis Oratoriae. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. Darmstadt 32006. Bd. II: Buch VIII-XII, S. 287 (9, 2, 40). 25 Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 23), S. 220. 26 Vgl. ebd., S. 219-223. 27 Quintilianus: Institutionis Oratoriae (Anm. 24), S. 177 (8, 3, 61). 28 Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 23), S. 219. Henri Morier: Dictionnaire de Poétique et de Rhétorique. 3. éd. augm. et entièrement refondue. Paris 1981, S. 522, bestimmt deshalb die Hypotypose explizit der Darstellung heldenhafter (Kampf-)Handlungen, den »événements guerriers« (»mêlée, tumulte de bataille«). 29 Ebd., S. 216. In der Poetik (Anm. 11), S. 53 (1455a) taucht das Vor-AugenStellen deshalb als produktionsästhetisches Mittel auf, zu dem Aristoteles dem Dramatiker als dem, der ›mimesis praxeos‹ betreibt, rät: »Man muß die Handlungen zusammenfügen und sprachlich ausarbeiten, indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt.« 30 Quintilianus: Institutionis Oratoriae (Anm. 24), S. 287 (9, 2, 43). 31 Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 12, S. 39.
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hervorzurufen, die etwas Tätiges [›hósa energoNJnta‹] bezeichnet«.32 Die Energie der Heldentat ruft die energetisch/energisch veranschaulichende Hypotypose auf, die das Heroische pathetisch vor Augen stellt. Aus den Teilen seiner Ästhetik, die den Begriff des Heroen entwickeln, ein letztes Mal Hegel: »Die Darstellung nun der Handlung als einer in sich totalen Bewegung von Aktion, Reaktion und Lösung ihres Kampfs gehört vorzüglich der Poesie an, denn den übrigen Künsten ist es nur vergönnt, ein Moment im Verlaufe der Handlung und ihres Sichbegebens festzuhalten.«33 Der Kunsthistoriker Reinhard Steiner bringt Hegels These zum Zeitcharakter der Handlung auf den mediengeschichtlich aktuellen Stand: »Der ›Held in Aktion‹ [...] benennt einen Fall, der nur in der Literatur und im Film Sinn macht.«34 Unter den Bedingungen von Hegels Zeit, die kein filmisches Bewegungsbild kennt, dem »Präsenzcharakter des Helden«35 ästhetisch nachzukommen, hieß also entweder, die Zuständigkeit dramatischer Poesie zu konstatieren, weil diese Körper auf Bühnen stellt. Oder es bedeutete, nach Friedrich Kittler, bereits eine Poesie im Sinn zu haben, die im Anschluss an die rhetorische Hypotypose Worte wie Filme vor dem inneren Auge des Lesers abspult und im Aufschreibesystem von 1800 zum Normalfall wird.36 Es nimmt also kaum wunder und hat auch wenig mit Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films37 zu tun, dass die Beschreibung eines heroischen Bildtyps im Rahmen einer Semiotik des Films machbar erscheint bzw. dass
32 Aristoteles: Rhetorik (Anm. 15), S. 176 (1412a). Analog reserviert die Poetik (Anm. 11), S. 8 f. (1448a) den Terminus energoNJntes (»in Tätigkeit Befindliche«) für jene Handelnden, deren Nachahmung das Drama als ›mimesis praxeos‹ betreibt. 33 Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 13, S. 285. 34 Steiner: Heldenposen (Anm. 3), S. 925. 35 Bohrer: Ritus und Geste (Anm. 12), S. 945. 36 Friedrich Kittler: »From the Recreation of Scholars to the Labor of the Concept«, in: Robert S. Leventhal (Hg.): Reading after Foucault. Institutions, Disciplines, and Technologies of the Self in Germany, 1750–1830. Detroit 1994, S. 65-73, hier S. 70 f.: »Under the conditions of perfect literacy, the rhetorical nominal value of hypotyposis became a real value in the poetics of effect and poetry became the medium of all media.« 37 Vgl. Joachim Paech: Literatur und Film. 2., überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar 1997, S. 45-63.
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die »totale Bewegung von Aktion, Reaktion und Lösung ihres Kampfs« vom Film endlich realisiert wird, weil dieser »unmittelbar ein Bewegungsbild«38 gibt. Anhand der ›großen Genres‹ des klassischen amerikanischen Films hat Gilles Deleuze in seinen Kino-Schriften einen Typ des Bewegungs-Bildes (image-mouvement), das Aktionsbild, analysiert, das – Hegels Begriffe umsetzend – eine ästhetische Figuration des Heroischen, ein Heldenbild beschreibbar macht39: »Der Aktionsfilm legt sensomotorische Situationen dar: Es gibt Personen, die in einer bestimmten Situation sind und die, je nachdem, was sie davon wahrnehmen, handeln, unter Umständen sehr heftig. Die Aktionen gehen in Wahrnehmungen über, die Wahrnehmungen setzen sich in Aktionen fort.«40 Hegels totale Bewegung, die von der Aktion über die Reaktion zur »Lösung« läuft, entspricht dem sensomotorischen Schema: Es gibt eine durch Aktionen generierte entscheidbare (»bestimmte«) Situation, auf deren »Dringlichkeit«41 das Subjekt aktiv reagiert, um sie so zu transformieren (»Lösung«). Denn der Held reagiert, nach Hegel, auf »ein Dasein«, das »nicht ist, wie es sein soll«42 (Situation), und verändert es handelnd. Durch die Optik des Aktionsbilds lässt sich Heldentum als Handlungskompetenz ästhetisch konstatieren, d. h. vor Augen stellen. Dass der Held ein ästhetisches Phänomen darstellt und als solches von seiner Figuration im Aktionsbild abhängt, dass er also Sache der Bildgebung ist, lässt sich exemplarisch an Hegels Zeitgenossen Georg Büchner zeigen, dessen Texte von der klassischen Figuration des Helden im Aktionsbild in der Schulrede über den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer (1830) bis zu seiner Defiguration und dem »Zerbrechen der sensomotorischen Verbindung«43 im Debütdrama Dantons Tod (1835) reichen. Die Fatalismus-Krise als biographisches Scharnier dieser polaren Entwürfe ist
38 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M. 1997, S. 15. 39 Die Analogien zwischen Hegels Heroen und Deleuzes Aktionsbild erarbeitet bereits ausführlich Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts. München 1994, S. 261-309. 40 Gilles Deleuze: »Über Das Bewegungs-Bild«, in: ders.: Unterhandlungen. 1972– 1990. Frankfurt a. M. 1993, S. 70-85, hier S. 77. 41 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 254. 42 Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 13, S. 234. 43 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 275.
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deshalb nicht nur als psychologische und ideologische, sondern als Krise des Aktionsbilds zu lesen, als »pikturale Erfahrung«,44 in deren Gefolge im Danton ein postheroisches »geschichtliches Gemälde« (W2 403),45 ein neuer Bildtyp entsteht.
II. G ESCHICHTE ALS AKTIONSBILD – H ELDEN -T OD DER VIERHUNDERT P FORZHEIMER »Erhaben ist es zu sehen« (W2 18): Mit der Anapher dieser Wendung an ihrem Anfang verrät Büchners »Helden-Tod«-Rede ihr rhetorisches Programm. Zu erwarten ist eine Rede, deren Mittel weniger Logos und Ethos, sondern Pathos ist,46 d. h. die Affizierung des Gemüts der Hörer, die ›perturbatio animi‹ durch den Anblick von »Heldentaten« (W2 20). Zu erwarten ist also eine Rede, deren Sache »tote[] Buchstaben« (W2 27) nicht sind, weil sie »zu sehen« gibt oder vor Augen stellt und somit die Einbildungskraft angeht. Der Anfang der Rede verspricht »kinoästhetische[] Lüste«.47 Er tut dies freilich tautologisch. Denn das Erhabene ist eben eine Sache des Anblicks und somit, nach Schiller, undenkbar ohne die unmittelbare »aesthetische[] Vorstellung«,48 in der es wirksam ist und dem Menschen seine übersinnliche Bestimmung als Vernunftwesen bewusst macht. Das Erhabene ist exakt der Fall der Bewusstwerdung von Vernunftideen, d. h. dessen, was im Menschen die sinnliche Natur transzendiert, der seine Abhängigkeit
44 Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation. München 1995, S. 64. 45 Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. Bd. 2: Schriften. Briefe. Dokumente. Frankfurt a. M. 1999 (Brief an die Familie, 5. Mai 1835). Hier und nachfolgend zitiert mit der Sigle W2 und entsprechender Seitenzahl. 46 Zu den drei Persuasionsstrategien vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 15), S. 12 f. (1356a). 47 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. 4., vollständig überarb. Neuaufl. München 2003, S. 119. 48 Friedrich Schiller: »Vom Erhabenen. (Zur weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen.)«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe. Hg. von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 20: Philosophische Schriften I. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 171-195, hier S. 175.
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von den Effekten der »Sinnenwelt«49 gar nicht leugnet, sondern sie ästhetisch in Gebrauch stellt, um sie dann zu überwinden. So auch im Aufbau der Schulrede: Denn um mit dieser ein idealistisches Fortschrittsnarrativ zu kommunizieren, das die Reformationskriege, die Französische Revolution und die erhoffte Realisierung der Nationalidee in Deutschland verbindet und in der das »Menschen-Geschlecht […] sich jetzt zu immer freieren, zu immer erhabneren Gedanken erhebt« (W2 21), muss sich diese Geschichte erhabener Gedanken stets neu in »schönste[n], […] herrlichste[n] Tat[en]« (W2 26) verdichten, die der Text »zu sehen« gibt. Um auch in der Rede zu den »erhabneren Gedanken« jenseits des Sinnlichen fortzuschreiten, bedarf es zuerst eines Vor-Augen-Stellens der »bloße[n] Tat« (W2 23). Und nur post rem folgt dann eine Bewertung, die »eine solche Tat beurteilen« (W2 23) und nur diskursiv festhalten kann, was das Heroische, »das große, […] das erhabne an [der] Tat« (W2 24) ist. In der Rede treten somit ein idealistischer Begriff des Helden und die sinnliche Evidenz heroischer Aktion auseinander, wobei das Vor-Augen-Stellen Letzterer in dem Maße, wie es auch im Fortgang der Rede zuerst steht, das Zentrum rhetorischer Pathos-Strategie bildet.50 Bevor Büchner Kampf und Tod von vierhundert Pforzheimer Bürgern in der Schlacht bei Wimpfen von 1662 zum Märtyrertum für die Freiheit veredelt und historisch zum »WeltErlöser-Tod« (W2 26) verklärt, hatte das Heroische in der Rede längst im Aktionsbild, in der Hypotypose der »bloße[n] Tat« statt. Nicht zufällig verlegt sich die Rede, nachdem sie zuerst das abstrakte Ideal der erhabenen Tat gibt – »den Menschen im Kampfe mit der Natur« oder »mit seinem Schicksal« (W2 18), d. h. der Geschichte –, auf die Semantik der optischen Wahrnehmung. Es geht da um antike Heroen, deren Taten im Dunkel der Geschichte »hervorstrahlen«, sich »wie die Wunder einer längstvergangnen Helden-Zeit betrachten« lassen und nun in der Französischen Revolution widerhallen, die »mit dem Sonnen-Blicke der Freiheit den Nebel erhellte« und moderne Helden wie »L’Atour d’Au-
49 Ebd., S. 174. 50 Der Artikel »Pathos« im Historischen Wörterbuch der Rhetorik betont die »anschauliche Vergegenwärtigung […] (Vor-Augen-Führen: ਥȞȐȡȖİȚĮ, enárgeia; illustratio, evidentia)« als Mittel zur »affektive[n] Stimulation des Rezipienten« (Jochen A. Bär: Artikel »Pathos«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6. Darmstadt 2003, Sp. 689-717, hier Sp. 690).
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vergne« zeugte, »der wie ein Riesenbild in unserer Zeit dasteht« (W2 19).51 Helden sind etwas, auf das sich »mit Stolz blicken« lässt: »seht, wer ist größer denn sie?« (W2 20). Nach dem abstrakten Ideal des Anfangs entfaltet die Rede eine optische Fokussierung auf »solche Männer« (W2 18 passim), um ihr »Augenmerk« (W2 19) letztlich in zwei Hypotyposen zu verdichten, die nicht nur dem Zweck »anschaulicher und eindrucksvoller ›Abschweifung vom Thema‹«52 des Helden dienen, sondern dessen eigentliche (rhetorische) Realisierung sind. Die erste betrifft die Seeschlacht der französischen Revolutionsflotte gegen die Royal Navy am 13. Prairial II (1. Juni 1794), die im Opfertod der Republikaner endet: »Als die Franken unter Dumouriez den größten Teil von Holland mit der Republik vereinigt hatten«, treffen die Feinde an der »Küste von Nordholland aufeinander« (W2 20). Im Präsens als Tempus unmittelbarer Aktualität53 gibt Büchner sodann das Bewegungs-Bild der Schlacht »zu sehen«: In diesem Augenblick wird der Vainqueur, eins der Holländischen Schiffe, von drei feindlichen zugleich angegriffen und zur Übergabe aufgefordert. Stolz weist die kühne Mannschaft, obgleich das Schiff schon sehr beschädigt ist, den Antrag ab und rüstet sich zum Kampf auf Leben und Tod. Mit erneuerter Wut beginnt das Gefecht, das Feuer der Engländer bringt bald das der Franken zum Schweigen. Noch einmal wird der Vainqueur zur Übergabe aufgefordert, doch den Franken ist ein freier Tod lieber als ein sklavisches Leben, sie wollen nicht Leben, sie wollen Unsterblichkeit. Mit letztem Ruck feuern sie auf die Feinde, schwenken noch einmal die Banner der Republik und versenken sich mit dem Ruf: es lebe die Freiheit! in den unermeßlichen Abgrund des Meeres. (W2 20)
51 Die Quelle für den Begriff »Riesenbild« ist nach Ilona Broch: »Drei Marginalien zu Georg Büchners Schulschriften«, in: Georg-Büchner-Jahrbuch 5 (1985), S. 286-291, hier S. 290 f., eine Zeitungsanzeige, die im Herbst 1829 unter dem Titel Lebende Bilder die Aufführung eines »Schlachttableau[s]« in Frankfurt bewarb. 52 Ebd., S. 289. 53 Zum historischen Präsens als einer Form hypotypotischer Bildgebung vgl. Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 23), S. 209.
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Mit dieser anschaulichen Vergegenwärtigung der Schlacht und der freien Entscheidung der Republikaner, für die Freiheit zu sterben, ist der Text vom eingangs abstrakten Idealismus über die zunehmende optische Fokussierung auf »solche Männer« zum konkreten Aktionsbild fortgeschritten. Deleuze definiert diese Bewegung wie folgt: Das Milieu aktualisiert stets mehrere Qualitäten und Potentiale, es stellt deren globale Synthese dar, ist selber die Atmosphäre oder das Umgreifende, während die Qualitäten und Potentiale zu realen Kräften im Milieu geworden sind. Das Milieu und die Kräfte krümmen sich und wirken auf den Protagonisten, fordern ihn heraus und stellen die Situation her, die ihn ganz vereinnahmt. Der Protagonist reagiert seinerseits (das Handeln im eigentlichen Sinne), antwortet auf die Situation und verändert dadurch das Milieu oder seine Beziehung zum Milieu, zur Situation oder zu anderen Personen […]. Daraus geht eine veränderte oder restaurierte, eine neue Situation hervor. Alles ist individuiert: das Milieu als so oder so gearteter Raum, die Situation als bestimmend und bestimmte, der Protagonist als ebenso kollektive wie individuelle Gestalt. Das ist das Ganze des Aktionsbilds […]: so verkörpert es die organische Repräsentation.54
Die Hypotypose der Schlacht steht als »figuriertes Vor-Augen-Stellen von Handlungen und Personen« (Campe) am Ende der Bewegung, die nach Deleuze das Aktionsbild ermöglicht. Dessen Auftauchen fällt mit der Aktualisierung nicht-figurierter »Qualitäten und Potentiale« (»Menschen«, »Geschichte«, »Kraft [des] Geistes« etc.; W2 18) in figurativen Einheiten (»realen Kräften«) in eins, d. h. ihrer Einfassung in »bestimmten, geographischen, historischen und sozialen Raum-Zeit-Einheiten«55 (Milieu). Das Milieu ist ein »Umgreifendes [...], von dem sich die feindlichen und fördernden Kräfte ablösen«,56 in dem also Akteur und Situation als distinkte Größen in einem individuierten Ensemble erscheinen und aufeinander verweisen. So verdichtet sich im Text abstrakte (Ideal-)Geschichte zu Hegels »Schauspiel der Tätigkeit«, in dem die heroische Aktion anschaulich wird. Deren Schema ist sensomotorisch: Am Ende einer »spiralförmige[n] Ent-
54 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 193 f. 55 Ebd., S. 193. 56 Ebd., S. 206.
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wicklung«,57 in der sie ihren Abstand verringern, treten der Held und die herausfordernde Situation (»angegriffen«, »zur Übergabe aufgefordert«, »Schiff schon sehr beschädigt«) als korrelatives Paar hervor. Der Held ist nicht je schon Held, d. h. »nicht sofort reif für die Handlung«: »Seine Größe und Kraft müssen sich aktualisieren«58 – und das in dem Maße, wie die Situation ihre Dringlichkeit steigert. Das sensomotorische Schema lautet also auch in Büchners Seeschlacht: »Aufladung und Explosion«.59 Die Situation muss den Helden prägen und »in jeder Faser durchdringen«,60 bis er mit »einem letzten Ruck« zur Aktion übergeht, die auch gerade als Opfertod eine veränderte Situation, d. h. hier idealistisch gefasst: »Europas politische Freiheit« (W2 20), mit herbeiführt. Nicht anders verhält es sich mit der Schilderung der Wimpfener Schlacht und des Heldentods der Pforzheimer, mit der Büchner die Reformationskriege als deutschen Beitrag zum »Heil der Menschheit« (W2 21) nobilitiert. Erneut weicht der abstrakte Idealismus einem konkreten Milieu: die »ersten Jahre[] des Dreißigjährigen Krieges, […] nach der Schlacht am weißen Berg bei Prag« (W2 21); erneut aktualisieren sich Qualitäten und Potentiale in realen Akteuren: Friedrich von Baden »ragt als das Muster eines Fürsten« hervor, der »[o]hne zu zaudern« mit dem »vereinigte[n] Heer« (W2 21) der Protestanten gegen die Katholiken zieht; erneut führt die Herausforderung der Situation – der erlittene »bedeutende[] Verlust«, der »überlegene[] Feind« (W2 21) – zur Aktion, mit der der Held antwortet. Dies »blutige[] Treffen« (W2 22) leitet jedoch nur den Auftritt der Pforzheimer ein: In einer zweiten Spirale, die die erste überlagert, bildet sich nun eine neue Situation, der drohende Sieg der Katholiken, auf den die Pforzheimer mit ihrer »große[n] Wahl« (W2 23) und ihrer Tat reagieren: Doch wohin soll er [Friedrich von Baden] sich wenden? Schon ist er von allen Seiten umringt, schon überwältigt der Feind den letzten schwachen Widerstand, den ihm die Überreste des fliehenden Heeres entgegenstellen, und sein Untergang erscheint unvermeidlich. Da werfen sich vierhundert Pforzheimer, an der Spitze ihren Bürgermeister Deimling dem Feinde entgegen, mit ihren Leibern
57 Ebd., S. 207. 58 Ebd., S. 210. 59 Ebd., S. 216. 60 Ebd., S. 211.
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decken sie, ein unerschütterliches Bollwerk, ihren Fürsten und ihre Landsleute. (W2 23)
Heroische Subjektivität figuriert vorzüglich im sensomotorischen Schema des Aktionsbilds. Denn dieses leistet eben keine hypothetische Deduktion des Heroischen, sondern seine direkte phänomenale Induktion im Zeigen der »bloße[n] Tat« und der Art und Weise, wie der Held angesichts der Situation »seine Kraft [...] aktualisiert und [...] zu einer großen Tat fähig wird«.61 Büchners Aktionsbild greift hinter alle symbolischen Begründungsversuche, um die sprachlich-optische Präsentifikation des Heroischen durch die unmittelbare pathetische »Kraft des Bildes«62 eines »heldenkühne[n] Häuflein[s]« zu leisten, das sich der Situation stellt: »Begeisterung und Todesverachtung malt sich in ihren Zügen« (W2 23). Deleuze weist darauf hin, dass das Aktionsbild nicht nur eine kinoästhetische Konvention ist, sondern auch eine »Konzeptions- und Sichtweise[] für ein ›Sujet‹, eine Erzählung oder ein Drehbuch«:63 Das Aktionsbild ist selbst unmittelbar Idee. Und es ist bei Büchner also nicht nur Illustration idealistischer Geschichtsphilosophie, sondern diese in ihrer Sinnlichkeit selbst. Denn wenn man so will, gehorcht das idealistische »Drehbuch« selbst dem sensomotorischen Schema, d. h., es zentriert Geschichte in einem subjektförmigen Entwicklungsgang und dem dazugehörigen heroischen Handlungstyp,64 der Tat, die souverän auf eine Situation reagiert und sie verändert. Das Aktionsbild statuiert direkt sinnlich, dass Geschichte als Abfolge dramatischer Bilder organisiert ist und sich in den bedeutenden Taten von welthistorischen Individuen verdichtet65 – von jenen »Paradegäulen
61 Ebd., S. 227. 62 Louis Marin: Von den Mächten des Bildes. Zürich, Berlin 2007, S. 15. Vgl. ebd. Marins Ausführungen zum bildtheoretischen Begriff der Präsentifikation. 63 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 241 f. 64 Vgl. auch Balke: Der Staat nach seinem Ende (Anm. 39), S. 261-265. 65 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 203-206, vergleicht deshalb das Aktionsbild als Geschichtsbild mit Nietzsches monumentalischer Historie, die nie den »wahrhaft geschichtliche[n] Connexus von Ursachen und Wirkungen« erzählt, sondern Geschichte auf die »großen Momente im Kampfe der einzelnen«, d. h. auf heroische Handlungen und die dazugehörigen Aktionsbilder zurechtstutzt; Friedrich Nietzsche: »Unzeitgemäße Betrachtungen«, in: ders.: Werke.
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und Eckstehern der Geschichte« (W2 377) also, deren Schauspiel der Student Büchner nur wenig später als durchschaubare »Comödie« (W2 358) ohne Signifikat im Realen denunzieren wird.
III. E HERNES G ESETZ – D IE D EFIGURATION DES AKTIONSBILDS Biographisch datiert die Denunzierung der Heldengeschichte als falsches Bild bei Büchner auf den Jahresbeginn 1834 und ist dokumentiert im Brief an die Geliebte Minna Jaeglé: »[W]ie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus« zeigt sich hier nicht nur Büchner nach dem Studium der Französischen Revolution, sondern vor allem die Möglichkeit der heroisch-idealistischen Organisation von Geschichte: »Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich« (W2 377). Was Büchner »zernichtet«, ist das »Zerbrechen der sensomotorischen Verbindung«66 als Figuration von Geschichte. Das Modell des Kampfes nimmt sich deshalb nur als »lächerliches Ringen« aus, weil sich Geschichte unter ›fatalistischen‹ oder eben: modernen Bedingungen nicht in dramatisch-heroischen Aktionsbildern verdichtet, weil die wirksamen Kräfte sich nicht mehr in der bestimmten Relation von Situation und Akteur verkörpern, sondern »in einem dispersiven Ganzen, in einer offenen Totalität«67 zerstreut sind. Geschichte hat, so ließe sich im Anschluss an Michel Foucaults Revision der klassischen Machttheorie sagen, in der »informelle[n] Dimension«68 der Kräfteverhältnisse diesseits ihrer idealistischen Form, dem Bild heroischer Taten statt. Diese Dimension, Büchners ehernes Gesetz, suspendiert das sensomotorische Schema, in dem der Held noch figurierte: Erstens, weil je schon die »Umstände außer uns liegen« (W2 378), d. h., weil die offene Totalität der Kräfte nicht mehr in der bestimmten Situation und dem
Bd. 1. Hg. von Karl Schlechta. München 1994, S. 135-434, hier S. 222 f. und S. 220. 66 Ebd., S. 275. 67 Ebd. 68 Gilles Deleuze: Foucault. Frankfurt a. M. 1992, S. 98.
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freien Subjekt (»zu beherrschen«) prägnant wird. Zweitens, weil das »eherne[] Gesetz« eine anonyme und ubiquitäre Aktivität oder Macht (»Welle«) meint, die sich »von unzähligen Punkten aus [...] vollzieht«69 und als solche die sensomotorische Kausalkette – eine Situation setzt sich in Aktion fort usw. – außer Kraft setzt: »eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen« (W2 377). Fatalismus heißt der Abbau der idealistischen Illusion, die besagte, dass der Einschluss der im historischen Werden wirksamen Kräfte in eine Form organischer Repräsentation – der »Einzelne«, die bestimmte Situation, die sensomotorische Sequenz – noch möglich sei. Postheroische Geschichte gleicht der Aktivität der Wellen, sie vollzieht sich je aktuell »im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen«.70 Sie verdichtet sich nicht im Aktionsbild als verbindlicher Repräsentation und ist irreduzibel auf Akteure und ihre Taten, weil sie ein Feld von Kräften impliziert, das sich der Figuration und Repräsentation überhaupt entzieht. Deleuze nennt diese Dimension das Diagramm, d. h. die transitorische »Karte der Kräftebeziehungen«,71 die ein Feld durchziehen: »Das Diagramm ist grundlegend instabil oder fließend und wirbelt unaufhörlich die Materien und die Funktionen so durcheinander [Welle/Schaum], daß sich unentwegt Veränderungen ergeben […]. Es fügt der Geschichte ein Werden hinzu«,72 das den figurativen Paradigmen entgeht. Eine ästhetische Komponente hat das Diagramm in diesem Sinn also, weil es die Totalität der defigurierenden Kräfte bezeichnet, die die Konturen des idealistischen Geschichtsbilds verwischen, weil es also heroische Bildgebung als »figuriertes Vor-Augen-Stellen von Handlungen und Personen« neutralisiert: »das Eindringen einer anderen Welt in
69 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. 14. durchgesehene und korrigierte Aufl. Frankfurt a. M. 1983, S. 94. 70 Ebd. 71 Deleuze: Foucault (Anm. 68), S. 55. 72 Ebd., S. 53 f. Terence Holmes: »Hero-Worship and the Common Life in Büchner’s School Orations«, in: Ken Mills, Brian-Keith Smith (Hg.): Georg Büchner. Tradition and Innovation. Fourteen Essays. Bristol 1990, S. 77-88, hier S. 84, bringt Büchners ehernes Gesetz auf den Begriff des Diagramms: Es sei die Gesamtheit von »countless individual vectors of will, and as such it cannot be subject to any single individual will«.
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die visuelle Welt der Figuration«.73 So jedenfalls diskutiert Deleuze die Macht des Diagramms in seiner Studie zu Francis Bacon in einem ästhetischen Kontext: Das Diagramm des Malers Bacon – »zufällige Markierungen«, »asignifikante Striche«, Wellen – zerstört die figurativen Einheiten, führt chaotische Kräfte ein und zerstört die »souveräne optische Organisation« durch eine »auf der Leinwand, in die figurativen und probabilitären Gegebenheiten hereingebrochene Katastrophe«.74 So etwa der Effekt des Diagramms auf Bacons figurative Einheit ›Kopf‹: »als ob man zwei Teile des Kopfes mit einem Ozean auseinanderreißen würde; als ob man die Maßeinheit änderte und die figurativen Einheiten durch mikrometrische [Welle] oder – umgekehrt – kosmische Einheiten [Ozean] ersetzte.«75 Und so auch der Effekt des ehernen Gesetzes auf das Bild des tätigen Helden: als ob ein subjektloses Werden der Geschichte die figurative Einheit von Akteur und Situation, von Handlung und veränderter Situation, die Komponenten der sensomotorischen Sequenz auseinandertriebe, verstreute und so das heroische Aktionsbild defigurierte. Dass das Diagramm eine Herausforderung an die Bildgebung stellt, Büchners ›fatalistische‹ Infragestellung des vormaligen heroischen Idealismus also auch immer eine ästhetische Krise ist, verhandelt die Novelle Lenz. Dort wirft Lenz der sogenannten Idealkunst vor, den »Gestalten« zu verbieten, »aus sich heraus[zu]treten«, d. h. das reine Werden eines Lebens, das »schwillt und pocht«, der klassischen Repräsentation zu unterstellen und »etwas vom Äußern hinein zu kopieren« (W1 235),76 um die Kräfte der Deformation zu zähmen. Zum Paradigma der nicht-idealistischen Kunst, die sich den Kräften des Diagramms stellt, wird Lenz dagegen die Erinnerung an das transitorische Bild zweier im Alpental sitzender Mädchen: Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zuzurufen. Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen, zwischen den Felsen war es
73 Deleuze: Bacon (Anm. 44), S. 63. 74 Ebd., S. 62 f. 75 Ebd., S. 62. 76 Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Frankfurt a. M. 1999. Hier und nachfolgend zitiert mit der Sigle W1 und entsprechender Seitenzahl.
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wieder ein anderes Bild. Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne, gruppieren, lösen sich auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andere tritt, ewig aufgeblättert, verändert […]. (W1 234)
Was Lenz als schöpferische ›potentia‹, als eine unendliche, in sich differente Aktivität erfährt, ist das Diagramm als Darstellung aller defigurierenden Kräfte, die der Einfassung in eine figurative Form fliehen. Als »Raum ausschließlich für Veränderungen«77 entzieht es sich dem idealistischen Medusenblick, der das Geschehen in einem »Riesenbild« petrifiziert, das das Werden der Geschichte transzendiert und ästhetisch beherrscht. Zugleich ist das Diagramm »zwar ein Chaos, aber auch der Keim von Ordnung und Rhythmus«, es suggeriert wie im obigen Zitat auch einen neuen Bildtyp, es verleiht »dem Auge ein anderes Vermögen […] und zugleich ein Objekt, das nicht mehr figurativ«78 ist. Die Möglichkeit des Bildes, darauf weist Deleuzes Bacon hin, muss bestehen bleiben, der ›zernichtende‹ Effekt des Diagramms darf nicht »alles überschwemmen« (»Welle«), sondern muss »operativ und kontrolliert bleiben«.79 So erklärt sich schließlich auch die Klage des Dichters Lenz: »Doch kann ich sie mir nicht mehr vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies martert mich« (W1 241).
IV. POSTHEROISCHES GESCHICHTSBILD – DANTONS TOD Genau das ist die von Büchner formulierte poetologische Prämisse des antiheroischen und antiidealistischen Geschichtsdramas Dantons Tod. Ist das eherne Gesetz aus dem Fatalismus-Brief jene Kraft, die die heroische Figuration durch »seine verwirrende, verwischende Wirkung«80 zerstört, dann ist der Danton die ästhetische Bewältigung, die Rettung eines Bilds von Geschichte jenseits des Aktionsbilds. Das heißt zuerst, dass das Drama keine Anstalten macht, den Rahmen hypotypotischer Bildlichkeit zu verlassen. Geschichte, sei es auch die der »Banditen der Revolution« (W2 410) und damit eine gänzlich unerhabene, gilt es auch hier »zu sehen«: Der Dra-
77 Deleuze: Foucault (Anm. 68), S. 119. 78 Deleuze: Bacon (Anm. 44), S. 63. 79 Ebd., S. 68. 80 Ebd., S. 96.
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matiker »erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben«, indem er »uns gleich unmittelbar, statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hineinversetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt« (W2 410).81 Dass es in Büchners neuem Realismus, der im Gegensatz zu ihrer idealistischheroischen Umschreibung »die Geschichte selbst« (W2 411) geben will, um einen neuen Bildtyp geht, zeigt sich bereits im Streit um den verlagsseitig vergebenen Untertitel, der Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft verspricht und den Büchner als »abgeschmackt«, Karl Gutzkow gar als »Schreckenstitel« (W2 409) empfand. Denn in dramatischen Bildern lief ja gerade die idealistische Geschichte der Schulrede ab, in der der Kampf der Pforzheimer also der »erste Akt« und die Französische Revolution, vor Augen gestellt in der Seeschlacht, »der zweite war« (W2 21). Es nimmt nicht wunder, dass Büchner an gleicher Stelle die »sogenannten Idealdichter« und namentlich »Schiller«, den Theoretiker erhabener dramatischer Bilder, dafür kritisiert, keine »Welt […], wie sie ist«, zu geben, sondern heroische »Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos« (W2 411). Sicherlich, Idealkunst, wie sie Büchner versteht, versieht Geschichte mit der Patina des Sittlichen. Sie bezeichnet aber auch jene Kunst, die an dem festhält, was Büchner nur »Comödie« nennt, nämlich an der Intaktheit des Aktionsbilds als Figuration heroischer Geschichte – und das im Fall Schillers bis zuletzt, d. h. bis zum Tell. Tells Kampf nämlich, der in der Erschießung des Landvogts Gessler kulminiert, folgt exakt dem sensomotorischen Schema von der Präsentation einer Situation der Unfreiheit über das Heranreifen Tells zur Aktion bis zur transformierten Situation: »Das Land ist frei.«82 Im Tell verkörpern sich die Potentiale und
81 Vgl. hierzu auch Karl Gutzkows zeitgenössisches Urteil über den Danton: »Seine Gemälde sind skizzenartig hingeworfen, aber die Umrisse der Kohle sind so scharf, daß unsrer Einbildungskraft sich von selbst eine Welt vorzaubert« (Karl Gutzkow: »Georg Büchner: Dantons Tod [1835]«, in: Dietmar Goltschnigg (Hg.): Materialien zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. Kronberg i. Ts. 1974, S. 63-66, hier S. 65.) 82 Schiller: »Wilhelm Tell. Schauspiel«, in: ders.: Werke (Anm. 48), Bd. 10: Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Die Huldigung der Künste. Hg. von Siegfried Seidel. Weimar 1980, S. 127-277, hier S. 255.
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Qualitäten, die sich Lenz nur ewig aufblättern und der Figuration entgehen, noch im Milieu, in Situation und Handlung. Bevor Tell Gessler in der dritten Szene des vierten Aufzugs erschießt, folgt er deshalb dem »Entwicklungsgesetz« des Aktionsbilds, demzufolge der Held schrittweise zur Tat reift (»Aufladung und Explosion«): »Er muß auf seine Ruhe und seinen inneren Frieden verzichten; er muß auf jeden Fall die Kräfte wiederfinden, deren die Situation ihn beraubt hat«.83 Tells Ankunft in der hohlen Gasse bei Küsnacht ist genau diese Aktualisierung der Kräfte, hat er sich doch zuvor erst von Gesslers Häschern befreit und im Kampf mit dem tobenden Vierwaldstättersee bewährt, sich »gerettet aus des Sturms | Gewalt und aus der schlimmeren der Menschen«.84 Es ist dies die »Aufladung«, durch die er in »heftigste[r] Bewegung« und pathetisch »die Hände zu der Erde und dann zum Himmel ausbreitend«85 zur Tat reift: »Der Tell sey frei und seines Armes mächtig«86 – und bemächtigt sich nun als nachmalig vom Volk verklärter Nationalheld der dringlicher werdenden Situation, um sie aktiv zu verändern: »Hier | Vollend ichs«.87 Im Danton steht von Beginn an die Idee sowohl der Kontraktion von Geschichte in der Tat als auch der Vollendung und des historischen Übergangs durch die aktive Meisterung der Situation infrage. Ein »Gefühl des Bleibens«, das Bewusstsein einer Schwelle, auf der »heute«, »morgen« und »übermorgen« (W1 47) ohne sensomotorische Strukturierung in eins fallen, treibt Danton ins »Zögern« (W1 38) und in die »Trägheit« (W1 46). »Wir müssen vorwärts […]. Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen« (W1 15), beschwören so die Indulgents noch in der ersten Szene den sensomotorischen Übergang zu einer neuen distinkten Situation, von der sie hoffen, dass Dantons »Angriff im Konvent« (W1 16) sie herstellen
83 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 210 f. 84 Schiller: Wilhelm Tell (Anm. 82), S. 230. 85 Ebd., S. 227. 86 Ebd., S. 232. 87 Ebd., S. 243. Hier wird natürlich keiner verflachenden Lektüre Schillers das Wort geredet: Tells Tat wird im Stück hochgradig problematisch, etwa schon in seinem langen Monolog vor der Tat, der den Wechsel vom Naiven zum Sentimentalischen anzeigt. Die Tat wird jedoch auf eine Art am und im Charakter Tells und damit auf eine Weise problematisiert, die das sensomotorische Schema und das Aktionsbild wesentlich intakt lässt.
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wird. Dessen Antwort: »Ich werde, du wirst, er wird« (W1 16), verweist dagegen auf eine Revolution, die nur als eine indefinite Temporalisierung erfahrbar ist, in der das Aktionsbild, das einst bestimmte, wann »es zum Handeln kommt« (W1 16), zerfällt. Danton kann sich Geschichte nicht mehr in der Form des Aktionsbilds vor Augen stellen. Ihm ist buchstäblich »kein Absehens wie es anders werden soll« (W1 38). So auch auf die Mahnung: »Wir müssen handeln«, seine aufschiebende Replik: »Das wird sich finden« (W1 32). Waren Hegels welthistorische Individuen durch ein Bewusstsein dessen charakterisiert, »was an der Zeit ist«,88 dann gehörten sie, mit Deleuze, zu einem Milieu, das sich als Binom strukturieren ließ,89 d. h., in dem handelnde Subjekte und die Zeit als bestimmte historische Situation noch distinkte Größen waren, so dass wie in der Schulrede eine »kühne[] Hand« in die »Speichen des Zeitrades« (W2 18) greifen und eine »Position außerhalb des Beherrschten«90 reklamieren konnte. Eben diese binomische Prägnanz von Akteur und Situation, in der es überhaupt »an der Zeit« sein kann, wird sich im Danton nicht »finden«. Der Phrase heroischer Dringlichkeit, dass »keine Zeit zu verlieren« sei, entgegnet Danton: »[D]ie Zeit verliert uns« (W1 38), d. h. sie verdichtet sich nicht in einer Situation, die einem Subjekt verfügbar wäre. Das Milieu der Revolution – »Gewimmel[]« (W1 72), »Wellen«, »Äther« (W1 28) oder »Sündflut« (W1 83) – zerstört wie im Lenz die Möglichkeit klassischer Figuration. Das »Riesenbild« des Schulidealismus löst sich auf, weil eine »Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert« (W1 45), den das heroische Aktionsbild defigurierenden Effekt hat: die totale »Unentscheidbarkeit der Situation«.91
88 Hegel: Werke (Anm. 1), Bd. 12, S. 46. 89 Vgl. Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 195: »Ein Binom liegt vor, wenn ein bestimmter Kräftezustand auf eine entgegengesetzte Kraft verweist«, wie es im Aktionsbild ja strukturell der Fall ist (Duell, Kampf). 90 Margarete Kohlenbach: »Puppen und Helden. Zum Fatalismusglauben in Georg Büchner Revolutionsdrama«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 38 (1969), S. 395-410, hier S. 407. 91 Horst Turk: »›Aber die Zeit verliert uns.‹ Zur Struktur der historischen Zeit am Beispiel von Büchners Danton«, in: Enno Rudolph, Heinz Wismann (Hg.): Sagen, was die Zeit ist. Analysen zur Zeitlichkeit der Sprache. Stuttgart 1992, S. 93-112, hier S. 95.
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Das Theodizee-Gespräch im dritten Akt unterscheidet so auch die, die noch die Idee einer Schöpfung und »Gott nur als schaffend denken«, von denen, die nur ein ewiges Werden spinozistischer Provenienz kennen: Dieses ist nämlich »keine Schöpfung mehr«, da »Gott in allem« (W1 57) ist. Und so wie der Welt kein Schöpfer mehr vorgängig ist, tritt auch kein heroischer Akteur aus der Geschichte heraus, weil diese analog zu Spinozas dynamischer Gottnatur immanent und im Verhältnis zu den Akteuren je schon »um und in ihnen« ist: »Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht« (W1 39). Das klassische Bild des Helden, das in den »fünffüßigen Jamben« (W1 44) der Idealdichter überlebt hat,92 wird Danton zur »heroische[n] Fratze« (W1 85), weil es sich mit der Geschichte wie mit Lenzens »unendliche[r] Schönheit« verhält: So sehr diese ewig »aus einer Form in die andre tritt«, so sehr ist sie weder dem schaffenden Subjekt (Held/Idealdichter) noch überhaupt der klassischen Figuration und den dramatischen Bildern verfügbar. Und wo diese Schönheit sich im Lenz nicht mehr »in Stein«, »in einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna« (W1 234 f.) fassen lässt, da zersplittert im Danton »die mediceische Venus« und ist fortan »stückweise bei allen Grisetten des palais royal« verteilt, ist nun »zerstückelt und […] in Fragmenten« (W1 26) zerstreut. Nicht anders als der antiken Venus ergeht es im Danton dem klassischen »Riesenbild« des Helden: Das historische Milieu, die ewige Revolution, entzieht sich seiner abschließenden Figuration im Aktionsbild, seiner dramatischen Zentrierung in der bestimmten Situation und dem Helden. Es steht nicht minder im Zeichen einer Zerstreuung, die Deleuze dort, wo er die Krise des Aktionsbilds im amerikanischen Film behandelt, auf den Begriff der dispersiven Situation bringt. Eine »Welt ohne Totalität und Verkettung«93 löst die Kopplung von Situation und Aktion zugunsten eines Gefüges von »schwachen Verbindun-
92 Oder in der jakobinischen Rhetorik, die, vorgetragen von Robbespiere und St. Just, stets neu das »erhabene Drama der Revolution« (W1 23) dem Volk vor Augen stellt. Zur Kritik der Rhetorik und damit zur Selbstkritik des vormaligen Idealisten und Schulredners Büchner vgl. die prägnanten Ausführungen bei Andreas Härter: »Der Untergang des Redners. Das Dementi der Rhetorik in Büchners Drama Dantons Tod«, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 21 (2002), S. 84-101. 93 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 279.
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gen« auf, in dem die »Handlung […] freischwebend in der Situation [steht], statt sie zu vollenden oder abzuschließen«.94 Der Held zerfällt in dem Moment, in dem die Kopplung von Situation und Aktion, die vormals Geschichte antrieb, einer Welt mannigfaltiger loser und ›sensibler‹ Verknüpfungen weicht, die Marion, eine der Grisetten, in die die alte Schönheit zerstreut ist, bewohnt: »[I]ch bin sehr reizbar und hänge mit Allem um mich her nur durch eine Empfindung zusammen« (W1 28). Dantons Frage: »Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen?« (W1 16), führt somit dreifach ins Zentrum der hier verhandelten Fragen. Erstens macht sie die heroische Prätention hinfällig, dass Geschichte als »Werk« einem handelnden Subjekt und nicht den »unbekannten Gewalten« (W1 49) eines ehernen Gesetzes gehorche. Als Frage des Werks behandelt sie Heldentum zweitens als ästhetisches Problem und bezweifelt, ob die historische Dispersion der Dinge in einem »Riesenbild«, die Defiguration in einer tradierten oder neuen Figuration, einer geschlossenen Form aufzuhalten sei. Deshalb ist die Frage drittens metadramatisch. Ob man es mit dem an Büchner erprobten Begriff der offenen Form95 oder einem anderen fasst: Wenn das Drama die ästhetische Versöhnung im Werk verweigert und eine »Zersplitterung jeder […] körperlich-organischen Einheit«96 zu einer nur »losen Folge von Bildern, von Ausschnitten aus dem Geschehen«97 betreibt, ist es die dispersive Situation selbst. So wird Büchners Drama als postheroisches »geschichtliches Gemälde« einsichtig, als »anschauliche Entfaltung der Problematik«98 des ehernen Gesetzes in einem
94 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. 1997, S. 15. 95 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1969. 96 Helmut J. Schneider: »Tragödie und Guillotine. Dantons Tod: Büchners Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper«, in: ders., Volker C. Dörr (Hg.): Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Bielefeld 2006, S. 127-156, hier S. 130. 97 Turk: Aber die Zeit (Anm. 91), S. 96. 98 Helmut Fuhrmann: »Die Dialektik der Revolution – Georg Büchners Dantons Tod«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 212-233, hier S. 217. Vgl. ähnlich bereits Klaus F. Gille: »Büchners Danton als Ideologiekritik und Utopie«, in: Henri Poschmann (Hg.): Wege zu Georg Büchner. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften (Berlin-Ost). Berlin u. a. 1992, S. 100-116, hier S. 110.
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sehr spezifischen Sinn. Denn wenn das eherne Gesetz der Begriff für das Diagramm als dispersive Totalität der Kräfte ist, dann öffnet es sich keiner spontanen sinnlichen Anschauung: »es zu erkennen«, schreibt ja Büchner, ist »das Höchste«. Das eherne Gesetz ist anders als der Held keinem unmittelbaren Vor-Augen-Stellen zugänglich, sondern nur der symbolischen Darstellung, durch die »einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird«.99 So nämlich definiert Kant in der Kritik der Urteilskraft den Begriff der Hypotypose zu einer Darstellungsform um, die nicht das Gemeinte belebt vor Augen stellt, sondern das Gemüt mit einem »Symbol für die Reflexion«100 zur Erkenntnis dessen belebt, dem keine Anschauung genügt und das jeder Figuration notorisch entgeht.101 Deshalb auch Büchners Wunsch: »die Leute mögen dann daraus lernen« (W2 410). Jenseits des Aktionsbilds ist der Danton, nach Deleuze, ein mentales Bild, das in ein Verhältnis zum Denken tritt und »nicht zu Wahrnehmungen, sondern zu Deutungen [veranlaßt], die auf ein Sinnelement verweisen; nicht Affekte, sondern intellektuelle Gefühle von Relationen«102 nach sich zieht und so rhetorisches Pathos durch eine »geistige Beziehung«103 ersetzt. Der Zerfall des Aktionsbilds kulminiert am Ende des Stücks in Luciles Schrei, einem »ganz und gar wirkungsbezogene[n] Schrei, jedoch ohne Wirkung«,104 einem Schrei, der sich der Situation bemächtigen will, »daß erschrocken Alles stehen bleibt, Alles stockt, sich nichts mehr regt« (W1 88), und in seinem Verhallen ein neues Bild aufschließt. Luciles Schrei geht nicht mehr wie das »Bewegen und Schreien« (W2 369) der Helden im
99 Immanuel Kant: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. X: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1992, S. 295. 100 Ebd., S. 296. 101 Zur Gemütsbelebung durch die symbolische Anschauung vgl. Rodolphe Gasché: »Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«? Frankfurt a. M. 1994, S. 152174, hier S. 162-172. 102 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 38), S. 264. 103 Ebd., S. 270. 104 Ingrid Oesterle: »›Zuckungen des Lebens‹. Zum Antiklassizismus von Georg Büchners Schmerz-, Schrei- und Todesästhetik«, in: Poschmann: Wege zu Georg Büchner (Anm. 98), S. 61-84, hier S. 77.
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sensomotorischen Bild auf. Er schafft eine reine optische und akustische Situation, er verlässt in seinem Erklingen auf der Bühne die durch die Aktion strukturierte historische Zeit und gibt ein direktes Zeit-Bild, ein reines Bild der Zeit als »Fülle, das heißt die unveränderliche, durch die Veränderung ausgefüllte Form«,105 ein Bild also des zernichtenden ehernen Gesetzes: »Eine rein optische und akustische Situation setzt sich nicht in Aktion um, sowenig sie von ihr veranlaßt wird. Ihre Funktion besteht darin, etwas begreifbar zu machen, und im allgemeinen nimmt man an, daß sie etwas Untragbares und Unerträgliches faßbar macht.«106
105 Deleuze: Zeit-Bild (Anm. 94), S. 31. 106 Ebd., S. 32.
Der Auftritt des Helden Zu einem konstitutiven Aspekt des Heroismus seit dem 19. Jahrhundert J ESKO R EILING
In seinem Geleitwort zu der 1967 erschienenen Monographie Der Held. Versuch einer Wesensbestimmung von Filadelfo Linares empfiehlt Wolfgang Schadewaldt die Lektüre aus einem doppelten Grund. Linares greife eine »alte, bedeutende Thematik« auf, der er eine »neue Zielrichtung« gebe. Anstatt wie bisher den Helden in einer lediglich »statischen Beschreibung« zu definieren, frage Linares nach dessen »Konstituierung und damit nach dem Verhältnis des Helden zum Volk«,1 bestimme den Helden nicht mit einem isolationistischen Blick auf die körperlichen sowie charakterlichen Eigenschaften, sondern aus einer gesellschaftlich kontextualisierenden Perspektive. Zu Recht weist Schadewaldt damit auf einen Sachverhalt hin, der für das moderne Verständnis von Heldentum zentral ist: auf die Gebundenheit des Helden an die öffentliche Wahrnehmung. Allerdings greift Schadewaldt zeitlich zu kurz aus, wenn er Linares als Gewährsmann für diese Sichtweise in Anspruch nimmt. Vielmehr wird der Held seit Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem durch seine Rezeption definiert; ja, es kann geradezu als Signum dieser und der folgenden Epochen gelten, die zentrale Bedeutung der Rezeptivität des Heldentums entdeckt zu haben. Wichtige Impulse für diese Neuakzentuierung des Heldenverständnisses gingen im 19. Jahrhundert von der politischen Geschichte (und ihrer Histo-
1
Alle Zitate: Wolfgang Schadewaldt: »Zum Geleit«, in: Filadelfo Linares: Der Held. Versuch einer Wesensbestimmung. Bonn 1967, unpaginiert.
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riographie) mit ihren vielen und vielfältigen Konfliktkonstellationen aus. Die bisweilen rasanten Regierungswechsel und die damit einhergehenden gesellschaftlich-sozialen und politischen Neuordnungen führten den Zeitgenossen nur allzu deutlich die Gemachtheit von Geschichte vor Augen und ließen angesichts der zunehmenden öffentlichen Berichterstattung über das politische Geschehen – und das ist das neue Moment – die Frage nach den individuellen Eingriffs- bzw. Gestaltungsmöglichkeiten aufkommen. Es ist vor allem die Denkfigur des ›großen Mannes‹, mit der im 19. Jahrhundert ein zeitgemäßes, modernes Heldentum modelliert wurde.2 In seiner Kulturgeschichte der Neuzeit verwies Egon Friedell 1927 auf die »scharf erhellte Galerie klar ausgemeißelter, stolz profilierter Charakterfiguren«,3 die für bedeutende Fortschritte in der Entwicklung der Menschheit verantwortlich seien. Die Entstehung dieser Galerie der »sogenannten großen Männer« erklären zu wollen, sei, so Friedell weiter, ein Ding der Unmöglichkeit: [S]tatt dem Prozeß nachzugrübeln, durch den sie wurden, was sie sind, einem Prozeß, der niemals ganz ergründet werden kann, weil er unterirdisch verläuft, in den dunklen Stollen der menschlichen Kollektivseele, wollen wir uns damit begnügen, sein Resultat zu konstatieren. Dieses Resultat ist klar und deutlich […]. Diese Menschen waren noch gestern dasselbe wie alle anderen: Individuen, Einzelgeschöpfe, Zellen im großen Organismus des Erdengeschlechts, Einheiten in der Millionensumme; und plötzlich sind sie eine ganze Gattung geworden, eine platonische Idee, ein neuentdecktes Element, eine neue Vokabel im Wörterbuch der Menschheit. […] Ein Individuum ist über Nacht ein Begriff geworden! Das ist ein ebenso großes Mysterium wie die Geburt oder irgendein anderes Schöpfungswunder der Natur.4
2
So auch Markus Fauser: »Historische Größe. Rekonstruktion und Semantik einer Denkfigur des Historismus«, in: Rosmarie Zeller (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchbergers Kolloquiums. Heidelberg 2000, S. 205-221.
3
Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit [1927-31]. Frankfurt a. M. 2009, S. 569.
4
Ebd., S. 569 f.
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Das beginnende 19. Jahrhundert hat für Friedell zwei Helden hervorgebracht, Goethe (das »größte Genie des Betrachtens«) und Napoleon (das »größte Genie des Handelns«). Seine Einschätzung stützt sich auf die Vorlesungen von Ralph Waldo Emerson und Thomas Carlyle,5 die beide um die Jahrhundertmitte über ein das Politische überschreitende Heldenverständnis nachdachten und die Eigenschaften der offenkundig von der Masse so ver- und geschiedenen, herausragenden Persönlichkeiten (aus Kunst, Wissenschaft und Religion) zu bestimmen suchten. Das traditionelle Bild des Kriegerhelden war zwar immer noch wirkmächtig, wurde jedoch semantisch deutlich ausgeweitet und auf andere gesellschaftliche Teilsysteme übertragen. Während Friedell sich explizit weigert, nach einer Erklärung für die Genese des großen Individuums zu suchen – und durch diese Weigerung seinerseits zur Auratisierung der ›großen Männer‹ beiträgt –, interessierten sich die Autoren des 19. Jahrhunderts gerade für diesen Prozess und nahmen die Bedingungen und Konstellationen, die einen ›großen Mann‹ hervorbringen konnten, in den Blick. In einigen exemplarisch ausgewählten literarischen Texten (von Heinrich Zschokke, Heinrich Heine, Jeremias Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer) soll im Folgenden dieser Suche nachgespürt werden und damit der Blick auf die moderne Frühgeschichte des Heroischen gelenkt werden, die bis heute für das Verständnis von Heldentum konstitutiv ist. Skizziert werden soll eine Poetik des (materialen, nicht funktionalen) literarischen Heldentums. Es wird sich zeigen, dass diese im Wesentlichen auf Imaginationsakten und verschiedenen Perspektivierungen des Helden aufbaut und damit in der Tat auf den von Friedell genannten Begriffen der »Kollektivseele«, des »Mysteriums« und der ›natürlichen‹ Entstehung des Heldentums beruht. Darüber hinaus ist es neben der vorausgesetzten außergewöhnlich großen Tat des Helden, die entsprechende gesellschaftliche Auswirkungen hat, vor allem der Auftritt des Helden, sein Durchschreiten des öffentlichen Raums, mit dem die Autoren die Exzeptionalität des Helden visualisieren.
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Ralph Waldo Emerson: Representative Men. Seven Lectures [1850]. Boston 1857; Thomas Carlyle: On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History. Six Lectures [1841]. New York 1866.
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I. »K NIRPSTUM « VERSUS H ELDENTUM : I MAGINÄRE F ÜLLUNG DER D IFFERENZ Jacob Burckhardt stellte gegen Ende der 1860er Jahre Überlegungen zur historischen Größe an und bemühte sich um eine phänomenologische Bestimmung der außergewöhnlichen Persönlichkeit, die sich deutlich von der Allgemeinheit abhebt. Seine Typologie der ›großen Männer‹ umfasst Erfinder und Entdecker, Wissenschaftler, Philosophen, Künstler, Architekten, Musiker, mythische Gestalten, Religionsstifter und vor allem Politiker und Staatsmänner, die den Kern seiner Überlegungen darstellen, vermag aber, so Burckhardts eigene Deutung, keine abschließende Definition zu bieten: »Die wirkliche Größe ist ein Mysterium.«6 Letztlich bleibt sie stets ein »Phänomen der Zuschreibung«,7 die einem »dunklen Gefühle« entspringe und nicht auf festen moralischen, politischen usw. Kategorien beruhe.8 Diese Einsicht in die Relativität des Urteils nimmt Burckhardt sehr ernst und fokussiert deshalb die grundlegende Opposition, die Differenz zwischen dem »Knirpstum« der Vielen und der Größe des außergewöhnlichen Einzelnen: »Größe ist, was wir nicht sind.«9 Damit bekommt die Relationalität zwischen Held und Masse konstitutive Bedeutung, Heldentum definiert sich also durch die Wirkungsweise des großen Mannes auf den kleinen Mann bzw. durch die Wahrnehmung des kleinen vom großen. Eigentümlich ist die Umgestaltung und Färbung, welche die einmal für groß Erkannten erfahren. On ne prête qu’aux riches; Mächtigen bietet man von selber Anleihen dar, und so bekommen die großen Männer von ihren Nationen und Bekennern sowohl gewisse Eigenschaften als auch Sagen und Anekdoten geliehen, in welchen eigentlich irgend welche Seite des Volkstypus sich ausspricht.10
6
Jacob Burckhardt: »Das Individuum und das Allgemeine. (Die historische Größe)«, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte. Aus dem Nachlaß hg. von Peter Ganz. Basel 2000, S. 497-525, hier S. 498 (Hervorhebung im Original).
7
Fauser: Historische Größe (Anm. 2), S. 211.
8
Burckhardt: Das Individuum (Anm. 6), S. 498.
9
Ebd., S. 497.
10 Ebd., S. 523 (Hervorhebung im Original).
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Es sei geradezu eine der »deutlichsten Proben« für die Größe einer Person, wenn sich die Masse darum bemühe, deren »Bild nach Kräften zu ergänzen«:11 In der Tradition, im populären Urteil richtet sich nämlich der Begriff der Größe nicht ausschließlich nach dem gehabten Verdienst um das erhöhte Gedeihen des Ganzen, auch nicht nach genauer Messung der Fähigkeit, ja nicht einmal nach der historischen Wichtigkeit, sondern das Entscheidende ist am Ende doch die ›Persönlichkeit‹, deren Bild sich magisch weiter verbreitet.12
Burckhardt beschreibt hiermit einen imaginationsgeschichtlichen Sachverhalt, auf den auch Friedell anspielte und den zuletzt Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel hervorhoben, als sie die universelle, anthropologische Bedeutsamkeit des Heldentums als »Imago« respektive »heroisches Phantasma« betonten.13 Auch für Burckhardt gründete die Verehrung der ›großen Männer‹ anthropologisch in dem menschlichen »Bedürfnis der Unterwürfigkeit und des Staunens«, das er als Verlangen begreift, »uns an einem für groß gehaltenen Eindruck zu berauschen und darüber zu phantasieren«.14 Es ist also gemeinhin die Imaginationsfähigkeit und -notwendigkeit des Menschen, die zur Entstehung von Helden beiträgt. Die Erkenntnis, dass zwischen Betrachter und Helden eine Differenz besteht, ist hierbei die basale Ausgangssituation, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt der Betrachtung wird durch die Imagination geschlossen. Indem Burckhardt das Heroische an große Affekte koppelt, schreibt er sich in die rhetorisch-poetologische Tradition des Erhabenen ein. Die ursprünglich rhetorische Kategorie, die in der Antike einen hohen Stil bezeichnete, der beim Zuhörer heftige Gefühle wecken sollte, wandelte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer ontologischen Kategorie, die sowohl der Natur als auch dem Menschen zugeschrieben wurde und eine
11 Ebd., S. 516. 12 Ebd., S. 523. 13 Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel: »Über dieses Heft«, in: Merkur: Heldengedenken 724/725 (2010), S. 750 f., hier S. 751. 14 Burckhardt: Das Individuum (Anm. 6), S. 497.
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außergewöhnliche Erscheinung bezeichnete.15 Vor dem Hintergrund einer aufklärerisch-rationalistischen Anthropologie schrieb in diesem Sinne Christian Cajus Lorenz Hirschfeld 1770, dass die »heroischen oder erhabenen Tugenden«, die man im Epos oder Trauerspiel beobachten könne, »am meisten einen rührenden oder erschütternden Eindruck« bei Publikum machen würden, weil die Tugenden in vollendeten Formen, in ihren vollkommensten Ausprägungen gezeigt würden.16 Schiller modifizierte das exzeptionell Erhabene der barocken und frühaufklärerischen Tragödien zu einem ›menschlich Erhabenen‹, wenn er es insofern als höchsten Ausdruck des Menschseins begreift, als dass der Mensch in einem bewussten Akt der Entscheidung jegliche äußere Determination des Willens abstreift und damit die Vernunft über die Sinnlichkeit triumphieren lässt. Dieser Moment der Überwindung des Leidens an den äußeren Gegebenheiten wird als heroischer Akt verstanden, der im Zuschauer Mitgefühl und Bewunderung zugleich auslöst; es ist dieser Moment, der den Helden konstituiert.17 Auch bei Schiller findet sich somit – freilich schon deutlich reduziert – die bis ins 18. Jahrhundert typische, ontologische Heldendefinition, die sich stets darum bemühte, die grundlegenden Wesensmerkmale des Helden im Helden selbst zu bestimmen, und (meist) einen umfassenden, mit der Zeit immer bürgerlicher werdenden Tugendenkatalog enthielt.18 Hirschfeld etwa definierte den Helden strikt nur durch das, was wirklich im Helden vorhanden ist und nicht wie Burckhardt durch das, was die Masse hinzuphantasiert: Das Grosse, das wir von dem Menschen behaupten, mus [sic] ihm nicht der Wilkühr beilegen, nicht die Einbildungskraft andichten; wir müssen es in ihm selbst, in seinen eigenen Kräften entdekken können, und Aufmerksamkeit und
15 Vgl. Christian Begemann: »Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaften 58 (1984), S. 74-110. 16 Christian Cajus Lorenz Hirschfeld: Betrachtung über die heroischen Tugenden. O. O. 1770, S. 5. 17 Vgl. hierzu Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010, insbesondere S. 43-62. 18 Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, insbesondere S. 65-150.
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Beurtheilung, begleitet von der Erfahrung und Geschichte, spüren es in den Wegen der menschlichen Natur auf.19
Hirschfelds Überlegungen drehen sich folglich vor allem darum, die ›wahre‹ Größe erkennen und von der falschen, bloß vorgetäuschten unterscheiden zu können. Dementsprechend konnte für Hirschfeld ein Held seine Taten unbeachtet von der Allgemeinheit vollbringen und gleichwohl als Held gelten,20 während Burckhardt die Außenperspektive, die öffentliche Wahrnehmung, zu einem der wichtigsten Aspekte erhob. Im 18. Jahrhundert wurde die Tat des Helden mit ihrem konkreten gesellschaftlichen Nutzen korreliert und an diesem gemessen,21 auch Schiller intendierte noch, durch das inszenierte Miterleben der heroischen Entscheidung eine Besserung des individuellen Zuschauers als Mensch herbeizuführen. Im 19. Jahrhundert entkoppelte man den Helden insofern davon, als man ihm vermehrt prospektiven, metaphysischen Nutzen attestierte. Hegel ›befreite‹ den Helden von den allgemeinen moralischen Kategorien, wodurch er ihm eine moralisch und sittlich exzeptionelle Position zuschrieb, ihn dafür aber in (welt-)historischer Hinsicht als Vollstrecker des Weltgeistes definierte. Burckhardt, der freilich seine Vorbehalte gegenüber dem ›amoralischen‹ Helden hatte,22 stellte das emotionale Phantasieren, sprich: die Verehrung des ›großen Mannes‹, wie viele seine Zeitgenossen in den imaginären und affektiven Dienst der Beförderung der Nation und ihres Zusammenhaltes: Die als Ideale fortlebenden großen Männer haben einen hohen Wert für die Welt und für ihre Nationen insbesondere; sie geben denselben ein Pathos, einen Gegenstand des Enthusiasmus und regen sie bis in die untersten Schichten intellek-
19 Christian Cajus Lorenz Hirschfeld: Versuch über den grossen Mann. Erster Band. Leipzig 1768, S. 69. 20 »Der würklich grosse Mann behauptet diesen Nahmen, wenn er auch kein Geräusche in der Welt macht.« (Ebd., S. 21). 21 Vgl. etwa Thomas Abbt: Vom Verdienste (1765). 22 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: »Jacob Burckhardt als Leser Hegels«, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 511-533.
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tuell auf durch das vage Gefühl von Größe; sie halten einen hohen Maßstab der Dinge aufrecht, sie helfen zum Wiederaufraffen aus zeitweiliger Erniedrigung.23
Es überrascht so auch nicht, dass in den Künsten des 19. Jahrhunderts – wenn es um Heldendarstellung ging – vor allem Nationalhelden aufgegriffen wurden; auch die folgenden literarischen Beispiele präsentieren (im weitesten Sinne) Nationalhelden.
II. A LTE B ILDER FÜR MODERNE H ELDEN (H EINRICH Z SCHOKKE , H EINRICH H EINE ) Der aus Magdeburg stammende, heute vor allem als Volksaufklärer und politisch engagierter helvetischer bzw. Aargauer Staatsbeamte bekannte Heinrich Zschokke verfasste 1814 mit der Erzählung Hans Dampf in allen Gassen eine Satire auf den zeitgenössischen Politiker. In ihr schildert er den politischen Aufstieg von Hans Dampf, des neuzeitlichen »Alkibiades«, wie es mehrmals in der Erzählung heißt, zum angesehenen Ratsherr und Bürgermeister (»Konsul«) der Republik Lalenburg. Indem Zschokke seine Darstellung als weitere Episode aus dem erstmals 1597 erschienenen Schwankroman Das Lalebuch. Wunderseltsame, abenteuerliche, unerhörte und bisher unbeschriebene Geschichten und Taten der Lalen zu Laleburg ausweist, kann er unter dem Deckmantel der Fiktion dem Leser unterhaltsame Einblicke in den zeitgenössischen Politikbetrieb geben und gleichzeitig auch historische Konstanten des Herrschers aufdecken und diffamieren.24 Als Narren-Erzählung karikiert seine Erzählung den nach Macht strebenden
23 Burckhardt: Das Individuum (Anm. 6), S. 524. 24 »Alexander der Große so gut als sein schwedischer Affe Karl der Zwölfte, Karl der Große so gut als sein korsischer Nachahmer [Napoleon], jeder war zu seiner Zeit ein Hans Dampf in allen Gassen und spielte in den Leidensgeschichten der verschiedenen Nationen seine unvergeßliche Rolle, ohne dafür gesegnet zu werden.« (Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Humoristische Erzählungen, Novellen und Fabeln. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Volker Michels. Frankfurt a. M. 1980, S. 81. Im Folgenden mit der Sigle HD und Seitenzahl direkt im Text zitiert.)
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Politikertypus, den Zschokke aufgrund seiner eigenen politischen Tätigkeit wohl auch aus nächster Anschauung kannte. Entscheidend für den Aufstieg in Amt und Ehren ist nicht das tatsächlich für das Allgemeinwohl Geleistete, sondern dasjenige, was die anderen dafür halten. Der Erzähler, der sich selbst als »Plutarch dieses Helden« (HD 145) bezeichnet und damit die auch von Heine konstatierte wichtige Rolle des Historiographen (vgl. unten) betont, hebt mehrfach explizit hervor, dass Hans Dampf – entgegen dem republikanischen Tugendverständnis – keinen Altruismus oder andere lobenswerte Eigenschaften besitzt, sondern stets nur vom Zufall profitieren kann.25 Dementsprechend spricht der allwissende Erzähler Hans Dampf keine besonderen heroischen Attribute zu. Auf der Ebene der Diegese, das zeigt die Schilderung der öffentlichen Sichtweise von Hans Dampf, gilt Hans Dampf freilich als ›großer Mann‹. Grell beleuchtet Zschokke durch diese Erzählanlage im traditionell-aufklärerischen, moralistischen Sinne die Differenz zwischen Schein und Sein: [S]chon die Natur hatte für diesen liebenswürdigen Jüngling viel getan. Er schien zu großen Dingen geboren. […] Schon das stille Bewußtsein, Geld zu haben und zur Herrschaft geboren zu sein, erhebt über den großen Haufen, macht klug, gelehrt, verständig, rechtschaffen, geistvoll und liebenswürdig. Ohnehin von angenehmer Gestalt, sah man es ihm an, wohin er auch kommen mochte, daß er um seines Selbst willen geschaffen sei; in seinen Worten, in seiner Haltung, in seinen Bewegungen herrschte eine gefällige Leichtigkeit, ein ungezwungenes Leben, welches man bei jedem anderen, der von geringerem Herkommen gewesen wäre, Ungezogenheit oder Dummdreistigkeit genannt haben würde. Er wußte mit edler Freimütigkeit über alles zu sprechen, was er verstand und nicht verstand, war kenntnisvoll ohne Schulfüchserei, denn er hatte seine Kenntnisse aus Romanen, Journalen und gelehrten Zeitungen geschöpft, die ihm das Lesen pedantischer Bücher ersparten und doch deren Fünftelsaft mitteilten. Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner
25 »Das Glück war ihm [Hans Dampf] hold in allem. Kein Wunder, wenn die meisten Lalenburger ihn für eine außerordentliche Erscheinung in der Welt- und Menschheitsgeschichte hielten und zuletzt alle Spiele des Zufalls für Werke seiner Kraft ansahen und Sachen auf die Rechnung seiner Vielfältigkeit schrieben, von denen er selbst gar nicht wusste.« (HD 81).
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Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun – genug, er hatte jene Eigenschaften in vollem Maße, die an geringern Personen zwar für Naseweisheit gelten, aber in Lalenburg nicht ohne die wichtigsten Wirkungen bleiben konnten und als Universalgenialität bei großen Staatsmännern geachtet werden müssen. (HD 79 f., Hervorhebungen im Original)
Deutlich zeigt sich, dass der moderne Politiker bzw. Machtmensch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vor dem Hintergrund des aristokratischen Herrschers bzw. des Ideals des ›grand homme‹ gesehen wurde und von dessen tradiertem Image zehrte. In den Augen der Öffentlichkeit erscheint der zeitgenössische Politiker als Wiedergänger des alten Adels. Bereits Hirschfeld hatte 1768 den großen Mann als zeitgemäße Ausformung des älteren Kriegerhelden verstanden: »Die wahre Grösse« der Seele zeige sich, »wenn der Feind der Ruhe und des Vaterlandes überwältiget« werden soll, sie zeige sich aber auch »beim Nachsinnen für die Wohlfahrt anderer Menschen, bei wichtigen Erfindungen, bei verschwiegenen nüzlichen Unternehmungen«.26 Es ist mithin also die bürgerliche Vorstellung vom fleißigen, im Stillen arbeitenden Politiker, die an die Stelle des Kriegerhelden getreten ist und zusammen mit dem ›großen Mann‹ als Bildspendebereich präsent und prägend war.27 Für den Aufstieg zum »größten Mann seines Jahrhunderts« braucht Hans Dampf (HD 140), das wird auch Burckhardt rund 60 Jahre später betonen, vor allem eins: ein Volk, das wie in Lalenburg bereit dazu ist, ihn als solchen wahrzunehmen. Das bedeutet auch – und diese Einsicht unterscheidet das 19. Jahrhundert von den vorangehenden –, dass der PolitikerHeld die Fähigkeit haben muss, sich ›in Szene setzen‹ zu können. Er muss wissen, was beim Volk ankommt: Hans Dampf »kannte sein Volk und wusste es zu behandeln« und nahm »danach seine Maßregeln« (HD 140). Zschokke beleuchtet damit einen Aspekt, den auch Heine an Napoleon hervorhebt, wenn er diesem das Talent zuschreibt, die »Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu kajoliren, ihn nie zu beleidigen, und immer zu benut-
26 Hirschfeld: Versuch (Anm. 19), S. 21. 27 Vgl. Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002.
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zen«:28 die »Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken« (HKG 160). Für Zschokke bestand, auch das findet sich bei Heine und Burckhardt wieder, diese Kunst vor allem darin, visuell und damit verbunden affektiv die Massen anzusprechen. Hans Dampf behängt sich folglich mit einem »breite[n] und große[n] Nimrodsorden« und setzt eine »ungeheure, hundertlockige Allongeperücke« auf, die ihn »wie eine Wolke« umhüllt und »die Hälfte seiner ansehnlichen Gestalt in Kopf verwandelte« (HD 141). Dergestalt ausgestattet im Stile des Ancien Régime schreitet er – auch das nimmt den Düsseldorfer Triumphzug Napoleons, den Heine schildert, vorweg (vgl. unten) – durch Lalenburg: Als er [Hans Dampf] nun mit wohlabgemessenem Schritte von seinem Haus zur Versammlung des Rates ging, flogen alle Fenster in der Gasse auf, alle geschwätzigen Mäuler verstummend zu, alle Hüte und Mützen ehrfurchtsvoll ab. So außerordentlich war die allgemeine Ehrfurcht, daß keiner der Ratsherren ihm zur Seite zu gehen wagte, sondern in tiefster Höflichkeit immer einen halben Schritt hinter ihm blieb. Auch ward dem Ordensbande, der Staatsperücke und ihm im Ratssaale der vornehmste Platz auf der ersten Bank unter so vielen Zeremonien, Verbeugungen und Kratzfüßen angewiesen, daß von den höflich hinter sich Scharrenden drei Stühle umgeworfen und zwei Ratsgliedern heftig auf die Krähenaugen getreten wurde […]. (HD 141)
Die absolutistischen Insignien der Macht dienen zur Inszenierung der eigenen Größe, sie schaffen im Grunde erst die Distanz zwischen Volk und Herrscher. Die »Notwendigkeit äußerlichen Ansehens, Glanzes, Pompes« (HD 143) wird deshalb auch zur politischen Hauptmaxime und damit korrespondierend die Nicht-Aufklärung des Volkes zum Staatsgrundsatz erklärt. Alles soll in eine Aura des Scheins verpackt werden, so wie es aus Zschokkes republikanischer Warte in historischer Perspektive die arkane Politik des Absolutismus getan hatte. Die moderne Zeit und ihre ›Helden‹ können, das zeigt Zschokkes Erzählung, nur durch die Brille der Vergangenheit gesehen und mit deren semantischen Kategorien beschrieben werden. Wie schon Zschokke den Konsul Hans Dampf sowohl als »Helden«
28 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr u. a. 16 Bände. Düsseldorf 1975-1997, Bd. 6, S. 159. Im Folgenden als HKG mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.
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wie auch als ›großen Mann‹ bezeichnet, so verwendet auch Heine, das wird sich im Folgenden zeigen, beide Begriffe, um Napoleon zu charakterisieren. Auch andere Zeitgenossen wie etwa Berthold Auerbach verwendeten diese doppelte Bezeichnung für den modernen Regenten,29 es empfiehlt sich deshalb in der Ausleuchtung der Geschichte des Helden (wie auch des großen Mannes) nicht so sehr semasiologisch zu verfahren, sondern onomasiologisch. Dadurch hält man sich die semantische Bandbreite des Heldenbegriffs seit 1800 präsent.30 Heine, das wurde bereits angedeutet, arbeitete vergleichbare Strukturen der Inszenierung und Heroisierung heraus, wobei er eine konkrete politische Persönlichkeit fokussierte, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und darüber hinaus) die Phantasie der Massen und Gelehrten anregte:31 Napoleon. Heine beginnt in Nordsee III seine Schilderungen mit Reflexionen über die Imaginations- und Mediengeschichte von Napoleon, die er selbst mit seinem Text weiter fortschreibt. In Auseinandersetzung mit geplanten oder bereits veröffentlichten Werken zu Napoleon konstatiert er die einflussreiche Rolle der literarischen wie historiographischen Erinnerungsarbeit, die einen öffentlichen und vor allem nationalen Bewusstseinsraum schaffe. Durch die vielen »Memoiren von Staatsleuten, Soldaten und edlen Frauen« entstehe ein »Sagenkreis«, der nicht nur für die Gegenwart das Andenken an Napoleon aufbewahre, sondern auch der Nachwelt »genug zu denken und zu singen« gebe (HKG 162). Während die mittelalterlichen Ritterepen die Erinnerungen an ehemalige Helden wachhalte, führe die zeitgenössische Literatur über Napoleon diese Tradition weiter und sei somit als moderne Form der Heldenverehrung anzusehen. Insbesondere Philippe-Paul de Ségurs Schilderungen von Napoleons Russlandfeldzug (Histoire de Napoléon et de la grande armée pendant 1812, Paris 1824) gilt
29 Vgl. Jesko Reiling: »›[D]a steh’ ich wie ein Pflänzchen‹. Zum Heroismus in Berthold Auerbachs Andree Hofer«, in: ders., Carsten Rohde (Hg.): Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Bielefeld 2011, S. 65-99, hier S. 82 f. 30 Anders hingegen Michael Gamper: »Ausstrahlung und Einbildung. Der ›große Mann‹ im 19. Jahrhundert«, in: Reiling/Rohde: Das 19. Jahrhundert (Anm. 29), S. 173-199. 31 Vgl. hierzu umfassend Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung, 1800 bis 1945. Darmstadt 2007.
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Heine als paradigmatische Darstellung des »Untergangs einer Heldenwelt«, der »Grundton und Stoff der epischen Dichtungen aller Völker« sei (HKG 163) und sich auch in der Edda, im Nibelungenlied, im Rolandslied oder in der Ilias wiederfinde. Im Unterschied freilich zu diesen alten Epen wecke die moderne Dichtung nicht die Begeisterung für »längst verschollene[] Tage der Vorzeit«, sondern für »eben diese Gegenwart«, wobei Deutschland gegenüber Frankreich weit ins Hintertreffen geraten sei: »Eben die Literaturen unserer Nachbaren jenseits des Rheins und des Canals muß man mit unserer Bagatell-Literatur vergleichen, um das Leere und Bedeutungslose unseres Bagatell-Lebens zu begreifen.« (HKG 164) Dichtung, Politik und Inszenierung von Nationalhelden stehen für Heine in einem wechselseitigen Verhältnis: Fehlende Heldenliteratur deutet er zum einen als Ausdruck einer politisch bedeutungslosen, ja rückständigen Epoche. Wenn »Nazionalerinnerungen« zum anderen dichterisch nicht festgehalten würden (HKG 160), sei auch keine Besserung der politischen Lage zu erwarten; ähnliche Gedanken äußerten auch Burckhardt und Zschokke. Neben dieser gesellschaftlichen Funktion der Heldenerinnerung beschreibt Heine auch detailliert, wie der Held (vom bewundernden Volk) wahrgenommen wird. In Ideen. Das Buch Le Grand schildert er mit dem Einzug Napoleons in Düsseldorf am 3. November 1811 die seit alters her klassische Verehrungsform des Herrschers, den vom Volk bejubelten Einmarsch des siegreichen Feldherrn. Er schildert ihn jedoch nicht aus neutraler Beobachterperspektive, sondern nimmt einen sich erinnernden Kindheitsblick auf die Geschehnisse ein und führt damit gleichsam vor, wie die Heldenverehrung funktioniert. Zunächst erzählt Heine jedoch nicht nur von der Abdankung des Kurfürsten, sondern auch von der neu errichteten französischen Herrschaft und der Einquartierung des Soldaten und Tambours Le Grand im elterlichen Haus und nimmt mit dieser Vorgeschichte die medialen und psychosozialen Prägungen in den Blick. Le Grand, der offenbar Napoleon auf mehreren Feldzügen begleitet hatte, berichtet als Augenzeuge dem Knaben von den »Kriegsthaten des großen Kaisers«, denen dieser »andächtig zuhörte« (HKG 193). Die Erzählsituation wird medial erweitert, indem Le Grand die jeweiligen, damals gespielten Märsche auch gleich vortrommmelt und so die Vorstellungskraft des Knaben emotional anheizt und steigert, der dann »alles lebendig sah und hörte«, bis er es fast nicht mehr aushalten kann (ebd.).
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Solchermaßen affektiv und imaginativ (durch die ›Überlieferung‹) konditioniert, begegnet der Knabe schließlich dem Kaiser selbst, was ihm als religiöse Initiation erscheint: »Aber, wie ward mir erst, als ich ihn selber sah, mit hochbegnadigten, eignen Augen, ihn selber, Hosiannah! den Kaiser.« (ebd.) Diese eschatologische Perspektive wird jedoch durch den ersten tatsächlichen Augenschein auf den Kaiser beinahe konterkariert. Die kindliche Sichtweise folgt zwar den vermittelten (›eingehämmerten‹) Wahrnehmungsmustern, hat sich aber auch den naiven, voraussetzungslosen und neutralen Blick zumindest in Teilen noch bewahrt. Trotz aller Aufregung registriert der Knabe zunächst den Straftatbestand, dass Napoleon entgegen der polizeilichen Verordnung auf der Allee reitet; im Weiteren entdeckt er vorerst nur Unscheinbares: eine »scheinlose grüne Uniform«, ein »Hütchen« und ein »weißes Rösslein«, das sogar Gegenstand des Neides wird. Die »nachlässig[e]«, ja »fast hängend[e]« Reithaltung des Kaisers entzaubert für einen kurzen Moment anfänglich die eigentlich erwartete erhabene Erscheinung. Ein ›Blick‹ auf die Natur, die Bäume und den Himmel über Düsseldorf, lässt dann jedoch die göttliche Erscheinung Napoleons erkennen, da die Natur eine Verehrungshaltung gegenüber Napoleon einnimmt. Allerdings handelt es sich hierbei wohl nicht um eine Schau der realen Verhältnisse: Das grüne Laub passt mit der Jahreszeit (November), der am Himmel sichtbare goldene Stern mit der Tageszeit nicht so recht zusammen.32 Diese Sinnzuschreibung wird im Folgenden fortgesetzt, indem der Blick stets über die Realia hinausgeht und die sichtbaren Objekte imaginär überhöht; dadurch erst komplettiert sich das erwartete Bild. Das Äußere von Napoleon wird mit antiken Statuen verglichen, und auf seinem Gesicht steht nun das alttestamentarische Gesetz »geschrieben: Du sollst keine Götter haben außer mir« (HKG 194).33 Durch einen phantastischen Blick auf Napoleons Körperlichkeit, der nicht dessen menschliche Gestalt zu erkennen sucht, schließt sich dessen weltgeschichtliche Macht auf. In der kindlichen Phantasie bzw. durch die kindliche Sichtweise, die man mit derjenigen des Volkes gleichsetzen kann, da dieses mit derselben Begeisterung dem Kaiser begegnet wie der Knabe, erscheint Napoleon als allmäch-
32 Vgl. Beßlich: Napoleon-Mythos (Anm. 31), S. 232. 33 Vor diesem Hintergrund ließe sich dann auch im »weißen Rösslein« eine tiefere, biblische Bedeutungsschicht erkennen, die Napoleon zum apokalyptischen »Reiter auf dem weißen Pferd« stilisiert (vgl. Apok. 19,11 ff.).
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tige, gottgleiche Erscheinung und wird zum Bändiger des »vielköpfige[n] Ungeheuer[s] der Anarchie« (ebd.), zum modernen Herkules, der die Revolutionshydra besiegt hat. Zum Helden wird Napoleon durch die Imaginationskraft des Volkes, wie Heine selbst deutlich vorführt, indem er sich Napoleon gleichzeitig als Jesus Christus, Gottvater, apokalyptischen Reiter und Herkules phantasiert. Während Heine in den 1820/30ern Napoleon zwar nicht für dessen konkrete politische Ansichten, dafür aber als figurative Größe verehrte, die ihm als »Sehnsuchts-Chiffre jenseits politischer Konkretion« eine Neugestaltung der epigonalen Gegenwart versprach,34 wandelte sich sein Napoleon-Bild bis in die 1850er Jahre merklich. Im Alter erschien ihm Napoleon nicht mehr als zeitgemäßer, souveräner Lenker der Massen, der deren Wünsche zu befriedigen wusste, sondern als vormoderner, nur zufällig erfolgreicher Machtmensch: »Er siegte manchmal weil die Leute ihn nicht begriffen, und er unterlag zuletzt weil er ebenfalls nicht verstand was die Menschen und die Zeit überhaupt begehrte.« (HKG 15, 176 f.) Während Zschokke durch den ironisch-belächelnden Blick des allwissenden Erzählers und die Lalenburger Verehrung eine doppelte Perspektive auf seinen Helden Hans Dampf einnahm, finden sich bei Heine im zeitlichen Abstand divergierende Auffassungen vom Helden Napoleon, wobei auch der ›naive‹ und der verklärende Blick im Ansatz verschiedene ›Napoleone‹ erahnen ließen. Andere Autoren des 19. Jahrhunderts beleuchteten ›ihre‹ Helden ebenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven.
III. V ERSCHIEDENE P ERSPEKTIVEN AUF DEN H ELDEN (JEREMIAS GOTTHELF, CONRAD FERDINAND MEYER) Gotthelfs 1845 fertiggestellte Erzählung Der Knabe des Tell entstand als Auftragsarbeit für den Berliner Verleger Julius Springer, der im Sommer 1843 Gotthelf um eine »Jugendschrift« bat.35 Während es einige Zeit dauer34 Beßlich: Napoleon-Mythos (Anm. 31), S. 235. 35 Springer an Gotthelf, 28. August 1843, zit. nach Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden und 18 Ergänzungsbänden. Erlenbach, Zürich 1911-77, Ergänzungsband 5, hier S. 328. Im Folgenden werden die Zitate mit der Sigle SW bzw. EB sowie Angabe von Band und Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.
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te, bis Gotthelf das geeignete Thema fand,36 hielt er sich, wie der Untertitel »Eine Geschichte für die Jugend« bezeugt, an die verlegerische Vorgabe. Ein reines, »wahrhaftes Kinderbuch« hat er gleichwohl nicht verfasst, so die weitgehend einhellige Meinung der Forschung. Pierre Cimaz hielt fest, dass in dieser Erzählung die Jugend eher schlecht wegkomme und vor allem Tugenden des Alters gepriesen werden: die »histoire pour la jeunesse« lese sich als »histoire contre la jeunesse«.37 Ganz so weit muss man freilich nicht gehen, vielmehr deutet Cimaz’ Zuspitzung an, dass die Erzählung mit zwei verschiedenen Publika rechnet. Einerseits geht Gotthelf von einem jugendlichen (männlichen) Leser aus, andererseits von einem erwachsenen Leserkreis. Beiden Lesepublika mit ihren unterschiedlichen Lebens- und Wissenshorizonten sucht Gotthelf gerecht zu werden, indem er ihnen verschiedene Tells präsentiert: einen Tell als Helden und einen als Nicht-Helden. Dies gelingt ihm, indem er einerseits der Jugend den TellSohn, der wie sein Vater den Vornamen Wilhelm trägt, als Identifikationsfigur anbietet und damit eine kindliche, verehrende Sicht auf Tell vorführt, andererseits durch Erzählerkommentare für die Erwachsenen eine Distanz zur allseits bekannten (angeblichen) Gründerfigur der Schweiz schafft. Paradigmatisch zeigt sich dies in der Eingangspassage, wo der Knabe sehnsüchtig, voller unaussprechlicher Liebe und »Ehrfurcht« auf die Rückkehr seines Vaters wartet (SW 18, 124). Tell, ein »ausgemachter Mann in allen männlichen Dingen«, ist dank seiner »Körperkraft«, »Kühnheit«, »Liebe« sowie stetigen und mutigen Schaffenskraft des »Kindes sichtbarer Gott, dem er ergeben war in unbegrenztem Glauben und Vertrauen« (SW 18, 125).38 Den Erwachsenen wird Tell jedoch in ›neutraler‹ Schilderung als vorbildlicher Schweizer Bürger präsentiert:
36 Vgl. Hanns Peter Holl: »Jeremias Gotthelfs Bilder und Sagen aus der Schweiz als Reaktion auf das Jahr 1798 und seine Folgen«, in: Berner Zeitschrift für Geschichte 66 (2004), S. 119-162, hier S. 130 f. 37 Pierre Cimaz: »Le fils de Tell de Jeremias Gotthelf. Du mythe fondateur au mythe édifiant«, in: Peter Gasser, Jan Loop (Hg.): Gotthelf. Interdisziplinäre Zugänge zu seinem Werk. Bern 2009, S. 295-307, hier S. 295. 38 Die Heldenschilderung lautet in ganzer Länge: »Aber er war noch mehr, er war ein ausgemachter Mann in allen männlichen Dingen. Seiner Körperkraft kam nur seine Kühnheit gleich, und, je kühner ein Wagnis war, desto besonnener ward er, desto ruhiger vollbrachte er es. Er war der stärkste Ringer in allen drei
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[E]r war ein sinniger, treuer Mann, besaß Haus, Weib, Kinder; Ehre und Heil derselben zu fördern, das war sein Handwerk, wie es einem Christen und Schweizer ziemt. Von Jugend auf hatte er allen häuslichen Arbeiten mit Fleiß und Freude sich unterzogen, hatte gehirtet, gemolchen, gekäset, hatte gepflügt, gesäet, mit den Erzeugnissen seines Bodens und seines Fleißes Handel getrieben, hatte im Winter die Axt gebraucht, das Messer und den Hammer, war Schmied und Zimmermann […]. (SW 18, 126)
Diese doppelte Perspektive zieht sich durch den gesamten Text39 und erlaubt es Gotthelf, einerseits das Bild des heroischen Nationalhelden weiterzuschreiben, andererseits aber auch durch den ›realistischen‹, ent-heroisierenden und ent-heroisierten Blick auf Tell die von ihm verkörperten Werte zu aktualisieren und für die eigene, politisch durch die Freischarenzüge angespannte Gegenwart fruchtbar zu machen.40 Während die jungen Leser,
Ländern, ja, er fasste den wildesten Stier bei den Hörnern, stellte ihn in wütendem Anlauf, warf ihn auf den Rücken. Mit unerhörter Sicherheit sandte er seinen Pfeil durch die Luft, zwang er sein Schifflein durch den empörten See, wagte er Sprünge über Klüfte und Schlünde in den Bergen, brauchte Schwert oder Bergstock, wenn Not an Mann kam. Doch nie missbrauchte er seine Kraft, nie brauchte er sie zum Prahlen oder aus Mutwillen; aber, wo eine Not war, eine Gefahr, da war der Tell, und, wo der Tell erschien, da kam Ruhe über die, welche gefährdet waren, sie wussten, ungerettet hatte der Tell noch niemand gelassen, da floh der Übeltäter, der Böswillige, es war bekannt, wie hart Tellen Hand über solchen war.« (SW 18, 125) 39 Tell kann so als »Held[]« (SW 18, 147), als einer der »großen Männer« beschrieben werden (SW 18, 171), als »gewaltigste[r] Mann im Gebirge« (SW 18, 206), als »beste[r] Mann im Lande« (SW 18, 232), der eine »Heldentat« (SW 18, 244) vollbringt, aber eben auch als »schlichter Hausvater« (SW 18, 178) oder als »Jäger, welche selten tief denken und zumeist abergläubig geblieben sind bis auf den heutigen Tag« (SW 18, 200). 40 Vgl. Holl: Gotthelfs Bilder und Sagen (Anm. 36); Philipp W. Hildmann: »›Ein freier Mann war Tell im Lande Uri‹. Jeremias Gotthelfs literarischer Beitrag zum Gründungsmythos einer freien Schweiz«, in: Barbara Mahlmann-Bauer, Christian von Zimmermann (Hg.): Jeremias Gotthelf. Wege zu einer neuen Ausgabe. Tübingen 2006, S. 221-234; Christian von Zimmermann: »Mythos, Ethos, Pathos, Moira: Literarischer Nationalismus in Gotthelfs Der Knabe des Tell«, in:
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wie in der Erzählung der Knabe seinem Vater gegenüber, in »admirativer Identifikation« dem Vater Tell begegnen und dessen Verhalten zum Vorbild nehmen sollen, wird den Erwachsenen eine »sympathetische Identifikation« nahegelegt,41 die auf einer Übereinstimmung der Gesinnung beruht und die eigenen Werte und Überzeugungen bestätigen und festigen soll. Kinder sollen ihren guten Vater verehren, für die Hausväter ziemt sich gegeneinander eine solche Haltung freilich nicht. Gemäß Gotthelfs republikanischer Überzeugung sind die häuslichen Tugenden mit den öffentlichen identisch; jeder gute Hausvater wird im Notfall auch zum heroischen Vaterlandsverteidiger, ohne dies jedoch besonders als Heldentat herauszustellen.42 Dem Knaben kann vor allem die lesende Jugend mit einer zweifachen Rezeptionshaltung begegnen. Während zu Beginn der Erzählung durch die Schilderung der Ängste und Tagträumereien des Knaben dessen Alltäglichkeit betont wird und man sich mit ihm sympathetisch identifiziert, erscheint er gegen Ende in seinem heldenhaften Kampf und seiner Aufopferung für die Gemeinschaft als bewunderungswürdige Figur. Am Ende sind es mithin beide Identifikationsformen, die Jauß durchaus als aufeinander abfolgende Lektürehaltungen beschreibt, die die Jugend einnehmen soll: »Um ihn [den Knaben] war große Klage im Urnerlande, er war allen gestorben. Aber wie er es gedacht, lebt er noch immer, lebt für alle Urnerknaben, lebt für alle wackeren Knaben, zeigt ihnen die Wege zu Treu und Glauben, zeigt, was
Mechthild Heuser, Irmgard M. Wirtz (Hg.): Tell im Visier. Bern 2007, S. 291303. 41 Vgl. Hans Robert Jauß: »Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 21997, S. 244-292. 42 Vgl. das berühmte Diktum Gotthelfs: »Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande; aus dem Hause stammt die öffentliche Tugend, und wer kein treuer Hausvater ist, dem fehlet des alten Schweizers Art und Weise, dem fehlet der Heldenmut, der aus der Seele stammt, und was nützet in den Tagen der Gefahr der, welcher nur im Munde liegt?« (SW 15, 301) Vgl. hierzu Cimaz: Le fils (Anm. 37) sowie Albert Tanner: »Vom ›ächten Liberalen‹ zum ›militanten‹ Konservativen? Jeremias Gotthelf im politischen Umfeld seiner Zeit«, in: Hanns Peter Holl, Harald Weber (Hg.): ›… zu schreien in die Zeit hinein …‹. Beiträge zu Jeremias Gotthelf / Albert Bitzius (1797–1854). Bern 1997, S. 11-59.
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ein wackerer Knabe dem Vater ist, und wie er die Mutter liebt, und wie er sterben kann fürs Vaterland.« (SW 18, 292) Wie schon Heine nutzt auch Gotthelf den kindlichen Blick, um der Heldengestalt Kontur zu verleihen, wie schon Heine attestiert auch Gotthelf der Phantasie eine wichtige Rolle für die Heroisierung. Das zeigt nicht nur die doppelte Sichtweise auf den Vater Tell, auch weitere Beschreibungen des Knaben verdeutlichen die Bedeutung der Imagination. In Tagträumen phantasiert sich der Knabe – wie der junge Knabe Heinrich Heine – in die Rolle des Helden, der Abenteuer besteht und aus Schlachten siegreich hervorgeht (SW 18, 197 ff.). Wenn sich »Wunderbare[s]« und »Sichtbare[s]« vereinen, so der Erzähler, »können sie zum Sonnenaufgang des ewigen Tages werden« (SW 18, 200), die Phantasie befeuert, das zeigt das Schicksal des Knaben, auch zur heroischen Tat,43 in seinem Fall der »Tod ums [fürs] Land« (SW 18, 269). Während der Knabe sich als mittelalterlichen Ritter träumt,44 entwickelt er sich selbst allmählich zum »junge[n] Held[en]« (SW 18, 268) und erweist sich immer mehr als »zum Regieren geboren« oder als »König der Berge, wie der Vater des Knaben es war« (SW 18, 267). Hiermit wird den jugendlichen Lesern vorgeführt, wie sie sich selbst zum Helden konditionieren können.45 Freilich geht es dabei, das macht die Erzählung deutlich, nicht um die besondere Auszeichnung einer Einzelperson, sondern stets um den ›Helden aus dem Volk‹:46 »Wo so ein allgemein Werk einmütig vollbracht wird, verschwindet der einzelne; das Ganze ists, was das Auge fesselt, das Gemüt erfüllt. Darum haben wir auch weder Tells gedacht noch seines Knaben. Beide waren Teil des Ganzen, Glieder eines Leibes, der von einem Sinne regiert ward.« (SW 18, 250) Einen besonderen
43 Vgl. auch SW 18, 252, 269, 292. 44 Vgl. hierzu Marianne Derron: »Keine heile Welt für Helden. Existentielle ›Aventiuren‹ bei Jeremias Gotthelf«, in: Reiling/Rohde: Das 19. Jahrhundert (Anm. 29), S. 35-64. 45 Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass es auf Seiten der österreichischen Besatzungsmacht die negativen Beispiele von Heldentum gibt. Als »Tat der Trunkenheit« (SW 18, 258) – und nicht als »Mannestat« (SW 18, 259) – wird etwa die Ermordung von Herzog Albrecht I. durch seinen eigenen Neffen, Herzog Johann von Schwaben (Parricida) charakterisiert. 46 Vgl. hierzu Rémy Charbon: »Helden in der Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts«, in: Reiling/Rohde: Das 19. Jahrhundert (Anm. 29), S. 15-34.
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Auftritt wie Napoleon oder Hans Dampf hat ein solch ›kollektiver Held‹ folglich nicht. Um den Helden und seinen Kampf ums Vaterland geht es auch in Meyers Roman Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte (1874). Auch bei ihm findet sich keine uneingeschränkte Hymne auf den Nationalhelden, sondern vielmehr dessen kritische Hinterfragung und Durchleuchtung, die sich – wie bei Gotthelf – ebenfalls an zeitgenössischen politischen Problemlagen (Bismarck und die deutsche Reichsgründung) entzündete bzw. auf diese reagierte.47 Meyer interessiert sich für die Frage, wie der Mensch das »Räderwerk der Welt« oder die »Schicksalswaage der Welt«48 beeinflussen könne, und entwirft dazu drei grundlegende öffentliche Handlungsweisen, die sich alle um die Koordinaten Politik, Ethik, Macht, Gewalt, Recht und gesellschaftliches Ansehen drehen und paradigmatisch von einigen Romanfiguren verkörpert werden, die wiederum alle auch mit dem Konzept des großen Mannes bzw. Helden verknüpft sind. Zum einen wäre der ›junge‹ Jenatsch anzuführen, der zunächst als Anführer der Aufständischen von diesen als »bündnerische[r] Tell[]« verehrt wird (JJ 75), weil er tapfer und unerschrocken gegen die österreichischen und spanischen Eindringlinge kämpft. Als »Volksheld[]« (JJ 137), als »Liebling des Volkes« (JJ 157) verehrt ihn das Volk im Kampf, darüber hinaus lässt es sich von ihm auch politisch dazu überreden, den mit Herzog Rohan ausgehandelten Vertrag anzunehmen.49 Zu dieser klassischen Heldenrolle gesellt sich als zweites positives Handlungsmodell dasjenige des Herzogs Rohan, der sich als von der staatlichen Obrigkeit eingesetzter militärischer Anführer hervortut und sein Betragen in Kriegs- und Friedenszeiten nach ethischen Gesichtspunkten ausrichtet. Seine »christliche Milde des Feldherrn« verschafft ihm zwar einflussreiches Ansehen bei seinen Freunden und Untergebenen (JJ 116),50 gleichzeitig stellt sie aber auch sein politisches Handicap dar.
47 Vgl. hierzu Bettina Plett: Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzählen. Paderborn, München, Wien 2002, S. 235-243. 48 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 10: Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bern 1958, S. 102. Im Folgenden mit der Sigle JJ und Angabe der Seitenzahl direkt im Text zitiert. 49 Vgl. ebd., S. 155 f. 50 Vgl. auch seinen Einzug in Chur, wo er als »Abgott« gefeiert wird (JJ 156).
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Sein »Gewissen« lässt ihn nur als »Ehrenmann« handeln (JJ 216 f.), damit kann er aber den Intrigen und diplomatischen Täuschungen Richelieus und Jenatschs nichts entgegensetzen und wird folglich entmachtet. Der französische Kardinal, der als Handelnder selber nicht auftritt, aber aus Paris die Geschicke vor Ort entscheidend beeinflusst, dient dem ›älteren‹ Jenatsch als Rollenmuster.51 Um die militärische Befreiung Bündens auch längerfristig sicherzustellen, beschließt Jenatsch, nicht mehr dem »christlichen Ritter« Rohan mit seinen Prinzipien der »menschliche[n] Gerechtigkeit« und der »reine[n] Gesinnung« zu folgen, sondern zu den »von Rohan kindisch verschmähten Waffen« des Kardinals zu greifen (JJ 176): zu List und Verrat. Der junge Rudolf Werdmüller, Offizier im Dienste Rohans, fasst diese Politik, der er selbst auch anhängt, ohne jedoch vergleichbare Macht ausüben zu können, folgendermaßen zusammen: »Um aus den durcheinandergewürfelten Elementen der Welt etwas Planvolles zusammenzubauen, braucht es meines Bedünkens kältere Eigenschaften: Menschenkenntnis, will sagen Kenntnis der Drähte, an welchen sie tanzen, eiserne Disziplin und im Wechsel der Personen und Dinge festgehaltene Interessen.« (JJ 104) Da in auffälliger Weise diese Handlungsmodelle auf der Ebene der Diegese mit der öffentlichen Wahrnehmung verknüpft sind, hat die Forschung die »Vielschichtigkeit der Perspektiven« zum Gestaltungsprinzip des Romans erklärt.52 Vor allem Jenatsch beschreibt Meyer von Beginn an aus einer doppelten Perspektive und bezeugt damit die ›Gemachtheit‹ des Helden.53 Ohne einer der beiden Sichtweisen den Vorzug zu geben, zeigt er die Bündner Verehrung für Jenatsch wie auch die gegenteilige Sichtweise der Feinde. Jenatsch, die »Persönlichkeit von bestrittenem Werte« (JJ 101), gilt den einen als »volkstümlicher Held«, den anderen hingegen als »gewissenloser, blutbefleckter Abenteurer« (JJ 100), als »Held« oder als »Komödiant« (JJ 104). Angesichts dieser divergierenden öffentlichen Meinungen ist der junge Werdmüller beim ersten Zusammentreffen mit Jenatsch über-
51 Vgl. JJ 175-177 und 211: »Der dem Kardinal an kluger Berechnung gleichstehende Bündner […]«. 52 Plett: Problematische Naturen (Anm. 47), S. 220. 53 Dass alle Figuren aus mehreren Perspektiven gezeigt werden, analysiert Andrea Jäger: Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im 19. Jahrhundert. Tübingen 1998, insbesondere S. 124-189.
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rascht, anstatt eines »Demagogen« einen »weltgewandte[n] Mann mit der Sicherheit und Freiheit des Kavaliers in Wort und Bewegung« kennenzulernen, der nicht nur eine »ungewöhnliche[] militärische[] Begabung« besitzt, sondern auch einen »gewisse[n] Zauber der Anmut«, deren »unausbleibliche Wirkung auf den Herzog eine gewollte, vielleicht im voraus berechnete war« (JJ 101). Jenatsch erscheint ihm als ›großer Mann‹.54 Im Weiteren zeichnet Meyer sehr detailliert nach, wie sich die bündnerische Sicht auf Jenatsch mit der Zeit verändert. Jenatschs Stellung in Bünden lässt sich metaphorisch an seinen Auftritten vor der Volksmenge ablesen. Während er nach den erfolgreichen Siegen an der Seite Rohans bei seinem Einzug in Chur in der Masse aufgehoben ist,55 schreitet er nach dem Pakt mit Spanien als Anführer der Menge voran,56 um schließlich nur noch einsam und alleine dazustehen.57 Für Meyer scheint sich so vor allem die
54 Zu den weiteren Selbst- und Fremdzuschreibungen vgl. Paul Michael Lützeler: »Oszillierende Charaktere. Intertext und Zitat in Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch«, in: Monika Ritzer (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Tübingen, Basel 2001, S. 251-269. 55 »Durch das Gewühl des andrängenden Volkes ward auf dem Platze vor der Herberge von Zeit zu Zeit der Schimmer eines Scharlachkleids [von Jenatsch] und eine hochragende blaue Hutfeder sichtbar. […] Die volltönende Stimme des Obersten Jenatsch klang jetzt von den Steinstufen vor der Hauspforte her, wo er, von einem Haufen umringt, neue ungestüme Frager zur Ruhe wies.« (JJ 164). – Hier zeigt sich wie bei Gotthelf das Ideal des ›republikanisch-demokratischen, kollektiven Helden‹. 56 »Vor der Tür zauderten und drängten sich Gestalten, die einen in Waffen, die andern in Staatstracht. Keiner wagte es, sich voranzustellen. Jetzt wichen sie zur Seite und gaben Raum. Georg Jenatsch trat aus ihnen hervor und überschritt die Schwelle. Ihm folgten Guler, der Graf Travers und ein stattlicher Mann […]. Der Oberst Jenatsch, hinter dessen entschlossenen Schritten die andern nicht ungern zurückblieben, näherte sich barhaupt mit starren, blassen Zügen dem Herzog […].« (JJ 265) 57 »Ein verspäteter Reiter war durch die Nebengasse herangeeilt und auf dem kleinen Platze, dem Bürgermeister gegenüber, mitten unter die Bündneroffiziere hineingesprengt. Die Obersten wichen auf ihren stampfenden Tieren bestürzt nach beiden Seiten zurück. Auf das Kommen von Georg Jenatsch hatte keiner
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Frage zu stellen, wie es dazu kommen konnte, dass der für kurze Zeit als Nationalheld geltende Jenatsch zur bündnerischen ›persona non grata‹ werden konnte.58 Die begangenen Gewalttaten sind dafür nicht verantwortlich zu machen: »Georg Jenatsch war der Vorkämpfer des Aufstandes. Er troff von Blut und seine übermenschliche Tapferkeit wurde zur Legende. So erschlug er Hunderte von Österreichern, meldet die Sage, bei Klosters in offener Feldschlacht, er allein mit drei Genossen.« (JJ 74) Während er zunächst noch als Leonidas oder Epaminondas verehrt wird (JJ 83), wird er am Ende als Nero verunglimpft, der »unsern engen Verhältnissen entwachsen und von seinen beispiellosen Erfolgen trunken ist bis zum Wahnsinn« (JJ 255). Sein Jugendfreund Heinrich Waser bezeichnet Jenatsch als »gesetzlose[n] Kraftmenschen«, der »zum Heile des Vaterlandes notwendige Taten, die von reinen Händen nicht vollbracht werden können« (JJ 254), erbringe, und definiert Jenatsch damit im Hegel’schen Sinne als »welthistorisches Individuum«. Hegel hatte den Helden von jeglichen moralischen Einschränkungen befreit, ihm dafür aber attestiert, in Übereinklang mit dem Weltgeist zu handeln bzw. diesen zu realisieren und damit den Gang der Geschichte vernünftig zu befördern.59 Die Bündner sehen Jenatsch jedoch mit »leisem Grauen nach« und glauben vielmehr, dass dieser »seine Seele dem leidigen Satan verschrieben« habe und deshalb stets bei seinen »unmöglichsten Anschlägen Glück und Gelingen« habe (JJ 212). Am Ende erweisen sich die Bündner jedoch ebenfalls nicht als so moralisch rein, wie ihre Abscheu gegenüber Jenatsch nahelegen könnte, indem sie seinen Mord gerichtlich nicht untersuchen bzw. die Mörderin Lucretia nicht belangen. Stattdessen klagen sie um »Bündens größten Mann, seinen Befreier und Wiederhersteller« und beschließen, »ihn mit ungewöhnlichen, seinen Verdiensten um das Land angemessenen Ehren zu bestatten« (JJ 268).
gerechnet. Und da war er! Auf seinem schäumenden Rappen in der Mitte des leeren Raumes, von allen gemieden!« (JJ 222). 58 Barbara Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 269-297, liest den Roman ebenfalls nicht hinsichtlich der Figurenpsychologie, sondern betont vor allem dessen Interessen an Fragen der Inszenierungs- und Visualisierungstechniken. 59 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, S. 46-49.
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Damit bezeugen sie jene Haltung, die auch Burckhardt als wesentlich für die Heldenverehrung identifiziert hatte, die Umgestaltung und Färbung.60 Die hier behandelten, gemeinhin zum Kanon des 19. Jahrhunderts gezählten Prosatexte geben eine Poetik des literarischen Helden zu erkennen, die typologische Merkmale aufweist. Der Prozess der Heroisierung wird durch unterschiedliche Perspektiven auf den Helden und durch Verweise auf die Imaginationsakte des Volkes in den literarischen Texten vorgeführt und kritisch reflektiert. Diese erzählerische Strategie geht einher mit der inhaltlichen »Ambivalenz des Heroischen«, d. h. mit der Infragestellung der moralischen und sittlichen, gesellschaftlichen Ausnahmestellung des Helden, die der heroischen Verehrung stets eine »postheroische Ernüchterung« einzeichnet.61 Dadurch bleibt die Figur des Helden in vielen Fällen für den Leser unscharf und nicht immer eindeutig bestimmbar. Als heroische Indikatoren können neben einer außergewöhnlichen Tat physische Besonderheiten oder andere visuelle Auszeichnungen wie etwa bestimmte Attribute (Perücke, Pferd etc.) gelten. ›Massenszenen‹, die den Auftritt des Helden zum Inhalt haben, geben ›auf einen Blick‹ die Stellung des Helden im und zum Volk zu erkennen, die Tatsache, dass in den literarischen Texten nicht auf sie verzichtet wird, zeigt darüber hinaus auch, wie sehr die modernen Heldenbilder (bis heute) von den älteren heroischen Figuren und Formen zehren. Indem die Autoren Prozesse der Imagination in kollektiver, individueller und medialer Hinsicht in den Blick nehmen, bezeugen sie die fundamentale Bedeutung der Wahrnehmung und Konstruktion des Heroischen. Damit eröffnen sie den Weg zu einem Heldenverständnis, das vor allem die öffentliche Inszenierung des Helden für dessen Signum hält, wie es etwa Thomas Brussigs Wenderoman Helden wie wir (1995) bezeugt. Dessen Hauptfigur, der in Ost-Berlin vor dem Mauerfall geborene Klaus Uhltzscht, ein notorischer Versager, behauptet von sich, den Fall der Mauer herbeigeführt zu haben. Schon als Kind davon besessen, nicht als Versager zu erscheinen, denkt er sich für seinen durchaus gewöhnlichen Alltag große
60 In der Erzählung wird dieser Sachverhalt auch in der Rede des Churer Bürgermeisters bei der Verabschiedung von Herzog Rohan, der für einige Zeit als Bündner »Abgott« galt, deutlich. Rohan wird als Befreier Bündens gepriesen, obwohl er eigentlich als Verlierer abziehen muss (vgl. JJ 220 ff.). 61 Vgl. Jesko Reiling, Carsten Rohde: »Zur Ambivalenz des Heroischen im 19. Jahrhundert«, in: dies.: Das 19. Jahrhundert (Anm. 29), S. 7-15.
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Schlagzeilen im Stile der Boulevardzeitungen aus, um sich als jemand Besonderes zu fühlen. Als er als Erwachsener zufällig in die Protestbewegung des 9. Novembers 1989 gerät, steht er unvermittelt an der Spitze des demonstrierenden Volkes den Grenzwächtern gegenüber. Um dem Volk die Ausreise in den Westen zu ermöglichen, präsentiert Uhltzscht seinen durch eine Operation übergroßen Penis, mit dem er die Grenzer gleichsam hypnotisiert, so dass diese den Schlagbaum öffnen. Uhltzschts Problem ist, dass er seine Geschichte als »Erlöser mit dem großen Schwanz« nicht öffentlichkeitswirksam verkaufen und medial darstellen kann;62 dass es aber vor allem darauf ankommt, um als Held oder Berühmtheit angesehen zu werden, ist selbst dem ehemaligen Ossi nur allzu bewusst. Die heutigen Stars stehen insofern mit den ›alten‹ Helden in einer Ahnengalerie, als auch sie sich imaginationsgeschichtlich vor allem über ihren öffentlichen Auftritt definieren.
62 Thomas Brussig: Helden wie wir. Frankfurt a. M. 2008 (EA 1995), S. 316.
Heroismus der Verausgabung Zum Werk von Rainald Goetz C ARSTEN R OHDE
Ob es Rainald Goetz 1998 mit der Erzählung Rave tatsächlich gelungen ist, den vom Autor selbst Anfang der 1990er Jahre projektierten »geilen Realreißer aus der Technowelt«1 vorzulegen, darüber waren sowohl die Literaturkritik als auch die Techno- und Rave-Szene, welche popkulturszenetypisch vor allem das Kriterium ›Street-‹ bzw. »Underground-Credibility«2 in Anschlag brachte, geteilter Meinung.3 In jedem Falle aber erschloss Goetz mit der »ravenden Gesellschaft«4 stofflich neues Terrain, indem er ein Milieu der spätmodernen Erlebnis- und Freizeitgesellschaft5 in den Blick brachte, das ansonsten im hochliterarischen Spektrum der Gegenwartskul1
Rainald Goetz: Kronos. Frankfurt a. M. 1993, im Folgenden abgekürzt im laufenden Text mit der Sigle »K« und nachfolgender Seitenzahl, hier: K 386.
2
Rainald Goetz: Rave. Frankfurt a. M. 1998, im Folgenden abgekürzt »R«, hier: R 143.
3
Vgl. exemplarisch das Streitgespräch zwischen Goetz und Redakteurinnen der Zeitschrift Texte zur Kunst, in: Rainald Goetz: Celebration. Texte und Bilder zur Nacht. Frankfurt a. M. 1999, im Folgenden abgekürzt »C«, hier: C 243-271. Zur Rezeption auch: Andreas Wicke: »›Brüllaut, hyperklar‹. Rainald Goetz’ Techno-Erzählung Rave«, in: Text + Kritik 190: Rainald Goetz (2011), S. 41-51, hier S. 41 f.
4
Westbam, Rainald Goetz: Mix, Cuts & Scratches. Berlin 1997, S. 116 f.
5
Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M., New York 1993.
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tur kaum Beachtung fand. Dass das Ganze dann auch noch unter dem modischen Label »Pop« firmierte, trug ein Übriges dazu bei, dass Goetz eine Zeitlang zum Popstarautor avancierte und quasi das Deutungsmonopol innehatte, wo es um das In- und Gegeneinander von Hoch- und Popkultur ging. Im Gegensatz oder vielmehr in Ergänzung zu dieser mehrheitlich feuilletonistisch ausgetragenen Zeitgeistdebatte möchten die folgenden Ausführungen den Akzent stärker auf die ästhetischen und poetischen Verfahren legen, die sich mit Goetz’ stofflich so neuer Technoprosa verbinden. Es zeigt sich nämlich, dass hierbei ästhetische Figuren, Motive, Themen und Ideen Anwendung finden, die zum Teil in einer uralten Tradition stehen, bei Goetz eine popästhetische Re- bzw. Umcodierung erfahren und die sich schließlich und nicht zuletzt auch unter die Begriffe »Ästhetischer Heroismus« bzw. »Heroismus der Verausgabung«6 subsumieren lassen. Die Fokussierung auf derlei tiefer liegende ästhetische Prinzipien liegt auch deshalb nahe, weil Rainald Goetz als ein äußerst formbewusster Autor zu gelten hat, was sich u. a. in der einheitlichen bzw. seriellen Umschlaggestaltung seiner im Suhrkamp Verlag erschienenen Werke niedergeschlagen hat: so sind Krieg und Hirn (beide 1986) in einem hellgrünen Umschlag mit weißer Schrift erschienen, die Bände Festung, 1989 und Kronos (1993) in einem einheitlichen hellblauen Cover mit gelber Schrift, die Texte von Heute Morgen (1998–2000) in einem leuchtenden Hellrot mit weißer Schrift (mit Ausnahme des Text-Bild-Bandes Celebration), schließlich die Werke seit Klage (2008) in einem Dunkelblauviolettton mit weißem Schriftbild. Analog dazu hat Goetz ein Dezimalsystem etabliert, das von Irre (1.) über Krieg (2.1), Kontrolliert (3.), Festung (4.1), Heute Morgen (5.) bis hin zu Schlucht (6.) reicht und so die Einzelwerke in einen Gesamtzusammenhang stellt, der sich auf eine Formel bringen lässt, die der Autor bereits früh, im 1983 unter Aufsehen erregenden Umständen in Klagenfurt gelesenen Text Subito in Anschlag gebracht hat: »das einfache wahre Abschreiben der Welt«.7 Der Zyklus Heute Morgen, um den es hier hauptsächlich gehen soll, enthält folgende Teile:
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Auf die Bezüge zum wichtigsten theoretischen Stichwortgeber des Begriffs der Verausgabung / Verschwendung (frz. dépense), Georges Bataille, werde ich weiter unten eingehen.
7
Rainald Goetz: Subito, in: ders.: Hirn. Frankfurt a. M. 1986, S. 9-21, im Folgenden abgekürzt »H«, hier: H 19.
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5.1 Rave. Erzählung, 1998 5.2 Jeff Koons. Stück, 1998 5.3 Dekonspiratione. Erzählung, 2000 5.4 Celebration. Texte und Bilder zur Nacht, 1999 5.5 Abfall für alle. Roman eines Jahres, 19998 Der Zyklus wie im Grunde das gesamte Werk von Rainald Goetz lässt sich, das frühe Zitat aus Subito deutete es bereits an, als der Versuch einer gigantomanischen »Abschrift der Welt« (J 174) begreifen, weshalb Rainer Kühn denn auch in seinem KLG-Artikel treffend von einer »Ästhetik der obsessiven Lebensmitschrift«9 spricht. Dieses obsessive, manische, emphatische Moment tritt bei Goetz bereits früh in Erscheinung. »ALLES geht mich an, ALLES«, heißt es etwa in seinem literarischen Debüt Irre von 1983.10 In den Texten der 80er Jahre ist diese ethisch-ästhetische Haltung noch zumeist paranoid-katastrophisch grundiert: »[...] die konspirative paranoide Besessenheit ist die einzig vernünftige gültige Haltung zur Welt.« (H 156) Hinzu kommt eine monomanische, Thomas Bernhard’sche Lust am Paradoxen, Ausweglosen, Fürchterlichen sowie gelegentlich ein punkig-ag-
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So die Zählung im abschließenden Band Dekonspiratione; zwischenzeitlich sollten zusätzliche Texte und Bände Aufnahme finden in den Zyklus, vgl. im Klappentext zu Celebration von 1999, wo als »5.4.2.1 Word II. liegen.geht« und als »5.4.2 Word III-IX, 12-inch-Serie« aufgeführt sind (es handelt sich um Audio-CDs, die mit Techno-Musik unterlegte, von Goetz gesprochene Texte aus seinem Werk enthalten), als Unterteile von »5.4.1. Abfall für alle«. An anderer Stelle fügt Goetz zum Zyklus auch die beiden (ebenfalls in Rot-Weiß gestalteten) Merve-Interview-Bände Mix, Cuts & Scratches (mit Westbam, 1997) und Jahrzehnt der schönen Frauen (2001) als eröffnenden bzw. abschließenden Rahmen hinzu (vgl. Rainald Goetz: Jahrzehnt der schönen Frauen. Berlin 2001, im Folgenden abgekürzt »J«, hier: J 153).
9
Rainer Kühn: »Goetz, Rainald«, in: Munzinger Online / KLG − Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, URL: http://www.munzinger.de/document/16000000182; Zugriff: 10. Juli 2011 (S. 2).
10 Rainald Goetz: Irre. Frankfurt a. M. 1983, S. 259, im Folgenden abgekürzt »I«, hier: I 259.
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gressiver, negativ-destruktiver Terror-Gestus.11 In den späteren Texten hingegen findet grundsätzlich eine Aufhellung statt, die paranoide Zwanghaftigkeit, die Fixiertheit auf ein wahnhaftes inneres Selbst schwindet; die obsessive Energie richtet sich nicht mehr nur ins Negative, Nihilistische, sondern in alle Richtungen; es hält Einzug ein Luhmann’sches Staunen ob der gigantischen Komplexität der Welt. Eine Passage aus Kronos (1993), in der Goetz von den sinnlich-geistigen Glücksräuschen berichtet, welche sich mit den ersten Besuchen von Acid-Partys verbinden, verdeutlicht diese Verschiebung hin zu einem positiv konnotierten Umgang mit der Potentialität der Welt: »Ich habe das Hirn immer schon als eine großartige Maschine erlebt, so begeistert vom Reichtum seiner Möglichkeiten war ich, glaube ich, noch nie.« (K 271) Zentrales Element dieser Ästhetik und Poetik einer obsessiv-manischen Lebensmitschrift ist m. E. aber auch eine spezifische Form des ethischästhetischen Heroismus, nämlich ein Heroismus der Verausgabung, genauer: ein heroisches Sich-Verausgaben, Sich-Abarbeiten an der Wirklichkeit der Gegenwart. Das, worauf sich die Schreib- und Denkbewegung von Goetz richtet, ist letztlich ein großes Phantasma, wenngleich ein höchst reales, und es begegnet unter verschiedenen Namen: Gegenwart12 − Praxis13 − Wirklichkeit14. Und immer haben der Einzelne und die Schrift nicht die
11 Vgl. Jochen Bonz: »Punk als Medium der Entäußerung in Rainald Goetz’ früher Prosa«, in: Text + Kritik 190: Rainald Goetz (2011), S. 4-16; Stefan Greif, »›Schnauze. Nix muß ich.‹ Rainald Goetz’ Punkroman Irre«, in: ebd., S. 17-28. 12 Vgl. im Klappentext zu Celebration, wo Goetz den Zyklus Heute Morgen als »Geschichte der Gegenwart« bezeichnet. Zu dieser poptypischen Gegenwärtigkeitsemphase auch: Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003 (bes. S. 111-154: »›Jetzt, ja, nochmal. Jetzt.‹ Rainald Goetz’ Geschichte der Gegenwart«). 13 Vgl. auch die unter diesem Titel gehaltenen Poetikvorlesungen 1998 an der Universität Frankfurt, in: Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 1999, im Folgenden abgekürzt »A«, hier: A 229-372. Von der Dringlichkeit dieses Begriffs und der damit verbundenen praktischen Neugierde des Autors zeugt auch der Umstand, dass Goetz ihn im Romantagebuch immer wieder in Großbuchstaben ans Ende der Einträge setzt (vgl. A 34 f., 52 f., 73 u. ö.). 14 Vgl. bereits I 260: »Nichts ist so phantastisch überwältigend wie das Authentische, nichts so unglaublich wie die wirkliche Wirklichkeit.« Und R 23: »Wir
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geringste Chance, gegen dieses schlechthin Inkommensurable anzukommen, anzuschreiben, es mitzuschreiben, mitzunotieren, auch nur mitzudenken. Dennoch wird es fortwährend versucht. Aus dieser ebenso vergeblichen wie aufgrund der eigentümlichen Wahrheitsemphase notwendigen Anstrengung resultiert der Heroismus, der aufgrund seiner Vergeblichkeit, um welche er weiß, postheroisch grundiert ist. Ich finde schon, dass »Rave« ein Buch über die Nacht ist, das paar Sachen fasst und trifft. Aber jeder WIRKLICHE Rave ist natürlich tausend-, milliardenfach mal mehr, in jeder Hinsicht: mehr Worte, mehr Wahrheit, mehr Menschen, mehr Musik, mehr Leben, mehr Bier, mehr Meer. [...] Die Schrift kann, gerade im Gegensatz zum Bild, ganz wenig, sie ist wirklich ein trauriger Krüppel. Aber für den, der die Schrift liebt, ist dieser traurige, der Welt hinterherhinkende Krüppel das Inbild des richtigen Lebens. [...] Es ist das Leben des Schreibers eben ein Leben im Geist, ein Totenleben von Anfang an. Blödsinn, sagt der Nachtlebenaktivist und zeigt stolz seine Wunden vor, seinen von Drogen, Glück und Sex zerstörten Körper. Und die Popliteratur schaut sich diese Gegensätze an und nimmt sich einmal alles bitte, danke. (J 176 f.)
Wenn Goetz immer wieder mit Begriffen wie Wirklichkeit, Realität, ja sogar Realismus hantiert15 und sich auf diese Weise zumindest dem Begriff und Namen nach in die Tradition des literarischen und ästhetischen Realis-
wollten einen Film machen über unser Leben, über das Feiern, die Musik, wie alles wirklich war.« 15 Vgl. etwa auch im Klappentext zu Abfall für alle: »Was mir also gefällt, am Buch Abfall:« − und es folgt, auch graphisch markiert, eine lange Liste von Dingen, an erster Stelle: »der Realismus«; etwas weiter dann indes auch: »die Fiktionalität der auftretenden Personen«. Zum Realismus bei Goetz auch: Heinz Drügh: »Taping it all. Überlegungen zum Realismus der Popliteratur bei Rolf Dieter Brinkmann und Rainald Goetz«, in: Cahiers d’études germaniques 48 (2005), S. 147-158; Remigius Bunia: »Überlegungen zum Begriff des Realismus am Beispiel von Uwe Johnsons Jahrestage und Rainald Goetz’ Abfall für alle«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 139 (2005), S. 134-152; Albert Meier: »Realismus abstrakter Art. Rainald Goetz’ transironische Poetik«, in: Ivar Sagmo, Otto Erlend Nordgreen (Hg.): Moderne, Postmoderne − und was noch? Frankfurt a. M., Berlin, Bern 2007, S. 175-184.
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mus einschreibt, so hält dieses Schreib- und Denkkonzept doch gleichermaßen Distanz zu den beiden − grob gesagt − idealtypischen Polen des bürgerlichen Realismus einerseits, der zur Idealisierung neigt, des kritisch-naturalistischen Realismus andererseits, der zur krass-negativistischen Überzeichnung tendiert, und zielt stattdessen auf ein Realismuskonzept, das in einem phänomenologisch-neutralen Sinne die gesamte sinnlich-physische wie geistig-ideelle Wirklichkeit des Menschen abzubilden beansprucht. Dass ein solches Unterfangen aufgrund der schieren Größe des Gegenstandes zwangsläufig scheitern muss, das Subjekt sich ihm aber dennoch, ja sogar durchaus lustvoll hingibt − eben daraus bezieht der Heroismus der Verausgabung seine Energien. Rainald Goetz’ obsessive, vitalistische Ästhetik der Lebensmitschrift ist mithin auch das Langzeit- und Endlosprojekt eines heroischen, postheroisch-vergeblichen Sich-Abarbeitens an der Wirklichkeit, verstanden als ein unendliches dichtes und komplexes und immer wieder Staunen machendes Gewebe. Die heroische Verausgabung ist deshalb genau besehen ein gleichermaßen heroisch-lustvolles wie postheroisch-vergebliches Sich-Abarbeiten an der Fülle der Wirklichkeiten und Möglichkeiten (und also potentiell Wirklichen): […] sich / kurz ans Spektrum des Möglichen, ALLES MÖGLICHEN erinnern: / Radio / Fernseher / Musik / andere Musik / Bücher / Zeitungen / Zeitschriften − / um nur mal die wichtigsten zuhause mit einem dauernd so mit lebenden Geister zu nennen − Geisthaber, Kunstdinger, Speicher, Baller, Halter, Träger, Dinger − / abstrakte Masse / schwer, reich, dicht / was von den meisten eher als Bedrohung erlebt wird, diese Möglichkeitenflut − und von einem selber oft ja auch, in Momenten der Schwäche − wo doch eher gemeint ist davon: / Freiheit / gute Laune / Offenheit / ALLES steht dir zu, alles ist möglich − / Reichtum, Überfluß, Paradies / PRAXIS (A 34)16
16 Vgl. im Interview auf die Bemerkung, dass Goetz »ständig mit einer kleinen Kamera« seine »Umgebung« knipse: Das sei, so der Autor, auch »Gegenwartswahn«: »Dauernd merkt man, was alles los ist, was man diffus wahrnimmt, aber unmöglich erfassen kann […]. Wie alles ausschaut im Moment, die Menschen, die Kleider, die Bahnhöfe, die alle im Bau sind, quer durch ganz Deutschland. Das Megaselbstverständliche dieses doch in echt extrem herausgehobenen Gegenwartsmoments.« (J 125)
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Dem zugrunde liegt wesentlich ein Staunen über die unübersehbare, inkommensurable Komplexität und Fülle jedes Gegenwartsmoments, dem Luhmann’schen Grundimpuls nicht unähnlich, der kühlen Konstatierung der immensen Komplexität und aufgrund dessen der extremen ›Unwahrscheinlichkeit‹ von sozialen Systemen. Im Gegenzug impliziert dies: ein Staunen über das ›Wunder‹ des Funktionierens der bestehenden sozialen Ordnung.17 Von eben diesem ›Wunder‹, übersetzt und transformiert in eine ästhetisch-phänomenologische Fülle des Augenblicks, handelt auch Goetz’ obsessive Lebensmitschrift. Auf dieses täglich sich wiederholende Mirakulum einer hochkomplexen, hoch ausdifferenzierten Industrie-, Dienstleistungs- und Mediengesellschaft – welch, recht besehen, gigantische Begriffsabstraktionen, welch unendliche Mengen an praktisch-konkreter Lebensrealität, die sich hinter diesen Abstraktionen verbergen! − richtet sich der Gestus der heroischen Verausgabung. Goetz steht mit seinem Programm einer heroisch-obsessiven Lebensmitschrift mithin durchaus in einer − wenngleich apokryphen − realistischen Tradition. Doch ist zu betonen, dass die heroisch-realistische Authentizitätsfalle schon dadurch umgangen wird, dass dieser Weltzugang ein medial und theoretisch höchst reflektierter ist. Wirklichkeit ist für Goetz keine irgendwie zu verklärende authentisch-ursprüngliche Entität, sondern sie ist vielmehr gleichzusetzen mit jenem hochkomplexen und hochartifiziellen Gewebe aus Realität und Text, Faktualität und Fiktionalität, Erfahrung und Theorie, Ereignis und Medium.18 Beide Seiten sind für Goetz untrennbar miteinander verbunden. Entsprechend bezeichnet Goetz im Klappentext zu Abfall für alle den Gegenstand dieses ›Romans‹ heroisch als »Mein tägliches Textgebiet« − Text und Terrain der Wirklichkeit ergeben zusammen den Raum, das Gegenüber, dem sich Goetz mit einem Gestus der heroischen Verausgabung ausliefert, in dem er sich als Autor allererst konstituiert und realisiert. Dementsprechend glaubt Goetz auch durchaus an so etwas wie »Authentizität«,
17 Vgl. Jörg Lau: »Die unwahrscheinliche Gesellschaft«, in: Die Zeit vom 14. November 1997, Literaturbeilage, S. 18. 18 Vgl. Rainald Goetz: Loslabern. Bericht. Herbst 2008. Frankfurt a. M. 2009, S. 29: der »praktische Theoretizismus des Erzählens und Berichtens« als literarisches Ideal; »Handlung und Absicht ineinander verwickelt wie in echt, Erfahrung und Gedanke, Ereignis, Theorie, Erleben, Sache, Kommentar und Reflexion und was nicht noch alles […] miteinander vermengt«.
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freilich: »[…] ich glaube an die Konstruktion dieser Form, an konstruierte Authentizität«, an die »Idee der Authentizität«. Grundlegend ist die Frage: »wie kriegen die Leute ihr Leben hin in echt« – nur, dass dieses authentische ›Leben in echt‹ wiederum hochgradig reflexiv und medial durchdrungen und insofern künstlich konstruiert ist (J 147). Das heroische SichAbarbeiten an der Wirklichkeit ist denn auch recht eigentlich ein hochgradig reflexives Sich-Abarbeiten am Sich-Abarbeiten, am Be- und Verarbeiten, Verschriftlichen, Semantisieren etc. des Reichtums der Wirklichkeit der Gegenwart.19 Goetz’ heroisches Sich-Ausliefern an die Gegenwart, die Welt, die Textur dieser Gegenwartswelt bringt so letztlich eines zu Bewusstsein: das genau betrachtet ungeheure Ausmaß an Komplexitätsreduktion,20 das sich im täglichen Leben eines jeden einzelnen Menschen ereignet. Leben – ob bewusst oder unbewusst – ist gleichbedeutend mit Selektion und Reduktion, mit Filtern, Löschen, Ignorieren; umgekehrt beruht ein Großteil unseres Denkens und Handelns auf routinisierten Abläufen, auf Selbstverständlichkeit. Ich reduziere / ignoriere, also bin ich! Goetz’ obsessives Schreib- und Lebensprojekt führt vor Augen, was passiert, wenn der (Schutz-)Filter, mit dem wir der gigantischen Objektivität der Außenwelt begegnen und sie derart ›erträglich‹, ›lebbar‹ machen, wegfällt. Zugleich lenkt Goetz damit den Blick auf den Hiatus, der sich zwischen Kunst – als einer grundsätzlich mimetischen Angelegenheit, sei sie auch noch so poietisch und medial verfremdend ausgerichtet – und Leben auftut. Selbst für einen manischen Rezipienten und Sammler, der alles tut, um mit seinem Schreiben »näher dran am Leben«21 zu sein, schließt sich diese Kluft allenfalls zentimeterweise.
19 Exemplarisch hierfür steht Goetz’ exzessive Zeitungslektüre − verstanden vor allem als eine zusätzliche Reflexionsstufe, die Wirklichkeit semantisiert −, von welcher insbesondere das Romantagebuch Abfall für alle eindrücklich Zeugnis ablegt. 20 Einmal mehr auch ein Grundtheorem der Systemtheorie von Niklas Luhmann, vgl. Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 1997, S. 93-97 (Art. »Komplexität«). 21 Vgl. im Klappentext zu Celebration: »Immer auf der Suche nach Formen des Schreibens, näher dran am Leben, als die Schrift von sich aus, freiwillig, automatisch sein möchte.«
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Wenn sich Goetz’ Poetik fassen lässt als ein Heroismus der Verausgabung im Sinne eines heroischen Sich-Abarbeitens an der Fülle der Wirklichkeit, so ist ein essentieller Teil dieser Wirklichkeit wie des Vorgangs des Sich-Verausgabens und -Abarbeitens das soziale Moment, die soziale Praxis. »Soziale Praxis«, so ist bereits ein kurzer »Bericht« im Band Kronos von 1993 überschrieben; und was Goetz’ Pop- und Technoprosa betrifft, so hat schon Ulf Poschardt in seinem Buch DJ-Culture konstatiert: »Mit Pop meint Goetz nicht nur die Musik, die Bands, Songs, Texte und Platten – kurz die Kunst –, sondern vor allem die soziale Praxis, die mit der Popmusik kurzgeschlossen ist: Konzerte, Clubs und Parties.«22 Die Faszination fürs Soziale, als einem wesentlichen Teilbereich der Gesamtwirklichkeit, erstreckt sich sowohl auf die mannigfachen, alltäglichen Erscheinungsformen des Gesellschaftlichen überhaupt wie auch auf das spezifische »Sozialspektrum« (C 223), die »Wirwirklichkeit« (C 212) der ravenden Nachtlebengesellschaft. Leitend ist hier wie dort das Staunen über die hochgradig komplexe Inkommensurabilität und Vielfalt des Sozialen – ein Staunen, das, es klang bereits an, wesentlich beeinflusst sein dürfte durch die Soziologie Niklas Luhmanns, dessen Schriften ebenfalls, obschon in ungleich kühlerer, technokratischerer Diktion, der Frage nach der staunenswerten Komplexität sozialer Ordnung nachgehen, und die sich der bekennende Theoriejunkie Goetz für die eigenen literarästhetischen Zwecke produktiv anverwandelt hat.23 Entsprechend heißt es in einer Reflexion über »Institutionen und Sozialmaschinerien« (Redaktionen, Verlage, Agenturen etc.): »[...] wieviele zig und hunderte Sozialkontakte, Einzelereignisse, Zerstreuungsmomente und Entscheidungssituationen da jeden Konzentrationsakt durchschießen und überlagern, durchkreuzen, grundieren und mitbestimmen [...] PRAXIS« (A 73). Als »Inbild des Sozialen« aber be-
22 Ulf Poschardt: DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 313-322 (Abschnitt »Rainald Goetz − Literatur unterm DJ-Pult«), hier S. 315 f. 23 Zu Luhmann vgl. auch C 126 f., wo der Autor auf einer Fotografie am Swimmingpool sitzend zu sehen ist, vertieft in ein Exemplar von Luhmanns Das Recht der Gesellschaft. Vgl. auch Martin Jörg Schäfer: »Luhmann als ›Pop‹. Zum ›ästhetischen System‹ Rainald Goetz«, in: Christian Huck, Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden 2007, S. 262-283.
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zeichnet Goetz an anderer Stelle von Abfall für alle die »PARTY«. »Wollen wir was gemeinsam machen? Klar, was? Ja, Feiern gehen halt. Gute Idee.« (A 117) Teilweise ist diese Sozialform in ihrer rauschhaft-exzessiven Variante auch erotisch-sexuell konnotiert: »Und über uns schubt und schiebt das Fleisch der Männer und Frauen, das Wogen des Tanzes, das Pumpen der Musik, die Leiber der sich aneinander wiegenden und zusammen tanzenden Menschen ineinander, aneinander, auseinander, zueinander – ein Wahnsinn, der absolute Wahnsinn.« (R 237) Ineinander, aneinander, auseinander, zueinander: eine Art Deklination des Sozialen, zugleich enthält sie die Basiszelle des Sozialen: einander, d. i.: der / die eine – der / die andere. Goetz’ Interesse für die Sozialformen der ravenden Party- und Nachtlebengesellschaft hängt insofern mit der ethisch-ästhetischen Figur des Heroismus der Verausgabung zusammen, als hier wie dort letztlich die Rezeptivität und im Verein damit das heroische Sich-Hingeben des Einzelnen ans soziale Kollektiv im Mittelpunkt stehen. In seiner »ReflexionsBaustelle« Abfall für alle (Klappentext) formuliert Goetz an einer Stelle der dort integrierten Frankfurter Poetikvorlesungen in unscheinbaren, etwas ungelenken Worten einen wichtigen Baustein seiner ästhetischen Praxis: »Daß Praxis für mich hier also in erster Linie heißt, zu 90 oder 95 Prozent: Rezeption. Rezeptivität. Aufnehmen.« (A 232) Mit anderen Worten gilt für Goetz’ Poetik: Produktion = Rezeption! Und Analoges gilt auch für soziale Praxis: soziale Praxis, soziale Interaktion und Kommunikation ist für Goetz gerade in ihren emphatisch erlebten Momenten vor allem ein rezeptiver Akt, in welchem sich das Ich öffnet – sich buchstäblich ›verausgabt‹, sich (hin- und weiter)gibt an ein anderes, nicht zuletzt: an die Besonderheit und Komplexität sowohl des Anderen wie der Kommunikation dieses Anderen bzw. mit diesem Anderen. Die »utopische Dimension« (R 71) dieser Art von sozialer Praxis thematisiert eine Sequenz aus der Nachtlebenerzählung Rave, die zunächst mit einer reinen Aufzählung von Namen beginnt: An der Bar: alle. Mehr oder weniger alle. Olaf, Anki, Martina, Helli, Sassy, Tommy, Susi, Daniela, Nilly, Virginia, Caro, Kathi, Sascha, Wirna, Silvie, Änni, Dominik, Claudi, Daniel, Sue. Bitte Bier. Danke. Hallo Bob, Kathrin, Camibs, Keiwan, Robert, Pata, Kerstin, Daniel, Thomas, Susi von den Stämmen und die kleine Susi und Fabienne und Natalie und Alex und Felix. Ich geh mal tanzen. Hallo Moritz! Rebecca! Wieder an der Bar: bitte mehr Bier. Hallo Alex, Sarah, Jerome, Alia, Jenny, Katja, Steffen, Michel, Hartwig. Hallo David, Dorle,
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Upstart, Monika, Lester, Barbara, Aroma, und Roy steht plötzlich da. »Hallo Roy!« – »Hallo Rainald!« – »Hallo Hille! Du auch hier?!« – »Ja, wieso nicht? Ausnahmsweise mal. Bea und Clé sind auch da, da drüben.« Echt? Ist ja toll. / Mit manchen winkt und lacht man sich gegenseitig zu, mit manchen sagt man sich nur so hallo und mit vielen redet man kurz. Geil. Der ultraöffentliche Ort der Nacht und sein Privatgeschichtenkatarakt. / Allein zwischen den ersten drei, vier Bier wird eine solche Masse Leben hin und her geshiftet, zwischen den einzelnen Menschen, wie nur hier möglich vielleicht, in dieser konzentrierten und kompliziert codierten Form. Dauernd von irgendwas wieder zerfetzt, gebrochen, dementiert und ganz speziell stilisiert. / Thema: das Leben. / Die Menschen. / Ein jeder. / Und dein Leid und meines. (R 70)
Im Loveparade-Artikel Hard Times, Big Fun, der zuerst 1997 im ZeitMagazin erschienen ist, konzentriert sich diese Sozialerfahrung in den Worten: »So viel Glück, so viele Menschen.« (C 223) Was man auch umdrehen darf: So viele Menschen, so viel Glück. Das Glücksmotiv in Verbindung mit dem Motiv sozialer Praxis: der Heroismus der Verausgabung, der als ein wichtiges ethisch-ästhetisches Prinzip Goetz’ Leben-DenkenSchreiben leitet, ist nicht zuletzt auch zu verstehen als ein glücklich-heroisches Sich-Abarbeiten am unendlichen Reichtum des Menschenwirklichen und Menschenmöglichen. Insofern ist Goetz’ Poetik dezidiert plural und demokratisch. Das erweist sich auch dort, wo die Thematisierung des Sozialen im Œuvre von Goetz sowohl ihren Höhepunkt als auch ihre Infragestellung erfährt: Es geht um das Phänomen der Masse, um das problematische Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv der Masse.24 Im zitierten Loveparade-Artikel von 1997 wird das Moment des gemeinsamen Erlebnisses immer wieder betont und auch verteidigt bzw. abgegrenzt gegen politisch und historisch fragwürdige Kollektive (Faschismus, Kommunismus etc.) wie auch gegen den »Generalkonsens« der Intellektuellen: »bitte nicht zu viele« (C 231). Schon allein sprachlich fällt diese semantische Akzentuierung ins Auge: typisch sind Wendungen wie »Kollektiv«, »Kollektiv-Ereignis«, »Masse«, »Glück der Teilhabe«, »alle«, »inmitten«, »gemeinsam«, »miteinander«, »Arm in Arm«, »umarmt«, »umhüllt« (vgl.
24 Dazu auch: Poschardt: DJ-Culture (Anm. 22), S. 313-322; Gabriele Klein: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie. Wiesbaden 2004, S. 80-104 (Kap. 1.3: »Die Masse. Eine hundertjährige Debatte«).
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C 203-235), die semantisch alle in dieselbe Richtung weisen, gipfelnd in der Formulierung: »selig im Einen eines Gemeinsamen« (C 219). Zu betonen ist jedoch, dass Goetz sowohl das Moment der Vielheit als auch jenes der Differenz immer wieder gegen alle unifizierenden, gleichmacherischen Tendenzen hervorkehrt. »Gleichzeitig wurden die Mädchen und Jungs, die oben auf dem Techno-Wagen standen und da tanzten, immer hübscher, immer verschiedenartiger und nackiger angezogen, immer noch unterschiedlicher«, heißt es etwa an einer Stelle von Hard Times, Big Fun (C 221). Und in einem Interview schwärmt der teilnehmende Beobachter und nachträgliche Berichterstatter Rainald Goetz geradezu euphorisch von der differenzierten »Sozialmelange« (C 223) der ravenden Gesellschaft: »[...] dieser Reichtum an Nicht-Unity, an Differenz, an unterschiedlichsten Existenz- und Geistesformen unter dem einen Motto ›ABFEIERN‹« (C 73). Genau besehen also hat Goetz das Ineinander von Einheit / Verschmelzung / Gemeinschaft und Differenz / Abweichung / Individualität im Blick – weshalb er wiederum an anderer Stelle auch das Moment der Einheit in der Vielfalt offensiv hervorheben kann: »[...] jeder ist eh schon so in sich ruhend Individuum, so sehr anders als alle anderen, daß er sich nicht primär danach sehnt, sich zu unterscheiden von allen, sondern umgekehrt: mit ihnen eins zu sein. Auch aus diesem Impuls heraus lebt dieses ganze Technoding, mit seinen Kollektivexzessen.« (C 261) Soziale Praxis im Hinblick auf Techno, Rave, Loveparade zielt also durchaus auf die Verausgabung und Überantwortung des Einzelnen an die in Musik, Tanz, Sinnlichkeit vereinte Masse; sie generiert eine immer wieder emphatisch-euphorisch beschriebene Einheitserfahrung mit dem Kollektiv der Masse (die »große Einheit der pumpenden, glücklichen Menschen«, wie sie der DJ und GoetzIntimus Westbam bezeichnet, C 100) und führt so in eine »Kirche der Ununterschiedlichkeit« (C 217). Doch im Gegensatz zu diesen immer wieder auch religiös codierten Einheitserlebnissen bewahrt das Individuum bei Goetz seine inkommensurable Einzigartigkeit, feiert es den Anderen bzw. die Anderen nicht nur in ihrer Einheitlichkeit, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielheit. Eine Passage aus Rave verdeutlicht das: Zunächst spricht auch sie von der ambivalenten »Faszination« für die »sogenannte ›Masse‹« – und dennoch gibt es so etwas wie die ›unschuldige‹ Masse. Sie ist – jenseits aller theoretisch beladenen und historisch vorbelasteten Vorstellungen von Masse – nichts anderes bzw. repräsentiert nichts anderes als: Vielheit. Und darum gilt,
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daß allein schon ein Bruchteil der leider ja kaum wirklich je total realisierbaren Wahrnehmung aller da in nur einer Sekunde gleichzeitig stumm stattfindenden Geschichten zwischen Menschen [...] eine ganz reale, gewaltige, jede phantastische Bibliothek irgendeines Phantasten weit in den Schatten stellende REALBIBLIOTHEK ergäbe, praktisch aller menschlichen Motive, Strebungen, Begegnungsweisen und Gefühle, ein ultradetailliertes Corpus Humanum, ein Alphabet des Menschlichen und alles auch unmenschlich Menschenmöglichen. Und daß jeder, der an einem solchen Ort wirklich mit dem eigenen Körper anwesend IST, und das offenen Auges sieht, mit Entsetzen und Glück zugleich in diesen millionenfach gebrochenen Spiegel seiner selbst schaut, und, davon erschüttert und bewegt, dann irgendsowas sagen muß wie: ja, so einer bin ich also auch, ich auch. Ein sogenannter Mensch. (R 172-174)
Neben den Momenten der Vielheit und Differenz ist hervorzuheben, dass Goetz den sozialen Zusammenhang nicht als etwas Selbstverständliches erlebt – wie andere, auf natürliche Weise besonders rezeptive und kommunikative Menschen in seinem Umfeld, die er »Sozialweltmeister« nennt –, sondern als etwas, das das Subjekt sentimentalisch-reflexiv problematisiert: »Alles wird Reflexion.« (J 132) Soziale Praxis, sofern sie auf das Moment der Einheit in der Vielheit und der Vielheit in der Einheit abhebt, ist für Goetz letztlich ein utopisches, sozialästhetisches Projekt: »So fühlt man sich gehalten, durch was, was man selber nicht ist, auch nicht alleine machen könnte, nicht irgendwie herstellen könnte nur so für sich, was einen als einen weit überschreitet: die schöne Aktion sozialer Systeme« (R 131). Feiert Goetz in seiner Technoprosa auch einerseits immer wieder das sinnliche, musikalische, körperliche Erlebnis der sozialen Praxis Party / Rave, so fällt doch andererseits auf, dass die Protagonisten seiner Nachtlebengesellschaft immerzu miteinander reden und einander erzählen. Mit anderen Worten: Nicht weniger essentiell ist die verbale Kommunikation, das Reden und Erzählen im sozialen Rahmen der Nachtlebengesellschaft: Im Technobereich, wo ich jetzt neun Jahre dieses Leben gelebt habe, hat mich auch das immer besonders fasziniert, wie über das Erlebte von allen dauernd geredet wird. Das sind eben ganz andere Erzählformen. Deswegen schreibe ich auch eher so. Weil ich mein Redeleben zu 90 Prozent mit Leuten verbringe, die einen auferzählen. Die nicht in der Art sprechen, wie wir jetzt hier, beim Versuch, möglichst klar in Worte zu fassen, was wir denken. Sondern sie führen ihr
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Denken auf eine andere Art und Weise verbal vor, in der Art von Geschichten. Das ist viel indirekter und in mancher Hinsicht auch komplizierter. Die da wirkenden Diskursregeln beobachte ich dauernd und bin unendlich bezaubert von direkter mündlicher Sprache. (C 262)
Die nonverbale Glückserfahrung des Individuums in der ravenden Gemeinschaft und die Rauscherfahrung des Redens und Erzählens ergänzen einander. Diese Geschichte [d.i. des Techno] wurde oft erzählt, und es war immer eine andere. Es war immer die Geschichte der letzten, gerade erlebten Nacht. In unendlicher Variation wurde ein ums andere Mal neu mit Worten dem irgendwie unfaßbar Erlebten hinterher geredet. Dabei war es zunächst gar nicht so sehr wichtig, ob das nun so wahnsinnig treffend gelang. Es war mehr ein gemeinsames Lallen, eine Art Wortmusik, der Party selbst nachgemacht. (C 213)
Infolgedessen sind Sprache, sind Literatur und Schrift zwar einerseits das Gegenteil von nonverbaler Sinnlichkeitsemphase, gleichzeitig aber auch bzw. komplementär dazu mittelbarer-unmittelbarer Bestandteil der Rauscherfahrung. Ja, für Goetz ist das Reden im Kontext von Rave und Nachtleben eine Form der staunenswerten Komplexitäts- und Glückserfahrung: »Reden ist toll. Dauernd passiert dabei so viel, und kein Mensch weiß, was alles und wie genau.« (C 100) Heroismus der Verausgabung: Das ist auch das utopische Projekt nicht nur eines gesteigerten ästhetischen Daseins, sondern darüber hinaus eines gesteigerten kommunikativen Zustandes; und in beiden Fällen verausgabt / verschwendet sich das Subjekt, indem es übertritt in einen Zustand der ästhetischen wie verbal-kommunikativen Totalität / Allheit in der emphatischen Feier des Augenblicks: »Was gibt es Besseres: man stand vor den Türen der Clubs und Hallen und redete, redete über das aktuelle Geschehen. / Etwas anderes gibt es nicht. / Es gibt kein Gestern im Leben der Nacht.« (R 229) Einmal mehr paradox wirkt es, wenn im Verein mit dieser Gegenwärtigkeitsemphase das Moment der Nachträglichkeit eine entscheidende Rolle spielt; es trägt wesentlich bei zum »Mythos dieser Kunst«: »Wir gingen an die Bar und redeten darüber. […] So konstituiert sich, neben dem unmittelbaren Erleben der Sache, auch im nachhinein, in vielen einzelnen Gesprächen eine Art imaginäres, nachträgliches Gesamtwahrnehmungsorgan für das eben erst entstandene und schon
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für immer vergangene Werk.« (R 87) Das nachträgliche Erzählen fungiert als Prolongation und mythische Steigerung des Erlebten wie zugleich als eine Konstruktion und Schöpfung dieses Mythos namens ›Nachtleben‹, insofern als hier erst das Erlebte seine Verbalisierung und Semantisierung erfährt. »Heute morgen, / um 4 Uhr 11, als ich / von den Wiesen zurückkam, / wo ich den Tau aufgelesen habe« – so lautet die Langversion des Zyklustitels, welche sowohl im Temporaladverb »Heute morgen« als auch in der nachfolgenden lyrisierenden Formulierung auf einen zentralen Punkt des gesamten Projekts, gewissermaßen den Kairos des Ganzen verweist: Ein Ort und Zeitpunkt der Frühe, der Verheißung ist dies zugleich der Zeitpunkt sowohl mythischen Erzählens als auch mythisierter Erinnerung und Verklärung. Die Erzählung Rave fokussiert an zahlreichen Stellen diesen magischen, mythischen Moment des frühmorgendlichen Heraustretens aus der Nachtlebenwelt: »Taumelnd also und stolpernd kommen sie da alle hoch« (R 100) – »Vor dem Laden: in Grüppchen und Gruppen lagern die Erschöpften am Boden.« (R 101) – »Da kommt Bill hoch, torkelnd, gestützt auf Olaf und Jerome, ausgespuckt vom Schlund dieser Nacht, der über sich den ruhmvollen Schriftzug BABALU als Zier- und Ehrentitel trägt.« (R 104) – »Stimmung der Milde, Betrachtung der Welt. […] Es ist eine Art Wachdenken, das von der Gesellschaft handelt, wie sie ist, vom Leben, das man lebt« (R 122) – und das derart eine Form des anderen Zustands markiert, in dem das Reden, die Sprache ausdrücklich mitaufgehoben sind. Heute morgen: das ist auch der Zeitpunkt des verbalen Kommunizierens über das Erlebte in der Nachtlebenwelt, lokalisiert in einem Transitraum jenseits von Normalzeitlichkeit und -örtlichkeit, in einer extrachronologischen Zwischenwelt, welche Nacht und Tag gleichermaßen aufhebt. In dieser Zwischenzeit, auf der »anderen Seite der Nacht« (J 174 f.) verknüpft sich das Ende des heroisch verausgabten Nachtlebens mit der Verheißung der Frühe, des ewigen Anfangs. Das Ganze findet zudem statt im Rahmen eines uralten kulturtechnischen Zusammenspiels, das sich in den folgenden Schritten vollzieht: erinnern – reden – erzählen (vgl. R 152, 271); und ähnlich wie bei Marcel Proust und anderen modernen Mystagogen der Erinnerung gewinnt das dem Erinnerten zugrunde liegende real Erlebte erst im schöpferischen Prozess der memorativen Rekonstruktion seine so magische, mythische Qualität. Wesentlicher Teil der nachträglichen, erzählerischen Mythisierung wie auch der Denkfigur des Heroismus der Verausgabung ist, wie bereits ange-
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klungen, die »Feier der Kaputtheit« (R 71): »Überall saßen an den Montagen und Dienstagen die Zerstörten in solchen Grüppchen irgendwo rum und erzählten sich gegenseitig, was sie zusammen das ganze Wochenende lang erlebt und gemacht hatten.« (R 255) Diese Feier des Zerstört- und Kaputtseins, im Verein mit dem Pathos des Exzesses und der Erschöpfung steht zudem in Zusammenhang mit einem spezifischen Mythos der Nacht, wie ihn die Moderne von Novalis über Richard Wagner (Tristan) und Gottfried Benn (O Nacht –: von 1916: »O Nacht! Ich nahm schon Kokain«) als mythische Gegensemantik zur prosaisch-bürgerlichen, beschränkenden und bedingenden Tagwelt begleitet.25 Goetz hebt deutlich auch auf diese letztlich romantische Tradition ab, wenn er etwa in Rave vom »Abenteuer der Nacht« (R 122) spricht und an vielen weiteren Stellen immer wieder die rauschhaft-unifizierenden Aspekte des Nachtlebens hervorkehrt. Dabei geht es ihm weniger um eine kritische Perspektivierung des bürgerlich-profanen Alltags als vielmehr um Fragen der Selbsterweiterung und Selbststeigerung des modernen Subjekts.26 Der Klappentext zu Rave führt dazu programmatisch aus: »Rave« erzählt Geschichten aus dem Leben im Inneren der Nacht. / Was machen diese Nachtlebenleute eigentlich, wenn sie da jedes Wochenende irgendwo zum Feiern gehen? Sie hören Musik und tanzen. Sie gehen aus zum Abfeiern, Aufreißen und Ausrasten. Sie betreten finstere Löcher, da, wo über der Türe das Schild hängt: wissen, wer ich bin. – Wer bist du?27 – Sie reden und verstehen
25 Vgl. allgemein: Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München, Wien 2008. Zu Goetz: Andreas Wicke: »Nacht und Diskurs. Novalis’ Hymnen an die Nacht (1800) und Rainald Goetz’ Nachtlebenerzählung Rave (1998). Versuch eines Vergleichs«, in: Der Deutschunterricht 54 (2002), H. 5, S. 75-79. 26 Vgl. Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Köln 2006, S. 282, der Rave als »die Erzählung einer ewigen Reise in die Nacht« bezeichnet, »aber nicht in die Dunkelheit, ins Licht hinein, in ein immer helleres Licht«, Rave sei »ein romantisches Manifest, das Glück als Buch«. 27 Eine Art spätmoderner Version der griechisch-antiken Weisheitsformel »Gnothi seauton«, »Erkenne dich selbst«, die – ebenfalls als ›Schild‹– auf einer Säule am
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sich, ohne hören zu können, was der andere sagt. Die ausgetauschten Worte passen nicht so richtig zueinander. Es ist auch dauernd ziemlich laut und ziemlich voll. Wirr: der eine Typ. Dark: ein zweiter. Sie tanzen und vergessen, was sie denken.
Das Subjekt konstituiert sich dementsprechend ganz zentral über die Erfahrungen, die es in dieser tagabgewandten Welt des Nachtlebens macht, in welcher die »Praxis von Exzeß und Erschöpfung« (C 59) ein eigentümliches Glücksversprechen generiert: das Glück der Zerstörung, des Zerstörtund Kaputtseins. Glück und Zerstörung, Glück in der Zerstörung: Es ist dies eine jener für die Ästhetik der Moderne so typischen, widersprüchlichen Zusammenstellungen, die sich auf den Grundbegriff einer Ästhetik des Hässlichen – und das heißt ja: einer Schönheitslehre des Hässlichen – zurückführen lässt. Dieser Heroismus des Kaputtseins lässt sich auch begreifen als spezifische Ausprägung des »Heroismus des modernen Lebens«,28 mit Anklängen an Baudelaire und Motive der Décadence: Baudelaire und Goetz vermögen Leben und Kunst in der Moderne in einem emphatischen Sinne nur als »was Kaputtes« zu denken,29 als heroischpostheroische Affirmation des Abgründigen, Deformierten, Disharmonischen, Dissonanten. Der anarchisch-bohemistische Konnex von Existenz und Verausgabung / Verschwendung / (Selbst-)Zerstörung, wie er charakteristisch ist für bestimmte Jugend-, Sub- und Underground-Kulturen des 20. und 21. Jahrhunderts (Dada, Situationismus, Rock, Punk30), ist darüber hinaus auch zu verstehen als eine Fortschreibung und Ausprägung einer
Eingang zum Apollontempel von Delphi stand – beim promovierten Althistoriker Dr. phil. Goetz durchaus denkbar als eine bewusst gesetzte Anspielung! 28 Vgl. Charles Baudelaire: »Der Salon 1846«, Kap. XVIII: »Von dem Heroismus des modernen Lebens«, in: ders.: Sämtliche Werke / Briefe. In acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp u. a. München, Wien 1977-1992, Bd. 1, S. 280-283. 29 Vgl. J 136 über Abfall für alle: »Ich schreibe natürlich einen modernen Roman, was Kaputtes, einen Entwicklungsroman, der die Form des Romans entwickelt, weniger den Helden. Alles zerfällt.« 30 Vgl. Greil Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert. Hamburg 1992; Jürgen Teipel: Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Frankfurt a. M. 2001.
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spezifischen Form des modernen Künstlermythos, der sich an Namen und Karrieren wie die von J. M. R. Lenz, Arthur Rimbaud und James Dean knüpft: In ihren exemplarischen Lebensläufen verdichten sich Dasein und ästhetischer Ausdruck in eine derart kurze Zeitspanne, dass beides eruptiv, explosionsartig zum Ausbruch kommt, sich ›verschwendet‹. Dabei ist das Moment der Kaputtheit auch pejorativ konnotiert, doch oftmals zitiert das Erzähler-Ich damit nur ein allgemeines gesellschaftliches Echo, das in verurteilender Weise von »Drogenkaputtheit« spricht (vgl. R 44-47) und das Moment der Faszination bzw. der ästhetischen Steigerung, ja kathartischen Befreiung, das in dieser Form von selbstgemachtem Ruin verborgen liegt, gerade nicht realisiert. Charakteristischer sind darum Passagen, in welchen das Kaputte, das destruktive Moment eine komplexe Verbindung eingeht mit anderen ethisch-ästhetischen Erfahrungen und somit eine (post-)heroische Stilisierung erfährt, welche erst eigentlich den ästhetischen wie existentiellen Reiz dieses Zustands erklärt. »Er sah Hardy und Leksie, Gesichter und Blicke, im Takt gestolpert, gedrängelt, gestoßen, berührt. Sah das Kaputte, Beglückte, Vertrauen und Zartes, die vielen Signale, schnell, kurz, ganz klar, vom nächsten schon wieder verwischt, in Wellen von Sympathie. Er schaute und tanzte und sah das Schöne.« (R 19)31 Teil des Schönen, der ›schönen‹ ästhetischen Erfahrung ist, wie das Zitat zeigt, auch das Kaputte, der Moment der Zerstörung, des Zerstörtseins bzw. -werdens, der Moment einer heroischen Verausgabung im Sinne Georges Batailles. Spätestens an dieser Stelle muss nun endlich auch dieser Name fallen, denn es war Bataille, der Begriff und Konzept der subjekt- und kulturökonomischen Denkfigur der »Verausgabung« ganz wesentlich geprägt hat. Sein 1933 erstmals erschienener kurzer Aufriss La notion de dépense (Der Begriff der Verausgabung) kommt einer Schubumkehr in der symbolischsemantischen Ordnung des modernen Subjekts gleich: Bataille stellt den rationalen, vernünftigen, produktiven Ausgaben eine diametral entgegengesetzte, irrationale, verschwenderisch-orgiastische »unproduktive Verausgabung« materieller wie immaterieller Güter gegenüber, und diese Form von Subjekt-Verschwendung geht einher mit einem »Interesse an erheblichen
31 Vgl. auch R 40: »In kaputt Geläuterten, Geläuterten und froh Kaputten mischten sich Wille zum Rausch, zur Nüchternheit, Angst.«
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Verlusten und Katastrophen«,32 also mit einer gewissen Form von Selbstdestruktivität. Allerdings gewinnt das Subjekt auf der anderen Seite durch die Selbstaufgabe: indem es sich verausgabt, sich weiter- und hinübergibt an ein Größeres. Hier ergeben sich Bezüge zu einem weiteren kanonischen Text des französischen Kulturanthropologen: In L’érotisme von 1957 sieht Bataille das menschliche Dasein und sein libidinös-erotisches Begehren im Wesentlichen strukturiert durch den Gegensatz von Diskontinuität und Kontinuität, wobei Erstere die Ordnung des Tagtäglichen, Profanen prägt, während eine emphatische Form des Eros das Subjekt in den Zustand der Kontinuität versetzt. Sowohl dem Begriff der Verausgabung als auch jenem der Kontinuität bzw. »Transgression«33 liegen als organisierendem Prinzip zugrunde die Aufhebung des principium individuationis sowie eine Ästhetik der Verschmelzung. »Der letzte Sinn der Erotik ist die Verschmelzung, die Beseitigung der Grenze.«34 Im Gedanken der Verausgabung, im Konzept des Eros wie in der Ästhetik der Verschmelzung artikuliert sich ein fundamentales, uraltes menschliches Verlangen nach dem Aufgehen des je vereinzelten, bedingten und beschränkten Menschendaseins in einem arationalen, umgreifenden Einen. Die Mysterien im antiken Eleusis, die mittelalterliche Mystik eines Meister Eckhart, einer Hildegard von Bingen, die metaphysischen Spekulationen eines Novalis in den Hymnen an die Nacht oder eines Kleist im Aufsatz Über das Marionettentheater, Tristan und Isoldes Sehnsuchtsgesang an die Nacht in Richard Wagners Oper, Gottfried Benns dionysische Drogen- und Nachtgedichte, schließlich die rauschhaften Exerzitien des Nachtlebens bei Rainald Goetz: All diese Vorgänge handeln strukturell von derselben Metaphysik und Ästhetik der Verschmelzung, der willentlichen Hingabe des rationalen, bedingten Ich an eine als befreiend, ja ekstatisch erlebte höhere, alles vereinende und aufhebende Kraft. Goetz’
32 Georges Bataille: »Der Begriff der Verausgabung«, in: ders.: Das theoretische Werk. Bd. 1: Die Aufhebung der Ökonomie. München 1975, S. 9-31, hier S. 10 f. 33 Konstitutiv für die Dualität von Diskontinuität und Kontinuität sind Übergänge, Überschreitungen, Grenzverletzungen (frz.: »transgressions«), vgl. Georges Bataille: Der heilige Eros. Hg. und übers. von Max Hölzer. Neuwied 1963, S. 7887. 34 Ebd., S. 166.
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Tag-Nacht-Dichotomie weist dabei nicht nur Ähnlichkeiten auf zu Batailles Denkfigur der Transgression, die zwischen den Polen Diskontinuität (analog zu setzen mit der Tagwelt) und Kontinuität (Nachtwelt) vermittelt, sondern auch zum Begriffspaar heilig-profan, wie es der Religionshistoriker Mircea Eliade geprägt hat. In einem Abschnitt seiner Schrift Das Heilige und das Profane von 1957 behandelt Eliade die »Festzeit und Struktur der Feste« und setzt die heilige Zeit mit der »›Traumzeit‹«35 gleich. »Der religiöse Mensch hat das Bedürfnis nach einem periodischen Eintauchen in diese heilige und unzerstörbare Zeit«,36 ein Vorgang, den Feste und andere rituelle, gemeinschaftliche Zusammenkünfte katalysatorisch unterstützen. Die Bezüge und Parallelen zu Goetz’ Nachtlebenzeit, die sich vom profanen Tagdasein wie ein extrachronologischer Heterotopos sakral abhebt, sind offensichtlich. Ein Teil des religiösen Vokabulars, das Goetz benutzt,37 erklärt sich aus diesen rituellen Wurzeln einer kollektiven Transition in eine andere, nicht-profane, sakrale Dimension von Raum und Zeit. Heroismus der Verausgabung – Ästhetik der Verschmelzung – Aufhebung des principium individuationis (inkl. der Aufhebung der je spezifischen, identitären Differenz!): Damit sind drei ästhetische und philosophische Prinzipien benannt, welche Rainald Goetz’ Zyklus Heute Morgen wesentlich bestimmen. Das eigentümliche heroisch-postheroische Pathos, das in diesen Texten deutlich spürbar und hörbar mitschwingt, verdankt sich letztlich einer Struktur der Widersprüchlichkeit, wie sie für die Moderne insgesamt typisch ist: Das Subjekt arbeitet sich so heroisch wie vergeblich an der Gesamtheit der Wirklichkeit und Gegenwart ab; es prolongiert und intensiviert diese Suche in der Exzessivität der Nacht, im Wissen um deren extraterritorialen und -chronologischen Status; und es findet heroisch-glückhafte Selbstbestätigung vor allem in der Selbstzerstörung.38 Für
35 Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Aus dem Französ. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M., Leipzig 1998, S. 76. 36 Ebd., S. 78. 37 Vgl. Eckhard Schumacher: »Can You Feel It? Pop, Literatur und Religiosität«, in: Wolfgang Braungart, Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 3: Um 2000. Paderborn, München, Wien 2000, S. 219-252. 38 Vgl. dazu auch Wicke: »Brüllaut, hyperklar« (Anm. 3), S. 49, der hier, auch mit Blick auf eine entsprechende Anspielung in Rave (»Man muß sich Sowieso als
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die heroisch-postheroische Konstellation, wie sie in Goetz’ Texten eingeschrieben ist, sind nicht mehr einzelne Werte entscheidend, ein bestimmtes heroisches Decorum, sondern vielmehr das Ausreizen von affektiven, intellektuellen und ästhetischen Zuständen bis an die Grenze ihrer Widersprüchlichkeit und somit Aporie. Wenn man so will, proklamiert dieser postheroische Heroismus der Entgrenzung den fortwährenden Ausnahmezustand von der alltäglichen Beschränktheit und Bedingtheit des Daseins. Heroisch ist das Immer-weiter-in-die-Extreme-Treiben, die Aufrechterhaltung und Zuspitzung der Gegensätze, von Glück und Zerstörung, Ekstase und Erschöpfung, permanenter Lebensmitschrift und der Unmöglichkeit, dieses »ALLES« (A 34) in all seiner so dringlichen Gegenwärtigkeit in Schrift zu überführen, zum Ausdruck zu bringen. Auf der Umschlaginnenseite von Dekonspiratione, jenem Band, der im Jahr 2000 den Zyklus Heute Morgen abschließt, ist eine Fotografie von Rainald Goetz abgebildet, auf welcher der Autor ein T-Shirt trägt mit der Aufschrift: »We’ll never stop living this way.« Rave zitiert diese heroische Immer-weiter-Formel – es handelt sich um den Titel eines Westbam-Tracks – mehrfach (vgl. R 187, 268), und die Erzählung schließt signifikanterweise mit der deutschen Übersetzung: »Nein, wir hören nicht auf, so zu leben.« (R 271) Dahinter steht die Einsicht oder vielmehr das heroisch-trotzige Bekenntnis, »daß das Leben der Zerstörung, das wir führen, ein Geschenk und richtig ist, trotz allem« (R 257). Letztlich also intendiert Goetz’ ethisch-ästhetisches, heroisch-postheroisches Schreib-, Denk- und Lebensprojekt eine Progression des Immerweiter-Machens und somit des Ausnahmezustandes der Entgrenzung ins Unendliche; und moderner Heroismus bzw. der Heroismus der (Spät-)Moderne bestünde darin, diese Extreme auszuhalten und produktiv zu machen.
einen glücklichen Menschen vorstellen.« R 17), Parallelen sieht zum »Moment des Absurden« bei Camus, zum widersprüchlichen Ineinander von Glück und Sinnlosigkeit beim absurden Helden Sisyphos.
C. Historisierung / Funktionalisierung / Ideologisierung
Leyer und Schwerdt oder Ahnung und Gegenwart Zwei Modelle des Heroischen zur Zeit der ›Befreiungskriege‹ M ARTIN D ISSELKAMP
Theorien und Reflexionen über die wahre Beschaffenheit eines Helden gibt es so viele wie Sternbilder am Himmel; doch die Frage, ob eine Person, die als Held gilt, ein solcher sei, lässt sich kaum beantworten. Heroische Personen sind nicht schlechthin vorhanden, sondern verdanken ihr Dasein der Inszenierung und der Übereinkunft. Heroische Größe ist, nach der einen Seite, eine mediale Veranstaltung, ein mit Fleiß und Kunst gewirkter Ornat, eine gut sichtbare Schale. Darüber war sich Napoleon Bonaparte im Klaren: »Der Prinz von Asturien«, so warnt er Joaquim Murat, »hat keine der Eigenschaften, die das Haupt einer Nation haben muß: das wird aber nicht hindern, daß man, um ihn uns entgegenzustellen, einen Helden aus ihm macht.«1 Um sich durchzusetzen, müssen Heldenbilder, nach der anderen Seite, einen Platz im kollektiven Gedächtnis erobern. Der Erfindung, Verbreitung und Verehrung von Heldenbildern widmete sich das 19. Jahrhundert – wenn diese Generalisierung erlaubt ist – mit nachhaltigerem Erfolg, vielleicht auch mit größerer Hingabe als die Aufklärungszeit. Räume und 1
Napoleon über den Krieg in Spanien. Aus einem Briefe an seinen Schwager Murat vom 29. März 1808, in: Friedrich Donath, Walter Markov (Hg.): Kampf um Freiheit. Dokumente zur Zeit der nationalen Erhebung 1789–1815. Berlin 1954, S. 138.
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Zeiten überzogen sich mit einer Schicht heroischer Markierungen, zum Beispiel in der Gestalt von Historienmalerei, Monumenten und Architekturdenkmälern, von Historiendramen, historischen Romanen, Biographien, Geschichtsschreibung und Lyrik – vom Kampfaufruf bis zur historischen Ballade.2 Doch der öffentliche Status von Heldenbildern war prekär. Heroische Entwürfe blieben nicht unangefochten und sahen sich mit Zweifeln und Gegenkonzepten konfrontiert. Literarische Texte konnten sich vom Heroischen distanzieren, es unterlaufen oder in zweideutigem Licht erscheinen lassen. Einschlägige Beispiele aus der zweiten Jahrhunderthälfte findet man bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane, die Größenbilder als eine der Möglichkeiten relativieren, die zeitgenössische Wirklichkeit zu strukturieren, oder auch in Conrad Ferdinand Meyers Novellen, die in literarischer Historienmalerei heroische Größe zeigen und sie zur selben Zeit moralisch, psychologisch und perspektivisch unterlaufen. Dramen (Grabbe) und Romane (Stendhal, Tolstoj, Fontane) werfen ein differenzierendes Licht auch auf die Napoleonischen Kriege. Über längere Sicht wird man die Heroismusskepsis als Erbschaft der Aufklärung bewerten dürfen, die zuerst den monumentalen Posen in grundsätzlicher Absicht den Prozess gemacht hatte. Die Szene, mit der sich die folgenden Überlegungen beschäftigen, spielt im näheren Umfeld der ›Befreiungskriege‹ – einer derjenigen Ereigniskomplexe, auf die sich Heroisierungen des 19. Jahrhunderts bezogen. Im Mittelpunkt stehen Joseph von Eichendorffs früher, zwischen 1810 und September 1812 entstandener, 1815 erschienener Roman Ahnung und Gegenwart, der heroische Größe ebenso rettet wie annihiliert, und die Gedichtsammlung Leyer und Schwerdt des Befreiungskriegspoeten Theodor
2
An Forschungsbeiträgen nenne ich exemplarisch: Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995; Rudolf Jaworski, Peter Stachel (Hg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin 2007. Für den besonderen Fall des Künstlerdenkmals vgl. Gerd Reichardt: Heroen der Kunst. Standbilder und Denkmale für bildende Künstler im 19. Jahrhundert. Köln 2009. Für eine Diskussion des Heroischen in der realistischen Erzählprosa unter Einschluss einschlägiger Begleitdebatten vgl. Bettina Plett: Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzählen. Paderborn u. a. 2000.
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Körner, die andere Beiträge zur antinapoleonischen Kriegslyrik im heroischen Gewand mitvertreten mag. Der Gefahr biographistischer Reduktion zum Trotz sei mir der Hinweis erlaubt, dass beide Autoren mit den Befreiungskriegen in nähere Berührung kamen: Eichendorff, der die Arbeit an Ahnung und Gegenwart bereits beendet hatte, schloss sich 1813 dem Lützowschen Freikorps an, trat später in Landwehr-Regimenter ein und erreichte 1815 mit den Besatzungstruppen Paris. Lützower Jäger war auch Theodor Körner, zu dessen nachträglichem Ruhm der Umstand beitrug, dass er noch im Jahr 1813, wenngleich bei einem unbedeutenden Gefecht, erschossen wurde. Vor allem im späteren 19. Jahrhundert brachte Körner es selbst zum Heldenstatus.3 Leyer und Schwerdt und Ahnung und Gegenwart nehmen an unterschiedlichen literarischen Attitüden und Kulturen teil – einer solchen des politischen Eingreifens und Mitwirkens und einer anderen des Beobachtens und Reflektierens: Von der Zeit ihrer Entstehung bis in das 20. Jahrhundert fanden Körners Gedichte weite Verbreitung; mittlerweile sehen sich seine Helden allerdings durch andere Heroen verdrängt. Die Gedichte werfen ein exemplarisches Licht auf eine zeitgenössische Verwendung heroischer Muster, der sich Eichendorff in Ahnung und Gegenwart gerade nicht anschloss. Dieser Erstlingsroman, der erst mit zweijähriger Verzögerung gedruckt wurde, erfuhr eine schleppende Rezeption; auch in der Gegenwart ist dem Werk allenfalls ein respektierliches Nischendasein beschieden. Während Körners Gedichte ihren Aufgaben nur unter der Voraussetzung gerecht werden konnten, dass kein Zweifel über das Wesen des Helden und über seine Handlungsmöglichkeiten unter Gegenwartsbedingungen bestand, ahnt Eichendorff, dass diese Gewissheit nur Schein sei.
I. K ÖRNERS H ELDEN Als Eichendorff an Ahnung und Gegenwart arbeitete, lag die Verwendung heroischer Bilder und Formeln in der Luft. Die Wucht, mit der sich Heroisches zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu Wort meldete, steht mit der politi-
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Zahlreiche Quellenhinweise bei Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812– 1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart 1991, S. 189 f.
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schen Konstellation und mit mediengeschichtlichen Umbrüchen in Zusammenhang. Bezogen auf Preußen bilden die Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 und ihre Folgen den Hintergrund – der Zusammenbruch der politischen und gesellschaftlichen Grundlagen des Staatswesens, die Verkleinerung des preußischen Staatsgebiets, eine Wirtschaftsund Finanzkrise und die allgemeine Krisenstimmung, die die Bevölkerung erfasste.4 Der literarische Hauptschauplatz, auf dem man Beispiele für heroische Töne vorfindet, ist die Publizistik. Flugschriften, Predigten, Zeitschriftenaufsätze und Zeitungsartikel bereiteten die ›Befreiungskriege‹ vor und begleiteten sie, förderten die Kriegsbereitschaft und waren geradezu Teil der Kriegshandlungen.5 Quantität und Intensität, mit denen einschlägige Publikationen auf die öffentliche Meinungsbildung einwirkten, standen in einem Zusammenhang mit dem Maß, in dem die Kriege die Bevölkerung insgesamt in Mitleidenschaft zogen. Zeitgenössische Überlegungen reflektieren das Gewicht, das der Publizistik als Mittel zufiel, eine hinreichend breite Widerstandsgesinnung zu mobilisieren.6 Lyrik, in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt, partizipierte an der Meinungsbildung in Quantitäten und einem Differenzierungsgrad, die hier nicht einmal angedeutet werden können. Körner steht neben Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn, Max von Schenckendorf und Friedrich Rückert, aber auch Friedrich Schlegel, Heinrich von Kleist und Friedrich de la Motte-Fouqué – ganz zu schweigen von vielen weniger bekannten oder anonymen Verfassern. Die Lyrikproduktion aus Anlass der Napoleonischen Kriege summiert sich auf »tausende von patriotisch-nationalen Liedern und Gedichten«.7 Die Körner-Lieder, die sich in erster Linie an akademisch Gebildete wandten, wie sie sich in den Lützowschen Freikorps versammelt hatten, finden sich in der Gesellschaft andersgearteter lyrischer
4
Vgl. Karen Hagemann: »Mannlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens. Paderborn u. a. 2002, S. 17-28.
5 6
Ebd., S. 128-157. Ernst Weber: »Für Freiheit, Recht und Vaterland. Zur Lyrik der Befreiungskriege als Medium politischer Meinungs- und Willensbildung«, in: Helmut Scheuer (Hg.): Dichter und ihre Nation. Frankfurt a. M. 1993, S. 237-256, hier S. 242; Hagemann: »Mannlicher Muth« (Anm. 4), S. 106-111.
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Ebd., S. 135.
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Töne; den Heldenbildern stehen Negativentwürfe (»Erobrer«, »Wütrich«, »Räuber«, »Tyrann«, »Ungeheuer«)8 gegenüber, die man in der antinapoleonischen Literatur antrifft,9 ebenso heroische Konzepte und Formeln (»gloire«, »honneur«), wie die französische Publizistik der Napoleon-Zeit sie einsetzte. Die Lyriksammlung Leyer und Schwerdt, die 1814 erschien, wurde von Körners Vater – Schillers Freund Christian Gottfried Körner, der seinerseits als Flugschriftenverfasser in das Geschehen eingriff10 – postum redigiert und herausgegeben.11 Durch abschriftliche Verbreitung, Einzeldrucke in Zeitungen und Zeitschriften und eine Gedichtsammlung aus dem Jahr 1813 waren Körner-Lieder allerdings auch schon zuvor bekannt und im Umlauf. Bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs blieb die Sammlung erfolgreich und wurde immer wieder aufgelegt. Körner trat mit Leyer und Schwerdt postum als einer der wirkungsmächtigsten Kriegsdichter in Erscheinung. Eine Vorläuferrolle können auf dem Gebiet der Lyrik zum Beispiel die Lieder eines preußischen Grenadiers für sich in Anspruch nehmen, die der Anakreontiker Johann Wilhelm Ludwig Gleim 1758, etwa fünfzig Jahre vor Körner, aus Anlass des Siebenjährigen Kriegs herausgebracht hatte und die auch noch im Umfeld der antinapoleonischen Kriege aufgenommen wurden.12
8
Alexander Freiherr von Blomberg: »Schwertfegerlied«, in: Hans-Bernd Spies (Hg.): Die Erhebung gegen Napoleon 1806–1814/15. Darmstadt 1981, S. 206; Ernst Moritz Arndt: »Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann«, in: ebd., S. 237 f.
9
Nacherzählungen einschlägiger Dramen bei Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945. Darmstadt 2007, S. 6192.
10 Christian Gottfried Körner: »Deutschlands Hoffnungen«, in: Spies: Die Erhebung (Anm. 8), S. 288-293. 11 Für einen Überblick vgl. Weber: Lyrik der Befreiungskriege (Anm. 3), S. 187198; speziell zur Publikationsgeschichte vgl. ebd., S. 191-193. Leyer und Schwerdt repräsentiert nicht die ›authentischste‹ Fassung, war allerdings längerfristig die erfolgreichste und wirkungsvollste Sammlung von Körner-Liedern. 12 Ebd., S. 193; Hagemann: »Mannlicher Muth« (Anm. 4), S. 141; Martin Disselkamp: »Wein und Liebe, Stahl und Eisen. Anakreontisches und Kriegerisches bei Johann Wilhelm Ludwig Gleim«, in: Manfred Beetz, Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005, S. 201-221.
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Befreiungskriegslyrik war, in einer Formulierung von Ernst Weber, »eine publizistisch eingesetzte Literatur, die vorübergehend die literarische Kommunikationssphäre verlassen hatte«.13 Körners Gedichte schließen nicht an subjektivistische oder individualistische Traditionen an. Statt sich an dem Bild eines Poeten zu orientieren, der zum Beispiel unter den Auspizien von Autonomiekonzepten schreibt, zielt Körner mit literarischen Mitteln auf politische Effekte,14 deren Stoßrichtung hier allerdings nicht diskutiert zu werden braucht. Es ist insofern nicht unzulässig, die Gedichte als rhetorisch organisiert zu betrachten. Den publizistischen Absichten dienen plakative Vokabeln, Formeln und Bilder, die der Verfasser repetitiv einsetzt. Zu den Fahnenwörtern gehören »Vaterland«, »Treue«, »Begeisterung«, »Blut«, »Tod«, »Rache«, »Freiheit«. Aufgabe der Gedichte ist es, die Leser auf den Kampf gegen die Truppen Napoleons einzustimmen: »Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen, | Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht.«15 (KW 25) Als Grundhaltungen kennen sie eine exemplarisch verstandene Sprecherrolle, den Appell an eine Vielzahl von Adressaten, umgekehrt das kollektive ›Wir‹. Auch die Darstellung kriegerischer Gewaltsamkeiten ist dazu bestimmt, Eindruck bei den Lesern zu hinterlassen: Der erste, der sich meinem Schwerte stellt, Des Haupt, wenn die Walküren günstig walten, Will ich dem Freund zum Todesopfer spalten. (KW 48)
Heroische Töne sollen dazu beitragen, das »Vaterland« als ein Ganzes zu begründen. Offenbar fanden die Körner-Lieder deshalb besonders großen Anklang, weil sie die kollektive psychische Disposition der Freiwilligen im Lützowschen Freikorps ansprachen.16 Um der aktuellen Krisensituation ent-
13 Ernst Weber: »Zwischen Emanzipation und Disziplinierung. Zur meinungs- und willensbildenden Funktion politischer Lyrik in Zeitungen zur Zeit der Befreiungskriege«, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Volk – Nation – Vaterland. Hamburg 1996, S. 325-352, hier S. 325 f. 14 Weber: Lyrik der Befreiungskriege (Anm. 3), S. 191. 15 Ich zitiere nach folgender Ausgabe: Körners Werke in zwei Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hg. mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Dr. Augusta Weldler-Steinberg. Berlin u. a. o. J. [1908] (Sigle: KW). 16 Dies ist die These von Weber: Lyrik der Befreiungskriege (Anm. 3), S. 187-198.
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gegentreten zu können, will Körner mithilfe heroischer Bilder auf eine Gemeinschaftsgesinnung hinwirken: »Es soll der Freiheit heil’ge Glut | In allen Herzen flammen.« (KW 20) Zu diesem Zweck konstituieren die Gedichte gemeinsame Bezugssysteme. Sie erinnern an Daten und Ereignisse, Orte und Personen, Kämpfe und ihre Schauplätze (Auf dem Schlachtfelde von Aspern, KW 11-14; Bundeslied vor der Schlacht. Am Morgen des Gefechts bei Dannenberg, 12. Mai 1813, KW 30-32) oder bringen den jeweiligen Entstehungsort ins Spiel (Am Hedwigsbrunnen bei Jauer, KW 29); in den Liedern treten Königin Luise von Preußen (KW 11; 26 f.), Prinz Louis Ferdinand (KW 17 f.), das österreichische Kaiserhaus (KW 14-16), aber auch Körners Freund Wilknitz auf. Mit Blick auf Ahnung und Gegenwart ist von Belang, dass die Gedichte an das kollektive Gedächtnis als Organ der Gemeinschaftsbildung appellieren. In Auf dem Schlachtfelde von Aspern ruft der Sprecher dazu auf, eine Memorialkultur nach dem Muster von Germanen und Griechen zu begründen. Die Gedichte selbst setzen heroische Orientierungsmarken, stellen eben vergangene Vorfälle als memorable Ereignisse dar und schicken sich an, jüngere Geschichte und Landschaft monumental zu transformieren: Drum soll es die Nachwelt laut erfahren, wie auch deutsche Bürger dankbar waren, Wie wir der Gefallnen Tat erkannt. Daß ihr Tod uns Lebens ermutet, Daß sie für unwürd’ge nicht geblutet: Das beweise, deutsches Vaterland! (KW 13)
Auch andere Beispiele der Befreiungskriegslyrik versuchen, Kriegsvorgänge in heroische Ereignisse zu verwandeln, indem sie sie dem kollektiven Gedächtnis übergeben: »Der Enkel sag’ es dem Enkel, | Daß die späte Nachwelt es wisse!«17 In dem Aufruf »An mein Volk« lässt Theodor Gottlieb von Hippel den preußischen König formulieren: »Erinnert euch an die heldenmüthigen Schweizer und Niederländer.«18
17 [Anonym:] »Auf die Befreiung Tirols«, in: Spies (Hg.): Die Erhebung (Anm. 8), S. 138. 18 Aufruf König Friedrich Wilhelms III. von Preußen, in: ebd., S. 255.
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Im Kontext der Publizistik, des Rhetorischen und der politischen Absichten kann Körner ein ungebrochenes Konzept heroischer Größe vertreten. Aufgabe der Gedichte ist es, heroisches Handeln als unmittelbar greifbare Option erscheinen zu lassen. Dafür muss die Sammlung allerdings eine verkürzte Reichweite in Kauf nehmen; denn sobald andere Bewertungsmaßstäbe verwendet werden als solche, die sich aus publizistischer Zweckmäßigkeit herleiten lassen, gibt sich der heroische Anspruch als Attitüde zu erkennen. Während zum Beispiel die Zeit der Französischen Revolution und die napoleonischen Jahre in politischer, rechtlicher, institutioneller, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Phase rapider Modernisierung und Beschleunigung waren, beruft sich Körner auf Handlungsbedingungen, die durch Stabilität und Übersichtlichkeit bestimmt sind. Insbesondere beschwören die Gedichte eine Topik religiöser, moralischer und kultureller Werte, die Allgemeingültigkeit beanspruchen: »Ja! Es gibt noch eine deutsche Tugend, | die allmächtig einst die Ketten reißt.«19 (KW 41) Den äußeren Rahmen, in dem sich der Sieg des »Vaterlands« vollziehen soll, bildet die Religion. Es erscheint als unzweifelhaft, dass die eigene zugleich die auf Gottes Seite streitende Partei sei: »Klein ist die Schar; doch groß ist das Vertrauen | Auf den gerechten Gott!« (KW 28) Wer sich auf die Programmatik der Lieder einließ, konnte in der Überzeugung handeln, dass das eigene Tun von Gott als »Führer der Schlachten« (KW 38) gebilligt werde und zum vorbestimmten Ziel führen müsse. Den Körner-Liedern bleibt es verwehrt, Voraussetzungen und Bedingungen der geforderten Gesinnungen und des anvisierten Handelns zu reflektieren oder ein erhebliches utopisches Potential zu entfalten. Ein außenstehender Leser könnte sich hingegen daran erinnern, dass Leyer und Schwerdt als Dichtung, die sich politischen Absichten verschreibt, auch parteigebunden bleibt. So gesehen mag sich, auch angesichts des Spiels mit literarischen Formen und Tönen unterschiedlicher Provenienz, der Verdacht des Künstlichen, Gemachten, Gewollten, Affektierten und Schematischen, wenn nicht
19 Zur Einigkeitsemphase vgl. z. B. auch Ernst Moritz Arndt: »Des Deutschen Vaterland«, in: ebd., S. 256-258. Über den Zusammenhang zwischen der Idee der Nation als Trägerin allgemeingültiger Werte und der Ausprägung von Feindbildern seit den Befreiungskriegen vgl. Michael Jeismann: »›Feind‹ und ›Vaterland‹ in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806–1815«, in: Hermann: Volk – Nation – Vaterland (Anm. 13), S. 279-290.
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der des Kitsches einstellen. Daran könnte Heinrich Heine gedacht haben, als er gegen »die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder«20 polemisierte, gegen »jene faden, schalen, flachen, poesielosen Verse, die uns gute Deutsche so sehr enthusiasmierten«.21
II. H EROISCHE ANKLÄNGE Die Napoleonischen Kriege, in die Körner mit heroischen Entwürfen eingreift, geben ein Bezugsfeld auch für die Handlung von Ahnung und Gegenwart als ›Zeitroman‹ ab. Als der Roman entstand, hatten die ›Befreiungskriege‹ allerdings noch nicht begonnen. Eichendorffs Vorwort, das in der Erstauflage durch ein an die Formulierungen des Romanautors angelehntes Avant-propos von Friedrich de La Motte-Fouqué ersetzt ist, stellt einen so engen Bezug zu Zeitereignissen her, dass das Werk bei seinem Erscheinen schon fast als überholt dasteht: »Ich hatte diesen Roman vollendet, ehe noch die Franzosen im letzten Kriege Rußland betraten. Eine nothwendig fortlaufende Berührung des Buches mit den öffentlichen Begebenheiten verhinderte damals den Druck deßelben.« Zeitgenossen konnten die Formel von der »gewitterschwülen Zeit«22 ohne weiteres mit dem Entstehungskontext in Verbindung bringen. In den äußeren Umständen, auch in der literarischen Umgebung, lagen Bedingungen bereit, die für Heroisches als Gegenstand des Romans gesprochen haben dürften. Ahnung und Gegenwart interagiert mit der ›heroischen‹ Atmosphäre, die im Umfeld zu verspüren, und mit den heroischen Tönen, die dort zu vernehmen waren. Für eine »heroische Statur«23 kommt in erster
20 Heinrich Heine: »Die romantische Schule«, in: ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München 2005, Bd. 3, 357-504, hier S. 379. 21 Heinrich Heine: »Briefe aus Berlin«, in: ebd., Bd. 3, S. 7-68, hier S. 55. 22 Joseph von Eichendorff: »Ahnung und Gegenwart«, in: ders.: Sämtliche Werke. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt und hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Bd. III. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. Tübingen 1984, S. V, 351. 23 Egon Schwarz: »Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart«, in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Stuttgart 1981, S. 302-324, hier S. 312. Vgl. auch H. Jürgen
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Linie die Hauptfigur Friedrich infrage; hingegen scheint aus der Sicht seines Freunds Leontin von Beginn an keine Aussicht auf wirksames Eingreifen in die Ereignisse zu bestehen.24 Die Einladung des Erbprinzen an Friedrich, an der Bewältigung der Krisensituation mitzuwirken, ist ein heroisches Bekenntnis und lässt, poetologisch gelesen, die Idee einer heroischen Handlung anklingen, die sich auf die Attitüde selbstlosen Einsatzes für das Gemeinwohl stützt: Unsere Zeit ist so gewaltig, daß die Tugend nichts gilt ohne Stärke. Die wenigen Mutigen aus aller Welt sollten sich daher treu zusammenhalten, als ein rechter Damm gegen das Böse. […] Es ist groß, sich selber, von aller Welt losgesagt, fromm und fleißig auszubilden […], aber es ist größer, alle Freuden, alle eigenen Wünsche und Bestrebungen wegzuwerfen für das Recht, alles – hier strich die Gräfin Romana an ihnen vorüber. (EW 694)25
Anders als bei Körner, der sich an die Kriegsfreiwilligen wendet, ist in Ahnung und Gegenwart heroische Größe, das »Ringen nach dem Höchsten« (EW 699), ein Adelsattribut, das die Gestalt des Ritterlichen annimmt.26 Als Ritter erscheint Friedrich zum Beispiel Leontins Schwester Rosa im Traum: Ich sah ihn erschrocken an und erkannte ihn nicht wieder, er war völlig geharnischt, wie ein Ritter. Sonderbar! Es hing ein altes Ritterbild sonst in einem Meyer-Wendt: Eichendorffs Ahnung und Gegenwart: »Ein getreues Bild jener gewitterschwülen Zeit«? in: Wolfgang Paulsen (Hg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern, München 1977, S. 158174, hier S. 171. 24 Ebd., S. 166 f. 25 Ich zitiere Ahnung und Gegenwart nach der folgenden Ausgabe: Joseph von Eichendorff: Werke. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München 1971, S. 537-835 (Sigle: EW). 26 Dieter Breuer: »Graf Leontin und die alte Freiheit. Zum Selbstverständnis des Adels bei Eichendorff«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift (NF) 29 (1979), S. 296-310; Jochen Strobel: Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. Verhandlungen zwischen ›Adeligkeit‹ und Literatur um 1800. Berlin, New York 2010, S. 163-173. In der Argumentation bleibt das Kapitel allerdings etwas verworren.
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Zimmer unsers Schlosses, vor dem ich oft als Kind gestanden. Ich hatte längst alle Züge davon vergessen, und gerade so sah jetzt Friedrich auf einmal aus. (EW 728 f.)
Als »Ritter« fällt Friedrich eine Aura zu, die in der Literaturgeschichte als Eigenschaft des Helden sichtbar wird. Wie sein Freund Leontin hebt sich Friedrich schon als Erscheinung aus der Menge hervor. »Der Mondschein«, so beschreibt der Erzähler die erste Begegnung mit Julie, »fiel gerade sehr hell durch eine Öffnung der Bäume und beleuchtete die beiden schönen Männer.« (EW 597) Zuweilen nimmt Friedrichs Auftreten fast emblematischen Charakter an – so beim morgendlichen Bad im Rhein, in dessen »kühle[] Flammen« er sich mit Leontin stürzt. Die Formulierung, die Eichendorff wählt, spielt auf Zacharias Werners Drama Martin Luther oder Die Weihe der Kraft aus dem Jahr 1807 an: »Es war die Weihe der Kraft für lange Kämpfe, die ihrer harrten.« (EW 710) Friedrich nimmt gern an der Jagd teil (EW 730-739), an der auch Leontin »das gefährliche, freie, soldatische Leben« schätzt (EW 613). Die Figuren bewegen sich immer wieder in vertikal dramatisierten Gebirgsumgebungen. Dort sieht man Leontin mit »einer schwindelerregenden Kühnheit […] sich an die Sträucher haltend, geschickt von Feld zu Feld über die Abgründe immer höher hinaufschwingen« (EW 732). Um den Preis eines gewissen Blutverlusts schlägt Friedrich eine Räuberbande in die Flucht. In der Residenz will er »retten, was noch zu retten war« (EW 638): »Friedrich fühlte diesen gewitternden Druck der Luft und waffnete sich nur desto frömmer mit jenem Ernst und Mute, den ein großer Zweck der Seele gibt.« (EW 706) Als Partisan greift er in Kämpfe ein, die auf den historischen Hintergrund des Tiroler Aufstands gegen die Napoleonischen Truppen unter der Führung von Andreas Hofer bezogen werden können.27 Im Nahkampf ist Friedrich »überall zu sehen, wo es am gefährlichsten herging, selbst mit Blut überdeckt« (EW 746). Es ist eine Nebenbemerkung wert, dass die Tiroler Erhebung, der Eichendorff zwei Gedichte widmete,28 und Hofer selbst ihrerseits Gegenstand heroisie-
27 Zum Tiroler Aufstand vgl. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (Anm. 22), S. 483 f. (Kommentar). 28 Joseph von Eichendorff: »Die Tiroler Nachtwache« und »An die Tiroler«, in: ders.: Werke (Anm. 25), S. 123 f. Die Tiroler Nachtwache fand auch Eingang in Ahnung und Gegenwart (ebd., S. 745). Vgl. Raimar St. Zons: »›Schweifen‹.
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render Mythenbildungen waren, an denen sich auch Theodor Körner mit einem Sonett über die Füsilierung des Gefangenen beteiligte: Treu hingst du deinem alten Fürsten an, Treu wolltest du dein altes Gut erfechten; Der Freiheit ihren ew’gen Bund zu flechten Betratst du kühn die große Heldenbahn. (KW 10)29
Rosas Traumerzählung vom Ritter Friedrich gibt allerdings bereits zu erkennen, dass das heroische Charisma in der Vergangenheit beheimatet ist. Aus einem nicht genauer bestimmbaren Mittelalter ragt Friedrich in die gegenwärtige »Zeit« hinein. Denn Helden nach Körners Muster, denen die Aufgabe zufällt, einen aus der Balance geratenen Weltzustand wieder zu stabilisieren, würden in Ahnung und Gegenwart kein ideales Milieu antreffen. Die Krise, mit der sich der Roman beschäftigt, ist nicht identisch mit derjenigen, in die Leyer und Schwerdt eingreifen soll. Eine Auseinandersetzung mit bestimmten politischen Konstellationen findet bei Eichendorff nicht statt. Die Spuren, die zu aktuellen Ereignissen hätten führen können, hat der Verfasser eigenhändig verwischt. Von einem Standpunkt militärischen und politischen Handelns aus wären nicht einmal die Problemstellungen zu begreifen, denen sich Eichendorff zuwendet. Schon aus der Perspektive der Figuren, aber auch für die Leser stellt sich die Handlung als so verworren dar, dass ›heroische‹ Auflösungen ausgeschlossen zu sein scheinen. Die Forschung steht vor Unklarheiten, offenen Fragen und Inkonsistenzen, die Anlass zu Spekulationen über einander überlagernde Bearbeitungsstufen gegeben haben.30 Auch in der Form doEichendorffs Ahnung und Gegenwart«, in: Hans-Georg Pott (Hg.): Eichendorff und die Spätromantik. Paderborn 1985, S. 39-68, hier S. 59, Fußnote 33. 29 Für einen Überblick über Ereignisse, historisches Umfeld und Rezeption des Tiroler Aufstands vgl. z. B. Brigitte Mazohl, Bernhard Mertelseder (Hg.): Abschied vom Freiheitskampf? Tirol und ›1809‹ zwischen politischer Realität und Verklärung. Innsbruck 2009. 30 Detlev W. Schumann: »Rätsel um Eichendorffs Ahnung und Gegenwart. Spekulationen«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft NF 18 (1977), S. 173-202; Bernhard Engelen: »Stilistische Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart«, in: Konrad Ehlich (Hg.): Eichendorffs Inkognito. Wiesbaden 1997, S. 195-234.
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miniert das Gebrochene und Heterogene:31 Satirische, erhabene und groteske Stillagen, Erzählung – auch in der Form eingelagerter Geschichten und Träume –, Lyrik und poetologische Reflexion finden nebeneinander Platz. Unter den literarischen Bezugspunkten, die im Roman genannt werden, spielt Don Quijote eine Hauptrolle, der sich zur heroischen Literatur in ein parodierendes Verhältnis setzt. Vor dem Don-Quijote-Etikett ist nicht einmal die Hauptfigur Friedrich sicher.32 Zur Handlung und zur literarischen Beschaffenheit des Romans gehört das Erotische, das doch gleichzeitig einem ›offiziellen‹ Verdikt verfällt.33 In seiner Einrichtung entspricht Eichendorffs Romanerstling durchaus Friedrich Schlegels Feststellung, der Roman sei »die ursprünglichste, eigentümlichste, vollkommenste Form der romantischen Poesie, die eben durch diese Vermischung aller Formen von der alten klassischen, wo die Gattungen ganz streng getrennt wurden sich unterscheidet«.34 Verglichen mit der Konstellation, die Körner beschwört, zeigt Ahnung und Gegenwart den Grafen Friedrich von Beginn an in einer prekäreren Lage: Zusammen mit wenigen anderen steht er als Einzelner der »überhandnehmenden Desorganisation gerade unter den Bessern« (EW 721) gegenüber. In dieselbe Asymmetrie mündet der Freiheitskampf im Gebirge: »Das Kriegsglück wandte sich, die Seinigen wurden immer geringer und schwächer, alles ging schlecht: er blieb allein desto hartnäckiger gut und wich
31 Dazu Thomas Althaus: Strategien enger Lebensführung. Das endliche Subjekt und seine Möglichkeiten im Roman des 19. Jahrhunderts. Hildesheim 2003, S. 127-195, der das Inkonsistente überzeugend als Teil des Romankonzepts interpretiert. 32 Für Anspielungen auf Don Quichote vgl. z. B. Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (Anm. 22), S. 567, 600, 679. Zur Struktur des Romans im Überblick vgl. Horst Meixner: Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Arnim, Eichendorff und Hoffmann. Frankfurt a. M. 1971, S. 126-133. 33 Dazu Friedrichs Erlebnisse im Schloss der Gräfin Romana (Eichendorff: Ahnung und Gegenwart [Anm. 22], S. 686-692); ferner der Handlungsfaden, der Marie betrifft (u. a. ebd., S. 724, 744, 750, 785 f.). 34 Friedrich Schlegel: »Geschichte der europäischen Literatur (Paris-Kölner Vorlesung, gehalten 1803–1804)«, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. XI. Paderborn 1958, S. 1-185, hier S. 160.
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nicht.« (EW 750) Auch Leontin ist entschlossen, »da alles, was mir ehrwürdig und lieb auf Erden war, zugrunde gehen sollte, lieber fechtend selber mit unterzugehen, als gefangen in der gemeinen Schande zurückzubleiben« (EW 768). Ahnung und Gegenwart hält nicht dazu an, eine Krise heroisch zu überwinden, sondern unterwirft aktuelle Kulturkonstellationen einer Betrachtung von einem ausgelagerten, wenn man so will: intellektuellen Standpunkt aus.35 Statt Heldenbilder in politischer Absicht einzusetzen, wendet sich Eichendorff der Frage zu, ob zwischen heroischer Größe und gegenwärtigen Lebensverhältnissen überhaupt ein Verhältnis der Verträglichkeit und Angemessenheit bestehe. Dabei hätte er zum Beispiel an Herder denken können, der erklärt, dass es in der Neuzeit an Nationalhelden fehle, weil Poesie und Wirklichkeit beziehungsweise Geschichte voneinander geschieden seien.36 Zwar – in geradezu klassischen Wendungen beschreibt Friedrich selbst den Heros, der über ein göttliches Mandat verfügt: »Es ist leicht und angenehm, zu verspotten, aber mitten in der Täuschung den großen, herrlichen Glauben an das Bessere festzuhalten, und die andern mit feurigen Armen emporzuheben, das gab Gott nur seinen liebsten Söhnen.«37 (EW 604) Doch Rettungstaten von menschheitlicher Tragweite zu vollbringen bleibt dem Protagonisten verwehrt. Ich komme noch einmal auf die Ansprache des Erbprinzen zurück, die am Beginn dieses Abschnitts stand: Noch während sich der Prinz an Friedrich wendet, handelt er selbst, durch die vorüberstreichende Romana irritiert, der Forderung nach asketischer Selbstaufopferung im Dienst für das Ganze zuwider. Die heroische Formulierung bleibt ein syntaktisches Fragment und geht im »Schein« des »zahlreichen und glänzenden Zirkel[s]« (EW 693) auf, in dessen Kontext sie erhoben wird. Dem heroischen Roman, den sie anzudeuten scheint, entzieht die Stelle die Grundlage.
35 Meyer-Wendt: Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (Anm. 23), S. 161. 36 Vgl. Johann Gottfried Herder: »Briefe zu Beförderung der Humanität«, in: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 7. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M. 1991, S. 536. 37 Die Vorgeschichte dieser Formel führt zurück auf die »Virtus heroica«-Tradition. Für frühneuzeitliche Quellen vgl. Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002, S. 24-54.
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III. M ASKEN
UND
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P OSEN
Wie Eichendorff Körners Gedichte und die darin enthaltenen Heroismuskonzepte beurteilt hätte, wissen wir nicht. Körner, den Eichendorff in Wien in Friedrich Schlegels Umkreis persönlich kennenlernte, spielt im Werk des Romantikers keine Rolle – auch nicht während der Befreiungskriege oder in der Zeit danach, als die Kriegslieder bereits bekannt waren. En passant erwähnt Eichendorff Körner in den Tagebüchern als »jungen noch kindisch genialen u. burschikosen Dresdner […], Verfaßer der kleinen Stüke in der Burg, mit dem sächsischen Maule. Er macht nichts als dichten, ist bei den Proben im Theater etc.«38 Einer These der Forschung zufolge hätte er zu dem als Schauspieler wenig begnadeten, sentimental und unglücklich liebenden Studenten Modell gestanden, den Friedrich in Ahnung und Gegenwart auf dem Weg zu Romana als Mitglied einer Theatertruppe kennenlernt (EW 680-682; 743-746).39 – Spekulationen über das Urteil, zu dem Eichendorff gelangt wäre, sind allerdings erlaubt, denn zu Themen der ›Zeit‹ nimmt Ahnung und Gegenwart mit Blick auf die Literatur Stellung. Der autoreflexiven Anlage des Romans gemäß ist ohnehin die Frage nach dem Heroischen eine solche nach der heroischen Literatur. Beispielhaft zeigt die literarische Soiree, an der Friedrich in der Residenz teilnimmt, dass babylonische Beliebigkeit der Stimmen die Gegnerschaft repräsentiert, mit der Friedrich es aufzunehmen hat. Die Forschung hat Anstrengungen unternommen, zu rekonstruieren, welche historischen Personen sich hinter den Gästen der »ästhetischen Teegesellschaft« verbergen mögen.40 Bedeutsamer sind andere Gesichtspunkte: Schon mit dem Gewirr der Positionen, die an Friedrich vorüberziehen, ordnet sich die abendliche Geselligkeit der fremden »Welt« zu, dem »verwirrende[n] Treiben der mühselig drängenden, schwankenden Menge« (EW 655), dem »Weltmarkt großer Städte« (EW 695), für die im Roman die Residenz ein-
38 Joseph von Eichendorff: »Tagebücher«, in: ders.: Sämtliche Werke (Anm. 22), Bd. XI/1. Hg. von Ursula Regener. Tübingen 2006, S. 443. 39 Thomas Riley: »Das Verhältnis des jungen Eichendorff zu Friedrich Schlegel in Wien«, in: Aurora 32 (1972), S. 24-29, hier S. 27 f. Vgl. auch die Erläuterungen in Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (Anm. 22), S. 465, 485. 40 Dazu die Anmerkungen in Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (Anm. 22), S. 444-463.
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steht: »Anders sind die Menschen dort […]; treue Sitte, Frömmigkeit und Einfalt gilt nicht unter ihnen.« (EW 592) In dem Negativbild von den Stadtund Weltgeschäften partizipiert der Roman an einer Grundkonstellation, die man auch in Eichendorffs Lyrik findet. In dem Gedicht »O Täler weit, o Höhen«, das der Verfasser am Ende des ersten Buchs, an der Gelenkstelle zur Residenz-Episode, dem Protagonisten in den Schreibgriffel diktiert, fällt die »Fremde« mit der »geschäftge[n] Welt«, den »buntbewegten Gassen« und des »Lebens Schauspiel« zusammen (EW 641). Auch für die »Teegesellschaft« ist das Schauspielmotiv von Belang. Maskeraden, Verkleidungen, Inszenierung und Rollenspiel zeigen sich als Symptome einer tiefgreifenden Kulturkrise. »Natur« und »Leben« sind im Umfeld der »Teegesellschaft« durch Künstlichkeit, Veranstaltung und mediale Distanz verstellt. Die Soiree insgesamt repräsentiert »das Erbärmliche aller Affektation« (EW 606). Bereits zuvor hatte anlässlich einer Redoute auf paradoxe Weise die Maskierung der Feiernden den zerfallenen Zustand entlarvt, in dem sich die »Welt« befindet. Auf dem Ball stößt Friedrich auf »Charaktermasken ohne Charakter«,41 auf »gespreizte Spanier, papierne Ritter, Taminos, die über ihre Flöte stolperten« (EW 643). Mit den adligen Teilnehmern könnte die Gesellschaft, die sich zur literarischen Soiree einfindet, ein Beispiel für den Niedergang des Adels abgeben, wie der Verfasser ihn ungefähr zwanzig Jahre nach Ahnung und Gegenwart in der autobiographischen Schrift Der Adel und die Revolution beschrieben hat. Das Metier der »Exklusiven« und der »Extremen« ist »das Dekorationswesen der Repräsentation« (EW 1501 f.). In seinen späten Erscheinungsformen beteiligt sich der Adel an Mode, Veräußerlichung, Aufklärung und Obskurantismus und sprengt selbst den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Während seines Aufenthalts in der Residenz kommentiert Friedrich die »vornehme Geckenhaftigkeit«, die ein Marquis – geradezu das Gegenbild eines Helden – an den Tag legt: »Gott steh dem Adel bei […], wenn dies noch seine einzige Unterscheidung und Halt sein soll in der gewaltsam drängenden Zeit, wo untergehen muß, was sich nicht ernstlich rafft!« (EW 703) Unter den literarischen Typen, die Eichendorff auftreten lässt, findet
41 Jochen Hörisch: »›Larven und Charaktermasken‹. Zum elften Kapitel von Ahnung und Gegenwart«, in: Pott: Eichendorff und die Spätromantik (Anm. 28), S. 27-38.
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sich ein »Schmachtender«, der in einem Verwandtschaftsverhältnis zu weiteren Sentimentalen steht, die Friedrichs und Leontins Weg kreuzen.42 Das »Schmachten« ist eine affektierte Pose; denn den Dichtungen fehlt »die Poesie selber, das ursprüngliche freie, tüchtige Leben, das uns ergreift, ehe wir darüber sprechen« (EW 664). Dem Verdikt des ›Flausenmachens‹ verfallen auch ein genialischer Kritiker und ein dichtender Enthusiast; die Tanzeinlage eines Mädchens bewertet Friedrich als »gottlose Art, unschuldige Kinder durch Eitelkeit zu dressieren« (EW 661). Die Gedichte, die im Salon vorgetragen werden, erscheinen schon deshalb als bedenklich, weil sie vorbereitet, wie einstudiert und auf Papier geschrieben sind.43 Ihre Autoren geben sich derselben Fehlhaltung hin wie der Schiller-Liebhaber, der die Natur nur durch den Filter des Don Carlos wahrnimmt (EW 712), oder der Student im Taugenichts, der im Wald die Klarinette nach Noten bläst (EW 1131 f.). Die Verunsicherungen, die von der »Teegesellschaft« ausgehen, sind erheblich; denn welche Möglichkeiten, das eigene Handeln auszurichten, sind vorhanden, wenn die Erfahrungswelt in Vermittlungen und Verstellungen besteht? Nicht einmal der Standort, von dem aus eine heroische Figur belehrend, heilend und bessernd in die Welt eingreifen könnte, ließe sich unter solchen Bedingungen überzeugend festlegen. Gegenstand des Romans sind gerade die irregulären Verhältnisse der ›Zeit‹. Ahnung und Gegenwart tritt nicht an, um sie zu ignorieren, sondern um – in einer Formulierung Friedrich Schlegels – »das der Poesie entgegengesetzte Element des gemeinen Lebens zu poetisieren und sein Entgegenstreben zu besiegen, bei welchem Geschäft sie [die Poesie] nicht selten die Form und das Costum desselben annehmen zu wollen scheinen kann«.44 Der Roman geht deshalb nicht in einer satirischen Verurteilung der »Zeit«
42 Vgl. die Parodien in EW 567 f., 595 f., 603. 43 Vgl. als Gegensatz die Bemerkungen über Leontin, der »unaufhörlich seltsame Lieder [dichtete], die er sogleich sang, ohne jemals ein einziges aufzuzeichnen. Denn was er aufschrieb, daran verlor er sogleich die freie, unbestimmte Lust.« (EW 611) Ferner S. 698 zu Leontins Gewohnheit, die in der Nacht gedichteten Tragödien morgens wieder zu verbrennen. 44 Friedrich Schlegel: »Literatur«, in: ders.: Kritische Schriften und Fragmente. Hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn 1988, Bd. 3, S. 19-28, hier S. 25.
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auf45 – eher im ›transzendentalen‹ Nachdenken über die Optionen, die sich unter den gegebenen Bedingungen der ›Poesie‹ eröffnen mochten.
IV. S IMULATIONEN Soweit in Ahnung und Gegenwart dem Heroischen das Amt zuzufallen scheint, Kohärenz im Zerstreuten und Beliebigen sinnfällig zu machen oder herzustellen, greift Eichendorff weit zurückreichende ideengeschichtliche und literarische Traditionen auf, um sich gleichzeitig mit ihnen auseinanderzusetzen. Als Errungenschaft der Frühen Neuzeit darf die ›Technisierung‹ heroischer Größe gelten – ihre strategische Zurichtung und Verwendung zum Beispiel in der Absicht, ein Instrument der Auseinandersetzung mit politischen und konfessionellen Zersplitterungs- und Perspektivierungsprozessen zu gewinnen. Viele Literaten und Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts sahen es als ihre Aufgabe an, sich in diesem Sinn an der Produktion von Heldenbildern zu beteiligen.46 Kalkulierte Theatralik, Éclat und Effektorientierung des ›Barockheroismus‹ ziehen jedoch das Misstrauen schon von Aufklärungsautoren auf sich. Ob überhaupt einer Person, die wechselnden und zufälligen Einflüssen durch Erziehung und Lebensverhältnisse ausgesetzt ist, heroische Perfektion glaubhaft zugeschrieben werden könne, wird im 18. Jahrhundert zunehmend zweifelhaft. Im Roman, wie ihn Friedrich von Blanckenburg etwa vierzig Jahre vor Eichendorffs Ahnung und Gegenwart entworfen hatte, wäre ein heroisches Glanzbild als Fremdkörper erschienen; denn sein Gegenstand sind nicht wie derjenige des antiken Epos »öffentliche Thaten und Begebenheiten«, sondern »Handlungen und Empfindungen des Menschen«.47 An Diskussionen über Fragen der Historiographie,48 den mehr
45 So scheinen zum Beispiel Schwarz: Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (Anm. 23), S. 317, und Meixner: Romantischer Figuralismus (Anm. 32), S. 324, den Roman zu verstehen. 46 Martin Disselkamp: Barockheroismus (Anm. 37). 47 Zur Gegenüberstellung von antikem Epos und modernem Roman Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimile der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 69-78. Zum Begriff des anthropologischen Romans vgl. Hans-Jürgen Schings:
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oder weniger gelungenen Beiträgen der Aufklärungsepik,49 aber auch an Debatten, die im 18. Jahrhundert über heroische Denkmäler geführt wurden,50 ließe sich zeigen, in welchem Maß unter solchen Voraussetzungen das Heroische an Präsenz und Evidenz verlor – auch wenn es seine Anziehungskraft behielt. Ahnung und Gegenwart setzt die Kritik an der Repräsentation des Heroischen voraus und beteiligt sich an ihr. Heroische Traditionen sind, etwas verdeckt, auch Gegenstand der Soiree-Satire: Die Gastgeberin und die übrigen Anwesenden praktizieren die ›Kunst zu gefallen‹, den durch scheinbare Nachlässigkeit herbeigeführten Eindruck der Kunstlosigkeit. Solche Fertigkeiten wurden seit dem beginnenden 16. Jahrhundert als Strategien der Vermittlung heroischer Größenbilder entwickelt. Eichendorffs Beschreibung des genialischen Kritikers klingt wie durch Baldassar Castigliones Libro del Cortegiano inspiriert. Dort rät der Conte Ludovico dem Hofmann, sich überall »einer gewissen Nachlässigkeit zu bedienen, die die Kunst verbirgt und zeigt, dass das, was einer tut und sagt, ohne Mühe und gewissermaßen ohne nachzudenken geschieht«.51 Über den genialischen
»Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung«, in: Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München 1980, S. 247-275. Zum philosophiegeschichtlichen Kontext vgl. Kondylis Panayotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. 48 Ernst Ludwig Posselt: Ueber teutsche Historiographie, eine Rede bey der Jubelfeyer des Carlsruher akademischen Gymnasii den 21. Nov. 1786 in Gegenwart des Hochfürstlichen Hauses gehalten. Durlach 1786. 49 Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin, New York 1993. 50 Martin Disselkamp: »Freundschaftliche Monumente. Beispiele zur Repräsentation des Verdienstlichen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Klaus Manger, Ute Pott (Hg.): Rituale der Freundschaft. Heidelberg 2006, S. 175-191. 51 Der Conte Ludovico stellt die Regel auf, man müsse, »per dir forse una nova parola, usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconda l’arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi«. (Baldassar Castiglione: Il Libro del Cortegiano. Introduzione di Amedeo Quondam. Note di Nicola Longo. Mailand 1981, S. 59 f.). Zu Castiglione vgl. Manfred Hinz: Rhe-
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Kritiker liest man in Ahnung und Gegenwart: »Seine Urteile waren alle nur wie zum Spiele flüchtig hingeworfen mit einem nachlässig mystischen Anstrich, und die Frauenzimmer erstaunten nicht über das, was er sagte, sondern was er, in der Überzeugung, nicht verstanden zu werden, zu verschweigen schien.«52 (EW 662) Für Friedrich verweist die Forschung auf das »alteuropäische cortegiano-Ideal«, 53 ohne allerdings zu diskutieren, welch fragwürdiges Bild der Hofmann aus Eichendorffs Perspektive abgibt. Unter Gesellschaftsbedingungen nehmen heroische Töne eine artifiziell verfälschte Gestalt an. Als der Enthusiast eines seiner Werke vorträgt, geraten die »Damen […] ganz außer sich über die heroische Kraft des Gedichts, sowie des Vortrags« (EW 665). Ähnliche Vorbehalte mögen gegenüber dem Kunstdichter Faber gelten, der im Roman einen Beitrag zur patriotischen Lyrik leistet, indem er »die Herausforderung eines bis zum Tode verwundeten Ritters an alle Feinde der deutschen Ehre« in die Form einer Romanze bringt: »Wer sollte es glauben, sagte Leontin, daß Herr Faber diese Romanze zu eben der Zeit verfertiget hat, als er Reißaus nahm, um nicht mit gegen die Franzosen zu Felde ziehn zu dürfen.«54 (EW 561) Im Rückblick berichtet Friedrich, er habe sich bei der Teegesellschaft »recht ohne alle Männlichkeit gefühlt«, während der Schmachtende, Leontin zufolge, »keine Mannsmuskel im Leibe« hat (EW 683 f.). In der Gesellschaft, die sich im Salon versammelt hat, stellt sich trotz aller poetischen Anstrengungen kein Zusammenhalt ein, wie Körner ihn mit seinen Liedern herstellen möchte; unter dem Eindruck von Friedrichs Kritik wird im Gegenteil das Unzusammenhängende sichtbar: Was das Ganze noch so leidlich zusammenhält, sind tausend feine, fast unsichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und Gegenlob usw., und sie nennen es denn gar zu
torische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. Zu den Verbindungen zur heroischen Größe vgl. Disselkamp: Barockheroismus (Anm. 37). 52 Zur Kritik am verstellten Verhalten in Gesellschaft vgl. auch Rudolfs Lebensgeschichte (EW 796). 53 Markus Schwering: Epochenwandel im spätromantischen Roman. Untersuchungen zu Eichendorff, Tieck und Immermann. Köln, Wien 1985, S. 58. 54 Vgl. auch EW 827, wo Faber in einem Sonett zum Kampf aufruft und an den »deutschen Ruhm« erinnert.
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gern ein Liebesnetz. Arbeitet dann unverhofft einmal einer, der davon nichts weiß, tüchtig darin herum, geht die ganze Spinnewebe von ewiger Freundschaft und heiligem Bunde auseinander. (EW 676)
Wären aus Eichendorffs Feder – oder wenigstens aus dem Mund des Grafen Friedrich – Urteile über die heroische Lyrik von Körner, Jahn, Arndt und anderen überliefert, so wären sie womöglich ablehnend ausgefallen. Die Gedichte, so darf man argwöhnen, wären als Teil der Kulturformation erschienen, mit der sich der Roman kritisch auseinandersetzt. Als bloße Simulationen des Heroischen wären sie versunken in dem »Schwalle von Poesie, Andacht, Deutschheit, Tugend und Vaterländerei, die jetzt, wie bei der babylonischen Sprachverwirrung, schwankend hin und her summen« (EW 827).
V. E INIGE S PEKULATIONEN Eine heroische Dichtung, die in der Lage wäre, die Zersplitterungen zu beseitigen und Weltverhältnisse als »das Ganze« darzustellen, müsste offenbar das ›ganz andere‹ sein, sich aller propagandistischen Zwecke enthalten und dem Vermittelten und Artifiziellen entsagen. Heroische Dichtung würde mit ›Poesie‹ schlechthin zusammenfallen. Friedrichs eigene literaturkritische Stellungnahmen während der Soiree scheinen eine solche Dichtung anzuvisieren: »Moral, Schönheit, Tugend und Poesie, alles wird eins in den adeligen Gedanken, in der göttlichen, sinnigen Lust und Freude« (EW 675). Verfasser wahrer heroischer Dichtung könnten ihrerseits auf das Heroismusetikett Anspruch erheben: Die heiligen Märtyrer, wie sie, laut ihren Erlöser bekennend, mit aufgehobenen Armen in die Todesflammen sprangen – das sind des Dichters echte Brüder, und er soll ebenso fürstlich denken von sich; denn so wie sie den ewigen Geist Gottes auf Erden durch Taten ausdrückten, so soll er ihn aufrichtig in einer verwitterten, feindseligen Zeit durch rechte Worte und göttliche Erfindungen verkünden und verherrlichen. (EW 562)
Ein gesellschaftliches Pendant, das sich einem derartigen Poesiekonzept zuordnet, findet man in der Rolle, die Eichendorff später in der autobiographischen Schrift Der Adel und die Revolution dem Adel zuweist – auch
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wenn dort das Bekenntnis zu konservativen Ordnungsvorstellungen die Oberhand gewinnt. Der Aufsatz hat seinen Platz in einer Tradition von Überlegungen zu der Frage, welche Faktoren in modernen komplexen Gesellschaften die Verantwortung für das Fortschreiten von Zerfalls- und Zersplitterungsbewegungen tragen beziehungsweise welche Gegenmittel zur Verfügung stehen. Im 18. Jahrhundert wurde dieses Thema zum Beispiel im Rahmen von Patriotismus- und Nationalstolz-Debatten diskutiert.55 Näherhin könnte die Adelstheorie im Zusammenhang mit Ideen stehen, die der Verfasser in Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen kennengelernt haben mag.56 In den Ursachen der Differenzierungserfahrungen, die Eichendorff identifiziert, melden sich die kulturkritischen Ansätze aus Ahnung und Gegenwart zurück. Zum sozialen Kohärenzverlust führen zum Beispiel aristokratischer Stolz und Standesdünkel. Von den drei späten Adelstypen, die der Aufsatz Der Adel und die Revolution für die letzte Phase vor der Französischen Revolution ausmacht, erteilt der Verfasser den »kleineren Gutsbesitzer[n] in ihrer fast insularischen Abgeschiedenheit« die besten Noten, denn sie führen ein naturnahes, unprätentiöses, patriarchalisches Dasein, das sich an traditionellen Sitten orientiert (EW 1494-1498). In größerem Maßstab sind Staats- und Verwaltungsapparate, eine geschriebene Verfassung, nach augenblicklicher Notwendigkeit erlassene Gesetze und institutionalisierte Verfahrensweisen – das »verzweifelte Experimentieren der vermeintlichen Staatskünstler, das noch bis heut die Gesellschaft in beständiger fieberhafter Bewegung erhält« (EW 1506) – ebenso schädlich oder doch Symptome von Fehlentwicklungen wie geziertes Verhalten in Gesellschaft und ›künstliche‹ Dichtungen. In Ahnung und Gegenwart hatte sich Friedrich den Minister als »einen lebenskräftigen, heldenähnlichen, freudigen Mann vorgestellt, und fand eine lange, hagere, schwarzgekleidete Gestalt, die ihn mit unhöflicher Höflichkeit empfing«. Auf Friedrichs Worte, die »mit einer sorglosen, sieghaften Ergreifung« gesprochen sind, reagiert der Minister mit der Empfehlung, sich »auf das Studium der Jurisprudenz und der kameralistischen Wissenschaften« zu verlegen (EW 657).
55 Disselkamp: Wein und Liebe, Stahl und Eisen (Anm. 12), S. 208-214. 56 Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (Anm. 22), S. 371 (Anmerkungen). Einen Überblick über den Wandel von Schlegels Vorstellungen vom Adel gibt Strobel: Eine Kulturpoetik (Anm. 26), S. 44-51.
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Ausgestattet mit einem göttlichen Mandat, repräsentiert und stabilisiert hingegen, Eichendorff zufolge, der Adel in seiner vormodernen Verfassung, zugleich in seiner idealen Gestalt überhaupt, die Schöpfung als organisches Ganzes. Mit ›künstlichen‹ Institutionen, positiven Rechtsverhältnissen und Ideen vom Staat würden sich Eichendorffs Adels- und Heldenideen schlecht vertragen. Die soziale Kohärenz, die unter der Ägide des alten Adels herrschte, beruhte auf durch Traditionen verbürgten persönlichen Treueverhältnissen, die der Verfasser mit dem Begriff des Lehenswesens umschreibt. Der Adel steht als Statthalter einer schöpfungskonformen Gesellschaftsordnung mit Transzendenzbezug da. Er stand durchaus auf der Lehenseinrichtung, wo, wie ein Planetensystem, die Zentralsonne des Kaisertums von den Fürsten und Grafen und diese wiederum von ihren Monden und Trabanten umkreist wurden. Die wechselseitige religiöse Treue zwischen Vasall und Lehnsherrn war die bewegende Seele aller damaligen Weltbegebenheiten und folglich die welthistorische Macht und Bedeutung des Adels. (EW 1493)
Selbst im späten 18. Jahrhundert gab es, dem Aufsatz zufolge, »noch Familien genug, die gleichsam mit einem traditionellen Instinkt den alten Stammbaum frommer Zucht und Ehrenhaftigkeit in den Stürmen und Staubwirbeln der neuen Überbildung, wenn auch nicht zu regenerieren, doch wacker aufrecht zu halten wußten« (EW 1504). Der Adel, wie Eichendorff ihn bestimmt, übernimmt die Rolle eines Gegenbilds moderner Erfahrungen der Vielfalt, der Beliebigkeit, der Dezentrierung, der Vereinzelung und des Transzendenzverlusts. Er sei, so fasst Eichendorff seine Überlegungen zusammen, seiner unvergänglichen Natur nach das ideale Element der Gesellschaft; er hat die Aufgabe, alles Große, Edle und Schöne, wie und wo es auch im Volke auftauchen mag, ritterlich zu wahren, das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln und somit erst wirklich lebensfähig zu machen. (EW 1513)
Im Roman ist Friedrich jedoch außerstande, die Rolle eines adlig-heroischen Retters zu übernehmen oder heroische Literatur hervorzubringen; denn jeder Versuch, in die gegebenen Verhältnisse einzugreifen, bliebe in
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sie verwickelt und hätte – wie Körners Kriegslieder – Anteil an ihnen. Unter Bedingungen des Profanen und der Konventionalität müsste er, ähnlich den Beiträgen zur literarischen Soiree, mit umgehender Entlarvung rechnen. Ahnung und Gegenwart beschreibt eine aporetische Situation: Die Krise, die auf Heilung durch einen Helden zu warten scheint, könnte durch heroisches Handeln nicht einmal erreicht werden. Ja, der Held ist ein Entwurf mit Kompensationsaufgaben, der sich der Erfahrung des Wirren, Maskenhaften und Unwahren verdankt und deshalb seinerseits dem Verdacht des Künstlichen und ›Gemachten‹ niemals ganz entgehen kann. Die Figur des Heroischen steht unter solchen Umständen im Roman dem Chaos der ›Zeit‹ nicht wie das Rechte dem Falschen gegenüber. Ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft selbst geraten vielmehr in Bedrängnis. Auf einem Beobachtungsposten hoch über dem Rheintal, bei aufziehendem Gewitter, entwirft Leontin ein Panorama der ›Zeit‹, das in dramatischen Spannungen zwischen Licht und Schatten, Höhe und Tiefe, Einzelnem und Ganzem heroische Größe zu evozieren scheint. Eichendorff setzt das Bild des Alten, das aus dem amorphen Meer der Gegenwart hervorsticht, immer wieder ein. Friedrich zum Beispiel stellt bei Gelegenheit fest, »die Schwäche« werde »dreist durch den Haufen, das Hohe ficht allein« (EW 695). Faber dichtet: »Wen’ger Gedanken, deutschen Landes Kronen, | Wie Felsen aus dem Jammer einsam ragen.« (EW 827) Der Hoffnung auf Kohärenz und Totalität verweigert sich Leontins Landschaft allerdings – eher entspricht sie dem Zustand des ›Wahnwitzes‹: Du könntest mich wahnwitzig machen unten, erschreckliches Bild meiner Zeit, wo das zertrümmerte Alte in einsamer Höhe steht, wo das Einzelne gilt und sich, schroff und scharf im Sonnenlichte abgezeichnet, hervorhebt, während das Ganze in farblosen Massen gestaltlos liegt, wie ein ungeheurer, grauer Vorhang, an dem unsere Gedanken, gleich Riesenschatten aus einer andern Welt sich abarbeiten. (EW 713)
VI. Z UM V ERSCHWINDEN
DES
H ELDEN
Während Herr v. A., vom Standpunkt des Landadels aus, desillusioniert »den lebendigen Glauben an Poesie, Liebe, Heldenmut und alles Große und Ungewöhnliche im Leben aufgegeben« hat, »weil es sich so ungefüge ge-
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bärdet und nirgends mehr in die Zeit hineinpassen will« (EW 605), tritt Friedrich als letzter Statthalter eines solchen Glaubens auf. Den Grafen hält Eichendorff, anders als die Figuren, die in der Residenz zu Hause sind, von der Verderbnis und den konventionsgebundenen Verfälschungen frei, die in der »Welt« um sich gegriffen haben. Für die Romankonzeption ist diese Entscheidung von Belang, weil Friedrich dazu bestimmt ist, wenigstens im Sinn des Möglichen einen Transzendenzbezug zu repräsentieren.57 Um an solchen Perspektiven festhalten zu können, verzichtet der Verfasser auf eine realistische Psychologie und bedient sich einer allegorischen Darstellungsweise.58 Da es Friedrich verwehrt ist, mit der ›Welt‹ zu fraternisieren, bleibt er allerdings dazu verurteilt, in ihr die Rolle eines Fremdlings zu spielen. Die Unternehmungen, mit denen man ihn beschäftigt sieht, erweisen sich umso mehr als Irrwege, je mehr sie dazu bestimmt sind, Wirklichkeitsverhältnisse zu beeinflussen. Als Dichter kann er nicht vorgreifend für die Vermittelbarkeit von ›labyrinthischen‹ Welterfahrungen und Sinnperspektiven einstehen. Nicht einmal ein Poesiekonzept, das weltlichen Verwicklungen entginge, steht zur Verfügung.59 Der Entschluss, in die Residenz zu ziehen und sich dort auf das »Studium der Staaten« zu verlegen, um »lebendig ein[zu]dringen« (EW 696), führt in die Sphäre der Wissenschaften, des Schriftlichen, der Medien und des Künstlichen und bringt Friedrich in Kontakt mit der Korruption, die die allgemeine Praxis bestimmt. Der Partisanenkampf im Gebirge bleibt erfolglos und wird mit dem Verlust von Besitztümern und Rechten geahndet (EW 750). Aus ähnlichen Gründen ist es Friedrich nicht möglich, in gelingende Liebesbeziehungen einzutreten. Darüber, dass Heirat, Hausstand und Erotik bei Eichendorff grundsätzlich – auch im Taugenichts, im Marmorbild und immer wieder in der Lyrik – nicht mit einer Distanzhaltung gegenüber der allgemeinen Verderbnis harmonieren wollen, wäre ein eigenes Kapitel zu
57 Althaus zufolge (Strategien enger Lebensführung [Anm. 31], vor allem S. 169178) erliegt hingegen auch die Figur Friedrichs ganz dem Chaos der Weltverhältnisse. 58 Zur tendenziell allegorischen Personendarstellung Meixner: Romantischer Figuralismus (Anm. 32), S. 109 f. Schwering: Epochenwandel (Anm. 53), S. 4056. 59 Ebd., S. 36.
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schreiben. Eine Allianz zwischen dem Heroischen und den praktischen Verhältnissen könnte nur um den Preis der Verfälschung zustande kommen. Allein zwischen Leontin und Julie bahnt sich eine Verbindung an, die jedoch – vergleichbar der Schlusswendung des Taugenichts – umgehend in eine Reisebewegung »in einen andern Weltteil« (EW 819) überführt wird; so bleibt die Aussicht erhalten, der »abgestandenen Tugend im Schlafrock« (EW 633) zu entgehen und einer »Zukunft« (EW 821) entgegenzusteuern. Deshalb kann sich der heroische Anspruch nur negativ äußern – als Verweigerung. Die Frage, welches Handeln einem Helden gemäß wäre, muss angesichts fehlender Orientierungsmöglichkeiten unbeantwortet bleiben. Auch den Status eines Exemplums könnte Friedrich nicht erringen. Was er an Integrität gewinnt, verliert er an eindrucksvoller Präsenz. Aus der Perspektive des Romanlesers steht der Graf zweifellos im Vordergrund. Im Roman ist er hingegen in einer fortwährenden Rückzugsbewegung begriffen. Wenn Friedrich sich für das Klosterleben entscheidet, mag zwar, dem Anspruch nach, der Transzendenzbezug erhalten bleiben, doch entzieht sich der Graf endgültig der Sichtbarkeit. Seine Chance, in das kollektive Gedächtnis einzugehen und dort verewigt zu werden, ist nicht sehr groß. In Literatur und Kunst ist das eindrucksvolle Sichtbarwerden eines der entscheidenden Heldenprivilegien. Aus der Perspektive des Misslingens beneidet noch Karl Philipp Moritz’ Romanfigur Anton Reiser Theater- und Kanzelhelden um das Vorrecht, öffentlich aufzutreten und die »edlen Gesinnungen der Großmut, Entschlossenheit, Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit« zu zeigen.60 Eichendorff entschließt sich, heroische Größe im Entwurf zu bewahren, indem er sie unsichtbar werden lässt; damit stellt er allerdings Erscheinungsbild und Funktionalität des Heroischen grundsätzlich infrage. Zu früher Stunde distanziert sich der Verfasser auch vom beginnenden Heroenkult des 19. Jahrhunderts. Ich resümiere: In Körners Gedichten und Eichendorffs Roman stehen zwei Varianten des Heroischen einander gegenüber, in denen der Widerstreit zwischen notwendiger Medialität und beanspruchter Idealität des Heroischen ausgetragen wird. Körner – in weiterer Perspektive aber auch Heroisierungsstrategien des 19. Jahrhundert überhaupt – setzt Heldenbilder
60 Karl Philipp Moritz: »Anton Reiser«, in: ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt a. M. 1997-1999, Bd. 1, S. 85-518, hier S. 249.
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in politischer Ertüchtigungsabsicht ein und trägt rhetorisch für ein eindrucksvolles Erscheinungsbild heroischer Identifikationsangebote Sorge. Dafür muss er in Kauf nehmen, dass seine Entwürfe den kritischen Zustand, in dem sich die Welt befindet, nicht einmal benennen oder beschreiben können. Aus der Perspektive von Ahnung und Gegenwart dürften solche Gedichte dem Verdikt über das Künstliche, Vermittelte, Zersplitterte verfallen, das Eichendorff den Grafen Friedrich aussprechen lässt. Der Entwurf eines Helden, der sich Konventionen, Moden, Vermittlungen und Zweckbindungen entzieht, führt in eine andere Aporie: Der Umstand, dass Friedrich mit den gegebenen Bedingungen des Handelns in kein Austauschverhältnis eintreten kann, beschert ihm ein Evidenzproblem und lässt ihn Anschaubarkeit, Nachhaltigkeit und Wirksamkeit einbüßen. Immerhin beantwortet der Roman vorläufig die Frage, auf welche Weise Weltverhältnissen ihr Recht zugestanden werden könne, ohne dass die Figur des Helden völlig aufgegeben werden müsse.
Der kollabierte Feind Zur historischen Poetik des Kriegshelden von Jünger bis Goethe C LAUDE H AAS
I. Während der Langeweile des Liegens sucht man sich mannigfaltig zu zerstreuen; so vertrieb ich mir einmal die Zeit, indem ich meine Verwundungen zusammenzählte. Von Kleinigkeiten wie von Prellschüssen und Rissen abgesehen, hatte ich im ganzen mindestens vierzehn Treffer aufgefangen, nämlich fünf Gewehrgeschosse, zwei Granatsplitter, eine Schrapnellkugel, vier Handgranatenund zwei Gewehrgeschoßsplitter, die mit Ein- und Ausschüssen gerade zwanzig Narben zurückließen. In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, dass elf von diesen Geschossen auf mich persönlich gezielt waren. Ich heftete daher das Goldene Verwundetenabzeichen, das mir in diesen Tagen verliehen wurde, mit Recht an meine Brust.1
Diesen Passus der vorletzten Seite von Ernst Jüngers In Stahlgewittern wird man in dreierlei Hinsicht bemerkenswert finden dürfen. Erstens versucht der Erzähler in diesen Sätzen, den Ersten Weltkrieg trotz seines von Stel-
1
Ernst Jünger: »In Stahlgewittern«, in: ders.: Sämtliche Werke. Abt. I. Bd. 1. Stuttgart 22001, S. 9-300, hier S. 299. Im Folgenden mit Sigle (St, Seitenzahl) im laufenden Text zitiert.
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lungskriegen und Materialschlachten dominierten Kampfgeschehens als ausgewiesen heroisches Phänomen zu begreifen. Zumindest seine eigene Person verkümmert hier nicht zum blinden Werkzeug oder auch Spielball des modernen Massenkrieges. Leutnant Jünger wird seiner Selbsteinschätzung nach nicht als mehr oder weniger kontingenter Teil einer Einheit von gegen diese Einheit gerichteten Geschossen »unter Feuer genommen«, sondern im Gegenteil »gezielt« und »persönlich« getroffen. Das verkappte Urmodell des Krieges bleibt demnach die feindliche Begegnung Mann gegen Mann. Zweitens wird dieses heroische Modell hier nicht über heroische Taten, sondern über heroische Verletzungen narrativierbar. Jünger listet nicht auf, wie er getroffen hat, sondern wie er getroffen wurde. Zum besonderen Ausweis der heroischen Leistung avanciert damit die Wunde. Dass diese als veritable Leistung begriffen wird, zeigt zum einen Jüngers Semantik (»hatte ich es immerhin erreicht«) und zeigt zum anderen ihre symbolische Beglaubigung vonseiten der militärischen Führung – das (in seinem Fall sogar Goldene) Verwundetenabzeichen. Drittens schließlich werden diese Sätze selbst den flüchtigen Leser einigermaßen ratlos zurücklassen. Denn der Text, an dessen Ende er soeben angelangt ist, erzählt über weite Strecken – und zwar durch alle Fassungen hindurch2 – eine signifi-
2
Ich kann dem Problem der je nach Zählweise sieben bis zwölf Fassungen der Stahlgewitter hier nicht gerecht werden, weise aber darauf hin, dass der eingangs zitierte Absatz in der Erstausgabe von 1920 noch fehlt. Er taucht erst in der Fassung von 1924 auf, enthält hier zwar nicht den entscheidenden Hinweis auf die elf »persönlich« gegen den Erzähler gerichteten Geschosse, zählt insgesamt aber bereits »vierzehn Treffer«. Vgl. Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. 5., völlig neubearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 1924, S. 280. Zur Erstausgabe vgl. Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Hannover 1920. – Dass mit dem Passus so oder so eine bemerkenswerte Stilisierung vorliegt, zeigt eine Konfrontation der Stahlgewitter mit den ursprünglichen Kriegstagebüchern. In diesen ist nämlich ›nur‹ von sieben Verwundungen die Rede, jeder Versuch einer Kategorisierung der Wunden nach »gezielten« und mehr zufälligen Schüssen unterbleibt. Vgl. Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918. Hg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010, S. 433. Zu einer konzisen Gegenüberstellung der unterschiedlichen Fassungen der Stahlgewitter samt Forschungsüberblick vgl. Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 212-229.
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kant andere Geschichte. Wie sorgfältig man auch zählen und nachrechnen mag: Weder wird man im vorangehenden Text verbindlich auf »vierzehn Treffer« stoßen, noch und schon gar nicht aber ist es möglich, in diesem »elf« auf den Erzähler »persönlich« abgefeuerte Schüsse zu lokalisieren. Auch wenn »gezielte« Schüsse nicht völlig ausbleiben, werden die Stahlgewitter dem modernen Kriegsgeschehen darstellungstechnisch weit eher gerecht, als es die zitierte Passage nahelegt.3 »Leichte und schwere Kugelminen, Flaschenminen, Schrapnells, ›Ratscher‹, Granaten aller Art – ich konnte gar nicht mehr unterscheiden, was da alles durcheinander schnurrte, brummte und krachte.« (St 87) Solche Beobachtungen, die zur Glorifizierung »persönlicher« Treffer in eklatantem Widerspruch stehen, beherrschen jedenfalls weit eher die Szenerie als direkte Begegnungen mit einem personalisierbaren Kriegsgegner. Allen Heroisierungsbemühungen zum Trotz erscheint der Krieg im Text damit weitestgehend als »irre Knallerei« (St 179), als »ein Durcheinander, in dem es Begriffe wie links und rechts gar nicht mehr gibt« (St 200). Kugeln werden dementsprechend gar nicht von Menschen auf Menschen gerichtet, vielmehr »merkte man, daß Tausende rückwärtiger Maschinengewehre ihre bleiernen Schwärme ins Blaue fegten« (St 239). Die Technik verselbständigt sich und kennt den Menschen folgerichtig noch nicht einmal mehr als individualisierbare Zielscheibe.
3
Diese Konstellation wird man weit über Jünger und weit über heroismusspezifische Fragen hinaus als eine für die Literatur des Ersten Weltkriegs typische betrachten dürfen, auch hat sie bereits eine hochkarätige Forschungsliteratur generiert. Matthias Schöning etwa konnte eindrucksvoll zeigen, dass die diskursiven Gemeinschaftsapotheosen der Kriegsliteratur von deren Darstellungstechnik immer wieder unterspült werden. (Vgl. Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933. Göttingen 2009). Die plausibelste Ursache für das Problem hat Eva Horn benannt. Zum einen konfrontiere der Erste Weltkrieg seine Teilnehmer systematisch mit regelrechten »Erlebnis«-Diktaten, zum anderen aber sei er »kein Erlebniskrieg, sondern der totale Ausfall des Erlebnisses«. (Eva Horn: »Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie und Kriegsroman«, in: Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien 2000, S. 131-162, hier S. 139.)
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Und doch stellt In Stahlgewittern anderes und mehr als den performativ misslingenden Versuch aus, eine heroische Konstitution in den modernen Massenkrieg hinüberzuretten. Vielmehr klärt der Text zum Zeitpunkt ihrer großen Krise vielleicht erstmals systematisch über die inneren Brüche dieser Konstitution auf. Der eigentliche Widerspruch des Textes bestünde demnach nicht zwischen dem Festhalten an heroischen Idealen und deren prinzipieller Undarstellbarkeit im ersten ›technischen‹ Massenkrieg,4 er müsste vielmehr im Phänomen des Kriegsheroismus selbst verankert werden. Das Problem der Technik wäre damit lediglich ein privilegierter Ausdruck, nicht aber die Ursache für die Risse im Heroismus-Bild des Textes.5 Genau diese These will ich im Folgenden vertreten: In In Stahlgewittern kollidieren zwei Heroismus-Konzeptionen, welche die literarische wie publizistische Darstellung des europäischen Kriegsgeschehens seit der Französischen Revolution über weite Strecken dominiert haben. Auch wenn sie nicht im Sinne einer historischen Abfolge zu begreifen sind, sondern sich im Gegenteil oft just in Form einer Kollision manifestieren, dürfen sie über heuristische Belange hinaus sowohl zeitlich als auch sachlich zwei unterschiedlichen Registern zugewiesen werden. Es handelt sich zum einen um
4
Zu der nach wie vor besten Lektüre, die den Jünger’schen Heroismus primär zum konkreten Kampfgeschehen in Opposition setzt, vgl. Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, S. 219-235. – Die neuere Forschung zum Heroismus-Problem der Stahlgewitter liest Widersprüche und Brüche innerhalb des Phänomens oft immanent psychologisch (vgl. Dirk Blotzheim: Ernst Jüngers »Heldenehrung«. Zu Facetten in seinem Frühwerk. Oberhausen 2000, S. 42-75.) – Zur Verknüpfung von psychologischen mit wahrnehmungsästhetischen und poetologischen Interessen vgl. Michael Gratzke: Blut und Feuer. Heldentum bei Lessing, Kleist, Fontane, Jünger und Heiner Müller. Würzburg 2011, S. 116-132.
5
Im Übrigen spielt die Dominanz der Technik erst in Jüngers späteren Texten zum Ersten Weltkrieg eine bedeutendere Rolle. Ich gehe in dieser Frage konform mit Thomas Weitin: Notwendige Gewalt. Die Moderne Ernst Jüngers und Heiner Müllers. Freiburg i. Br. 2003, S. 28. – Zur Dialektik von Depotenzierung und Repotenzierung des Heroischen qua Kriegstechnik unter medienspezifischen Aspekten vgl. auch Manuel Köppen: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg 2005, insbesondere S. 226-252.
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ein primär literarisches Modell, das den Heros wesentlich über eine äußere wie innere Distinktion zu fassen versucht, die sich im Idealfall in einer Konstellation verdichtet, in der zwei sich ebenbürtig als Feinde begreifende Krieger aufeinandertreffen.6 Es handelt sich zum anderen um ein primär politisches Modell, das den Feind aus ideologischen Gründen als gleichberechtigten Gegner eliminiert und den Heros damit allein noch über seine Verwundungen und seinen Tod zu konstituieren vermag.7
II. Will man die Genese des zweiten Modells – wie bereits gesagt – in den Revolutionskriegen des späten 18. Jahrhunderts verorten, so hat dies gute Gründe.8 Schließlich beginnt zu dieser Zeit ausgehend von Frankreich eine
6
Es versteht sich von selbst, dass wir es hierbei mit einer formalisierten Abstraktion zu tun haben, die nicht über eine präzise Quelle eingefangen werden kann. Plausibel bleibt allerdings die Annahme, dass insbesondere ein verkürztes Homer-Verständnis der Konstellation zugrunde liegt. Auf die Inkongruenz zwischen Homer’schen und Jünger’schen Helden hat die Forschung bereits wiederholt hingewiesen, dabei aber zu wenig Sensibilität für das potenzielle Eigenleben der heroischen Epik erkennen lassen. Dies gilt auch für die differenzierte Arbeit von Anette Rink: Plutarch des Naturreichs. Ernst Jünger und die Antike. Würzburg 2001, S. 50-80.
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Zu dem Versuch, diese Figuration bis in den bundesrepublikanischen Umgang mit getöteten Soldaten hinein zu verfolgen, vgl. Claude Haas: »Krieg ist plötzlich ein tröstendes Wort«, in: Die Zeit vom 22. April 2010, S. 47.
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Dies m. E. auch dann, wenn man bedenkt, dass das »Profil« des Feindes auf »Identitätssetzungen« beruht, die sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lassen. Vgl. Kristin Platt: »Unter dem Zeichen des Skorpions. Feindmuster, Kriegsmuster und das Profil des Fremden«, in: dies., Medardus Brehl (Hg.): Feindschaft. München 2003, S. 13-52, hier S. 44. – Freilich gilt es mit und neben der im Folgenden entfalteten Konstellation grundsätzlich in Rechnung zu stellen, dass der Heros seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Literatur, Politik und Ästhetik massive Umcodierungen erfährt. Vgl. hierzu den gattungsübergreifenden Überblick bei Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 47-150. Vgl. zur zeitgleich sich voll-
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völlig neue Sicht des Krieges sich Bahn zu verschaffen. Die absolutistischen Territorialkriege, die wesentlich von Söldnern bestritten wurden und den Krieg als eine Art Handwerk erscheinen ließen, werden abgelöst von moralischen und missionarischen Kriegskonzeptionen im Dienst von Kategorien wie ›Menschheit‹ und ›Nation‹.9 Der preußische General Gerhard von Scharnhorst, der an den Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich teilgenommen hatte, erkennt als einer der Ersten die ideologischen Umbrüche im modernen Kriegswesen. Bereits 1797 schreibt er: [Die französische Nation] hielt sich allein aufgeklärt, klug, frey und glücklich, und alle anderen Nationen ungebildet, viehisch und unglücklich. Das Glück der ganzen Menschheit, glaubte sie, wäre verlohren, wenn sie sich nicht gegen die verbundenen Armeen erhielte. Sie glaubte nicht allein für ihr ferneres Daseyn und Glück, sondern auch für das, der ganzen Menschheit zu streiten. Solche wirksamen Motiven zur Aufopferung aller Art, hatten noch nie bey einer Nation statt gefunden und konnten auch bei keiner anderen, minder lebhaften und stolzen, statt finden.10
ziehenden Genese eines weiblichen Heroismus vor dem Hintergrund geschichtsphilosophischer Totalitätsversprechen und aufklärerischer Gewaltkritik Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010, hierzu insbesondere S. 43-147. 9
Dass diese auch und gerade den modernen Gefallenenkult generieren wie determinieren, hat überzeugend gezeigt: George L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben. Stuttgart 1993. – Spezifisch zu dem keineswegs unilinear sich vollziehenden Wandel des Bildes von Armee, Soldat und Krieg seit der Französischen Revolution aus historischer Perspektive vgl. Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789–1799. München 2003. Zu den Revolutionskriegen aus kriegstheoriegeschichtlicher Sicht vgl. grundlegend Herfried Münkler: Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion. Weilerswist 52008, S. 116-148.
10 Gerhard von Scharnhorst: »Entwickelung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutionskriege, und insbesondere in den Feldzügen von 1794«, in: ders.: Ausgewählte Schriften. Mit einer Einleitung hg. von Ursula von Gersdorff. Osnabrück 1983 [1797], S. 47-110, hier S. 57.
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Sosehr Scharnhorst in dem letzten Punkt irren mochte, in allen anderen gab ihm die Geschichte recht. ›Menschheit‹ und ›Nation‹ werden bald zu gesamteuropäischen Vorstellungen, und sie modifizieren grundlegend das Verständnis sowohl des Feindes als auch des Helden, ja sie modifizieren über das Verständnis des Feindes jenes des Helden. Die historische Verschiebung dieser Konstellation lässt sich nicht nur an Revolutionsgegnern wie Scharnhorst, sondern auch an Frankreich-Sympathisanten wie Friedrich Christian Laukhard ablesen, der 1796 eines der kulturgeschichtlich wichtigsten Dokumente über die Koalitionskriege vorlegt.11 So druckt Laukhard – wohlwollend – in seinem Bericht einen jener »Zettel« ab, den die »französischen Patrouillen« in Umlauf bringen, um Soldaten der gegnerischen Seite »zur Desertion aufzumuntern«.12 In diesem Flugblatt findet sich ein interessanter Hinweis auf das revolutionäre Verständnis von Feindschaft: Der Kaiser und der König von Preußen haben die Waffen wider uns ergriffen und wollen uns schlagen, um den Adel wiederherzustellen und den König wieder in den Stand zu setzen, alles zu tun, was er will. Sie sind besorgt, daß ihre Völker es ebenso wie die Franzosen machen und gleich ihnen Freiheit und Gleichheit verlangen möchten. Sie sollen uns indessen nicht hindern, andre Nationen an unserm Glücke teilnehmen zu lassen. Wir sind niemandem feind.13
Eine solche Negation von Feindschaft kann sich genau besehen freilich nur als eine Transformation erweisen.14 Denn der von der ›Menschheit‹ (noch)
11 Christian Friedrich Laukhard: »Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzuges gegen Frankreich«, in: ders.: Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben. Leipzig 1989, S. 133-426. 12 Ebd., S. 190. 13 Ebd., S. 191 f. Hervorhebung von C. H. 14 So kann auch keine Rede davon sein, dass sich eine Negation der Feindschaft etwa über ein Verschwinden des Begriffs manifestierte. Zu Genese und Entwicklung der modernen deutsch-französischen Feindschaftskonzeptionen aus historischer Sicht, die umfassend allerdings erst mit den Befreiungskriegen einsetzt, vgl. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart 1992.
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nicht überzeugte Gegner wird nun leicht zu einem moralisch rückständigen und damit auch verachtenswerten Phänomen. Der negierte Feind erweist sich schnell als minderwertiger Feind. Heroisierbare Affekte wie Zorn geraten in der Kriegswahrnehmung damit in den Hintergrund, sie werden substituiert durch moralisches Empfinden, wie Scharnhorst (anders als Laukhard) präzise erkennt: In allen Kriegen haben von jeher die gegenseitigen Nationen und Armeen einander verachtet. [...] Aber vielleicht war noch nie die gegenseitige Verachtung der Truppen so groß, als im Anfange des französischen Revolutions-Krieges. Die verbundenen Armeen hielten die französischen für Horden von zusammen gelaufenen Menschen, ohne Disciplin, ohne Uebung und ohne Organisation. [...] Von der anderen Seite hielten die französischen Armeen die Soldaten und Offiziere der Verbundenen, für Sclaven, für Menschen ohne alle edle Empfindungen, für die verächtlichsten Creaturen unter der Sonne.15
Die historische Affinität zwischen negiertem und verachtetem Feind hat massive Konsequenzen für ein modernes Verständnis von Kriegsheroismus. Eine weitere Konfrontation Laukhards mit Scharnhorst mag dies verdeutlichen. Scharnhorst versteht zwar, dass ein Kampf für ›Menschheit‹ und ›Nation‹ die Opferbereitschaft des Soldaten erhöht. Als preußischem General liegt ihm eine Heroisierung solcher »Motive zur Aufopferung aller Art« allerdings gänzlich fern. Den Schlüssel bildet hier durchaus die Formulierung »aller Art«. Scharnhorst erweist sich damit unter der Hand als Anhänger eines heroischen Imaginären, dem eine Konstitution des Helden allein über den Opfertod noch als fremd erscheint. Zwar ist die unbedingte Todesbereitschaft unter kulturhistorischem Gesichtspunkt immer schon ein wichtiges Merkmal des Heroischen. So müssen mythische Helden wie Siegfried oder Achill trotz ihrer Leibespanzer offenbar verwundbar und tötbar sein, damit sie das Kriterium der heroischen Todesbereitschaft überhaupt zu erfüllen vermögen. Gleichwohl fügt der Tod dieser Figuren ihrem Heldentum nichts Wesentliches hinzu. Ihre Tötbarkeit bildet vielmehr nur die formale Voraussetzung für die volle Entfaltung ihrer heroischen Be-
15 Scharnhorst: Entwickelung der allgemeinen Ursachen (Anm. 10), S. 79 f. Hervorhebung von C. H.
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währung.16 Im modernen Kriegswesen hingegen wird der faktische Tod, weniger die Todesbereitschaft, oft zum alleinigen Ausweis des Heroischen. Dies führt auch und nicht zuletzt dazu, dass sich der Held nicht mehr über eine spezifische und von einem heroisierbaren Gegenüber verbürgte Todesart konstituiert. Indem der heroische Feind verschwindet, müssen im Gegenzug »Aufopferungen aller Art« heroisierbar werden. Den bedeutendsten Ableger dieser Tradition, die sich bis in Jüngers Apologie der eigenen Wunden und Narben hinein beobachten lässt, stellt die heroische Glorifizierung des verwundeten Soldaten dar. Diese hat Laukhard (im Gegensatz zu Scharnhorst) sowohl gesehen als auch anerkannt: Was der Patriotismus nicht ganz aufregt oder vollendet, das ersetzt die Ehrbegierde, welche durch die jedesmalige öffentliche Bekanntmachung einer jeden patriotischen Handlung, zumal im Felde, angefeuert und unterhalten wird. Die Belohnung der Verstümmelten und Invaliden machet der französischen Nation wahre Ehre und den beweibten und bekinderten Soldaten einen Mut, wie ihn kein goldenes oder silbernes Verdienstzeichen bewirkt.17
Die patriotische Handlung ist demnach die eo ipso als heroisch ausgewiesene Verstümmelung oder Verwundung und nicht etwa ein präzise definierbares militärisches Verdienst, dessen potenzielle Auszeichnung Laukhard einer »Belohnung der Verstümmelten« sogar hierarchisch unterordnet. Es liegt folglich nahe, zwischen der auf einer Negation oder Verachtung des Feindes basierenden Verpflichtung auf Phänomene wie ›Menschheit‹ oder ›Nation‹ und Heroisierungsformen, die auf »Aufopferungen aller Art« setzen, einen notwendigen Zusammenhang zu sehen. Dabei scheint dessen Logik zunächst einer klassischen Verlegenheitslösung zu gehorchen: Of-
16 Die prinzipielle Sterblichkeit des Helden bildet den Bezugsrahmen einer Reihe weiterer heroischer Attribute, deren wichtigstes vielleicht die Unsterblichkeit des Namens darstellt. Zu dieser Konfiguration bei Homer und Jünger vgl. Wolfgang Günther: Spiel, Kampf und Arbeit als Formen der Selbstbildung im Frühwerk Ernst Jüngers. Gießen 1966, S. 61-91. 17 Laukhard: Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen (Anm. 11), S. 299. Zur Literaturgeschichte des Invaliden vgl. auch Achim Hölter: Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskrüppel in der europäischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1995.
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fenbar kann die Überwältigung oder auch der Tod des negierten Feindes schlicht kein Distinktionsausweis eigenen kämpferischen Könnens und eigener emotionaler wie moralischer Größe sein, so dass die heroische Bewährung vom Feind weitgehend abgezogen und in die eigene Verwundung oder den eigenen Tod hinein verlagert wird. Die Abwertung des anderen führt zwangsläufig zu einer Aufwertung des eigenen Todes bis hin zu dem Punkt, an dem der Tod das alleinige Konstituens der Heldwerdung darzustellen beginnt. Und da der Tod als solcher ein universelles Phänomen ist, verliert der Heros damit auch und nicht zuletzt jeden elitären Status.18 Dabei ist es zunächst einmal unwesentlich, ob die Verachtung des Feindes ihren Fluchtpunkt in einem auf die ›Menschheit‹ ausgerichteten Universalismus oder umgekehrt (wenn von einem solchen freilich oft auch fatal abhängend) in der Behauptung einer Minderwertigkeit oder gar in der Tendenz zu einer Entmenschlichung des Gegners findet. Moralische, später auch nationalistische oder rassistische Diffamierungen von Kriegsgegnern19 leiten ein Heroismus-Verständnis ein, das mehr und mehr vom konkreten Kampfgeschehen und von kriegerischen Fertigkeiten abstrahiert und das den Heros damit einhergehend allein noch über den eigenen Opfertod definiert.20
18 Zur Inflationierung oder auch »Demokratisierung des Heroischen« seit dem frühen 19. Jahrhundert vgl. Ute Frevert: »Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Richard van Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 323-344, hier S. 342. – Dabei fällt auf, dass die gängige demokratische Heroismus-Abwehr an diesem Phänomen bis heute vorbeizielt. Sie fundiert ihren »Egalitarismus« über Argumente gegen die »Exzellenz des Helden«. Vgl. Norbert Bolz: »Der antiheroische Affekt«, in: Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel (Hg.): Heldengedenken. Über das heroische Phantasma. Stuttgart 2009 (Sonderheft Merkur), S. 762-771, hier S. 763. 19 Man kann wohl davon ausgehen, dass erst ihre Biologisierung die alte Pro Patria mori-Formel vollends vom »Schlachtruf« in eine »Hemmung« des »Selbsterhaltungstriebs« überführt hat. Vgl. Cornelia Vismann: »Formeln des Rechts – Befehle des Krieges. Notiz zu Kantorowicz’ Aufsatz Pro patria mori«, in: dies., Wolfgang Ernst (Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. München 1998, S. 129-143, hier S. 141. 20 Dies heißt selbstredend nicht, dass unterschiedliche politische Strömungen in
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III. Nun ist es interessant zu sehen, dass sich literarische Kriegsdarstellungen gegen ein solches Narratem nicht nur diskursiv, sondern grundlegend auch performativ zur Wehr setzen können. Dies zeigt in herausragender Weise das Beispiel von Goethes Campagne in Frankreich – ein Text, der zwar den Revolutionskrieg von Sommer und Herbst 1792 zum Gegenstand hat, der aber erst nach dreißigjährigem Abstand im Rahmen des Goethe’schen Autobiographieprojekts seine literarische Form findet. Goethes ablehnende Haltung der Französischen Revolution gegenüber ist hinlänglich bekannt.21 Weniger bekannt sind die heroischen Korrelate, die seine politischen Überzeugungen in der Darstellung des modernen Kriegswesens hinterlassen haben.22 Dabei gilt es zunächst in Rechnung zu stellen, dass Goethes kritische Sicht der Revolution moralisch nicht auf den Kriegsgegner abfärbt. Wenn sein Text von Verachtung nicht frei ist, so ist doch unübersehbar, dass diese weit eher die dem Erzähler politisch ja durchaus näherstehenden französi-
der Konstruktion etwa historisch prominenter ›Heroen‹ keine Differenzen mehr erkennen lassen könnten. Vgl. hierzu René Schilling: »Kriegshelden«. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945. Paderborn, München, Wien 2002, insbesondere S. 210-235. 21 Vgl. den schematisierenden Überblick bei Carsten Rohde: Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben. Göttingen 2006, S. 401-416. Zu einer Situierung der Goethe’schen Sicht der Revolution innerhalb der zeitgenössischen Positionen (so beispielsweise auch Laukhards) vgl. Thomas P. Saine: Black Bread – White Bread. German Intellectuals and the French Revolution. Columbia (S. C.) 1988, insbesondere S. 66-78, sowie S. 196-207. 22 Diese haben auch in darstellungstheoretisch interessierten Studien, die Goethes Autobiographie mit anderen Gattungen konfrontieren, kaum Beachtung gefunden. Zu romanhaften Strukturen des Textes vgl. Thomas P. Saine: »Goethe’s Novel Campagne in Frankreich«, in: William J. Lillyman (Hg.): Goethe’s Narrative Fiction. The Irvine Goethe Symposium. Berlin, New York 1983, S. 193223. Für das Zusammenspiel von autobiographischen, epischen und tragischtheatralischen Erzählmustern vgl. Richard Fisher: »›Dichter‹ and ›Geschichte‹. Goethe’s Campagne in Frankreich«, in: Goethe Yearbook 4 (1987), S. 235-274.
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schen Emigranten23 oder die eigenen plündernden Truppen (Ca 392) als die feindliche Armee trifft. Dies heißt aber nicht, dass die Ablehnung der Revolution in Goethes Text grundsätzlich »nicht zu einer parteiischen Sicht«24 führte. Solche Urteile zeigen vielmehr nur, dass eine politische Vereinnahmung von Kriegsgegnern uns so selbstverständlich geworden ist, dass wir deren Historizität auch dann überlesen, wenn eine solche Vereinnahmung vermeintlich fehlt. Überspitzt formuliert: Goethes prinzipielle Achtung des Kriegsgegners ist »parteiisch« durch und durch. Und sie ist »parteiisch« in erster Linie in dem Maße, wie sie ihm eine große heroische Erzählung erlaubt, der keine andere Funktion zukommt, als die Gleichheits- und Menschheitsdiskurse der Revolution auszuhöhlen. So beginnt das Kriegsgeschehen im engeren Sinne in der Campagne mit der Erwähnung von zwei »Unglücksfälle[n]« (Ca 409) auf preußisch-österreichischer Seite. Ein Offizier fällt bei dem Versuch, sein Pferd in der Maas zu tränken, ins Wasser und ertrinkt. Die Österreicher schließlich haben beim Füllen ihrer Bomben die nötige Vorsicht vermissen lassen, und so droht kurz, das gesamte Munitionslager in die Luft zu fliegen. Beide Vorgänge erweisen sich für den Erzähler als nicht heroisierbar, und um narrativ in den Krieg überhaupt einsteigen zu können, konterkariert er sie mit zwei dezidiert heroischen Selbstmorden auf französischer Seite. Der Kommandant von Verdun erschießt sich noch im Lauf der Sitzung, im Rahmen derer er den preußisch-österreichischen Truppen seine Stadt übergeben muss. Vor allem aber stürzt sich ein französischer Grenadier, der noch nach der Eroberung Verduns auf die Preußen geschossen hatte, während des Wartens auf seinen Prozess in genau jenen Fluss, in welchem der erwähnte preußische Offizier kurz zuvor ertrunken war. Die Maas wird damit von einem reinen Unglücksort zu einem heroischen Kriegsort. Der Erzähler zögert also nicht, gerade dem Kriegsgegner heroische Attribute zuzuweisen, im Gegenteil registriert er diese »zweite heroische, ahndungsvolle Tat« (Ca 412) fast schon mit einer gewissen Erleichterung. Die heroi-
23 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: »Campagne in Frankreich«, in: ders.: Sämtliche Werke. Abt. I. Bd. 16. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1994, S. 386-572, hierzu S. 391 u. ö. Im Folgenden mit Sigle (Ca, Seitenzahl) im laufenden Text zitiert. 24 Klaus-Detlef Müller: »Goethes Campagne in Frankreich – Innenansicht eines Krieges«, in: Goethe-Jahrbuch 107 (1990), S. 115-126, hier S. 117.
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schen Zuschreibungen hängen in beiden Fällen demnach von heroisch codierten Todesarten, nicht aber vom faktischen Tod, geschweige denn von beliebig zugefügten Verwundungen ab. In diesem Kontext bleiben sie stringenterweise auf eine eminente Hochschätzung und sogar Bewunderung des Gegners angewiesen. Über den Grenadier heißt es denn auch, »es war ein sehr schöner, wohlgebildeter junger Mann, festen Blicks und ruhigen Betragens« (ebd.). Damit setzt sich der Erzähler zum einen von dem »leidenschaftlichen Haß« (ebd.) ab, den der Grenadier auf der Seite seiner eigenen Armee entfacht. Zum anderen und damit einhergehend erlaubt diese Heroisierung des Gegners dem Erzähler überhaupt erst die Heroisierung des gesamten Feldzuges, die sich mitunter sogar in einer heroischen Genremalerei niederschlägt. Über die preußischen »Reitermassen« etwa heißt es später: »[Sie] machten zu der angenehmen Landschaft eine reiche Staffage, man hätte einen van der Meulen gewünscht, um solchen Zug zu verewigen; alles war heiter, munter, voller Zuversicht und heldenhaft.« (Ca 423) Die über eine Heroisierung des Gegners verbürgte Heroisierung der eigenen Armee und damit des Kampfgeschehens überhaupt verdichtet sich in der Campagne keineswegs zufällig im Versuch einer Autoheroisierung des Erzählers. Vielmehr scheint sie sogar deren Vorbereitung zu dienen. Goethes Selbstheroisierung steht im Zentrum der bedeutendsten Kriegsepisode des gesamten Textes, der Kanonade von Valmy. Seinen Ritt ins Feuer garniert der Erzähler im Rückblick schon auf psychologischer Ebene mit ausgewiesen heroischen Eigenschaften: »Lange Weile und ein Geist den jede Gefahr zur Kühnheit, ja zur Verwegenheit aufruft, verleitete mich ganz gelassen nach dem Vorwerk La Lune hinaufzureiten.« (Ca 434) Gleichwohl vermag die Kriegsepisode im engeren Sinne heroische Ideale nur noch ex negativo zu veranschaulichen: Ich war nun vollkommen in die Region gelangt wo die Kugeln herüber spielten; der Ton ist wundersam genug, als wär’ er zusammengesetzt aus dem Brummen des Kreisels, dem Butteln des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels. Sie waren weniger gefährlich wegen des feuchten Erdbodens; wo eine hinschlug blieb sie stecken, und so ward mein törichter Versuchsritt wenigstens vor der Gefahr des Ricochetierens gesichert. (Ca 435)
Dieser Passus lässt bereits bemerkenswerte Parallelen zum Problem der Heroismusdarstellung bei Jünger aufscheinen. Der Erzähler muss nämlich
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einsehen, dass seine heroische Konstitution vom konkreten Kriegsgeschehen nicht gedeckt wird. Ein heroischer Feind, der die Kugeln abfeuert, gerät nicht in den Blick. Gleichwohl – und dies ist entscheidend – wird ein heroisches Begehren über diese Einsicht gerade nicht verabschiedet. Ablesbar ist dies an dem nur scheinbar beiläufig gesetzten »wenigstens vor der Gefahr des Ricochetierens gesichert«. ›Ricochetieren‹ meint bekanntlich nichts anderes als umgeleitete und damit (um es mit Jünger zu sagen) nicht auf einen »persönlich« abgefeuerte Kugeln. Wenn der Erzähler sich im Rückblick »wenigstens« von dieser Gefahr ausnimmt, so legt auch er »gezielte« und »persönliche« Schüsse als immanente Bedingung des Heroischen fest. Eine umgeleitete Kugel hätte dementsprechend ein denkbar unheroisches Ende verursacht. Zwischen den Zeilen hält die Campagne in Frankreich damit ein Heroismusbild aufrecht, das auf konkreten Verwundungs- und Todesarten basiert. Auf der Ebene der Darstellung spricht sich der Text also gegen die Glorifizierung und Heroisierung jedes gefallenen oder verwundeten Kriegsteilnehmers aus, die in und mit den Revolutionskriegen anheben. Goethes viel zitiertes Bonmot nach der Kanonade von Valmy (»von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«) (Ca 436) darf folglich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er seinem Text eine heroische Darstellungstechnik unterlegt, welche die Aufgabe erfüllt, diese »neue Epoche« gerade aufzuhalten.
IV. Goethes Beispiel wird sich in dieser Form als nicht wiederholbar erweisen. Bereits die deutsche Literatur der Befreiungskriege konstituiert den Kriegshelden maßgeblich über seinen faktischen und letztlich beliebigen Tod im Feld. Max von Schenkendorf etwa dichtet 1813: »Das ist rechtes Glühen | Frisch und rosenroth: | Heldenwangen blühen | Schöner auf im Tod.«25 Die Grundidee einer im Krieg erst zu konstituierenden deutschen Nation lehnt sich hier natürlich unübersehbar an religiöse Erlösungs- und Wiederaufer-
25 Max von Schenkendorf: »Freiheit«, in: ders.: Gedichte. Leipzig 1869, S. 118119, hier S. 119 (V. 49-52).
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stehungsfiguren an, die jeden Toten zum Heros zu stilisieren vermögen.26 Der moralisch nicht diskreditierte Kriegsgegner, der über seinen Heroismus den eigenen Heroismus überhaupt erst fundiert, kann für solche Diskurse nicht mehr traditionsbildend wirken. Gleichwohl wirtschaftet diese Musterkonstellation des heroischen Imaginären in der Kriegsliteratur doch auch nicht vollständig ab. Die Tragweite der zu Beginn erwähnten Kollision zwischen ›alten‹ literarischen und ›modernen‹ politischen Heroismuskonzeptionen will ich im Folgenden über einen weiteren Blick auf In Stahlgewittern spezifizieren. Für das Verständnis dieser Kollision ist es zunächst wichtig zu sehen, dass Jünger zeit seines Lebens und trotz seiner nationalistischen Phase Mitte der 1920er Jahre27 penibel an einer prinzipiellen Hochschätzung und Achtung des Feindes festhält, auch wenn eine solche mitunter zur bloßen Romantisierung zu verpuppen droht: Ich war im Kriege immer bestrebt, den Gegner ohne Haß zu betrachten und ihn als Mann seinem Mute entsprechend zu schätzen. Ich bemühte mich, ihn im Kampf aufzusuchen, um ihn zu töten, und erwartete auch von ihm nichts anderes. Niemals aber habe ich niedrig von ihm gedacht. (St 64)
26 Zu den allmählich auftauchenden biopolitischen Einschreibungen in solche Figuren vgl. neben Vismann: Formeln des Rechts (Anm. 19) auch Ulrike Brunotte: »Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger. Männlichkeit und Soteriologie im Krieg«, in: Cornelia Klinger (Hg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft. Berlin, Wien 2009, S. 55-74. Vgl. ferner, spezifisch auf eine Neusemantisierung der ›Ehre‹ bezogen, die das Problem der heroischen Ehre allerdings weitgehend ausblendet, Andreas Dörner: »Die symbolische Politik der Ehre. Zur Konstruktion der nationalen Ehre in den Diskursen der Befreiungskriege«, in: Ludgera Vogt, Arnold Zingerle (Hg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Frankfurt a. M. 1994, S. 78-95. 27 Diese ist bei Kiesel: Ernst Jünger (Anm. 2), S. 266-399, hervorragend dokumentiert, und sie lässt sich auch und gerade an der 1924er Fassung der Stahlgewitter (Anm. 2) ablesen, die das Kriegsgeschehen wiederholt mit Emphatisierungen der Nation flankiert. Gleichwohl wirken solche Passagen eher aufgesetzt, keineswegs lösen sie den hier beobachteten Widerspruch im Sinne insbesondere einer Geringschätzung des Kriegsgegners (logisch gesprochen) auf.
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Unübersehbar ist der Versuch, zwischen Freund und Feind Symmetrie28 walten zu lassen, und als Garant dieser Symmetrie firmieren durchgehend heroische Muster: Dem Sergeanten wurden durch Handgranatensplitter beide Beine fast abgerissen; trotzdem behielt er mit stoischer Ruhe seine kurze Pfeife bis zum Tode zwischen den zusammengebissenen Zähnen. Auch hier hatten wir wieder wie überall, wo wir Engländern begegneten, den erfreulichen Eindruck kühner Männlichkeit. (St 134)
Konterkariert werden solche Passagen allerdings durchgehend mit Emphatisierungen der eigenen Verwundung wie der eingangs zitierten.29 Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Wunde ein deutliches Korrelat und sogar eine Antizipation des eigenen Todes darstellt. Sich »›antöten‹ [...] lassen« wird in den Stahlgewittern gar als »Fachausdruck« (St 142) für die eigene Verwundung ausgewiesen. Die Glorifizierung der Wunde gehört folglich zunächst einem ganz anderen Diskursfeld an als die Romantisie-
28 Hierzu hält Lars Koch treffend fest: »Für diese Form der textinternen Selbstheroisierung, deren Handlungsverlauf das dramaturgische, in den zwanziger Jahren weithin gängige Modell eines sportlich fairen Zweikampfs unter den Bedingungen der Technik zugrunde liegt, erscheint es unabdingbar, den Feind aus der anonymen, gesichts- und eigenschaftslosen Front des antagonistischen Massenheeres herauszulösen, ihn quasi zu einem personalen Gegner zu vereinzeln, ohne dabei allerdings in die Sphäre der die Agonalität des Augenblicks reduzierenden Privatheit abzugleiten.« (Lars Koch: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger. Würzburg 2006, S. 224 f.) 29 Abgesehen davon, dass der Feind im Text nur selten sichtbar in Erscheinung tritt. Vgl. Günther A. Höfler: »Das neue Paradigma des Krieges und seine literarische Repräsentation. Dargestellt an Detlev von Liliencron, Ernst Jünger und Thor Goote«, in: Franz K. Stanzel, Martin Löschnigg (Hg.): Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914–1918. Heidelberg 1993, S. 277-291, hierzu insbesondere S. 284.
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rung des Feindes. Ihre Dignität bezieht sie über den heroischen Opfertod, der auf einen ebenbürtigen Feind nicht (mehr) angewiesen ist.30 Zugleich aber ist der Erzähler krampfhaft darum bemüht, sein Heroentum an konkrete Verwundungen zu binden, die ihrerseits von direkten Begegnungen mit heroisierten Feinden abhängen. Die Apotheose der Wunde und die Hochschätzung des Feindes stehen damit durchgehend in einem Spannungsverhältnis. Dem Kampf übergeordnete politische Ideale vermögen der offiziellen Poetik des Textes zufolge als solche keinen Heros zu konstituieren. Damit ist auch nicht jeder Tod ein heroischer Tod und nicht jede Wunde eine heroische Wunde. Gegen diese Suggestion einer modernen Kriegssicht und speziell auch der Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs, die maßgeblich von moralischen und geistigen Diffamierungen des Gegners zehren und heroische Distinktionsformen somit nicht mehr über den Feind zu beziehen vermögen,31 versucht sich In Stahlgewittern fortwährend zu wappnen. Deutlich wird dabei auch und nicht zuletzt, dass der Text in diesem Zug auf ältere genuin literarische Muster angewiesen bleibt. So behilft sich der Erzähler während der Schlacht von Langemarck zum Zweck der heroischen Selbstvergewisserung mit Ariost: »Mehrere Male murmelte ich ein Wort Ariosts: ›Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen, wann er auch kommt, wenn er nur rühmlich ist.‹« (St 181) Der Ruhm hängt hier also deutlich von einer spezifischen Todesart, nicht allein oder auch nur primär aber vom faktischen Tod ab.32
30 Darüber hinaus stehen derartige Romantisierungsstrategien der Feindschaft bei Jünger auch im Widerspruch zur Sexualisierung des Opfertodes im Rahmen parasakraler Zeugungsphantasmen. Vgl. Claudia Öhlschläger: »›Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch eine männliche Form der Zeugung‹. Ernst Jünger und das ›radikale Geschlecht‹ des Krieges«, in: Christian Begemann, David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i. Br. 2002, S. 325-352. 31 Als einschlägiges Beispiel mag die vielfach beachtete Schrift Sombarts gelten, die den Heroismus als deutsches Phänomen ausweist, das sie von einer englischen Händlernation bedroht sieht. Vgl. Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig 1915. 32 Zumindest immanent setzt sich der Erzähler damit vom späteren deutschen Langemarck-Mythos ab, der eine ruinös verlaufene Schlacht über einen reinen Heroismus des Opfers zu substituieren versuchte. Zu der Opposition zwischen
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Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich der zu Beginn zitierte Passus in seiner vollen Komplexität. Dass der Erzähler darauf beharrt, elf ihm »persönlich« zugefügte Verwundungen zählen zu dürfen, ist dem Versuch geschuldet, die Wunde konkret über die Feindbegegnung, nicht aber über ihre schiere Existenz zu heroisieren. Wie sehr er sich damit vom zeitgenössischen Kriegsdiskurs entfernt, mag ein Blick auf die Verleihungsbestimmungen jenes Ordens verdeutlichen, den er nach der Auflistung seiner Wunden und Narben stolz für sich beansprucht und der im Text mehr Raum einnimmt als das Eiserne Kreuz oder der Orden Pour le Mérite. Die Rede ist vom Goldenen Verwundetenabzeichen.33 Erst am 1. April 1918 erließ das preußische Kriegsministerium die Ausführungsbestimmungen für diesen Orden, der in drei Stufen verliehen wurde: in Schwarz (für die ein- bis zweimalige Verwundung), in Silber (für eine drei- bis viermalige Verwundung) und in Gold (ab der fünften Verwundung).34 Schon die Anlage der Stufen deutet darauf hin, dass es dem Kriegsministerium ganz im Gegensatz zum Erzähler der Stahlgewitter hier rein um eine Quantifizierung der Verwundung zu tun ist. Die Auszeichnung hebt nicht darauf ab, wie ein Soldat verwundet wird, sondern dass er verwundet wird. Stringenterweise legen die Verleihungsbestimmungen explizit fest, dass eine Verwundung sich nicht über »gezielte« Treffer definiert: »Als Verwundungen gelten: Alle äußeren oder inneren Verletzungen durch unmittelbare oder mittelbare Einwirkungen von Kampfmitteln ohne Rücksicht auf die Schwere der Verletzung.«35 Die Bestimmungen gehen sogar so weit, auch klassische heroi-
›heroischem‹ Langemarck-Mythos und ›futuristischem‹ Verdun-Mythos seit der Weimarer Republik vgl. grundlegend Bernd Hüppauf: »Schlachtenmythen und die Konstruktion des ›Neuen Menschen‹«, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1992, S. 43-86. 33 Zu einem Überblick über den Stellenwert des Verwundetenabzeichens in den unterschiedlichen Fassungen vgl. Eva Dempewolf: Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem politischen Hintergrund der Jahre 1920 bis 1980. Würzburg 1992, S. 124-127. 34 Genese, Ausführungsbestimmungen und Design des Verwundetenabzeichens sind sorgfältig dokumentiert bei Jörg Nimmergut: Deutsche Orden und Ehrenzeichen bis 1945. 4 Bde. München 2001, Bd. 4, S. 1857-1863. 35 Ebd., S. 1858. Hervorhebung von C. H.
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sche Tugenden wie Mut und Selbstüberwindung indirekt über die bloße Zahl der Verletzungen zu zertifizieren: »Mehrfache, bei gleichen Kampfhandlungen erlittene Verwundungen gelten als einmalige Verwundung, es sei denn, daß die spätere Verwundung nach erneuter Beteiligung am Kampf eingetreten ist.«36 Wenn der Erzähler der Stahlgewitter das Goldene Verwundetenabzeichen seiner eigenen Einschätzung zufolge »mit Recht an [s]eine Brust hefte[t]«, wird doch unverkennbar, dass er über die Zahl seiner Verletzungen hinaus ganz eigene Verleihungsbestimmungen geltend zu machen versucht. Dies zeigt im Übrigen nicht allein das Beharren auf den »gezielten« Schüssen. Die Mühe, beliebigen Verwundungen mit der Apologie gezielter Treffer zu begegnen, die auf die Existenz eines heroischen Feindbildes angewiesen bleiben, das seinerseits den eigenen Heroismus erst beglaubigt, lassen sich unterschwellig bis in die kleinsten Verästelungen der Narration hinein verfolgen. Zugleich aber scheitern sie in diesem Bemühen stets aufs Neue. Dies sei kurz an der vielleicht intrikatesten Verwundungsszene des Textes demonstriert. Zwei seiner schwersten Verletzungen fängt sich der Erzähler in dem Kapitel »Die große Schlacht« ein (St 233-267). Es handelt sich einmal um eine Kugel, die »gerade unter dem Eisernen Kreuz quer über dem Herzen durch die Brust gefahren war« (St 263), und es handelt sich das andere Mal um eine »Kopfwunde« mit »Ein- und Ausschuß, ohne daß die Schädeldecke durchbrochen war« (St 265). Während bei der zweiten Kugel (wie so oft und entgegen der Beteuerung des eingangs zitierten Abschnitts) gänzlich unklar bleibt, woher sie kommt, und es folglich keineswegs als ausgemacht gelten darf, dass es sich um einen »gezielten« Schuss handelt, scheint der Schütze im ersten Fall lokalisierbar zu sein; zumindest aber gilt dieser Schuss dem Erzähler, um es in der Terminologie des zitierten Abschnitts zu sagen, »persönlich«. Allerdings beruht der »persönlich« und damit auch »gezielt« gegen ihn gerichtete Schuss auf einem signifikanten Irrtum. Der Erzähler trägt an dieser Stelle des Textes nämlich einen »warmen englischen Mantel« (St 260), den er im Gefolge der Eroberung eines feindlichen Unterstandes mitgenommen hatte. Er befindet sich demnach in »feindlicher Tracht« (St 262). Der Schuss gilt ihm »persönlich«, aber eben auch versehentlich, ja er gilt ihm »persönlich«, indem er ihm versehentlich gilt:
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Deutlich war der kleine runde Einschuß auf der rechten und der ein wenig größere Ausschuß auf der linken Seite zu sehen. Da ich im spitzen Winkel von links nach rechts über die Straße gesprungen war, hatte mich ohne Zweifel einer der Unseren für einen Engländer gehalten und auf eine Entfernung von wenigen Schritten angeschossen. (St 263)
Konfrontiert man diese Szene mit der Auflistung der Wunden am Ende des Textes, so wirft dies zunächst ein Schlaglicht auf das Wort »persönlich«. »Persönlich« kann hier, um es mit der prominenten Dichotomie Carl Schmitts zu sagen, nicht den »privaten«, »persönlich« kann nur den »öffentlichen« Feind meinen, den »hostis« also und nicht den »inimicus«.37 Wenn der Erzähler nämlich »gezielt« und »persönlich« getroffen wird, so wird er dies als gleichsam falscher Engländer. Damit wird die Szene als ein zwar unterschwelliger, paradoxerweise aber auch penetranter Versuch lesbar, zwischen Freund und Feind wiederum absolute emotionale wie moralische Symmetrie herzustellen. Schließlich zeigt der Erzähler am Ende seines Textes keinerlei Bemühen, diesen Schuss und diese Verwundung abzurechnen. Freund und Feind sind demnach nicht nur in kein Verhältnis einer gegenseitigen Verachtung und Animosität verstrickt, sie erweisen sich sogar als austauschbar. In diesem Sinne liest sich die Stelle als Kritik an nationalistischen Diskursen, die den Helden über die Diffamierung des Feindes nur noch als eine Quantität von Verwundungen zu konstituieren vermögen. Hochschätzung des Feindes, Austauschbarkeit mit dem Feind und »gezielter« Schuss bilden hier schließlich eine unauflösbare Einheit. Gleichwohl bleibt es die passive Verwundung und nicht etwa ein eigener gezielt abgefeuerter Schuss, der diese heroische Erzählung verbürgt. Vor allem aber bleibt die Darstellbarkeit einer der ganz wenigen »gezielten« Schüsse des Textes damit einem Irrtum, ja einer banalen Verwechslung vorbehalten. Nun ist es naheliegend, diesen Irrtum poetologisch zu lesen und ihn vom Schützen auf den Text selbst zu übertragen. Die offizielle heroische Poetik der Stahlgewitter würde damit von einer immanenten Poetik konterkariert werden, die vorführt, dass »persönliche« Treffer auf Irrtümern, Verwechslungen oder auch Unfällen beruhen. Der Erzähler ginge folglich nicht als ›klassischer‹ Heros aus dem Krieg, weil er elfmal in
37 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Collarien. Berlin 82009, S. 27.
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einen Kampf Mann gegen Mann involviert gewesen wäre, er ginge als ›moderner‹ Heros aus dem Krieg, weil er so oft und so beliebig unter Feuer geraten ist wie Tausende andere auch. So führen die erwähnten Brüche und Widersprüche des Textes die Wirkmächtigkeit moderner Diskurse des Kriegsheroismus deutlich vor Augen. Wenn die Geringschätzung des Gegners den Ursprung einer Propagierung des heroischen Opfertodes darstellt, lässt sich dieser Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst nicht mehr über die bloße Eliminierung dieses Ursprungs außer Kraft setzen. An Jüngers ›gutem Willen‹ hinsichtlich einer Hochschätzung des Feindes kann nicht gezweifelt werden. Erzählen lassen sich die Implikationen einer derartigen heroischen Konfiguration aber nicht mehr. Dies heißt freilich nicht, dass sie damit gänzlich undarstellbar geworden wären. Im Gegenteil klärt Jüngers heroische Beharrlichkeit über ihren eigenen historischen wie poetologischen Kollaps unablässig auf. Der Text bringt in immer neuen Anläufen die Vergeblichkeit einer Restitution des klassischen Heldentums zur Darstellung. In diesem Sinne lässt er sich durchaus gegen heroische Substrate bellizistischer Theoriemodelle des Politischen lesen, denen abschließend mein Interesse gilt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass insbesondere die FreundFeind-Theorie Carl Schmitts und die Bemühungen Jüngers um ein auf Hochschätzung gegründetes Feindbild auf den ersten Blick mehr als nur oberflächliche Parallelen aufweisen. Schließlich spricht sich Schmitt genau wie Jünger gegen eine ethische, ja letztlich sogar gegen jede (tages-)politische Vereinnahmung des Feindes aus: Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für Ideale oder Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen einen wirklichen Feind geführt wird. Alle Trübungen dieser Kategorie von Freund und Feind erklären sich aus der Vermengung mit irgendwelchen Abstraktionen oder Normen.38
38 Ebd., S. 47. – Ideologisch brisant ist Schmitt m. E. denn auch nicht vornehmlich aus dem Grund, dass er – wie die neuere Forschung verschiedentlich zu zeigen versuchte – einen nur vordergründig nicht-diskriminierenden Kriegsbegriff indirekt theologisch fundierte. Brisant ist er in erster Linie deshalb, weil der Krieg und die Freund-Feind-Dichotomie ihm als alleiniger Ausweis des Politischen gelten. Zu einer differenzierten Kritik an der theologischen Forschung zur Schmitt’schen Freund-Feind-Opposition vgl. Wolfgang Palaver: »Vom Nutzen
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Dies begründet Schmitt über das Desiderat einer ontologisch motivierten Symmetrie zwischen Freund und Feind, einer »seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form«.39 Nun ist es kein Zufall, dass er als Ursprung und ständige Bedrohung einer solchen Symmetrie jene Kategorie einsetzt, die mit der Französischen Revolution in das moderne Kriegswesen Einzug gehalten hatte: Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt.40
Anders als In Stahlgewittern versucht Der Begriff des Politischen sich diesem Problem aber nun einfach kategorisch zu entziehen. Dies erkennt man auch und gerade am heroischen Subtext des Buches. Die Konstitution des Helden über die Passivität der eigenen Verwundung mangels eines symmetrischen Feindbegriffs kennt bei Schmitt nämlich ein deutliches, wenn auch formalisiertes und in seiner Formalisierung perhorresziertes Pendant, das sich in der Opposition zwischen Angreifer und Verteidiger verdichtet. Die »Genfer Nachkriegspolitik«, so führt Schmitt aus, habe versucht, jeden »Angreifer als Feind« festzulegen.41 Damit habe das Völkerrecht den Feind von vornherein zum »Verbrecher« gemacht.42 Man kann diese Darlegungen durchaus als den Versuch betrachten, gegen eine vermeintliche Diffamierung des heroisch entschlossenen, aktiven Angreifers anzuschreiben, und wiederum ist es die Restitution eines Äquivalenzverhältnisses zwischen Freund und Feind, das eine derartige Diskreditierung des Platzes verweisen soll. Dabei ist es aufschlussreich, dass Schmitt auf paratextueller Ebene den pathetischen Versuch unternimmt, historische Aushebelungen der FreundFeind-Symmetrie mit einer dezidiert heroischen Widmung zu konterkarieren: »Dem Andenken meines Freundes August Schaetz aus München, gefal-
und Schaden der Feindschaft. Die mythischen Quellen des Politischen«, in: Platt/Brehl: Feindschaft (Anm. 8), S. 71-92, hierzu insbesondere S. 86-89. 39 Schmitt: Begriff des Politischen (Anm. 37), S. 46. 40 Ebd., S. 51. Hervorhebung im Text. 41 Ebd., S. 95. Hervorhebung im Text. 42 Ebd.
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len am 28. August 1917 beim Sturm auf Moncelul«.43 Der Paratext reetabliert hier also die Freund-Feind-Symmetrie gegen das Völkerrecht, und er tut dies, indem er dem heroisierten Angreifer (»beim Sturm«) ein Denkmal setzt.44 Bezieht man sie auf die Kernaussagen des Textes, belehrt diese Widmung noch einmal eindringlich über die Interdependenz zwischen klassischem Heroentum und romantisierter Feindschaft. Der Begriff des Politischen steht damit allerdings im Bann einer Restaurierung heroischer Ideale, während In Stahlgewittern deren unwiederbringlichen Verlust zur Darstellung bringt. Die Widmung des Jünger-Textes lautet denn auch schlicht »DEN GEFALLENEN« (St 10).45
43 Ebd., S. 5. 44 Somit kann auch nur mittelbar die Rede davon sein, dass sich die Freund-FeindUnterscheidung bei Schmitt »gerade in der unverhüllten Zurschaustellung des Willens zur Unterscheidung« als eine »forciert modernistisch[e] erweist«, wie Balke schreibt. Die Heroisierungstendenzen des Textes würden mit einer solchen Reflexionsebene jedenfalls konfligieren. Vgl. Friedrich Balke: »Die Signatur des Feindes. Carl Schmitt und die Moderne«, in: Christian Geulen, Anne von der Heiden, Burkhard Liebsch (Hg.): Vom Sinn der Feindschaft. Berlin 2002, S. 133-152, hier S. 148 f. – Übrigens hat Jünger den vormodernen Zug der Schmitt’schen Freund-Feind-Unterscheidung Schmitt selbst gegenüber klar akzentuiert. Vgl. Ernst Jünger, Carl Schmitt: Briefe 1930–1983. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Stuttgart 1999, S. 18. 45 Wobei sich zwischen den Fassungen wiederum interessante Unterschiede ergeben. Die (Doppel-)Widmung der Erstausgabe lautet: »Zur Erinnerung an meine gefallenen Kameraden. Herrn Hermann Stegemann in Verehrung gewidmet.« (Jünger: In Stahlgewittern [1920] [Anm. 2], o. S.), während etwa die 1924er Fassung ausschließlich »Herrn Hermann Stegemann in Verehrung gewidmet« ist (Jünger: In Stahlgewittern [1924] [Anm. 2], o. S.).
Der entsagende Held im Bundesroman des romantischen Sozialismus T HEODORE Z IOLKOWSKI
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Zwischen Gilgamesch und Gegenwart hat die Gestalt des Helden eine lange Reihe von Verwandlungen durchgemacht. Nach der Kategorisierung, die Thomas Carlyle 1841 in seinen Vorlesungen über Helden und Heldentum aufgestellt hat, kann der Held als Gott, Prophet, Dichter, Priester, Literat und König hervortreten.1 Spätere Studien haben die Entwicklung als zeitliche Folge dargestellt: vom Halbgott (Gilgamesch, Achill, Aeneas) über den mittelalterlichen Ritter im Dienst des Christentums (Roland, Parzival) und den herkuleischen Kämpfer der Renaissance (Rinaldo, Tancredi) bis hin zum rebellischen Außenseiter des Sturm und Drangs, dem titanischen Künstler der Romantik, dem ›unheroischen Helden‹ des 19. Jahrhunderts und dessen Nachfolger, dem intellektuellen Helden und Anti-Helden der Moderne zusammen mit dem Superhelden der heutigen Videospiele.2 In jeder Gestalt und auf jeder Stufe spiegelt die Auffassung des Helden jedoch die Ideale der Zeit wider, denn Heroismus um seinetwillen kommt nur 1
Thomas Carlyle: Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History. New York
2
Siehe zum Beispiel Maurice C. Bowra: Heroic Poetry. London 1952; Eugene H.
1885. Waith: The Herculean Hero. New York 1962; Raymond Giraud: The Unheroic Hero in the Novels of Stendhal, Balzac and Flaubert. New Brunswick 1957; und Victor Brombert: The Intellectual Hero. Philadelphia 1961.
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selten vor.3 Normalerweise widmet der Held seine Kräfte dem Dienst irgendeines Anliegens – des Stamms, des Glaubens, der Nation, der Ideologie –, das wir durch ihn kennenlernen. (Man denke an die erstaunte Entrüstung von Millionen von Fans, als der Comic-Held Superman im Mai 2011 erklärte, dass er jetzt nach achtzig Jahren Heldentum im Dienst der USA nicht mehr als Vertreter amerikanischer Grundwerte gelten wolle, und drohte, seine US-Staatsbürgerschaft aufzugeben.) Aber der Held bildet immer das Zentrum des narrativen Interesses: Die Handlung hängt vom Individuum ab, nicht vom Kollektiv. Seine traditionelle Rechtfertigung verliert der Held, sobald die narrative Aufmerksamkeit von den Leistungen des Individuums sich abwendet. Dabei entstehen neue Dichtungsarten, in denen die Rolle des Helden als Repräsentant der Ideologie durch das Kollektiv allmählich subsumiert wird. Einen wichtigen Wendepunkt erkennt man in den politischen und sozialen Umwälzungen der revolutionären Epoche von etwa 1750 bis 1850, als Gesellschaft und Mentalität infolge politischer, sozialer, industrieller und intellektueller Revolutionen stark verändert wurden. Wie Schiller 1798 im »Prolog« zu seinem Wallenstein behauptete: Zerfallen sehen wir in diesen Tagen Die alte feste Form, die einst vor hundert Und funfzig Jahren ein willkommner Friede Europens Reichen gab, die teure Frucht Von dreißig jammervollen Kriegsjahren.4
Den Beginn dieses Zerfalls lässt Schiller seinen Wallenstein bereits anderthalb Jahrhunderte früher erblicken. Die Erfüllung Der Zeiten ist gekommen, Bürgermeister. Die Hohen werden fallen und die Niedrigen
3
Bowra: Heroic Poetry (Anm. 2), S. 105.
4
Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 8, S. 5.
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Erheben sich – […] eine neue Ordnung Der Dinge führt sich ein – […]5 (Wallensteins Tod, IV/3)
Diese radikalen gesellschaftlichen Änderungen haben sich konsequenterweise auf den Charakter des Einzelnen, einschließlich des Helden, ausgewirkt. Laut Reinhart Koselleck haben sich in dieser Sattelzeit »alte Begriffe in ihrem Bedeutungsgehalt den sich verändernden Bedingungen der modernen Welt angepaßt«,6 und zu diesen Begriffen gehört auch das individuelle Heldentum. Schon 1784 wies Herder auf die Grenzen der vermeintlichen Freiheit des Menschen hin: »So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnet, so sehr hänget er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab.«7 Gegen Ende dieser Periode bemerkte Hegel die »untergeordnete Stellung des einzelnen Subjekts in ausgebildeten Staaten, […] [wo] jedes Individuum nur einen ganz bestimmten und immer beschränkten Anteil am Ganzen erhält.«8 So kann denn überhaupt in unserem gegenwärtigen Weltzustande das Subjekt allerdings nach dieser oder jener Seite hin aus sich selber handeln, aber jeder Einzelne gehört doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an, und erscheint nicht als die selbstständige totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschränktes Glied derselben.9
5
Ebd., Bd. 8, S. 291.
6
Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972, Bd. 1, S. XIII-XXVI, hier S. XV.
7
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Gerhart Schmidt. Darmstadt 1966, S. 225 (Buch IX, Kap. 1).
8
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Vorlesungen über die Ästhetik I«, in: ders.: Werke. Bd. 13. Frankfurt a. M. 1986, S. 241 (Abschnitt I.3.B.ii.1.a).
9
Ebd., S. 254 f. (Abschnitt I.3.B.ii.1.a).
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Wie Sigmund Rubinstein in seinem grundlegenden Werk über den romantischen Sozialismus behauptet: »Der contrat social löscht die Einzelrechte, aus Individuen macht er einen Kollektivkörper.«10 Unter solchen Umständen kann der Held in seinem herkömmlichen Heroismus nicht mehr bestehen. Schon Schillers Wallenstein findet sich infolge seiner Unschlüssigkeit gegenüber den konkurrierenden Wertsystemen zur heldenhaften Handlung unfähig. Nach diesem Muster wird der »unentschlossene Held« – so etwa in den Romanen von Walter Scott – zu einer exemplarischen Gestalt in der Literatur der nächsten Jahrzehnte.11 Thomas Carlyle musste 1841 pessimistisch schließen, es sei »in diesen unseren Zeiten das traurige Dilemma der Welt«, dass das Jahrhundert seinen Glauben an Helden und Heldentum verloren habe.12
II. W ILHELM M EISTER ALS P ARADIGMA Somit wurde der ›Held‹ zum einfachen Protagonisten reduziert, zu einem unter vielen anderen – ein Prozess, der den Helden vom romantischen Individualismus des späten 18. zum sozialen Kollektivismus des 19. Jahrhunderts führt und den wir fast paradigmatisch in Goethes Wilhelm Meister und dessen französischen, englischen und deutschen Nachahmern gerade in den 1840er Jahren erkennen können. Der Held, der am Anfang dieser Romane häufig als Künstler auftritt in der Überzeugung, dass die Kunst die Welt verändern kann, verzichtet allmählich auf die eigenen Ambitionen, um sich den Zielen und Plänen eines Kollektivs unterzuordnen, die von einer geheimen Gesellschaft formuliert und gefördert werden. Während einer 50-jährigen Kompositionsperiode (1777–1829) führten die verschiedenen Fassungen von Goethes Wilhelm Meister von der »theatralischen Sendung« des vorrevolutionären Einzelgängers am Anfang zur »Entsagung« einer größeren Gemeinschaft von verbündeten Menschen am Ende, die unter anderem durch »das überhandnehmende Maschinenwesen«
10 Sigmund Rubinstein: Romantischer Sozialismus. Ein Versuch über die Idee der deutschen Revolution. München 1921, S. 120. 11 Theodore Ziolkowski: Hesitant Heroes. Private Inhibition, Cultural Crisis. Ithaca (USA) 2004. 12 Carlyle: Heroes (Anm. 1), S. 185.
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der industriellen Revolution gequält und geängstigt wird.13 Dabei wendet sich unser Interesse fast völlig vom Protagonisten, der oft kapitellang verschwindet, ab und den Zielen der Gruppe zu. Wie Thomas Mann bemerkte, war der Verfasser der Wanderjahre »ein völlig anderer als der junge Theaterenthusiast, der nichts beabsichtigt hatte, als die Welt dionysischer Zigeuner, die Kulissenwelt, zu schildern«, und jetzt stattdessen »die Umwandlung des Theaterromans in einen sozialen Problemroman großen Stils« unternahm, dessen Ideen »weit abführen vom ästhetischen Kult des Persönlichen, von allem, was man unter bürgerlicher Humanität versteht«.14 Nach dem Schema, das Tzvetan Todorov im ersten Kapitel seiner Verteidigung des modernen Humanismus skizziert, macht Meister eine Entwicklung vom Individualismus zum Humanismus durch.15 In der frühen Fassung des Romans finden wir noch keine Spur von der Turmgesellschaft, die, wie es sich gegen Ende der Lehrjahre herausstellt, zunächst Meisters eigene Entwicklung geleitet hat, um ihn dann in den Wanderjahren dem großen demokratischen Projekt näherzubringen. Allerdings bleibt Goethes Bild des von der Turmgesellschaft erträumten sozialistisch-humanistischen Kollektivs noch völlig idealisierend. In den Reden von Lenardo und Odoardo vor den versammelten Handwerkern – Bergarbeitern, Maurern und Zimmerleuten und anderen mehr – hören wir von den Projekten der Auswanderer (III, Kap. 9) und der in Europa Bleibenden (III, Kap. 10). Im Laufe der Erzählung wird der Leser über Spinner- und Webertechnik (III, Kap. 5) sowie über die Arbeit des Wundarztes (III, Kap. 3) und die Methoden der Pädagogischen Provinz (II, Kap. 1) ausführlich unterrichtet. Denn es sei »das Grundgesetz unserer Verbindung; in irgendeinem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will«.16 Wenn aber diese Menschen dieser Kollektive zusammenkommen, »die einzelnen Glieder eines jeden Handwerks«, handelt es sich nicht um ihre konstruktiven Tätigkeiten, sondern um Ge13 Johann Wolfgang Goethe: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in: ders.: Werke. Hg. von Erich Trunz. Hamburg 1957, Bd. 8, S. 429 (III, Kap. 13). 14 Thomas Mann: »Goethe und die Demokratie«, in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt a. M. 1960, Bd. 9, S. 755-782, hier S. 777. Mann hat dieselbe Auffassung in anderen Goethe-Aufsätzen oft wiederholt. 15 Vgl. Tzvetan Todorov: Le jardin imparfait. La pensée humaniste en France. Paris 1998. 16 Goethe: Wanderjahre (Anm. 13), S. 334.
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sang und Feier. Der Einzelne, geschweige denn der Held, verschwindet im Ganzen. »Die Zeit ist vorüber, wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte«, heißt es. In dieser neuen Welt wird sogar der Soldat durch Treue »dem Sinne der Völker und Herrscher« unterworfen.17 Die Welt der Wanderjahre hat keine Zeit für Helden der klassischen Art. Die Einführung der Turmgesellschaft musste auf eine weitere Entwicklung warten: die Erfindung des Bundesromans in Schillers Der Geisterseher (1787–1789) und dessen Entwicklung zum romantischen Sozialismus. In Schillers unvollendetem Werk wie in den meisten frühen Bundesromanen spielt der Geheimbund im Gegensatz zu Goethes Turmgesellschaft eine negative Rolle und hat zwar ein kollektives, aber keineswegs positives Ziel. Der wankelmütige deutsche Prinz eines nicht näher spezifizierten protestantischen Landes, der sich zum Vergnügen in Venedig aufhält, wird im Laufe der Erzählung durch die unheimlichen Machenschaften eines mysteriösen »Armeniers« und der jesuitischen Sozietät, die er vertritt, unter deren Einfluss gebracht, damit er als Thronnachfolger sein protestantisches Land unter die Herrschaft des jesuitischen Geheimbundes bringen solle. (Schillers Erzählung fiktionalisiert die Aufsehen erregenden Ereignisse in Preußen, wo 1786 der Nachfolger Friedrichs des Großen, sein Neffe Friedrich Wilhelm II., dem Orden der Gold- und Rosenkreuzer so sehr ergeben war, dass man Angst hatte, dass die Angelegenheiten des mächtigen Staates durch eine katholische Verschwörung geleitet würden.) Schon die Idee, dass der Prinz durch die Ränke anderer beeinflusst wird, reduziert ihn vom Helden zum einfachen Protagonisten. Auch Karlos, Marquis C* von G** und Held der populärsten Nachahmung von Schillers Geisterseher, Carl Grosses vierbändigen Wälzers Der Genius (1791–1795), wird durch eine geheime Gesellschaft und deren stellvertretenden »Genius« geführt und beherrscht, die den demokratischen Idealen seiner Jugend entgegenwirkt. Es stellt sich heraus, dass die oligarchische Kabale durch Attentate und brutale Revolutionen die Monarchien Europas stürzen und dabei auch eigennützig die nicht-adligen Klassen ihrer hierarchischen Macht unterwerfen will.18 Noch in Hölderlins Hyperion 17 Ebd., S. 389 f. 18 In Marianne Thalmanns immer noch grundlegendem Werk Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik (Berlin 1923) findet man neben ausführlichen Darstellungen von Funktionen der Landschaft, Tiere und Pflanzen, Tageszeiten
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(1797–1799) spielt der geheime »Bund der Nemesis« eine negative Rolle. Hyperion selber erkennt zwar sofort, dass sie nichts als »Betrüger« sind, und hat nichts weiter mit dem Bund zu tun; aber das Leben seines Freundes Alabanda wurde seit Jahren schon durch diesen Bund geleitet, und als er sein Gelübde bricht und sich von der Gruppe distanziert, muss er die Folgen fürchten: »Was können sie mir nehmen, als mein Blut?« In all diesen Fällen fügt sich der Held den Forderungen des Bunds. Die frühen Bundesromane spielen mit den Ängsten eines Publikums, das durch die verschiedenen Umwälzungen des späten 18. Jahrhunderts verunsichert worden ist und in den oft verbotenen geheimen Gesellschaften der Zeit eine finstere Macht erblickte, die die bekannte Ordnung überwerfen wollte. Erst die Popularität dieser Gattung erklärt die Gründe, warum Goethe allmählich – zunächst in den beiden letzten Büchern von Wilhelm Meisters Lehrjahren und dann im Ganzen der Wanderjahre – den Geheimbund der Turmgesellschaft als Modell des demokratischen Kollektivs nachträglich in seinen Roman einbaute. Aber um das zu erreichen, musste er zugleich den positiven Aspekt der geheimen Gesellschaften betonen. Goethe, der anders als Schiller selber seit 1780 Mitglied der Freimaurer und 1783 auch kurz Mitglied der Illuminati war,19 interessierte sich weniger für die Rituale und Mystifikationen der verschiedenen Orden, die in den Bundesromanen eine so große Rolle spielen und die er für lächerlich und sogar schädlich hielt, als für ihre sozialen, politischen und philanthropischen Aufklärungsziele. So wird in seinem Roman im Gegensatz zu den meisten Geheimbundromanen desselben Jahrzehnts die Rolle der Turmgesellschaft sublimiert. Diese Sublimierung des Geheimbundes lässt sich auch schon in Mozarts Zauberflöte (1791) erkennen. Bei Mozart, einem seit 1784 wie Goethe begeisterten Freimaurer – bekanntlich komponierte er neben seiner orche-
sowie Bundessymbole und -gestalten überraschend wenig über die Gestalt und Rolle des Helden. Aber sie scheint die Auffassung zu teilen, der Held sei häufig nichts als Werkzeug in den Händen des Bunds. »Der Held des Trivialromans war das vernunftbegabte Wesen, zwischen dessen logischer Erkenntnisfähigkeit und den Erscheinungen der Welt eine Unterordnung stattfand, die kein Schrei der Natur überbrücken könnte« (ebd., S. 234). 19 Rosemarie Haas: Die Turmgesellschaft in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Zur Geschichte des Geheimbundromans und der deutschen Romantheorie im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1975, S. 21-28.
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stralen Maurerischen Trauermusik mehrere Maurerlieder und -kantaten –, fällt eine merkwürdige Wandlung auf, die man fast als eine Vorwegnahme der späteren Wendung vom negativen zum positiven Bild des Geheimbunds auffassen könnte. Im ersten Akt ist nämlich die Königin der Nacht als trauernde Mutter der Prinzessin Pamina immer noch eine sympathische Gestalt, während Sarastro als »Bösewicht« dargestellt wird. Aber im zweiten Akt haben sich die Verhältnisse verkehrt: Die Königin der Nacht ist die unheimliche Vertreterin des Reichs der Dunkelheit, während Sarastro zum König des aufgeklärten Reichs von Tag und Licht wird und Haupt des Isiskults, dessen ausführlich dargestellte Zeremonien und Symbole auf den Riten der Freimaurer basieren. Tamino wird durch den Bund in der Oper zu einem ganz und gar positiven Ziel geführt: zur Ehe mit Pamina, wobei die Reiche von Tag und Nacht, Sonne und Sterne, Licht und Dunkelheit in einer großen Versöhnung verbunden werden.20 In beiden Werken werden also die Helden – Tamino als tapferer Märchenheld und Meister als Held des Künstlertyps – von ihrer anfänglichen subjektiven Unabhängigkeit zum Einverleibtsein im sublimiert-positiven Kollektiv geführt. Die eigene Ambition beziehungsweise das einzelne Heldentum wird zugunsten der höheren Ziele des Kollektivs aufgegeben.
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Die Romane des sogenannten romantischen Sozialismus haben dieses positive Bild des Kollektivs mit seinen idealisierenden Zielen, das zunächst durch einen Geheimbund verkörpert wird, weitgehend übernommen. Diese Frühform des Sozialismus exemplifiziert Grundideen der deutschen Romantik: etwa demokratische Selbstverwaltung, wirtschaftliche Demokratie und Genossenschaftlichkeit. »Die Idee des Sozialismus will eine Gesellschaft nicht von Individuen, sondern von Genossen«21 – eine Auffassung,
20 Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. München 2005, argumentiert, dass die Wende keinen Bruch darstellt, sondern bewusst und absichtlich ist, damit der Zuschauer und Zuhörer zusammen mit Tamino die Wende des Bewusstseins – von Aberglauben zu Wahrheit, von Dunkel zu Licht, von Wildnis zu Zivilisation – in einem »Aufklärungsmysterium« miterleben darf. 21 Rubinstein: Romantischer Sozialismus (Anm. 10), S. 233.
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die die spätere Räteidee vorwegnimmt. Allerdings wird in einigen Werken das negative Bild vorläufig erhalten, wie etwa noch ein halbes Jahrhundert später in Eugène Sues tausendseitigem Bestseller Le Juif errant (1844– 1845). Hier handelt es sich wieder wie bei Schiller um eine jesuitische Verschwörung, die durch ihre teuflisch bösen Intrigen das unermesslich große Erbe eines reichen Protestanten an sich bringen will. Während der frühere Bundesroman die intellektuelle Aufregung um die Zeit der Französischen Revolution widerspiegelte, reflektiert der Roman des romantischen Sozialismus das Gefühl, dass die Revolution die herkömmlichen Werte und Ordnungen zerstört hatte, ohne sie durch ein gültiges neues System zu ersetzen oder die eigenen Versprechen zu erfüllen. Die sich verbreitende Industrialisierung und die Urbanisierung der Bevölkerung hatten zwischen Arbeit und Kapital ein spannungsgeladenes Verhältnis erzeugt, das nicht nur unter den ausgebeuteten Arbeitern, sondern auch beim Landadel, dessen Autorität durch die Fabrikbesitzer herausgefordert wurde, beim älteren Bürgertum, dessen gesellschaftlicher Rang unterminiert wurde, und bei den Bauern, deren Wohl zerstört wurde, zu Unzufriedenheit und Unruhe führte – Entwicklungen, die bereits in den Wanderjahren ersichtlich sind. Infolgedessen wurde ein ganzes Spektrum von politischen Ansichten erzeugt: von einem Konservativismus, der die Wiederherstellung der Monarchie forderte, zu einem Liberalismus, der von der Notwendigkeit einer radikalen Änderung überzeugt war. Diese Ansichten auf der linken Seite, die einen maßvollen Republikanismus wie auch Sozialismus umfasste, werden zusammen als utopischer oder romantischer Sozialismus bezeichnet werden. (Der Begriff ›Sozialismus‹, erst in den 1830er Jahren geprägt und geläufig geworden, erreichte in den 1840er Jahren in Frankreich bei Denkern wie Étienne Cabet, François Fourier, Pierre Leroux und Victor Considérant seinen höchsten Bekanntheitsgrad.) Obwohl die Ideen des vormarxistischen romantischen Sozialismus verhältnismäßig mild, idealistisch und nicht-revolutionär waren, wurden sie durch die reaktionären Regierungen in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern mit Misstrauen betrachtet und oft verboten. Aus diesem Grunde kamen deren Anhänger oft in geheimen Gesellschaften zusammen, die die Ideen des Kollektivs exemplifizierten: Neben älteren Gesellschaften wie Freimaurern, Rosenkreuzern, Templern und dem deutschen Tugendbund kamen auch neue republikanische Gruppen wie die Carbonari in Italien, die Société des Droits de l’Homme in Frankreich, und der Bund der Geäch-
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teten (Deutsche Auslandsarbeiter in Frankreich) hervor. Symptomatisch für diese Ausbreitung ist die Tatsache, dass die erste größere Bibliographie der Freimaurerei und der mit ihr in Verbindung gesetzten geheimen Gesellschaften (Frankfurt am Main 1844) für die Periode 1814 bis 1841 mehr als 60 Werke zum Kampf gegen geheime Gesellschaften verzeichnen konnte. In den 1840er Jahren informierte die Verbindung von romantischem Sozialismus und Geheimbünden einige der besten und repräsentativsten Werke des Jahrzehnts. Erst Karl Marx lehnte infolge seines historischen Materialismus und seiner Auffassung vom Klassenkampf die romantischen Elemente und Ideen allmählich ab,22 die dann im Streit zwischen den radikalen Marxisten und den liberalen Sozialdemokraten unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges wieder zur Sprache kamen.23 Worauf es aber hier ankommt, ist die Tatsache, dass in solchen Situationen die Rolle des ›Helden‹ im Kollektiv aufgehoben wird – ein Prozess, den wir in den Romanen des romantischen Sozialismus, insgesamt Meister-Imitationen, paradigmatisch beobachten können.
IV. E INE
FRANZÖSISCHE
M EISTER -I MITATION
Consuelo (1842–1843) und die Fortsetzung La Comtesse de Rudolstadt (1843–1844), George Sands längste und beste Romane, bilden zusammen das, was als der französische Wilhelm Meister bezeichnet worden ist24 – eine Bezeichnung, die in Anbetracht der Goethe-Verehrung der Verfasserin keineswegs weit hergeholt scheint. Die Handlung, die sich von Venedig über Böhmen und das Wien Maria Theresiens zum Berlin Friedrichs des Großen bewegt, spielt sich in den Jahren 1740 bis 1748 ab. Wie Wilhelm Meister bietet Consuelo eine reiche und kenntnisreiche Darstellung der damaligen Theaterwelt, wenn auch hier der Opern anstatt der dramatischer Bühne. Die Heldin, Marie de Consolation, ist die verwaiste Tochter einer spanischen Sängerin, und ihre hervorragende Stimme gewinnt ihr die Unterstützung des (historischen) Lehrers und Komponisten Porpora, der sie zu einem spektakulären Bühnenerfolg fördert. Hintergangen von ihrem Ge-
22 Ebd., S. 231-239. 23 Ebd., S. 26. 24 Alain (Emile Auguste Chartier): Propos de littérature. Paris 1934, S. 143.
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liebten, verlässt sie Venedig und übernimmt im böhmischen Chateau des Géants die Rolle der Begleiterin und Lehrerin Ameliens, Tochter der adligen Familie von Rudolstadt. Dort verliebt sie sich in Albert, den Erben der Familie, der in einer Art genealogischem Wahnsinn sich durch Metempsychosis mit seinen Ahnen identifiziert und für deren Verbrechen schuldig fühlt. Er verliebt sich in Consuelo, die als heilender Einfluss wirkt, und will sie heiraten. Consuelo, unfähig, sich zwischen Liebe und Karriere zu entscheiden, flieht nach Wien, muss sich aber bald darauf auf den Weg nach Berlin machen, wo Porpora mit Friedrich dem Großen einen Vertrag unterschrieben hat. Unterwegs hört sie, dass Albert im Sterben liegt, und kehrt gerade rechtzeitig zur Riesenburg zurück, um ihm im Augenblick seines Todes ihre Hand zur Ehe zu reichen. Als er stirbt, verzichtet sie auf Titel und Gut und reist mit Porpora nach Berlin, um ihre musikalische Karriere wieder aufzunehmen. Consuelo, der erste Band, dreht sich wie Goethes »theatralische Sendung« vor allem um Musik und die Bildung der Heldin, wobei die Ideen des romantischen Sozialismus meistens im Hintergrund bleiben. Aber im Fortsetzungsband, La Comtesse de Rudolstadt, treten die kulturellen und persönlichen Motive zurück, indem der Roman zu einem Vehikel für die sozial-utopischen Ansichten der Verfasserin wird. Obwohl sie selber kein Mitglied einer geheimen Gesellschaft werden durfte, vertiefte sich Sand in Studien darüber und unterhielt sich mit Freunden, die Mitglieder waren. Im Juni 1843 schrieb sie ihrem geistigen Mentor Pierre Leroux: »Sie haben keine Ahnung, in was für ein Labyrinth Sie mich mit Ihren Freimaurern und geheimen Gesellschaften geführt haben. Es ist ein Meer von Unsicherheiten, ein Abgrund von Schatten.«25 Im selben Monat berichtete sie ihrem Sohn Maurice, dass sie bis zum Hals in Freimaurerei versunken sei. Ihr Muster für die literarische Darstellung eines Geheimbunds der Gegenwart war Goethes Wilhelm Meister, der bereits dreimal ins Französische übersetzt worden war. Sogar der Name Amelie beziehungsweise Amalia, der bei zwei verschiedenen Gestalten vorkommt, erinnert an den Weimarer Bund »Amalia«, dem Goethe angehörte: und den Familiennamen Rudolstadt übernahm sie von der Nachbarstadt, deren Freimaurer-Loge Mitglieder aus Weimar nach Aufhebung der damaligen Loge häufig besuchten.
25 George Sand: Correspondance. Hg. von Georges Lubin. Paris 1969, S. 179.
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Die erste Hälfte des Romans verfolgt die musikalische Karriere Consuelos in Berlin. Dort wird sie in verschiedene Hofintrigen verwickelt, die neben dem König auch seine Schwester Amalia und deren verbotene Liebesaffäre mit Friedrich von Trenck betreffen; des Königs Bruder Heinrich, Anhänger der Rosenkreuzer; den berüchtigten Comte de Saint-Germain; Cagliostro und andere historische Gestalten. Consuelo wird mehrmals erschreckt, wenn sie Gestalten erblickt, die ihrem toten Mann Albert ähnlich sehen. Wegen ihrer Teilnahme an den Intrigen wird sie auf Schloss Spandau verhaftet und nach drei Monaten durch Fremde, die sich als »die Unsichtbaren« bezeichnen, gerettet und durch eine maskierte Gestalt, zu der sie sich hingezogen fühlt, in Sicherheit gebracht. Dort macht sie die erste Stufe eines langen Initiationsprozesses durch. Acht geheimnisvolle Alte lehren, dass die Mitglieder ihres Ordens außerhalb und oberhalb solcher menschlichen Gebundenheiten wie Gut, Geburt und Titel seien. Sie fragen Consuelo, ob sie dem Orden beitreten und ihren idealistischen Glauben an die menschliche Perfektibilität teilen wolle. Während ihrer Überlegungswoche erfährt sie von dem Beichtvater, der ihr beigegeben wird, dass Albert noch lebt – eine Nachricht, die Consuelo in Verwirrung bringt: zwischen Treue zu ihrem bewunderten Mann und ihrer Leidenschaft für den maskierten Retter, der sie von Zeit zu Zeit besucht. Als sie verschiedene Prüfungen bestanden hat, wird sie in den Tempel geführt, wo sie die Doktrin des Ordens erfährt: eine Rückkehr zum ursprünglichen Glauben des Christentums, der durch die Dogmen der kirchlichen Theokratie verschleiert wurde. Die Zeit, wenn auch nah, ist noch nicht gekommen: Vorläufig muss die Wahrheit im Tempel des Ordens bleiben. Der Tempel stellt sich also als eine Art Übergesellschaft heraus, die Fanatiker, Mystiker, Philosophen, Dichter sowie Mitglieder anderer Geheimorden umfasst. Sein Ziel sei es, eine wahre Religion zu rekonstituieren unter der Formel: ›liberté, fraternité, égalité‹.26 Sie erfährt, dass Albert, dessen Leben durch den Bund geleitet worden war, jetzt hoch im Orden steht, und dass sie ihn in der Tat in Berlin erblickt hatte, wo er im Schloss Sitzungen der Rosenkreuzer leitete. Nach einer letzten Prüfung wird sie in den Bund aufgenommen und erklärt sich stolz als Comtesse de Rudolstadt, die ihrem Mann treu geblieben ist, obwohl sie den maskierten Retter liebt. Ihr psychisches Dilemma wird gelöst, als dieser
26 George Sand: Consuelo. La Comtesse de Rudolstadt. Hg. von Léon Cellier und Léon Guichard. Paris 1959, Bd. 3, S. 371.
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sich als Albert zu erkennen gibt. Nach einer herrlichen Zeremonie im Tempel, der auch als Gralstempel bekannt ist, wird das neue Ehepaar in die Welt hinausgeschickt, um für den Orden zu missionieren. Dabei singt Consuelo an allen europäischen Höfen, bis Albert in einem Kampf um seine Erbschaft als Betrüger angeklagt wird und fünf Jahre mit Prozessen verbringen muss. Sie verlieren ihr Hab und Gut und Consuelo ihre Stimme. Der Bund der Unsichtbaren, verfolgt und auseinandergetrieben, kann ihnen nicht beistehen. So wandern sie weg, arm und verfolgt, und verschwinden aus dem Roman. Mit anderen Worten: Die Gestalten, die anfangs als HeldInnen auftreten – Consuelo als künstlerische Heldin, Albert als wirksamer Emissär des Bundes –, enden in einer Lage, wie sie unheroischer nicht denkbar ist. Zum Schluss erfahren wir noch in einem angehängten Brief, dass im Jahre 1774 Baron von Knigge und Adam Weishaupt, zukünftige Gründer und Förderer der Illuminati, bei einer Wanderung im Böhmerwald Albert, Consuelo und drei von ihren Kindern begegnet sind. Albert, wenn auch geistig verwirrt, bezaubert sie mit seiner Musik und beschwört Weishaupt in einem Augenblick der geistigen Klarheit, seine Sendung aufzunehmen: die Menschheit zu befreien. In einer ekstatischen Vision enthüllt er ihnen das Bild des Neuen Zeitalters. Dann wandert Albert, wieder wahnsinnig, mit Frau und Kindern weiter in die Wälder hinein. Aber der Brief bietet eine historische Genealogie der Illuminati, die laut George Sand über die Unsichtbaren, Freimaurer und Rosenkreuzer zu den Tempelrittern, dem Heiligen Gral und bis zum Mysterium des primitiven Christentums zurückreicht.
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So erkennen wir in dem langen Roman in der Tat einen französischen Wilhelm Meister, der von der anfänglichen theatralischen Sendung über Bürgertum und Adel zum Aufgehen in den Zielen und Aufgaben einer geheimen Gesellschaft führt. Eine auffallende Parallele zu Sands Romanen treffen wir in Zanoni (1842), dem fast gleichzeitig erschienenen Roman ihres englischen Zeitgenossen Edward Bulwer-Lytton. In beiden Fällen handelt es sich um historische Romane, deren Handlung im aufgeklärten 18. Jahrhundert stattfindet; in beiden zeigt sich der Einfluss des Bundesromans nach dem Muster des bewunderten deutschen Dichters;27 in beiden treffen 27 Vgl. Richard A. Zipser: Edward Bulwer-Lytton and Germany. Bern 1974.
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wir schöne junge italienische Opernstars, die mysteriöse Helden aus dem Ausland heiraten – Helden, die sich als Vertreter von geheimen Gesellschaften enthüllen und die ihre Geliebten in die Geheimlehren ihrer Gesellschaften einführen und sie aus der Gefangenschaft retten müssen. Beide Werke enden mit der Enttäuschung der herrlichen Ziele des Geheimordens und dem unheroischen Untergang der ProtagonistInnen. Während diese Ähnlichkeiten zweifellos den Erwartungen der Gattung des Bundesromans entsprechen, fallen sofort deutliche Unterschiede auf. Sands »Unsichtbare« verkünden eine Sodalität, die frühere Orden vereint und zugleich aufhebt, während Lyttons mystische Brüderschaft ein uralter Orden zu sein behauptet, der nicht nur den modernen Geheimorden, sondern auch solch antiken Kulten wie Pythagoräern und Platonikern zeitlich vorausgeht. Während Sands Unsichtbare die Ideale der Französischen Revolution wiederherstellen und eine soziale Utopie gründen wollen, bestrebt sich Zanonis Brüderschaft, eine Art Herrenrasse hervorzubringen, »die wahren Herren des Planeten« (»the true lords of this planet«), 28 die ihr Leben in der Kontemplation des Idealen verbringen wollen. Lyttons Viola ist wie Consuelo die verwaiste Tochter einer Musikerin und eine begabte Sängerin und Zanoni, wie Albert, ein brillanter und gelehrter Visionär. Aber anders als Albert, der durch Geburt mit der Wirklichkeit seiner Zeit verbunden ist, soll Zanoni ein altersloser Chaldäer sein, ein Unsterblicher, der die Vergnügungen des Lebens zugunsten derjenigen des Geists aufgegeben hat. Er und sein Meister-Magus Mejnour sind die einzigen Überlebenden des geheimnisvollen Urordens. Wir brauchen die verschiedenen Handlungsstränge nicht zu verfolgen. Als Verkörperung der Menschlichkeit ist Viola nicht fähig, in den geistigen Orden aufgenommen zu werden. Am Ende verzichtet Zanoni auf die eigene Unsterblichkeit, um Viola aus Robespierres Gefängnis zu retten, aber Viola stirbt vor ihrer Befreiung. Nur ihr Kind als Verbindung des Realen und des Idealen lebt noch, ist aber ohne Weisung dazu verurteilt, in eine weltliche menschliche Existenz zu verfallen. Hier haben wir es also wieder mit einer Heldin zu tun, die auf ihre Kunst verzichtet, und einem Helden, der am Anfang im Dienst des Ordens heroisch wirkt, aber aus Liebe und Leidenschaft seine hohen Ziele aufgibt.
28 Edward Bulwer-Lytton: Zanoni. Boston 1896, S. 225.
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VI. G UTZKOWS › POLITISCHER ‹ M EISTER Das deutsche Gegenstück zu den französischen und englischen Romanen des romantischen Sozialismus sehen wir in Karl Gutzkows immensem Wälzer Die Ritter vom Geist (1850–1851). Wie er seinem Freund, dem Journalisten und Schriftsteller Levin Schücking anvertraute, hatte Gutzkow dabei die ausdrückliche Absicht, »einen politischen Wilhelm Meister« zu schreiben,29 aber der Roman enthält zugleich Hinweise auf George Sand, BulwerLytton und andere Zeitgenossen. Das zugrunde liegende Handlungsmotiv – der Versuch eines der Helden, ein umstrittenes Erbe zurückzugewinnen – erinnert deutlich an Eugène Sues Juif errant. Aber im Gegensatz zum herkömmlichen ›Roman des Nacheinander‹ wird hier die ganze Handlung in den kurzen Zeitraum von Juni 1849 bis September 1851 zusammengepresst, und die Technik des Romans erlaubt dem Verfasser, Szenen aus den verschiedensten Lebensebenen nebeneinanderzustellen. So bietet uns der Roman ein unvergleichbares Panorama des kulturellen, sozialen und politischen Lebens Preußens in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Unter den vielen miteinander verbundenen Handlungen, die an sich schon keinen einzigen Helden, sondern etwa zwanzig Protagonisten aufweisen, interessieren uns vor allem zwei. Der junge Rechtspraktikant Dankmar Wildungen entdeckt Dokumente, die beweisen, dass viele wertvolle Besitztümer, die von Stadt und Staat in Anspruch genommen werden, eigentlich ihm und seinem Bruder, dem Maler Siegbert, zukommen. Aber die Papiere verschwinden, und die Handlung dreht sich weitgehend um die Versuche der Brüder, diese Beweise wieder zu erhalten, und um den Gerichtsfall, als die Sache endlich an das Hohe Gericht gelangt. Die Brüder begegnen einem jungen Zimmermann, der, wie es sich herausstellt, Prinz Egon von Hohenberg ist, der nach dem Tod seiner Mutter in Verkleidung von seinen Auslandsreisen zurückkehrt, um sein Erbe anzutreten. Der Prinz sucht unter den Besitztümern aus dem Familienschloss ein Porträt seiner Mutter zu finden, das eine geheime Botschaft an ihn enthalten soll. Ihre anscheinend ähnlichen demokratischen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft führen anfänglich zu einer engen Freundschaft unter den drei jungen Menschen, wobei Dankmars physische Ähnlichkeit mit dem
29 Brief vom 5. August 1850, in: Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Levin Schücking, 1838-1876. Hg. von Wolfgang Rasch. Bielefeld 1998, S. 92.
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Prinzen zu verschiedenen Verwirrungen führt. Egon erfährt, dass er in Wahrheit das Kind einer außerehelichen Affäre seiner Mutter ist und im Übrigen ein Vetter der beiden Brüder. In diesem Augenblick wird er plötzlich vom dringenden Wunsch erfüllt, Prinz zu sein. Schon sein Name entpuppt sich als Symbol seines selbstbedienenden Ehrgeizes, denn die Freunde betrachten Egon als »Prototyp des Egoisten«.30 Er drückt plötzlich reaktionäre Ansichten aus, wird Minister des Reichs und wendet sich gegen seine ehemaligen Freunde, die er der Verschwörung bezichtigt. Als seine wahre Identität entlarvt wird, gibt er sein Amt auf und zieht sich mit seiner Frau nach Nizza zurück. Die Brüder gewinnen ihren Fall, aber verlieren alles in einer Feuersbrunst. Sie heiraten die Mädchen, auf die sie lange glaubten verzichten zu müssen. Siegbert emigriert mit seiner Frau in die Schweiz, und nur Dankbar bleibt in der Heimat, um für die Zukunft zu arbeiten. Der Roman gehört hierher, weil die Brüder ihre Erbschaft nicht für persönlichen Vorteil benutzen wollen, sondern um die von ihnen gegründete geheime Gesellschaft zu unterstützen: die Ritter vom Geist – ein Name, der auf die Tatsache hinweist, dass ihre Erbschaft bis auf die Templer sich zurückführen lässt. Die Brüder und ihre Freunde sehen sich also als die legitimen Nachfolger der ursprünglichen Ritter, und die historische Kontinuität wird oft betont. Was für eine Weltordnung haben sie im Sinne? Nach den europäischen Revolutionen von 1848 wich die radikale politische Orientierung, die das Junge Deutschland charakterisiert hatte, einem unprätentiösen Konservatismus ohne den Ehrgeiz jedes politischen Aktivismus. Auch Gutzkow erfuhr die Entzauberung, die zur Überzeugung führte, dass sozialer Fortschritt nur durch eine Gemeinschaft des Geistes unter den verschiedenen Parteien erzielt werden könne, die sämtliche spezifisch-politische Interessen überstieg. Es ist dieser Sinn, der dem Geheimbund der Ritter vom Geist zugrunde liegt. Der Orden wird häufig im Vorbeigehen erwähnt, dargestellt aber in drei Hauptszenen, die ein Meinungsspektrum von demokratischen Ansichten enthüllen, die von Dankmars liberalem Monarchismus und Siegberts halbsozialistischen Meinungen zum richtigen Kommunismus eines Freundes, der früher Mitglied einer französischen Arbeiterzunft gewesen war. Aus diesen Diskussionen geht der Kerngedanke des Bundes hervor. Einige Wochen nach Egons Abwendung von seinen
30 Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. Hg. von Reinhold Gensel. Berlin 1912, Bd. 3, S. 540.
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Freunden erörtert Dankbar seine Auffassung: Jeder Geheimorden braucht drei Dinge: eine motivierende Idee, Symbole und die nötigen Mittel. Die Ritter vom Geist sind die neuen Templer, deren Aufgabe es ist, den Tempel zu schützen, den die Menschheit Gott zu Ehren auf Erden erbauen muss. Im Gegensatz zum früheren romantischen Sozialismus hat diese Gesellschaft keine klar definierten politischen Ziele: Sie bleibt auf der abstrakten Ebene des Geists, der alle weltlichen Ziele übersteigen soll. In den nächsten Monaten sucht die Gruppe neue Mitglieder, wobei, um die Unabhängigkeit des Denkens sicherzustellen, gefordert wird, dass die neuen Mitglieder immer aus einer höheren gesellschaftlichen Ebene angeworben werden sollen. Als Minister verfolgt Egon die Gruppe seiner ehemaligen Freunde, deren demokratische Hoffnungen seine reaktionäre Politik bedrohen. Aber Dankbar gelingt es, innerhalb eines Jahres mithilfe reicher neuer Mitglieder ein ehemaliges Templerschloss zu kaufen und dort ein Treffen von hundert Mitgliedern aus verschiedenen Ländern zu organisieren. Aber dabei entzünden sich zufällig die Fonds der gerade gewonnenen Erbschaft und werden zerstört. Ein ernüchterter Egon gibt sein Amt auf und versöhnt sich mit seinen Freunden, aber am Ende müssen fast alle Mitglieder, die immer noch unter dem Verdacht der Verschwörung stehen, ins Ausland emigrieren mit dem Versprechen, dass sie nach einem Jahr wieder zusammenkommen wollen. In Gutzkows Roman erblicken wir etwas Neues: nicht die Intrigen eines existierenden Ordens, sondern die Konzeption und Organisierung eines Geheimbundes vom ersten Einfall bis zur Gründung eines großen Kollektivs. Die Ziele dieser Ritter vom Geist sind aber so ätherisch geworden, dass sie nichts mehr gemeinsam haben mit den praktischen politischen Zielen der gegenwärtigen europäischen Orden. Trotzdem erkennen wir im Roman das Muster, das uns aus den französischen und englischen Nachahmungen von Goethes Wilhelm Meister bekannt ist: Die unabhängigen Protagonisten verzichten letzten Endes auf ihre individuellen Ziele und Ambitionen, um sich den höheren Zielen der geheimen Gesellschaft zu widmen. Es ist immer noch das bekannte Muster der frühen Bundesromane in Nachahmung von Schillers Der Geisterseher. Aber in den Werken des romantischen Sozialismus ist die geheime Gesellschaft wie bei Goethe und Mozart zu einer positiven anstatt einer negativen Macht geworden und reflektiert nicht so sehr die Verschwörungsangst des 18., sondern vielmehr die demokratischen Ideale des 19. Jahrhunderts.
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* * * In den Romanen des romantischen Sozialismus erblicken wir die Hoffnungen der französischen, englischen und deutschen Idealisten, deren Träume durch das Misslingen der Revolutionen von 1830 und 1848 enttäuscht worden waren, Träume, die durch die Wirklichkeit der postrevolutionären Gegenwart in die Dichtung zurückgedrängt wurden. Wir erleben diesen Prozess durch ProtagonistInnen, die am Anfang glauben, dass sie ihre Ziele durch eigene heroische Handlung erreichen können (wenn auch oft in Form von künstlerischem Heroismus), sich allmählich aber der Zusammenarbeit im demokratischen Kollektiv unterordnen müssen. So verfolgen wir an der sich wandelnden Gestalt des entsagenden Helden den Wechsel vom Individualismus des späten 18. zum neuen Geist des Kollektivismus des 19. Jahrhunderts. Von seinem Gang durch das Kollektiv wird sich der literarische Held kaum wieder erholen, wie wir etwa an den Beispielen von Josef K. und Hans Castorp deutlich erkennen.
Die Totalität der Mitte Gustav Freytags Figur Anton Wohlfart und Wilhelm Raabes Protagonist Hans Unwirrsch als ›Helden‹ des antisemitischen ›Bildungsromans‹ im 19. Jahrhundert J AN S ÜSELBECK
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GEFÄHRLICHE
L OB
DER
M ITTELMÄSSIGKEIT
Kaum ein Roman des 19. Jahrhunderts war so folgenreich und galt als so vorbildlich für eine spezifisch bürgerliche ›Heroik‹ wie Gustav Freytags Soll und Haben (1855). Hans Mayer unterstrich dies im Nachwort zur 1977 im Carl Hanser Verlag erschienenen Neuauflage des Romans, einem Essay, der dem vorliegenden Beitrag seinen Titel liefert. Betonte doch Mayer in seinem – damals keinesfalls dem literaturwissenschaftlichen Konsens folgenden – Aufsatz über Gustav Freytags bürgerliches Heldenleben, dass es bei diesem Autor gerade die absolute Mittelmäßigkeit gewesen sei, die zum Ideal bürgerlichen Heldentums im Zeichen redlicher deutscher Arbeit avancierte. In Freytags abstoßender Karikatur des personifizierten Gegenbilds dieses Ideals, der Figur des jüdischen Antagonisten Veitel Itzig, habe der Erfolgsautor dagegen bereits einen geraden Weg »zu den späteren Judenfratzen eines Julius Streicher« vorgezeichnet.1
1
Hans Mayer: »Gustav Freytags bürgerliches Heldenleben«, in: Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. München, Wien 1977, S. 837-844, hier S. 843.
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Tatsächlich waren intellektueller Müßiggang, Weltbürgertum, Hegelianertum, die aufkommende Arbeiterbewegung sowie progressives politisches Denken im Geist der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 bei Freytag trotz seines vielbeschworenen Liberalismus verpönt. Allerdings handelte es sich bei diesem Liberalismus auch um einen national-deutschen, der sich in seiner besonderen politischen Ausrichtung in grundlegende, geradezu selbstzerstörerische Widersprüche verstrickte. 2 Die genannten philosophischen und politischen Zielsetzungen wurden bei Freytag, ähnlich wie bei dem nationalliberal denkenden Wilhelm Raabe in seinem Roman Der Hungerpastor (1864),3 entweder ganz ausgeblendet oder aber als »negative Totalität«4 perhorresziert. So lautet jedenfalls Mayers Einschätzung, die jedoch am Ende des vorliegenden Beitrags unter Rückgriff auf die Antisemitismus-Analysen von Klaus Holz noch einmal differenziert werden soll: Die Charaktere, die in Soll und Haben für die von Freytag abgelehnten Orientierungen stehen, sind in ihrer Negativität nicht monolithisch als ›Totalität‹ in eins zu setzen. Dabei handelt es sich vor allem um Juden, Polen und Adelige, und ihre jeweilige Einstufung im Raster der Feindbilder, das Freytag entwirft, ist präziser zu analysieren. Sehr wohl aber trifft Mayers Einschätzung zu, die positive Heldenfigur Freytags als Zentrum einer unangreifbaren, hegemonialen ›Mittelmäßigkeit‹ zu begreifen:
2
Siehe dazu Christine Achinger: »Antisemitismus und ›Deutsche Arbeit‹ – Zur Selbstzerstörung des Liberalismus bei Gustav Freytag«, in: Nicolas Berg (Hg.): Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen (= Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, Band VI, 2008). Leipzig 2011, S. 361-388.
3
Vgl. Georg Lukács: »Wilhelm Raabe« (1940), in: Hermann Helmers (Hg.): Raabe in neuer Sicht. Stuttgart, Berlin, Köln 1968, S. 44-73, hier S. 50: »Als begeisterter Patriot nimmt er an allen Bewegungen, die die nationale Einheit fördern, teil (tritt 1860 in den kleindeutschen ›Nationalverein‹ ein), begeistert sich für die preußischen Siege von 1866 und 1870/71, die die nationale Einheit verwirklichen, und bleibt auch weiter […] ein treu abstimmender Anhänger der Nationalliberalen Partei, der Partei Bismarcks und der Hohenzollern.« Lukács klassifiziert Raabe aufgrund dessen auch als »zutiefst volkstümliche[n] Schriftsteller« (ebd., S. 70).
4
Mayer: Freytags bürgerliches Heldenleben (Anm. 1), S. 837.
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Die bürgerliche Welt war eine Totalität der Mitte, wobei man, in unbewußter Nachahmung einer Formel des Aristoteles, diese Mitte an sich als moralischen Wert postulierte. Der Begriff der Mesotes hatte in der aristotelischen Ethik die Funktion, den moralischen Wert als eine Vermeidung aller extremen Haltungen zu verstehen. Mut ist zu definieren als Vermeidung sowohl der Tollkühnheit wie der Feigheit. […] Die Mitte: das ist der deutsche, wirtschaftlich arbeitende Bürger. Alles ist hier als positiver Wert definiert: deutsch, bürgerlich, kaufmännisch.5
Diese Definition eines spezifischen Heroismus, der sich gerade auf die Vermeidung aller möglichen Eigenschaften gründete, die man Heldenfiguren bis zum 18. Jahrhundert traditionell zugewiesen hatte,6 avancierte im 19. Jahrhundert zum literarischen Erfolgsmodell und wurde deshalb auch in Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor abermals aufgegriffen, der im Folgenden als weiterer literarischer Prototyp dieser gesellschaftlich offensichtlich in hohem Maße anschlussfähigen Vorstellung mit untersucht werden soll. Damit werden soziologische und politische Aspekte in den Blick genommen, deren Implikationen bis heute noch gar nicht hinreichend in ihrer tatsächlichen Tragweite analysiert worden sind: Bestimmte Elemente der effektiven Ideologie, die in Freytags und Raabes Romanen ihren Ausdruck fand bzw. mit begründet wurde, um ihrerseits aufgrund ihrer hohen Emotionalisierungskraft im Medium der Literatur soziokulturell wirksam zu werden, überdauerten noch die Wende zum 20. Jahrhundert, das »Dritte Reich«, die Nachkriegszeit, ja sogar die Jahrtausendwende und das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Die Kontinuität dieser bei Freytag festgeschriebenen ›Werte‹ verwundert insofern, als die antisemitischen und kolonialen Ordnungen, die sein prototypischer Roman Soll und Haben im Zusammenhang mit der besonderen Tugend deutscher Arbeit feiert – darunter der symbolische Sieg seines tüchtigen Helden Anton Wohlfart über den korrupten jüdischen Bösewicht Veitel Itzig sowie die glückende ›Kultivierung‹ der angeblich so ›unzivili-
5
Ebd., S. 838.
6
Vgl. Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010, S. 43-61.
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sierten‹ »Polenwirtschaft«7 durch Wohlfart und den Ausnahme-Adeligen Fritz von Fink –, spätestens im 20. Jahrhundert durch Auschwitz und den NS-Vernichtungskrieg im Osten Europas endgültig diskreditiert worden sind. Versuchte man doch in den Jahren 1939 bis 1945, jene »polnische Wirtschaft«8 oder auch »Polakenwirtschaft« (SH 324),9 als die sie schon bei Freytag explizit auftaucht, inklusive der sowjetischen, die man wiederum als besondere ›Brutstätte‹ der ›jüdischen Weltverschwörung‹ begriff, buchstäblich zu liquidieren. Der mörderische Plan, durch einen bedingungslosen Weltanschauungskrieg ›anständiger‹10 und ›ganz normaler‹11 bürgerlicher ›Helden‹ deutsche Buchhaltertugenden und ›deutsche Ordnung‹ bis weit in die endlosen Räume Russlands hinein einzuführen, scheiterte allerdings an der Widerstandskraft der Roten Armee. Um es mit den diplomatischen Worten Hans Mayers zu umschreiben: Es ist anders gekommen. Als man, getreu solchen Maximen des Kolonialismus, auch noch ganz Polen und das Getreide der Ukraine veredeln wollte, trat eine Wendung ein. Polnische Germanisten arbeiten jetzt mit den Bücherschätzen der
7
Vgl. dazu Hans J. Hahn: »Die ›Polenwirtschaft‹ in Gustav Freytags Roman Soll und Haben«, in: Florian Krobb (Hg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 239-254.
8
Vgl. Freytag: Soll und Haben (Anm. 1), S. 674. Anton Wohlfarts Kamerad Karl formuliert hier deutlich, welchen ›Wert‹ diese Wirtschaft im Ansehen der deutschen Kolonisatoren tatsächlich hat: »Jetzt aber auch eine Bitte an Sie, denken Sie auch an sich selbst, Herr Wohlfart; diese ganze polnische Wirtschaft hier und da draußen ist nicht wert, daß Sie Ihr Leben dafür in die Schanze schlagen«. Im Folgenden werden Zitate aus dem Roman im Fließtext mit der Seitenzahl hinter der Sigle SH in Klammern nachgewiesen.
9
Hier äußert der Vater Karls, der einfältige und zugleich ›grundehrliche‹ Auflader Sturm: »Wir geben nicht so viel auf die ganze Polakenwirtschaft.«
10 Vgl. Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt a. M. 2010. 11 Vgl. Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Mit einem Nachwort. Reinbek bei Hamburg 1998 sowie Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Unter Mitarbeit von Michaela Christ. Frankfurt a. M. 2006.
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Breslauer Universitätsbibliothek aus der Zeit des 17. Jahrhunderts. Die Wohlfarts und die Finks sind aus der Odergegend verschwunden. Wer heute den Roman »Soll und Haben« liest, wird konfrontiert mit einer Erfahrung, die nicht mehr kritiklose Einfühlung des Lesenden zuläßt. Müßig zu fragen, ob Gustav Freytag Verantwortung trägt für alles, was dann kam? Ohne weiteres abzutun ist die Frage nicht, denn ein so unermeßlich wirkungsvolles und erfolgreiches Buch hat nicht bloß Erbaulichkeit bewirkt, sondern scheinbare Erkenntnis, die mithalf in der Praxis. […] Gustav Freytag war ein liberaler Mann und auch ein Achtundvierziger mit geringen Vorurteilen. Er ist kein »Vorläufer«. Allein der Nationalliberalismus hat mit Hilfe solcher Thesen von […] bürgerlicher Heroik den Weg vorbereitet für eine Politik, die schließlich alles zerstören sollte: die Abzirkelung der bürgerlichen Mitte nach unten und nach oben; die Solidität des deutschen Kaufmanns; die deutsch-jüdische Lebensgemeinschaft; nicht zuletzt das Deutschtum an Oder und Neiße.12
Ungeachtet dessen wird die längst überkommene Idee spezifischer ›deutscher Tugenden‹, wie sie Freytag im Sinne eines verklärenden bürgerlichen Realismus in Prosa fasste, bis heute nicht etwa nur von Kommentatoren der Spiele der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gebetsmühlenhaft wiederholt. Auch die zu Zeiten Hans Mayers noch endgültig erscheinende Teilung Europas wurde bereits wieder aufgehoben, und Deutschland hat als derzeit finanzkräftigster Staat des Kontinents abermals damit begonnen, die (süd-)östlich gelegenen Staaten mit seiner besonderen Form der ›Buchführung‹ zu durchdringen – wenn auch diesmal nicht mehr so kämpferisch wie Freytags Protagonist mit dem so überaus sprechenden Namen Anton Wohlfart, wie sein abenteuerlustiger Freund Fritz von Fink oder gar ihre umso extremeren, realen Nachfolger aus der SS und der Wehrmacht –, sondern vor allem mit Hilfe der Macht des Euros und der deutschen Niedriglohnbzw. Exportwirtschaft. So konnte es kommen, dass die ökonomische Utopie Freytags in Spurenelementen auch noch mitten in der seit 2008 nicht enden wollenden, weltweiten Finanzkrise weiterhin die neoliberalen Programme der bürgerlichen Parteien in Deutschland bestimmt. Insbesondere gilt dies für die politischen Maximen der CDU und der FDP, wenn auch die Idee des zentralen Werts deutscher Arbeit, wie sie Julian Schmidt in seinem Motto zu Frey-
12 Mayer: Freytags bürgerliches Heldenleben (Anm. 1), S. 844.
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tags Roman so unnachahmlich betont,13 im Grunde in fast allen politischen Lagern ungebrochen weiter gefeiert wird. Vorbildliche Deutsche wünschen sich demnach nichts sehnlicher als Arbeitsplätze, so die nach wie vor in allen Wahlkämpfen virulente Unterstellung, während beispielsweise Griechen und Spanier angeblich immer nur Urlaub machen wollen und stattdessen endlich einmal lernen sollten, zu sparen.14 Vergleichbare Vorstellungen tauchen tatsächlich auch schon 1855 auf – und zwar in einem Roman, der immerhin bis in die 1960er Jahre, also über ein ganzes Jahrhundert, ein absoluter Best- und Longseller sondergleichen war.15 Auch der deutsche Held bei Freytag verzichtet bereitwillig auf jeden überflüssigen persönlichen Genuss und gibt für sich selbst so gut wie gar kein Geld aus. Er leiht es höchstens selbstlos solchen Menschen, die gesellschaftlich über ihm stehen – und zwar zunächst selbst dann, wenn es sich dabei um adelige Nichtsnutze handelt, die alles verspielen. Sein gesamtes Wirken und Schaffen stellt Anton Wohlfart vorbildlich in den Dienst eines angeblich ›gesunden‹ deutschen Marktes sowie deutscher Güter im In- und Ausland. Nicht zuletzt verzichtet er dabei klaglos auf alle gefährdenden Lüste und Laster.
13 »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit. Julian Schmidt.« 14 Siehe dazu insbesondere den Bestseller des populistischen SPD-Mannes Thilo Sarrazin: Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise führt. München 2012. Auch Sarrazin operiert ganz selbstverständlich immer noch bzw. wieder mit dem althergebrachten Stereotyp der tüchtigen, wirtschaftlich kompetenten und fleißigen nordeuropäischen Deutschen und den angeblich undisziplinierten und stets planlos agierenden Südeuropäern. Eine haltlose Konstruktion, die das, was bei Freytag auf die west-östliche Achse projiziert wird, erneut aufgreift und schlicht zu einem kulturellen Nord-Süd-Gefälle umdeutet. Siehe dazu auch den kritischen Artikel von Richard Gebhardt: »Dunkle Winter, levantinische Schläue. Ausflüge in die Meteorologie und die Völkerkunde: Thilo Sarrazin erklärt in seinem neuen Buch die Krise in der Euro-Zone«, in: Jungle World vom 31. Mai 2012, S. 4. 15 Vgl. dazu etwa die Angaben bei Florian Krobb: »Einleitung. Soll und Haben nach 150 Jahren«, in: ders.: 150 Jahre Soll und Haben (Anm. 7), S. 9-46, hier S. 9. Hochrechnungen gehen von 1.222.000 zwischen 1855 und 1965 verkauften Exemplaren aus.
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Wollte man es im Blick auf die genuin ›liberalen‹ Anteile dieser Vorstellungen einmal polemisch ausdrücken, so wäre Gustav Freytag nicht zuletzt wegen des Literarischen Antisemitismus seines erfolgreichsten Romans Soll und Haben als ›Jürgen W. Möllemann‹ des Bürgerlichen Realismus zu krönen. In seiner paradigmatischen Darstellung ›gefährlicher‹ und ›schädlicher‹ Juden, die in Soll und Haben dazu dienen, die abstrakten Seiten des Kapitalismus zu externalisieren, erscheint Freytag aber nicht nur als früher Propagandist einer Weltsicht, die Politiker vom Schlage Möllemanns nach 2000 im Sinne des sekundären Antisemitismus aktualisierten.16 Vielmehr erinnert seine ressentimentgeladene Behauptung der totalen wirtschaftlichen Unfähigkeit und Faulheit anarchisch revoltierender Polen, hinter der sich im Roman die Exorzierung der zeitgenössischen Angst des deutschen Bürgertums vor einer sozialen Revolution im eigenen Lande verbirgt, auch an jenes Vorurteil des gehobenen deutschen Mittelstandes, wie es in Guido Westerwelles 2010 geäußerter Verdammung der ›spätrömischen Dekadenz‹ heutiger Hartz-IV-Empfänger seinen Ausdruck fand. Freytag schrieb seinen Roman jedoch nicht als alarmierter bürgerlicher Beobachter der »Occupy«-Bewegung oder der sozialen Proteste in Griechenland im Jahr 2012, sondern er lebte in einer ganz anderen Epoche. Und doch wird auch schon bei Freytag nicht das System des zu seiner Zeit gerade in seiner ganzen Problematik erkennbar werdenden Kapitalismus als Ursache für die gesellschaftlichen Missstände ins Auge gefasst, um diese daraufhin genauer zu analysieren. Vielmehr wird die Schuld daran auf diejenigen projiziert, die andere Schlüsse aus der Situation ziehen als der smarte ›Manager‹ Anton Wohlfart. Da dies bei Freytag noch dazu im Moment einer internationalen Finanzkrise geschieht, werden diese ›Fremden‹ vom Erzähler des Romans pathologisiert, um sie als Verursacher von Zuständen anzuklagen, die tatsächlich aus weit komplexeren (geo-)politischen und ökonomischen Verhältnissen resultieren. Freytag bezieht sich dabei implizit
16 Zur Definition und Wirkungsweise des sekundären Antisemitismus bei dem FDP-Politiker Möllemann (1945-2003) u. a. siehe Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt a. M., New York 2010, S. 199-219.
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auf historische polnische Ereignisse aus dem Jahr 1846, die beim Erscheinen seines Romans also erst ein knappes Jahrzehnt zurücklagen:17 Der Verkehr stockte, die Werte der Güter und Waren fielen, jeder suchte das Seine zu retten und an sich zu ziehen, viele Kapitalien wurden gekündigt, große Summen, welche in kaufmännischen Unternehmungen angelegt waren, kamen in Gefahr. Niemand hatte Lust zu neuer Tätigkeit, Hunderte von Bändern wurden zerschnitten, welche die Menschen zu gegenseitigem Nutzen durch lange Zeit verbunden hatten. Jede einzelne Existenz wurde unsicherer, isolierter, ärmer. Überall sah man ernste Gesichter, gefurchte Stirnen. Das Land war wie ein gelähmter Körper, langsam rollte das Geld, dies Blut des Geschäftslebens, von einem Teil des großen Leibes zu dem andern; der Reiche befürchtete, daß er viel verlieren werde, der Arme verlor die Möglichkeit, sich auch nur wenig zu erwerben. Die Zukunft erschien plötzlich verhängnisvoll, schwarz, verderblich, wie der Himmel vor einem schweren Gewitter. Das Schreckenswort, »Revolution in Polen« brachte große Wirkungen auch in Deutschland hervor. Es war eine der krampfhaften Zuckungen, welche die Slawenländer in dem letzten Jahrhundert so oft gehabt haben. (SH 321)
Die auffälligen Parallelen zur aktuellen Situation in Europa und der Welt werfen nicht zuletzt die Frage nach einer möglichen Renaissance der populären Rezeption der Romane Freytags und seines Nachahmers Raabe auf. Wurden doch in jüngster Zeit tatsächlich erneut erstaunliche Verteidigungen der kanonisierten Werke dieser beiden Autoren publiziert, die aufhorchen lassen. So schrieb etwa der Jurist und beliebte Romancier Bernhard Schlink im Jahr 2011 im Merkur, der Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken, in einem Beitrag mit der suggestiven Überschrift »Die Kultur des Denunziatorischen« über einen gewissen Sammelband mit dem Titel »150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman«:18 »Mit heutigem moralischem Maßstab vermessen, erweisen sich Freytags Judenbild, Polenbild, Frauenbild und Amerikabild als gestrig und moralisch defizitär.« Dies dürfe, so lässt Schlink nach dieser Konzession
17 Vgl. dazu Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München 2007, S. 139 f. 18 Ohne genauere Angaben zu machen, bezieht sich Schlink hierbei auf den differenzierten und instruktiven Sammelband von Florian Krobb (Anm. 7).
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jedoch durchblicken, dem Autor Freytag und letztendlich auch seinem Roman überhaupt nicht angekreidet werden. Werde in dem genannten Sammelband zwar »gelegentlich gesehen, dass Freytag weder ein Antisemit noch ein Nationalist war und dass seine Bilder Spannungen und Brüche erkennen lassen«, so hielten die Beiträge von Krobbs Publikation jedoch dem Anspruch nicht stand, den historischen Ort von Freytags Werk in angemessener Weise zu ›vermessen‹.19 Im Kontext seines Essays, auf dessen weiteren Inhalt an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, bringt Schlink die neuere Freytag-Forschung also kurz gesagt in den Verdacht, Teil einer hegemonial gewordenen »Kultur des Denunziatorischen« zu sein.20 Auch der Historiker Götz Aly wäre hier zu nennen. In seiner vielbesprochenen Abhandlung Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933 nimmt er Freytag und auch Raabe im Rahmen polemischer Schuldzuweisungen, die besonders die angeblich verdammungswürdige Rolle der Sozialdemokratie in der Geschichte des modernen Antisemitismus betreffen, empört in Schutz. Dies unternimmt er mittels biografischer und werkgenetischer Argumente gegen Vorwürfe, wie sie auch Schlink zurückweist: Der als »angebliche[r] Antisemit« denunzierte Wilhelm Raabe habe die böse Judenfigur Moses Freudenstein alias Theophile Stein in seinem Roman »Der Hungerpastor« nun einmal nach dem Vorbild einer ›realen‹ jüdischen ›Renegaten‹-Figur, dem »von allen Liberalen gehassten Oberzensor« Dr. Joël Jacoby (1807–1863) modelliert – so der alte Einwand Horst Denklers, auf den sich der literaturwissenschaft-
19 Bernhard Schlink: »Die Kultur des Denunziatorischen«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 745 (6/2011), S. 473-486. 20 Vgl. dazu Hans-Joachim Hahn: »Kulturen des Denunziatorischen. Oder: ›In richtig funktionierenden Institutionen versteht sich das Moralische von selbst‹«, in: literaturkritik.de 05/2012. Online abrufbar unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16559&ausgabe=201205; sowie Jan Süselbeck: »Der gemeine Jurist. Bernhard Schlink umspielt mit seinen ›Gedanken über das Schreiben‹ und seinem Essay über die ›Kultur des Denunziatorischen‹ revisionistische Denkfiguren«, in: literaturkritik.de 05/2012. Online abrufbar unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16560&ausgabe=201205.
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liche Laie Aly hier beruft.21 Alle anderen Judenfiguren im Hungerpastor seien – auf dieses Argument wird weiter unten noch genauer einzugehen sein – dagegen jedoch »positiv gezeichnet«, und außerdem habe Raabe in seinem Leben später Texte geschrieben, in denen er sich »demonstrativ vor der mosaischen Lebenswelt« verneigt habe – die Erzählung Holunderblüte (1863) und die Novelle Höxter und Corvey (1875).22 Auch Gustav Freytag werde heute »immer wieder zu den Vorläufern des Rassenhasses gerechnet«, obwohl er sich ab 1891 aktiv im »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« engagiert und seinem »jüdischen Freund Jacob Kaufmann« im Jahr 1871 einen »wunderbaren Nachruf« gewidmet habe, moniert Aly. Gewiss habe Freytag in seinem Kaufmannsroman Soll und Haben »mit Veitel Itzig die Figur eines habgierigen Juden« eingeführt,
21 Vgl. Horst Denkler: »Das ›wirckliche Juda‹ und der ›Renegat‹. Moses Freudenstein als Kronzeuge für Wilhelm Raabes Verhältnis zu Juden und Judentum«, in: ders.: Neues über Wilhelm Raabe. Zehn Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller. Tübingen 1988, S. 66-80. Bereits Robert C. Holub kritisierte diese These dahingehend, dass sie überhaupt nicht schlüssig belegbar sei und dass eine Berufung auf einen etwaigen ›Realismus‹ von Raabes Text als ›Schlüsselroman‹ den antisemitischen Aspekt der Darstellung darüber hinaus auch gar nicht zu relativieren vermöge. Vgl. ders.: »Raabe’s Impartiality: A Reply to Horst Denkler«, in: The German Quarterly 60 (1987), S. 617-622. Neu auf den Punkt gebracht und noch einmal kritisch weitergedacht hat diese Kritik Jörg Thunecke: »›Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten‹: Erwiderung auf Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor in Wilhelm Jensens Die Juden von Cölln«, in: Sigrid Thielking (Hg.): Raabe-Rapporte. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Zugänge zum Werk Wilhelm Raabes. Wiesbaden 2002, S. 57-80. Thunecke macht z. B. eindringlich darauf aufmerksam, dass die bei Denkler und anderen ebenfalls gerne gewählte Verteidigungsstrategie, Raabe durch ›philosemitische‹ Texte aus seinem restlichen Werk zu entschulden, keinen Rechtfertigungsgrund dafür darstelle, im Hungerpastor ausgerechnet einen Juden derart negativ darzustellen. Wie bei einem Strafverfahren könne der Verweis auf positive Tätigkeiten des Angeklagten niemals zu einem Freispruch führen und den Autor »nicht vollständig entlasten für das, was er im Hungerpastor ›verbrochen‹ hat!« (Ebd., S. 61 f.) 22 Vgl. Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933. Frankfurt a. M. 2011, S. 3 f.
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wie der Historiker einräumt. Doch Aly antwortet auf diese unausweichliche Feststellung mit der überraschend offensiven rhetorischen Frage: »Warum denn nicht in einem unendlich reichhaltigen Werk?«23 Aly berührt mit diesem Hinweis auf die angebliche Komplexität von Soll und Haben einen wichtigen Punkt, der allerdings kritischer betrachtet werden muss: Die Heldenfiguren Freytags und Raabes sind tatsächlich nicht ohne ihr kontrastierendes Figuren-Umfeld zu analysieren – und umgekehrt. Eine kulturwissenschaftlich und durch Theoreme der Postcolonial Studies bestimmte bzw. an Prinzipien der Interkulturalität orientierte Philologie muss solche literarischen Konstellationen auf die in ihnen vermittelten Vernetzungen von Eigen- und Fremdbildern hin untersuchen. So sind in Freytags Soll und Haben die verschiedenen Differenzbildungen zwischen dem deutschen Bürgertum und seinen literarischen Gegenbildern des Adels, der Juden, der Polen und der Amerikaner sowie die dadurch konstruierten interkulturellen Macht- und auch Geschlechterkonstellationen eingehender zu betrachten.24 Die interkulturelle Literaturwissenschaft versucht darüber hinaus, in selbstreflexiver Weise jene »Erzeugungsregeln von Grenzziehungen und damit die Ein- und Ausschlussbewegungen zu untersuchen, nach denen sich das Profil der Wissenschaften formiert«, um das ›Fremde‹ nicht mehr nur als eine festgeschriebene Eigenschaft, sondern als »relationale Größe« zu begreifen.25 Einige dieser Aspekte sollen im Folgenden genauer
23 Ebd., S. 34. Dies wurde Aly auch prompt in der Berliner Zeitung vorgeworfen, die sein Buch verriss – seine »Ehrenrettung« im Dienste Freytags sei »mehr als fragwürdig«. Vgl. Andreas Mix: »Der Neid der Ahnherrenrasse«, in: Berliner Zeitung vom 11. August 2011. Online abrufbar unter: http://www.berliner-zeitung.de/literatur/antisemitismus-der-neid-der-ahnherrenrasse,10809200,9385720. html. Aly beendete nach dieser Publikation aus Protest seine eigene Tätigkeit als Kolumnist dieser Zeitung. 24 Vgl. Andrea Geier: »Wer soll Gustav Freytags Soll und Haben lesen? Zu den kanonischen Qualitäten eines antisemitischen Bestsellers«, in: Herbert Uerlings, Iulia Patrut (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld 2012, S. 237-260, hier S. 237. 25 Mona Körte: »›Juden und deutsche Literatur‹. Die Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik«, in: Werner Bergmann, Mona Körte (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Berlin 2004, S. 353-374, hier S. 373.
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herausgearbeitet werden, um die Funktion der Heldenfiguren bei Freytag und Raabe genauer zu profilieren.
II. N ICHT BESONDERS GELEHRT : ANTON W OHLFART ALS P ROTOTYP DES BÜRGERLICHEN H ELDEN IM 19. J AHRHUNDERT Gustav Freytags beispielloses Erfolgsbuch Soll und Haben folgt der Tradition des Bildungsromans und erzählt die Lebensgeschichte zweier Schulfreunde: Anton Wohlfart reift zum nüchternen und selbstdisziplinierten Kaufmann im Handelshaus T. O. Schröters heran, während sein Gegenspieler Veitel Itzig in seiner ungezügelten Geldgier die ›negative Seite‹ des abstrakten Kapitalismus verkörpert und in dieser Rolle viel Unheil anrichtet, ehe er in einer Szene, die Elemente des Schauerromans mit Aspekten früher Kriminalgeschichten verbindet, in einem Fluss hinter der Diebes-Absteige des dubiosen Herbergsvaters Löbel Pinkus ertrinkt. Das strenge manichäische Weltbild des Romans, das die Wut des Lesers auf die in ihm auftretenden ›jüdischen Bösewichte‹, vor allem aber Veitel Itzig, geradezu herausfordern muss, wurde in der Forschung immer wieder dahingehend relativiert, dass es etwa mit Bernhard Ehrenthal, einem gebildeten jüdischen Philologen, immerhin auch einen ›positiveren‹ Charakter in Soll und Haben gebe.26 So hob etwa Dieter Kafitz Ende der 1970er Jahre – kurz nach dem Erscheinen von Hans Mayers oben zitiertem Essay – hervor, die Figur Bernhards stelle nach den Kategorien jüdischer Assimilation ein »Endprodukt der Germanisierung« dar.27 Nicht gesehen wurde in dieser fragwürdigen Argumentation, die den assimilierten Juden zum einzig guten Juden stilisiert, der Aspekt, dass Bernhard, der Sohn des zwielichtigen jüdischen Geschäftsmanns Hirsch Ehren26 So etwa auch bei Hans Otto Horch: »Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe«, in: Herbert A. Strauss, Christhard Hoffmann (Hg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1985, S. 140-171, hier S. 148-150. 27 Dieter Kafitz: Figurenkonstellationen als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Dargestellt an Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Freytag, Spielhagen, Fontane, Raabe). Kronberg i. Ts. 1978, S. 75.
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thal, als Inbild des ›jüdischen Intellektuellen‹ im Weltbild des Romans selbst eine negativ konnotierte Figur darstellt und so von vornherein als jemand geschildert wird, der in seiner geistigen Versponnenheit verzagt. Gerade aufgrund seiner emphatischen Lektüre orientalischer Liebeslyrik ist Bernhard zu zielgerichteten Handlungen (übrigens auch in seiner unglücklichen und aussichtslosen Schwärmerei für die Adelstochter Lenore von Rothsattel) offensichtlich überhaupt nicht in der Lage. Damit wird er als weitere Gegen- bzw. Kontrastfigur zum Helden Wohlfart aufgebaut, die diesen in einem umso helleren Licht erstrahlen lassen soll. Ähnlich wie im Fall des Protagonisten Hans Unwirrsch in Raabes Hungerpastor ist auch bei Freytag die Hauptfigur Anton Wohlfart durch eine gewisse intellektuelle Ambitionslosigkeit gekennzeichnet, was im Erzähldiskurs beider Romane jedoch keineswegs negativ bewertet wird. Deshalb ist diese Beobachtung für die Charakterisierung ihrer spezifischen Heroismus-Ästhetik zentral. Mit Blick auf Bernhard Ehrenthals Bücher bekennt etwa Anton lakonisch: »Das ist für mich zu gelehrt.« (SH 238) Es ist wohl kein Zufall, dass der heterodiegetische Erzähler an dieser Stelle eine sofortige, zusätzliche Externalisierung dieser ›gelehrten‹ Schriften vornimmt, indem er sie als Dokumente einer besonderen ›Fremdheit‹ klassifiziert: »Es waren Ausgaben orientalischer Werke.« (Ebd.) Im Kontext eines Romans, in dem bereits jenseits der Grenze zu Polen jede Kultur vergeblich gesucht wird, ist das sicher nicht unbedingt als Ausweis geistiger und zivilisatorischer Hochwertigkeit zu lesen. Bemerkenswert ist zudem, wie hier die jüdische Gelehrtheit Bernhards von Freytags Erzähler durch ihre Assoziation mit noch viel weiter entfernten Kulturräumen zusätzlich ›entrückt‹ und auch für den Leser als absolut ›unverständlich‹ vorgestellt wird: Durch das Hebräische sei Bernhard wie selbstverständlich auf die »asiatischen Sprachen« gekommen, heißt es da, als er ein »Bündel seltsam aussehender Manuskripte« hervorkramt, deren Einband »mit Goldfaden fremdartig durchwirkt war« (ebd.). Der Sympathieträger Anton muss an der Stelle auch gleich konsterniert einräumen, »er könne nicht einmal angeben, welcher Sprache die Schriftzeichen angehörten« (ebd.). Darauf liest Bernhard seinem Freund, der langsam wirklich nicht mehr folgen kann, auch noch »schnell und ungelenk« aus persischer Liebeslyrik vor, wobei es Anton angesichts des Pathos des Vorlesers »komisch« zumute wird. Damit soll auch beim Rezipienten die Bewunderung für die Belesenheit Bernhards bereits merklich eingeschränkt werden. Der jüdische Privat-
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gelehrte wird sodann unter Hinzufügung eines weiteren orientalistischen bzw. exotistischen Klischees östlicher Verruchtheit und Décadence – um nicht zu sagen: der Degeneration – sogar mit einem erotomanen Alkoholiker verglichen: »Bei diesen Worten sah er begeistert vor sich, wie ein Mann, der alle Tage fünf bis sechs Flaschen Schiraswein trinkt und alle Abende seine Suleika küßt« (SH 239). In dieser eingestreuten Beschreibung des Erzählers deutet sich wie nebenbei der Aspekt der Bernhard zugeschriebenen bloßen Imagination eines solchen Liebesaktes an: »Suleika« wird, so ahnt man als Leser an dieser Stelle, für Bernhard nichts weiter als eine bloße Träumerei bleiben. Auch als ›impotente‹ Männerfigur wird die Figur deshalb schließlich buchstäblich hinfällig, und Bernhard kann als ›nicht lebensfähiger‹ Jude bald aus der Handlung verabschiedet werden, indem er nach längerer Krankheit stirbt. Dieses Siechtum ist es, was sich dem Leser hauptsächlich einprägt.28 Deshalb ist Andrea Geiers Feststellung zuzustimmen, wonach es den jüdischen Figuren in dem Roman, anders als etwa dem Adeligen Fritz von Fink, nicht möglich ist, ihre Identität zu wechseln, um ins national-bürgerliche Lager zu gelangen: »Völlig unabhängig davon, wie sich die Einzelnen verhalten, ist ihr Untergang unabwendbar«, es bleibe ihnen »kein Ort, der Integration ermöglichte«.29 Kurz: Innerhalb der »strategisch ineinander verwobene[n] Differenzkonstruktionen« des Romans »werden ›jüdische‹ Figuren aus-
28 Vgl. dazu Geier: Freytags Soll und Haben (Anm. 24), S. 251: Freytag prophezeie einen »›sozialen Tod‹ des Judentums insgesamt«, wobei sich die »NichtIntegrierbarkeit« der Juden in das nationale Projekt des Bürgertums in der »Todesverfallenheit« Bernhard Ehrenthals manifestiere: »Juden stehen für eine gesellschaftliche Gruppe, die als ›krank‹ und schwach und damit potentiell die Gesellschaft krankmachend imaginiert wird.« Auch Hans-Joachim Hahn schreibt in seinem Beitrag: »Antisemitismus und Antislawismus in Gustav Freytags Soll und Haben (1855). Ein deutscher Erinnerungsort aus Schlesien«, in: Marek CzapliĔski, Hans-Joachim Hahn, Tobias Weger (Hg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005, S. 122-137, hier S. 134, Bernhard werde als »nicht lebensfähig« dargestellt und vermittele »als Sinnbild für die jüdisch-deutsche Assimilation« deren Scheitern: »Juden, so wie der Roman sie zeichnet, sind nicht in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren.« 29 Geier: Freytags Soll und Haben (Anm. 24), S. 250.
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schließlich als Gegenbilder eingesetzt«, so Geier.30 Freytags Text folge hier sogar bereits dem Modell »genealogisch-biologistischen Denkens« zukunftsträchtiger oder eben nicht überlebensfähiger Familienkonstellationen und Geschlechterkombinationen.31
III. D IE V OGELSCHEUCHE DER S LAWENKRIEGE : ANTON W OHLFART REITET GEN O STLAND Zentral ist bei Freytag auch seine formale »Entscheidung für den ideologisch funktionalisierten Bildungsroman«, dessen »strikte Erzählkontrolle«32 den Leser bevormundet und den aufklärerischen Ursprung der Gattung durch den vorhersehbaren Handlungsverlauf sowie die eindimensionale Botschaft des Textes negiert.33 Freytag benötigt diese rigide gehandhabte Ästhetik, die abermals ganz auf die Darstellung eines Heroismus der Mittelmäßigkeit hin zugeschnitten ist, zur durchgängigen Fokussierung auf seinen biederen Kaufmanns-Helden aus dem Kontor T. O. Schröters. Allerdings kann Freytags Roman dabei nicht ganz kaschieren, dass »tanzende polnische Aristokraten mit verschwörerischen Neigungen« ein interessanteres Sujet abgeben als »Kaffee und Kuchen bei Schröters«, wie es Christina Ujma so treffend formuliert hat.34 Christine Achinger hat zudem herausgearbeitet, dass Freytag die laut Hegel in der Moderne bereits unwiederbringlich vergangene »Heroenzeit«, in der das Individuum noch nicht von den Produkten seines Handelns ent30 Ebd., S. 254. 31 Ebd. sowie ebd., S. 257. 32 Alexander Ritter: »Der patriotisierte Roman als gesellschaftlicher Kassensturz: Gustav Freytags paratextuelle Fesselung von Soll und Haben ans ideologische ›Leitseil […] im Reiche der Poesie als Demimonde‹«, in: Krobb: 150 Jahre Soll und Haben (Anm. 7), S. 47-66, hier S. 61. 33 Vgl. ebd., S. 64: »Freytag, der Ideologe als moralisierender Aufklärer, verkennt auf fatale Weise die mentale Manipulation und Gefährdung seiner Leser, weil er die Prinzipien der Aufklärung preisgibt.« 34 Christina Ujma: »Bürgertum und Außenseiter in Freytags Soll und Haben und Fanny Lewalds Die Familie Darner«, in: Krobb: 150 Jahre Soll und Haben (Anm. 7), S. 171-186, hier S. 182.
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fremdet war, in einem ausufernden Exkurs seiner Romanhandlung wieder aufleben lässt, um Anton Wohlfart auf überzeugende Weise zum ›Manne‹ heranreifen zu lassen – und zwar in jener ausführlichen Polen-Episode auf dem Gut der Familie von Rothsattel zu Rosmin, auf die auch Ujma verweist.35 »Ein kriegerisches Feuer entbrannte in der deutschen Kolonie« – so wird die alarmierende Zäsur im Text umschrieben, die diese Passage einläutet. Und schon tritt Wohlfart dem verblüfften Leser doch noch in einer seltsam martialischen Montur entgegen, die der beschriebenen »Totalität der Mittelmäßigkeit« kaum noch angemessen erscheint: Auch Anton umgürtete sein Herz mit dem Panzer kriegerischen Zornes; er heftete eine Kokarde auf die Mütze, und seine Rede erhielt einen Anflug von militärischer Strenge; er trug seit dem Tage von Rosmin ungeheure Wasserstiefel, und sein Tritt fiel schwer auf die Stufen der Treppe. (SH 611)
Freytag begegnet diesem offensichtlichen Bruch mit den Maximen des Maßhaltens im Text mittels einer Ironisierung durch den Adeligen Fritz von Fink, auf den am Ende alle Aspekte des martialischen, abenteuerlichen Aktionismus vollends übergehen, um Anton wieder zu entlasten und zurück ins saubere Heim des Handelshauses T. O. Schröters bzw. in die offenen Arme seiner braven Braut Sabine entlassen zu können: »Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich dich als rot und schwarz bemalten Indianer, eine Streitaxt in der Hand und Skalplocken an der Hosennaht, wiederfinden würde, ich hätte den Mann für wahnsinnig erklärt.« (SH 621 f.) Fink, der zu diesem Zeitpunkt der Handlung buchstäblich aus dem Wilden Westen Amerikas nach Europa zurückgekehrt ist, um das öde deutsche Kolonialgebiet im Osten mit erschließen zu helfen, fasst diese spöttische Bewunderung für seinen Freund Anton einige Kampfhandlungen später noch einmal so: »Du wirst ab jetzt als Scheuche verschrieben werden in allen Slawenkriegen.« (SH 692) Bezeichnend sind an dieser prekären Stelle des Romans, die seine schlichte Botschaft eines bescheidenen Heroismus der Mittelmäßigkeit
35 Vgl. Christina Achinger: »Prosa der Verhältnisse und Poesie der Ware. Versöhnte Moderne und Realismus in Soll und Haben«, in: Krobb: 150 Jahre Soll und Haben (Anm. 7), S. 67-86, hier S. 76-83.
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infrage zu stellen droht, aber auch die Geschlechterkombinationen, die der Autor als allein angemessene zulässt. Während Wohlfart die blasse Sabine ehelicht, deren dringendste Sorge die Pflege der Servietten im Hause Schröter darstellt, findet Fink sein Glück mit der besser zu ihm passenden Adelstochter Lenore von Rothsattel, deren kriegerischer Eifer als anmutige Kämpferin36 ihren früheren Verehrer Anton schließlich abstößt. Auch hier bleibt der Roman also trotz einiger zwischenzeitlicher Ambivalenzen am Ende bei einer klaren Geschlechtereinteilung, welche die ›Totalität der Mitte‹ wieder herstellen hilft, indem Antons Reaktion auf den kämpferischen Übermut Lenores wie folgt beschrieben wird: Sie hatte ihm nie so wenig gefallen. Wenn sie wild mit den anderen vorsprengte, ihr Pferd herumriß und mit dem Säbel in die Luft schlug, wenn ihr helles Haar sich im Winde löste und ihr Auge vor Kampflust strahlte, so war sie hinreißend schön. Aber was Anton beim leichten Spiel entzückt hatte, das kam ihm jetzt, wo diese Übungen bitterer Ernst waren, sehr unweiblich vor; er mußte an eine Kunstreiterin denken. Einst hatte gerade diese Ähnlichkeit sein ganzes Herz gefangengenommen, heut erkältete sie ihm die Seele. (SH 616)37
Dennoch bleibt der Roman an der Stelle immer noch eine plausible Erklärung für Anton Wohlfarts eigene Abweichung vom bescheidenen, nüchternen Kaufmannsethos schuldig. Die Begründung für die plötzlichen para-
36 Siehe zu diesem Themenkomplex vor allem die Studie von Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 6). 37 Zur komplementären, aber positiv gewendeten Wahrnehmung des Helden Fink durch Lenore, welche den Übergang ihrer Liebe von Anton auf den Adeligen markiert und die so klingt wie eine triviale Charakterisierung in einem KarlMay-Roman um 1900, siehe SH 668: »Wo er auch war, für ihn gab es keine Gefahr. Das Gewehr, das nach ihm zielte, schlug ein niederfallender Baumast in den Grund; das Messer, das gegen ihn gezückt wurde, zerbrach wie ein Span Holz, bevor es ihn traf; der Mann, der gegen ihn eindrang, mußte straucheln und fallen, ehe er sein stolzes Haupt berührte. Er war fest gegen jede Gefahr, und er war fest gegen jede Furcht; er kannte keine Sorge, keinen Schmerz, ach, er fühlte nicht wie andere Menschen. Frei erhob er sein Haupt, und heiter war sein Auge, wo alle andern gedrückt zur Erde sahen. Keine Schwierigkeit schreckte ihn, kein Hindernis verlegte ihm den Weg.«
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militärischen Ambitionen des Protagonisten in Polen folgt schließlich in jener vielzitierten, aber selten ausführlich wiedergegebenen Ansprache des Protagonisten, die seinen tapferen Einsatz im Osten zum aufopferungsvollen Notwehr-Kampf um die Kultur in Europa, um nicht zu sagen als zivilisatorische Wohltat für die gesamte Menschheit stilisiert. Der maßvoll und besonnen handelnde deutsche Mittelständler erkennt in diesem speziellen ›Ausnahmezustand‹ eine heroische Mission, die ihn erst richtig an sein Vaterland zu binden vermag: »Sieh«, fuhr Anton fort, »in einer wilden Stunde habe ich erkannt, wie sehr mein Herz an dem Lande hängt, dessen Bürger ich bin. Seit der Zeit weiß ich, weshalb ich in dieser Landschaft stehe. Um uns herum ist für den Augenblick alle gesetzliche Ordnung aufgelöst, ich trage Waffen zur Verteidigung meines Lebens, und wie ich hundert andere mitten in einem fremden Stamm. Welches Geschäft auch mich, den einzelnen, hierher geführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächern Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir, auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Kredit. Was die polnischen Gutsbesitzer hier in der Nähe geworden sind […] – jeder Taler, den sie ausgeben können, ist ihnen direkt oder indirekt durch deutsche Intelligenz erworben. Durch unsere Schafe sind ihre wilden Herden veredelt, wir bauen die Maschinen, wodurch sie ihre Spiritusfässer füllen; auf deutschem Kredit und deutschem Vertraun beruht die Geltung, welche ihre Pfandbriefe und ihre Güter bis jetzt gehabt haben. Selbst die Gewehre, mit denen sie uns jetzt zu töten suchen, sind in unsern Gewehrfabriken gemacht, oder durch unsere Firmen ihnen geliefert. Nicht durch eine ränkevolle Politik, sondern auf friedlichem Wege, durch unsere Arbeit, haben wir die wirkliche Herrschaft über dieses Land gewonnen. Und darum, wer als ein Mann aus dem Volk der Eroberer hier steht, der handelt feig, wenn er jetzt seinen Posten verläßt.« (SH 624 f.)
Was die Macht der Ökonomie betrifft, so wird hier von Wohlfart so getan, als sei diese mit dem Frieden gleichzusetzen – »ganz so, als könnten nicht auch ökonomische Differenzen politisiert und zum Kriegsgrund werden«, wie Niels Werber bereits zu jener früheren Stelle im Roman bemerkte,38 an
38 Werber: Geopolitik der Literatur (Anm. 17), S. 155.
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der Schröter den Gehilfen Anton noch väterlich bittet, seine Pistolen besser nicht mit nach Polen zu nehmen, um den dortigen Insurgenten zu zeigen, »daß uns der Kriegsapparat nichts angeht« (SH 334). Mit den zitierten Worten seines bürgerlichen Helden Anton Wohlfart, deren geopolitische Botschaft von Freytag sicher auch als eine intendierte und bewusste Forderung an eine deutsche Zukunft im Osten gedacht war, nimmt der schlesische Autor das vorweg, was man später einmal als Entstehung der ›deutschen Volksgemeinschaft‹ halluzinieren sollte. Damit wird Soll und Haben laut Werber zu einem »geobiopolitischen« Roman:39 Man habe durch den Krieg gegen die Slawen an »Leben gewonnen«, konstatiert Freytags Protagonist, um zu unterstreichen, dass aus dem heldischen Geiste der Partisanen im Feindesland, also gerade in der Erfahrung exterritorialen Handelns, ein ganz »neues deutsches Volk entstanden« sei. Wer mag sagen, wann der Kampf zwischen ihnen [den Polen, J. S. ] und uns beendigt sein wird, lange werden wir den häßlichen Erscheinungen fluchen, welche dieser Streit hervorruft. Wie er aber auch enden mag, davon bin ich überzeugt, wie von dem Lichte dieses Tages, der Staat, den [die Deutschen, J. S.] geschaffen, wird nicht wieder in die Trümmer zerschlagen werden, aus denen er herausgewachsen. […] Noch sind wir als Volk arm, noch ist unsere Kraft schwach, aber wir arbeiten uns herauf, mit jedem Jahr wächst mit unserer Arbeit Intelligenz, Wohlstand und das Gefühl, daß einer zum andern gehört. Und in diesem Augenblick fühlen wir in dem Grenzlande uns zueinander wie Brüder. Wenn die weiter drinnen ärgerlich miteinander streiten, wir sind einig, und unser Kampf ist rein. (SH 625 f.)
Damit wird die genuine Gefährlichkeit von Freytags Heroismus der Mittelmäßigkeit in ihrer Paradoxie noch einmal deutlich: Gerade der ›anständige‹ deutsche Biedermann neigt hier bereits in auffälligem Maße dazu, sich problem- und bedenkenlos Gewaltexzessen hinzugeben, sobald ihm diese mittels gewisser Feind- und Fremdheitskonstruktionen plausibel und geboten erscheinen. Derartige Zuschreibungen erlauben es ihm, die heimische Buchhalterstube spontan zu verlassen, um mit der Waffe in der Hand die eigene Nation bzw. gleich die gesamte Welt zu retten: Schon bei Freytag greift der ›ganz normale Deutsche‹ wie selbstverständlich zur Pistole, wenn
39 Vgl. hierzu ebd., S. 169.
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es darum geht, seine Weltanschauung ökonomischer und arbeitsamer ›Anständigkeit‹ als ›Totalität‹ zu verteidigen.
IV. ANTIINTELLEKTUALISMUS IST T RUMPF : H ANS U NWIRRSCHS H EROISMUS DER AMBITIONSLOSIGKEIT Wilhelm Raabe schuf mit seinem Roman Der Hungerpastor ein Werk, das in seinem klischeehaften Aufbau dem von Freytag in vieler Hinsicht gleicht und schon zu Lebzeiten des Autors vor allem bei jüdischen Lesern für Kritik sorgte.40 Raabe räumte sogar selbst ein, dass ihm Soll und Haben als Vorbild für seinen Roman gedient habe.41 Dass sich dieser einzige wirkliche Erfolg in seinem Œuvre42 erzählerisch an demjenigen Freytags orien40 Vgl. etwa die dokumentierten Leserbriefe bei Horst Denkler: »Verantwortungsethik. Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und Judentum«, in: ders., Hans Otto Horch (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Zweiter Teil. Tübingen 1989, S. 148-168, hier S. 163-165. Dort beschwert sich der Prediger der israelitischen Gemeinde in Geestemünde, S. Bachenheimer, über mehrere klischeehafte Aspekte des Romans, die den allgemeinen Eindruck erzeugten, jene Bosheiten, die Raabe dem Protagonisten Moses Freudenstein andichte, seien typisch für Juden: »Verbrechen, Laster, Geilheit und Unsittlichkeit sind kein Erbgut der Gemeinde Jacobs, sondern vogelfreies Eigentum, von dem jeder nehmen kann, soviel er mag. […] Ich kann es mir nicht erklären, dass gerade der Jude schlecht sein soll, daß gerade sein Thun allein verwerflich, daß gerade er allein der Unsittliche ist«. (Ebd., S. 164 f.) 41 So die Information bei Ruth Klüger: »Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes Der Hungerpastor«, in: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart, Weimar 2007, S. 103-110, hier S. 104. 42 Vgl. Wilhelm Raabe: »Der Hungerpastor«, in: ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Sechster Band. Bearbeitet von Hermann Pongs. Freiburg i. Br., Braunschweig 1953, S. 493. Der überaus problematische Kommentar des NS-Germanisten Hermann Pongs, der übrigens nach wie vor in neueren Auflagen dieser
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tiert, ist bereits am Konzept des Bildungsromans erkennbar, also an der chronologischen Struktur des Textes: Bis hinein in die manichäische Konstruktion der opponierenden Hauptfiguren, die gegensätzlichen Lagern von ›Gut‹ und ›Böse‹ zugeordnet werden, gleicht Raabes Roman dem von Freytag. Diese klare Struktur dürfte auch der Grund für den großen Erfolg des Textes gewesen sein: Barker Fairley stellte bereits 1961 die These auf, dass Raabes Roman mit einer umgekehrten Rollenverteilung, also einem deutschen Bösewicht, heute wohl längst vergessen wäre.43 Bei Raabe sind es der brave Theologiestudent, harmlose Hauslehrer und werdende Landpfarrer Hans Unwirrsch sowie der ebenso genialische wie opportunistische jüdische Karrierist Moses Freudenstein alias Theophile Stein, die die Handlung vorantreiben. Wie bereits angedeutet, meint Götz Aly in seinem oben zitierten Buch über den Antisemitismus im 19. Jahrhundert, wer Raabe als Antisemit denunziere, übergehe, »dass im Hungerpastor sämtliche jüdische Nebenfiguren positiv gezeichnet« seien.44 Diese Bewertung folgt einem Wahrnehmungsraster, das für manifeste Elemente des Literarischen Antisemitismus und der damit eng verknüpften Rolle des Verhältnisses des Protagonisten bzw. Helden zu seinem Figurenumfeld im Text blind bleiben muss. Zunächst einmal funktioniert eine solche narrative Konstruktion nicht wie eine simple Rechenaufgabe, in der man durch die bloße numerische Gegenüberstellung aller addierten positiven Nebenfiguren mit der angeblich einzigen negativen Hauptfigur ›empirisch‹ zu einer für alle Rezipienten beschwichtigenden ›Lösung‹ des Lektürerätsels kommen könnte, ob ein Text als antisemitisch zu bewerten sei oder nicht. Einer negativ gezeichneten Hauptfigur könnte in der Leser-Wahrnehmung eines Textes größere Bedeutung zukommen als allen Nebenfiguren zusammen – und überhaupt kann das gesamte Problem nur begriffen werden, wenn man einsieht, dass es hier um die Eruierung der wahrscheinlichen Wirkung des
maßgeblichen Raabe-Ausgabe nachzulesen ist, beinhaltet an der Stelle auch den wenig überraschenden Hinweis, dass Raabes Roman in der Wehrmacht gelesen wurde: »Heute [1953, J. S.] erreicht er die 63. Auflage, hat die 280.000 überschritten; von der Frontausgabe des zweiten Weltkriegs abgesehen […]; ebenso von der Sonderausgabe der deutschen Buchgemeinschaft seit 1940«. 43 Vgl. Barker Fairley: Wilhelm Raabe. An Introduction to his Novels. Oxford 1961, S. 173. 44 Aly: Warum die Deutschen? (Anm. 22), S. 33.
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gesamten Textes als Ensemble konzertierter Schemata der Figurendarstellung, von Sympathielenkungen und eventuellen Andeutungen weiterer voraussetzbarer kultureller und literarischer Kontexte geht.45 Sabine Doering hat bereits darauf hingewiesen, dass die »Existenz positiver Figuren aus der jeweils negativ konnotierten Sphäre« die Wahrnehmung konfessioneller Stereotype bei Raabe »nicht außer Kraft« setze, vielmehr werden die Ausnahmefiguren ja gerade als Abweichung von der zuvor etablierten Norm beschrieben und bekräftigen in der Umkehrung der Wertungen nur umso deutlicher die Gültigkeit der eingeführten Unterscheidungskriterien. Erst wenn die Religions- oder Konfessionszugehörigkeit einer Person tatsächlich unerheblich für ihre charakterliche Bewertung geworden ist, verliert die polarisierte Schilderung der Konfessionen ihre orientierende Funktion. Von einer solchen Dekonstruktion bzw. erzählerischen Unterwanderung konfessioneller Stereotypen ist Raabe […] allerdings noch weit entfernt.46
Eines der nicht nur konfessionellen, sondern tatsächlich offen antisemitischen Klischees, auf die Raabe im Hungerpastor zurückgreift, ist das des rabulistischen Juden, der seine gesteigerte Intellektualität zur parasitären ›Zersetzung‹ der Gesellschaft einsetzt. Dort lebt er ohne jedes Heimatgefühl, um als ›lachender Dritter‹, dessen offene Schadenfreude die Empörung des Lesers herausfordert, allein seinem zerstörerischen Egoismus zu folgen. Dies funktioniert bei Raabe abermals durch die Kontrastierung die-
45 Vgl. dazu Thomas Anz: »Textwelten«, in: ders.: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände, Konzepte, Institutionen. Band 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 111-130. Hier vor allem das Kapitel »Figuren«, S. 122-126. Wie ein Text Figuren genau darstellt, lasse sich u. a. nur »aus dem Textzusammenhang und aus der Rekonstruktion des kulturellen Wissens über Personeneinschätzungen« erschließen, das »ein Text bei seinen Adressaten voraussetzt«. Zu berücksichtigen sei dabei die Figurenkonstellation innerhalb eines Gesamttextes und die Figurenkonfiguration in einzelnen Textszenarien (S. 124). 46 Vgl. Sabine Doering: »Standhafte Krieger und sittenlose Verführer. Konfessionelle Stereotypen in Reformationsdichtungen bei Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2003), S. 1-20, hier S. 13.
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ser Judenfigur mit dem zwar fleißig lernenden, aber dann doch eher schlicht denkenden Helden der Geschichte, Hans Unwirrsch. Genauso wie Anton Wohlfart ist auch Unwirrsch kein großer Gelehrter, und genauso wie bei Freytag stellt auch Raabe diesen an sich gar nicht besonders einnehmenden Charakterzug seines Helden durchweg positiv dar, um dagegen den genialischen Moses Freudenstein mit allen verfügbaren semantischen und metaphorischen Mitteln als schlitzohriges Scheusal zu brandmarken: »Harte Kämpfe« focht Hans laut Raabes Erzähler bereits als Schüler in seiner einfachen Studierstube aus, er »überwältigte mit Schweiß und unsäglicher Mühe das, über was der semitische Grammatiker Moses spielend hinwegschritt«.47 Während die von Hans Unwirrschs Vater, dem einfältigen Schuster, ererbte deutsche Innerlichkeit und Naivität nicht nur entschuldigt, sondern geradezu gerühmt wird, erscheint die Intellektualität seines Gegenspielers Moses als berechnende Kälte. Der »klare Kopf« und die »scharfen Augen« Moses Freudensteins gelten hier als Eigenschaften, die selbst dem Lehrer auf dem Gymnasium Angst machen – auch wenn der Pädagoge sich über ein solches Talent in seiner Klasse doch eigentlich sehr freuen müsste (HP 86 f.). Die Beschreibungen des Erzählers unterstreichen jedoch das angeblich Abstoßende von Moses Freudensteins Klugheit mit größter Emphase: Die schwarzen Haare zerwühlend, saß hier Moses, immer mehr beschäftigt, die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens aufzulösen und sie in die Fächer einer unbarmherzigen Logik zu ordnen. Je mehr Wissen er aufhäufte, desto kälter wurde sein Herz; mit höhnischem Spott erdrosselte er den letzten Rest warmer Phantasie, der ihm geblieben war. Nicht Werkzeug zum Nutzen und Genuß für sich und die Welt schuf er; Waffen, nur Waffen gegen die Welt schmiedete er, und keinen Augenblick der Ruhe, des Atemholens gönnte er sich bei der Arbeit. (HP 88)
Dies also ist jene negativ dargestellte Form der Arbeit, die auch Freytag nicht verklären, sondern gegen die angeblich ›schaffende‹ Arbeit der Deutschen an den Pranger stellen wollte: Wenn Juden unermüdlich arbeiten,
47 Raabe: Der Hungerpastor (Anm. 42), S. 86. Im Folgenden werden Zitate aus dem Roman im Fließtext mit der Seitenzahl hinter der Sigle HP in Klammern nachgewiesen.
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zerstören sie damit gleich die gesamte Welt, weil sie dies allein tun, um zu ›raffen‹ und so die »Mannigfaltigkeit des Lebens« aufzulösen. Wenn jedoch deutsche ›Helden‹ schuften, konstruieren sie diese Welt und dieses Leben angeblich erst ganz neu, und zwar selbstlos und ohne jeden Hintergedanken – gleichsam aus dem Nichts einer sie umgebenden Barbarei heraus. Während also Moses nur aus Opportunismus und Egoismus büffelt, begreift Hans Unwirrsch das Erbe seines dilettierenden, beim Schein einer schwebenden Schuster-Glaskugel schreibenden Vaters als »Entsagung« und »den Heroismus, welche darin verborgen lagen« (HP 91). Im Übrigen wirkt hier bei Raabe, ganz biologistisch gedacht, bereits ein spezifisches deutsches ›Erbgut‹ in seinem Protagonisten, welches dem des Juden angeblich überlegen sein soll: Des Vaters Kampf mit der Unwissenheit, sein Streben nach dem Höhern, sein Hunger nach dem Ideal, hatten eine Fortsetzung in dem Sohn gefunden, und alles, was es Edles in dem Wesen des Toten gab, wirkte viel mächtiger auf den Sohn ein als das, was Samuel Freudenstein seinem Sohn geben und sagen konnte. (HP 91)
Erst mittels dieser genealogisch hergeleiteten Umwertung aller Werte von Bildung und Intellektualität kann es plötzlich als Problem dargestellt werden, dass sich Moses nicht mit »dilettantischer Vielleserei« aufhält, sondern mit Hilfe der Philosophie Hegels ein »originales System objektiver Logik auf das Vollkommenste« aufbaut, um alles, was Hans liest, »irgendeiner verruchten Kategorie« unterzuordnen (HP 128). Während Hans im Studium die theoretische Theologie bald zu hoch ist, so dass er sich für die vergleichsweise unambitionierte Praxis der Homiletik entscheidet, um zur Probe im Wald raunend den Vögeln vorzupredigen (HP 131), schreibt der logisch und klar denkende Philosophiestudent Moses, der vom Erzähler explizit als »israelitische[r] Schlaukopf« verhöhnt wird, eine »famose Doktordissertation über die ›Materie als Moment des Göttlichen‹« (HP 133). Die abwertende Haltung des Erzählers gegenüber dieser intellektuellen Leistung ist deutlich, wobei selbst noch der paradoxe Titel der Dissertation von Raabe als Verulkung des Promovenden fungiert. Schließlich wird Moses, der zum Katholizismus konvertiert und nach dem Vorbild Heinrich Heines ins Pariser Exil geht, auch noch eine anmaßende, ausführliche Belehrung seines Schul- und Studienfreundes Hans in den Mund gelegt, die
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offen dazu angelegt ist, beim Leser antisemitische Ressentiments und Empörungen zu wecken (vgl. HP 128-130). Was aber wäre Theophile Stein, wie sich Moses Freudenstein nach seiner Konversion nennt, in seiner spezifischen Situation als Jude in Deutschland überhaupt vorzuwerfen? Was spricht unter den gegebenen repressiven Umständen, denen er ausgesetzt ist, gegen seinen Übertritt zum Katholizismus und seine Orientierung am Vorbild Heines, wenn man den Maximen von Raabes Erzähler als Leser und Interpret einmal nicht folgen wollte? Und was spricht überhaupt gegen Steins Doktortitel, der im Roman als Kontrast zur positiv bewerteten ›Einfältigkeit‹ von Hans Unwirrschs Bildungsweg ständig als üble ›Trickserei‹ dämonisiert wird?48 Die Darstellung des Romans zielt als Ganzes darauf, diese Fragen beim Leser gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die gesamte Semantik sowie die darin verborgene Emotionalisierungsstrategie des Textes soll dagegen die Anerkennung einer einzigen vollendeten Tatsache nahelegen, die uns als unweigerliche Folge von Theophile Steins Versuch präsentiert wird, sich zu bilden und höchste gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen: Der jüdische Protagonist sei am Ende »bürgerlich tot im furchtbarsten Sinne des Wortes«, wie es Raabes Erzähler fasst (HP 461). Bereits 1975 hatte Hans Mayer in seiner nach wie vor lesenswerten Studie über Außenseiter auf den nicht unwichtigen Aspekt hingewiesen, dass Raabe diese Formulierung »bürgerlich tot« gesperrt setzen ließ, um ihre vernichtende Bedeutung noch einmal ganz besonders zu betonen.49 Das Leben dagegen verheißt Raabes Roman allein demjenigen Helden, der dumm bleibt.
48 Vgl. dazu auch Florian Krobb: »Was bedeutet literarischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert? Ein Problemaufriss«, in: Bogdal/Holz/Lorenz: Literarischer Antisemitismus (Anm. 41), S. 85-101. Hier insbesondere der Kommentar zu diesem Aspekt von Raabes Roman auf S. 92: »Der Erhalt von Titeln und Würden sollte doch eigentlich die Erfüllung bürgerlichen Strebens markieren, Anerkennung für ein Verhalten, das der Gesellschaft konform ist, ja im anerkennenswerten Sinne über die Standards der Gesellschaft hinausgeht«. 49 Vgl. Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt a. M. 1981, S. 385.
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V. SCHLUSS: ANTON WOHLFART UND HANS UNWIRRSCH ALS HELDISCHE O PPONENTEN DER »F IGUR DES D RITTEN « Mit dem bloßen Hinweis auf die Irrationalität der gesamten Darstellung Raabes verfehlte man ein wesentliches Element des Literarischen Antisemitismus, das gerade trotz oder sogar wegen seiner Widersprüchlichkeit seine Wirkung beim Leser so effektiv zu entfalten vermag. Hierbei ist zu beachten, dass in einer solchen Weltwahrnehmung wie der des Hungerpastors oder auch der in Soll und Haben das nationale heldische ›Selbstbild‹ gerade durch den jüdischen Charakter als ›Gegenbild‹ überhaupt erst effektiv konturiert werden kann: Aus diesem Grunde sind rein motivgeschichtliche oder gar nach konkreten historischen Vorbildern fahndende Analysen des ›Judenbilds in der Literatur‹ gewissermaßen blind für das damit einhergehende spezifische Selbstbild des Deutschtums, wie es etwa Raabe in seinem ›role model‹ Hans Unwirrsch als positiver Gegenfigur zu Moses Freudenstein ausgestaltet – oder wie es Freytag mit Anton Wohlfart entwirft, dessen Kampf gegen die Polen gewissermaßen nur das angemessene ›Training‹ zur nötigen Standfestigkeit gegenüber seinem absoluten Gegenspieler Veitel Itzig darstellt. Der Soziologe Klaus Holz erläutert, dass der Antisemitismus stets auf einer dreigliedrigen Struktur beruhe: Der binären Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden gesellt sich demnach die als vollkommen unmöglich ausgegrenzte, paradoxe ›Figur des Dritten‹ hinzu, die ›dem Juden‹ zugewiesen wird.50 Daraus folgt, dass der rigide Antislawismus in Soll und Haben keinesfalls mit jenem Hass gleichzusetzen ist, der im Roman gegenüber den Juden erzeugt werden soll. Vielmehr kommt der gesamten kriegerischen Passage des Romans, die im Grenzgebiet zu Polen spielt, als ›Heldenschule‹ die Rolle zu, den Leser in der unterstellten Existenz einer aus Nationen und Völkern zusammengesetzten Welt zu vergewissern. Darin vermag allein der Deutsche kämpfend zu bestehen, während ›der Jude‹ den schmählichsten Tod verdient hat, weil er als Dritter sogar noch außerhalb aller ›ritterlichen‹ Kämpfe gegen die Polen steht und damit das gesamte 50 Vgl. Klaus Holz: »Der Jude. Dritter der Nationen«, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010, S. 292-303, hier S. 292.
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Weltbild ins Wanken zu bringen droht, das mit diesem kolonialen Ringen entworfen werden soll. Nur so erklärt sich in Soll und Haben das traurige, schaurige, grausame und nicht zuletzt vollkommen einsame Ertrinken Veitel Itzigs, als »Verbrecher« im Kampf mit dem Geist des von ihm eigens ertränkten Spießgesellen, dem zwielichtigen Anwalt Hippus (SH 820). Die dagegengesetzten Selbstermächtigungen der Helden dieser Geschichten sind aber mindestens genauso problematisch und deshalb ebenso dringend zu analysieren, um den Literarischen Antisemitismus des Textes in seiner ganzen Komplexität zu begreifen, wie Klaus Holz betont: Auch die antisemitische Semantik kann nur angemessen rekonstruiert werden, wenn das komplementäre Selbstbild systematisch berücksichtigt wird. In dieser Semantik ist die Abgrenzung vom Judenbild konstitutiv für die Konstruktion einer Wir-Gruppe. Das eine gibt es nur mit dem anderen. Die Konzentration der Antisemitismusforschung auf das Judenbild gleicht deshalb dem Versuch, eine Medaille so zu halbieren, daß sie nur noch eine Seite zu haben scheint.51
Das Fremde und das Eigene amalgamieren sich sowohl im Hungerpastor als auch in Soll und Haben auf typische Weise »zu einer Weltanschauung«,52 wobei Moses Freudenstein und Veitel Itzig das benötigte »Fremde« eben genau in jener paradoxen Form darstellen, die etwas Drittes verkörpert und erst auf diese Weise zum absoluten Feindbild taugt, gegenüber dem sich wiederum das eigene Weltbild der Helden zu profilieren und zu festigen vermag. Offensichtlich ist diese Darstellungskonvention so wirksam, dass sie manifeste Widersprüchlichkeiten als selbstverständlichen Teil der durch sie (mit-)konstruierten Weltanschauung vermitteln kann. ›Tertium non datur‹ – ein Drittes ist nicht möglich, es muss letztlich ausgelöscht werden, wenn die binäre Weltanschauung weiter bestehen können soll: Denn es kann und darf kein ›Volk im Volke‹, keinen ›Staat im Staate‹ geben. […] Genau das ist die den Juden zugeschriebene Identität: eine Unmöglichkeit oder Nicht-Identität. Die Identität des (deutschen) Volkes behauptet sich, indem sie diese Nicht-Identität in sich selbst als Unmöglichkeit postuliert und dadurch einen spezifischen Differenzbegriff gewinnt. Die Abgrenzung von Nicht-Iden-
51 Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001, S. 17. 52 Ebd., S. 16 f.
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tität im Innern, die als etwas Unmögliches vorgestellt wird, behauptet eine Identität, die gar nicht anders sein kann, weil das, wovon sie unterschieden wird, was also das Andere wäre, als etwas Unmögliches vorgestellt wird. Durch das Paradoxon gewinnt die Identität der Wir-Gruppe etwas, von dem sie unterschieden werden kann: der Unmöglichkeit von Differenz im Innern. Die Unmöglichkeit der Nicht-Identität des Volkes – also das Jüdische – ist der Unterschied zur Unverrückbarkeit des Volkes – also des Deutschen.53
Aus diesem für Nationalisten geradezu ›überlebenswichtigen‹ Ressentiment heraus speiste sich auch die nicht nur ›semantische‹, sondern darüber hinaus auch extrem emotionalisierende und gerade deshalb so mobilisierende Wirkungskraft von Freytags und Raabes Romanen. Dass genau dieses Ressentiment wiederum als geheimes Zentrum der Konstruktion eines spezifischen Heroismus fungiert, macht etwa der bemerkenswerte ›Weckruf‹ von Raabes Erzähler deutlich: »Gib deine Waffen weiter, Hans Unwirrsch!«54 Mit diesen harschen, mahnenden und zugleich programmatischen Worten endet, wohl nicht ganz zufällig, der Hungerpastor – in stolzer Abgrenzung zum ›bürgerlichen Tod‹ Theophile Steins, der diese Idee einer kämpferischen Genealogie deutscher Art durch seine stereotype Existenz als Verkörperung der »Figur des Dritten« überhaupt erst sinnvoll erscheinen lassen soll. Gewiss ist insbesondere Wilhelm Raabe im Blick auf sein Gesamtwerk ein Sonderfall – hat doch unter anderem Iulia-Karin Patrut zuletzt anhand verschiedener früherer und späterer Texte plausibel zeigen können, wie dieser Autor die von ihm etwa in privaten Briefen vertretenen Vorstellungen einer homogenen deutschen Nation in seinen literarischen Texten immer wieder dekonstruierte und sogar mittels autobiografischer Motive selbstkritisch ironisierte.55 Zu kurz greift allerdings Patruts Versuch, selbst den Hungerpastor in Teilaspekten mit derartigen Strategien in Verbindung zu bringen, indem sie das Scheitern des Helden Hans Unwirrsch betont, der es nur zu einer partiellen bürgerlichen »Inklusion in die Ränder« bringe – gemeint ist Unwirrschs Rückzug in die provinzielle Peripherie des Ostsee-
53 Ebd., S. 269. 54 Raabe: Der Hungerpastor (Anm. 42), S. 463. 55 Iulia-Karin Patrut: »Nation, Bürgertum und ihre ›inneren Fremden‹ bei Wilhelm Raabe«, in: Dirk Göttsche, Ulf-Michael Schneider (Hg.): Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Würzburg 2010, S. 103-124.
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Fischerdorfes Grunzenow – und der damit auf andere Weise als Theophile Stein am Ende gleichfalls exkludiert bleibe.56 Sicher gibt es bei Raabe selbst in diesem problematischen Fall eines deutschen Bürger-Helden, der seinen jüdischen Jugendfreund am Ende hassen lernt, viele karikierende Elemente. Allerdings sollte der vorliegende Beitrag gezeigt haben, wie es gerade diese eher liebevoll pointierte Mittelmäßigkeit auch Hans Unwirrschs ist, die sich in der Semantik des gesamten Romans von der keineswegs mit Empathie geschilderten Exklusion von Theophile Stein positiv abheben soll. Auch im Fall Anton Wohlfarts wurde ein vergleichbarer Fall der Ironisierung des Protagonisten in der PolenEpisode von Soll und Haben untersucht, um zu zeigen, dass dieser Ausflug in unstatthafte Habitusformen des militärischen Heroismus bei Freytag nur in die Handlung integriert wird, um Antons schließliche Rückkehr in die Wohlanständigkeit des Schröter’schen Kontors im Kontrast zum unvermeidlichen ›Verbrecher‹-Tod Veitel Itzigs umso beruhigender und statthafter erscheinen zu lassen. Die zu Beginn des vorliegenden Beitrags gestellte Frage nach einer möglichen ›Renaissance‹ der hier interpretierten Romane kann man trotz der neuerlichen apologetischen Tendenzen bei populärwissenschaftlichen Publizisten wie Schlink und Aly, die auffällig von der Kritik in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung abweichen, wohl getrost verneinen: Das Betuliche und Biedere, dass nicht nur den Helden Raabes und Freytags, sondern auch den voluminösen Werken, in denen diese vorkommen, insgesamt anhaftet, vermag heutige Leser wohl kaum noch zu fesseln. Unberührt davon bleibt allerdings die eingangs diagnostizierte Nachhaltigkeit bürgerlicher Idealvorstellungen einer spezifischen deutschen ›Totalität der Mitte‹, die sich seit dem 19. Jahrhundert nicht nur in der Rezeption von Soll und Haben und dem Hungerpastor, sondern auch in sehr vielen anderen soziokulturellen und politischen Ausformungen bewahrt zu haben scheint. Zur Erforschung der Wurzeln dieser langlebigen und überaus problematischen Ideologien des 19. Jahrhunderts, die bis in unsere Gegenwart fortwirken, bleiben Freytags und Raabes bürgerliche ›Helden‹-Romane wichtige literarische Quellen.
56 Ebd., S. 109. Patrut räumt hier allerdings auch gleich selbst vorsorglich ein: »Inwiefern dies von anderen Dimensionen des Romans relativiert wird und wo dessen Grenzen liegen, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.«
D. Medialisierung / Codierung / Simulation
Jeanne d’Arc im Film Weiblicher Heroismus zwischen Mangel und Innovation I RINA G RADINARI Johanna wollte »nichts davon wissen, das typische Los der Frau auf sich zu nehmen; sie kleidete sich, focht und lebte als Mann«. Bernard Shaw, Die heilige Johanna (1924)
In diesem Beitrag wird der weibliche Heroismus am Beispiel einer der bekanntesten Heroinen im Film diskutiert: der Jungfrau von Orléans Jeanne d’Arc, Nationalheldin Frankreichs und Heilige der katholischen und anglikanischen Kirche. Die Figur des Helden soll dabei mit Viktor Turner als (männliche) Schwellenfigur und Grenzgänger verstanden werden, mit der das »ungenutzte Entwicklungspotential des Menschen« ausgelotet wird, das »noch nicht in der Struktur objektiviert und fixiert«1 worden ist. Der Kriegsheroismus ist in der realistischen Filmtradition ein genuin männlicher Bereich2 und zeichnet sich zudem durch die Akzentuierung des Pathos des Geschehens, des Mutes und der aktiven Selbstaufopferung des Helden für
1
Viktor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. 1989, S. 125.
2
Genrespezifisch liegt der Fokus im Kriegsgeschehen auf den Männern, die sich oft weit entfernt von ihrem Zuhause befinden. Vgl. Thomas Klein, Marcus Stiglegger, Bodo Traber: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Filmgenres: Kriegsfilm. Stuttgart 2006, S. 9-28, hier S. 16-17.
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das Interesse der Nation aus.3 Der heldenhafte Tod ist das Ideal des Heroischen im Krieg.4 Mithilfe dieser gängigen Topoi eines heroischen Soldaten werden Männlichkeitsvorstellungen jeweiliger Epochen verhandelt, mit denen aktuelle Filmproduktionen unterschiedliche Bilder der Figur Johanna konstruieren. Die Filme entwerfen dabei durch ästhetische Weiblichkeitszuschreibungen und historisch etablierte mythologische Johanna-Narrative eine historisierende und distanzierende Perspektive auf Jeanne d’Arc. Diesen Produktionen sind tradierte Legitimationsstrategien des Heroismus über die Andersartigkeit Johannas, ihre Überschreitung bestehender (Institutions- und Hierarchien-)Grenzen und ihre exzeptionelle Stellung mit Blick auf die bestehende Ordnung gemeinsam.5 Mit diesen Merkmalen weisen die JohannaFilme zugleich Gemeinsamkeiten mit den meisten aktuellen MainstreamProduktionen auf, die einen einsamen Helden darstellen. Der Reiz des Johanna-Stoffs und die Herausforderung seiner Umsetzung bestehen im Transfer männlicher Topoi auf eine konkrete weibliche Figur. Sowohl historisierende als auch distanzierende Perspektiven auf Johanna, wie im Folgenden erklärt wird, machen die Inkompatibilität von mittelalterlichen und aktuellen Gender-Diskursen sichtbar. Die Entwicklung der Armee zu einer männlichen Institution und das in diesem Zusammenhang etablierte cineastische
3
Karen Hagemann zeigt, dass das Militär im 19. Jahrhundert als »Schule der Männlichkeit« diskutiert wurde (S. 24). Zu den »Schlüsseltugenden« des soldatischen Mannes, der sich zum Stereotyp individueller heroischer Männlichkeit herausbildete, gehörten »ungeachtet aller sozialen, politischen und kulturellen Differenzen […] (Willens)Kraft, Mut und Ehre« (S. 28), die auch in Kriegsfilmen durchdekliniert wurden. Vgl. Karen Hagemann: »Venus und Mars. Reflexionen zu einer Geschlechtergeschichte von Militär und Krieg«, in: dies., Ralf Pröve (Hg.): Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel. Frankfurt a. M., New York 1998, S. 13-48.
4
Ebd., S. 23. Der Mythos des patriotischen Heldentodes ist durch den Kult der Heldenverehrung und des Heldengedenkens entstanden.
5
Die Definition des Heroischen geht auf die ausführliche theoretische und historische Fundierung des Heroischen in der Studie von Anett Kollmann zurück. Vgl. Anett Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg 2004, S. 9-101.
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Bildrepertoire des Weiblichen lassen für die Frauenfiguren militärische Aktivität bei den realistischen Kriegsdarstellungen kaum zu. So bieten die beiden Perspektiven zwei unterschiedliche Lösungen an, mit denen zwei divergierende Funktionen des Johanna-Heroismus zusammenhängen. Die historisierende Perspektive auf Jeanne d’Arc versucht, das historische Geschehen möglichst ›authentisch‹ wiederzugeben. Gemeint ist, dass die Darstellungsstrategie historisch glaubwürdige Bilder hervorbringt, die in der Regel einen verfremdenden und reflektierten Blick auf die Geschichte enthalten. Diese Perspektive reproduziert und variiert trotzdem den herausgebildeten Mythos vor dem Hintergrund historischer Kulissen. Die Filme in dieser Tradition versuchen, die Heldin überzeugend in die männliche Domäne zu integrieren. Johannas Heroismus besteht darin, sich unter Männern zu behaupten und am Krieg teilzunehmen. Die Heldin erscheint in diesen Filmen in der Regel als androgyn, womit ihre Akzeptanz in ›männlichen‹ Machtbereichen legitimiert wird. Gerade aufgrund solcher Gender-Verschiebungen fordert die Figur der Kriegerin zugleich aktuelle Sprach- und Repräsentationsstrukturen des Subjektseins heraus. Der Johanna-Heroismus deckt, so die These, einen neuralgischen Punkt in den filmischen Repräsentationen auf, an dem die Selbstbehauptung des Subjektes mit seiner Auslöschung zusammenfällt. Ihr Heroismus zeichnet sich durch Standhaftigkeit aus und reproduziert damit gängige männliche Heldentopoi, doch werden über die Figur der Johanna keine neuen Ordnungen ausgehandelt. Höchstens im Abspann erwähnen manche Filme Johannas historische Bedeutung; in der Narration machen der Sieg bei Orleáns und die darauf folgende Krönung hingegen keine gesellschaftlichen Änderungen sichtbar. Sie werden in Kontrast zur Hinrichtung gesetzt, auf die sich die ganze Handlung zuspitzt. Die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen erscheint für den Johanna-Heroismus als konstitutiv, ist aber gleichzeitig für ein gemeinschaftliches Handeln als zweckfrei anzusehen. Johannas irrationales Beharren auf ihrem Subjektstatus als Kriegerin fordert männliche Institutionen auf der inhaltlichen Ebene sowie tradierte Geschlechterzuschreibungen auf der visuell-ästhetischen Ebene heraus, die den filmischen Repräsentationen inhärent sind. Die distanzierende Perspektive verhandelt im Gegensatz zu diesem selbstreferenziellen Akt des historisierenden Blickes auf Johanna trotz ihrer Situierung im gegenwärtigen Kontext paradoxerweise keine aktuellen Subjektdiskurse. Genauer gesagt werden mit der Figur Johanna als das weibli-
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che Andere männliche Subjektdiskurse problematisiert, ohne ihre Repräsentationslogiken und -strukturen zu hinterfragen. Diese Filme umgehen die anachronistische Gender-Unvereinbarkeit durch die Abkoppelung Johannas vom Krieg und setzen dabei genuin ›weibliche‹ Eigenschaften wie Sinnlichkeit, Sexualität und eine besondere Neigung zur Schauspielerei in Szene, denen ein revolutionäres Potenzial zugeschrieben wird. Johanna wird zu einer universellen Chiffre des nicht-integrierbaren Fremdelementes, das gängige Phantasien über das Weibliche als das Andere fort- und zugleich positiv umschreibt. Die Heldin erscheint als Trägerin neuer Werte, die die bestehenden (patriarchalisch-männlichen) Normen herausfordert oder gar aufhebt. Ihr Heroismus besteht in ihrer innovativen Funktion für die zeitgenössische Gesellschaft. Diese Thesen werden im Folgenden in vier Schritten erörtert: Im ersten Teil wird die Inkompatibilität von mittelalterlichen und gegenwärtigen Gender-Diskursen diskutiert, mit der sich das künstlerische Interesse an Johanna erklären lässt. Nicht das Wunder der Einmischung Gottes in die Geschichte steht in den Filmen im Vordergrund; vielmehr besteht das Wunder in der Behauptung einer Frau in den männlichen Machtbereichen und Institutionen – am königlichen Hof, in der Armee und in der Kirche. Daraufhin wird die filmhistorische Entwicklung des Johanna-Genres betrachtet, die die zur Entstehungszeit der Filme aktuellen Weiblichkeits-Imagines auf die Figur Johanna übertragen. Johanna verwandelt sich im Laufe der Kinogeschichte dabei von einem viktimologischen zu einem sakrifiziellen Opfer.6 Die dritten und vierten Teile widmen sich den beiden bereits skizzierten filmischen Perspektiven auf Johanna, mit denen unterschiedliche Formen des weiblichen Heroismus entworfen werden. Die historisierende Perspektive arbeitet sich an der bestehenden symbolischen Ordnung ab, ohne sie ändern zu können; die distanzierende Perspektive entwirft Visionen von einer alternativen Gesellschaft. Diese Fragestellungen gaben bei der Auswahl der Produktionen den Ausschlag. Aufgrund der großen Anzahl der Filme wurden die bekanntesten internationalen Verfilmungen für die Analyse herangezogen,7 die es
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Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 22.
7
Die Filmliste befindet sich am Ende des Beitrags.
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ermöglichen, die historische Genre-Entwicklung der Johanna-Filme zu verfolgen und unterschiedliche Paradigmen des Heroischen nachzuvollziehen.
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Johanna gehört neben Robin Hood und den Samurai zu den am häufigsten verfilmten historischen Personen8 des Mittelalters.9 Rückblickend auf die im Nachhinein als Wendepunkt des Hundertjährigen Kriegs anerkannte Schlacht bei Orléans wurde sie ein paar Jahrhunderte später zur Repräsentationsfigur der Idee eines Nationalstaates stilisiert,10 was die Mythenbildung und -vervielfältigung in der Literatur, im Theater und später im Film intensivierte. Ihre Teilnahme an der für die Franzosen siegreichen Schlacht bei Orléans wurde im Johanna-Mythos zur Übernahme des Oberbefehls über die Armee aufgewertet;11 ihre darauf folgenden Niederlagen wurden als Verrat des vermeintlich undankbaren Königs Karl VII. darge-
8
Vgl. Hedwig Röckelein: »Jeanne d’Arc. Über historische Authentizität im Film«, in: Anette Kreutziger-Herr, Dorothea Redepenning (Hg.): MittelalterSehnsucht? Texte des interdisziplinären Symposions zur musikalischen Mittelalterrezeption an der Universität Heidelberg, April 1998. Kiel 2000, S. 7186, hier S. 71. Laut Röckeleins Angaben wurde Jeanne d’Arcs Geschichte über 40 Mal verfilmt.
9
Vgl. Christian Kiening, Heinrich Adolf (Hg.): Mittelalter im Film. Berlin, New York 2006.
10 Mehr darüber bei Gerd Krumeich: »Eine oder zwei Jeannes«, in: Marieluise Christadler (Hg.): Deutschland, Frankreich. Alte Klischees – Neue Bilder. Duisburg ²1981, S. 24-40. 11 Klaudia Knabel: »Ein Mythos im Prozeß. Von der Heiligen zur Superwoman: Jeanne d’Arc im Film«, in: Jörg Türschmann, Annette Paatz (Hg.): Medienbilder. Dokumentation des 13. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums an der Georg-August-Universität Göttingen Oktober 2000. Hamburg 2001, S. 143-156, hier S. 143. Die Autorin weist in Anlehnung an die Mittelalterforschung darauf hin, dass Jeanne weder Schafe gehütet noch den Oberbefehl über die französischen Truppen übernommen hatte. Sie wurde auch nicht als Hexe, sondern als Ketzerin verbrannt.
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stellt, der mithilfe Johannas in Reims gekrönt wurde;12 und der Versuch einer politischen Diskreditierung Jeanne d’Arcs13 durch den König wurde im Johanna-Mythos zum Drama einer einsamen, durch die Machthabenden ausgenutzten Persönlichkeit stilisiert, das zugleich als ein Übergang zur postumen Heiligsprechung Johannas dient. Da die Informationen zur realen Jeanne d’Arc widersprüchlich sind und die Zeugenaussagen je nach der politischen Konjunktur manipuliert wurden,14 sind heute historische Fakten vom mythologischen Gehalt nicht zu trennen. Johanna wird erst dank der durch König Karl VII. verbreiteten Propaganda populär,15 sie sei die in der Legende prophezeite Jungfrau aus Lothringen, die beweise, dass Gott in diesem Krieg auf der französischen Seite stehe. Diese Information versuchte der berüchtigte Inquisitionsprozess im Interesse der Burgunder und Engländer zu widerlegen, was die französische Kirche 25 Jahre später in den durchgeführten Recherchen zur Rehabilitation Johannas zurücknahm. Diese wurde wiederum im Auftrag von König Karl VII. eingeleitet, um seine Regentschaft nicht durch eine Ketzerin, sondern durch eine Gottesgesandte zu legitimieren.16 So erscheinen die positiven Zeugenaussagen bei der Rehabilitation Jeanne d’Arcs ebenso stimmig wie die negativen bei ihrer Verurteilung.
12 Karl VII. wurde aber aufgrund der rechtlichen Lage und der politischen Praxis bereits nach dem Tod seines Vaters zum König. Die Bezeichnung ›Dauphin‹ stammt, so der Historiker Malte Prietzel, von den Engländern und Burgundern, die Karl VII. nicht als rechtmäßigen König betrachteten. Vgl. Malte Prietzel: Jeanne d’Arc. Das Leben einer Legende. Freiburg, Basel, Wien 2011, S. 54. 13 Joachim Ehlers: Der Hundertjährige Krieg. München 2009, S. 89: »Die französischen Siege seit Orléans mußten als Werk des Teufels erwiesen werden, damit Bedford und Philipp der Gute als Führer eines gerechten Krieges an Legitimität gewinnen, der König von Frankreich und seine Berater dagegen als Beschützer einer Hexe diffamiert werden konnten.« 14 Zur aktuellen Bewertung der historischen Quellen vgl. Prietzel: Jeanne d’Arc (Anm. 12). 15 Ebd., S. 62 f., 140-145. 16 Inge Stephan: »Hexe oder Heilige? Zur Geschichte der Jeanne d’Arc und ihrer literarischen Verarbeitung«, in: dies., Sigrid Weigel: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin 1996, S. 35-66, hier S. 47 f.
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Literarische Bearbeitungen und wissenschaftliche Reflexion17 des Johanna-Mythos beginnen ebenfalls bereits im 15. Jahrhundert. Wieder bekannt wird sie jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aufgrund des Verlusts von Elsass-Lothringen im Krieg von 1870/71 wird sie zur Nationalheldin stilisiert,18 der in die nationalistische Strömung des Revanchismus19 mündete. Diese Wiedergeburt Johannas im nationalen Diskurs Frankreichs führt zu ihrer mythischen Langlebigkeit im kollektiven Gedächtnis: Sie fungiert bis heute je nach der politischen Konjunktur u. a. als Allegorie Frankreichs und wird von allen politischen Parteien für ihre Zwecke funktionalisiert.20 Dieser Beitrag interessiert sich aber für die internationale Bedeutung von Jeanne d’Arc, wie sie insbesondere in filmischen Repräsentationen sichtbar wird. Darauf deutet das fortwährende Interesse an der JohannaFigur in verschiedenen Ländern21 hin, die die Nationaldiskurse Frankreichs lediglich formal (wenn überhaupt!) als etablierte Plot-Elemente aufrufen. Der französische Regisseur Luc Besson zerstört beispielsweise in seinem
17 Vgl. Katharina Simon-Muscheid: »›Gekleidet, beritten und bewaffnet wie ein Mann‹. Annäherungsversuche an die historische Jeanne d’Arc«, in: Hedwig Röckelein, Charlotte Schoell-Glass, Maria E. Müller (Hg.): Jeanne d’Arc oder wie die Geschichte eine Figur konstruiert. Freiburg, Basel, Wien 1996, S. 28-54, hier S. 28: »Jeanne wurde je nach der Konjunktur der Fragestellungen hagiographisch stilisiert, mystifiziert, entmystifiziert, als pathologischer oder medizinischer ›Fall‹ analysiert oder zum willenlosen Spielball im politischen Intrigenspiel der weltlichen und geistlichen Machthaber erklärt.« 18 Knabel: Mythos im Prozeß (Anm. 11), S. 144. 19 Zum Beispiel stilisiert Théodore de Banville Johanna in La bonne Lorraine (1872) zur Repräsentantin des Revanchegedankens. Vgl. Wilhelm Große: Bearbeitungen des Johanna-Stoffes. München 1980, S. 7. 20 Mehr darüber bei Krumeich: Eine oder zwei Jeannes (Anm. 10), S. 24-40. 21 In der deutschsprachigen Literatur wird Johanna zur kritischen Reflexion eigener Nationsbildung umfunktionalisiert. Vgl. Stephanie Wodianka: »Reflektierte Erinnerung. Metamythische Renarrationen des Jeanne-d’Arc-Mythos«, in: Klaudia Knabel, Dietmar Rieger, Stephanie Wodianka (Hg.): Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung. Göttingen 2005, S. 37-66; Klaudia Knabel: »Der Import einer nationalen Ikone. Jeanne d’Arc in Deutschland«, in: ebd., S. 101-110.
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Johanna-Film The Messenger: The Story of Joan of Arc (1999) die nationale Johanna-Aura, indem er die Heldin als eine traumatisierte, ja wahnsinnige Figur (Milla Jovovich) darstellt und den politischen Prozess in ihr privates Psychodrama verkehrt. Die im Film heutzutage verbreiteten medialen Bilder von Johanna stammen aus DeMilles 1916 in den USA gedrehten Film Joan The Woman, der sich zudem recht frei aus Schillers Trauerspiel Die Jungfrau von Orléans (1801) bedient.22 Das aktuell bestehende cineastische Johanna-Narrativ ist also eine Verdichtung internationaler Motive und intermedialer Repräsentationsformen von zahlreichen Autoren verschiedener Epochen aus diversen Ländern. Die Attraktivität des Johanna-Stoffs außerhalb Frankreichs wurzelt, so die These, im weiblichen Geschlecht der Heldin, die sich in einer männlichen Domäne bewähren muss. Zumindest legen die meisten Filmproduktionen großen Wert darauf, ihre Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen entweder zu fundieren oder zu widerlegen. So zweifelt die DokuFiktion Wer war Johanna von Orléans? (F 2007, R: Martin Meissonnier) an ihrer kriegerischen Tätigkeit. Die interviewte Historikerin Anne Curry deutet die Verletzungen Johannas insofern paradox, nämlich gerade nicht als Hinweise auf ihre aktive Teilnahme am Kampf, sondern als Indizien ihres militärischen Ungeschicks! Die Existenz einer Kriegerin zu rechtfertigen oder sie zu negieren sind Projektionseffekte aktueller Geschlechtervorstellungen auf das Mittelalter. Die Johanna-Filme verraten Gender-Diskurse der Gegenwart und ein etabliertes aktuelles Repräsentationssystem, das aufgrund bildhistorischer Entwicklung den Frauenfiguren einen bestimmten Platz wie den privaten Bereich und eine bestimmte Funktion wie einen narrativen Hebel (als Opferrolle) oder die Verkörperung des Verbotenen/Gewünschten (Sinnlichkeit, Sexualität) in der Narration zuweist. Eine kämpfende Frau wurde im
22 Vgl. Mareen van Marwyck: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010, S. 176. Die Autorin liest Schillers Johanna als eine »Synthese, die das klassizistische Ideal von Schönheit und Anmut mit Gewalt, und auch mit Lust an Gewalt verbindet. […] Es [Johannas Selbsterkenntnis, I.G.] liegt im Übergang des Anmutigen ins Erhabene, nicht in der Zerstörung einer naiven Einheit mit der Natur« (ebd.), wie es davor in der Forschung behauptet wurde.
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Mittelalter hingegen durchaus toleriert,23 trotz der Tatsache, dass der Krieg allein als männlicher Aktionsbereich verstanden wurde. Erst im späten Mittelalter begannen die Chronisten ihr Erstaunen über weibliche Militäraktivitäten zu äußern. Megan McLaughlin24 verbindet dies mit einem gesellschaftlich-strukturellen Paradigmenwechsel, der ein Bedürfnis nach einer klaren Geschlechterordnung hervorrief. 25 Johanna agiert in der Übergangszeit, in der die Erinnerungen an kämpfende Frauen als soziale Realität noch präsent sind. Die adligen Frauen verfügten darüber hinaus bis ins 18. Jahrhundert hinein über politische Macht.26 Im Hundertjährigen Krieg hatten beispielsweise zwei Frauen einen enormen Einfluss auf die Entwicklung des Kriegskonfliktes: die Königin Isabeau, die sich gegen ihren eigenen Sohn Karl VII. mit den Engländern verbündete, und Karls Schwiegermutter Jolande von Aragón, die das Haus Anjou und seine Territorien regierte und ihren Schwiegersohn in der Beseitigung der Doppelmonarchie unterstützte.27 Hinzu kommt, dass die Trennung zwischen der Armee und der Zivilbevölkerung zu jener Zeit viel flexibler war (zum Beispiel die Versorgung des Militärs über die das Heer begleitenden Trosse), so dass eine durch Not bedingte oder auch freiwillige Teilnahme von Frauen an den Kämpfen
23 Der Historiker Malte Prietzel weist ebenfalls darauf hin, dass die nächste Umgebung weder über die Rüstung noch über die Waffen der Jungfrau erstaunt war, zumindest nicht in den vorhandenen Briefen des Adligen Laval. Vgl. Prietzel: Jeanne d’Arc (Anm. 12), S. 136 f. 24 Vgl. Megan McLaughlin: »The Woman Warrior: Gender, Warfare and Society in Medieval Europe«, in: Women’s Studies. An interdisciplinary journal 17 (1990), S. 193-209, hier S. 193 f., und weiterhin S. 205: »The presence of women warriors on the battlefields of the central middle ages cannot be explained simply in terms of their ›forceful personalities‹ or unusual personal circumstances. Rather, they should be seen as products of and participants in a particular system of gender, a system which, for a few centuries, made behaving in an anomalous way somewhat less difficult than it was either before or after. When that system changed, women lost their already very limited opportunities to participate in war.« Die Autorin führt ihre These auf die »domestic organization« (ebd., S. 202) des Militärs im Mittelalter zurück. 25 Ebd., S. 195. 26 Vgl. Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit (Anm. 5), S. 35. 27 Vgl. Ehlers: Hundertjährige Krieg (Anm. 13), S. 79.
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eventuell häufiger auftrat,28 zumal es sich um einen Krieg handelte, der sich über mehrere Jahrzehnte (1337–1453) erstreckte und mehrere Generationen involvierte. Überliefert wurde darüber hinaus die Teilnahme von Frauen an den Kreuzzügen, bei denen sie auch das Gelübde militärischen Gehorsams ablegten und Heroismus im Kampf zeigten.29 Auf der symbolischen Ebene, d. h. im Rahmen der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, kann die Legende von einer kämpfenden Jungfrau als ein Streben nach Ausgleich gedeutet werden. Die mittelalterliche Herrschaft beruht auf dem Prinzip der Symmetrie, das die Machtbalance über das Gleichgewicht der Kräfteverhältnisse anstrebt.30 Die Jungfrau aus dem Volk, legitimiert durch ihr Charisma, steht der mächtigen Königin Isabeau gegenüber, die als eine ›schlechte‹ Mutter ihren Sohn leugnet. Die Hoffnung auf die Rettung durch eine Jungfrau im Hundertjährigen Krieg kann daher gerade als eine Hervorhebung des Machtpotenzials der Frauen verstanden werden. Die Verbindung von Johannas Taten31 mit dem Wunder
28 Im späten Mittelalter wird laut Christiane Anderson von Chronisten noch häufig über ganze Trupps von Frauenkriegerinnen berichtet, was aber in der Bildenden Kunst mit einigen wenigen Ausnahmen kaum Thema war. Die meisten Bilder aus dieser Zeit sind als Projektions- und Wunschbilder zu lesen, die die gewaltsamen Realitäten des Trosslebens ignorierten und die Frauen vielmehr aus ökonomischen Interessen als Sexualobjekte darstellten. Vgl. Christiane Anderson: »Von ›Metzen‹ und ›Dirnen‹. Frauenbilder in Kriegsdarstellungen der Frühen Neuzeit«, in: Hagemann/Pröve: Landsknechte, Soldatenfrauen (Anm. 3), S. 171198, hier S. 194-196. 29 Helen Solterer: »Figures of Female Militancy in Medieval France«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 16 (1991), H. 3, S. 522-549. 30 Hedwig Röckelein: »Jeanne d’Arc als Konstruktion der Geschichte«, in: Röckelein/Schoell-Glass/Müller: Jeanne d’Arc (Anm. 17), S. 9-27, hier S. 12 f. 31 Nach Prietzel wurde Johannas Teilnahme am Krieg u. a. durch Gottes Auftrag in Berufung auf drei Vorbilder aus dem Alten Testament (Judith, Esther und Deborah) legitimiert. Johanna durfte aber nicht kämpfen, sondern hatte vielmehr symbolischen Charakter und diente zur Anfeuerung der Soldaten, wobei einige Zeugnisse über den Kampf Johannas auf dem Schlachtfeld berichten. Vgl. Prietzel: Jeanne d’Arc (Anm. 12), S. 72-79, 105-113.
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Gottes gehört zum Weltbild ihrer Zeitgenossen,32 die durchaus glaubten, dass Gott einzelne Menschen auserwähle, zu ihnen spreche und ihnen Aufträge gebe.33 Zu dieser Zeit waren auch viele andere Prophetinnen und Wundertäterinnen unterwegs, die die Legende von einer rettenden Jungfrau voraussagten und sie zu verwirklichen versuchten. Johanna musste sogar mit einer von ihnen, Cathérine de la Rochelle, nach der Krönung konkurrieren. Deren Favorisierung am königlichen Hof deutet Inge Stephan als Niedergang von Johannas Karriere.34 Mit der Herausbildung der bürgerlichen, streng polarisierten Geschlechtercharaktere im 18. Jahrhundert35 wurden die Frauen zunehmend aus der politischen Sphäre ausgegrenzt. Durch die im 19. Jahrhundert folgende Einführung der Militärpflicht für alle Männer wurden die Frauen kategorisch aus der Armee ausgeschlossen und somit der Heroismus als genuin männlich definiert. Nach Karen Hagemann wurde der männliche Heroismus für die nationale Kriegsmobilisierung im 19. Jahrhundert funktionalisiert:36
32 Vgl. den Beitrag von Martin Ohst zum kirchengeschichtlichen Verständnis des Wunders im Mittelalter in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. XXXVI. Berlin, New York 2004, S. 397-404. Kurz gefasst kommen im frühen Mittelalter der Glaube an Schutzheilige und die Erwartung von Wundern im gesellschaftlichpolitischen Bereich auf, die im späten Mittelalter zur verstärkten Indienstnahme von Wundererzählungen zu pädagogisch-moralischen Zwecken und zur zunehmenden Rationalisierung des Wunders avancieren. 33 Prietzel: Jeanne d’Arc (Anm. 12), S. 35 f. Es ist irreführend zu glauben, dass die Menschen des Mittelalters naiv waren. Einige Kriterien (keine Gotteslästerei, Frömmigkeit, Glaube in Wort und Tat und sexuelle Enthaltsamkeit) wurden entwickelt, um Betrüger, kranke und falsche Propheten von ›echten‹ Propheten zu unterscheiden. 34 Stephan: Hexe oder Heilige? (Anm. 16), S. 45. 35 Karin Hausen: »Die Polarisierung der ›Geschlechtercharaktere‹ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363-393. 36 Vgl. Karen Hagemann: »Heldenmütter, Kriegerbräute und Amazonen. Entwürfe ›patriotischer‹ Weiblichkeit zur Zeit der Freiheitskriege«, in: Ute Frevert (Hg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1997, S. 174-200, hier S. 176.
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»Die ›Nation‹ entwickelt[e] sich zu einem militaristisch geprägten, männlich beherrschten Raum.«37 Die ›Natur‹ der Frau wurde hingegen als genuin pazifistisch begriffen – Ideen, die besonders am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Frauenbewegung (auch in Deutschland) artikuliert wurden.38 Wie Hagemann darlegt, sind Weiblichkeit und Heldentum bereits im 19. Jahrhundert unvereinbar geworden.39 Aufgrund dieser sozialhistorischen Entwicklung gewann Jeanne d’Arc eine besondere Position als Frau erst im 19. und 20. Jahrhundert. Zweifellos war Johanna eine charismatische Person, deren militärischer Mut und aktive Einmischung in die Politik gewürdigt werden müssen. Ihre ›reale‹ Persönlichkeit und ihre Motivation können aber nicht mehr rekonstruiert werden. Die verbreitete Königspropaganda, der politische Prozess gegen sie und ihre postume (auch politisch motivierte) Rehabilitation lassen sie jedoch nicht als eine Figur erscheinen, die einen Bruch im System oder ein Ausnahmephänomen darstellt, Grenzen auflöst oder neue Ordnungen verhandelt. Sie scheint ganz im Gegenteil eher dazu beigetragen zu haben, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten, ihre Diskontinuitäten zu beseitigen und die Monarchie zu stabilisieren. Johanna war eine legitime Erscheinung ihrer Zeit, ja in gewisser Weise ein mediales Produkt ihrer Epoche, an dessen Erschaffung oder Diskreditierung die Machthabenden beider Konfliktseiten arbeiteten, um die Jungfrau für ihre politischen Ziele zu funktionalisieren. Als eines der Wunder im Mittelalter wurde die Einmischung Gottes in die Geschichte gesehen,40 dessen ›Auftrag‹ der Jungfrau Aura und Ruf verschaffte. Genauer gesagt wurde das Wunder um Johanna durch die gezielte Propaganda des königlichen Hofes konstruiert.41 Im 20. Jahrhundert
37 Ebd., S. 179. 38 Hagemann: Venus und Mars (Anm. 3), S. 13. 39 Hagemann: Heldenmütter (Anm. 36), S. 179. 40 Ohst: Wunder (Anm. 32), S. 404, mit dem Hinweis auf Thomas von Aquins Gotteskonzept. 41 Vgl. Prietzel: Jeanne d’Arc (Anm. 12), S. 140-142. Prietzel weist auf die durch »gutes Latein« gezielt verbreiteten Gerüchte über Johannas Wunder im In- und Ausland durch die Adligen aus dem königlichen Umfeld hin. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die skeptischen Worte von dem Venezianer Antonio Morosini aus einem Brief: »Alle stimmen darin überein, dass die Jungfrau Wunder wirkt, seit sie beim Dauphin ist.« (Ebd., S. 142).
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wird das Wunder insofern transformiert, als die einflussreiche Teilnahme einer Frau an der Politik und am Krieg in den Vordergrund rückt. Die Beseitigung dieses Unbehagens zwischen dem ›realen‹ Geschehen im Mittelalter und der binären Geschlechterordnung des 20. Jahrhunderts bedingt die Herausbildung zweier unterschiedlicher Johanna-Heroismen.
II. VOM VIKTIMOLOGISCHEN ZUM SAKRIFIZIELLEN OPFER Die früheren Produktionen über Jeanne d’Arc changieren zwischen historisierender und enthistorisierender Darstellungsweise, die die Figur Johanna über Christus-Stilisierungen und ahistorische Repräsentation (zeitlose Kleidung, historisch unmarkierte Räume) universalisieren, sie über den Zeitlauf stellen, ohne sie jedoch im modernen Kontext zu situieren. Die geschlechtsspezifische Umsetzung dieser Produktionen knüpft an die Traditionen des bürgerlichen Trauerspiels des 18. Jahrhunderts an, die laut Sigrid Weigel aus einer Verschmelzung von narrativer Heldenfunktion als Zentrum der Geschichte und von bürgerlichen Weiblichkeitsidealen als Bild einer sich hingebenden Frau den Topos von einer geopferten Heldin entwickeln. Weigel zählt dazu auch die meisten literarischen Verarbeitungen des JohannaMythos, die die Heldentat allein im Tod der Heldin begründen.42 Mit Aleida Assmann sind aktive sakrifizielle und passive viktimologische Opfer zu unterscheiden,43 die entsprechend über geschlechtsspezifische Codierungen visualisiert werden. Während der Mann sein Leben aktiv für das Interesse seiner Gemeinschaft opfert, und das macht eines der zentralen Motive patriotischer Kriegsfilme aus, steht der Frauenfigur eine auf der Unschuld aufbauende passive Opferrolle zu, die sie in der Regel im Hinterland platziert und in der Handlung marginalisiert.44 Verschiedene Genres bedienen sich dieser Unterscheidung, die in der Darstellung Johannas als Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts abzulesen ist: Die filmische Johanna-Imago entwickelt sich von einem viktimologischen zu einem
42 Sigrid Weigel: »Die geopferte Heldin und das Opfer als Heldin. Zum Entwurf weiblicher Helden in der Literatur von Männern und Frauen«, in: Stephan/Weigel: Verborgene Frau (Anm. 16), S. 138-152, hier S. 141. 43 Aleida Assmann: Der lange Schatten (Anm. 6), S. 22. 44 Vgl. Klein/Stiglegger/Traber: Einleitung (Anm. 2), S. 15-17.
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sakrifiziellen Opfer, und das Genre verschiebt sich von einem historischen Melodrama45 zu einem historischen Kriegsmelodrama. Die früheren Produktionen (Méliès, Dreyer, Bresson, zum Teil Preminger) blenden Johannas politische und Kriegsaktivität aus und fokussieren die Handlung allein auf den Prozess und die Hinrichtung. Zweifellos ist die ausgewählte theatralische Ästhetik der Darstellung bei Dreyer46 oder Bresson – die Nahaufnahmen, das Licht und die Einschließung Johannas in den klaustrophobischen Räumen – wirkungsvoll, um nicht nur um die Tragödie eines ungerecht behandelten Bauernmädchens zum Ausdruck zu bringen, sondern auch um der mythologischen Verklärung Johannas entgegenzuwirken.47 Jedoch überschreiten diese Filme gängige Weiblichkeitszuschreibungen nicht, selbst wenn sie die Heldin momenthaft als Jesus Christus stilisieren und sie daher androgyn und desexualisiert präsentieren.48 Technische Voraussetzungen waren bereits ausreichend vorhanden, um die Kriegsszenen darstellen zu können. Georges Méliès lässt in seinem Film Jeanne d’Arc (1899) die Schlachtszene mit Johanna bei Orléans aus, inszeniert aber eine Szene unmittelbar nach ihrer Gefangennahme als Versuch der Befreiung Johannas. Die Hälfte des etwa zehnminütigen Filmes beschäftigt sich mit dem in die Hinrichtung mündenden Prozess, bei dem Johanna sehr passiv in Szene gesetzt wird. In Dreyers Film löst erst Johannas (Renée Falconetti) Hinrich-
45 Zu den etablierten Genreelementen der Johanna-Filme siehe Judith Klinger: »Jeanne d’Arc«, in: Kiening/Adolf: Mittelalter im Film (Anm. 9), S. 135-170. 46 Dagmar von Hoff: »Von der Akribie zur Passion. Jeanne d’Arc in Carl Theodor Dreyers Passion der Jeanne d’Arc«, in: Röckelein/Schoell-Glass/Müller: Jeanne d’Arc (Anm. 17), S. 220-241. Nach von Hoff verdichtet Dreyer durch seine Darstellungsweise historische und mythische Dimensionen. 47 Knabel: Mythos im Prozeß (Anm. 11), S. 146. 48 So nimmt DeMille das Martyrium Johannas vorweg, indem die Jungfrau am Anfang der Handlung im auf sie projizierten Lichtkreuz als Gekreuzigte steht. Dreyers Johanna trägt einen dem Dornenkranz von Jesus ähnelnden Kranz. Johanna geht bei Dreyer, Bresson und Duguay barfuß zum Scheiterhaufen und referiert somit auf die bildkünstlerische und filmische Ikonographie des Weges Christi zum Hinrichtungsort auf dem Hügel Golgota. Duguays Johanna sieht in Analogie zu Judas’ Verrat an Jesus den Verrat des Königs voraus und lässt ihn wie Jesus trotzdem geschehen, was Duguay als notwendiges Opfer für die Vereinigung Frankreichs inszeniert.
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tung eine Revolution aus. Eine solche Ausblendung der Schlachtszenen rückt die Heldin visuell-narrativ in eine passive Opfersituation und reproduziert somit gängige Weiblichkeitszuschreibungen von einer friedfertigen Frau, die auf eine lange Tradition zurückblicken und besonders im 19. und 20. Jahrhundert wieder an Popularität gewinnen.49 DeMilles Film Joan the Woman etabliert 1916 mit seiner großzügig arrangierten Kampfszene bei Orléans, mit einer beeindruckenden Zahl von Darstellern und spektakulären Stunts die aktuell verbreitete, historisierende Perspektive auf Johanna, die sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzt. DeMille dreht aufwändige Schlachtszenen jedoch nicht, um Johanna (Geraldine Farrar) zu heroisieren – das ist ein Nebeneffekt dieser Narration –, sondern um den männlichen Heroismus an der Front im Ersten Weltkrieg zu fördern. Johannas Geschichte entfaltet sich als eine Binnenhandlung und dient als Vorbild der Selbstopferung im Interesse der Gemeinschaft für Soldaten. In der Rahmenhandlung sucht ein Kommando einen Freiwilligen, um eine Bombe möglichst nah ans Feindeslager zu bringen. Der Held, ein britischer Soldat namens Eric (Wallace Reid), ist gerade derjenige, der in der Binnengeschichte Johannas einen von ihr geretteten englischen Hauptmann spielt. Am Ende richtet DeMille den Heroismus dezidiert männlich aus, indem er die Notwendigkeit der heroischen Selbstaufopferung als männliche Pflicht redefiniert. Dieses Narrativ profitiert von einer ausgeprägten binären Weiblichkeits- und Männlichkeitsdifferenz, um den vollzogenen Paradigmenwechsel im Heroischen deutlich zu machen. In diesen frühen Filmen zeichnet sich bereits das Interesse an Johanna als Beispiel für eine heroische Standhaftigkeit ab, für ihre kompromisslose Haltung, »bis ans Ende zu gehen«.50 In den meisten Produktionen fehlt jedoch noch das politische Subjekt, gerade durch die Auslassung der kriegerischen und politischen Aktivitäten der Heldin, die später über die Kontraststruktur von ihrem Aufstieg und Fall, von ihrer Aktivität und Passivität aufgebaut wird. Dreyer löscht die Heldin aus und lässt die revolutionäre Masse zum Subjekt aufsteigen – eine politische Erfahrung um 1900. Während DeMille ein männliches soldatisches Subjekt konstituiert, löst Bresson das Subjekt ›Johanna‹ auf: Im Rauch des Scheiterhaufens verschwindet sie.
49 Hagemann: Venus und Mars (Anm. 3) S. 13. 50 Slavoj Žižek: Das Unbehagen im Subjekt. Wien 1998, S. 121.
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III. D IE
HISTORISIERENDE
P ERSPEKTIVE
Seit den 1950er Jahren beginnen die Filme, Johannas Kriegsaktivität in den Vordergrund zu rücken, womit sie sich den Topoi des männlichen Heroismus annähert, die über ihr religiös-christliches Martyrium hinausgehen. Johanna kämpft zwar in den aktuelleren Filmen kaum, jedoch befindet sie sich auf dem Kampffeld inmitten der Schlacht und in der ›Avantgarde‹ des Heers. Diese Darstellungen heben die Universalisierungsgeste früherer Produktionen durch den historischen Kontext auf, der mit den militärpolitischen und filmästhetischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts korrespondiert. Zum einem bildet sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kriegsgenre heraus, das sich mit Schlachtszenen, Heroismus und Körperverletzungen profiliert; zum anderen erobern Frauen seit den 1960ern das Horror- und das Science-Fiction-Genre, die ihnen Aktivität, Aggressivität und Täterschaft zugestehen.51 Milla Jovovich als Johanna ruft zum Beispiel die Referenz auf den erfolgreichen Science-Fiction-Film The Fifth Element (F 1997, R: Luc Besson) auf, den Besson unmittelbar vor dem Johanna-Film gedreht hatte. Die künftige Johanna-Darstellerin spielt hier eine außerirdische, höchst sexualisierte Kriegerin. Im Zuge der emanzipatorischen Frauenbewegung seit den 1960ern und der Öffnung der europäischen und US-amerikanischen Armeen für Frauen in den 1990ern entsteht zudem eine heroische Soldatinnen-Figur im Film:
51 Vgl. Judith Halberstam: Skin Shows. Gothic Horror and the Technology of Monsters. Durham, London 2006. Die in die Enge gedrängten Frauenfiguren stehen dabei nicht in der männlichen Tradition des Heroischen. Einige Filme versprechen zwar durch den Sieg über das Monster die Rettung für die Gemeinschaft, jedoch fehlt den kämpfenden Frauenfiguren das Pathos. Der Mut wurzelt in der Regel in der Abwehrnotwendigkeit (die Frauen werden meistens aktiv, wenn alle männlichen Figuren tot sind) und kippt am Ende der Handlung in eine sadistische Lust um. Dennoch wird eine kämpfende Frau als Phantasie im Kino möglich, mit der auch neue Ordnungen verhandelt oder gar etabliert werden. Von den neueren Produktionen sind exemplarisch das Grindhouse-Projekt Planet Terror (USA 2007, R: Robert Rodriguez), Death Proof (USA 2007, R: Quentin Tarantino), oder die Resident-Evil-Reihe (D/UK/F 2002, R: Paul W. S. Anderson; CAN/UK 2004, R: Alexander Witt; CAN/UK 2007, R: Russel Mulcahy; CAN/D 2010, R: Paul W. S. Anderson) zu nennen.
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Courage Under Fire (USA 1996, R: Edward Zwick) und G.I. Jane (USA 1997, R: Ridley Scott),52 um nur einige wenige Beispiele zu nennen. In Analogie zu diesen Produktionen muss sich Johanna erst in der männlichen Domäne behaupten, womit filmästhetische Bereiche markiert werden, die in der Regel mit Männerfiguren in Verbindung gebracht werden – königlicher Hof, Armee und Kirche. Deutlich wird vor allem, dass Weiblichkeit und Männlichkeit in realistischen Genre-Traditionen auf fixierte Repräsentationschiffren festgelegt werden, deren Verschiebung oder Umcodierung grundsätzlich begründet werden muss, besonders wenn es um die Darstellungen von Staatsinstitutionen und Machtbereichen geht. Die sozial- und geschlechtsspezifischen Überschreitungen Johannas werden aussagekräftig für die Starrheit der Klassen- und Gender-Differenzen über Wundererscheinungen, Cross-Dressing-Strategien und Johannas ungewöhnliche Eloquenz legitimiert. Das Cross-Dressing steht in der Tradition der sogenannten Heldenjungfrauen des 19. Jahrhunderts, die auf dem Schlachtfeld ihre Weiblichkeit durch Männerkleidung tarnten und erst mit ihrem Heldentod von der männlichen Gemeinschaft akzeptiert wurden.53 So wird in jedem Film das Abschneiden von Johannas schönen Haaren und ihr Anlegen des Harnischs zur symbolischen Auslöschung des Weiblichen, die zugleich auf der Ebene der visuellen Ästhetik unterwandert wird: Mit Ausnahme des sowjetischen Johanna-Films wird die Hauptrolle mit schönen Frauen, meistens etablierten Stars, besetzt. Ihre Rolle spielt bei Preminger Jean Seberg, bei Fleming
52 Diese Filme entwerfen eine Heroine in der Auseinandersetzung mit der Misogynie in der männlichen Armee, indem die Frauen nicht mit äußeren Feinden, sondern mit ihren männlichen Kameraden zu kämpfen haben. Der Heroismus dieser Frauen besteht überwiegend in ihrer Akzeptanz als gleichwertige, vertrauenswürdige Kameradinnen durch ihre männlichen Kameraden, indem ihre Festlegung auf ein potenzielles Sexualobjekt und somit die misogynen Einstellungen der Männer überwunden werden, ohne jedoch ihre Sexualität oder Attraktivität auszulöschen. Diese Filme entwickeln dabei keine neue Ordnung. Ihre Heldinnen erscheinen als Trägerinnen einer etablierten männlichen Ordnung, deren Traditionen sie übernehmen und fortschreiben. Der Heroismus beruht ähnlich wie in den Johanna-Filmen auf Standhaftigkeit, selbst wenn er nicht in dieser radikalen Form erscheint. 53 Hagemann: Heldenmütter (Anm. 36), S. 193.
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Ingrid Bergman, bei Besson Milla Jovovich, bei Duguay Leelee Sobieski, bei Mundruczó und Petrányi Orsi Tóth. Diese Interdependenz von genuin ›weiblichen‹, sexualisierten und fetischisierten Weiblichkeitsbildern auf der einen Seite und vom durch die Filmgeschichte als männlich etablierten Kriegsnarrativ54 auf der anderen Seite dient dem Spannungsaufbau und entwirft ein drittes, queeres Geschlecht. Es zeichnet sich dadurch aus, dass seine Weiblichkeit ausgestellt, gleichzeitig aber seine Männlichkeit behauptet wird. Die typischen Geschlechterzuschreibungen werden in ihrer Heterogenität beibehalten, ihre Zusammenführung produziert aber eine Vieldeutigkeit, die die Geschlechterordnung neu konfiguriert. Johanna bleibt zwar durchaus erotisiert, aber traditionelle heterosexuelle Liebes-, Täter-Opfer-, Vater-Tochter-, RichterAngeklagte-Beziehungen werden unterminiert. Beispielsweise pflegt Johanna mit den Hauptmännern eine soldatische Kameradschaft, die zugleich die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung offenlässt. Die visuell-ästhetischen Hierarchie- und Geschlechtstransgressionen verhandeln bildästhetische Traditionen des Weiblichen, deren Neubestimmung eher dem etablierten Repräsentationssystem geschuldet ist. Darüber hinaus konzeptualisieren sie auch das ethische Subjekt neu, wie es Slavoj Žižek in den poststrukturalistischen Debatten darlegt.55 Mit Johanna hinterfragen die Filme eigene visuell-narrative Präsentationslogiken, die Analogien zu sprachlichen Subjektivierungsprozessen aufweisen. Johanna eignet sich über das Cross-Dressing den Status eines politischen Subjektes an, den sie in Bezug auf das Gesetz (die Stimme Gottes, der Heiligen) legitimiert. Sie setzt dadurch die Prozesse der Sinnstiftung in Wechselwirkung mit den Machtträgern in Gang und transformiert, ja verfremdet sie zugleich aufgrund der Weiblichkeitsbilder, die das Visuelle betonen und mit denen be-
54 Beispielsweise zieht sie sich selbst den Pfeil aus der Schulter heraus, was sie in die Tough-Guys-Tradition, entwickelt in den 1980ern, einreiht. Zum Beispiel schneidet sich Rambo (Sylvester Stallone) im gleichnamigen Film (USA 1982, R: Ted Kotcheff) selbst Projektile heraus und näht die Schnitte zusammen. 55 Žižek: Unbehagen (Anm. 50), S. 87-125. In seiner Analyse der ethischen Haltung des gegenwärtigen Subjektes setzt er sich mit Kant, Hegel, Kierkegaard und Lacan auseinander und spricht hauptsächlich von einem sprachlichen Subjekt, d. h. von einer Spaltung in das Subjekt der Aussage und in das Subjekt des Ausgesagten.
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stimmte soziale und auch narrative Erwartungen verbunden sind. Ihr Subjektstatus ist also aufgrund geschlechtsspezifischer Zuschreibungen und ästhetischer Traditionen nicht selbstverständlich und muss wiederholt von den wichtigen Machtinstitutionen anerkannt werden. Als Agentin der höchsten, traditionsgemäß väterlichen Instanz führt sie das Gesetz unverfälscht vor, ja sie führt es konsequent durch, wobei sie die Lücken in der symbolischen Ordnung bzw. in den Machtinstitutionen offenbart, die sich gerade auf dieses von ihr repräsentierte Gesetz berufen. Johannas unbeschränkte Insistenz auf dem Wort Gottes macht die Differenz zwischen dem Gesetz und der Machtinstitution deutlich. Die Filme inszenieren diese unbeirrte Standhaftigkeit als Wahn (Besson) oder als politische Naivität (Preminger, Fleming, Duguay). Johanna verwandelt sich zu einer übermächtigen, monströsen Instanz, deren Forderungen dem Gesetz entsprechen, aber in der ›Realität‹ ins Grausame und damit ins Unmenschliche abdriften. Beispielsweise ist auf die verlustreichen Niederlagen zu verweisen, in denen ihre Kameraden (Besson, Fleming) oder ihre Brüder (Duguay) aufgrund ihres ›unvernünftigen‹ Beharrens zugrunde gehen. Wenn der König sie fortschickt, avanciert sie bei der Inquisition zur ›Ur-Instanz‹ der Gesetzgebung und Sinnstiftung. Das heißt, dass die Inquisitoren im Prozess mit dem eigenen Gesetz in seiner Buchstäblichkeit konfrontiert werden.56 Sie führt in der ›Realität‹ vor, was die Theologen abstrakt zum Gesetz erhoben haben, und demonstriert mit ihrer konsequenten Durchführung seine Ambivalenz von Unmöglichkeit und Notwendigkeit.57 Johanna vertritt das höchste Gesetz, durch das sie zum einflussreichen politischen Subjekt aufsteigt und durch das sie sich als solches überhaupt behaupten kann. Diese subjektkonstituierende Selbstvergewisserung, die sie zur Macht gebracht hat, löscht sie im Gerichtsprozess aus. Wenn sie das Gesetz ablehnt bzw. sich als Frau dem Gesetz unterwirft, verliert sie ihren Subjektstatus als Kriegerin. Mit Johanna wird der konstitutive Mangel jeglicher Subjektivierung ausgestellt. Das Heroische besteht im Prozess und in der Hinrichtung, bei denen Johanna den aufgedeckten Mangel des Gesetzes übernimmt und das Gesetz auf Kosten ihres Lebens aufrechterhält. Ihre Hinrichtung ist daher ambivalent: Johanna lässt das Gesetz siegen, vergegenwärtigt mit der
56 Ebd., S. 100-107. Žižek diskutiert die ethische Standhaftigkeit im Kapitel mit dem Titel »Weiblicher Akt«. 57 Ebd., S. 105.
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Selbstauslöschung aber seinen Mangel. Besson versucht das Symbolische dadurch zu retten, indem er seine Lücken als Irrationalität des Weiblichen abspaltet. Johanna deckt aber die Stellen des Versagens des männlichen Verstands auf, markiert das Ende der männlichen Rationalität und der männlichen Logik. Umso mehr hinterlässt ihre Hinrichtung eine nicht mehr zu deckende Leere, weil deutlich wird, mit welcher Gewalt die bestehende Ordnung sich selbst verteidigt.
IV. D ISTANZIERENDE P ERSPEKTIVE Diese Perspektive setzt Johannas Geschichte in einem gegenwärtigen Kontext um und bedingt dadurch die Reflexion und Transformation des Johanna-Mythos. Die Filme distanzieren sich vom historischen Ereignis, absorbieren für ihre Handlung wichtige Elemente aus dem Mythos und reflektieren die Medien, die den Mythos nach ihren Logiken umwandeln. Panfilovs Johanna-Film aus dem Jahr 1970 inszeniert einen Film im Film, wodurch er sich mit der sowjetischen Kinoindustrie, der Zensur und seiner eigenen Entstehung auseinandersetzen kann. Der Johanna-Mythos, die Dreharbeiten zum Film über Johanna und die Liebe der Fabrikarbeiterin und Laienschauspielerin Paša (Inna ýurikova) verflechten sich. Die Arbeit am Mythos und seine Fragmentarisierung ermöglichen den Transfer in die sozialistische ›Wirklichkeit‹ mit der Selektion wichtiger Elemente. Johanna und Paša ergänzen einander, indem Johanna diejenigen Werke diskutiert, die Paša im wirklichen Leben repräsentiert. Paša, wie Johanna eine Frau aus dem Volk, gelingt es, über die Rolle Johannas erfolgreich die Karriere im großen Kino zu starten. Wo Johannas Mythos an sein Ende gelangt, beginnt ihr neuer Anfang als Künstlerin, wie der Filmtitel Ein Anfang, erst am Ende der Handlung eingeblendet, mitteilt. Durch die Spaltung der Hauptfigur werden im Umgehen der sowjetischen Zensur solche Themen verhandelt wie: Talent versus Schönheit bei der Auswahl der Schauspielerinnen, das Kino als politischer Auftrag oder intellektueller künstlerischer Ausdruck, das Kino als Medium sozialistischer Ideologie oder als subversiver Akt künstlerischen Widerstands sowie die Rolle des Individuums in der Gesellschaft. Die Kritik an der sozialistischen Ideologie wird ins Frankreich des Mittelalters transferiert.
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Kornél Mundruczó und Viktória Petrányi referieren mit ihrem Film Johanna (2005) auf Dreyers und Bressons Verfilmungen, da sich die Handlung in den geschlossenen, klaustrophobischen Räumen eines Krankenhauses entwickelt. Sie folgen den wichtigen Mythos-Stationen, genauer gesagt reproduzieren sie sie nur zeichenhaft (z. B. werden Wunder Johannas in Form ihrer Reanimation angesprochen, wenn die Ärzte ihr Röntgenbild betrachten – das Wunder ist Johannas körperliche Genesung nach der Überdosis) und verfremden sie zugleich mit Brecht’schem Gestus durch die Umdeutung der Symbole, den Operngesang, den Verlust an Orientierung, die Unterbeleuchtung, die Reflexion der medizinischen Apparatur und letztendlich durch die Zerstörung der Illusion, wenn die Verletzten eines die Szenerie in Gang setzenden Autounfalls am Anfang der Handlung aufstehen und sich das Blut abwischen – alles ist nur eine Inszenierung. Die Stimme Johannas gehört ihr gar nicht, ist buchstäblich die Ordnung des Anderen. Für die Darstellerin Orsi Tóth singt die Opernsängerin Eszter Wierdl. Johanna erscheint als eine gerettete Drogensüchtige, die nach ihrer Wiederbelebung an Amnesie leidet und den Namen ›Johanna‹ von den Ärzten erfährt. Die ungarische Produktion zeichnet den Mythos als eine Signifizierungspraxis auf, die beliebig transferierbar und umschreibbar ist, solange die bedeutungstragenden Symbole beibehalten werden: der Name Johannas, die Wunder, ein Herrschaftssystem, das Johanna kraft des Gesetzes verurteilt, und der Scheiterhaufen. Beide Filmproduktionen kristallisieren aus dem Mythos die Attraktivität Johannas für die Gegenwart in ihrer innovativen Andersartigkeit heraus, die sich mit den traditionsreichen Topoi des Weiblichen als Anderem verschränkt. Paša und Johanna werden als einzig- und fremdartige Figuren in die Handlung eingeführt, deren Integration in die Gesellschaft und durch die Gesellschaft ausbleibt. Paša ist unschön (sie muss immer Hexen im Kindertheater spielen) und unglücklich in der Liebe; als Fabrikarbeiterin ist sie ebenso fremd in der Kunst wie der Mythos Johanna für die sowjetische Kinotradition. Um die Andersartigkeit aufrechtzuerhalten, schreiben die Filme etablierte Weiblichkeitszuschreibungen fort58 und blenden Johannas Kriegsak-
58 Die Filmbeispiele stammen zudem aus dem ehemaligen (post-)sozialistischen Kontext, der sich auf eine andere Geschlechtertradition beruft. Sie gesteht der
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tivität aus: Paša ist Schauspielerin; Johanna ist Krankenschwester. Sie verschieben oder codieren jedoch stereotype Weiblichkeitsbilder um, womöglich wegen der Unverbindlichkeit des religiösen Diskurses: Ihre Andersartigkeit drückt sich nicht in ›Vermännlichung‹, Androgynität oder GenderUneindeutigkeit aus, sondern in der Inversion bestehender Weiblichkeitsbilder, ohne die heterosexuelle Matrix aufzulösen. Paša verführt einen verheirateten Mann, scheitert jedoch in dieser verbotenen Liebesbeziehung und somit im durch die Gesellschaft zugewiesenen Bereich weiblicher Selbstbestimmung. Ihre Verwirklichung steht in der Kunst bevor. Die ungarische Johanna ist promiskuitiv, also eine Hure, als die sie von Engländern und Burgundern einst stigmatisiert wurde. Sie heilt die Patienten durch sexuelle Akte und etabliert auf diese Weise eine nicht traditionelle Heilpraxis. Mundruczó und Petrányi werten die weibliche Sexualität auf, indem sie ihr subversives, ja revolutionäres Sprengpotenzial zuschreiben. Der Heroismus Johannas in diesen Filmen besteht gerade in der Öffnung neuer Ordnungen als Alternative zur bestehenden patriarchalischen Gesellschaft. Die Heldinnen werden im Sinne Turners zu Schwellenfiguren. Paša demonstriert mit ihrer Schauspielkunst den Wert des Individuellen in der sozialistischen Kollektivgesellschaft. Panfilov artikuliert mit JohannaPaša59 emanzipatorische Forderungen des ›Tauwetters‹ nach Individualität und künstlerischer Freiheit gegenüber dem Kollektivismus und der Kunst im Auftrag der Partei. So wird Johanna-Paša als Rebellin gegen bestehende Konventionen (Ehe – nicht-eheliche Partnerschaft, professionelle Kunst – Laienkunst) und als Grenzgängerin (Fabrik – Kunst) zur Verkörperung einer Innovationsidee für die Gesellschaft. Sie markiert einen neuen Anfang für die erstarrte Gesellschaft. Die ungarischen Regisseure definieren ihre Johanna als »Sauerstoff« – so die gängige Metapher in dieser Film-Oper – für die erstickende Atmosphäre der Gesellschaft, die als Krankenhaus dargestellt wird. Johanna
Frau mehr Aktivität in der Narration zu und stellt sie öfter als Hauptfigur dar, selbst wenn sie der sozialistischen Ideologie dient. 59 Anzumerken ist, dass die arbeitende Frau als ein Topos der neuen sozialistischen Gesellschaft in den Betriebsfilmen der Stalinzeit etabliert wurde. So imaginiert das ›Tauwetter‹ soziale Innovation und Emanzipation mit männlichen Künstlern in den Filmen der 1960er. Panfilovs Film gehört mit seiner weiblichen Protagonistin zur Ausnahme.
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scheitert an der Durchsetzung neuer Werte, genauer gesagt bemüht sie sich gar nicht, diese zu etablieren. Sie heilt einfach Patienten, ohne sich der Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst zu sein. Der Kinderchor, der Johannas Unschuld betont, infantilisiert sie zugleich. Eine solche Essentialisierung der politischen Subversion nimmt der sozialen Rebellion die Kraft. Am Ende töten die Ärzte Johanna und verbrennen sie, in einen Müllsack verpackt, mit vielen anderen Säcken. Es gab also schon mehrere Helden und Heldinnen, die diese Gesellschaft erfolglos durch Liebe und Hingabe zu ändern versuchten. Johannas Verbrennung reißt in den beiden Filmen keine Lücke im Repräsentationssystem auf. Johanna gehört als Fremdkörper von Anfang an nicht zur entworfenen Gesellschaft – im Gegensatz zur historisierenden Perspektive, in der die Verwandlung Johannas zur Kriegerin vorgeführt wird. Ihre Kraft ist hier ihre Andersartigkeit, mit unterschiedlichen sozialen Folgen. Panfilov zeigt durch die Fortsetzung und den Sieg des Mythos in der Gegenwart die Unsterblichkeit Johannas. Mundruczó und Petrányi beseitigen hingegen mit ihrer Ermordung die zufällig entstandene, ungeklärte Diskontinuität. Johanna ist keine bewusste Rebellion gegen das bestehende System, sondern vielmehr ein Unfall.
V. F AZIT Johanna ist also in den ästhetischen Filmrepräsentationen zum Exempel des spezifisch weiblichen Heroismus geworden, dem sie gleichzeitig eine grundlegende Ambivalenz verleiht. Einerseits fungiert die Heldin als Beispiel dafür, wie die genuin ›männlichen‹ Konzepte (Kriegsheroismus, Pathos, Mut, Innovation) für Weiblichkeitsrepräsentationen erfolgreich adaptiert werden können. Dadurch werden neue Weiblichkeitsbilder entworfen sowie neue bildästhetische und narrative Strategien ausprobiert, die kritische Fragen nach Strukturen der Repräsentation oder der Gesellschaft aufwerfen. Auf der Produktionsebene bedeutet dies, Schauspielerinnen zu engagieren und ihnen dank dieser Legende einen internationalen Ruf zu ermöglichen. Andererseits stellt Jeanne d’Arc eine singuläre Erscheinung in der Filmgeschichte dar, die die Möglichkeit des weiblichen Heroismus allein dem Mittelalter zuschreibt und diesen durch die Wunderinszenierungen, die zum Bestandteil des Johanna-Mythos gehören, als ein exklusives, ja irreales
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Phänomen bestimmt. Das Johanna-Narrativ ist daher außerhalb des Mythos kaum denkbar. Nur einige wenige Filme mit der distanzierenden Perspektive versuchen, Johannas Heroismus auf andere soziale Kontexte zu übertragen und dadurch gegenwärtige Heldinnen zu legitimieren. Die meisten Regisseure bevorzugen es jedoch, am historisch-mythologischen Material zu arbeiten. Der Verdacht liegt nahe, dass die historisierende Perspektive allein durch das anregende Moment aufrechterhalten wird, an die Grenze eigener Repräsentationslogiken zu gehen und diese herauszufordern. Verzeichnis der Johanna-Filme Jeanne d’Arc (F 1899; R: Georges Méliès) Joan the Woman (USA 1916; R: Cecil B. DeMille) Die Passion der Jungfrau von Orléans (La Passion de Jeanne d’Arc) (F 1928; R: Carl Theodor Dreyer) Johanna von Orleans (Joan of Arc) (USA 1948; R: Victor Fleming) Die heilige Johanna (Saint Joan) (USA 1957; R: Otto Preminger) Der Prozeß der Jeanne d’Arc (Procès de Jeanne d’Arc) (F 1962; R: Robert Bresson) Ein Anfang (Naþalo) (UdSSR 1970; R: Gleb Panfilov) Johanna von Orléans (The Messenger: The Story of Joan of Arc) (F 1999; R: Luc Besson) Jeanne d’Arc – Die Frau des Jahrtausends (Joan of Arc) (CAN 1999; R: Christian Duguay) Johanna (HUN 2005; R: Kornél Mundruczó/Viktória Petrányi) Wer war Johanna von Orléans? (Vraie Jeanne Fausse Jeanne) (F 2007; R: Martin Meissonnier)
Held mit Serienformat Zur Figurendisposition von Special Agent Gibbs in Donald P. Bellisarios Navy CIS* N IKOLAS I MMER
Kurt Davenport kicked off his shoes, and sat down on his couch to watch NCIS, his favorite television show. In fact, other than the other three CSI dramas currently airing, NCIS was the only show he ever watched with any regularity. He idolized Gibbs, Ducky made him laugh, and he was secretly in love with Abby.1
Der amerikanische Kriminalautor Charles Henry Foertmeyer eröffnet mit dieser knappen Beschreibung der Figur Kurt Davenport das achte Kapitel seines Thrillers The Threef Project (2005). Die zitierte Passage ist zum einen als modernes Rezeptionszeugnis der in den USA ungemein beliebten Serie Navy CIS zu werten, deren Titel auf die amerikanische Ermittlungsorganisation ›Naval Criminal Investigative Service‹ verweist. Zum anderen wird hier das spezifische Rezeptionsverhältnis gegenüber den filmischen Serienhelden anhand einer literarischen Figur exemplarisch ausgestellt. In
*
Bei der Einzelanalyse der Serie beschränke ich mich im Folgenden auf die erste Staffel von Navy CIS. Zitate aus der deutschen Synchronfassung folgen der CBS-Veröffentlichung: NCIS. Die erste Season. USA 2006. Die Zitate werden unter Angabe der Seriennummer, des deutschen Episodentitels und des Timecodes (TC) nachgewiesen.
1
Charles Henry Foertmeyer: The Threef Project. Lincoln 2005, S. 60.
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interner Fokalisierung erfährt der Leser zunächst von Davenports serienspezifischer Vorliebe, die in Form eines qualitativen Vergleichs präsentiert wird. Denn im Gegensatz zu den CSI-Kriminalserien – womit CSI: Den Tätern auf der Spur (USA 2000 ff., Idee: Anthony E. Zuiker), CSI: Miami (2002–2012) und CSI: New York (2004 ff.) gemeint sind – ist Navy CIS die einzige Serie, die Davenport regelmäßig verfolgt. Die Ursache dafür scheint in einer besonderen ästhetischen Präsentationsleistung der Erfolgsserie zu liegen, die es dem Zuschauer ermöglicht, das vorgeführte Figurenensemble als quasi-familiäres Kollektiv zu erleben. Dabei erfüllen die einzelnen, bei Foertmeyer nur ausschnittweise aufgeführten Charaktere unterschiedliche Funktionen: Während Davenport Special Agent Leroy Jethro Gibbs bewundert – und ihn auf diese Weise bereits implizit zu einem Helden stilisiert –, erheitert ihn die kauzige Art des Pathologen Dr. Donald ›Ducky‹ Mallard, wogegen er in die Forensikerin Abigail ›Abby‹ Sciuto sogar verliebt ist. Somit bietet die typisierte Figurenanlage der Serie ein breites Spektrum rezeptionsästhetischer Bezugsmöglichkeiten, die sich bis zum Modus der ästhetischen Identifikation steigern können.2 Doch Navy CIS präsentiert nicht nur eine Ermittlerfamilie mit ausgeprägten Einzelcharakteren, sondern auch mehr oder minder schwere Verbrechen, die sich im Milieu der United States Navy oder des United States Marine Corps ereignet haben. Da wiederholt auch Mordfälle zu lösen sind, müssen sich die Protagonisten immer wieder (lebens-)gefährlichen Situationen aussetzen und in diesen physische und psychische Stärke zeigen. Zwar sind sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche nicht in gleichem Maße körperlicher Bedrohung ausgesetzt, doch gibt die Serie im Verlauf ihrer inzwischen mehr als 200 Folgen jedem der Mitspieler die Möglichkeit, mehr als einmal als Held in Erscheinung zu treten. Dabei verlieren die Figuren allerdings nie ihre menschliche Seite und bleiben trotz ihrer spezifischen Einzelkompetenzen fehlbar. Der Erfolg der Serie dürfte nicht zuletzt darauf zurückgehen, dass darin keine universal begabten und moralisch lupenreinen Figuren, sondern ›menschenmögliche Helden‹ vorgeführt werden.
2
Vgl. Hans Robert Jauß: »Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden [1974]«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 21997, S. 244-292.
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Im Anschluss an eine knappe Gattungsdiskussion des Serienhelden (I) soll im Folgenden ein Überblick über die Anlage der Krimiserie Navy CIS gegeben werden (II). Mit Blick auf die Handlungsdominanz von Special Agent Gibbs ist zu fragen, ob und inwieweit er trotz offenkundiger Ablehnung von ›Heldenallüren‹ als eine heroische Figur qualifiziert werden kann (III). Dabei ist sein Verhalten in Berufs- und Privatleben zu unterscheiden, da beide Bereiche bei ihm erheblich kontrastieren. Schließlich werden in einem Resümee (IV) zentrale Charakteristika dieser seriellen Heldenkonfiguration gebündelt.
I. W IEDERHOLUNGSZWANG – S ERIALITÄT UND S ERIENHELD Die anfänglich geschilderte Beziehung Davenports zu den Lieblingsfiguren seiner bevorzugten Kriminalserie kann in unkritischer Perspektive zweifellos positiv gewertet werden. Eine solche Einschätzung verdeckt allerdings die durchaus problematische Seite dieses Rezeptionsverhaltens, das Theodor W. Adorno bereits in seinem Aufsatz How to Look at Television (1954) mit einer Kritik am seriellen TV-Format verbunden hatte. Darin wendet er sich ausdrücklich gegen die Vermittlung trivialer Inhalte, gegen die schablonenhafte Präsentation serieller Figuren sowie gegen die stereotypen Darstellungskonventionen.3 Auch wenn die medialen Produkte der Kulturindustrie, wie es in der Dialektik der Aufklärung (1944) heißt, bestimmte »Serienqualitäten« aufweisen, um konkrete Adressatenschichten zielgenau erreichen zu können, sei es ihnen prinzipiell eingeschrieben, phantasievernichtend auf den Rezipienten zu wirken.4 In der Radikalform folge aus dieser Entmündigung durch Amusement »eine Art von Fernsehsüchtigkeit […], bei der schließlich das Fernsehen […] durch seine bloße Existenz zum
3
Vgl. Theodor W. Adorno: »How to Look at Television«, in: The Quarterly of Film, Radio and Television 3 (1954), S. 23-25.
4
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1997, S. 131. Weiter heißt es: »Indem er [der Tonfilm] […] der Phantasie und dem Gedanken der Zuschauer keine Dimension mehr übrigläßt, […] schult er den ihm Ausgelieferten, ihn unmittelbar mit der Wirklichkeit zu identifizieren.« (Ebd., S. 134).
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einzigen Bewußtseinsinhalt wird und durch die Fülle des Angebots die Menschen ablenkt von dem, was eigentlich ihre Sache wäre und was sie eigentlich angeht.«5 Auch bei Davenport scheint zumindest ein erstes Stadium der »Fernsehsüchtigkeit« erreicht: Er ist von einigen Figuren seiner favorisierten Serie Navy CIS derart fasziniert, dass eine regelmäßige ›Begegnung‹ mit ihnen erforderlich wird. Gegenüber dieser radikalen fernsehtheoretischen Position der Kritischen Theorie mutet es erstaunlich an, dass sich ein Begriff wie ›Qualitätsserien‹ (Quality Television Series) hat durchsetzen können.6 Wird jedoch Adornos ideologische Perspektivierung dieser Problemstellung zurückgewiesen, lässt sich anstelle einer pauschalen Abwertung des seriellen TVFormats ihr ästhetischer Eigenwert anerkennen. Insbesondere angesichts der Ende des 20. Jahrhunderts sprunghaften Zunahme von Serienproduktionen wird die Reduktion des Genres auf stereotype Darstellungskonzepte der Vielfalt, Komplexität und Originalität gegenwärtiger Serienformate nicht mehr gerecht. Um eine angemessene Bestimmung von Qualitätsserien leisten zu können, hat Robert J. Thompson in seiner einschlägigen Studie Television’s Second Golden Age (1996) zwölf Kriterien formuliert, die auch heute noch – wie Robert Blanchet gezeigt hat – weitgehende Gültigkeit beanspruchen dürfen.7 Prinzipiell ist die Theoriegeschichte des Seriellen im 20. Jahrhundert, wie Kristina Köhler zusammenfassend dargelegt hat, von einem antagonistischen Spannungsverhältnis gekennzeichnet: Auf der einen Seite vergegenwärtige das serielle Format die »redundante ›Wiederkehr des Immergleichen‹«, auf der anderen Seite das »Innovationspotenzial von Variation
5
Theodor W. Adorno: »Fernsehen und Bildung«, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Hg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. 1971, S. 50-69, hier S. 55.
6
Zum ›Qualitätsfernsehen‹ generell vgl. Janet McCabe und Kim Akass (Hg.): Quality TV. Contemporary American Television and Beyond. London 2007.
7
Vgl. Robert J. Thompson: Television’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER. New York 1996, S. 13-16; Robert Blanchet: »Quality-TV. Eine kurze Einführung in die Geschichte und Ästhetik neuer amerikanischer Fernsehserien«, in: Robert Blanchet u. a. (Hg.): Serielle Formen. Von den frühen FilmSerials zu aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg 2011, S. 37-70, hier S. 44-68.
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und Wiederholung«.8 Festzuhalten bleibt in beiden Fällen das Erfordernis, eine einmal etablierte Grundkonstellation wiederholen zu müssen, um sichtbar zu machen, dass unterschiedliche Episoden trotz ihrer Diversität zu einer Serie gehören. Diese Identität innerhalb des seriellen Formats lässt sich vermittels unterschiedlicher Elemente herstellen: über die Statik der situativen Anlage, über die Entwicklungsähnlichkeit einzelner Episoden sowie über die Verwendung typisierter Figuren als Handlungsträger. 9 In der Gegenwendung ließe sich auch sagen, dass die genannten Elemente bereits ein »klassisches ›Serial‹« konstituieren, wie dies Georg Mannsperger exemplarisch für die James-Bond-Reihe hervorgehoben hat.10 Muss demnach Adorno mit seinem Vorwurf der Stereotypie doch recht gegeben werden? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Selbstverständlich kommt eine Serie nicht ohne den Umstand aus, vertraute Muster zu schaffen, da ansonsten die Einzelepisode nicht als Teil einer identischen Serie erkannt werden kann. Und je mehr diese Muster reproduziert werden, desto mehr besteht die ›Gefahr‹, in der Narration auf stereotype Konstruktionen zu verfallen. Gleichwohl kann eine Serie so angelegt sein, dass nur der Schauplatz oder eine einzelne Figur als konstantes Serienmoment fungiert. Im Hintergrund dieser skizzierten Opposition steht die gängige Unterscheidung von Episoden- und Fortsetzungsserien,11 die bei Blanchet qualitativ differenziert werden. Auf der einen Seite sind die Episodenserien mit ihren geschlossenen Handlungssträngen zu situieren wie etwa CSI und seine »diversen ›Klone‹«,12 die allein aus strukturellen Gründen viel stärker auf die Normierung ihrer Charaktere, Konfliktlagen und Kontextbindungen verpflichtet sind. Auf der anderen Seite finden sich die Fortsetzungsserien mit ihren
8
Kristina Köhler: »›You people are not watching enough television!‹ NachDenken über Serien und serielle Formen«, in: Blanchet u. a.: Serielle Formen (Anm. 7), S. 11-36, hier S. 19.
9
Vgl. Umberto Eco: »Die Innovation im Seriellen«, in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München, Wien 1990, S. 155-180, hier S. 159-161.
10 Vgl. Georg Mannsperger: »James Bond will return«. Der serielle Charakter der James-Bond-Filme. Wiederkehrende Elemente in 40 Jahren Action-Kino. Diss. masch. Mainz 2003, S. 8. 11 Vgl. Tanja Weber, Christian Junklewitz: »Das Gesetz der Serie. Ansätze zur Definition und Analyse«, in: Medienwissenschaft 1 (2008), S. 13-31. 12 Blanchet: Quality-TV (Anm. 7), S. 40.
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komplex ausgreifenden Handlungssträngen wie etwa The Wire (USA 2002– 2008, Idee: David Simon), die nicht zuletzt aufgrund ihrer avancierten Erzähltechniken als »Qualitäts-TV« bezeichnet werden.13 Dass sich die Kriminalserie Navy CIS nicht ohne weiteres in dieses binäre Schema einordnen lässt, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden. Gunther Eschke und Rudolf Bohne haben außerdem herausgestellt, dass sich eine Serie unabhängig von ihrer Zuordnung zum Bereich der episodischen oder zyklischen Narration durch ein spezifisches ›Alleinstellungsmerkmal‹ (Unique Selling Proposition) auszeichnen müsse, um eine erfolgreiche Wirkung zu entfalten.14 Dabei nennen sie drei Kategorien, die den »USP einer Serie« zur Geltung bringen können: der »Serien-Grundeinfall«, die »Figurenkonstellation und / oder Besetzung« sowie die »Erzählweise«.15 Ohne im Weiteren auf die erste und dritte Kategorie einzugehen, soll mit Blick auf die zweite Kategorie die Figur des Serienhelden gesonderte Beachtung finden. Um das Interesse für die Disposition des Serienhelden zu wecken, muss er einen oder mehrere Grundkonflikte austragen, wobei Eschke und Bohne zwischen dem globalen, lokalen und inneren Konflikt unterscheiden.16 Während sich im ersten Fall die Spannung aus dem Gegensatz zwischen »der Figur und ihrer Welt« ergibt, wobei ›Welt‹ als Synonym für »Institutionen, die Natur« oder »übermenschliche Kräfte« zu verstehen ist,17 zielt der zweite Fall auf eine Opposition von Gleichrangigen, auf das traditionelle Widerspiel von Protagonist und Antagonist. Im dritten Fall geht es um einen der Hauptfigur inhärenten Konflikt, der zumeist mit ihrer backstory verbunden ist und nach wie vor ihr Denken und Handeln beeinflusst. Erst die Konfrontation mit inneren und äußeren Widerständen macht beim Zuschauer das Bedürfnis rege, wissen zu wollen, ob sich der Serienheld in der aktuellen Situation zu bewähren vermag oder ob er den neuen Anforderungen nicht gewachsen ist und scheitert. Dabei ist die Anteilnahme an seinem Schicksal umso größer, je mehr er zu verlieren hat. Eschke und Bohne re-
13 Ebd., S. 43. 14 Vgl. Gunther Eschke, Rudolf Bohne: Bleiben Sie dran! Dramaturgie von TVSerien. Konstanz 2010, S. 29. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd., S. 46 f. 17 Ebd., S. 46.
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kurrieren in diesem Zusammenhang auf den dramaturgischen Begriff der ›Fallhöhe‹ und verbinden damit die Forderung: »Eine Figur muss im Drama bis an ihren persönlichen Abgrund gebracht werden, um uns durch ihre Handlungen zu zeigen, wer sie wirklich ist – ein […] Grundsatz, der natürlich auch für eine dramatisch wirkungsvolle Serie gilt.«18 Mit der Bezugnahme auf die Dramatik wird ersichtlich, dass die Serie, sofern sie einen Serienhelden nach dem genannten Muster präsentiert, strukturelle Verfahren der klassischen Tragödientheorie adaptiert. Schon Friedrich Schiller hat in seiner Schrift Vom Erhabenen (1793) die »zwei Fundamentalgesetze aller tragischen Kunst« formuliert, die in der Darstellung sowohl des Leidens als auch des Widerstands gegen dieses Leiden bestehen.19 Soll nun die heroische Dimension des seriellen Protagonisten ausgestellt werden, muss folglich nicht nur gezeigt werden, wie er an den ›Abgrund gebracht wird‹, sondern auch, wie er diesen liminalen Zustand erträgt. Wie Christopher Vogler in The Writer’s Journey (1992) dargelegt hat, sichert dieser Moment der Extremerfahrung – den Vogler allerdings auf die Todesnähe reduziert – die emotionale Anteilnahme des Rezipienten: Das bisherige Geschehen hat uns – das Publikum – dazu gebracht, uns mit dem Helden und seinem Schicksal zu identifizieren. Was dem Helden geschieht, geschieht auch uns. Wir sind bereit, mit ihm gemeinsam den Augenblick der Todesnähe zu erleben. Angesichts der gefährlichen Situation ist unsere Stimmung niedergedrückt – um wieder aufzuleben, wenn der totgesagte Held zurückkehrt. Und diese Wiedergeburt erfüllt uns mit Freude und Hochgefühl.20
18 Ebd., S. 49. 19 Friedrich Schiller: »Vom Erhabenen«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des SchillerNationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 20, S. 171-195, hier S. 195. Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 183. 20 Christopher Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Aktualisierte und erweiterte Aufl. Frankfurt a. M. 62010, S. 68.
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Doch bevor der Held an diesen polaren Erlebnispunkt gebracht wird, liegt zumeist ein ereignisreicher Lebenslauf hinter ihm, den Vogler mit »Die Reise des Helden« überschreibt.21 In seiner Schematisierung lehnt sich Vogler an das von Joseph Campbell entwickelte Grundmodell von ›Aufbruch – Initiation – Rückkehr‹ an, das dieser in seiner einflussreichen Studie The Hero with a Thousand Faces (1949) entwickelt hat.22 Zwar wird die ›Heldenreise‹ bei Vogler weitaus differenzierter beschrieben,23 jedoch weist er auf die Verzichtbarkeit einzelner Ereignisstationen hin. Weit bedeutsamer ist der zugrunde liegende Handlungsverlauf selbst, da die Folge wechselnder Herausforderungen für den Protagonisten prinzipiell auf jede gesellschaftliche Konfiguration übertragbar sei und daher »universale Lebenserfahrungen« repräsentiere.24 Insofern verwundert es nicht, dass dieses Modell wiederholt als Grundschema des modernen Films zu erkennen ist,25 der sich bisweilen – wie in The Matrix (USA 1999, Regie: Andy und Lana
21 Ebd., S. 55. 22 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M. 1953, S. 202, wo er die ›Heldenreise‹ zusammenfassend beschreibt: »Der Held wagt sich aus der vertrauten Landschaft hinaus in die Finsternis, besteht dort sein Abenteuer oder geht uns einfach verloren, wird festgehalten oder gerät in Gefahr, und seine Rückkehr wird als ein Wiederkommen aus dieser jenseitigen Zone beschrieben.« Vogler hebt überdies hervor, dass sich große Filmemacher wie George Lucas und George Miller nachweislich auf Campbells Modell beziehen. Vgl. Vogler: Die Odyssee (Anm. 20), S. 49. 23 Zur Kritik an Voglers Modell vgl. Jens Eder: Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie. Hamburg 32007, S. 28, Anm. 33. Zur Parallelisierung unterschiedlicher Entwürfe von ›Heldenreisen‹ vgl. Nina Trobisch, Karin Denisow: »Von Schatzsuchern und Pfadfindern. Campbell – Rebillot – Vogler«, in: Thomas Schildhauer, Nina Trobisch und Carsten Busch (Hg.): Realität und Magie vom Heldenprinzip heute. Ein Arbeitsbuch für Wissenschaft, Wirtschaft und Weiterbildung. Münster 2011, S. 15-33. 24 Vogler: Die Odyssee (Anm. 20), S. 76. 25 Greg Garrett: Holy Superheroes! Exploring Faith and Spirituality in Comic Books. Revised and expanded edition. Louisville 2008, S. 13: »From The Wizard of Oz to The Lion King to The Matrix, movie heroes have followed the same journey as Homer’s Odysseus, and comic heroes too walk in these footsteps.«
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Wachowski) – nahtlos am zwölfteiligen Phasenaufbau der ›Heldenreise‹ orientiert.26 In Anlehnung an den Archetypen-Begriff des Schweizer Psychologen Carl G. Jung beschreibt Vogler mehrere Archetypen, die er als narrative Rollenmuster präsentiert.27 In Übertragung auf das serielle Format wird Voglers Spektrum bei Eschke und Bohne auf ein viergliedriges Modell reduziert, das aus dem (Super-)Helden, dem Durchschnittstyp, dem Underdog und dem Antihelden besteht.28 Während die Autoren auf der einen Seite die Begrenztheit des (Super-)Helden deutlich machen, der als überlegene Figur beim Zuschauer zwar Bewunderung auslöst, in seiner Anlage aber vergleichsweise eindimensional bleibt, heben sie die bisweilen komplexe Konfiguration des Durchschnittstyps hervor, der »auf gleicher Stufe mit dem Zuschauer« steht.29 Der Underdog verkörpert daneben die Figur des permanent Unterlegenen, wogegen sich der prinzipiell faszinierende Antiheld zumeist moralisch fragwürdig verhält. Über die charaktertypologische Anlage des Serienhelden wird schließlich das Verhältnis von Figur und Zuschauer maßgeblich bestimmt. Während heroisches Verhalten zumeist Faszination und Bewunderung generiert, ruft ein geheimnisvolles Agieren vielfach Neugierde hervor. Wie Eschke und Bohne betont haben, ist jedoch die Empathie als der stärkste Faktor in der Relation von Serienheld und Rezipient zu werten.30 Sobald der Protagonist in eine universal menschliche – und damit in eine grundsätzlich nachvollziehbare – Konfliktsituation gerät, partizipiert der Zuschauer über
26 Christof Wolf: Zwischen Illusion und Wirklichkeit. Wachowskis Matrix als filmische Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. Münster 2002, S. 57 f. 27 Vgl. Vogler: Die Odyssee (Anm. 20), S. 87-155. 28 Vgl. Eschke/Bohne: Bleiben Sie dran (Anm. 14), S. 87. 29 Ebd. Diese Gegenüberstellung scheint abermals auf die Tragödientheorie des 18. Jahrhunderts zurückzuverweisen, in deren Rahmen Gotthold Ephraim Lessing den ›vollkommenen‹ Helden‹ als »schöne[s] Ungeheuer« verspottet und dagegen fordert, Held und Zuschauer müssten von »gleichem Schrot und Korne« sein (Immer: Der inszenierte Held [Anm. 19], S. 100, 106). 30 Vgl. Eschke/Bohne: Bleiben Sie dran (Anm. 14), S. 82 f., im Anschluss an Karl Iglesias: Writing for Emotional Impact. Advanced Techniques to Attract, Engage and Fascinate the Reader from the Beginning to End. Livermore (CA) 2005, S. 50 f.
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sein Mitgefühl an der Leiderfahrung des Handelnden. Verstärkt sich dieser Modus der Anteilnahme, kann sich das an Bindungsintensität gewinnende Verhältnis bis zur Identifikation mit dem Serienhelden steigern. Voraussetzung für eine solche ›Einfühlung‹ in das mediale Vorbild ist seine Unverwechselbarkeit: Die Figur muss derart individuell angelegt und mit möglichst solitären Kompetenzen ausgestattet sein, dass ein Wiedererkennen ohne weiteres möglich ist. Um den jeweiligen Eindruck zu verstärken, werden in seriellen Formaten bestimmte Eigenarten, bisweilen sogar Marotten etabliert, die gewissermaßen als ›Markenzeichen‹ des Serienhelden dienen. Die Wiederholung solcher Attitüden generiert eine quasi-familiäre Vertrautheit, die sich bis zu parasozialen Beziehungen steigern kann.31 Wie es das Eingangszitat deutlich macht, hat auch das Figurenensemble von Navy CIS das Potential, als mögliche Ersatzfamilie zu taugen.
II. NAVY CIS – GATTUNGSFORM UND SERIENMERKMALE Der geistige Schöpfer der Serie, die ursprünglich den Namen Navy NCIS trug,32 ist Donald P. Bellisario. Er hat sie 2003 gemeinsam mit Don McGill als Spin-off der Militärserie JAG – Im Auftrag der Ehre (USA 1995–2005) geschaffen. Zwar verließ Bellisario nach Unstimmigkeiten mit dem Schauspieler Mark Harmon, der die Hauptfigur des Special Agent Gibbs verkörpert, im Mai 2007 das Produktionsteam. Dennoch wird die Serie bis heute erfolgreich fortgesetzt, deren zehnte Staffel der US-Sender CBS im März 2012 in Auftrag gegeben hat.33 Dieser Erfolg dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass Navy CIS nicht als gewöhnliche Kriminalserie einzustufen ist.
31 Vgl. Uli Gleich: Parasoziale Interaktionen und Beziehungen von Fernsehzuschauern mit Personen auf dem Bildschirm. Landau 1997. 32 Ab der zweiten Staffel wurde die Serie in NCIS umbenannt. Im Gegensatz zum amerikanischen Titel Naval CIS ist der in Deutschland etablierte Titel Navy CIS demnach inkorrekt. 33 Bernd Michael Krannich: »NCIS: CBS bestellt erwartungsgemäß Staffel 10 der US-Serie«, in: Serienjunkies.de (14. März 2012) [http://www.serienjunkies.de/ news/ncis-cbs-bestellt-staffel10-38739.html; Zugriff: 20. August 2012].
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Zwar hat der Journalist Jon Caramanica die Serie dem Genre der procedurals und damit einer Seriengattung zugewiesen, in der in einer Episode ein Fall vorgestellt, untersucht und abgeschlossen wird, jedoch spezifiziert er seine Zuordnung, wenn er für Navy CIS das Subgenre des »procedural with slapstick heart« erfindet.34 In diese Richtung geht auch die Nachfrage von Tobias Moorstedt, der im Interview mit Mark Harmon Bezug auf einen Artikel der New York Times nimmt und unterstreicht, dass man die Serie dort als »forensic screwball comedy« bezeichnet habe.35 Damit rekurriert Moorstedt auf einen Artikel des Journalisten Mike Hale, der – allerdings mit etwas anderem Wortlaut – betont hat, dass Navy CIS in besonderer Weise gestaltet sei: »the police show as screwball comedy«.36 Mit der screwball comedy ist ein Subgenre der Filmkomödie angesprochen, das seinen Höhepunkt zwar in den Hollywood-Beziehungskomödien der 1930er bis 1940er Jahre hatte, deren Merkmale aber zunehmend auch in moderne Serien einfließen. Im Mittelpunkt steht zumeist ein exzentrischer Protagonist mit merkwürdigen und ungewöhnlichen Angewohnheiten,37 um den sich ein von Wortwitz, schneller Wechselrede und überraschenden Wendungen geprägter Handlungsverlauf entspinnt. Auch wenn es bei Navy CIS nahezu in jeder Episode um die Aufklärung eines Verbrechens geht, zeitigt der humorvolle Umgang, den die Teammitglieder untereinander pflegen, den thematisierten screwball-Effekt. Zum einen versammelt das Figurenensemble unterschiedlichste und bisweilen ›schräge‹ Charaktere – wie beispielsweise die Forensikerin Abby, die als ausgeprägtes Gothic Girl in Er-
34 Jon Caramanica: »NCIS charms as it ages«, in: Los Angeles Times online (3. Oktober 2010). [http://articles.latimes.com/2010/oct/03/entertainment/la-ca-monitor-20101003; Zugriff: 20. August 2012]. 35 »›Man muss auch danebenschießen können‹. Mark Harmon im Interview mit Tobias Moorstedt«, in: Sueddeutsche.de (29. Mai 2010) [http://www.sueddeutsche.de/medien/navy-cis-star-harmon-man-muss-auch-danebenschiessen-koennen-1.951650; Zugriff: 20. August 2012]. 36 Mike Hale: »Working Under Cover in the California Sun«, in: The New York Times online (21. September 2009) [http://www.nytimes.com/2009/09/22/arts/ television/22ncis.html; Zugriff: 20. August 2012]. 37 Zum Begriff screwball und der daraus folgenden Disposition des Protagonisten vgl. Karola Richter: Screwball-Comedies als Produkt ihrer Zeit. »Don’t make them sexual – make them crazy instead«. Hamburg 2009, S. 1.
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scheinung tritt –, zum anderen bietet fast jede Folge Wortgefechte zwischen Special Agent Anthony ›Tony‹ DiNozzo und der einstigen Secret-ServiceAgentin Caitlin ›Kate‹ Todd, an deren Stelle ab der dritten Staffel die ehemalige Mossad-Agentin Ziva David tritt. Trotz dieses auffälligen Merkmals wehrt Harmon im Gespräch mit Moorstedt den Vergleich mit Qualitätsserien wie etwa The Wire ab, indem er den eher spielerischen Charakter der Serie akzentuiert: »Die Serie lebt doch auch von ihrem Humor. Wir nehmen uns nicht so ernst.«38 Vor allem dieser Verzicht auf übertriebene Ernsthaftigkeit ist es, der Navy CIS von pathosgeladenen und vehement unironischen Serien wie CSI, Law & Order (USA 1990–2010, Idee: Dick Wolf), Law & Oder: Special Victims Unit (USA 1999 ff.) oder Criminal Intent (USA 2001–2011, Idee: Dick Wolf) unterscheidet. Ist aber die Serie um Special Agent Gibbs und sein Team deswegen schon eine Qualitätsserie? Werden die von Thompson aufgestellten und von Blanchet aktualisierten Kriterien für eine Beantwortung dieser Frage herangezogen,39 scheint es zunächst, als müsse sie verneint werden. Denn Navy CIS richtet sich nicht an Zuschauer mit gehobenen Ansprüchen, sondern an ein Massenpublikum. Auch sind die Einschaltquoten keineswegs niedrig, sondern belegen vielmehr, dass Navy CIS 2011 die meistgesehene Serie in den USA gewesen
38 Harmon/Moorstedt: Interview (Anm. 35). Gleichzeitig müssen auch die unterschiedlichen Zielbereiche berücksichtigt werden, für die The Wire und Navy CIS produziert werden, wie Harmon ausführt: »Shows wie The Wire wurden oder werden für das exklusivere Kabelfernsehen produziert. Navy CIS läuft im Hauptprogramm von CBS, wird von mehr als 20 Millionen Menschen gesehen und muss deshalb schneller zu verstehen sein.« (Ebd.) Auch gegenüber Nina Rehfeld unterstreicht Harmon die primär humorvolle Ausrichtung der Serie: »›Hier geht es um fünf Leute an ihrem Arbeitsplatz, ihre Beziehungen und den Humor zwischen ihnen.‹ Zwar drehe sich jede Episode um einen Kriminalfall, ›wir fangen den Bösewicht aber nicht zwangsläufig. Es geht immer in erster Linie um die Figuren und den Witz.‹« (Nina Rehfeld: »Navy CIS: Bei uns werden keine Stellen frei«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (1. Dezember 2009) [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/2.1756/navy-cis-bei-unswerden-keine-stellen-frei-1593692.html; Zugriff: 20. August 2012]). 39 Siehe Anm. 7.
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ist.40 Das Format bietet kein großes Figurenensemble wie The Wire mit ca. 80 Akteuren, sondern eine übersichtliche Zahl typisierter und bisweilen exotischer Charaktere. Folglich erhebt die Serie nicht den Anspruch, realistisch zu sein, sondern bietet allenfalls hinsichtlich der Ausstattung und der ermittlungstechnischen Verfahrensweisen authentische Einblicke.41 Schließlich dürfte kaum zu behaupten sein, dass Navy CIS in der Hauptsache kontroverse Themen aufgreift, auch wenn die Fahndungsspuren mitunter bis nach Guantanamo und von dort aus zu al-Qaida führen (z. B. Staffel I, Episode 8: Schlimmer als der Tod) oder bestimmte Figurenkonzepte sogar mit der Tagespolitik korrespondieren.42 Trotz der aufgezählten Einwände ist die Serie nicht als typische Episodenserie einzustufen. Bereits die angedeutete genreübergreifende Verquickung von procedural und screwball comedy verdeutlicht die Generierung neuer Gattungsmuster, die für Qualitätsserien repräsentativ ist. Darüber hinaus bietet Navy CIS trotz vielfach solitärer Fallgeschichten nicht nur episodisch abgeschlossene Handlungen, sondern weitet diese zuweilen auf mehrere Folgen aus. Vor allem die backstory der Hauptfigur Gibbs wird staffelübergreifend ausgebaut, so dass die Serie auf diese Weise ein ›Gedächtnis‹ erhält.43 Zwar erweitert dieser Umstand die in ihrer Disposition stark typi-
40 Vgl. René Block: »Die Erfolgsserie unserer Zeit«, in: Serienfans.tv (3. April 2011) [http://serienfans.tv/index.php?section=news&id=4522; Zugriff: 20. August 2012]. 41 Vgl. »›Es ist ein schmaler Grat‹. Mark Harmon im Interview mit Michael Hanfeld«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (30. Mai 2010) [http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/medien/im-gespraech-schauspieler-mark-harmon-esist-ein-schmaler-grat-1985276.html; Zugriff: 20. August 2012], worin Harmon hervorhebt: »[…] wir spielen einen richtigen, echten Geheimdienst. Wir haben einen technischen Berater, einen echten Veteranen der Agency und ehemaligen Marines-Ausbilder. Wir achten auf jedes Detail. Wir tragen bei der Arbeit am Tatort zum Beispiel Schutzkappen. […] Soweit ich weiß, sind wir die einzige Serie, die so vorgeht, das sehen Sie nicht bei CSI und auch nicht bei NCIS Los Angeles. Oder die Handschuhe, das ist wirklich eine Plage.« 42 Steven L. Spiegel: »What NCIS tells us about Obama and Netanyahu«, in: Huffingtonpost.com (15. Mai 2009) [http://www.huffingtonpost.com/steven-l-spiegel/what-ncis-tells-us-about_b_204073.html; Zugriff: 20. August 2012]. 43 Vgl. Blanchet: Quality-TV (Anm. 7), S. 56.
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sierte Figur nur um Nuancen, jedoch gewinnt sie durch die vielfachen Rückblenden an individualhistorischer Tiefe. Während zu Beginn der Serie noch erhebliche Unklarheiten über die Vergangenheit von Gibbs bestehen, tragen etwa die Hinweise auf die Ermordung seiner ersten Frau und seiner Tochter dazu bei, spätere Verhaltensweisen psychologisch plausibel zu machen. Darüber hinaus enthält Navy CIS eine Vielzahl intermedialer Referenzen, die vor allem in der Bezugnahme auf Filmklassiker und das populäre Mainstream-Kino bestehen.44 Diese implizite Thematisierung der eigenen Medialität, die die Serie leistet, lässt sich als Moment der Selbstreflexivität werten, das für Qualitätsserien konstitutiv ist.45 Navy CIS ist damit zwar noch immer keine Qualitätsserie im engeren Sinn, dennoch lässt sich das Format als Hybridform aus Episoden- und Fortsetzungsserie bestimmen. Im Hinblick auf die narrative und visuelle Präsentation ist schließlich festzuhalten, dass in der Serie kaum innovative darstellerische Mittel zum Einsatz kommen. Vielmehr wird der Zuschauer wiederholt mit einem normierten Ablauf konfrontiert: Zunächst findet sich das Ermittlerteam im Großraumbüro des NCIS zusammen, danach folgt die knappe und zumeist rüde Anweisung von Gibbs, zum Tatort zu fahren, wo zuerst die Spurensicherung erfolgt. Um diese konventionalisierte Grundstruktur mit Spannungsmomenten zu durchsetzen, wird ab der vierten Episode der zweiten Staffel das Verfahren angewendet, im Vorgriff auf kommende Ereignisse kurze Schwarz-Weiß-Sequenzen einzublenden, die einige Szenen später im normalen Fortgang der Serienfolge farbig wiederholt werden. Doch im Gegensatz zu einer Kriminalserie wie CSI wird ansonsten nahezu vollständig auf visuelle Spezialeffekte verzichtet. Während bei CSI beispielsweise die Kamera vermittels aufwendiger Simulationen in die Körper der getöteten Personen eindringt,46 werden die Opfer bei Navy CIS selbst in der Pathologie noch zurückhaltend präsentiert. Bis auf Abby verfügen die Ermittler auch nicht über hochtechnisierte Labore, sondern müssen ihren Arbeits-
44 In den späteren Staffeln ist es vor allem Special Agent DiNozzo, der mindestens einmal pro Episode ein Filmzitat anbringt. 45 Vgl. Blanchet: Quality-TV (Anm. 7), S. 61, der zwar nicht von einer intermedialen, jedoch »intertextuellen Variante von Selbstreflexivität« spricht. 46 Vgl. dazu Jens Eder: »Todesbilder in neueren Fernsehserien: CSI und Six Feet Under«, in: Blanchet u. a.: Serielle Formen (Anm. 7), S. 277-298, hier S. 282 f.
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alltag vorwiegend in einer gewöhnlichen Büroumgebung verbringen.47 Ist das tatsächlich der geeignete Ort, um Helden entstehen zu lassen?
III. L EROY J ETHRO G IBBS – V ERWEIGERTES H ELDENTUM ? Auch wenn Special Agent Leroy Jethro Gibbs das Aktionszentrum seines NCIS-Teams bildet und für die möglichst erfolgreiche Bearbeitung der aktuellen Fälle garantieren muss, ist er nicht ohne weiteres als ein Held einzustufen. Mark Harmon hebt hervor, dass Gibbs als durchaus fehlbare Figur angelegt sei: »Leroy Gibbs ist kein Supermann, der jeden Fall löst und jedes Mal, wenn er die Pistole zieht, ins Schwarze trifft. […] Man muss glaubhaft bleiben. Man muss manchmal versagen.«48 Nach Harmons Einschätzung ist Gibbs gemäß dem Modell von Eschke und Bohne nicht dem Typus des (Super-)Helden, sondern dem des Durchschnittstyps zuzuordnen. Verschärfend stellt Harmon sogar heraus, dass in Navy CIS »die Ermittler nicht als Helden […], sondern als eine dysfunktionale Familie« gezeigt werden.49 Im Interview mit Nina Rehfeld bekräftigt er diesen Standpunkt nochmals: »Am besten gefällt […] [mir] an Gibbs, dass er sich nicht als Helden begreift.«50 Allerdings, ließe sich hier einwenden, kann der, der sich nicht als Held begreift, vielleicht umso profilierter als Held in Erscheinung treten. In einem späteren Interview wird die Frage nach dem Heldenstatus von Gibbs noch einmal explizit aufgegriffen, wobei Harmon zunächst mit einer Gegenfrage reagiert: »[…] wenn Sie nach ›Helden‹ fragen, würde ich gern wissen: Was ist das überhaupt?«51 Sein Interviewpartner Michael
47 Mark Harmon über die Einrichtung der Ermittlerzentrale: »Unsere Büros sind realistisch gestaltet, mit Computern und Büromöbeln, die die Zuschauer aus ihrem eigenen Arbeitsalltag kennen.« (Harmon/Moorstedt: Interview [Anm. 35]). 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Nina Rehfeld: »Am Set von Navy CIS: Bei denen muss man höllisch aufpassen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (30. August 2008) [http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/medien/am-set-von-navy-cis-bei-denen-muss-manhoellisch-aufpassen-1682345.html; 20. August 2012]. 51 Harmon/Hanfeld (Anm. 41).
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Hanfeld erläutert: »Jemand, der in einer Situation, in der moralisches Handeln, in der Hilfe gefragt ist, nicht an seinen Vorteil, sondern an andere denkt und so handelt, wie man es sich zum Vorbild nehmen könnte.«52 Trotz der prinzipiellen Übertragbarkeit dieser Disposition auf sein ›alter ego‹ Gibbs stimmt Harmon dieser Zuschreibung keineswegs uneingeschränkt zu. Nach einigen autobiographischen Ausführungen charakterisiert er Gibbs mit den Worten: »Er hat eine ganz eigene Denkart. Er fordert von sich selbst mehr als von anderen und er erwartet von anderen nichts, was er nicht selbst täte, er geht seinen Weg.«53 Mit dieser Schilderung deutet Harmon jedoch eine heroische Grundkonstellation bei Gibbs an, ohne sie explizit auszusprechen. Weil Gibbs an sich selbst höhere Anforderungen als an andere stellt, behauptet er für seine Person eine exzeptionelle Stellung. Zwar bezieht er auf diese Weise eine Stellvertreterposition für die handlungsschwächere Gemeinschaft, jedoch macht das Vertrauen in die eigenen herausragenden Fähigkeiten zugleich ein Misstrauen in das Leistungsvermögen anderer sichtbar. Mit dem Hinweis auf den individuellen Weg, den Gibbs verfolgt, betont Harmon einen ausgeprägten Nonkonformismus, der Gibbs wiederholt mit den Hierarchiesystemen anderer Institutionen in Konflikt geraten lässt. Dennoch erweist sich die Einschätzung des Schauspielers nur bedingt als Antwort auf die Frage nach dem Heldenstatus des Serienprotagonisten. Denn ungeklärt bleibt einerseits, ob und inwiefern Gibbs tatsächlich dem von Hanfeld formulierten Heldenkonzept entspricht, und andererseits, ob die handlungstragende Figur nicht noch weitere Aspekte einer heroischen Disposition aufweist. III.1 Bewährungsprobe – An Bord der ›Air Force One‹ Das traditionelle Heldenmodell, das Hanfeld beschreibt, wird bereits in der ersten Serienfolge aufgerufen, deren Titel Air Force One lautet.54 Voraus-
52 Ebd. 53 Ebd. 54 Der ersten Serienfolge liegen allerdings zwei Backdoor-Pilotfolgen voraus, die Teil der Serie JAG – Im Auftrag der Ehre sind (Staffel 8, Episode 178: Eisige Zeiten I und Episode 179: Eisige Zeiten II). Darin löst das NCIS-Ermittlerteam, zu dem bereits Gibbs, Tony, Abby und Ducky gehören, einen Mordfall, in den
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setzung für das Inkrafttreten dieser heroischen Konfiguration ist eine außeralltägliche Notsituation, in der ein Einzelner sein Leben in den Dienst einer bedrohten Gemeinschaft oder eines höheren Ideals stellen kann. Dabei geht es nicht schlechthin um die Opferung der individuellen Existenz, sondern vielmehr um die unbedingte Anerkennung und die entschiedene Befolgung eines übergeordneten moralischen Prinzips. Dass diese Konfliktebene erreicht wird, ist zu Beginn von Air Force One noch nicht zu erkennen, zumal Gibbs noch nicht einmal zugegen ist. Stattdessen kommt es an Bord der ›Air Force One‹ zu einem folgenschweren Zwischenfall: Commander Ray Trapp erleidet, kurz nachdem er mit dem Präsidenten das Abendessen eingenommen hat, einen krampfartigen Zusammenbruch, an dem er kurz darauf stirbt. Sein Tod fordert die amerikanischen Sicherheitsdienste gewissermaßen zu einem Wettstreit heraus:55 Der Secret Service fühlt sich zuständig, weil er glaubt, das Leben des Präsidenten sei in Gefahr; das FBI fühlt sich zuständig, weil es meint, die Sicherheit Amerikas würde bedroht; und der NCIS fühlt sich zuständig, weil es ein Commander der Marine ist, der einen nicht eindeutig erklärbaren Tod gefunden hat. Mit
der JAG-Commander Harmon Rabb verwickelt ist. NCIS Field Special Agent Vivian Blackadder agiert in dieser Doppelfolge noch anstelle von Kate, die erst in der ersten regulären Serienfolge von Gibbs angeworben wird. Ungewöhnlich ist überdies, dass sich zu dieser Zeit noch alle Mitglieder des Teams siezen, während später fast alle wie selbstverständlich das kollegiale ›Du‹ verwenden. Im Hinblick auf den vergleichsweise handlungsdominant auftretenden Gibbs ist zu vermerken, dass bereits hier seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten akzentuiert werden: Erstens schätzt ihn JAG-Admiral Albert Chegwidden als überaus scharfsinnig ein; zweitens gelangt er in einem Schnellverhör dank seines psychologischen Sachverstands an eine dringend benötigte Information; und drittens ist es Gibbs selbst, der schließlich den gesuchten Terroristen mit einem gezielten Schuss tötet. Da es seinem Gegner noch gelingt, vor der Tötung eine Handgranate zu entsichern, wird Gibbs von der nachfolgenden Detonation eine Treppe hinabgeschleudert. Dass er diesen Zweikampf überlebt hat, wird am Ende der Doppelfolge dezidiert heroisch inszeniert: Noch bevor sich der Explosionsrauch verzogen hat, kommt Gibbs zunächst schattenhaft, dann in tatsächlicher Gestalt als Sieger aus dem Kampfgeschehen zurück. 55 Vgl. Navy CIS I/1: Air Force One, TC: 0:23:19.
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einer List gelingt es Gibbs und seinem Team, die Leiche in die Pathologie des NCIS zu überführen. Da die Untersuchung allerdings keine ungewöhnlichen Resultate zeitigt und Gibbs noch unsicher ist, wie er den Vorfall bewerten soll,56 entscheidet er sich, am Rückflug des Präsidenten teilzunehmen. Zeitgleich kommt es zu einem zweiten Zwischenfall: Kates Freund, Major Tim Kerry, stirbt auf die gleiche unnatürliche Weise wie Commander Trapp. Als Abby herausfindet, dass beide Opfer mit einem seltenen hochtoxischen Schlangengift umgebracht wurden, ist Gibbs klar, dass die präzise geplanten Attentate auf einen größeren Anschlag hindeuten. Dabei erweist sich seine frühzeitige Anspielung auf den Action-Thriller Air Force One (USA 1997, R: Wolfgang Petersen),57 in dem Harrison Ford in der Rolle des US-amerikanischen Präsidenten James Marshall in heroischem Einsatz gegen die Entführer der ›Air Force One‹ kämpft, bereits als intuitive Antizipation der gegnerischen Pläne. Diese Anspielung wird – in Form einer selbstreferentiellen Gattungsreflexion – an späterer Stelle nochmals bekräftigt: Drei Jahre vor dem 11. September hat Tom Clancy ein Buch geschrieben, in dem ein Terrorist ein Flugzeug entführt und ins Kapitol stürzen lässt. In dem Harrison-Ford-Film waren die Terroristen Reporter. […] In dem Film erhielten die Terroristen ihre Empfehlungen von einem Überläufer des Secret Service.58
Die intermediale Assoziation enthält in der Tat die Lösung des Rätsels: Die Attentate sollten einen Flugzeugtausch erzwingen, damit einer der Terroristen, der sich tatsächlich als ein Pressereporter ausgibt, in dem vorher präparierten Ersatzflugzeug Zugriff auf die dort versteckten Waffen bekommt und einen Anschlag auf den Präsidenten verüben kann. Kurz bevor der Terrorist, der sich bereits bewaffnet hat, zum Präsidenten durchdringen kann, gelingt es Gibbs, ihn zu stellen. Diese Konfronta-
56 Vgl. ebd., TC 0:29:54. 57 Vgl. ebd., TC 0:12:43. 58 Ebd., TC 0:32:01. Gibbs bezieht sich hier auf Tom Clancys Polit-Thriller Debt of Honor (1994), der allerdings sieben Jahre vor den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 erschienen ist. Gleichzeitig wird an dieser Stelle die Ironie der Serie deutlich, denn der Name des Überläufers, von dem hier die Rede ist, lautet in dem Action-Thriller von 1997: Gibbs.
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tion bildet den Spannungshöhepunkt und wird als one-on-one fight inszeniert: Während der Terrorist und Gibbs zunächst kurz gemeinsam im Bild gezeigt werden, wechselt die Kameraeinstellung daraufhin zwischen den Widersachern hin und her und akzentuiert auf diese Weise ihre unmittelbare Entgegensetzung. Gleichzeitig ist eine Differenz in der Visualisierung der antagonistischen Charaktere festzustellen. Während der Terrorist zunächst über ein close-up präsentiert und später in der ›heroisierenden‹ Untersicht gezeigt wird (Abb. 1), erscheint Gibbs überwiegend im ›westerntypischen‹ american shot. (Abb. 2).59 Der NCIS-Ermittler wird folglich nicht, wie schon Harmon betont hat, als ›Supermann‹ dargestellt, sondern durch die Normalsicht mit dem Zuschauer gewissermaßen ›auf Augenhöhe‹ gebracht.
Abb. 1: Navy CIS I/1: Air Force One,
Abb. 2: Navy CIS I/1: Air Force One,
TC 0:39:53.
TC 0:39:58.
Dennoch erweist sich Gibbs in dieser Situation zweifellos als ein Held: Erstens ist er dem Terroristen waffentechnisch unterlegen, zögert aber nicht, die Auseinandersetzung mit ihm einzugehen. Zweitens läuft er Gefahr, durch einen gegnerischen Treffer verwundet oder getötet zu werden, beweist aber angesichts des unmittelbar drohenden Todes außergewöhnliche Standhaftigkeit. Auf dem finalen Höhepunkt der ersten Serienepisode wird Gibbs folglich als eine Figur inszeniert, die die klassischen Heldentugenden fortitudo und constantia in sich vereint. Damit entspricht er dem von Hanfeld formulierten Heldenkonzept, da er »in einer Situation, in der moralisches Handeln, in der Hilfe gefragt ist, nicht an seinen Vorteil, sondern an
59 Im Gegensatz zum medium shot, bei dem die Figur bis zur Hüfte gezeigt wird, ist sie beim american shot ungefähr bis zum Knie im Bild. Vgl. Helmut Korte: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch. 3., überarb. und erweiterte Aufl. Berlin 2004, S. 27.
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andere denkt«.60 Darüber hinaus verkörpert Gibbs schließlich den Typus des unsung hero: Während in den eingeblendeten Nachrichten verschwiegen wird, wer den Präsidenten tatsächlich gerettet hat,61 steht Gibbs in seinem Hobbykeller und arbeitet – in bewusster Abgeschiedenheit von der Außenwelt – an den Holzrippen seines Bootes. III.2 Leistungsethik – Tätersuche mit Ausdauer Als leitender Ermittler seines NCIS-Teams zeichnet sich Gibbs durch eine Reihe hervorstechender Vorbildqualitäten aus. Zunächst lässt er bei der Bearbeitung aktueller Fälle eine außergewöhnliche Beharrlichkeit erkennen, die aus seinem ausgeprägten und dabei patriotisch grundierten Verständnis von Recht und Ordnung resultiert. Aus dieser Mentalität, für ein Opfer oder für sein Vaterland einzutreten, entspringen seine unbedingte Leistungsethik und sein integres Verhalten. Daher besteht die Dienstpflicht für Gibbs nicht nur in der Aufklärung eines einzelnen Verbrechens, sondern immer auch in der Verteidigung einer prinzipiellen Form von Gerechtigkeit.62 Die aktuellen Aufgaben werden folglich mit großem Engagement und hoher Zielbewusstheit in Angriff genommen,63 wobei Gibbs versucht,
60 Siehe Anm. 52. 61 Der FBI Senior Special Agent Tobias Fornell verkehrt in seiner Stellungnahme sogar die realen Ereignisse, wenn er mitteilt: »FBI-Agenten und Leute vom Secret Service haben einen Mordanschlag auf den Präsidenten an Bord der ›Air Force One‹ mit vereinten Kräften vereitelt.« (Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:41:17). 62 Das geht so weit, dass bisweilen Gesetze sogar umgangen oder gebeugt werden, um zum Ermittlungsziel zu gelangen. Beispielsweise fordert Gibbs von Abby in Episode 17 eine präzise Handyortung unter bewusster Missachtung gesetzlicher Vorgaben: »GIBBS. Gibt’s dabei gesetzliche Hindernisse? ABBY. Oh, das ist schon so was wie ne Grauzone. GIBBS (lacht). Wie grau? ABBY. Holzkohle.« (Navy CIS I/17: Fünf Musketiere, TC 0:25:49). 63 In Episode 15: Der Colonel wird Gibbs mit dem gesuchten Colonel Will Ryan verglichen: »KATE. Ducky, kannten Sie eigentlich Colonel Ryan? DUCKY. Ich weiß nur, was für einen Ruf er hatte. KATE. Beschreiben Sie ihn. DUCKY. Professionell, zielbewusst, seine Arbeit war sein Leben. TONY. Also ist er wohl in etwa so wie Gibbs.« (Navy CIS I/15: Der Colonel, TC 0:12:23).
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seine Teammitglieder bestmöglich zu koordinieren. Im Ergebnis gelingt es ihm wiederholt, selbst bei undurchsichtigen Zusammenhängen den Überblick zu behalten. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen sind seine Regeln, die er von seiner ersten Frau Shannon gelernt hat und die sowohl im beruflichen als auch privaten Bereich zur Anwendung kommen.64 Gleichzeitig verfügt Gibbs über ein hohes Maß an psychologischem Urteilsvermögen, von dem er maßgeblich profitiert, wenn es darum geht, die Verhaltensmuster potentieller Täter zu deuten. Auf Kates Frage, ob er jemals einen Profiler-Lehrgang mitgemacht habe, antwortet er: »Ich habe etwa 1.000 Befragungen durchgeführt, nach einer Weile kennt man alle Tricks.«65 Charakteristisch sind außerdem seine ›sprechenden Blicke‹: Ohne ein weiteres Wort zu sagen, blickt er seinem Gegenüber durchdringend in die Augen, bis dieses verwirrt innehält oder die Unzulänglichkeit der eigenen Antwort einsieht. Dank seines Scharfsinns und seiner Kombinationsgabe vermag Gibbs die gewonnenen Erkenntnisse rasch miteinander zu verbinden und daraus ein Tatmotiv zu konstruieren. Gleichwohl bleibt er auf die tätige Mitwirkung seiner Teammitglieder angewiesen, zumal er nur bedingt gewillt ist, sich mit moderner Computertechnik zu beschäftigen.66 Gegenüber seinen Mitarbeitern verhält sich Gibbs zwar stets kollegial, verdeutlicht aber in einem mitunter rüden Ton, welches Hierarchiegefälle zwischen ihnen herrscht. Dieser durchaus fragwürdige Umgang hat für Gibbs einen rein pragmatischen Zweck: Er versucht auf diese Weise, sein Team zu verstärkter Arbeit anzutreiben, weswegen er seine Arbeitsaufträge oft in Form von befehlsartigen Anweisungen mitteilt. So verlangt er in Episode 12: Ein Bein in West Virginia mit einer Handbewegung und dem Befehl: »Schlüssel« von Tony den Autoschlüssel, während er ihn in Episode 20: Willkommen in der Hölle anherrscht: »DiNozzo, hey, trab gefälligst
64 Die dritte Regel lautet beispielsweise: »Glaube nie was man dir erzählt, überprüfe es.« (Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:14:52) – Fans der Serie haben im Internet eine Sammlung dieser Regeln angelegt. Vgl. http://www.ncisfanwiki. com/page/NCIS-Regeln+in+Deutsch; Zugriff: 20. August 2012. 65 Navy CIS I/7: Unter Wasser, TC: 0:16:10. 66 In vorlauter Weise stellt Tony fest: »Du bist eben eher ein Gipskopf [bzw. Gibbs-Kopf] als ein Computerfreak« (Navy CIS I/16: Alptraum im Keller, TC: 0:06:12).
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an.«67 Auch gegenüber Kate verzichtet er in gleicher Weise auf die in seinen Augen überflüssigen, weil zeitraubenden Höflichkeitsfloskeln. In Episode 14: Der gute Samariter stellt Kate die offene Frage: »Mich wollten Sie sicher bitten, vom Sheriff des anderen Countys das Beweismaterial anzufordern?«, woraufhin Gibbs entgegnet: »Bitten wollte ich Sie nicht.«68 In Episode 19: Wenn Tote sprechen macht Kate sogar explizit auf die mangelnden Umgangsformen von Gibbs aufmerksam. Als dieser Ducky knapp anweist, einen bestimmten Autopsie-Bericht zu lesen, ergänzt sie: »Bitte. Das sollte er lernen. Dass man ›bitte‹ sagt.«69 Trotz dieser mitunter rauen Kommunikationsatmosphäre hat Gibbs nicht nur »vorbehaltloses Vertrauen in seine Mitarbeiter«,70 sondern versucht sie auch, soweit es ihm möglich ist, vor Gefahren zu bewahren. In besonderer Weise wird diese Einstellung in Episode 15: Der Colonel sichtbar, als Gibbs vom FBI verdächtigt wird, mit dem gesuchten Colonel Will Ryan zu konspirieren. Bewusst hält Gibbs Informationen zurück und unternimmt Alleingänge, um seine Mitarbeiter nicht zu gefährden. Diese Situation wird von Tony zunächst missinterpretiert: TONY. Gibbs vertraut uns anscheinend nicht genug, um uns zu sagen, was da los ist. DUCKY. Das glaubt ihr zwei [Kate und Tony] doch wohl nicht im Ernst, oder? Begreift ihr denn nicht? Gibbs tut alles, was er kann, um euch beide zu schützen! TONY. Wovor?
67 Navy CIS I/12: Ein Bein in West Virginia, TC: 0:19:56; Navy CIS I/20: Willkommen in der Hölle, TC: 0:05:42. In Episode 20 verstärkt sich Gibbs’ gereizte Stimmung noch, als er gemeinsam mit Tony und Kate unterwegs ist, Tony aber nicht aufhören kann, die Situation zu kommentieren. Gibbs reagiert darauf mit der Drohung: »Halt den Mund und lass mich in Ruhe, sonst erschieß ich dich!« (Ebd., TC: 0:14:32). 68 Navy CIS I/14: Der gute Samariter, TC 0:12:45. 69 Navy CIS I/19: Wenn Tote sprechen, TC 0:13:48. Schon an einer frühen Stelle bemerkt Abby, wie außergewöhnlich es ist, dass Gibbs ›bitte‹ gesagt hat. Vgl. Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:27:41. 70 Harmon/Hanfeld (Anm. 41).
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DUCKY. Davor, dass ihr euch der Beihilfe schuldig macht. Er ist bereit, für einen Freund seinen Ruf und sein Leben aufs Spiel zu setzen, aber er riskiert nicht, dass euch was geschieht.71
Da es nicht dem Charakter von Gibbs entspricht, seine Verhaltensweisen zu erklären, muss diese Begründung von einer anderen Figur gegeben werden, sofern der Zuschauer die Handlungsmotivation von Gibbs verstehen soll. Die Haltung, die Ducky dabei konturiert, ist in zwei Hinsichten bedeutsam: Auf der einen Seite wird das hohe Verantwortungsbewusstsein deutlich, das Gibbs seinen Mitarbeitern entgegenbringt, die für ihn eine quasi-familiäre Gemeinschaft repräsentieren. Auf der anderen Seite wird die heroische Beschützerrolle sichtbar, die Gibbs ausfüllt. Er nimmt die Gefahr – die als berufliche (Verlust des Rufs) und existentielle (Verlust des Lebens) doppelt markiert ist – ohne zu zögern auf sich, um damit die Sicherheit seines Teams zu gewährleisten. Dieser selbstlose Einsatz gründet auf einer Maxime, die Gibbs in Episode 11: Wintersonne offen ausspricht: »Wir tun, was immer nötig ist, um unsere Arbeit zu erledigen.«72 Das erfordert nicht nur ein oftmals mutiges und selbstbestimmtes Auftreten, um beispielsweise die eigenen Ermittlungsmethoden gegen die Bestimmungen anderer Institutionen durchzusetzen.73 Vielmehr verlangt dieses Prinzip auch, in Notsituationen selbst unter Lebensgefahr aktiv zu werden. Exemplarisch zeigt das Episode 9: Anruf von einem Toten, in der Gibbs und sein Team den ehemaligen CIA-Agenten Jack Canton verfolgen. Als es Canton gelingt, den Ermittlern ein zweites Mal zu entkommen, beginnt Gibbs, die Verfolgung als persönliche Fehde auszulegen: »Zweimal. Das nächste Mal gehörst du mir.«74 Doch die Ergreifung des nach Kolumbien geflüchteten Canton gestaltet sich schwieriger, als zunächst vermutet. Als das Team das Haus stürmt, in dem er sich
71 Navy CIS I/15: Der Colonel, TC 0:25:05. 72 Navy CIS I/11: Wintersonne, TC 0:14:20. 73 Beispielsweise setzt Gibbs gegenüber dem unverhohlen frauenfeindlich argumentierenden Captain Veitch durch, dass Kate mit an Bord eines bedrohten UBootes kommen darf. Ausdrücklich betont Gibbs gegenüber Veitch: »Erzählen Sie mir nicht, wie ich eine Ermittlung zu führen habe!« (Navy CIS I/7: Unter Wasser, TC 0:09:24). 74 Navy CIS I/9: Anruf von einem Toten, TC 0:25:09.
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verbarrikadiert hat, zündet er eine Handgranate, durch deren Explosion Gibbs an der Schulter verletzt wird. In der filmischen Inszenierung sind die Lichtverhältnisse bewusst so arrangiert, dass ein Lichtstreifen auf diese Wunde fällt und sie deutlich hervorhebt (Abb. 3). Über die körperliche Versehrung wird das heroische Verhalten von Gibbs akzentuiert: Trotz der sichtbaren Verletzung beansprucht er keine Schonung für sich, sondern ist vielmehr derjenige, der dem Feind zuerst entgegentritt. Schließlich wird die Spannung nochmals gesteigert, als Canton, der Major Peary als Geisel genommen hat, von Gibbs fordert, er solle unbewaffnet vor ihm erscheinen. Als Gibbs kurz zögert, verschärft Canton den Druck: »So wie ich das sehe, haben Sie kaum eine Wahl. Wenn Sie den Marine wollen, verhandeln Sie mit mir.«75 Ohne sich selbst als Held zu sehen, handelt Gibbs dezidiert heroisch: Er setzt sein Leben ein, um das Leben von Major Peary zu retten.
Abb. 3: Navy CIS I/9: Anruf von einem
Abb. 4: Navy CIS I/19: Wenn Tote spre-
Toten, TC 0:37:46.
chen, TC 0:40:01.
Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Gibbs’ vehemente Verteidigung persönlicher Gerechtigkeitsvorstellungen bisweilen in Selbstgerechtigkeit umschlagen kann. Diese abgründige Seite wird erstmals offenbar, als NCIS Special Agent Christopher Pacci, ein Freund und Kollege von Gibbs, auf grausame Weise ermordet worden ist. Am Ende von Episode 19: Wenn Tote sprechen findet das Ermittlerteam heraus, dass Lieutenant Commander Hamilton Voss, der die Schuld an dem Verbrechen trägt, schon seit mehreren Jahren die Identität von Amanda Reed angenommen hat. Als Reed schließlich von Gibbs in einer Bar gestellt wird, hält er ihr seine Waffe unmittelbar vor das Gesicht (Abb. 4), während er in langsamen und deutlich akzentuierten Worten sagt: »Sein Name war Special Agent Chris Pacci.
75 Ebd., TC 0:38:26.
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(Pause) Und er war ein Freund.«76 Mit der Betonung der Tatsache, dass Pacci ein Freund gewesen ist, verlagert Gibbs die implizite Anklage bewusst auf die persönliche Ebene. Auch wenn Reed durch die Bewegung mit ihrer Waffe den Todesschuss von Gibbs provoziert, verschwimmt in seiner Reaktion die ›bloße‹ Ausübung der Dienstpflicht mit der privaten Rache für seinen Freund. Gesteigert wird dieses Verhalten am Ende der ersten Staffel, als es in Episode 23: Der Terrorist zur Wiederbegegnung mit dem vermeintlichen Terroristen Ari Haswari kommt. Haswari hat seinen ersten Auftritt bereits in Episode 16: Alptraum im Keller, in der er Ducky, dessen Assistenten Gerald Jackson und Kate als Geiseln nimmt. Während der Geiselnahme schießt er Gerald in die Schulter, und im finalen shootout mit Gibbs wird auch dieser durch einen Schuss an der Schulter verletzt. Da Gibbs die Identität des Angreifers noch nicht kennt, ist in den folgenden Episoden immer wieder zu sehen, wie Gibbs Haswaris Bild mit den gespeicherten Aufnahmen aus der Terroristen-Datenbank abgleichen lässt.77 In der Schlussepisode nimmt sich Gibbs den Fall abermals vor, da er den Täter endlich ausfindig zu machen hofft. Für diese ruhelose Jagd findet Tony ein eigenwilliges Bild,78 trifft damit aber nicht die Hartnäckigkeit, mit der sich Gibbs in die Verfolgung hineinsteigert. Auf dem Höhepunkt seiner Angespanntheit kommt es zu mehrfachen Wutausbrüchen gegenüber seinen Mitarbeitern, die für den ansonsten sehr kontrollierten Gibbs völlig untypisch sind. An seinem drastischen Ausfall gegenüber Tony wird das Ausmaß seiner Verbissenheit sichtbar:79
76 Navy CIS I/19: Wenn Tote sprechen, TC 0:39:54. 77 Vgl. Navy CIS I/17: Fünf Musketiere, TC 0:20:45. 78 »TONY. Gibbs ist wie ein Hund. Er knabbert an einem alten Knochen rum, bis er mal ein Steak kriegt. Und wenn er das verschlungen hat, knabbert er wieder an dem Knochen rum.« (Navy CIS I/23: Der Terrorist, TC: 0:13:13). 79 Kate beschreibt das Verhalten von Gibbs als »Besessenheit« (ebd., TC 0:13:01), während es Tony anhand mehrerer Filmzitate als Zielbewusstheit auszulegen versucht. Späterhin macht Ducky mit Verweis auf einen früheren Fall darauf aufmerksam, dass sich Gibbs schon einmal in diesem Zustand permanenter Anspannung befunden habe. Vgl. ebd., TC 0:17:57.
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Der Krieg ist nicht fair, und wir stehen jetzt im Krieg. Und bis ich dich rausschmeiße […], kämpfst du in diesem Krieg sieben Tage die Woche rund um die Uhr! Einschließlich schlafen, essen und aufs Klo gehen! Verstanden?80
Damit wird klar, dass Gibbs den Angriff auf seine Mitarbeiter als persönliche Kriegserklärung wertet. Als am Ende der Episode deutlich wird, dass Haswari kein Terrorist, sondern ein Geheimagent des Mossad ist, der die Hamas und al-Qaida unterwandern soll, tritt FBI-Agent Fornell an Gibbs mit der Bitte heran, Haswaris Tarnung nicht auffliegen zu lassen und ihn zu vergessen. Gibbs fordert jedoch, Haswari noch einmal treffen zu dürfen. In der kaum beleuchteten NCIS-Pathologie kommt es zum showdown am Staffelende, wobei das akustische Geräusch eines klopfenden Herzens die finale Konfrontation mit zusätzlicher Spannung auflädt. Während Haswari versucht, die eigentliche Motivation von Gibbs zu ergründen, lehnt dieser es ab, sich mit einem Agenten gemeinzumachen, der aus purem Eigennutz über Leichen geht.81 Stattdessen markiert Gibbs die größtmögliche Differenz, indem er Haswari am Ende des Gesprächs in die Schulter schießt. Da Gibbs die Rache stellvertretend für den zuvor verwundeten Gerald ausübt, bleibt sie aufgrund ihres selbstgerechten Charakters moralisch höchst fragwürdig. In diesem Moment erscheint Gibbs als ein Antiheld. III.3 Scheidungsgeschichten – Ein Held mit Kratzern Im Gespräch mit Tobias Moorstedt macht Harmon auch auf die abgründige Seite von Gibbs aufmerksam, die in der ersten Staffel nur andeutungsweise sichtbar wird: »In Gibbs steckt eine Menge Dunkelheit und Schmerz.«82 Dieser Schmerz resultiert aus dem persönlichen Trauma, seine erste Frau Shannon und seine Tochter Kelly bei einem Anschlag durch einen Drogenhändler verloren zu haben, was erst gegen Ende der dritten Staffel thematisiert wird. Der einstige Verlust beeinflusst nach wie vor das Privatleben von Gibbs, das zu seinem Berufsleben »den denkbar größten Kontrast«
80 Ebd., TC 0:25:01. 81 Im zuvor geführten Gespräch mit Fornell brüllt Gibbs: »Das Schwein hat die Grenze überschritten: sich einzuschmeicheln, indem man auf Freunde schießt.« (Ebd., TC 0:36:56). 82 Harmon/Moorstedt: Interview (Anm. 35).
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bildet: »da ist alles aus der Spur«.83 Zentraler Indikator dieser ›Unordnung‹ sind seine drei gescheiterten Ehen, von denen jedoch nur anspielungsweise und in distanzierter bis ironischer Form berichtet wird.84 Zu den wenigen Details, die der Zuschauer davon erfährt, gehört ein Hinweis auf eine handgreifliche Auseinandersetzung mit seiner dritten Ehefrau. Darüber berichtet Ducky: »Vor vier Jahren hat dir deine dritte Frau mit dem Baseball-Schläger eins übergezogen.«85 Trotz dieser einprägsamen Erfahrung hat Gibbs keine Bindungsscheu entwickelt. Zwar behauptet er, nur mit wenigen Frauen auszugehen,86 dafür taucht aber in der ersten Staffel wiederholt eine geheimnisvolle Rothaarige auf, mit der er offenkundig liiert ist. Darüber hinaus wird an seinem Umgang mit Kindern vielleicht auch sichtbar, wie sehr ihn der Verlust von Kelly noch zu beschäftigen scheint. Am Ende von Episode 2: Sprung in den Tod hilft er dem Jungen, der seinen Vater verloren hat, sein Baumhaus fertigzustellen, und in Episode 18: Falsche Fährten nimmt er den minderjährigen Sohn des gesuchten Petty Officers Jack Curtin tröstend in die Arme.87 Ebenso wie gegenüber seinen Mitarbeitern versucht Gibbs auch hier, die schützende Vaterrolle einzunehmen. Um Abstand von den aktuellen Fällen zu gewinnen, hat sich Gibbs im Keller seines Hauses einen Hobby-Raum geschaffen, in dem er in ausdauernder Handarbeit am Holzrumpf seines Bootes arbeitet. »Dabei trinkt er Whiskey aus der Tasse. Gästen serviert er den goldbraunen Saft in einem ausgeleerten Nagelglas. […] Das Basteln am Schiff mit Handhobel und Holzgriffbohrern passt in seiner altmodischen Langsamkeit gut zum jahrzehntelang gereiften Südstaatengesöff.«88 Neben der Funktion, den mitunter hektisch verlaufenden Ermittlungen eine entschleunigte und gleichsam kontemplative Beschäftigung entgegenzusetzen, gewinnt die sorgfältige Arbeit
83 Harmon/Hanfeld (Anm. 41). 84 Beispielsweise lässt Gibbs verlauten: »Ich hab drei Exfrauen, da kann ich mir keinen Fetisch leisten.« (Navy CIS I/17: Fünf Musketiere, TC 0:15:32). 85 Navy CIS I/5: Der Fluch der Mumie, TC 0:10:04. 86 »GIBBS. Frauen, mit denen ich ausgehe, stehen auf den Duft von Sägespänen. Deswegen gehe ich nur mit wenigen aus.« (Navy CIS I/8: Schlimmer als der Tod, TC 0:04:31). 87 Vgl. Navy CIS I/18: Falsche Fährten, TC 0:19:30. 88 Oliver Uschmann: »Whiskey«, in: ders.: Überleben auf Festivals. Expeditionen ins Rockreich. München 2012, S. 304-306, hier S. 304 f.
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am Boot insofern symbolischen Charakter, als sie die Solidität und Bedachtheit von Gibbs’ Handlungen unterstreicht. Schon in der ersten Serienepisode wird Gibbs nicht nur gezeigt, wie er eingangs einen Querspanten seines Bootsskeletts abschleift,89 sondern auch, wie er diese Beschäftigung am Ende der Episode konzentriert fortsetzt. Während sich die Vertreter der anderen Sicherheitsdienste als siegreiche Helden inszenieren (siehe III.1), verweigert Gibbs diese Rolle, indem er die Prioritäten verschiebt: Eine bleibende Arbeit ist ihm wichtiger als der vergängliche Ruhm.
IV. R ESÜMEE – Z WISCHEN P HÄNO - UND S TEREOTYPIE Im Gegensatz zur Fortsetzungsserie verlangt die traditionelle Episodenserie stereotype Konstellationen. Diese Anforderung wird insbesondere von der modernen US-amerikanischen Kriminalserie eingelöst, in der pro Episode üblicherweise ein Fall von eindimensional gezeichneten Figuren bearbeitet wird, die auf ein starres Charakterprofil festgelegt sind. Auch in Navy CIS sind zweifellos wiederkehrende Muster zu beobachten: Während die einzelnen Teammitglieder ihre typisierenden Eigenheiten ausstellen, lässt auch die Disposition des Teamleiters Gibbs kennzeichnende Wesensmerkmale erkennen, die seriell reproduziert werden. Doch trotz mancher Stereotypie ist Gibbs als eine Figur mit erkennbaren Ambivalenzen angelegt. Obwohl er den Habitus, ein Held zu sein, prinzipiell ablehnt, erwächst aus seinen Handlungen sowie aus den filmischen Inszenierungen seiner Person das Bild eines durchaus heldenhaften Ermittlers. Im Einsatz beweist er im Extremfall klassische Heldenqualitäten wie Mut, Tapferkeit und Standhaftigkeit. Gleichzeitig versucht Gibbs in der Rolle des ›sorgenden Ersatzvaters‹ potentielle Gefahren von seinen Mitarbeitern abzuwenden. Allerdings kann aufgrund der Unbeirrbarkeit, mit der er die Verbrecher verfolgt, die Grenze zwischen seinem persönlichen Rechtsverständnis und den allgemeinen Rechtsnormen mitunter verschwimmen. In diesen Momenten verändert sich das positive Heldenbild zum Bild eines Antihelden, der nach eigenen Gesetzen lebt und in hybrider Auslegung seines Amtes Selbstjustiz übt. Diese Abgründigkeit hängt aber auch mit seiner Vergangenheit zusammen, die in der ersten Staffel nur punktuell thematisiert wird. Vor
89 Vgl. Navy CIS I/1: Air Force One, TC 0:03:27.
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allem wegen seines persönlichen Traumas, die eigene Familie verloren zu haben, trägt Gibbs nicht zuletzt Kennzeichen eines tragischen Helden. Die Figurenanlage zeigt, dass Gibbs trotz seiner herausragenden Kompetenzen bewusst nicht als ein »Supermann« konzipiert worden ist, wie Harmon betont hat. Doch trotz seiner Phänotypie wird mit der Zentralfigur von Navy CIS ein Gestaltungskonzept reaktiviert, das Lessing bereits Mitte des 18. Jahrhunderts verteidigt hat: das des ›Mittelcharakters‹.90 Auch bei Gibbs wird eine gewisse ›Mischungsqualität‹ sichtbar: Dem funktionierenden Berufsleben steht ein aus der Bahn geratenes Privatleben gegenüber. Weiterhin lässt sich die bereits von Aristoteles geforderte Fehlerhaftigkeit (hamartia) des Protagonisten beobachten:91 Indem er sich mit hoher emotionaler Hingabe der Aufklärung seiner Fälle widmet, überschreitet er zuweilen die Grenzen geltenden Rechts und erweist sich somit als fehlbar. Das aber hebt ihn wiederum von der Vielzahl an US-amerikanischen Serienermittlern ab, die als ungetrübt moralische Vorbilder das Idealbild des guten und aufrechten Amerikaners verkörpern. Gleichzeitig nimmt Gibbs aufgrund seines souveränen Umgangs mit den eigenen Fehlern und Ängsten eine Vorbildrolle ein, da er eine Heldenfigur von ausgeprägter Charakterstärke repräsentiert. Daher erstaunt es nicht, dass der eingangs erwähnte Kurt Davenport ihn bewundert. Und noch weniger erstaunt es, dass Gibbs inzwischen zum Vorbild vieler Serienzuschauer geworden ist: Gibbs […] has garnered huge attention as a fictional character, and has inspired many people to channel their fear, and become better leaders. There are T-Shirts on sale, that read: »What Would Gibbs Do?«, and rightfully so. A role model in many senses.92
90 Vgl. Immer: Der inszenierte Held (Anm. 19), S. 101 f. 91 Vgl. ebd. 92 Josh Lipovetsky: »NCIS Character Analysis – Agent Leroy Jethro Gibbs«, in: Filmsight.net (10. November 2009) [http://filminsight.net/2009/11/10/ncis-character-analysis-agent-leroy-jethro-gibbs/; Zugriff: 20. August 2012].
»That woman deserves her revenge«.1 Quentin Tarantinos Kill Bill und die Geburtsstunde der Screen Queen T ANJA P ROKIû
Als in den Jahren 2003 und 2004 Quentin Tarantino mit Kill Bill seine Muse Uma Thurman zur Leinwandheldin schlechthin stilisierte, begründete er damit eine neue Ära weiblichen Heldentums. Scharfe Klingen (Kill Bill Vol. 1 & 2), Ausdauer und Hingabe (Lady Vengeance), schweres Geschütz (Planet Terror), logisches Kalkül (Alias) sowie rasantes Tempo und Steuerkontrolle (Death Proof) zeichneten die neuen Heldinnen auf der Leinwand aus. Sie sind in jeder Hinsicht extra-exzeptionell, extra-liminal, extratransgressiv. Obgleich Beatrix Kiddos Weg in, oder sollte man sagen zu Kill Bill mit Leichen gepflastert ist, Ströme von Blut ihren Weg fluten und Körperteile sich am Rande dieses Wegs zu Bergen auftürmen, mutet diese Heldin weder gewalttätig noch blutrünstig an, sondern viel eher besonnen, unschuldig, wunderschön und geradezu unsterblich. Dass diese Frau trotz ihrer Gräueltaten bewundernswert erscheint, verdankt sich einer Neuschreibung von Kino- bzw. Genregeschichte und einer diffizilen Neukombination vorherrschender Muster starker Frauentypen im Film. Einhellig schien die Meinung der Kritiker und Filmanalytiker nur bezüglich der Einschätzung, dass es sich um ein Rache-Epos im großen Stil handle. »That woman deserves her revenge« lautet es mehrfach auf intradiegetischer Ebene. So lassen sich auch mehrfach genrespezifische Codie-
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rungen eines Rachefilms ausmachen. Unter dieser Perspektive erscheint der Film als ein geradezu mythisches, zeitloses Modell der Rache, in welchem Rache und Gegenrache unaufhörlich aufeinander folgen.2 So zeigen die ersten Einstellungen die Braut als klassisches Abjekt zu Füßen des männlichen Handlungsträgers Bill, ein blutiges, verschwollenes, noch jenseits des Objektstatus befindliches Ding. Wir werden Zeuge, wie Bill ihr erbarmungslos eine Kugel durch den Kopf jagt, während sie ihm noch zuraunt, dass das Baby in ihrem Bauch von ihm sei. Dass das nicht die letzten Bilder sind, verdeutlichen nicht nur die den Vergangenheitsmodus repräsentierenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen, sondern auch die Stellung dieser Bilder zu Beginn der Narration. Bill, der Repräsentant eines phallischen Regimes, gegen das die Braut fortan antreten wird, ist hier als Movens der Handlung funktionalisiert. Sein Übergriff auf die körperliche Integrität der hochschwangeren Braut wiederum, so wird sich zeigen, ist motiviert durch eine verletzte Männlichkeit. Sie hatte ihm das Herz gebrochen, indem sie ihren Mentor/Arbeitgeber und Geliebten Bill glauben ließ, sie wäre bei einem Auftrag ums Leben gekommen. Als Bill jedoch erfahren muss, dass seine kleine Kiddo ihn für ein Leben in der Gewöhnlichkeit, schwanger und kurz vor der Hochzeit mit einem Plattenladenbesitzer im weltfernen El Paso, verlassen hat, nimmt er mit seinem vierköpfigen Deadly-Viper-Kommando Rache an ihr, ihrem ungeborenen Kind, ihrem Bräutigam und der Hochzeitsgesellschaft. Doch sie ist nicht tot und beginnt, nachdem sie aus ihrem vierjährigen Koma erwacht, einen gnadenlosen Racheakt gegen sämtliche Mitglieder der Killer-Truppe. Ihr Feldzug führt sprichwörtlich durch verschiedene Felder, und zwar verschiedene Felder eines phallisch dominierten Regimes männlich konnotierter Genres wie der Western, der Eastern, der Yakuza-Film oder der Samurai-Film. Entsprechend dieser Durchquerung der Genres verändert Kiddo ihr Outfit, ihre Waffen und Kampfmethoden, außerdem wird sie über unterschiedliche Pseudonyme adressiert. Erscheint Bill zu Beginn der Narration noch als übermächtiger Handlungsträger in einem phallokratischen
2
Siehe dazu: Uwe Lindemann, Michaela Schmidt: »Die Liste der Braut. Einige Anmerkungen zur Filmästhetik von Quentin Tarantinos KILL BILL«, in: Achim Geisenhanslüke, Christian Steltz (Hg.): Unfinished Business. Quentin Tarantinos Kill Bill und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaft. Bielefeld 2006, S. 133-154, hier S. 141.
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Regime, so verliert er im Fortschreiten der Tour-de-la-Vengeance zunehmend an Handlungs- sowie Deutungsmacht. Kiddo hingegen erkämpft sich den Status einer extra-exzeptionellen Heldin, indem sie ihre einstigen Attentäter zu Opfern macht. Doch Kiddo ist diese exzeptionelle Heldin nicht allein aufgrund ihrer erfolgreichen Tour-de-la-Vengeance, sie ist ein perfekter Zuschnitt weiblicher Tugend und ästhetischer Gewalt. Mehr als nur ein überbordender Pastiche im Dschungel des grenzenlosen Intertextes, mehr als ein nur zweidimensionaler Holzschnitt gefangen in den Grenzen der Diegese, ist sie heldenhafte Ikone der Popkultur. Und zwar einer Popkultur, die ihre gesellschaftliche Funktion über eine Art mythologisches Sinnstiftungssystem3 bezieht. Gerade innerhalb dieses Systems geht Kiddos Bezug zur Realität nicht im Overkill der Selbstreflexivität auf, sondern, im Gegenteil, ihr ästhetischer Heroismus kann sich, wie zu zeigen sein wird, sehr wohl als gesellschaftlich relevant erweisen.
I. Z WEI P RÄMISSEN Die Selbstreferenzialität der Zeichen, der Figuren, der Musik, der Narration scheint Kill Bill durchweg zu einem Metafilm zu machen. Tarantinos Kino hat sich bisher stets als Kino über Kino ausgezeichnet.4 Alle Dinge und Figuren scheinen über Filme hinweg in einem unaufhörlichen Dialog miteinander verwoben zu sein. Als ein Tarantino’sches Universum, ähnlich wie das eines David Lynch, entfaltet es notwendig selbstreferenzielle Bezüge. Die Lust am Tarantino-Text scheint sich gerade aus dem Begehren zu speisen, sämtliche intertextuelle Bezüge zu decodieren, in den Blick zu bekommen, das unaufhörliche Plappern der Zeichen einzufangen. Entgegen einer solchen Sammelleidenschaft, wie sie von zahlreichen Fans wie Filmwissenschaftlern betrieben wird, sollen hier lediglich jene Spuren verfolgt
3
Vgl. Patricia Feise: »Quentin Tarantinos Kill Bill: Geburt einer Heldin oder Demontage feministischer Filmtheorie?«, in: Annette Geiger, Stefanie Rinke, Stevie Schmiedel (Hg.): Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Gender und Medien. Weimar 2006, S. 233-256, hier S. 245.
4
Siehe zu einem umfassenden Überblick über Tarantinos Kill Bill: Douglas Kimball Holm: Kill Bill. An Unofficial Casebook. London 2005.
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werden, die auf den ästhetischen Heroismus der Figur Beatrix Kiddo in Kill Bill als einen neuen Frauentypus im Film verweisen. Dabei scheint mir eine Spur besonders wesentlich: die Verschränkung von Rache und Weiblichkeit. Als Rache-Epos in zwei Teilen wurde Kill Bill bezeichnet sowie als intertextuelles Genre-Crossover. An beidem möchte ich für meine Lektüre festhalten, jedoch mit zwei Prämissen: Erstens: Genre-Crossover ist mehr als eine artifizielle Spielerei im Zeichen der Postmoderne und Selbstreferenzialität ist mehr als die Summe intertextueller, intermedialer und interkultureller Codes. Genre soll vielmehr als verdingtes Phänomen beobachtbar werden, Intertextualität ist dabei als Beobachtungsperspektive dienlich. Zweitens: Der Begriff des Rache-Epos wird für die folgende Argumentation beibehalten. Dabei soll Rache jedoch als Interpretament operationalisiert werden. Dies ist aber nur möglich, wenn Rache weiterhin auf der motivischen Ebene lesbar bleibt, und zwar nicht primär in ihrem Zusammenhang mit der Narration,5 sondern eben in intertextueller Hinsicht sowie in Hinblick auf Genre als ein verdingtes Phänomen, d. h. als ein Gegenstand der Narration.
II. D AS F INAL G IRL , DIE P HALLIC WOMAN UND DIE F EMME CASTRATRICE Bereits Linda Williams’ Untersuchungen zu den sogenannten Bodygenres (Horror, Drama und Porno) zeigen, dass Genres sich in einem historischdynamischen Entwicklungsprozess situieren und auf diesen reagieren. Williams spricht sich explizit dagegen aus, diese Filme aufgrund einer monolithischen unveränderbaren Misogynie zu verwerfen, vielmehr hingen ihre Existenz sowie Popularität von einem schnellen Wechsel in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und einem rapiden Wandel von Geschlechterbildern ab: »Genres thrive, after all, on the persistence of the problems they address; but genres thrive also in their ability to recast the
5
Dies hat mehr als evident kürzlich Nina Heiß in ihrer Dissertation erbracht. Vgl. Nina Heiß: Erzähltheorie des Films. Würzburg 2011, S. 214-282.
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nature of these problems«.6 Genre versteht sich demzufolge als kulturelles Problemlösungsmuster sowie als hochgradig anpassungsfähig an die historisch wandelbaren Problemstellungen. Das heißt, die genrespezifischen Dramaturgien bleiben mit ihren Figuren- und Motivkonstellationen weitgehend konstant und damit unter dem Oberbegriff eines Genres identifizierbar. Dennoch lassen sich historisch sensible Verschiebungen im diskursiven Geflecht von Figuren und der Anordnung der Motive ausmachen. Was aber heißt das in Bezug auf ein konkretes Genre? Es zeigt sich, dass konkrete Genres Veränderungen unterworfen sind. Für das Horror-Genre beispielsweise ist der exzessive Tötungsakt eines wehrlosen weiblichen Opfers geradezu konstitutiv, um Horror als Genre zu bezeichnen: »Angry displays of force may belong to the male, but crying, cowering, screaming, fainting, trembling, begging for mercy belong to the female.«7 Die intradiegetische Spannung bezieht der Horrorfilm durch das Jagen, Demütigen und Foltern seiner vorrangig weiblichen Opfer als oftmals rituell strukturierten Akt. Je deutlicher die weiblichen Stars ihre Unterlegenheit durch ausgiebiges Schreien zutage fördern, umso mehr qualifizieren sie sich für den Titel der ›Scream Queen‹. Für die Dramaturgie des frühen Slasher-Movies zählt ab den 70er Jahren das Überleben eines (leichtbekleideten) ›Final Girl‹ zum Urbild8 des Genres. Die feministische Filmforschung geriet über den fragwürdigen Emanzipationsgrad des Final Girls in folgenreiche Diskussionen. Auffällig war, dass das Final Girl im Gegensatz zu seinen Altersgenossen stets sexuell passiv blieb und den Folterern nur knapp, sprichwörtlich mit knapper Kleidung entkam. Sie blieb damit Objekt eines männlichen Blickes, und ihre sexuelle Enthaltsamkeit wurde darüber hinaus ideologisiert. Erst wenn das Final Girl sein Überleben nicht mehr nur durch bloße Flucht garantiert, sondern selbst zur phallischen Waffe greife, so Carol Clover, ermanne es
6
Linda Williams: »Film Bodies: Gender, Genre, and Excess«, in: Film Quarterly 44 (1991), No. 4, S. 2-13, hier S. 12.
7
Carol J. Clover: »Her Body, himself: gender in the slasher film«, in: James Donald (Hg.): Fantasy and the Cinema. London 1989, S. 91-133, hier S. 117.
8
Siehe dazu auch: Georg Seeßlen: »Genre – mehr als ein Begriff. Die Übermittlung von Botschaften in ästhetischen Strukturen«, in: Medien und Erziehung 4 (1987), S. 209-218.
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sich vom »abject terror [...] gendered feminine«9 zu einer aktiven Handlungsträgerin, obgleich mit bisexuellen Komponenten. Das Final Girl zeichnet sich jedoch durch ein primär homosexuell-ambivalentes Begehren des männlichen Blicks aus und ist Clover zufolge eine phallische Frau. Eine ähnliche Tendenz macht Barbara Creed für das in den 70er Jahren entstehende Subgenre des Slasher-Movies, das Rape-and-Revenge-Movie,10 aus. Gemäß dem Prätext Die Jungfrauenquelle (1960) von Ingmar Bergman wird die Rache für die vergewaltigte und getötete Tochter im das Genre begründenden Film The Last House on the Left (1972) von Wes Craven von den Eltern vollzogen. Doch schon Ende der 70er Jahre wird die Frau nicht mehr jäh verendetes Abjekt der Handlung, sondern vollzieht die Rache selbst. Paradigmatisch gilt hier I Spit on Your Grave (1978) von Meir Zarchi. Im ersten Teil des Films wird die Frau als wehrloses Abjekt in einer grausamen Vergewaltigung gezeigt, im zweiten Teil verführt und tötet sie brutal jeden ihrer vier Vergewaltiger. Das weibliche Opfer im Film wird damit von der kastrierten zur kastrierenden Frau. Barbara Creed entwickelt hier im Unterschied zur ›phallic woman‹, wie sie das Final Girl des Slashers repräsentiert, den Typus der ›castrating woman‹: The avenging heroine of the slasher film [insbesondere des Rape-and-RevengeMovies, T.P.] is not the Freudian phallic woman whose image is designed to allay castration anxiety (we encounter her mainly in pornography and film noir) but the deadly femme castratrice, a female figure who exists in the discourses of myth, legend, religion and art.11
Obwohl sich die Rache mehr als grausam äußert, scheint diese nicht zuletzt durch die Erzähllogik motiviert als gerechtfertigt, ja geradezu verdient. Einer solchen Erzähllogik entspricht auch, dass die ›femme castratrice‹ innerdiegetisch weder einem Rachezirkel ausgesetzt (beispielsweise wiederum durch Anverwandte ihrer Opfer) noch durch ein strafendes Rechtssystem geahndet wird.
9
Clover: Her Body (Anm. 7), S. 117.
10 Siehe dazu die ausführliche Untersuchung Jacinda Read: The new avengers. Feminism, feminity and the rape-revenge cycle. Manchester, New York 2000. 11 Barbara Creed: The Monstrous-Feminine. Film, Feminism, Psychoanalysis. London, New York 1993. S. 122-138, hier S. 127.
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Vielmehr zeigt die letzte Einstellung die Protagonistin nach dem vorsätzlichen Mord an ihren Peinigern am Steuer des Motorbootes. Die Fokussierung der Kamera auf die Hände am Steuergriff hebt sinnbildlich die rückeroberte Souveränität des einstigen Vergewaltigungsopfers hervor. Entscheidend erscheint mir hier die Tradition, in der Barbara Creed die ›femme castratrice‹ verankert, nämlich in jener der mythischen Figuren der Bacchantinnen, der Furien, Sirenen, Gorgonen12 sowie der Femme fatale des Film Noir.13 Allesamt weibliche Figuren, die mit ihrer erotischen Ausstrahlung den Mann in die Falle locken, ja geradezu verführen. The Bride alias Beatrix Kiddo scheint jedoch gerade das Gegenmodell wiederum zur ›femme castratrice‹ zu verkörpern. Sie vollzieht ihre Rache zwar ebenfalls gezielt, jedoch basierend auf ihren martialischen Fähigkeiten. Dass beispielsweise die Femme fatale ein Frauentypus ist, welcher dem der Beatrix Kiddo extrem entgegensteht, zeigt sich nicht zuletzt im Vergleich mit der Funktionalisierung der Schauspielerin Julie Dreyfus alias Sofie Fatale [!] als Stereotyp der dunkelhaarigen französischen Vollblutfrau des Film Noir. Um die Braut alias Beatrix Kiddo in ihrer Exzeptionalität auf die Spur zu kommen, ist gerade signifikant, dass sie sich von diesem Modell radikal absetzt, obgleich sie das Modell der ›femme castratrice‹ eben in der Rapeand-Revenge-Sequenz im Krankenhaus anzitiert. Die Vergeltung an Buck wird denn auch vom berühmten Halloween-Theme, das in zahlreichen Rape-and-Revenge-Movies der 70er und 80er14 zitiert wird, begleitet. Man kann so sehen, dass das Horror-Genre sich Entwicklungen anpasst oder gar als Verhandlungsort gesellschaftlich relevanter oder brisanter Themen in Erscheinung tritt. Denn es ist kein Zufall, dass das Slasher-Movie sein Subgenre des Rape-and-Revenge-Movies ausgerechnet in den 70er Jahren
12 Ebd., S. 126. 13 Thomas Koebner leitet den Figurentypus der Femme fatale des Film Noir aus der ambivalenten Tradierungsgeschichte der Judith-Figur her. Vgl. Thomas Koebner: »Die schöne Mörderin. Zum Weiterleben des Judith-Typus in der Filmgeschichte«, in: Jürgen Blänsdorf (Hg.): Die Femme Fatale im Drama. Heroinen – Verführerinnen – Todesengel. Tübingen, Basel 1999, S. 141-158. 14 So beispielsweise in den Filmen: Ms. 45 (USA 1981; R: Abel Ferrara); Savage Streets (USA 1984; R: Danny Steinmann); Death Weekend (Kanada 1976, R: William Fruet).
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ausprägt, in der Zeit, in der Geschlechtermodelle und die Emanzipation der Frau politisch wie gesellschaftlich kontrovers diskutiert wurden. Es kommt zu einer Legitimierung und gleichzeitig zu einer steigenden Ästhetisierung weiblicher Gewalt im Medium Film. Die Gewalt der Schönheit ist dabei unverzichtbares Element für die Konstitution weiblicher Helden. Die Ästhetisierung der Gewalt legitimiert sich jedoch, wie mir scheint, nicht zuletzt mit Kill Bill durch einen ganz bestimmten Frauentypus. Denn nicht jede der weiblichen Gewalthandlungen in Kill Bill ist nachhaltig ästhetisch und legitim. Im Folgenden möchte ich diesen neuen Typus skizzieren.
III. D IE R EISE DER H ELDIN DER S CREEN Q UEEN
ODER DIE
G EBURT
Patricia Feise hält in ihren Überlegungen zu Kill Bill fest, dass »innerhalb der Dramaturgie und Ästhetik des Films […] die weibliche Heroin nicht minder überzeugend [wirkt], als es die Gestalt eines männlichen Helden vermocht hätte«, dass darüber hinaus zu »vermuten [ist], dass die Geschichte der Beatrix Kiddo eine Heroik erzeugt, die ihre Färbung gerade aus der Erfahrungsperspektive einer weiblichen Heldin gewinnt«.15 Worin die Erfahrungsperspektive einer weiblichen Heldin besteht, scheint selbst wiederum nicht so eindeutig aus ihren Überlegungen hervorzugehen. Meines Erachtens speist sich diese spezifisch weibliche Erfahrungsperspektive nicht aus den realen Erfahrungen realer Frauen, sondern vielmehr aus einem in der Tradition des Films als weiblich konnotierten Erfahrungszusammenhang. Im Folgenden werde ich auf einige Elemente eines solchen Erfahrungszusammenhangs eingehen: die Ästhetisierung der Gewalt im Zeichen der Anmut, Rache und Kampfkunst, die Kostümierung als Zeichen der Rollenfluidität, Mutterschaft als Bruch mit der phallokratischen Ordnung, sowie das Verbot des Vaters als spezifisch weibliche Erfahrung. All diese Elemente dienen dazu, den weiblichen Heroismus zu ästhetisieren und neben den bisher skizzierten Frauenbildern im Film einen vollkommen neuen Typus, die Screen Queen, zu etablieren.
15 Feise: Kill Bill (Anm. 3), S. 244.
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III.1 Grazien und Klingen Das 18. Jahrhundert führte einen ausgeprägten Gelehrtendiskurs über die Erziehung und Sozialisierung der Frau, über ihre Tugenden und Aufgaben. Einig schienen sich die männlichen Gelehrten, wie beispielsweise Friedrich Schiller16, Jean-Jacques Rousseau17 oder Immanuel Kant,18 zwar über die angeborene Natur der Frau, dennoch müsse dieser durch die rechte Erziehung der Weg gewiesen werden. Nicht selbstverständlich schien die Frau die Tugenden, die sie als solche kennzeichnen, aus ihrer Natur mitzubringen. An ihrem äußeren Erscheinungsbild und der Grazilität ihrer Bewegung könnte man ihren wahren Charakter ablesen, so waren sich die Gelehrten weitgehend einig. Naturverbunden in weiten fließenden Gewändern, mit offenem wallendem Haar und feinen Bewegungen zeichnet sich das weibliche anmutige Wesen um 1800 durch eine moralisch lesbare Körpersprache aus. »Anmut [...] wird zu einem idealen weiblichen Körper-Seele-Verhältnis stilisiert, dem zufolge sich Unschuld und Sanftmut der Frau unmittelbar in der schönen Bewegung ausdrücken«.19 Wie Mareen van Marwyck in ihrer Dissertation zeigt, ist Anmut durch graziöse Bewegung definiert, die sich nicht nur in der Tanzkunst und den graziösen Bewegungsabläufen weiblich codierter Alltagshandlungen, sondern auch in der Fechtkunst wiederfindet. Obgleich als Kampfkunst entwickelt, dient diese in ihrer fortentwickelten ästhetisierten Form in der Neuzeit vorrangig dazu, den Gegner über eine tänzelnde Bewegung in seine Schranken zu verweisen, nicht jedoch ihn zu töten. Die Unterweisung in der Fechtkunst dient der Körperbeherrschung, das heißt der Disziplinierung
16 Vgl. Friedrich Schiller: »Ueber Anmuth und Würde«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 20, S. 251-308. Siehe dazu Mareen van Marwycks ausgezeichnete Dissertation: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010. 17 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung. Paderborn 1972. 18 Vgl. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Werke. Akademieausgabe, Bd. VII. Berlin 1907/17, ND 2000, S. 303-311. 19 van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 16), S. 84.
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des Körpers in der Bewegung. »Die Disziplinierung der Frau zur Anmut vollzieht sich über den Körper, nicht über eine geistige Erziehung, die als der Grazie abträglich gilt«.20 Auch das Kino kennt diese Tradition der Anmut und Grazie. Heldinnen im Film müssen auf sich ein Ebenmaß an Traditions- und Stilbewusstsein vereinen. Geradezu exemplarisch wird dieser Sozialisations- und Disziplinierungsapparat intradiegetisch in Luc Bessons Nikita (1990) eingeholt. Nikita (Anne Parillaud) wird infolge der Beteiligung an einem Drogenverbrechen zum Tode verurteilt. Während sie in den offiziellen Akten für tot erklärt wird, soll sie unter der schützenden Hand ihres Mentors Bob zur Auftragskillerin ausgebildet werden. Das beinhaltet Training an der Waffe sowie Unterricht in Grazie und Anmut bei ihrer Lehrerin Amande (Jeanne Moreau). Das rohe Mädchen von der Straße soll in eine anmutige Frau verwandelt werden.21 Eine Frau, die das Begehren der Männer auf sich zu ziehen und damit ein Spiel der Maskerade zu spielen versteht. So verdeutlichen die knappen Dialoge mit ihrer Lehrerin dieses Programm: Sie fordert ihre Schülerin beispielsweise auf zu beschreiben, was Anmut und Grazie ist.22 Einer ihrer finalen Ratschläge lautet: »Es gibt zwei Dinge, die darfst du nie vergessen. Die Weiblichkeit und die Möglichkeit, sie zu benutzen.«23 Dass Luc Besson ausgerechnet Jeanne Moreau in dieser Rolle besetzt, ist kein Zufall, verkörpert sie doch den Typus der Neo Femme fatale der Nouvelle Vague.24 François Truffaut inszeniert sie in Die Braut trug schwarz (1968) als gnadenlose Rächerin ihres Bräutigams. Ihrem Rachefeldzug fallen alle fünf Mörder [!] ihres Bräutigams zum Opfer. Jeden der fünf Männer sucht sie in einer anderen Kostümierung auf. Die Namen der
20 Ebd., S. 88. Vgl. Rousseau: Emil (Anm. 17), S. 399. 21 Thomas Koebner setzt den Fokus auf die Menschwerdung der Tötungsmaschine Nikita. Die geschlechtliche Codierung weitgehend vernachlässigend, handle es sich ihm zufolge schlichtweg um eine ›éducation sentimentale‹, die sich an der Frau besser exerzieren lasse als am Mann, bei dem so tiefgreifenden Deformationen als irreparabel gelten. Vgl. Koebner: Schöne Mörderin (Anm. 13), S. 155. 22 Nikita, TC: 00:25:35. 23 Ebd., TC: 00:35:00. 24 Zu den ambivalenten Frauenfiguren der Nouvelle Vague siehe: Thomas Koebner, Fabienne Liptay (Hg.): 3 Frauen. Moreau, Deneuve, Huppert. Filmkonzepte 7. München 2007.
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Mörder sind allesamt in einem kleinen schwarzen Büchlein in Form einer Liste dokumentiert und werden nacheinander durchgestrichen.25 Die Ähnlichkeiten zu Kill Bill liegen auf der Hand. Mit Nikita jedenfalls gelang Luc Besson die Erschaffung eines neuen Frauentyps, der auf das Begehren der Jugendkultur der 90er Jahre eine erste Antwort gab; Nikita verkörpert, wie Rosie White ausführt, trotz ihrer Referenz auf die klassische Noir-Frau und die Neo-Noir-Frau, nicht die »offen sexualisierte Frau des neuen Hollywood Noir«,26 sondern vielmehr ein »androgynes, prä-pubertäres kindlich authentisches Wesen«27 der Jugendkultur. Der Fokus auf das Präpubertäre und Kindliche sollte an dieser Stelle Aufschluss geben über das seltsame Ende, das Nikitas Heldenreise auszeichnet. Sie lehnt sich zwar gegen ihren Mentor auf, doch scheinen hier Zeichen der weiblichen Ohnmacht zu überwiegen: Sie weint, ist hysterisch und unkontrolliert, die eleganten Bewegungen, die ihr ihre Lehrerin so mühevoll beigebracht hat, scheinen vergessen. Sie unterliegt dem phallischen Regime ihres Mentors Bob und kann sich demzufolge nicht selbst aus ihrem Zwangsverhältnis lösen. Erst ihr Lover ergreift die Handlungsmacht und löst sie durch Erpressung aus ihrem paternalen Verhältnis zu Bob sprichwörtlich aus. Es sind die Gesetze der patriarchalen Tauschbeziehung, die hier noch paradigmatisch gelten. Im Remake Point of No Return (1993) von John Badham wird Nikita von Bridget Fonda verkörpert. Während Anne Parillaud ihrer Nikita-Figur noch etwas Widerspenstiges verlieh, scheint Fonda sich in die Grazie-undAnmut-Lehre ihrer Mentorin (Anne Bancroft) vollkommen zu ergeben. Entgegen dem Original liegt der Fokus nicht mehr auf Weiblichkeit, sondern auf Jugend. Doch auch Fonda erhält ausgeprägtes Lauf- und Sprachtraining und vermag nach Abschluss ihres Trainings geradezu symbiotisch das kleine Schwarze und die große Waffe auf sich zu vereinen. In einem Zeitraum von nur drei Jahren hat die renitente Nikita sich in eine strahlende Heldin verwandelt, die zarte Weiblichkeit und kindliche Unschuld sowie Anmut und Grazie gleichermaßen auszeichnet.
25 Die Braut trug Schwarz, TC: 01:02:54. 26 Rosie White: Violent Femmes. Women as spies in popular culture. London, New York 2007, S. 108. 27 Ebd.
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Dass es sich in diesen beiden Filmen nicht so sehr um einen Agentinnen-Thriller handelt, sondern vielmehr um die Inszenierung eines rigiden Sozialisations- und Disziplinierungsapparat, lässt sich dadurch beweisen, dass beide Filme schon nach dem ersten Auftragsmord ihre Protagonistinnen in das ersehnte normale Leben entlassen. Beide Nikita-Figuren werden vielmehr in die patriarchalisch-symbolische Struktur integriert, als dass sie sich ihr subversiv widersetzen. So wäre auch der Lover von Nina in Point of No Return trotz seines charismatischen Charakters als ein Repräsentant dieser Ordnung zu lesen. Er ist Fotograf. Er beherrscht dasjenige Instrument, das die Frau sprichwörtlich zum Objekt eines männlichen Begehrens macht, zum Objekt eines männlich codierten Blicks.28 Das Ästhetisch-Heroische der Figur der Beatrix Kiddo nährt sich dennoch, wie noch deutlicher zu sehen sein wird, gerade aus diesen Vorgängerinnen. Denn sie bilden die Anfangsmomente zur Konstitution eines neuen Frauentypus, der sich von den bisher skizzierten absetzt. Beatrix Kiddo ist eine typische Tarantino-Figur, insofern sie weder nur ein bestimmtes Genre repräsentiert oder gar auf reale Charaktere verweist; sie ist vielmehr ein Pastiche-Typus, der auf Reaktualisierung und Steigerung bestimmter VorBilder basiert: »The Tarantino character is not a fully rounded human being as he or she exists neither in relation to others nor to a broader sense of the world, but only to his or her image.«29 III.2 Lady Vengeance Rache und weiblicher Heroismus scheinen eine hochgradige Affinität füreinander zu besitzen. Dies lässt sich auch an der Evolution des Nikita-Stoffes nachweisen, dessen serielle Adaption gerade unter dem Vorzeichen der Rache schlüssig wird. In der Serie ALIAS (2001–2006) ebenso wie in der Serie NIKITA (seit 2010) setzt die Narration gerade da ein, wo sie in den filmischen Vorlagen aus den 90ern aufhört. Die Nikita-Figur sehnt sich nach einem gewöhnlichen Leben mit ihrem Geliebten. Während in den Fil-
28 Aus dieser Logik heraus erklärt sich auch, dass Tarantino den Serienkiller Stuntman Mike in Death Proof (2007) als Hobbyfotografen zeigt. 29 Maximilian Le Cain: »Tarantino and the Vengeful Ghosts of Cinema«, in: http://www.senseofcinema.com/contents/04/32/tarantino.html; Zugriff: 30. Oktober 2011.
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men den Nikita-Figuren der Ausstieg aus der libidinösen Ökonomie bewilligt wird, wird den neuen Nikita-Figuren der Ausstieg systematisch aberkannt, indem die Verlobten ermordet werden. Die Endlos-Schleife der Rache scheint im Medium der Serialität adäquat aufgehoben. Beide Serien führen den Bezug zum Urstoff mit, jedoch unter neuen Prämissen. Die Protagonistinnen verlieren beide ihre Verlobten, mit denen sie ein normales Leben führen wollten. Die hochgradige Ästhetisierung der Gewalt in beiden Serien zieht ihre Legitimation vorrangig aus dem Bedürfnis nach Rache für den Verlobten und dem gescheiterten Identitätsentwurf, der mit ihm verbunden ist. Eine ähnliche Ausgangskonstellation zeichnet auch Beatrix Kiddos Rachefeldzug aus; ihr neuer Identitätsentwurf wird auf der Hochzeitsprobe restlos zerstört, sie selbst wie ihr Ungeborenes fast umgebracht. Das Massaker von El Paso wird zum Ursprungsmoment einer Kette von Rachehandlungen. Alle drei Protagonistinnen werden bei dem Versuch, ein normales bürgerliches Leben zu führen, von ihrer Vergangenheit als Auftragskillerin eingeholt. So unter anderem auch die Figur der Vernita Green in Kill Bill. Das Ursprungsmoment ihrer Rache ist gleichzeitig bereits eine ausgeübte Rache, so zeigt sich, dass die Rache nach hinten offen fortgeschrieben werden kann. Sie ist zyklisch strukturiert. Doch keine dieser Geschichten erzählt den vorhergehenden Vertrauensbruch als der Rache ›würdiges‹ Moment. Die rächenden weiblichen Figuren dagegen, obzwar eigentlich auf ein Ereignis re-agierenden, werden durch die einseitige Perspektive der Narrationslogik gerecht agierend semantisiert. Das entspricht wesentlich Anett Kollmanns Einschätzung des Helden: »Er [der Held] stiftet Gerechtigkeit, ohne selbst gerecht sein zu müssen«.30 Die Rache dieser Frauen ist eindeutig heroisch, sie stiften ausgleichende Gerechtigkeit im Sinne der einseitigen Perspektivierung durch die Narration, ohne selbst in jeder Hinsicht gerecht zu agieren. Sie müssen jedoch, wie bereits gezeigt, das Modell der Anmut und Grazie, der jugendlich-mädchenhaften Schönheit verkörpern, damit ihre Rache auf der Rezeptionsebene auch als gerecht aufgefasst werden kann. Sowohl Sydney Bristow (Alias) als auch Nikita und Kiddo sind sprichwörtlich zur Rache befähigt, indem sie gemäß den Regeln des Kampfes agieren. Rächerinnen, die dieses
30 Anett Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg 2004, S. 18.
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Maß an Anmut und Grazie nicht erfüllen, werden in der Tradition der Furien gezeichnet. Der von der französischen Zensur und Öffentlichkeit verschmähte Film Baise-moi (2000) von Virginie Despentes spielt gerade mit diesem Skandalon. Zwei Frauen – die Darstellerinnen entstammen der Porno-Industrie – werden brutal vergewaltigt und begeben sich auf einen grenzenlosen Rachefeldzug gegen das männliche Geschlecht. Sie verführen beliebige Männer, die mit dem Geschehen nichts zu tun haben, durch ihre sexuellen Fähigkeiten und ermorden sie. Die beiden Frauen sind geradezu als Furien inszeniert, sie rufen damit das Gegenmodell der anmutigen Gewalt auf, wie es das ausgehende 18. Jahrhundert im Kontext der Französischen Revolution entwarf: »Die aufständischen Frauen wurden als Furien und Medusen inszeniert und zum Symbol einer ›denaturierten‹ Ordnung stilisiert«.31 Im Gegensatz zu den anmutigen Gewaltinszenierungen um 1800 wird weibliche Gewalt in den Furiendarstellungen »mit Rachsucht und körperlicher Deformation verschränkt«.32 Ästhetischer und ethischer Diskurs verschränken sich auch hier. »Die Frau in einem hysterischen Gewaltexzess, wie sie in der Furie Gestalt annimmt, sprengt die Grenzen der bürgerlichen Ästhetik.«33 Im Kontext dieser konkurrierenden Weiblichkeitsentwürfe ist vermutlich auch das neue Filmende des Remakes von I Spit on Your Grave (2010) zu verorten. Das süße unschuldige Mädchen Jennifer verwandelt sich nach ihrer maßlosen und hochgradig personalisierten Racheorgie in einen seelenlosen Zombie. Blutleere Haut, hängendes, fahles Haar, heruntergezogene Mundwinkel, leerer, geradezu seelenloser Blick. Die hoffnungsvolle Schlusseinstellung der Originalversion wird im Remake offenbar nicht mehr legitimiert. III.3 Martial Arts Die Heroik der weiblichen Rächerinnen speist sich, wie gezeigt, aus dem Trauma einer verletzten Integrität. Wie bereits herausgearbeitet, entspringt der Weiblichkeitsentwurf, der die Heldinnen auszeichnet, einem theoretischen Modell von Anmut und Grazie, wie es um 1800 von zeitgenössischen
31 van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 16), S. 160. 32 Ebd., S. 164. 33 Ebd., S. 166.
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Denkern wie Friedrich Schiller, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant verhandelt wurde. Der Typus von Weiblichkeit, den die Heldinnen repräsentieren, ist ein hochgradig artifizieller. Besonders die Artifizialität der Figur Beatrix Kiddo spiegelt sich in der Artifizialität ihrer Kampfkunst wider. Die Ästhetisierung, die die Figur erfährt, bezieht sie auch über die ästhetisierte Gewalt, die sich mit dem Entwurf von Weiblichkeit verschränkt. Vor allem die östliche Tradition des Kampfes steht hier, anders als vielfach angenommen, unter einem spezifisch europäischen Paradigma der Grazie. Auch die Einschätzung Feises,34 die Beatrix Kiddo als eine weibliche Kriegerin in der Mythologie der Amazonen oder der Walküren verortet, scheint verkürzt. Denn diese mythologischen Kriegerinnen erfahren erst durch verschiedene Diskurse spezifische Ausprägungen. So erhält beispielsweise der Amazonentypus insbesondere durch die Penthesilea von Heinrich von Kleist seine heutige Gestalt, die Gewalt und Anmut erstmals miteinander verschränkt.35 Die Kampfkunst der Figuren steht stets unter dem Ideal eines männlichen Entwurfs von weiblich anmutiger Gewalt. So zeigt van Marwyck, dass es für die fechtende Frau gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwar gesellschaftlich legitim war, sich untereinander zu duellieren, jedoch wurde sie durch zwei Strategien vom patriarchalischen Regime vereinnahmt: »durch die Stilisierung zur anmutigen Kämpferin [...] und durch die Stilisierung weiblicher Fechtkämpfe zum erotischen Spektakel«.36 Beide Strategien lassen sich noch heute für filmische Inszenierungen nachweisen: Gewalttätige Frauen auf der Leinwand werden stets hochgradig ästhetisiert37 oder gar im Spektakel der Girlfights sexualisiert. In Kill Bill wird das Spektakel des Girlfights jedoch im Paradigma der Kampfkunst aufgelöst. Vor allem im Kampf gegen O-Ren Ishii steht die hohe Kampfkunst mit zugehörigen Regeln und Ritualen im Vordergrund. Trotz
34 Feise: Kill Bill (Anm. 3), S. 243. 35 Siehe dazu die Analyse von van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 16), S. 205-229. 36 Ebd., S. 121. 37 Eine Typologie weiblich ästhetisierter Actionheldinnen liefert Susanne Rieser: »Geschlecht als Special Effect«, in: Johanna Dorer, Brigitte Geiger (Hg.): Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung. Wiesbaden 2002, S. 320-334.
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der Kulissenhaftigkeit der Szenerie, die die Figur der O-Ren Ishii eindeutig mit der Rächerin Lady Snowblood in ein intertextuelles Verhältnis setzt, erhält der Showdown eine fast schon sakrale Atmosphäre. Dies ist nicht zuletzt der Anmut der beiden Kriegerinnen geschuldet, die völlig in ihren grazilen Bewegungen aufgehen. Der Zuschauer wurde bereits nach dem Duell mit Vernita Green durch Hattori Hanzos Stimme aus dem Off über die zugrunde liegende Lehre des Kampfes aufgeklärt: For those regarded as warriors… when engaged in combat… the vanquishing of thine enemy can be the warrior’s only concern. Suppress all human emotion and compassion. Kill whoever stands in thy way, even if that be Lord God, or Buddha himself. This truth lies at the heart of the art of combat.38
Die Anmut von Kiddo wird wiederholt ironisch konterkariert, indem sie nicht nur alle menschlichen Gefühle und Leidenschaften unterdrückt, sondern geradezu überwindet. Sie ist der nie aufgehende Rest quer durch alle Genrefelder, die sie auf ihrer Reise passiert. Während sämtliche ihrer Gegner sie erneut zum Abjekt zu degradieren suchen, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass sie in jedem Kampf, ausgenommen in jenem mit Bill, Dreck im Gesicht39 hat und ihre weibliche Anmut zu verlieren droht, kehrt sie unbeirrt wieder: »However much punishment she takes, the Bride keeps coming back – shot in the head, raped, buried alive, drugged, battered several times over, she refuses to let herself die.«40 Während die Rächenden eine Aussöhnung mit Gott suchen, so beispielsweise die Braut in Die Braut trug schwarz41 oder Jennifer im I Spit on Your Grave (1978), bezieht Kiddo ihre Rechtfertigung über die Lehre des gerechten Kampfes. Während die Rache von Jennifer erotisiert wird und fast schon das Bild einer antiken Hohepriesterin aufruft, wie Creed fest-
38 Kill Bill 1, TC: 00:14:36. 39 Patricia Feise führt die abgekämpften, dreckigen oder blutigen Erscheinungen von Kiddo auf die Tradition der »Performances männlicher Helden in ActionFilmen, wie z. B. Stirb langsam (Die Hard; USA 1988)« zurück und argumentiert von hier aus ebenfalls gegen einen »erotisierenden Modus eines Sexualobjektes« (Feise: Kill Bill [Anm. 3], S. 249). 40 Le Cain: Tarantino (Anm. 29). 41 Die Braut trug Schwarz, TC: 00:57:32.
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stellt,42 bezieht Kiddo ihre ästhetische Präsenz und ihre ethische Legitimation über das Ideal der chinesischen Martial-Arts-Tradition, die Georg Mein zufolge »nachgerade das Ideal einer spezifischen Verschränkung von Form und Norm dar[stellt]«.43 III.4 Dressed to Kill Laura Mulveys bahnbrechender Aufsatz Narrative Pleasure and Narrative Cinema44 von 1975 hatte im Anschluss an Sigmund Freud eine zentrale Struktur des Kinos herausgearbeitet, die Skopophilie, die Lust am Schauen. Dabei konnte sie zeigen, dass die Frau sich stets als Objekt eines männlichen Blickes erweist, »ihre Erscheinung ist auf starke visuelle und erotische Ausstrahlung zugeschnitten, man könnte sagen, sie konnotieren ›Angesehen-werden-Wollen‹«.45 Diese traditionell objektivierende Erotisierung der weiblichen Figuren lässt sich in Kill Bill nicht auffinden, dennoch lässt sich die Tradition des Dressed to Kill konstatieren, die beispielsweise auch Jennifers Racheakte in I Spit on Your Grave (1978) auszeichnen: »From the moment she picks up her gun, dresses in black […] we know she – like the hero of the western – will hunt down each man and wipe him from the face of the earth«.46 Auch die weiblichen Helden Alias und Nikita setzen ihre Outfits ein, um das männliche Begehren auf der Figuren- als auch auf der Rezeptionsebene zu dirigieren. Wenn Beatrix Kiddo in ihrem gelben Kampfanzug einen extremen Kontrapunkt zu O-Ren Ishiis Kimono setzt, dann gilt ihr Dressed-to-kill-Outfit eindeutig nicht einer erotisch konnotierten Performance; es geht nicht darum, sexuelles Begehren zu dirigieren, sondern gerade die Grazie ihrer Bewegungen mit den Leitlinien der Kampfkunst des Samuraikampfes in eins zu setzen. Die Farbe Gelb belegt sie von vornherein weder mit der Farbe des Opfers noch mit der Farbe des Aggres-
42 Creed: Monstrous-Feminine (Anm. 11), S. 129. 43 Georg Mein: »Kill Bill, Kleist und Kant oder: ›You didn’t think it was going to be that easy, did you?‹«, in: Geisenhanslüke/Steltz: Unfinished Business (Anm. 2), S. 79-94, hier S. 84. 44 Vgl. Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 31998, S. 389-408. 45 Ebd., S. 397. 46 Creed: Monstrous-Feminine (Anm. 11), S. 129.
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sors, es ist vielmehr als eine Warnfarbe zu verstehen, die das Genre des Easterns durchquert und eben nicht beheimatet. Der Kampfanzug präfiguriert Bills Superheldenanalogie. Wenn sie hingegen Bill für das letzte Duell aufsucht, trägt sie offene Sandalen, einen wallenden langen hellen Rock sowie eine schwarze Lederjacke. Das Hattori-Hanzo-Schwert über den Rücken geschnallt, in der Hand eine Waffe. Ihr Styling präfiguriert nun, was sich auf diegetischer Ebene zutragen wird. Waffe und Hanzo-Schwert repräsentieren die Symbiose von Eastern und Western47 in ihrer Figuration. Darüber hinaus zeigt sich hier ein spezifisch weiblicher Kampfkörper, in welchem »martialische und graziös-weibliche Elemente eine Synthese eingehen«, wie van Marwyck für das Bild der anmutigen Kriegerinnen um 1800 aufzeigt. Sie konstatiert, dass die Figur gerade über diese »diffizile Anordnung von Kleidungselementen und Bewegungsdarstellung […] ihre Identität« bezieht.48 Kiddo scheint am Ende ihrer Reise angelangt, mit der Durchquerung und Eroberung sämtlicher phallischer Regime auf dem Weg zu Bill kann sie ihm im Gewand ihrer neuen Identität gegenübertreten. Fehlt nur noch eine letzte Modulierung zur unantastbareren Heroik ihrer Figur, damit sie sich letztlich gegen das Gesetz des Vaters behaupten kann: die Mutterschaft. III.5 Motherhood Das phallokratische System, das in Kill Bill vor allem durch das Konstrukt der Mentorenschaft repräsentiert wird, scheint nur innerhalb zweier Momente brüchig. So sind alle Figuren dieser Mentorenschaft männlich besetzt: Bill, Hattori Hanzo sowie Pai Mei. Brüchig wird die phallische Struktur der Mentorenschaft just in dem Moment, in dem Beatrix von ihrer Schwangerschaft erfährt. Mutterschaft wird so als einziger Gegenentwurf zur phallischen Struktur entwickelt. Meines Erachtens bildet sie als Klammer der Narration einen entscheidenden Hinweis, um dem Heldentum von Beatrix Kiddo auf die Spur zu kommen. Die Schwangerschaft ist das Ereignis schlechthin. Ein Ereignis, das Beatrix den Bruch mit dem phallischen Regime ermöglicht. Entscheidend ist, dass sich diese Schwangerschaft ge-
47 Vgl. Lindemann/Schmidt: Liste der Braut (Anm. 2), S. 149. 48 Ebd., S. 70.
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radezu als biologisches Schicksal statt als reflexive Entscheidung in ihren Identitätsentwurf einnistet. Noch den Schwangerschaftstest in der Hand, bricht sie mit ihrem Leben als Auftragskillerin in actu. Fast schon unmotiviert erscheint ihre Wahl, wie die eines Kindes, das von einem Spielzeug zum nächsten greift. So wäre auch die Einblendung zu lesen, in der sie als Erwachsene in einer Schulklasse mit kleinen Kindern eingeblendet wird. Doch wie Bill sie lehren wird, ist der Ausstieg aus dem phallischen Regime nicht einfach durch eine kindische Entscheidung legitimierbar. Sein Versuch, sie aus der symbolischen Ordnung über den biologischen Tod auszulöschen, verhält sich fast schon strukturanalog zu ihrem Versuch, sich aus der symbolischen, d. h. phallischen Ordnung, einfach davonzustehlen. Das Gesetz des Vaters hätte es verlangt, sie von der Herkunftsfamilie in die Reproduktionsfamilie zu entlassen, so wie es noch in den Nikita-Filmen geschieht. Sie ist also gezwungen, das gesamte phallische Regime schrittweise – die Death List Five abhandelnd – zu durchqueren, um letztlich die Mutterschaft als Gegenmodell zur phallisch strukturierten Mentorenschaft zu erobern. Während Bill auf die Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Existenz als Auftragskillerin insistiert – »Don’t get me wrong. I think you would have been a wonderful mother. But you are a killer«49 –, zeigen sowohl Epilog und Abspann, dass Mutterschaft ein lebbares Modell ist, insofern es eines unter vielen ist. Mutterschaft wird damit nicht als natürlicher Identitätsentwurf der Frau begriffen, sondern als Rolle verstanden. Eines unter ihren vielen Pseudonymen lautet ›Mommy‹: »Auch Mutterschaft gehört also zu den demontierten Weiblichkeitsrepräsentationen, die der Film wie in einem Archiv versammelt und theatralisiert, artifizialisiert und als kulturelle Illusionen ausstellt«.50 Die Mutterschaft wird als spezifisch weiblicher Erfahrungsraum konstituiert, der seine Berechtigung im phallischen Regime jedoch erst unter Beweis stellen muss. In Verbindung mit dem Rachemotiv, über das die ausgeprägte Gewalt ästhetisiert und legitimiert wird, erfährt die Heroik der Figur durch die Mutterschaft eine zusätzlich weibliche Modulierung.
49 Kill Bill 2, TC: 01:43:43. 50 Martin Przybilski, Franziska Schößler: »Bell und Bill, Buck und Fuck: Gespaltene Geschlechter und flottierende Signifikanten in Tarantinos Kill Bill«, in: Geisenhanslüke/Steltz: Unfinished Business (Anm. 2), S. 35-52, hier S. 51.
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III.6 Le no(m) du Genre Die Warnung Hattori Hanzos befolgend, hat sich Kiddo nicht im Wald der Rache51 verirrt, sondern ihren Weg zu ihrem Ziel Kill Bill streng verfolgt. Als sie sich nun in seinem Appartement in Acuna in Mexiko einfindet, zwingt Bill sie über ein Wahrheitsserum in ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht:52 »So, before this tale of bloody revenge reaches its climax, I’m gonna ask you some questions and I want you to tell me the truth«.53 Es sind sprichwörtlich Szenen einer Ehe, die sich im Folgenden abspielen werden, denn Bill wird versuchen, die Mutter seines Kindes in diese symbolische Ordnung zu zwingen. Dass in diesem Duell das Gefecht vorrangig über Worte ausgetragen wird, scheint insofern absolut konsequent, als der Film nichts anderes ins Bild setzt als Hoheitsdiskurse. Setzt die Diegese zwar mit der Handlungsübermacht von Bill ein, wird die Narration letztlich doch durch Kiddo eingeleitet. Sie beansprucht für sich über Voice-OverVerfahren die Erzählerposition. Durch das Wahrheitsserum initiiert, setzt Kiddos Erklärung mit einem Flashback ein, in welchem sie während eines Auftrags von ihrer Schwangerschaft erfährt. Der erzähltechnische Einsatz von Flashbacks54 im klassischen Hollywood-Kino wird meistens durch die männliche Autorität der Rede in einer Gleichsetzung von Gewalt und Interpretation überformt.55 Die Überformung oder gar Authentifizierung weiblicher Narration durch eine männliche Autorität hat in der Geschichte der Literatur eine lange Tradition. In dem drei Jahre vor Goethes Die Leiden
51 Kill Bill 1, TC: 01:37:55: »Revenge is never a straight line. It’s a forest. And like a forest it’s easy to lose your way… to get lost… to forget where you came in.« 52 Ingmar Bergman drehte mit seinen Protagonisten aus Szenen einer Ehe (1973) den Film Von Angesicht zu Angesicht (1976). Auf diese Verbindung verweisen Gereon Blaseio, Claudia Liebrand: »›Revenge is a dish best served cold‹. World Cinema und Quentin Tarantinos Kill Bill«, in: Geisenhanslüke/Steltz: Unfinished Business (Anm. 2), S.13-52, hier S. 31. 53 Kill Bill 2, TC: 01:38:23. 54 Vgl. in Bezug auf die Funktion des Flashbacks im klassischen Hollywoodfilm: Creed: Monstrous-Feminine (Anm. 11), S. 137. 55 Vgl. in Bezug auf die Gewalt der Interpretation: Mein: Kill Bill, Kleist und Kant (Anm. 43), S. 89.
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des jungen Werthers (1774) veröffentlichten Briefroman Geschichte des Fräulein von Sternheim (1771) von Sophie von La Roche wird diese Tradition durch einen fiktiven Herausgeber-Kommentar geradezu als stilistische Figur fixiert. Bill versucht sich die Erzählung Kiddos anzueignen und seine Interpretation über ihre Handlungen zu legen. Ausgerechnet anhand einer Rede über Superhelden und deren wahre Bestimmung erfolgt der Versuch, die Deutungshoheit über seine ehemalige Schülerin wiederzuerlangen. Gleich einer Pygmalion-Phantasie56 bemächtigt er sich ihrer über die SuperheldenMetapher, um ihren Versuch, in ein normales Leben zu flüchten, als Flucht in die Mittelmäßigkeit zu entwerten. Um Heldentum jedoch zu begründen, ist in erster Hinsicht nicht die wahre Identität des Helden von Interesse, nicht einmal die Taten stehen im Vordergrund, sondern die narrative Verdopplung: »Von Helden muß berichtet werden. Wenn sie heroisch agieren, aber keiner da ist, der dies beobachtet und weitererzählt, ist ihr Status prekär: Sie müssen dann selber erzählen, was für Helden sie sind«.57 Bill versucht, Kiddos Identität als Auftragskillerin und Heldin narrativ zu stiften. Damit scheint er die Rolle des Dichters für sich zu veranschlagen, der als »Garant und Kontrolleur« ihres Heldentums auch »mit der bloßen Kraft seines Wortes«58 über ihren Untergang verfügen kann. Ein Topos, der sich in vielen Filmen mit weiblichen Helden-Figuren findet. An ihm kann auch differenziert werden, ob die Protagonistin über ihre eigene Erzählung Souveränität erlangt oder nicht. In dem sowohl für die Ikonografie als auch Narration wichtigen Prätext von Kill Bill, nämlich Lady Snowblood (1973), nimmt sich der Schriftsteller Ryurei Ashio der Geschichte der Lady Snowblood an. Er erklärt sich selbstmächtig zum Erzähler.59 In Sympathy for Lady Vengeance (2005) wird ihr Scheitern durch eine abstrakte männliche Erzählerstimme aus dem Off kommentiert; besser interpretiert: »Doch letzten Endes fand sie die Erlösung nicht, die sie für sich
56 Vgl. Laura Grindstaff: »A Pygmalion Tale Retold. Remaking La Femme Nikita«, in: Camera Obscura 16 (2001), H. 2, S. 133-175. 57 Herfried Münkler: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur 61 (2007), H. 8/9, S. 742-752, hier S. 743. 58 Ebd., S. 744. 59 Lady Snowblood, TC: 01:01:00.
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erhofft hatte«.60 So ist der Ratschlag, den sie ihrer Tochter gibt, bevor sie sich aus ihrem Leben verabschiedet, symptomatisch für einen erfolgreichen Frauentypus: »Be white. Live white. Like this.« Dass Bills Versuch letztlich scheitern muss, zeigt sich an der wunderbaren Szene, in welcher Kiddo ihn quasi im Sitzen mithilfe der legendären Five-Point-Palm-Exploding-Heart-Technique tötet. Anmut und Grazie im Sinne der Kampfkunst siegen über Aggression und Hysterie, in die sie ja angesichts der Anmaßung Bills geraten könnte. Bills phallisches Deutungsbegehren steht für das Regime des männlich codierten Genrekinos, wie das amerikanisch geprägte Western-Genre paradigmatisch belegt. So ist die Äußerung Sergio Leones fast schon analog zum Bemühen des Deadly-Viper-Kommandos zu lesen, Kiddo als Repräsentantin des Weiblichen, das aus der symbolischen Ordnung resistent heraussteht, auszulöschen: »Ever since I was a small boy I’ve seen a lot of Hollywood-Westerns where, if you cut the woman’s role out of the film in a version which is going on in your own head, the film becomes far better«.61 Unter diesem letzten Aspekt, in dem sich das Gesetz des Genres als Gesetz des Vaters äußert, kann nun die Rache als Interpretament fruchtbar gemacht werden. Kiddo ruft jeden ihrer Gegner mit dem Satz »You and I have unfinished business«62 an. Wenn man Le Cains Einschätzung teilt, dass jeder ihrer Gegner auf der Death Five List ein Genre repräsentiert, »the chambara (Sonny Chiba), the yakuza movie (Lucy Liu), the Kung Fu film (Gordon Liu), the Western (Michael Madsen), the Blaxploitation picture (Vivica A. Fox). In Bill, or, rather, in David Carradine, star of both The Long Riders (Walter Hill, 1980)«, dann muss die Reise der Heldin durch die verschiedenen Handlungsräume El Paso, Pasadena, Okinawa, Tokio oder Acuna mit der Reise durch die Genres gleichzusetzen sein. Die Abrechnung mit den Repräsentanten des Genres, eine Abrechnung mit der Geschichte dieser Genres, einer phallischen Ordnung, die das Gesetz des Vaters spricht, in der für die Frau sprichwörtlich kein Ort vorgesehen ist. Jeder filmspezifische Schauplatz wie auch die Figurencharakteristik korreliert mit einem bestimmten Genre, in welchem die weibliche Heldin bisher spärlich
60 Sympathy for Lady Vengeance, TC: 01:43:00. 61 Christopher Frayling: Sergio Leone. Something to do with death. London, New York 2000, S. 261. 62 Erstmals bei Kill Bill 1, TC: 00:11:23.
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gesät oder gar zum Abjekt der Handlung degradiert wurde. In jedem oder besser an jedem dieser Genres vollzieht Kiddo ihre Rache. In diesem Sinne wäre Le Cain zu kontextualisieren: »If Kill Bill has a truly epic dimension, it is born of this clash of traditions, the battle of film histories«.63 Quentin Tarantino hat demnach einen neuen Frauentypus, die Screen Queen geschaffen, diese hat das phallische Regime nicht nur erobert, sie beherrscht es vielmehr ab jetzt. Gerade indem Genre als verdinglichtes Phänomen verstanden wird, d. h. als ein Teil der Narration verhandelt wird – wozu die kulissenhafte Inszenierung im Übrigen permanent auffordert –, dann kann der Genre-Bastard Tarantinos als das vielversprechendste Kino der Moderne verstanden werden. Ein Kino nämlich, dem es gelingt, die »Gewichtung des Blicks zu verändern«64 und darüber hinaus sichtbar zu machen als visions that matter.65 Man möchte nicht so weit gehen, das Doing Gender der popkulturellen Medien so weit zu treiben, dass Beatrix als ein »ermächtigendes weibliches role model«66 zu verstehen ist, es ist vielmehr zu verorten in der Etablierung neuer Blickstrukturen als eine Möglichkeit, eingefahrene Seh- und Denkstrukturen zu durchbrechen. Filmverzeichnis Alias – Die Agentin (USA 2001–2006; Idee: J. J. Abrams) Codename: Nina (USA 1993; R: John Badham) Das letzte Haus links (USA 1972; R: Wes Craven) The Last House on the Left (USA 2009; R: Dennis Iliadis) Death Proof (USA 2007; R: Quentin Tarantino) Death Weekend (Kanada 1976; R: William Fruet)
63 Le Cain: Tarantino (Anm. 29). Nina Heiß bindet das Bemühen um Souveränität der Hauptfigur Kiddo an die Dramaturgie der Heldenreise zurück und kommt so zu der These, dass Kiddos Prüfung darin besteht, sich in der ihr vertrauten Welt zu behaupten. Vgl. Heiß: Erzähltheorie des Films (Anm. 5), S. 221. 64 Mulvey: Visuelle Lust (Anm. 44), S. 406. 65 In Analogie zu Judith Butlers Erwiderung Bodies that matter auf Barbara Dudens Vorwurf »Die Frau ohne Unterleib«. 66 Feise: Kill Bill (Anm. 3), S. 255.
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Die Braut trug schwarz (Frankreich/Italien 1968; R: François Truffaut) Die Jungfrauenquelle (Schweden 1960; R: Ingmar Bergman) Kill Bill Vol. 1 (USA/Japan 2003; R: Quentin Tarantino) Kill Bill Vol. 2 (USA 2004; R: Quentin Tarantino) I spit on Your Grave (USA 1978; R: Meir Zarchi) I spit on Your Grave (USA 2010; R: Steven R. Monroe) Lady Snowblood (Japan 1973; R: Toshiya Fujita) Lady Vengeance (Südkorea 2005; R: Park Chan-wook) Ms. 45 (USA 1981; R: Abel Ferrara) Planet Terror (USA 2007; R: Robert Rodriguez) Nikita (Frankreich/Italien 1990; R: Luc Besson) Nikita (USA 2010; P: Craig Silverstein u.a.) Savage Streets (USA 1984; R: Danny Steinmann)
Fliegende Helden und versehrte Körper Die doppelte Heldenästhetik in Andy und Lana Wachowskis Matrix-Trilogie* M AREEN VAN M ARWYCK
Mit den Matrix-Filmen von Andy und Lana Wachowski erschien 1999 und 2003 eine Action-Trilogie, die in mehrerer Hinsicht Filmgeschichte geschrieben hat: Zum einen vermochten die Filme Traditionen und Denkpositionen der Philosophiegeschichte so geschickt filmisch zu visualisieren und zu narrativisieren, dass sie zugleich ein großes Publikum begeistern und eine breite wissenschaftliche Debatte auslösen konnten.1 Während der erste Teil als raffiniert vieldeutiges filmisches Werk gefeiert wurde, sorgten der zweite und dritte Teil für Enttäuschung in Fachkreisen. Man warf den Fortsetzungen vor, simplifizierende Antworten auf die großen philosophischen
*
Abb. 1 und 2 sind dem Film The Matrix Reloaded (USA 2003), Abb. 4 dem Film The Matrix Revolutions (USA 2003) entnommen. Abb. 3 stammt von der Seite: http://cdn.walyou.com/wp-content/uploads//2012/06/The-Matrix.jpg; Zugriff: 1. Oktober 2012. Zitate aus der Matrix-Trilogie werden unter Angabe des Timecodes (TC) nachgewiesen.
1
Siehe u. a. Stacy Gillis (Hg.): The Matrix Trilogy. Cyberpunk Reloaded. London 2005; Glenn Yeffeth (Hg.): Taking the Red Pill. Dallas (Tex.) 2003; Myriam Diocaretz, Stefan Herbrechter (Hg.): The Matrix in Theory. New York 2006; William Irwin (Hg.): The Matrix and Philosophy. Welcome to the Desert of the Real. Chicago, La Salle (Ill.) 2002; William Irwin (Hg.): More Matrix and Philosophy. Revolutions and Reloaded Decoded. Chicago, La Salle (Ill.) 2005.
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Fragen zu geben, die im ersten Teil aufgeworfen wurden. Die Filme blieben, so der Vorwurf, letztlich bei einer unhinterfragten cartesianischen Körper-Geist-Trennung und einer traditionellen Schein-Sein-Dichotomie.2 Die zweite filmgeschichtliche Besonderheit sind die fulminanten Kampfinszenierungen, welche die Helden der Filme in einer im westlichen Kino bis dahin unbekannten virtuosen Bewegungschoreographie zeigten. Diese diente − und dies ist die dritte Besonderheit der Trilogie − der inzwischen ikonographisch gewordenen filmischen Inszenierung von Virtualität. Meine These ist, dass die Trilogie mit den Kampfchoreographien auf der einen Seite und der Stilisierung des leidenden Helden auf der anderen Seite auf zwei ästhetische Heroismuskonzeptionen zurückgreift, die vor allem in der Ästhetik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielten: die Anmut und das Erhabene.3 In der Trilogie ist die Gegenüberstellung von anmutigem und erhabenem Heroismus zentral für die Inszenierung des Wechselspiels von Humanem und Technik, ein Wechselspiel, das sich zum einen im emphatischen Kampf zwischen einer übermächtig gewordenen Technik und einer um Selbstbehauptung kämpfenden Menschheit realisiert, zum anderen aber auch in einer bis zur Unaufhebbarkeit gediehenen Synthese von Mensch und Maschine, wie sie das Konzept des Cyborgs präfiguriert. Beide Konstellationen fundieren die Heldennarration dieses mit klassischen Mythen und Konzepten operierenden Action-Dramas. Anmut und Erhabenes werden in der Matrix-Trilogie als Figuren der Kontrolle reaktualisiert und dienen zunächst als Selbstvergewisserung einer spezifisch humanen heroischen Überlegenheit über die Technik. Denn im Mittelpunkt der Trilogie steht die Frage der Kontrolle, Kontrolle über die innere und äußere Natur, die Maschinen, über das eigene Leben, und damit die Frage nach der Möglichkeit von Subjektivität. Der Merowinger glaubt an universale Bestimmung durch die Gesetze der Kausali-
2
Zur Kritik an den Fortsetzungen siehe William Irwin: »Why The Matrix Still Has Us«, in: ders.: More Matrix and Philosophy (Anm 1), S. 12-25, hier S. 13, und Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt a. M. 2004, S. 389-395.
3
Zur Anmut als weiblich codiertes Heroismuskonzept, das im Diskurs um 1800 komplementäre Funktionen zum männlich codierten Erhabenen übernimmt, siehe meine Dissertation Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010.
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tät und hält Menschen und Programme im Sinne einer Kontrolle des Geistes über den Körper für gleichermaßen »out of control«4, spricht ihnen mithin im traditionellen Sinne die Möglichkeit des ›Subjektseins‹ ab. Das Orakel glaubt an die Kontrolle durch das Schicksal, aber doch auch wieder an Räume für den freien Willen. Neo ist in diesem Universum derjenige, der die abendländische Konzeption des Subjekts gegen ihre Infragestellung durch die Technik und deterministische Positionen zu verteidigen sucht. Der folgende, ein wenig didaktisch anmutende Dialog zwischen Neo und dem Councillor von Zion in Matrix Reloaded kann als theoretischer Schlüssel zum Matrix-Universum verstanden werden. Neo und der Councillor treffen sich nachts auf einer Plattform, die einen Blick über die Maschinen eröffnet, welche die letzte menschliche Stadt Zion mit Energie und Wasser versorgen. COUNCILLOR. I like it down here, I like to be reminded that this city survives, because of these machines. These machines are keeping us alive, while other machines are coming to kill us. Interesting, isn’t it? The power to give life and the power to end it. NEO. We have the same power. COUNCILLOR. Yeah, I suppose we do, but down here, I sometimes think of all the people still plugged into the Matrix. And when I look at these machines, I can’t help thinking that, in a way, we are plugged into them. NEO. But we control these machines, they don’t control us. COUNCILLOR. Of course not, how could they? The idea is pure nonsense but it does make one wonder what is control? NEO. If we wanted we could shut these machines down. COUNCILLOR (lacht). Of course. That’s it, you hit it. That’s control, isn’t it? If we wanted we could smash them to bits. Although if we did, we’d have to consider what would happen to our lights, our heat, our air … NEO. So we need machines and they need us. Is that your point, Councillor?5
Die Symbiose von Mensch und Maschine, so wird Neo in Auseinandersetzung mit dem Councillor deutlich, ist längst Realität, in der Matrix genauso wie in der vermeintlichen Realität. Alle Individuen sind Cyborgs, nicht nur
4
Andy und Lana Wachowski: The Matrix Reloaded (2003), TC 1:05:14.
5
Ebd., TC 0:34:18-0:35:30.
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die, welche die Zeichen ihrer künstlichen Existenz noch am Körper tragen, die metallenen Öffnungen, die ihren Körper durchlässig gemacht haben, für eine buchstäbliche Synthese mit der Maschine, sondern auch Tank, der von sich sagt, er sei »100 percent pure, old-fashioned homegrown human«,6 und damit ironisch auf das Natürlichkeitspathos der Bio-Bewegung rekurriert. Im Gegensatz zum Councillor, dem sein Alter Einsicht in diese Interdependenz geschenkt hat, kann Neo die Symbiose von Mensch und Technik nur dann akzeptieren, wenn dem Menschen die vollkommene Kontrolle über die Technik obliegt, er also Herrscher der Schöpfung bleibt. Subjektsein konstituiert sich für ihn zum einen − im Rückgriff auf traditionelle heroisch-subjektive Konzepte7 − durch die Kontrolle über die Bedürfnisse der eigenen Natur in der Standhaftigkeit, mit denen er die Entbehrungen der ›Realität‹ erträgt, zum anderen durch die Kontrolle über die äußere ›Natur‹, die sich in der Matrix-Trilogie als ›zweite Natur‹ erweist: die aus dem zivilisatorischen Prozess entstandene künstliche Intelligenz, welche als neue Evolutionsstufe das humane Zeitalter abgelöst hat. So suchen Neo und seine Mitstreiter sich als anmutige und erhabene Helden einer spezifisch humanen kognitiven und moralischen Überlegenheit ihres Handelns zu vergewissern. Dieser Versuch wird aber, wie zu zeigen sein wird, nicht zuletzt durch den Bezug zum Graziendiskurs infrage gestellt. Denn mit der anmutigen Heldeninszenierung schreiben sich die Filme zugleich in einen Diskurs ein, der seit dem frühen 19. Jahrhundert die Grenzen von Mensch und Technik infrage stellt und in Kleists wegweisendem Aufsatz Über das Marionettentheater das Verhältnis zwischen Mensch und Avatar präfiguriert.8 Ich möchte im Folgenden den Bezug der Matrix-Filme zum Diskurs der Grazie analysieren und die Frage nach der Funktion dieser Heldenästhetik für die Inszenierung von Virtualität stellen.
6
Andy und Lana Wachowski: The Matrix (1999), TC 0:45:09.
7
Zum Verhältnis von philosophischen Subjektivitätstheorien und Heroismuskon-
8
Dies zeigt Ulrike Bergermann in ihrem hochinteressanten Aufsatz: Ulrike Ber-
zeptionen siehe Früchtl: Das unverschämte Ich (Anm. 2). germann: »Bewegung und Geschlecht in Kleists Marionettentheater und in Bildern von virtueller Realität«, in: http://www.thealit.de/lab/LIFE/LIFEfiles/r_08 _8.htm; Zugriff: 8. Januar 2013.
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Die Ausgangssituation der Heldenreise9 in der Matrix-Trilogie ist auf den ersten Blick eine denkbar klassische: eine Gesellschaft, hier nicht weniger als die gesamte Menschheit, ist einer fremden Macht scheinbar hilflos unterworfen. Eine kleine Gruppe von Widerstandskämpfern arbeitet im Untergrund an dem Umsturz der fremden Herrschaft. Die Art der Fremdherrschaft jedoch und damit auch die Wahl der Waffen gegen sie ist eine zugleich dezidiert moderne wie philosophisch und kulturgeschichtlich urbildliche: die unterworfene Menschheit lebt in scheinbarer Freiheit, mental angeschlossen an eine ausgeklügelte Illusions-Apparatur, die den Individuen die westliche Welt des späten 20. Jahrhunderts vorgaukelt, eine Welt der kapitalistischen Demokratien, mit all ihren Verwerfungen, aber auch individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Von Platons Höhlengleichnis über Descartes skeptizistische Spekulation über einen Genius malignus, der uns die sinnliche Wahrnehmung der Welt nur vorgaukelt, über Baudrillards Theorie des Simulacrums reicht der Anspielungshorizont dieser Ausgangssituation. Die Helden führen nicht weniger als den Kampf gegen eine ontologische Täuschung, den Kampf um eine vorhanden geglaubte ›wahre‹ Realität gegen die Versuchungen des Virtuellen. Auftakt der Handlung ist die Befreiung Thomas Andersons alias Neo aus der Matrix. Der Anführer Morpheus erkennt in Neo den Auserwählten, dem es bestimmt ist, den Krieg zwischen Maschinen und Menschen zu beenden und die Menschheit aus der maschinengesteuerten Wirklichkeitssimulation − der Matrix − zu befreien. Um die Schlacht gegen die Maschinen zu gewinnen, muss Neo, als Kämpfer ausgebildet, in die Matrix zurückkehren, um dort gegen die Agenten, die Kontrollprogramme des Maschinenreichs, zu kämpfen. Ein Kampf gegen die Maschinen in der realen Welt wäre chancenlos: Übermächtig sind die gigantomanischen Apparaturen, in denen das Maschinenreich auf der Erde Gestalt angenommen hat, zu gefährlich die Kampfrobo-
9
Den Bezug zum Modell der Heldenreise nach Christopher Vogler, der sich wiederum an der Forschung von Joseph Campbell orientiert, hat Christof Wolf analysiert; vgl. Christof Wolf: Zwischen Illusion und Wirklichkeit. Wachowskis Matrix als filmische Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. Münster 2002, S. 57-59.
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ter für die fragilen menschlichen Körper und die provisorisch frühindustriell anmutende Technik, die den Widerstandskämpfern zur Verfügung steht. Mit der Rückkehr in die Matrix duplizieren sich die Helden, spalten sich auf in zwei verschiedene Formen der Verkörperung, die Handlung wiederum in zwei Helden-Narrationen, die in Interdependenz zueinander stehen: die Geschichte der Helden als organische Körperwesen in der ›Realität‹ der Widerstandskämpfer auf ihrem Kampfschiff »Nebuchadnezzar« und die Geschichte der als Avatare materialisierten Helden in der Matrix. Die geistige Wesenhaftigkeit der Figuren jedoch bleibt bestehen, der Geist befindet sich entweder in der ›Realität‹ oder aber in der Matrix. An die Stelle der Wechselbeziehung von Körper und Geist tritt die Wechselbeziehung von Geist und Avatar, die scheinbar mühelos die Körper-Geist-Beziehung ersetzen kann.10 Die Erfahrung von Raum, Zeit, Kausalität, Schmerz und Berührung scheinen kongenial simuliert zu sein, die Körper in ihrem Verhältnis zum Raum so programmiert, dass die Bewegungen ›realistisch‹ erscheinen. Die Verbindung von Geist und neuem virtuellem Körper scheint ebenfalls denkbar einfach. In Anspielung auf Descartes’ Überlegungen zur Zirbeldrüse als Verbindung zwischen Körper und Geist, die in der Mitte des Gehirns liegt, wird ein länglicher Plug in eine Öffnung am Hinterkopf eingeführt und in die Mitte des Gehirns geschoben,11 eine Öffnung, mit der alle Menschen, die aus der Matrix befreit wurden, versehen sind, da sie auch von den Maschinen über diesen Kanal an die Matrix angeschlossen wurden. Als könnte hier, in der Mitte des Gehirns, die Verbindung von Geist und Körper durch eine Verbindung von Geist und Avatar ersetzt werden, schalten die Protagonisten gleichsam in die virtuelle Realität der Matrix um.
10 Auf die cartesianische Körper-Geist-Trennung als Grundlage für Cyberphantasien haben u. a. Elke Müller und Don Ihde hingewiesen. Vgl. Elke Müller: »Shattered embodiment. Cyberspace as a Cartesian project«, in: Winfried Nöth (Hg.): Semiotic Bodies, Aesthetic Embodiments, and Cyberbodies. Kassel 2006, S. 167-197; Don Ihde: »Technofantasies and Embodiment«, in: Diocaretz/Herbrechter: The Matrix in Theory (Anm. 1), S. 153-155, hier S. 157. 11 Vgl. ebd., S. 159 f.
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Auf visueller Ebene wird die Ästhetisierung der Matrix zunächst deutlich von der Inszenierung der ›Realität‹ abgegrenzt.12 Der Film konstruiert eine Dichotomie zwischen der Ohnmacht und Begrenztheit des organischen menschlichen Körpers und der Übermächtigkeit und Transgressivität der unversehrten, die Gesetzmäßigkeiten der ›physischen‹ Welt überwindenden Avatarkörper. In der ›Realität‹ bewegen sich die geschwächten, durch Körperöffnungen stigmatisierten Körper durch eine lichtlose Unterwasserwelt, ausgestattet mit der an rostende Industrieruinen erinnernden schwerfälligen Technik der Nebuchadnezzar, groben Naturtextilien und funktionaler und in keiner Weise ansprechender Nahrung. Auf der anderen Seite fliegen, springen und tänzeln die virtuellen Körper mit immer höherer Geschwindigkeit und Grazie durch den virtuellen Raum und überwinden in virtuoser Kampfkunst immer neue Gegner. Die Welt der Matrix ist visuell geprägt vom materiellen Wohlstand der westlichen Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts, die digital-grünlich flirrende Farbgebung der Bilder, die futuristische Lederkleidung und die übermenschlichen Kampffähigkeiten der Helden verleihen der Matrix einen coolen, begehrenswerten Look. Auch die Art und Weise, in der die Figuren auf die jeweiligen Herausforderungen ihrer materiellen oder virtuellen Umwelt heroisch reagieren, ist deutlich unterschieden. In der ›Realität‹ zeichnet sich ihr Verhalten vor allem durch Mut und Standhaftigkeit gegenüber den Widrigkeiten ihrer zerstörten und maschinenbeherrschten Umwelt aus. Typische Werte des erhabenen Heroismus werden hier aufgerufen: die Bereitschaft, auch dem größten Leiden tapfer standzuhalten, Mäßigung und Würde auch im Angesicht eines übermächtigen Gegners zu bewahren. In der Matrix hingegen zeichnen sich die Helden vor allem durch ihr Kampfgeschick und damit verbunden durch die Grazie ihrer Kämpfe aus.13 Die Kampfsequenzen sind so
12 Vgl. Andrew Shail: »›You Hear About Them All the Time‹: A Genealogy of the Sentient Program«, in: Gillis: The Matrix Trilogy (Anm. 1), S. 23-35, hier S. 23. 13 Auf die Grazie der Kampfinszenierung in den Matrix-Filmen weist auch Andrew Shail hin (Shail: ›You Hear About Them All the Time‹ [Anm. 12], S. 23). Shail betont zudem, dass die Gewaltästhetik bewusst dichotomisch codiert ist und einen Gegensatz zwischen den Kämpfen in der Matrix und außerhalb der Matrix inszeniert (ebd., S. 23). Auch Cynthia Freeland bemerkt: »He [Neo] moves gracefully, like a dancer.« (Cynthia Freeland: »Penetrating Keanu«, in: Irwin: The Matrix and Philosophy [Anm. 1], S. 205-215, hier S. 207). Ebenso
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inszeniert, dass sie auch als Tänze lesbar sein könnten: behände Sprünge, elegante Drehungen, im Falle Neos umweht von einem fließenden langen Mantel, der die tänzerische Bewegung noch unterstreicht, Salti, graziöse Handbewegungen fließen zusammen zu einer balletartigen Choreographie (Abb. 1 und 2).
Abb. 1: Matrix Reloaded, TC 0:53:56.
Abb. 2: Matrix Revolutions, TC 1:41:13.
Die Unterweisung durch den Mentor, ein klassisches Motiv der Heldenreise, dient nach Aufbau der grundlegenden Körperkräfte vor allem dem Erlernen der Kampfkunst im virtuellen Raum. Der Auserwählte soll die Fähigkeit entwickeln, die zuvor keiner der Widerstandskämpfer besessen hat: Er soll in der Lage sein, einen Agenten, ein Kontroll-Programm der Maschinen, innerhalb der Matrix zu besiegen und damit Kontrolle über das
spricht Slavoj Žižek von der balletartigen Qualität der Kämpfe. Vgl. Slavoj Žižek: »Reloaded Revolutions«, in: Irwin: More Matrix and Philosophy (Anm. 1), S. 198-208, hier S. 199. Zur Kritik an der ästhetisierten Gewalt in der Matrix-Trilogie siehe: Henry Nardone, Gregory Bassham: »Pissin’ Metal: Columbine, Malvo, and the Matrix of Violence«, in: Irwin: More Matrix and Philosophy (Anm. 1), S. 185-197.
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Programm erlangen. Um dies zu erreichen, muss er die virtuelle Kampfkunst perfekt beherrschen. Dabei steht nicht die Aneignung der Bewegungsabläufe selbst im Mittelpunkt, es geht vielmehr darum, das Erlernte in so vollendeter Leichtigkeit und Schnelligkeit zum Einsatz zu bringen, dass die codierten Notwendigkeiten der Umgebung überwunden werden können. Dies aber kann er erlernen, indem er eine tiefe Einsicht in die Künstlichkeit und Manipulierbarkeit der ihn umgebenden Welt gewinnt. »There is no spoon«,14 ›diese Welt ist nicht echt, nicht real‹, ist das Glaubensbekenntnis des Helden, das Ausgangspunkt seiner übermenschlichen Entwicklung innerhalb der Matrix ist. So erklärt Morpheus während Neos Unterweisung in die kognitive Kampfkunst: »This is a sparring program. Similar to the programmed reality of the Matrix. It has the same basic rules, rules like gravity. What you must learn is that these rules are no different than the rules of a computer system. Some of them can be bent, others can be broken.«15 Die virtuelle Simulation der Natur ist mangelhaft, diese Mängel gilt es in den Kämpfen nutzbar zu machen, die Regeln zu beugen und zu brechen. Das Wissen über die eigenen Fähigkeiten und die Manipulierbarkeit, die Scheinhaftigkeit der äußeren Welt wird als ein intuitives Wissen definiert, als Wissen, das keiner Reflexion mehr bedarf. Wie in den klassischen Anmutstheorien würde die Reflexion die perfekte Beherrschung der Bewegungskunst stören: »What are you waiting for? You’re faster than this. Don’t think you are, know you are.«16 Wissen, nicht Denken, Immanenz, nicht Reflexion sind das Geheimnis der anmutigen Kampfkunst. Verschiedene Techniken werden genutzt, um Neos Entwicklung zu immer höherer kämpferischer Anmut zu visualisieren. So arbeiten die Filme zum einen mit den Techniken asiatischer Martial-Arts-Filme. Als Choreograph ist der Martial-Arts-Spezialist Yuen Woo-Ping engagiert worden, die graziösen Sprünge, durch die sich vor allem Neo und Trinity auszeichnen, werden durch die Technik des wire work möglich. Die Überwindung der Schwerkraft dient in den Matrix-Filmen als wichtige Metapher für die kämpferische Grazie und steht im Mittelpunkt der Heldenausbildung. So ist »gravity« die Regel der Matrix, die Morpheus als relativierbares virtuelles ›Naturgesetz‹ während des Trainings explizit nennt, die übermenschlichen
14 The Matrix (Anm. 6), TC 1:09:02. 15 Ebd., TC 0:47:14-0:47:28. 16 Ebd., TC 0:50:35-0:50:44.
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Sprünge, zu denen alle Helden fähig sind, zeugen von ihrer Überwindung. Neo, der Auserwählte, ›the one‹, verdeutlicht seine noch über die Fähigkeiten der anderen hinauswachsenden Kräfte, indem er am Ende des ersten Teils der Trilogie wie Superman davonfliegt. Fliegen gehört fortan zu den vorrangigen Bewegungsarten Neos in der Matrix. Mit dem Flug als Bild der Überwindung der Schwerkraft zitiert die Filmreihe nicht nur die Tradition asiatischer Kampfkunstfilme, sie schreibt sich zugleich in die europäische Ikonographie des anmutigen Heroismus ein. Graziöse Bewegungsabläufe und Kampfinszenierungen, vor allem aber das Bild des Fliegens gehören zu den Inszenierungsweisen anmutigen Heldentums um 1800.17 Neo scheint darüber hinaus über Schwere oder Schwerelosigkeit seines virtuellen Körpers selbst zu bestimmen. Er hebt ab zu grazilen Sprüngen, bleibt für einige Sekunden in der Luft stehen, um sich dann aber mit umso größerer Schwere auf den Gegner fallen zu lassen. Dieser Effekt wird vor allem durch die Tonebene verstärkt: So leicht die Sprünge zunächst erscheinen, beim Auftreffen suggerieren die lauten Geräusche eine große Gewalt des Aufpralls. Kontrolle haben die Figuren zudem, so suggerieren die Inszenierungen, über die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen. Zeitlupen und vor allem der eigens für die Matrix-Filme entwickelte Special Effect der Bullet Time18 tragen zu der Illusion bei, dass die Figuren auch im Flug ihre Bewegungsabläufe beliebig verlangsamen und beschleunigen können. Für die Bullet Time werden 120 Fotokameras in einem Kreis um den Schauspieler herum aufgestellt, nach dem Auslösen der ersten Kamera werden in einer bestimmten zeitlichen Taktung hintereinander alle anderen Kameras ausgelöst. Lässt man im Nachhinein die Bilder in der Filmzeit 24 Bilder pro Sekunde ablaufen, entsteht die Suggestion, die Kamera habe sich während des Sprungs der Figur um sie herum bewegt und den Sprung so von allen Seiten aufgenommen. Dieser Effekt kann vom Zuschauer in verschiedener Weise interpretiert werden: Entweder er geht davon aus, dass der Sprung in der ›normalen‹ Geschwindigkeit stattgefunden hat und sich die Kamera in
17 Siehe van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 3), S. 189, 203, 213, 232, 256. 18 Es ist in der Forschung umstritten, ob es sich bei der Bullet Time tatsächlich um eine vollkommen neue Technik oder aber um zusammengeführte und perfektionierte bereits bestehende Techniken handelt. Siehe hierzu Dan North: »Virtual Actors, Spectacle and Special Effects: Kung Fu Meets ›All That CGI Bullshit‹«, in: Gillis: The Matrix Trilogy (Anm. 1), S. 48-61, hier S. 53 f.
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paranormaler Weise um den Körper bewegt hat, oder aber er geht davon aus, dass die Figur souverän über die Geschwindigkeit ihrer Bewegung verfügt, also so lange in der Bewegung innehält, bis die Kamera sich in ihrer normalen Geschwindigkeit um die Figur herumbewegt hat. Angesichts der geschilderten Inszenierung, die in vielfältiger Weise darauf hinarbeitet, die Figuren als Souverän über die sie umgebenden virtuellen ›Naturgesetze‹ zu zeigen, liegt letztere Interpretation auf der Hand. In der geschilderten Weise werden Neo und Trinity in der virtuellen Welt der Matrix als wendiger, schneller, anmutiger inszeniert, als es in der Realität je gelingen könnte. Die Grazie der Sprünge, Flüge und Pirouetten, die Fähigkeit, Kugeln auszuweichen und in der Luft anzuhalten, dienen als performativer Beweis für die heroische Überlegenheit und wiedergewonnene Kontrolle über das Programm.19
19 Die moralische und die genderspezifische Codierung, welche Anmut in der Theoriebildung des 18. Jahrhunderts besitzt, treten dabei meines Erachtens in den Hintergrund. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass auch die moralische Überlegenheit der Helden durch die Grazie ihrer Kämpfe ausgedrückt werden soll, wie Anne Cranny-Francis betont. Durch den intertextuellen Bezug zur Tradition der Kung-Fu-Filme werde die für diese Tradition typische Verbindung zwischen Kampfbewegung und moralischer Qualität hergestellt. Anne CrannyFrancis: »Moving the Matrix: Kinesic Excess and Post-industrial Being«, in: Gillis: The Matrix Trilogy (Anm. 1), S. 101-113, hier S. 108 f. Für CrannyFrancis’ These spricht, dass die Kampfbewegungen der Agenten anders inszeniert werden als die Bewegungen der Helden. Die Bewegungsabläufe der Agenten sind kürzer, die Schläge härter, aber mit weniger Schwung ausgeführt, es fehlen die balletartigen Drehungen. Neo hingegen holt bei seinen Schlägen weit aus oder gewinnt Schwung aus Drehungen und Sprüngen, den er für die Kämpfe nutzt. Zudem wird der Eindruck der Grazie anders als bei den Agenten durch den langen Mantel verstärkt, der seine Bewegungen umfließt. Auch ist Smith als Negativum zum Helden Neo nicht durch die ebenfalls gesteigerte anmutige Beherrschung der Kampfkunst in der Lage, Neo standzuhalten, sondern durch seine Fähigkeit, sich zu duplizieren. In diesem Zusammenhang wäre es interessant, im Rahmen einer interkulturellen Studie die Konzeptionen von Bewegungsschönheit in der europäischen und der asiatischen Kampfkunst zu vergleichen.
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II. M ARIONETTEN UND AVATARE – HEROISCHE K ÖRPER -G EIST -V ERHÄLTNISSE Die Matrix-Filme schreiben sich wie gezeigt in die Tradition der Anmut als Helden- und Gewaltkonzeption ein und damit in einen Diskurs, der das Spannungsfeld von Authentizitätsstreben und Künstlichkeit, Natur und Technik präfiguriert, das auch die Matrix-Filme prägt. Anmut ist in ihrer bürgerlichen Ausprägung als weiblich codiertes Subjektkonzept und als ästhetisch-ethisches Ausdrucksideal im Diskurs des 18. Jahrhunderts von Beginn an durch die Technik herausgefordert. Zum einen ist es die inhärente Technik und Künstlichkeit, die in einem kaum aufhebbaren Spannungsverhältnis zum Authentizitätsanspruch steht, mit dem das bürgerliche Anmutsideal emphatisch verknüpft ist.20 In der Anmut, so die Denkfigur, soll die schöne Seele des Individuums zur Anschauung kommen. Die schöne Seele wiederum figuriert als Ideal eines ganz und gar von ethischen Impulsen geleiteten Individuums, das ohne intellektuelle Reflexion das moralisch Richtige tut. Die Schönheit der Bewegung drückt unmittelbar die grundsätzliche Sittlichkeit der handelnden Person und damit zugleich die moralische Richtigkeit der einzelnen Handlung aus. Nun ist jedoch den Theoretikern der Anmut von Beginn an deutlich, dass Grazie nicht allein in der Natur des Menschen liegen kann und darf, wenn sie tatsächlich Ausdruck von Moralität sein soll. Sie kann also keine vollkommene präreflexive Einheit des Subjekts implizieren. Anmut setzt einen sowohl körperlichen als auch geistig-moralischen Lernprozess voraus.21 Bewegungskünste wie die Tanzund Fechtkunst, aber auch die Schauspielkunst, bieten einen Grundbestand an körperlicher Ausbildung, die das Fundament für einen anmutigen Bewegungsablauf legen. Die Natur der schönen Seele wiederum muss, so Schillers Konzeption, einen moralischen Läuterungsprozess durchlaufen, bis schließlich dem moralischen Gefühl die Leitung über das Handeln überlassen werden kann.22 Dennoch ist Anmut nicht allein durch das Erlernen 20 Vgl. Janina Knab: Ästhetik der Anmut. Studien zur »Schönheit der Bewegung«. Frankfurt a. M. u. a., S. 21-59. 21 So vor allem die Theorien Schillers und Shaftesburys. Siehe hierzu Gerd Kleiner: Die verschwundene Anmut. Frankfurt a. M. 1994, S. 93 f. und S. 140. 22 Insofern geht die Würde der Anmut bei Schiller in einem dialektischen Prozess der Vermittlung von Natur und Geist voraus, die Würde/das Erhabene sind der
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einer Bewegungskunst gegeben, vielmehr muss die Technik so vollendet beherrscht werden, dass die Bewegung wieder in einen natürlichen nichtreflexiven Prozess umschlägt. Die innere Spannung zwischen Authentizitätsanspruch und Technik, zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit wird vor allem in den Schauspieltheorien des 18. Jahrhunderts erkannt und spezifiziert. So wird der perfekte, das heißt authentische Ausdruck des Gespielten durch die Individualität des Schauspielers bedroht, die sich durch Koketterie, das Begehren, als Person zu gefallen, aber auch durch sichtbare Mühe, fehlende Leichtigkeit in der Darstellung zeigt und die perfekte Simulation zerstört. Die vollständige Identifikation mit der Rolle wird gefordert, um die Eigendynamik der eigenen Persönlichkeit zu minimieren. Die letzte Konsequenz aus diesem Diskurs zieht Diderot, wenn er einen Schauspieler fordert, der wie ein leeres Gefäß überhaupt keine eigenen Impulse mehr in das Spiel einbringt.23 Hier erweist sich Anmut als menschliches Ausdrucksideal als Kippfigur, welche die humanen Qualitäten der Grazie zugunsten des Wunsches nach einem von aller Eigendynamik befreiten reinen Medium zurücktreten lässt, einem Körper, der keine Störung des unmittelbaren Ausdrucks mehr zulässt. An dieser Stelle betritt eine Figur die Bühne der Argumentationen, die polemisch, aber mit durchaus philosophisch-theoretischer Fundierung gegen den zur wahren Anmut unfähigen Schauspieler gewendet wird: die Figur der Marionette.24 Mit dem Verhältnis von virtuellem Avatar und menschlichem Geist, wie es die Matrix-Trilogie in Anknüpfung an die Tradition der CyberpunkLiteratur phantasiert, ist in frappierender Weise ein Szenario filmische Realität geworden, das Kleist in seinem Schlüsseltext zur Anmut beschreibt.25 Die Marionette, so heißt es bei Kleist, ironisch gegen Schillers emphatisch anthropologisches Anmutskonzept gewendet, besitze eine Grazie, welche die des Menschen bei weitem übertreffe.26 Die Begründung, die Kleists Figur C. hierfür anbietet, ist eine mechanistische Umdeutung klassi-
Anmut inhärent. Siehe hierzu: Kenneth Parmelee Wilcox: Anmut und Würde. Die Dialektik der menschlichen Vollendung bei Schiller. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1981, S. 57. 23 Janina Knab: Ästhetik der Anmut (Anm. 20), S. 22-28. 24 Ebd., S. 23-34. 25 Siehe Bergermann: Bewegung und Geschlecht (Anm. 8). 26 Vgl. Knab: Ästhetik der Anmut (Anm. 20), S. 15.
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scher Anmuts-Topoi. Die Dichotomie von Anmut und Ziererei wird weitergeführt und neu interpretiert. Koketterie oder Ziererei äußere sich durch die Verschiebung des Schwerpunkts in der Bewegung.27 Der Schwerpunkt aber ist der Punkt, den die Seele des Tänzers beherrscht, in dem er sich als seelisch-geistige Substanz in die Bewegung einbringt. Ziererei äußert sich nun, wenn dieser Schwerpunkt an der falschen Stelle im Körper situiert und damit der harmonische Bewegungsfluss gestört wird.28 Analog, so das Konzept des C., ist die Seele des Maschinisten in den Schwerpunkt der Marionette transponiert. Da der Schwerpunkt der Marionette aber immer ein und derselbe ist, die Gliedmaßen der Marionette sich nur in Abhängigkeit von diesem Schwerpunkt bewegen, ist Ziererei ausgeschlossen. In Hinblick auf die philosophische Codierung der virtuellen Realität ist der Text aus dem frühen 19. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht von erstaunlicher visionärer Kraft. Zum einen konzipiert C. das ideale Verhältnis von Avatar und User.29 Denn es geht in Kleists Text zunächst nicht um die gänzliche Eliminierung des menschlichen Anteils an der Anmut, auch dies hält C. zuletzt für möglich, sondern um die Reduktion dieses Anteils, in der Übertragung auf den Schwerpunkt der Marionette, eine Reduktion, die der Seele, dem Geist aber erst erlaubt, in aller Idealität in der physisch-materiellen Welt zum Ausdruck zu kommen: im Tanz der Marionette. So betont Ulrike Bergermann, dass in C.s Konzept wie im Verhältnis von Mensch und Avatar nicht die Prothese im Sinne einer Erweiterung des Körpers und auch nicht eine vollständige Ersetzung des Menschen durch Technik, sondern eine alternative Form der Verkörperung gedacht ist. »C. will keine Prothese(n), keinen Cyborg, sondern zwei getrennte Elemente; die mechanische naturgemäße Marionette und einen, der sich in sie hineinversetzt.«30
27 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3. Hg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M. 1990, S. 555-562, hier S. 559. 28 Ebd. 29 Bergermann: Bewegung und Geschlecht (Anm. 8). 30 Ebd. Anders als Bergermann bin ich der Meinung, dass in Kleists Aufsatz auch mit der Prothese eine Form der Synthese von Mensch und Technik konzipiert ist, die eine höhere Grazie hervorbringen kann als der menschliche Körper allein. Ich stimme aber ihrer Beobachtung voll zu, dass die Marionette in Kleists Text gerade nicht als Beispiel für einen Prothesenkörper dient, sondern in der
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Die Marionette vermag also das Ideal der Anmut als Ausdruck der Seele in den Bewegungen des Körpers durch eine neue Form der Verkörperung Realität werden zu lassen.31 In den Matrix-Filmen ist im Verhältnis von Geist und Avatar ganz im Sinne der Kleist’schen Marionetten eine neue Verkörperung konzipiert, der es gelingt, in nie gesehener Weise heroische Grazie zu konstituieren. So lassen die Filme keinen Zweifel daran entstehen, dass die Avatare in der Matrix-Trilogie unmittelbarer Ausdruck der seelischen und geistigen Bewegungen der Figuren sind. Selbst der Ausdruck von Gefühlen, von Liebe, scheint in der Matrix gleichermaßen möglich wie in der physischen Realität. So rettet zwar Trinity Neo im ersten Teil der Trilogie, indem sie seinen auf der Nebuchadnezzar zurückgebliebenen unbeseelten Körper küsst. Die Liebe wird hier als magische Verbindung zwischen zwei Menschen inszeniert, die sogar den Tod zu überwinden vermag. Ausdruck ist hier der physische Akt des Kusses, der Avatar und Körper gleichermaßen zu neuem Leben erweckt, dies könnte als Überlegenheit der materiellen Körper im
Tat eine neue Verkörperung konzipiert. Bergermann macht zudem die interessante Beobachtung, dass sogar die mechanische Erklärung für die unverstellte Ausdrucksfähigkeit der Marionette durch ihren Schwerpunkt sich in technischen Überlegungen zur perfekten virtuellen Simulation körperlicher Bewegung wiederfindet: »Die naturgemäße Mechanik des Gliedermannes bei Kleist nimmt allerdings tatsächlich in der Beschreibung, wie deren Glieder funktionieren, die Prinzipien vorweg, die jetzt unter der Bezeichnung ›inverse Kinematik‹ das Gliederspiel der virtuellen Körper berechnen und steuern (Abfolge der Glieder, die Bewegung geht jeweils von einem Punkt aus, ein Gelenk veranlaßt die Bewegung des nächsten).« (Ebd.). 31 Der Topos einer technischen Grazie wird auch in der Cyberpunk-Literatur weiterentwickelt. So weist Kevin McCarron auf die Verschränkung von Grazie und Technik in William Gibsons Wintermarket und Richard Brautigans Gedicht All Watched Over by Machines of Loving Grace hin. Vgl. Kevin McCarron: »Corpses, Animals, Machines and Mannequins: The Body and Cyberpunk«, in: Mike Featherstone, Roger Burrows (Hg.): Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk. Cultures of Technological Embodiment. London, Thousand Oaks, New Delhi 1995, S. 261-273, hier S. 262 f. Eine ausführliche Analyse der Texte und ihres Bezugs zur Kleist’schen Grazienkonzeption wäre hochinteressant, würde aber leider den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.
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Ausdruck von Emotionen verstanden werden. Diese scheinbare Aufwertung des Sinnlichen wird jedoch in Matrix Reloaded zurückgenommen, wenn in einer Art Spiegelungssequenz zu der geschilderten Szene, Neo die leblose Trinity innerhalb der Matrix wiederum durch eine Berührung der Avatarkörper rettet, indem er mit Hand in ihren virtuellen Körper eindringt und ihr Herz erneut zum Schlagen bringt.32 Das Bild des Eindringens in den virtuellen Körper, die Symbolik des Herzens, das hier buchstäblich berührt wird, die darauf folgende Umarmung machen deutlich, dass auch die Liebe in beiden Verkörperungen ausgedrückt werden kann. Zwar wird der Matrix ihre Scheinhaftigkeit, ihre Funktion als virtuelles Gefängnis des Geistes vorgeworfen, dennoch ist deutlich, dass in der codierten Realität der Matrix die Helden in ihrer geistigmentalen Kraft und Geschicklichkeit in einer Form zum Ausdruck kommen, wie es in der vermeintlich realen physischen Welt niemals möglich gewesen wäre.33 Die Matrix-Trilogie bewegt sich in eben dem paradoxalen Spannungsfeld aus Abb. 3
32 The Matrix Reloaded (Anm. 4), TC 1:56:14. 33 Cynthia Freeland geht in ihrer Interpretation daher sogar so weit zu behaupten, dass es sich bei der Matrix-Trilogie um eine naive Phantasie der Überwindung des Fleisches handelt. Vgl. Freeland: Penetrating Keanu (Anm. 13), S. 205. Dem stimme ich nicht zu: Zwar zitieren die Filme den Topos der Cyberpunk-Literatur eines schwächlichen, zu überwindenden organischen Körpers und der virtuellen Realität als utopischem Ort der Überwindung physischen Leids (zu diesem Topos siehe u. a. Kevin McCarron: Corpses, Animals, Machines and Mannequins [Anm. 31], S. 262), jedoch wird der materielle leidende Körper in der MatrixTrilogie im Zeichen des Erhabenen heroisiert. Allerdings stimme ich Freeland zu, dass in den Filmen die virtuelle Welt entgegen der anfänglichen Einschätzung durch die Figuren nicht als reine Täuschung zurückgewiesen wird. Vielmehr konstruiert der Film mit der Doppelung der Heldengeschichte eine Koexistenz der beiden Welten als Möglichkeitsräume heroischer Entwicklung.
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gleichzeitiger Technik- und Künstlichkeits-Ablehnung und -bejahung, die Kleist dem Anmutsdiskurs des 18. Jahrhunderts nachgewiesen und im Verhältnis von Mensch und Marionette ironisch reflektiert hat. Auch auf Ebene der Paratexte, durch die zahlreichen Making-of-Filme und Interviews über die Special-Effects der Matrix-Filme wird zusätzlich die Grazie der Helden als technisches, nämlich als filmisches Konstrukt ausgewiesen. Als würden die Filme auch eine Replik auf die Herausforderungen des Mediums durch die Möglichkeiten des virtuellen Raums darstellen, weisen sie die Performances als genuin filmische Inszenierungen aus.34 Zwar gibt es immer wieder Sequenzen, in denen Neo als simulierte Figur auftritt, doch lassen diese sich durch leichte Abweichungen von den Sehgewohnheiten realer bewegter Körper leicht identifizieren.35 Die eigentliche visuelle Besonderheit in der Konstruktion der heroischen Grazie sind jedoch traditionelle filmische Mittel, die in technischer Perfektion genutzt werden. Ein wesentliches Element ist das wire work der asiatischen Martial-Arts-Filme. Mit Seilen verbunden, die kaum sichtbar sind bzw. nachträglich aus dem Bild entfernt werden, werden die Schauspieler an den entscheidenden Stellen nach oben gezogen, es entsteht ein differenziertes Wechselspiel von Kampfbewegungen und Bewegungen des Seils, also von eigener Bewegung des Schauspielers und solcher, in die er durch äußere Krafteinwirkung versetzt wird. Deutlich ist hier, dass sich das Kleist’sche Bild der Marionette noch einmal doppelt: Der vollkommene anmutige Avatar ist (noch) Fiktion, ist Science-Fiction – er ist selbst eine Technophantasie und bedarf einer anderen medialen Technik, nämlich der Technik des Films, um als mediale Fiktion generiert zu werden.36 Hierfür wiederum bedarf es des Schauspielers, der mithilfe des wire work selbst zur Marionet-
34 Insofern stimme ich Andrew Shails These zu, dass die Inszenierung der Kampfperformances als Heroisierung des »Cinematic Body« gelesen werden kann. Vgl. Shail: ›You Hear About …‹ (Anm. 12), insbesondere S. 32-35. 35 Vgl. Dan North: Virtual Actors (Anm. 18), S. 59. 36 Das neue, virtuelle Medium bedarf erst der alten filmischen Technik, um seine eigenen Möglichkeitsräume auszuleuchten. Hier erweist sich erneut der Film als »paradigmatisches ästhetisches Medium der Science Fiction«, welches »das bis dato Grenzen- und Bilderlose nicht nur bebildernd unter Kontrolle, sondern je erneut erst und wieder hervor[bringt].« (Früchtl: Das unverschämte Ich [Anm. 2], S. 365 und 367).
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te wird (Abb. 3).37 Die Zeitlupe, die mit der Technik der Bullet Time zur Perfektion, nämlich zur vollkommenen Retardierung gelangt, und ein diffiziles Spiel von Kamerabewegungen suggerieren einen fließenden Bewegungsablauf der Kämpfe. Erst in der relativen Bewegung von Schauspielern und Kamera, kombiniert mit Techniken des Schnitts, entsteht die Fluidität der Bewegungsabläufe, die als Grazie wahrgenommen wird. Auch auf dieser Ebene erweist sich die Grazie der Helden als technisches, nämlich filmisches Konstrukt, das in seiner technischen Beschaffenheit nicht abwertend, sondern heroisierend dargestellt wird.38
III. DIE ÄSTHETIK DER W UNDE – PATHETISCH - ERHABENER H EROISMUS IN DER M ATRIX -T RILOGIE In Schillers Theorie der Anmut ist dieser als zweites, sie fundierendes und ergänzendes Konzept die Würde bzw. das Erhabene zur Seite gestellt.39 Eine moralische Dimension kann der Grazie nur zukommen, wenn der Wille durch Einsicht in das Sittengesetz gesteuert ist und die Handlung also nicht zufällig mit diesem übereinstimmt. Diese zufällige Übereinstimmung lehnt Schiller in seinem Text Ueber Anmuth und Würde als Temperamentstugend explizit ab.40 Erst wenn sich das Individuum aus der naiven Einheit mit der Natur gelöst und Kontrolle über die innere und äußere Natur ge-
37 Vgl. Cranny-Francis: Moving The Matrix (Anm. 19), S. 105-107. 38 Es wäre interessant, weiterführend der Frage nachzugehen, inwiefern das Konzept der Grazie filmphilosophische Konzepte wie Gilles Deleuzes Theorie des Zeitbildes vorbereitet bzw. ob erst das Kino als Kunstform Forderungen der Grazienkonzeptionen künstlerisch einzulösen vermag. 39 Die Begriffe ›Würde‹ und ›Pathetisch-Erhabenes‹ verwendet Schiller synonym. Siehe hierzu ausführlich: van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 3), S. 124, Anmerkung 165. 40 Friedrich von Schiller: »Ueber Anmuth und Würde«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., Bd. 20, S. 251-308, hier S. 294.
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wonnen hat, können Geist und Natur im Subjekt in neuerliche Harmonie treten und als sittliche Anmut sichtbar werden. Wird jedoch der Widerstand der äußeren Natur zu groß, das Leid der eigenen Physis zu stark, um in anmutiger Harmonie von Körper und Geist handeln zu können, muss die Anmut in das Erhabene umschlagen und so weiterhin den Beweis der durch und durch sittlichen Veredelung des Individuums erbringen.41 So bleibt auch der Anmut die Möglichkeit des Leidens, des gewaltsamen Aufeinandertreffens von Geist und Natur inhärent.42 Ebenso vermag auch der anmutige Heroismus in der Matrix-Trilogie nicht ohne das Erhabene als komplementäres Heroismuskonzept auszukommen. Die Entwicklung zu immer höherer Grazie innerhalb des virtuellen Raums wäre ihrer heroischen Dimension beraubt, wenn ihr nicht die Möglichkeit des erhabenen Selbstopfers zugrunde liegen würde. Das heißt in der Handlungslogik der Matrix-Filme, dass mit den Avatarkämpfen, anders als etwa bei einem Computerspiel, die gesamte physische und geistige Existenz der Helden auf dem Spiel steht. Die Verletzungen, die dem Avatar zugefügt werden, erleidet der ›reale‹ Körper. Mehr noch: Während dieser in seiner Integrität auch nach den heftigsten Kämpfen kaum angegriffen scheint, ist der reale Körper bereits verwundet. Heroismustheoretisch entscheidend ist, dass der Tod in der Matrix mit dem Tod in der Realität einhergeht. »The body cannot live without the mind«,43 erklärt Morpheus. Zwar lässt sich der Geist in das virtuelle System laden, wo er sich in einem virtuellen Avatarkörper visualisiert, die Verbindung zum materiellen Körper bleibt jedoch bestehen, wie die Schnitte auf die zuckenden Leiber immer wieder verdeutlichen. Durch diesen etwas konstruiert wirkenden Kunstgriff werden anmutiges und erhabenes Heldentum in Beziehung zueinander gesetzt, gewinnt die Anmut durch die ihr inhärente Bereitschaft zum Selbstopfer ihre heroische Dimension. Zugleich ist auch auf der Ebene des virtuellen Raums durch diese Wendung jederzeit die Möglichkeit gegeben, das anmutige Heldentum ins Erhabene umschlagen zu lassen, wenn die Figuren mit einem übermächtigen Gegner konfrontiert werden. Als Beispiel wäre hier etwa Morpheus’ Standhaftigkeit zu nennen, als er von Smith verhört wird und mit einem Wahrheitsserum dazu gebracht werden soll, die Zugangs-
41 Ebd. 42 van Marwyck: Gewalt und Anmut (Anm. 3), S. 128. 43 The Matrix (Anm. 6), TC 0:53:18.
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codes zur Stadt Zion zu verraten. Morpheus hält den Schlägen und Folterungen stand, die in der Szene durch den Fokus auf Körperfunktionen des Avatarkörpers visualisiert werden, die sonst den organischen Körpern zugewiesen werden: er blutet und schwitzt, seine Augen verdrehen sich. Doch er kann die äußeren und die inneren Prozesse (die Wirkung des Serums) in seinem virtuellen Körper beherrschen und stellt so die Überlegenheit seines Geistes unter Beweis.44 Auch mit dem Erhabenen als Heldenkonzeption wird ein Konzept der heroischen Selbstbeherrschung reaktualisiert, wieder ist es eine Konzeption, die dem Menschen seine Selbstvergewisserung als Subjekt ermöglicht, eine Konstellation, in der die Kräfte des Geistes über die Eigendynamik der Natur gesiegt haben. Das Erhabene als Heldenkonzeption entwickelt sich in der Renaissance- und Barock-Poetik als Konzept der heroischen Verwirklichung neu-stoischer Tugendideale.45 Der erhabene Mensch ist in der Lage, auch das größte Leid zu ertragen, ohne seine Ruhe und Standhaftigkeit zu verlieren. Vor allem die absolutistischen Fürsten pflegten sich als erhabene Individuen zu inszenieren, um ihre Überlegenheit gegenüber dem Volk und damit zugleich ihren Führungsanspruch zu belegen. Im 18. Jahrhundert entwickelt Schiller mit dem Konzept des Pathetisch-Erhabenen46 einen Modus der Heldendarstellung, der die Tugend der Selbstkontrolle mit dem bürgerlichen Empfindsamkeitsideal zu versöhnen versuchte47 und etabliert damit
eine spezifisch bürgerliche, gegen die Selbststilisierung des Adels gerichtete Form des Heroischen. Der Held soll sich nicht als gefühlskalt von
44 Ebd., TC 1:33:32-1:34:40. 45 Zur Entwicklung des Erhabenen als Heldenkonzeption im Barock siehe u. a.: Walter Rehm: »Römisch-romanischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland«, in: ders.: Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung. München 1951, S. 1-61, und Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1993. 46 Friedrich Schiller: »Vom Erhabenen. (Zur weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen.)«, in: ders.: Werke (Anm. 40), Bd. 20, S. 171-195. 47 Siehe Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004, S. 164-178, und Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 93-109.
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der Masse abheben, sondern sich als fühlendes Individuum vorstellen, das gerade im tief empfundenen Leid Größe und Standhaftigkeit zeigt. Ganz im Sinne der Schiller’schen Konzeption des Pathetisch-Erhabenen gehört es zu den ästhetischen Strategien der Matrix-Trilogie, auf der Ebene der ›Realität‹ den schwachen und versehrten ›organischen‹ Körper der Helden in den Mittelpunkt der Inszenierung zu stellen. Der physische Körper bleibt auch während der virtuellen Kämpfe filmisch präsent: Immer wieder schneidet der Film aus den Actionsequenzen heraus auf die wie Schlafende liegenden Körper, die Gesichter, die Lider mitunter leicht zuckend, wie bei Träumenden während eines Alptraums, ansonsten unheimlich ruhig. Die Fokussierung auf den fragilen Leib macht sichtbar, dass hier ein organischer und damit verwundbarer, angreifbarer Körper auf dem Spiel steht. Von Beginn an ist die Verletzung, die Penetration des ›realen‹ Körpers, die Wunde und Narbe als Stigma und heroisches Zeichen präsent.48 Es entsteht ein Gegensatz zum unversehrten Avatarkörper, dessen grundsätzliche Verwundbarkeit aber gleich Siegfrieds und Achills verletzlichen Punkten im Laufe der Kämpfe immer wieder deutlich wird: durch kleine Verletzungen und virtuelles Blut. »You see? He’s just a man«,49 schlussfolgert dementsprechend der Merowinger, als Neo nach einem fulminanten Kampfspektakel verletzt wird, als er mit bloßer Hand einen Schwertschlag pariert. Deutlicher jedoch ist die Fokussierung auf die Wunde, die Verletzung in der ›Realität‹. Dort wird den Idealkörpern der virtuellen Welt ein organischer Körper entgegengesetzt, der bei der ›Geburt‹, der Loslösung aus der Matrix zunächst verschrumpelt und ohne jede Muskelkraft ist. Der intakten Kontur des Avatars steht ein nach allen Seiten geöffneter Körper gegenüber, welcher an den grotesken Körper erinnert, den Bachtin als Körperkonzept des Barock identifiziert hat.50
48 Zur Bedeutung des Schmerzes und der Wunde für die Ästhetisierung des Heroischen siehe Claude Haas’ hochinteressanten Aufsatz in diesem Band. 49 The Matrix Reloaded (Anm. 4), TC 1:14:42. 50 Michail M. Bachtin: »Die groteske Gestalt des Leibes«, in: ders.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. u. a. 1985, S. 1524. Erst im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt sich das Konzept eines abgeschlossenen und autarken Körpers, der »Homo clausus«, der in der Literatur und Ästhetik um 1800 seinen stärksten literarischen und theoretischen Ausdruck findet. Zum Diskurs des Klassizismus, der entgegen dem Konzept des makellosen
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Neos Befreiung aus der Immanenz der Matrix wird als schmerzhafter und peinigender Loslösungsprozess inszeniert. Verschiedene Torturen muss er über sich ergehen lassen, bevor er als bewegungsunfähiger Körper in die unwirtliche Welt des Realen eintreten kann, die Morpheus mit einer Formulierung Baudrillards als »desert of the real«51 bezeichnet. Die Penetration seines Körpers mit einem Gerät, die grausame Erfahrung der Verflüssigung und Metallisierung seines virtuellen Körpers in der Matrix, das Erwachen in der Schleimblase, die seinen realen Körper beherbergt, und der traumatisierende Blick über die gigantomanische Architektur der Türme, an denen die menschlichen Körper in fleischfarbigen Blasen hängen. Die Loslösung aus der Matrix endet mit der brutalen Abkoppelung von den Schläuchen, die ihn bisher ernährt haben, und führt ihn durch eine Art ›Geburtskanal‹ hinein in das Gewässer, in dem die Nebuchadnezzar schwimmt und ihn mit einer Eisenkralle an Bord holt.52 Um in der Matrix kämpfen zu können, müssen Neo und seine Mitstreiter ihre organischen Körper stets aufs Neue der Penetration durch den länglichen Plug, der in ihren Hinterkopf eingeführt wird, aussetzen. Jedem anmutigen virtuellen Heldenkampf geht also eine erneute ›Verwundung‹ des realen Körpers voraus. Auf diese Weise kommt der Verletzung des organischen Körpers eine doppelte Funktion zu: Sie markiert zum einen die heroische Entscheidung gegen die vermeintlich trügerische Welt der Matrix und für ein entbehrungsreiches Leben in der ›Realität‹, sie bietet aber zugleich den Übergang zu einer neuen Form der ›Ganzheit‹ und Unversehrtheit in einer neuen heroischen Verkörperung: dem anmutigen Heldentum in der Matrix. Frappierend ist hier die strukturelle Nähe zur Geschichtsphilosophie Schillers, in welcher dieser Anmut und Erhabenes als komplementäre Formen heroischer Subjektivität verortet. Wie das sentimentalische Individuum in Schillers Theorie lösen sich die Helden zunächst aus der Umarmung des Schönen und eröffnen sich so den Ausgang aus der reinen Imma-
und geschlossenen Körpers doch die Wunde und Versehrung in den Mittelpunkt ästhetischer Überlegungen stellt, siehe die hochinteressante Studie von Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001. 51 The Matrix (Anm. 6), TC 0:39:33-0:39:36. 52 Mit Recht bezeichnet Cynthia Freeland die Szene als »birth parody«. Vgl. Freeland: Penetrating Keanu (Anm. 13), S. 208.
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nenz hin zur Erkenntnis und zum Erleben von Freiheit, ein Zustand des Auseinanderstrebens von Geist und Natur,53 der erst Freiheit und Moralität und mithin Heldentum ermöglicht, aber auch als Verlust erfahren wird. Diese Befreiung ist eine Entscheidung für die Erkenntnis, die »Wahrheit«, wie es in den Matrix-Filmen pathetisch heißt. Nach der schmerzhaften Loslösung aus der naiven Einheit folgt ganz im Sinne der Schiller’schen Geschichtskonzeption der Weg über Freiheit und Erkenntnis zurück in eine neuerliche Einheit, die sich in Neos Steigerung zu immer höherer Anmut visualisiert. Er kehrt in die Welt zurück, die ihn und mit ihm die gesamte Menschheit zuvor in einer Illusion gefangen gehalten hat, und findet durch seine Grazie zu einer neuen Einheit mit der virtuellen Realität, in der jedoch das Subjekt die Kontrolle über die virtuelle Welt besitzt. Der erste Akt des erhabenen Heroismus, der Neo und alle anderen Helden auszeichnet, die aus der Matrix befreit wurden, ist die Standhaftigkeit, mit der sie die ›Wahrheit‹, die karge, unwirtliche und menschenfeindliche ›Realität‹, ertragen. Ganz im Sinne des Schiller’schen Konzepts des Pathetisch-Erhabenen wird diese Haltung jedoch nicht als Gefühlskälte inszeniert. Neo erleidet einen schweren Zusammenbruch, als ihm die Künstlichkeit seiner früheren Welt und die Unwirtlichkeit der ›Realität‹ bewusst werden.54 Das Opfer, das der Verzicht auf die Rückkehr in die Matrix, also in eine ursprüngliche Einheit mit dem Dasein, bedeutet, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Neo sich zunächst nicht klar zur Welt des ›Realen‹ bekennt. In einem Dialog mit Morpheus fragt Neo: »I can’t go back, can I?«55 Darauf erwidert Morpheus: »No, but if you could, would you want to?« Neo antwortet darauf nicht. Dass sein Verbleiben in der ›Realität‹ jedoch nicht bloß seiner Hilflosigkeit, sondern einer freien Entscheidung geschuldet ist, wird durch die
53 Wobei die Welt des Schönen, die Matrix, in die das naive unreflektierte Individuum versunken (eingespeist) ist, im Kontext der Trilogie gerade nicht Natur, kein ursprünglicher Ort, sondern ein Simulacrum im Baudrillard’schen Sinne ist. Indem die Filme zwar idealistische Geschichtskonzeptionen der Naturentfremdung und neuerlicher Versöhnung mit der Natur zitieren, die ursprüngliche Realität aber zugleich schon als virtuelle Welt charakterisiert wird, weisen sie die Konzeptionen zugleich zurück. 54 The Matrix (Anm. 6), TC 0:42:32. 55 Ebd., TC 0:42:50-0:42:55.
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Abgrenzung vom Antihelden Cypher deutlich. Dieser entscheidet sich für die Illusion, die Rückkehr in die verführerisch schöne Welt der Matrix und verrät hierfür sogar seine Mitstreiter. Er erträgt die »Wüste des Realen« nicht: Die Erhabenheit, mit der die anderen Helden den Entbehrungen der ›Realität‹ standhalten, vermag er nicht zu erreichen, ebenso wenig wie den anmutigen Heroismus, mit dem Neo und Trinity der Matrix ihre Gesetze aufzwingen. Ein Hedonist wie der Merowinger, will er aber den Genuss noch dadurch steigern, dass er nicht durch den Beigeschmack der Künstlichkeit belastet ist. Was Cypher verlangt, ist nicht weniger als die perfekte Simulation. Neo hingegen (wie auch Trinity und Morpheus) erweist sich in Abgrenzung zu Cypher als erhabener Held, der die Entbehrungen der Realität trotz anfänglicher Verzweiflung über den Verlust seiner früheren Lebenswelt mit Standhaftigkeit und Fassung erträgt und den Verführungen des Virtuellen widersteht. Doch auch das Erhabene, das, wie gezeigt, in der Konzeption des Heldentodes und der Ästhetik der Wunde das Handeln der Helden auf der Ebene der ›Realität‹ prägt, wird in seiner spezifisch humanen Qualität infrage gestellt. Auch der Keymaker opfert sich für seine Mission, die Programme Rama-Kandra und Kamala begeben sich in Lebensgefahr, um die Existenz ihrer ›Tochter‹ zu retten, und Seraph beschützt das Orakel unter Einsatz seines Lebens. Die Kriegstechnik im Kampf um Zion visualisiert noch einmal die Interdependenz von Mensch und Technik im erhabenen Widerstand gegen die übermächtigen Maschinen. Die Menschen bedienen sich gigantischer Kampfroboter, die in der Form einem überdimensionierten männlich-herkuleischen Körperbau nachempfunden sind: ein breiter ›Oberkörper‹, ausladende Schultern mit schweren Armen, die sich zu Maschinengewehren verlängern (Abb. 4). Der menschliche Maschinist nimmt in einem Sitz auf der Höhe des Oberkörpers des Roboters Platz und steuert dessen Arme mit seinen eigenen, so dass die riesigen Roboterarme wie Verlängerungen der menschlichen Arme erscheinen.
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Abb. 4: Matrix Revolutions, TC 0:59:53.
Es liegt nahe, dass diese Maschinen vor allem bildliche Bedeutung im diskursiven Kosmos der Matrix-Trilogie einnehmen. Als Kriegsmaschinen sind die Roboter wenig sinnvoll, da sie den menschlichen Körper vollkommen ungeschützt den Angriffen durch den Gegner aussetzen. Die Maschinen visualisieren jedoch noch einmal das prothetische Verhältnis von Mensch und Maschine, das auch auf der Ebene der ›Realität‹ die heroischen Handlungen prägt. Die Widerstandskraft des herkuleischen Helden, der vor allem qua seiner physischen Kräfte siegreich ist, wird hier ikonographisch aufgerufen und zugleich ad absurdum geführt. Muskelkraft kann so wenig wie in der Matrix siegreich sein, stattdessen haben sich die Menschen mithilfe ihrer technischen Intelligenz einen heroischen Prothesenkörper gebaut, der nicht weniger künstlich ist als die Avatarkörper der Matrix. Wie der fragile, entseelte Leib, der während der Kämpfe innerhalb der Matrix auf der Nebuchadnezzar zurückbleibt, ist auch in dieser Cyborg-Konstruktion der menschliche Körper mehr Schwachstelle als funktionale Größe. Die in den Roboterkörpern winzig anmutenden Menschen sind zugleich qua ihrer kognitiven Leistungen Führer der Maschinenkörper, durch die organische Materialität ihrer Körper aber zugleich ihr verletzbarer Punkt. Beispielhaft ist es Captain Mifune, der, in Anspielung auf die Kamikaze-Tradition der japanischen Kultur, sich in erhabener Standhaftigkeit dem aussichtslosen Kampf gegen die Maschinen stellt. Bis zum letzten Atemzug leistet er Widerstand, indem er mit den Prothesenarmen auf die angreifenden Maschinen feuert. Als es zuletzt unvermeidlich zur Niederlage Mifunes kommt, ist es ein zugleich obszönes wie heroisches Bild der Wunde, das Mifunes Heldentum charakterisiert: eine durch ihre Spiralförmigkeit deutlich als maschinell zugefügt erkennbare Wunde, die das gesamte Gesicht des Helden aufspaltet. Auch in dieser Weise gezeichnet und dem Tode nahe, ist er
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sich noch seiner Pflicht als Feldherr bewusst und gibt einem jungen Soldaten Anweisung, das Tor für die sich nähernde Nebuchadnezzar zu öffnen. Vor allem Neos letzte Heldenmission wird als erhabenes Heldentum inszeniert, das zudem durch mehrere Anspielungen als messianischer Passionsweg dargestellt wird. Neo hat die Vision, dass er zur Maschinenstadt reisen muss, um dort für das Geschick der Menschheit einzustehen. Trinity, ebenfalls gewiss, dass sie ihre letzte Mission nicht überleben wird, begleitet Neo auf seine Reise. Klar ist also die Ausgangssituation der beiden Helden als heroisch-erhabenes Selbstopfer vorgezeichnet.56 Wieder wird das Leiden der beiden Figuren in Szene gesetzt, um ihr Handeln noch heroischer erscheinen zu lassen: So gestehen sich beide gegenseitig ihre Angst vor dem, was sie erwartet.57 Bereits während der Fahrt zur Maschinenstadt beginnt der Leidensweg der Helden. Agent Smith, der sich mittlerweile wie Neo zwischen den Welten hin und her bewegen kann und damit endgültig sein negatives Pendant auch in der Realität wird, hat sich im Körper eines Widerstandskämpfers an Bord des Schiffs versteckt und greift Trinity an, als sie sich in den Maschinenraum begibt. Als Neo sie retten will, wird Neo vor die Wahl gestellt, die Frau, die er liebt, zu opfern oder seine Mission zu gefährden. Smith hat Trinity als Geisel genommen und hält sie als Schutzschild vor sich. Trinity fordert Neo auf, sie und Smith zu erschießen. Doch diese entmenschlichte Form des erhabenen Heroismus, der selbst die Opferung nahestehender Menschen nicht ausschließt, wie etwa in Corneilles viel kritisiertem Drama Horatius, ist nicht Neos Form des Heldentums.58 Die individuelle Liebe
56 Allerdings werden Trinitys und Neos Heldentum hinsichtlich der Motivation für ihr Handeln unterschieden. Während Neo sich opfert, um die Menschheit zu retten, opfert sich Trinity aus Liebe zu Neo. Hier hat Cynthia Freeland recht, wenn sie schreibt, »that the character of Trinity [Carrie-Ann Moss] occupies a typical subservient female role in this movie«. (Freeland: Penetrating Keanu [Anm. 13], S. 209). 57 Andy und Lana Wachowski: The Matrix Revolutions (2003), TC 0:46:240:46:49. 58 So entscheidet sich Corneilles Held in einem Zweikampf für Rom, gegen den Bruder seiner Verlobten zu anzutreten, und weist alle Verbindlichkeit familiärer Bindung zugunsten seiner heroischen Mission zurück. Corneille: Horatius. Halle 1905.
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und die Pflicht gegenüber der Gattung spielen eine gleichberechtigte Rolle in Neos Selbstverständnis als Held, dies hatte sich schon in der Begegnung mit dem Architekten gezeigt.59 Stattdessen legt er die Waffe nieder, und es kommt zum erbitterten Faustkampf zwischen ihm und Smith. Deutlich wird diese Auseinandersetzung von den graziösen Kämpfen in der Matrix abgegrenzt. Schwer und angestrengt wirken die Bewegungen, immer wieder fallen die Körper dumpf gegen die Wand oder den Boden, Blut fließt, Schmerz und Zorn zeichnen die Gesichtszüge. Wieder ist es eine Versehrung des Körpers, die zum heroischen Stigma wird und zugleich Neos Heldentum erst zur vollen Entfaltung bringt. Smith greift sich ein durchschnittenes Stromkabel, stößt es Neo in die Augen und verbrennt und blendet ihn. Zurück bleibt eine quer über das Gesicht verlaufende Brandwunde, dort wo zuvor Neos Augen gewesen sind. Smith ist es, der die heroismustheoretische Interpretation zu Neos Verwundung liefert: In ironischer Intention bezeichnet er ihn als »blind Messiah«.60 Was von Smith spöttisch gegen die schwächliche organische Konstitution der menschlichen Gattung gewendet ist – »You’re a symbol for all of your kind, Mr. Anderson. Helpless. Pathetic. Just waiting to be put out of your misery«61 –, erweist sich als wahr: Neo hat durch die Verletzung weitere »messianische« Kräfte gewonnen, er ist sehend geworden. Hier spielt der Film in der typischen Mischung verschiedener mythischer Traditionen zugleich auf Jesu Passionsweg wie auch auf die griechische mythologische Figur Teiresias, den blinden Seher, an. Neo kann nun die Energieflüsse der Maschinenwelt sehen und hat so den Einblick in die Welt des Feindes gewonnen, der ihm erst erlaubt, seine Mission zu vollenden. Er kann hinter der biologischen Gestalt den Agenten Smith erkennen und den Überraschungseffekt nutzen, um Smith in seiner menschlichen Gestalt zu töten, und er kann Trinity den Weg zur Maschinenstadt weisen. Neo bietet den Maschinen einen Friedenspakt an: Er wird in der Matrix gegen das außer Kontrolle geratene Programm Smith kämpfen, das auch die Maschinenwelt zu vernichten droht, dafür sollen die Maschinen ihre Kampfroboter aus Zion abziehen. Smith hat inzwischen die gesamte Matrix unter Kontrolle gebracht hat: Jedes Individuum der Matrix hat sich in Smith
59 The Matrix Revolutions (Anm. 57), TC 1:52:37. 60 Ebd., TC 0:54:16. 61 Ebd., TC 0:54:23.
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verwandelt. Die Maschinen akzeptieren Neos Angebot. In seiner letzten Mission wird Neos Heldentum noch einmal deutlich als Zusammenspiel von Anmut und Erhabenem inszeniert. Auf der Ebene der physischen Realität wird bildlich bereits das heroische Selbstopfer angedeutet: Neo wird durch Greifarme der Maschinen an die Matrix angeschlossen und von diesen getragen. Seine Körperposition mit seitlich ausgestreckten Armen, ruft das Bild des Gekreuzigten auf.62 So lässt sich Neo noch einmal in die Matrix einspeisen, um gegen seinen Widersacher Smith anzutreten. Der Film lässt offen, ob Neo zunächst einen kämpferischen Sieg über die Smiths anstrebt, oder ob der Kampf ein letztes Kräftemessen, ein letztes Ausprobieren der eigenen Souveränität im System der Matrix ist. Die Kämpfe steigern sich noch einmal in ihrer Leichtigkeit und Grazie hin zu einer schattenspielartigen Szenerie (Abb. 2), in der Neo mit seinen Wendungen und dem langen, ihn umwehenden Mantel eher wie ein Tänzer als wie ein Kämpfer wirkt. Die Hyperbolik der Szene wird noch gesteigert, als Smith und Neo sich gegenseitig ihre Fähigkeit zu fliegen unter Beweis stellen: Der Kampf findet für eine Weile im All statt, was eine kalkuliert komische Überspitzung der Überbietungsstrategien zwischen Mensch und Programm darstellt. Um noch einmal das willkürliche Spiel mit der Schwerkraft und der Schwere des eigenen Körpers zu demonstrieren, wirft sich Smith in der Luft auf Neo und lässt ihn mit künstlicher Schwere zurück auf den Boden schmettern, wo durch den massiven Aufprall eine tiefe Kuhle entsteht. Nun beginnen Neos virtuelle Kräfte zu schwinden. Sein Avatarkörper nimmt Ähnlichkeit mit dem geschwächten organischen Leib an, er strauchelt und schwankt, in seinem Gesicht kleben Staub und Schlamm. An dieser Stelle schlägt sein anmutiger Heroismus ins Erhabene um. Wie um dies didaktisch unter Beweis zu stellen, beginnt Smith, Neos Verhalten zu interpretieren und ihm die entscheidende Frage zu stellen: »You must know it by now. You can’t win. It’s pointless to keep fighting. Why, Mr. Anderson, why? Why do you persist?«63 Und Neo antwortet: »Because I choose to.«64 Während der Virus Smith nicht verstehen kann, welchen Sinn es hat, einen
62 Vgl. Ben Witherington III: »Neo-Orthodoxy: Tales of The Reluctant Messiah, Or ›Your Own Personal Jesus‹«, in: Irwin: More Matrix and Philosophy (Anm. 1), S. 165-174, hier S. 165. 63 The Matrix Revolutions (Anm. 57), TC 1:45:21-1:45:28. 64 Ebd., TC 1:45:32.
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aussichtslosen Kampf zu führen, also die Essenz des erhabenen Heroismus nicht versteht, der darin besteht, im Angesicht einer übergroßen Macht sich der eigenen menschlichen Größe und inneren Freiheit zu vergewissern, fordert er Neo dazu auf, diese erhabene Motivation seines Handelns klar zu benennen. Die Bewegungen werden ungelenker, schwerfälliger, Neo erkennt, dass er Smith nicht im Kampf besiegen kann, und greift zu einer List, die zugleich sein Selbstopfer impliziert. Er ergibt sich seinem Gegner, und Smith muss – obwohl er eine List ahnt – seinem ›Trieb‹ als Virus folgen und auch Neo in sich selbst verwandeln. In diesem Moment ist die Balance der Polarität, welche die Matrix codiert, zerstört, und das System kollabiert: Alle Entitäten in der Gestalt von Smith lösen sich auf. Damit stirbt auch der in Smith verwandelte Neo, sein Selbstopfer ist vollendet, die Welt vom vernichtenden Virus Smith erlöst und der Frieden zwischen Mensch und Maschine hergestellt. Respektvoll legen die Maschinen den toten Leib des Helden ab − weiterhin in der Position des Gekreuzigten − und bringen ihn fort. Die Bewegung der Maschinenarme suggeriert eine Verbeugung, Neo ist zum Held beider Welten geworden.
IV. A LL W ATCHED O VER OF L OVING G RACE
BY
M ACHINES
Wie gezeigt nutzen die Matrix-Filme die Konzeption des anmutigen Heldentums zur Inszenierung eines hybriden Heroismus im virtuellen Raum. Der Avatar wird als Figuration eines heroischen Körper-Geist-Verhältnisses in Szene gesetzt, welches das anthropologische Ideal der Anmut erst zu erfüllen vermag. Doch die Heroisierung des virtuellen Raums als Ort höchster Grazie wird zurückgebunden an die Heroisierung des ›Realen‹ als Ort erhabener Subjektkonstitution. Erst als Held beider Welten, im Zusammenspiel von Anmut und Erhabenem erweist sich die ganze heroische Kraft des Individuums. In der Konstituierung heroischer Subjektivität werden hierdurch beide Welten in ein notwendiges Wechselverhältnis zueinander gestellt. Wie in der Schiller’schen Theorie ist es die doppelte Heroik von Anmut und Würde, nicht im Sinne einer Aufhebung beider Konzepte, sondern im Sinne einer komplementären Beziehung, die das Subjekt in voller heroischer Größe erscheinen lässt. In den Matrix-Filmen allerdings sind beide Konzep-
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te in ihrer spezifisch humanen Qualität infrage gestellt, indem sie einerseits auch von Programmen erfahrbar sind, oder sich im Fall der Grazie – hier ist Kleist Gewährsmann – selbst als prothetisches Konzept erweist. Und so steht am Ende die Einsicht in die Interdependenz der beiden Welten und die Konstellation einer anmutigen Versöhnung, die Neo durch sein heroisches Handeln hervorbringt. Die Matrix erscheint als eine mögliche Lebenswelt, die gleichberechtigt neben dem Erfahrungsraum des »Realen« steht. Der Großteil der Menschheit soll in der Illusion der Matrix verbleiben, nur diejenigen, die wie einst Neo alias Thomas Anderson am Realitätscharakter ihrer Umwelt zweifeln, sollen befreit werden. Das Orakel als mütterliches Prinzip und der Architekt als Vater der Matrix sowie die kleine Sati finden sich als Inbegriff der bürgerlichen Kleinfamilie in der neu konstituierten Matrix auf einer Parkbank ein und sprechen über den neuen Weltzustand.65 Das mütterliche, liebende Prinzip hat gesiegt – hier operiert der Film mit traditionellen Gendermythen. Sati hat, so erfährt man, den rosarot leuchtenden Sonnenuntergang kreiert, der die Szenerie in sanftes Licht taucht, für Neo so heißt es.66 Die digitalen Programme sind mit schöpferischer Kraft ausgestattet und nähern sich dem Göttlichen, eine virtuelle Himmelsfamilie, deren weiblicher Teil über die neue Harmonie zwischen Mensch und Maschine wacht. Und so endet die Matrix-Trilogie mit der Vision einer Idylle, wie sie der Science-Fiction-Autor Richard Brautigan in seinem berühmten Gedicht formuliert hat: einer in Frieden mit Natur und Technik lebenden Menschheit, »all watched over by machines of loving grace«.67
65 Wobei der Architekt die Szenerie wieder verlässt, bevor Sati erscheint, was das Bild der allumfassenden Harmonie wiederum infrage stellt. 66 The Matrix Revolutions (Anm. 57), TC 1:54:30. 67 Zitiert nach Kevin McCarron: Corpses, Animals, Machines and Mannequins: The Body and Cyberpunk (Anm. 31), S. 262 f. Dieses berühmte Gedicht der Cyberpunk-Literatur scheint mit dem idyllischen Szenario zitiert zu werden, allerdings mit der bitteren Wendung, dass Natur im Sinne von Flora und Fauna in der Matrix-Trilogie aus der Harmonisierungsphantasie ausgeschlossen wurde, Natur in diesem Sinne ist bereits der vollständigen Zerstörung anheimgefallen und wird in der Matrix als sentimentalisches Bild reproduziert. Die Grazie der Maschinen kann hier sowohl im Sinne von »Gnade« als auch von »Anmut« verstanden werden.
Epilog
Hacker, Nerds und Übermenschen Die Helden der Cyberkultur F LORIAN L EITNER
I. N EUE H ELDEN
BRAUCHT DIE
C OMPUTERWELT
Die digitale Subkultur bringt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Heldentypus hervor, dem durch ihren Aufstieg zur Leitkultur besondere gesellschaftliche Relevanz zukommt. Er greift klassische Heroismuskonzepte auf, insofern seine Vertreter meist jugendlich und in der Regel männlich sind. Das Novum liegt in jener Eigenschaft, die sie zu ihren außergewöhnlichen Taten befähigt: ihre überdurchschnittliche Expertise im Umgang mit Computern. Die Rede ist von jenen Figuren, die gemeinhin als Hacker oder Nerds charakterisiert werden – wobei die beiden Bezeichnungen nicht deckungsgleich sind und jeweils andere Aspekte betonen. Dem durch sie umrissenen Typus werden sich die folgenden Ausführungen anhand einiger Filme des Hollywood-Kinos annähern, in dem Hacker und Nerds mittlerweile einen festen Platz einnehmen. Letztere – und diesen Punkt wird die hier vorgestellte Argumentation ins Zentrum rücken – stehen für das bemerkenswerteste Charakteristikum der Heroen aus dem Umfeld der Informationstechnologie: die gezielte Negation von Männlichkeit und körperlicher Stärke, jener Attribute also, die Helden traditionellen Zuschnitts auszeichnen. Von diesen heben sich die Protagonisten der Cyberkultur gerade dann ab, wenn sie zu regelrechten Übermenschen stilisiert werden. Wenn Hollywood mit Vorliebe zu den Stereotypen ›Hacker‹ und ›Nerd‹ greift, um Figuren zu charakterisieren, die über hard- und softwaretechni-
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sches Expertenwissen verfügen, dann ist das dabei gezeichnete Bild zunächst einmal recht ambivalent. Wie Paul Young darlegt, ist es einerseits geprägt von einer an Paranoia grenzenden Skepsis gegenüber digitalen Apparaten und vor allem gegenüber den mit ihnen hantierenden Akteuren.1 Sie begründet sich daraus, dass diese Akteure – im Gegensatz etwa zu Hollywood-Produzenten – weder industriell organisiert noch staatlich reglementiert sind. Ihr Handeln scheint darum unberechenbar und potenziell bedrohlich. Andererseits schwingt in der »cyberphobia« Hollywoods, wie Young sie nennt, immer auch ein gehöriges Stück Faszination für den Computer und für jene mit, die ihn beherrschen. Sie ist nicht zuletzt kommerziellen Erwägungen geschuldet: Filme erzählen auch deswegen von Hackern, Nerds und digitalen Technologien, weil sie dadurch die ständig wachsende Schicht der ›digital natives‹ als Zielgruppe erschließen – jene computeraffinen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ansonsten eher schwer für das Kino zu begeistern sind, das in ihren Augen ein hoffnungslos veraltetes Medium ist.2 Indem sie gleichzeitig Paranoia und Faszination aufrufen, spielen Hollywood-Filme eine – wenn nicht die – entscheidende Rolle für das gesellschaftlich dominante Bild der Protagonisten der Cyberkultur und auch für deren Selbstverständnis. Wenn sich der Fokus im Folgenden auf solche Filme richtet, trägt das im Übrigen auch dem Umstand Rechnung, dass ›Hacker‹ und ›Nerd‹ soziale Rollenmuster sind, die der nordamerikanischen Populärkultur entspringen.
II. H ACKER Um die Genealogie der filmischen Hacker-Figuren zu umreißen, sei zunächst auf eine Buchpublikation verwiesen, der in diesem Zusammenhang weitreichende Bedeutung zukommt: Das 1984 erschienene Hackers von Steven Levy prägte die öffentliche Wahrnehmung der titelgebenden Spezies entscheidend. Der Untertitel liefert ein Indiz dafür, dass Hacker seit jeher
1
Vgl. Paul Young: The Cinema Dreams Its Rivals. Media Fantasy Films from Radio to the Internet. Minneapolis 2006.
2
Vgl. Marc Prensky: »Digital Natives, Digital Immigrants«, in: On the Horizon 9/5 (2001), S. 1-6.
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als Helden vorgestellt wurden: »Heroes of the Computer Revolution«.3 Bereits die Verlagsankündigung lässt keinen Zweifel daran, dass die in dem Band Porträtierten – es handelt sich um Schlüsselfiguren der beginnenden Personalcomputer-Ära wie Bill Gates und Steve Wozniak – jener Kategorie von Heroen zuzurechnen sind, die als gesellschaftliche Vorhut fungieren und die Welt verändern: »one pioneering work documented the underground computer revolution that was about to change our world forever«. Hacker sind in dieser Perspektive nicht weniger als Helden im Sinne der von Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik gelieferten Definition.4 Als tendenziell isolierte Individuen geraten sie in einen Gegensatz zur bestehenden Ordnung, die sie daraufhin in einen neuen Zustand überführen – wobei Levy mit seiner Anwendung des Heldenbegriffs insoweit von Hegel abweicht, als dieser für Letzteren nur in einer vorstaatlichen Heroenzeit greift. Was die Programmierer und Bastler, über die Levy schreibt, in Opposition zur herrschenden Ordnung bringt, ist die sogenannte Hacker-Ethik. Es handelt sich dabei um einen Moralkodex, der sich unter nordamerikanischen Computerfreaks entwickelt hat. In seinem Zentrum steht die Forderung nach freier Verfügbarkeit jedweder Information für alle. Dies soll durch den uneingeschränkten Zugang zu Computertechnologie und dem dazugehörigen Wissen realisiert werden. Es handelt sich um eine antiautoritäre und antiproprietäre Ethik, die auf die Dezentralisierung von Macht abzielt. Überdies gründet sie in einer quasi künstlerischen Haltung, die das Hantieren mit Mikroelektronik und das Programmieren als ästhetische Praxis betrachtet. Daraus ergibt sich, vereinfacht formuliert, folgende Definition: Hacker sind Menschen, die mithilfe von Computern gegen illegitime Autoritäten kämpfen und sich einem Informationsegalitarismus verschrieben haben – und für die ein gut geschriebener Programmcode ein Kunstwerk ist. Oder mit den Worten Bruce Sterlings: The term can signify the freewheeling intellectual exploration of the highest and deepest potential of computer systems. Hacking can describe the determination
3 4
Steven Levy: Hackers. Heroes of the Computer Revolution. Garden City 1984. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: »Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal«, in: ders.: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1986, S. 125385, vor allem S. 236-252.
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to make access to computers and information as free and open as possible. Hacking can involve the heartfelt conviction that beauty can be found in computers, that the fine aesthetic in a perfect program can liberate the mind and spirit.5
Während Sterling die positiv besetzte Definition Levys aufgreift, ruft der Begriff »Hacker« aber auch negative Vorstellungen auf, welche die moralischen Motive der Computerfreaks ausblenden und ihr Handeln aus purer Renitenz erklären. Young umschreibt das zugrunde liegende Rollenbild folgendermaßen: Hackers were – and are – primarily young men who use modems and the preexisting channels of global telecommunications network to bypass every firewall and other virtual boundary explicitly erected to keep them out, just to show that they can do it.6
Young spricht in diesem Zusammenhang vom »Hacker-Mythos«, »the idea that computers offer unearned and uncontrollable power over the real world to irresponsible subjects«.7 Hacker erscheinen in dieser Perspektive als »dissident computer users«, die sich bei ihrem ästhetisch motivierten Spiel mit der Technik nicht um Recht und Anstand scheren und darum eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. Zumindest teilweise haben Hacker den Nimbus des Staatszersetzenden mittlerweile aber eingebüßt.8 So wurden 2010 mehrere Mitglieder des Chaos Computer Clubs, der Keimzelle der Hacker-Bewegung in Deutschland, als Sachverständige in die Digital-Enquetekommission des Deutschen Bundestags berufen. Die Hacker haben sich, wie die Wochenzeitung Die Zeit in
5
Bruce Sterling: The Hacker Crackdown. Law and Disorder on the Electronic
6
Young: The Cinema Dreams (Anm. 1), S. 199.
7
Ebd., S. 198.
8
In diesem Zusammenhang ist auch die Reportage aufschlussreich, in der Levy
Frontier. New York 1992, S. 52.
schildert, wie er ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen seines HackerBuchs noch einmal einige der damals Porträtierten besucht. Vgl. Steven Levy: »Geek Power: Steven Levy Revisits Tech Titans, Hackers, Idealists«, in: Wired (Mai 2010) [http://www.wired.com/magazine/2010/04/ff_hackers/; Zugriff: 27. April 2010].
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diesem Zusammenhang schreibt, »von angefeindeten Chaoten zu umworbenen Experten« gewandelt.9 Trotzdem bleibt ihnen gegenüber ein Restverdacht bestehen. Dafür sorgt der Umstand, dass der Hacker-Mythos seit der Verbreitung des Heimcomputers in verschiedenen Medien beharrlich kolportiert wird. Wie stark dabei die digitale und die nicht-digitale Sphäre konvergieren, veranschaulicht etwa ein Vergleich des Covers zu dem Videospiel Hacker (1985) und des Plakats zu John Badhams Film WarGames (USA 1983). Sie sind beide mehr oder weniger zur gleichen Zeit entstanden wie Levys Buch. Hinsichtlich der Ikonografie, welche sie zur Darstellung des Hackers aufrufen, ähneln die beiden einander deutlich: Sie reproduzieren das angstbeladene Bild vom jugendlichen männlichen Computer-User, der in seinem Kämmerlein vor dem Bildschirm eines Rechners sitzt, auf dem für den Außenstehenden nicht nachvollziehbare Chiffren erscheinen, die ohne Zweifel von illegalem Tun zeugen. Wesentlich ambivalenter als die durch das Werbeplakat kreierte Imago ist hingegen das Rollenbild des Hackers, das in der Handlung von WarGames zum Tragen kommt. Der Film illustriert geradezu exemplarisch die beiden widersprüchlichen Aspekte, die dieses prägen: Der Protagonist David (Matthew Broderick) wird gleichzeitig als gesellschaftsbedrohender Outlaw und als Kämpfer gegen gefährliche Mächte gezeigt. Der Highschool-Schüler versucht, sich von seinem Heimcomputer aus in die Datenbank einer Softwarefirma einzuloggen, um Zugriff auf ein paar neue Videospiele zu bekommen, bevor diese offiziell auf dem Markt erscheinen. Dummerweise gerät er jedoch an den falschen Rechner. Man könnte sagen: Er verwählt sich – und landet in dem Supercomputer, der die Nuklearsprengköpfe der Vereinigten Staaten kontrolliert. Der Hauptfigur gelingt es, dessen Passwort zu knacken. Und wie David will auch der Supercomputer einfach nur spielen, worauf der jugendliche Hacker gern eingeht. Aus der Liste der zur Verfügung stehenden Programme wählt er »Global Thermonuclear War«. Was David nicht weiß und nicht wissen kann: der Rechner ist nicht in der Lage, zwischen Spiel und Realität zu unterscheiden, und bereitet sich tatsächlich darauf vor, die Atomraketen der USA auf die Russen abzufeuern.
9
Kai Biermann, Stefan Schmitt: »Die guten Hacker werden 30«, in: Die Zeit online (8. September 2011) [http://www.zeit.de/2011/37/Chaos-Computer-Club; Zugriff: 29. Oktober 2011].
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Durch seine Unbedarftheit hat der Hacker die Welt an den Rand eines Nuklearkriegs gebracht. Letzten Endes ist aber nicht er der Verantwortliche für die drohende Katastrophe, sondern die militärischen Führungskräfte, die in ihrem ›war room‹ längst die Kontrolle über den Supercomputer verloren haben. Der Film stellt sie als vollkommen unfähig dar. Sie haben dem Rechner direkten Zugriff auf die Atomraketen gewährt, um das menschliche Element und dessen Unzuverlässigkeit aus der Befehlskette zu eliminieren. Das erweist sich nun als verheerender Fehler. Denn obwohl David das Spiel abbrechen will, ist der Rechner entschlossen, die Partie fortzuführen und die Raketen zu starten. Keiner der Militärs kann ihn davon abbringen. Allein David gelingt dies schließlich: In einem hanebüchenen Showdown spielt er gegen den Computer Tic Tac Toe – jenes Zwei-PersonenStrategiespiel, bei dem auf ein drei mal drei Kästchen großes Feld abwechselnd Kreuze und Kreise gesetzt werden. Auf diese Weise wird das Elektronenhirn zu der Einsicht gebracht, dass es besser ist, die Atombomben nicht zu zünden, da es beim Dritten Weltkrieg, genau so wie bei Tic Tac Toe, keinen Sieger geben kann. Oder, wie der Computer formuliert: »The only winning move is not to play.«10 Was könnte es Heldenhafteres geben, als die Menschheit vor einem Nuklearkrieg zu retten? Der Name der Hauptfigur, die in dem Supercomputer einen wahren Goliath zum Gegner hat, ruft ein biblisches Vorbild auf. Die Variante des Heroischen, die hier zum Vorschein kommt, hebt sich – wie auch schon der alttestamentarische David – deutlich von der muskelbepackten Spielart des Kriegshelden ab. Hacker wie Matthew Brodericks David distanzieren sich von dieser nicht zuletzt durch ein Selbstverständnis, das durch den Rollentypus ›Nerd‹ beschrieben wird.
III. N ERDS Das Slangwort ›Nerd‹ verbreitete sich in den 1960er Jahren zunächst im amerikanischen Englisch. In seiner allgemeinsten Variante bezeichnet es Personen, die sich durch außergewöhnliche Begabung in einem bestimmten Wissensgebiet auszeichnen, gleichzeitig starke Defizite hinsichtlich ihrer ›social skills‹ aufweisen und durch Unsportlichkeit und mangelnde körper-
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liche Attraktivität auffallen. Parallel zum Aufkommen der digitalen Subkultur wird das Wort in erster Linie zu einer Bezeichnung für junge männliche Computer-Bastler und -Programmierer. Deren Titulierung als Nerds unterstreicht ihre – vermeintliche oder tatsächliche – Unfähigkeit, in Kontexten, die nichts mit Digitaltechnologie zu tun haben, soziales Kapital zu akkumulieren. Diese Unfähigkeit rührt daher, so die Unterstellung, dass sie nicht in der Lage sind, Gespräche über andere Themen als Hard- und Software zu führen, dass sie überdies notorisch schlecht gekleidet, unattraktiv und ungeschickt sind und dass sie aus all diesen Gründen schlecht bei Frauen ankommen. In den 1980ern entwickelte sich der Nerd zu einer Figur der popkulturellen Sozialtypologie, die mit der Gestalt des Hackers in Teilen deckungsgleich ist. Einen entscheidenden Beitrag hierzu leistete – vor allem durch ihre Hauptfigur Lewis Skolnick (Robert Carradine) – die seinerzeit recht erfolgreiche Klamauk-Filmkomödie Revenge of the Nerds (USA 1984, R: Jeff Kanew), die aus demselben Jahr stammt wie Levys Hacker. Sie erzählt, wie eine Gruppe von Studenten, bei denen es sich um waschechte Nerds handelt, von den Mitgliedern des College-Football-Teams terrorisiert werden, bis sie sich schließlich erfolgreich zur Wehr setzen. Revenge of the Nerds demonstriert, wie zentral das Fehlen klassischer männlicher Attribute für den Nerd ist. Bei den Gegenspielern der Nerds handelt es sich um ›echte Kerle‹, die fortwährend Bier in sich hineinschütten und trotzdem gut gebaute Sportskanonen sind, weswegen sie auch von den bestaussehenden Kommilitoninnen umringt werden. ›Jocks‹ werden solche Studenten in der fein ausdifferenzierten Campus-Sozialtypologie an nordamerikanischen Universitäten genannt. Im Gegensatz zu ihnen sind die Nerds schlaksige, unbeholfene, fast kindliche Typen, für die nur die übergewichtigen Mauerblümchen der Omega-Mu-Studentinnenverbindung zum Tanzen übrig bleiben. Die beiden Fraktionen kämpfen in dem Film um soziale Anerkennung und Ressourcen – es geht darum, wer in die knappen Wohngebäude auf dem Campus einziehen darf. Nicht nur in der Fiktion ist der Mikrokosmos College ein Abbild der gesellschaftlichen Realität der USA, und so repräsentiert die Rivalität zwischen den sportlichen Jungs und den Technikfreaks in Revenge of the Nerds eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um politische und wirtschaftliche Vormachtstellung. Mittlerweile haben die Technikfreaks den Konflikt für sich entschieden – zumindest wenn man
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den ökonomischen Erfolg als Gradmesser heranzieht, den die ehemaligen Garagenfirmen der nerdigen Computerbastler mittlerweile verzeichnen. The Nerds Have Won war bereits im Jahr 2000 ein Artikel im American Scientist überschrieben.11 Anlass war die angekündigte Übernahme des Medienimperiums Time Warner durch das Online-Unternehmen AOL. Dass die Internetblase kurz darauf geplatzt ist, hat den wirtschaftlichen Aufstieg der Nerds lediglich gebremst, keineswegs aufgehalten. Im Zuge der Verbreitung digitaler Technologien sind sie die Stützen der Gesellschaft geworden. Die Kaste der Superreichen rekrutiert sich zu einem nicht unerheblichen Teil aus ihren Reihen. Eines der prominentesten Beispiele ist der FacebookGründer Mark Zuckerberg. Wie stabil die Zuschreibung der Nerd-Attribute ist, zeigt sich in diesem Zusammenhang an dem Film The Social Network (USA 2010), den David Fincher über Zuckerberg gedreht hat. Zur Charakterisierung der Hauptfigur wird dort vor allem auf das althergebrachte Nerd-Stereotyp zurückgegriffen – was sich etwa deutlich an der schauspielerischen Darstellung durch Jesse Eisenberg zeigt. Dessen Zuckerberg zeichnet sich durch ein mangelndes zwischenmenschliches Einfühlungsvermögen aus, das ans Autistische grenzt. Dies tritt besonders deutlich hervor im Vergleich zu den strahlenden, auf sozialem Parkett äußerst gewandten Winklevoss-Zwillingen (Armie Hammer, Josh Pence). Bei ihnen handelt es sich um echte Jock-Typen, neben deren athletischen Körpern Eisenbergs Zuckerberg mit seiner schlaksigen Haltung genauso defizient wirkt wie die Protagonisten in Revenge of the Nerds neben ihren Widersachern vom Football-Team. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Filmen besteht in dieser Hinsicht darin, dass hier kein gesichtsloses fiktives College als Kulisse dient, sondern das noble Harvard. Der auch in der Realität gerichtlich ausgefochtene Streit zwischen den Winklevoss-Brüdern und Zuckerberg liefert The Social Network seine Rahmenhandlung. Er kreist um die Frage, ob Zuckerberg die Idee zu Facebook von den Zwillingen gestohlen hat. Zumindest in der Version Finchers (bzw. des Drehbuchautors Aaron Sorkin) hintergeht er die beiden tatsächlich. Der
11 Brian Hayes: »The Nerds Have Won«, in: American Scientist 88/3 (Mai-Juni 2000) [http://www.americanscientist.org/issues/pub/the-nerds-have-won; Zugriff: 29. Oktober 2011]. (Bei dem Titel handelt es sich um einen ursprünglich in der New York Times zitierten Ausspruch eines Investmentbankers.)
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Nerd wird als jemand gezeigt, dem u. a. auch der moralische Kompass fehlt – was möglicherweise weniger von Hinterhältigkeit zeugt als vielmehr wiederum von sozialer Inkompetenz, von mangelndem Gespür für die Regeln gesitteten Umgangs. Jedenfalls erscheint der Nerd in dieser Perspektive aufgrund unzureichender ethischer Kalibrierung als eine Gefahr für seine Mitmenschen. Diese Charakterisierung ist allerdings untypisch, zumindest wenn man den Erklärungsansatz der Soziologin Lori Kendall heranzieht. Für sie liegt die kulturelle Funktion des Nerd-Stereotyps darin, die Ängste vor der fremden neuen Technologie zu kanalisieren: Es lässt Computer als ebenso wenig bedrohlich erscheinen wie die Nerds, die zwar den Umgang mit ihnen beherrschen, aber ansonsten harmlose Versager sind, körperlich schwach, ungeschickt und sexuell nicht konkurrenzfähig.12 Obwohl dieses Rollenbild wenig Vorteilhaftes an sich hat, dient es den Angehörigen der Hacker-Szene häufig zur Selbstbeschreibung. Die Vertreter der Cyberkultur weisen damit zentrale Merkmale von sich, die den klassischen Heroen von Achilles bis Superman ausmachen: das Hinauswachsen über physische Grenzen, ostentative Virilität und die Anmutung sexueller Potenz.13 Das lässt sich auch an David aus WarGames zeigen, obwohl er zunächst keineswegs ein Nerd zu sein scheint. Er ist der charmante Junge von nebenan und hat durchaus einen gewissen unschuldigen Sex Appeal. Damit hebt er sich von seinen beiden Hacker-Kumpels ab, von denen der eine die gängige Nerd-Ikonografie bedient, indem er klobige Brille und unmodisches Holzfällerhemd trägt, während der andere ungepflegt und übergewichtig vor dem Monitor sitzt. Doch auch David offenbart schließlich nerdtypische Unsportlichkeit, als sich herausstellt, dass er nicht schwimmen kann. Der Film betont diesen Umstand, indem er hervorhebt, dass Davids Freundin Jennifer (Ally Sheedy) im Gegensatz zu ihm eine wahre Sportskanone ist, die wir beim Joggen und bei Gymnastikübungen zu sehen bekommen. Da David seinem Schwarm in dieser Hinsicht unterlegen ist, versucht er erst gar nicht, sie durch körperliche Aktivitäten zu beeindrucken, sondern – ebenfalls nerdtypisch – durch seine informationstechnische
12 Lori Kendall: »Nerd nation. Images of nerds in US popular culture«, in: International Journal of Cultural Studies 2 (1999), S. 260-283. 13 Was nicht bedeutet, dass potente, virile Figuren automatisch Heroisches an sich hätten. Die Gegenspieler der Nerds in Revenge of the Nerds sind hierfür etwa viel zu hinterhältig und dämlich.
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Kompetenz: Er hackt sich in den Schulrechner und bessert ihre BiologieNote auf. Die Figur David illustriert, dass sich die Protagonisten der Cyberkultur nicht der Überwindung körperlicher, sondern kognitiver Schranken verschrieben haben. Die Computer, die sie hierzu verwenden, unterscheiden sich grundlegend von klassischen Heroeninstrumenten wie etwa der Steinschleuder des alttestamentarischen David. Sie sind eben keine Instrumente, sondern Apparate.14 Man bedient sich ihrer nicht einfach nur, sondern unterwirft sich dabei immer auch ihrer Eigengesetzlichkeit. Wenn die Hacker und Nerds zur Umsetzung heldenhafter Ziele auf Computer zurückgreifen, kommt das daher eher einer Geste der Fremd- als der Selbstermächtigung gleich. Und wenn das Fundament des Heroischen die Sehnsucht nach Selbstermächtigung ist, dann haben wir es hier nicht mit originärem, möglicherweise mit korrumpiertem Heldentum zu tun – was zumindest ein Strukturproblem der Heroismuskonzeption der Computerkultur offenbart. Dieses besteht nicht darin, dass hier Selbst- durch Fremdermächtigung abgelöst würde. Vielmehr wird die Unterscheidung zwischen den beiden dekonstruiert. Es kann nicht mehr eindeutig benannt werden, wem das Heldentum zuzuschreiben ist – dem Computer oder dem Menschen, der davor sitzt.15 Dem Dilemma wird durch Figuren begegnet, die gerade in filmischen Erzählungen über die digitale Kultur immer wieder auftauchen und die jene vormodernen Muster des Heroischen zu implementieren versuchen, welche durch den Nerd negiert werden. Beispiele hierfür sind Kevin Flynn (Jeff Bridges) aus Tron (USA 1982, R: Steven Lisberger) und Neo (Keanu Reeves) aus The Matrix (USA 1999, R: Andy und Lana Wachowski). Beson-
14 Zum Begriffspaar Instrument/Apparat vgl. Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt a. M. 2000, S. 73-94. 15 Allgemeiner gefasst beruht das Problem darauf, dass sich gewisse Dualismen spätestens im Kontext digitaler Technologien nicht mehr aufrechterhalten lassen. Das zeigt sich auch an den gegenwärtig im neokybernetischen Lager geführten Diskussionen über die Notwendigkeit dynamischerer Konzepte von systemischer Schließung und Öffnung, wie sie etwa dokumentiert werden in Bruce Clarke, Mark B. N. Hansen (Hg.): Emergence and Embodiment. New Essays on Second-Order Systems Theory. Durham, London 2009.
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ders deutlich zeigt der Film The Lawnmower Man (Großbritannien/USA/ Japan 1992, R: Brett Leonard), wie die besagten Muster durch die CyberMythologie adaptiert werden.
IV. Ü BERMENSCHEN Im Mittelpunkt von The Lawnmower Man steht ein Wissenschaftler nicht näher spezifizierter disziplinärer Provenienz. Offenbar handelt es sich um eine Mischung aus experimentellem Psychologen und Computeringenieur. Dr. Angelo (Pierce Brosnan) erforscht, wie sich die Intelligenz von Affen durch den Einsatz Virtueller Realität erhöhen lässt. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse will er auf den Menschen übertragen. »Virtuelle Realität ist der Schlüssel zur Entwicklung des menschlichen Bewusstseins«,16 erklärt er. Als der Schimpanse, mit dem er fünf Jahre lang experimentiert hat, aus dem Labor entkommt und auf der Flucht erschossen wird, rekrutiert er ein neues Versuchsobjekt: Er unterrichtet den geistig zurückgebliebenen Hilfsgärtner Jobe (Jeff Fahey) in der Benutzung des Cyberspace, wobei zunächst Tastatur und Maus zum Einsatz kommen, dann aber auch futuristischere Gerätschaften wie Datenbrille, -handschuh und -anzug. Mithilfe einer Lernsoftware erwirbt Jobe das ihm fehlende Allgemeinwissen und steigert seine Intelligenz – mit umwerfendem Erfolg. Die rasante Entwicklung, die durch die Interaktion mit dem Computersystem in Gang gesetzt wird, kommt einer Metamorphose gleich, in deren Verlauf der ursprüngliche ›underperformer‹ weit über sich hinauswächst. Sie erfasst sowohl seine körperlichen als auch seine kognitiven Fähigkeiten. Laut Einschätzung Dr. Angelos befindet Jobe sich am Anfang des Films auf dem geistigen Stand eines Sechsjährigen. Er ist im kindlichen Entwicklungsstadium stehengeblieben, ist ein unfertiges Wesen. Doch mithilfe der Virtuellen Realität (und unter Zugabe von Medikamenten) gelingt es, seine Hirnkapazität in atemberaubender Geschwindigkeit auszubauen. In weniger als zwei Stunden lernt er Latein. So mutiert er in kürzester Zeit zum intellektuell voll ausgebildeten Erwachsenen und schließlich zum hochgebildeten Genie, das seinen Mitmenschen geistig weit überlegen ist – auch seinem »Schöpfer« Dr. Angelo, der auch Dr. Frankenstein heißen könnte. Doch die
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Metamorphose des Protagonisten rekurriert nicht nur, wie etwa Young betont, auf den Frankenstein-, sondern auch auf den Hacker-Mythos. Denn unter anderem wird Jobe zum Computerexperten, der mit dem VirtualReality-System bald besser umzugehen weiß als Dr. Angelo. Ganz in Hacker-Manier verschafft er sich heimlich Zugang zu dem System, indem er nachts ins Labor einbricht, um am Rechner herumzuspielen bzw. mit seiner Freundin Marnie (Jenny Wright) Cybersex zu haben. Ebenfalls hackertypisch ist sein Urteil über traditionelle Medien, zu dem er gelangt, nachdem er sich per Computer einen Großteil des klassischen Bildungskanons einverleibt hat: »Gegen die virtuelle Realität sind Bücher doch völlig veraltet.«17 Von der sonst üblichen Deckungsgleichheit des Hacker- mit dem NerdTypus weicht der Film ab. Zu Beginn, als er noch meilenweit vom Technikverständnis eines Hackers entfernt ist, weist Jobe die typische körperliche Insuffizienz eines Nerds auf. Mit seinem ungepflegten Haar steckt er in einem labbrigen Overall, der ihm eine unförmige Statur verleiht (Abb. 1).
Abb. 1
Abb. 2
Durch das Training in der Virtuellen Realität wird er dann aber offenbar nicht nur intellektuell, sondern auch körperlich optimiert. Der Prozess manifestiert sich auch in modischer Hinsicht, wenn Jobe den Overall gegen eine hautenge Jeans tauscht und seine Frisur auf Vordermann bringt. Als er schließlich mit entblößtem Oberkörper auftritt, kommt plötzlich eine durchtrainierte Brust zum Vorschein (Abb. 2). Solch ein muskulöser Körper ist keineswegs der eines Nerds. Aus Jobes Leib ist Heldenmaterial geworden. Es wird den Zuschauern in einer Szene präsentiert, in welcher der sexuell
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bislang Unerfahrene von der bereits erwähnten Marnie, einer wohlhabenden Witwe aus der Nachbarschaft, in die körperliche Liebe eingeführt wird. Diese ›rite de passage‹ kann im Übrigen als Etappe der klassischen Heldenreise gelesen werden, deren Züge Jobes Entwicklung vom tumben Tor zum Universalgenie trägt. Diese Reise führt ihn über die vollendete Beherrschung des eigenen Körpers an einen Punkt, an dem er dessen Materialität überwindet. Wie sich herausstellt, verändern der intensive Kontakt mit der Virtuellen Realität und die Medikamente, die Dr. Angelo ihm verabreicht, die neuronale Struktur des Gehirns – und zwar so nachhaltig, dass Jobe telepathische und telekinetische Kräfte entwickelt. Hinzu kommen einige weitere Fähigkeiten, welche die bekannten Gesetze der Physik sprengen und an Comic-Superhelden erinnern. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Jobe sich schließlich ein superheldenmäßiges Outfit zulegt (Abb. 3). Iro-
Abb. 3
Abb. 4
nischerweise handelt es sich dabei um eine Art Datenanzug, wie er in ähnlicher Form auch von dem am Anfang aus dem Labor entflohenen Schimpansen getragen wurde, den der damals noch geistig beschränkte Jobe darum für eine Comicfigur hielt. Die Apparatur in Dr. Angelos Computerlabor, in der Jobe mit seinem Datenanzug steckt, erinnert stark an Leonardo da Vincis berühmte Proportionsstudie der menschlichen Gestalt nach Vitruv (Abb. 4). Auch andere populäre Bildmotive aus der Renaissance spielen in den Laborszenen eine Rolle. So wird der Mauszeiger der Lernsoftware mit der Hand Gottes aus Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle identifiziert. Solche Referenzen erklären sich zum einen daraus, dass die universelle Bildung, die Jobe im Cyberspace erwirbt, einem frühneuzeitlichen Ideal entspricht. Er verwandelt sich in einen wahren ›Renaissance Man‹ – ein Ausdruck, der im Englischen eine Person von breit gefächerter Gelehrtheit be-
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zeichnet. Zum anderen stehen sowohl Michelangelos Erschaffung des Adam als auch Leonardos ›homo ad circulum‹ emblematisch für den in der Frühmoderne verorteten Aufbruch ins wissenschaftliche Zeitalter und somit für den Ursprung jener Entwicklungslinie, in die sich auch die Hacker und ihre Computer einreihen. Die Entwicklung der Hauptfigur wird dadurch in einen makrohistorischen Zusammenhang gestellt. Entscheidend ist dabei, dass Jobes Metamorphose einem computergestützten Reenactment der gesamten Kulturgeschichte gleichkommt. Zu Beginn befindet er sich in einem quasi prähistorischen Stadium, wirkt mit seinen verfilzten Haaren wie ein Höhlenmensch, der nicht einmal lesen und schreiben kann. Im Laufe von Dr. Angelos Behandlung durchlebt er in der Virtuellen Realität die gesamte Zivilisationsgeschichte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – und macht sich schließlich daran, sie weiter voranzutreiben und am eigenen Leib den zivilisatorischen Sprung vorwegzunehmen, den manche Propheten der Cyberkultur der Menschheit für die digitale Zukunft verheißen: Er verwandelt sich in pure Energie und löst sich im globalen Datennetz auf. So vollzieht er endgültig die Transformation vom Menschlichen zum Übermenschlichen, die für Helden kennzeichnend ist. Jobes finale Entkörperlichung ist nichts anderes als die Realisierung des Hacker-Ideals vom uneingeschränkten Informationszugang im Modus des Phantastischen. Bislang war das Prozessieren externer Information im menschlichen Bewusstsein durch Raum und Zeit begrenzt, da jeder Medienverbund, über den Information aufgenommen werden kann, zwangsläufig den materiellen Körper mit seinen Sinnesorganen einschließt. Es ist diese Barriere, die Jobe am Ende des Films durchbricht. Als Bewusstsein ohne Leib wird er fortan an jedem Ort des World Wide Web zugleich sein und in Echtzeit auf das gesamte darin enthaltene Wissen zugreifen können. Die Virtuelle Realität sei in dieser Hinsicht das Utopia, das die Menschheit schon immer erträumt habe, erklärt Jobe Dr. Angelo. Er erweist sich mit dieser Aussage als Verfechter eines teleologischen Geschichtsmodells, das für technizistische Ideologien wie die der digitalen Kultur kennzeichnend ist. Es beruht auf der Auffassung, die Computertechnologie sei im Begriff, ein neues, besseres Zeitalter zu begründen, in dem die bislang geltenden Konstanten der Zivilisation – wie die Körpergebundenheit menschlicher Informationsverarbeitung – revidiert würden. Damit wird aber keineswegs auf einen vollständigen Bruch mit dem kulturellen Erbe abgezielt. Eher schon ist dessen Aufhebung im Hegel’schen Sinne intendiert. Aus diesem
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Grund verlangt ein derart gelagertes Geschichtsmodell nach Helden, die die bisherige Historie der Zivilisation integrieren und für die digitale Revolution und die auf sie folgende Zukunft verfügbar machen. Genau dies leistet Jobe mit dem kulturgeschichtlichen Reenactment im Virtual-Reality-Labor. Es versetzt ihn in die Lage, als erster Mensch in ein radikal neues, entkörperlichtes Stadium einzutreten und dieses für den Rest von uns zu erschließen, indem er für eine Kontinuität des Bildungskanons sorgt. Er sieht sich als Wegbereiter einer neuen Ordnung, als messianischer Held und nennt sich »Cyber-Christus«.18 Was hier überzeichnet wird, ist das latent ebenfalls messianische Rollenbild der Hacker und Nerds. Diesem ist der Traum vom Übermenschentum eingeschrieben, wie sich an Jobe zeigt. Ihrem Selbstverständnis nach stellen die Protagonisten der digitalen Kultur nicht nur eine technologische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Avantgarde dar. Sie sehen sich als Wegbereiter einer Ära, in der die unbeschränkte Verfügbarkeit von Information bislang ungeahnte zivilisatorische Dynamiken freisetzen wird. Die Negation althergebrachter körperlicher Attribute von Heroen ist für die Gründer der neuen Ordnung essenziell, da die Entkörperlichung der Letzthorizont des zugrunde liegenden Heldenmodells und der dahinter stehenden Geschichtskonzeption ist. Warum werden dann aber Jobe und andere Filmheroen, welche die Hacker-Subkultur repräsentieren, mit diesen Attributen ausgestattet? Man könnte dies mit dem traditionellen Heldenverständnis des Hollywood-Kinos erklären – oder damit, dass auf diese Weise die mangeln-
18 Allerdings hat sich zu diesem Zeitpunkt Jobes Heldentum längst ins Gegenteil verkehrt. Er ist zum bösartigen Monster geworden, das sich brutal an denen rächt, die ihn früher, als er noch der ›town idiot‹ war, gehänselt haben. Doch obwohl der Einfluss der Virtuellen Realität Jobes körperliche und geistige Optimierung ausgelöst hat, ist er nicht für seine Verrohung verantwortlich. Die rührt daher, dass der Leiter des Labors Jobe ohne das Wissen Dr. Angelos aggressionsfördernde Drogen verabreicht hat, um militärischen Nutzen aus den Versuchen im Cyberspace ziehen zu können. Wie in WarGames sind es auch hier militärische Entscheidungsträger, die durch ihr unbedachtes Handeln die digitale Technologie zur Gefahr werden lassen. Auch das entspricht dem Selbstverständnis der Hacker als Helden: Sie müssen Probleme lösen, die gar nicht erst entstanden wären, wenn die technologisch Unverständigen nicht eigenmächtig gehandelt hätten.
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de heroische Statur des Nerds kompensiert und das angesprochene Strukturproblem adressiert wird, welches darin besteht, dass die Computertechnik ein wenig überzeugendes Heroeninstrument ist, da sie eher im Dienste einer Fremd- als einer Selbstermächtigung steht. Ebenso aber sind Figuren wie Jobe oder Neo (so unterschiedlich sie ansonsten sein mögen) als paradoxe Illustrationen des digitalen Heldentyps lesbar. Sie subtrahieren vom Hacker das Unheroische des Nerds und rücken ihn näher an den klassischen, von körperlicher Stärke geprägten Helden heran. Doch ihre kraftvollen Leiber stehen zu ihrem Heldentum lediglich in einer semiotischen, nicht in einer funktionalen Beziehung. So wird Jobe durch seinen Körper als Held markiert, ohne dass er ihn für seine messianischen Ziele benötigen würde. Er muss sich seiner sogar entledigen, um diese umzusetzen. Hierzu übersteigert er seine körperliche Potenz so weit, dass sie schließlich in ihr Gegenteil, in die Entkörperlichung umschlägt. Für die Heroenkonzeption, die sich durch diesen Prozess verwirklicht, ist der Körper nicht einfach nur überflüssig. Vielmehr realisiert sie sich erst vollends durch dessen Überwindung. Es ist ein dialektischer Prozess, in dem sich die Aufhebung des kulturellen Erbes spiegelt, welche die digitale Kultur anstrebt.19
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Ausblickend möchte ich noch ein real- und nicht filmweltliches Beispiel anführen, an dem sich der Heldenstatus zeigt, der den ökonomischen und ideologischen Leitfiguren der digitalen Kultur mitunter zugesprochen wird. Es handelt sich um das in dieser Hinsicht gegenwärtig vielleicht eingängigste Beispiel: den im Oktober 2011 verstorbenen Gründer des AppleKonzerns Steve Jobs. Dessen öffentliche Wahrnehmung war und ist dadurch geprägt, dass er die drei hier verhandelten Typen – Hacker, Nerd, Übermensch – in sich zu vereinen scheint.
19 Weniger als Dialektik, vielmehr als Versöhnung wird die Konfrontation des muskelbepackten Helden klassischen Zuschnitts (John McClane alias Bruce Willis) und des Nerds mit Heroenpotenzial (Matt Ferrell alias Justin Long) in Live Free or Die Hard (USA 2007, R: Len Wiseman), dem vierten Teil der DieHard-Reihe, inszeniert.
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Zwar ist es zweifelhaft, wie ausgeprägt das für das Hackertum unabdingbare technische Verständnis bei Jobs tatsächlich war. Gerade in der Anfangszeit von Apple dürfte er vorwiegend von der Expertise seines Partners Steve Wozniak gezehrt haben, den Levy als Repräsentanten der Hacker-Bewegung porträtiert hat. Wahrhaft hackerwürdig aber ist die Rolle des Microsoft-Gegenspielers, zu dem Jobs stilisiert wurde, des David, der gegen den proprietären Goliath ankämpft. So beruht der Erfolg seiner Heldenrolle zu einem erheblichen Teil darauf, dass er es schaffte, auch dann noch als David wahrgenommen zu werden, als Apple bereits weit proprietärer agierte als der Microsoft-Konzern und diesen hinsichtlich des Gewinns überflügelt hatte. Was den Rollentypus des Nerds angeht, so realisiert sich dieser in der Figur Jobs weniger durch mangelnde Virilität als vielmehr durch defizitäre Sozialkompetenz. Walter Isaacsons Biografie, die nur wenige Tage nach Jobs’ Tod erschien und von diesem noch zu Lebzeiten autorisiert wurde, weiß davon ausführlich zu berichten.20 Das Übermenschentum schließlich offenbart sich vor allem im Zusammenhang mit der Werbeikone Jobs. Diese steht für das Reklameversprechen, dass auch die Käufer mithilfe der Produkte von Apple zu Übermenschen werden – da sie durch die Symbiose mit den digitalen Apparaten, die ihnen einen Informationszugang bislang ungekannter Reichweite verschaffen, über sich hinauswachsen. Insofern ist die Heldenimago des Apple-Gründers Jobs als visionärer Wegbereiter der Zukunft mit der von Jobe aus The Lawnmower Man vergleichbar. Es geht an dieser Stelle nicht darum, die kulturgeschichtliche Bedeutung des Steve Jobs zu bewerten. Ich führe dieses Beispiel lediglich an, um eine abschließende Hypothese vorzuschlagen: Der Stellenwert dieser Leitfigur der digitalen Kultur erklärt sich – ebenso wie der Stellenwert anderer derartiger Leitfiguren – daraus, dass sie die in der Populärkultur, etwa in den untersuchten Hollywood-Filmen, präfigurierte Konzeption eines cyberkulturellen Helden aufgreift und deren Facetten Hacker, Nerd und Übermensch auf sich vereint. Damit tritt ein Heroenmodell in Erscheinung, das die in dem vorliegenden Band behandelten traditionelleren Heldenkonzepte für eine vom Primat des Technologischen aus gedachte Zukunft verfügbar zu machen versucht.
20 Vgl. Walter Isaacson: Steve Jobs. Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers. München 2011.
Beiträgerinnen und Beiträger
PD Dr. MARTIN DISSELKAMP, Privatdozent für Neuere deutsche Philologie an der TU Berlin. – Forschungsschwerpunkte: Heroismuskonzeptionen, Literatur und politische Ideengeschichte, Antikerezeption, Rom-Vorstellungen in der Frühen Neuzeit, Geschichte der Gelehrsamkeit, frühneuzeitliche Topographie und Geographie, Johann Joachim Winckelmann. – Publikationen in Auswahl: Die Stadt der Gelehrten. Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom (1993); Barockheroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts (2002); Edition: Nachricht von Realis de Vienna Prüfung des Europischen Verstandes durch di Weltweise Geschicht (2005); Edition: Justus Lipsius: Admiranda (2007). Dr. CLAUDIA SIMONE DORCHAIN, geb. 1976, Unternehmerin, Doktorin der Philosophie. – Forschungsschwerpunkte: Ontologie, vergleichende religionswissenschaftliche Studien zum Ursprung und zur Normativität von Gewalt, Ästhetik der Gewalt, Machtrepräsentation und Medien. – Publikationen in Auswahl: Grund und Erkennen in deutschen Predigten Meister Eckharts (2004, zgl. Diss. Universität Rostock); Die Gewalt des Heiligen – Legitimationen souveräner Macht (2012); Contemporary Jewish Reality and Its Reflection in Film (2012). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Judentum und Verbrechen. Prof. Dr. JOSEF FRÜCHTL, geb. 1954, Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Kunst und Kultur an der Universität von Amsterdam (UvA). – Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Kritische Theorie, Theorie der Moderne, Philosophie des Films. – Publikationen in Auswahl: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno (1985); Geist gegen den Zeit-
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geist. Erinnern an Adorno (zus. mit M. Calloni, 1991); Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil (1996); Ästhetik der Inszenierung (zusammen mit J. Zimmermann, 2001); Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne (2004) / The Impertinent Self. A Heroic History of Modernity (2009). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films. Dr. IRINA GRADINARI, geb. 1974, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. – Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Komparatistik, Gender und Queer Studies, Psychoanalyse, Erinnerungstheorien und Film Studies. – Publikationen in Auswahl: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (2011); Geschlechter-Szene: Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater (2010) (zusammen mit Franziska Bergmann und Antonia Eder). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Filmische Erinnerungspolitik in den ost-, westdeutschen und (post-)sowjetischen Kriegsfilmen nach 1945. Dr. CLAUDE HAAS, geb. 1975, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. – Forschungsschwerpunkte: Gattungspolitik, Heroismus und Souveränität, Deutsch-Französische Literaturbeziehungen, Kulturanthropologie. – Publikationen in Auswahl: Arbeit am Abscheu. Zu Thomas Bernhards Prosa (2007); als Mithg.: Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik (2012). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Trauerspiel und Tragödie. PD Dr. MATTHÄUS HEIL, geb. 1960, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2006 bis 2011 Professor für Alte Geschichte an der TU Berlin. – Forschungsschwerpunkte: Römische Kaiserzeit, griechische und lateinische Epigraphik. – Publikationen in Auswahl: Die orientalische Außenpolitik des Kaisers Nero (1997); (Mitarb. und Hg.) Prosopographia Imperii Romani. Bd. 6-8 (1998– 2009); (Mithg.) Senatores populi Romani (2005); Die Jubilarfeiern der römischen Kaiser, in: H.-U. Wiemer, H. Beck (Hg.): Feiern und Erinnern (2009), S. 167-202; Die Griechen und der Anfang der Geschichte, in: M. Disselkamp, C. Baum (Hg.): Mythos Ursprung (2011), S. 11-26. – Derzeitiges Forschungsprojekt: Prosopographia Imperii Romani (Abschluss).
B EITRÄGERINNEN
UND
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Dr. SANDRO HOLZHEIMER, geb. 1981, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; 2011 Promotion an der Universität Bamberg mit einer Arbeit zum politischen Denken Heinrich Manns anhand der sog. Kaiserreich-Trilogie und Essays der zehner und zwanziger Jahre (Veröffentlichung in Vorbereitung). – Forschungsschwerpunkte: Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts, Literatur und Politik, Literatur und Wissen(schaft)sgeschichte, Kulturtheorie, Intermedialität – Publikationen: Beiträge zu Heinrich Mann und zum literarischen Aktivismus, zur Literatur der Gegenwart und zur symbolischen Dimension des Terrorismus. – Derzeitiges Forschungs- und Habilitationsprojekt: Wissen und Gemüt – Gelassenheit als epistemische Tugend um 1700. Dr. NIKOLAS IMMER, geb. 1978, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Trier. – Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Editionsphilologie, Lyriktheorie, Kulturästhetik. – Publikationen in Auswahl: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (2008); Edition: Christoph Martin Wieland: Werke. Bd. 7.1: Don Sylvio und Werke 1764–1766 (2009); Edition: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 9.1 N: Maria Stuart (2010). – Derzeitiges Forschungs- und Habilitationsprojekt: Mnemopoetik. Konzeptualisierungen von Erinnerung und Gedächtnis in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. FLORIAN LEITNER, geb. 1977, Medienwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und fester Redakteur bei kunsttexte.de (E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte). – Publikationen u. a. zur Ästhetik von Bewegtbildern in verschiedenen medialen Kontexten (Performance, Computerspiel, Skulptur) und zu medienund kulturpsychologischen Lektüren von Filmregisseuren wie Michael Powell, Rainer Werner Fassbinder und David Cronenberg. – Dissertationsprojekt über Medienhorror und mediale Angst im Film. Dr. MAREEN VAN MARWYCK, geb. 1976, freie Autorin und Literaturwissenschaftlerin, arbeitete zuletzt als Lektorin der Frankfurter Verlagsanstalt. – Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Gender Studies, Heroismus- und Gewaltforschung. – Publikationen in Auswahl: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und
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Ästhetik um 1800 (2010); »›Nicht schrecklich bist du in der Nähe anzuschaun, | Es zieht das Herz mich zu der lieblichen Gestalt.‹ Die emotionstheoretische Codierung der Anmut als Helden- und Gewaltästhetik um 1800«, in: Søren R. Fauth, Kasper Green Krejberg, Jan Süselbeck (Hg.): Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert (Göttingen 2012). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Literarische Ästhetik und Ökonomie. Dr. CHRISTOPHER MEID, geb. 1982, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. – Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Reiseliteratur, Tragödie. – Publikationen in Auswahl: Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung (2008); Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen (2012). – Derzeitiges Forschungsprojekt zum Staatsroman im 18. Jahrhundert. Dr. THOMAS NEHRLICH, geb. 1984, nach Studium der Deutschen Philologie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft Assistent am Institut für Germanistik der Universität Bern. – Forschungsschwerpunkte: Heinrich von Kleist, Literatur und Typographie, Editionsphilologie. – Publikationen in Auswahl: Edition: Heinrich von Kleist: Erzählungen. Mit Einleitung, Nachwort und einem Verzeichnis der Setzfehler versehen und hrsg. von Thomas Nehrlich. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1810/11 (Hildesheim 2011); »Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.« Zu Funktion und Bedeutung typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa (Hildesheim 2012); Weiteres u. a. zu Hugo von Hofmannsthal und Edgar Allan Poe. – Derzeitiges Forschungsprojekt: Rebellen in der Literatur. Dr. ELISA PRIMAVERA-LÉVY, Postdoktorandin am Graduiertenkolleg ›Das Reale in der Kultur der Moderne‹ an der Universität Konstanz. – Forschungsschwerpunkte: Ästhetik sowie Körper- und Medizingeschichte, Bildungsdiskurse und Kulturkritik. – Publikationen in Auswahl: Die Bewahrer der Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur und Kultur, 1870–1945 (2012); »An sich giebt es keinen Schmerz«. Heroischer und physiologischer Schmerz bei Nietzsche im Kontext des späten 19. Jahrhunderts (Nietzsche-Studien 40, 2011); Facing
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Pain: Dr. Hans Killian’s Photo Book ›Facies Dolorosa‹ (Literature and Medicine 29, 2011, No. 1). Dr. TANJA PROKIû, geb. 1980, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Ludwig-MaximiliansUniversität, München. – Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Filmund Medientheorie, Gender Studies. – Publikationen in Auswahl: Einführung in Foucaults Methodologie: Archäologie – Genealogie – Kritik (2009); zs. mit Oliver Jahraus und Anne Kolb: Wider die Repräsentation. Präsens/z Erzählen in Literatur, Film und bildender Kunst (2011); Kritik des narrativen Selbst. Über die (Un)Möglichkeit von Selbsttechnologien in der Moderne (2011). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Die Materialität(en) des Films. Dr. JESKO REILING, geb. 1973, Universität Bern, zur Zeit Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds mit einem eigenen Forschungsprojekt. – Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Rezeptionsforschung, Kanon- und Wertungsfragen, literarische Anthropologie. – Publikationen in Auswahl: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783) (2010); Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen (2011); Berthold Auerbach (1812– 1882). Werk und Wirkung (2012). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Das ›Volk‹ in Literatur und Literaturtheorie zwischen 1840 und 1860. PD Dr. CARSTEN ROHDE, geb. 1971, Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). – Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Romantheorie/-poetik, autobiographisches Schreiben, Literatur- und Kulturtheorie. – Publikationen in Auswahl: Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben (2006); »Träumen und Gehen«. Peter Handkes geopoetische Prosa seit »Langsame Heimkehr« (2007); Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Tolstoi, Fontane) (2011). – Derzeitiges Forschungsprojekt: Schönheit. Das Wissen der Literatur.
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Dr. JAN SÜSELBECK, geb. 1972, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg, an der Universität Siegen sowie Redaktionsleiter der Zeitschrift literaturkritik.de. – Forschungsschwerpunkte u. a.: Emotionsforschung, Repräsentationen des Krieges, Postcolonial Studies, Interkulturalität, Literarischer Antisemitismus. – Publikationen in Auswahl: Im Angesicht der Grausamkeit. Zur Emotionalisierungsästhetik literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (Habilitationsschrift, Publikation in Vorbereitung); Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt und Thomas Bernhard (2006). – Derzeitiges Forschungsprojekt u. a.: Literarischer Antisemitismus vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart: Hermeneutische Bewertungsformen von Motiven, Stereotypen und textuellen Affektszenarien. Prof. Dr. THEODORE ZIOLKOWSKI, geb. 1932, Emeritus für Germanistische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Princeton. – Forschungsschwerpunkte: Deutsche Romantik, Antikerezeption im 20. Jahrhundert, Themen- und Motivgeschichte. – Publikationen in Auswahl: Dimensions of the Modern Novel. German Texts and European Contexts (1969); Das Wunderjahr in Jena. Geist und Gesellschaft, 1794/95 (1998); Hesitant Heroes. Private Inhibition, Cultural Crisis (2004); Vorboten der Moderne. Eine Kulturgeschichte der Frühromantik (2006); Gilgamesh among Us. Modern Encounters with the Ancient Epic (2012). – Derzeitiges Forschungsprojekt: From Cult to Conspiracy.
Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen April 2013, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften 2012, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung 2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5
Adam Paulsen, Anna Sandberg (Hg.) Natur und Moderne um 1900 Räume – Repräsentationen – Medien Mai 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2262-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3
Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne März 2013, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen 2012, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literaturund Kulturanalyse 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur 2012, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen Februar 2013, 350 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1
Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls April 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2110-5
Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne 2012, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2044-3
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis 2012, 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
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